Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung: Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung [1 ed.] 9783428503070, 9783428103072

Bei der Annäherung an den Staats- und Völkerrechtslehrer Walther Schücking (1875-1935) gewinnt man schnell das Bild eine

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Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung: Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung [1 ed.]
 9783428503070, 9783428103072

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FRANK BODENDIEK

Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e I b r ü c k und R a i n e r H o f m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht 133

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts:

Daniel Bardonnet

l'Universite de Paris II

Rudolf Bernhardt Heidelberg

Lucius Caflisch

Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, Geneve

Antonius Eitel

New York; Bonn

Luigi Ferrari Bravo

Universita di Roma

Louis Henkin

Columbia University, NewYork

Tommy T. B. Koh Singapore

John Norton Moore

University of Virginia, Charlottesville

Fred L. Morrison

University of Minnesota, Minneapolis

Albrecht Randelzhofer

Freie Universität Berlin

Krzysztof Skubiszewski

Polish Academy of Sciences, Warsaw; The Hague

Christian Tomuschat

Humboldt-Universität zu Berlin

Sir Artbur Watts London

Rüdiger Wolfrum

Max-Pianck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung Dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung

Von

Frank Bodendiek

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Bodendiek, Frank:

Walther Schückings Konzeption der internationalen Ordnung : dogmatische Strukturen und ideengeschichtliche Bedeutung I Frank Bodendiek.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel ; Bd. 133) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10307-6

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany

© 2001 Duncker &

ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-10307-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Diese Arbeit wurde im Januar 2000 abgeschlossen. Sie hat im Sonunersemester 2000 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation vorgelegen. Mein aufrichtiger Dank gilt zunächst meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Jost Delbrück, der mich zu der Arbeit angeregt und während ihres Entstehens stets in vielfältiger Weise gefördert und unterstützt hat. Weiterhin schulde ich ihm ebenso wie dem Zweitkorrektor, Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann, Dank für die äußerst zügige Begutachtung der Arbeit und ihre Aufnahme in die Schriftenreihe des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht. Überhaupt möchte ich allen Mitarbeitern und Freunden an diesem Institut danken, die durch ihre engagierte und weltoffene Denkweise das Andenken an W alther Schücking lebendig gehalten und das Institut für mich zur akademischen Heimat gemacht haben. Dank gebührt vor allem auch der Familie Schücking, die mich herzlich aufgenommen und meine Arbeit mit äußerst motivierendem Interesse begleitet hat. Wichtige Anregungen verdanke ich der von Herrn Prof. Dr. Michael Stolleis ins Leben gerufenen ,,Projektgruppe Völkerrechtsgeschichte" am Max-Planck-lnstitut für Europäische Rechtsgeschichte, die mich in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion eingebunden hat. Finanzielle Unterstützung verdanke ich dem Land Schleswig-Holstein, das mir für das Jahr 1998 ein Promotionsstipendium gewährt hat, und dem Auswärtigen Amt, das für die Schrift einen großzügigen Druckkostenzuschuß bereitstellen konnte. Frau Rotraut Wolf danke ich für die äußerst routinierte, kenntnisreiche und fürsorgliche Unterstützung in der Phase der Drucklegung. Abschließend möchte ich meiner Familie und insbesondere meiner Frau Evelyn danken. Ihre Unterstützung hat mir erst das Durchhaltevermögen für das nunmehr abgeschlossene Projekt gegeben. Reinbek, im Januar 2001

Frank Bodendiek

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

A. Präzisierung des Erkenntnisinteresses der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Erstes Kapitel

Historische, biographische und bibliographische Grundlagen der Untersuchung

23

A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

I. Historische Entwicklung bis zum Jahre 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Il. Entwickungstendenzen in der Zeit von 1890 bis 1914 . . . . . . . . . . . . . . .

24

1. Zunehmende weltpolitische Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2. Fortsetzung und Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit .

25

3. Blütezeit des Pazifismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

4. Einwirkungen des pazifistischen Gedankens auf die völkerrechtliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

a) Humanisierung der Kriegsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

b) Einfluß auf das Friedensvölkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

.............................

36

1. Die Pariser Friedensverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

.........................................

37

3. Völkerrechtsentwicklungenjenseits der Völkerbundsatzung . . . . . . .

40

4. Das Scheitern des Völkerbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

B. Zur Biographie Schückings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

I. Die familiäre Herkunft Schückings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

III. Die Zeit zwischen den Weltkriegen

2. Der Völkerbund

Inhaltsverzeichnis

8

II. Kindheit und Schulzeit Schückings

.............................

46

III. Studium und Anfänge der akademischen Laufbahn . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

IV. Die Vorkriegszeit in Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

1. Schückings gesellschaftliche Stellung in Marburg . . . . . . . . . . . . . . .

50

2. Schückings Konflikt mit dem preußischen Staat

................

53

3. Die Hinwendung zur pazifistischen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

V. Der Erste Weltkrieg

58

VI. Die Nachkriegszeit

62

1. Walther Schücking im Dienst der Weimarer Demokratie . . . . . . . . . .

62

2. Die Arbeit für den Gedanken der internationalen Organisation . . . . .

66

a) Die akademische Lehrtätigkeit Schückings . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

b) Verbandstätigkeit Schückings i. S. d. internationalen Gedankens .

69

c) Tätigkeit in Organen der Weltgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

3. Berufliche Erfolge in Kiel und im Haag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

4. Der Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

VII. Fazit

.....................................................

82

C. Das literarische Schaffen Schückings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

I. Arbeiten Schückings in der Vorkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

1. Traditionelles Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

2. Deutsche Rechtsgeschichte

83

3. Privatfürstenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

4. Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

5. Die Nationalitätenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

6. Modernes Völkerrecht: Die Organisation der Welt . . . . . . . . . . . . . . .

88

II. Arbeiten Schückings während des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . .

92

III. Die Veröffentlichungen Schückings nach Ende des Weltkrieges . . . . . . .

95

I. Das Ringen um den Friedensvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

2. Schriften zum Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

a) Grundsätzliche Haltung zum Völkerbund

..................

96

Inhaltsverzeichnis

9

b) Einzelheiten zur Völkerbundsatzung

97

c) Der Kommentar mit Wehberg zur Völkerbundsatzung .. . . .. . . .

98

aa) Exkurs: Biographische Angaben zu Hans Wehberg

98

bb) Die Beziehung zwischen Schücking und Wehberg

100

cc) Die erste Auflage des Satzungskommentars . . . . . . . . . . . . . .

101

dd) Die zweite Auflage des Satzungskommentars . . . . . . . . . . . . .

105

ee) Die dritte Auflage des Satzungskommentars . . . . . . . . . . . . .

108

ft) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

3. Weitere Aspekte des Versailler Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

4. Sonstige völkerrechtliche und pazifistische Schriften . . . . . . . . . . . . .

112

5. Innenpolitik und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

6. Artikel zu biographischen und institutionellen Themen . . . . . . . . . . .

114

IV. Fazit

................... ............ ... ............ . ......

115

Zweites Kapitel

Schückings Konzeption der internationalen Ordnung A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

116

....................

116

I. Allgemeine philosophische Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116

II. Aufgabe und methodische Ausrichtung der Rechtswissenschaft . . . . . . . .

119

1. Ablehnung der "historischen Rechtsschule" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

2. Ablehnung des Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

3. Befürwortung des Kontakts von Jurisprudenz und Philosophie . . . . .

121

4. Die evolutionistische Methode der Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . .

124

5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

III. Aufgabe und methodische Ausrichtung der Völkerrechtswissenschaft . . .

125

1. Die Grundhaltung Schückings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

a) Rechtspolitische Orientierung der Völkerrechtslehre . . . . . . . . . .

126

b) Die Bedeutung des modernen Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

c) Verhältnis zum Pazifismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

10

Inhaltsverzeichnis d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

2. Die Grundhaltung der zeitgenössischen deutschen Völkerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

a) Die ,.deutsche Völkerrechtswissenschaft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

b) Schückings Beurteilung der wissenschaftlichen Grundhaltung seiner Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132

c) Zur Frage der Völkerrechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

aa) Die Einstellung der Völkerrechtswissenschaft vor 1907 . . . . .

133

bb) Die Einstellung der Völkerrechtswissenschaft ab 1907......

137

d) Die Bedeutung des Pazifismus für die Völkerrechtswissenschaft .

140

aa) Einstellung der deutschen Völkerrechtswissenschaft vor 1907

140

bb) Einstellung der deutschen Völkerrechtswissenschaft zwischen 1907 und 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

cc) Die deutsche Völkerrechtswissenschaft und der Pazifismus im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

dd) Die deutsche Völkerrechtswissenschaft und der Pazifismus nach 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

154

B. Frieden durch rechtliche Organisation der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

I. Schückings Leitgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

1. Die republikanische Organisation der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

a) Denkbare Ausgestaltungen des internationalen Systems . . . . . . .

158

b) Die Entwicklungstendenz zur republikanischen Organisation . . .

160

c) Die Frage der einzelstaatlichen Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . .

163

2. Die Schaffung eines Weltstaatenbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

a) Die rechtspolitische Forderung nach einem Staatenbund . . . . . . .

164

b) Der Raager Staatenverband als bereits existierender Weltstaatenbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166

3. Die Schaffung eines Weltbundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

II. Der historische Kontext der Leitgedanken Schückings (bis 1919) . . . . . .

170

1. Die Erforschung der Historie der internationalen Organisation . . . . .

170

2. Die Beurteilung der positiven Ergebnisse der Raager Konferenzen . .

172

3. Die Forderung nach einem weiteren Ausbau der Rechtsorganisation .

178

Inhaltsverzeichnis

11

a) Kants philosophischer Entwurf ,,Zum Ewigen Frieden"

179

b) Weltföderationspläne ausländischer Völkerrechtswissenschaftler .

182

c) Die deutsche Völkerrechtswissenschaft vor 1900 . . . . . . . . . . . . .

184

d) Vorstellungen der zeitgenössischen Pazifisten . . . . . . . . . . . . . . .

187

e) Die zeitgenössische deutsche Völkerrechtswissenschaft (ca. 1900-1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

190

Die Staatenbundidee in der deutschen Völkerrechtswissenschaft nach 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192

III. Schückings Einstellung zum Pariser Völkerbund im historischen Kontext

197

f)

C. Einzelheiten der Schückingschen Konzeption der internationalen Ordnung . . . 205 I. Elemente eines Systems der Friedenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

1. Das Kriegsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Entwicklung während des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . 208 c) Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Verfahren der friedlichen Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Die Vorkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 c) Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3. Die internationale Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 b) Während des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 c) Nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Abrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 a) Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 b) Während des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 c) Nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 5. Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker . . . . . . 245 a) Schückings Grundauffassung vor und nach 1919 . . . . . . . . . . . . . 246 b) Forderung nach universaler Positivierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Inhaltsverzeichnis

12

c) Das Recht der Völker auf äußere Selbstbestimmung

249

d) Das Recht der Minderheiten auf innere Autonomie . . . . . . . . . . . 251 e) Internationaler Rechtsschutz für nationale Minderheiten . . . . . . . 252 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254

6. Die Kodifikation des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

b) Die Arbeit Schückings im Kodifikationskomitee des Völkerbundes

257

f)

c) Schückings Einsatz für die Totalkodifikation in anderen Organisationen und Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 d) Schückings Teilnahme an der Kodifikationskonferenz von 1930 . 264 e) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

7. Die Sozialisierung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

8. Weitere Maßnahmen zur Friedenssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270

a) Stärkung der nationalen Parlamente bei der Entscheidung über Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 b) Verbot zwischenstaatlicher Geheimverträge . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

c) Verbot völkerverhetzender Presseberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

II. Die organisatorische Ausgestaltung des Weltstaatenbundes . . . . . . . . . . .

274

1. Universalität und Ausschließlichkeit des Weltstaatenbundes . . . . . . . 274

2. Die Organe des Weltstaatenbundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

276

III. Charakteristika der Schückingschen Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

Drittes Kapitel

Die Richtertätigkeit Watther Schückings

285

A. Die Tätigkeit als nationaler Ergänzungsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

B. Die Tätigkeit als ordentlicher Richter (1931-1935)

.....................

286

I. Die Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

II. Die Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288

III. Sonstige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

292

Inhaltsverzeichnis

l3

Viertes Kapitel

Versuch einer zusammenfassenden Würdigung des wissenschaftlieben Werks von Walther Schücking

295

Fünftes Kapitel

Rezeption des wissenschaftlichen Werks Walther Schückings nach 1945

300

Sechstes Kapitel

Relevanz der Ideen Schückings für die Gegenwart

310

Literatur- und Quellenverzeichnis

314

Personenverzeichnis

376

Sachwortverzeichnis

380

Abkürzungsverzeichnis AAB

Acht-Uhr-Abendblatt

Abs.

Absatz

ADB

Allgemeine Deutsche Biographie

Add.

Addendum

AJIL

American Journal oflnternational Law

Ann. IDI

Annuaire de l'Institut de droit international

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

ARWPh

Archiv der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie

Aufl.

Auflage

AVR

Archiv des Völkerrechts

Bd.

Band

BDGV

Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

BGBI.

Bundesgesetzblatt

BI.

Blatt

BT

Berliner Tageblatt

BYBIL

British Yearbook of International Law

DAZ

Deutsche Allgemeine Zeitung

DBE

Deutsche Biographische Enzyklopädie

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DFG

Deutsche Friedens-Gesellschaft

DGV

Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht

DJZ

Deutsche Juristen-Zeitung

DNVP

Deutsch-Nationale Volkspartei

DVP

Deutsche Volkspartei

EPIL

Encyclopedia of Public International Law

f.

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FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Abkürzungsverzeichnis ff.

folgende Seiten

FG

Festgabe

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

FW

Friedens-Warte

FZ

Frankfurter Zeitung

GYIL

German Y earbook of International Law

Hrsg.

Herausgeber

HLZ

Hessische Landeszeitung

IDI

Institut de droit international

IGH

Internationaler Gerichtshof

IIR

Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel

ILA

International Law Association

15

ILA-Reports

Reports of the Proceedings of the International Law Association

IPU

Interparlamentarische Union

JA

Juristische Arbeitsblätter

JIR

Jahrbuch für internationales Recht (ab 1976: GYIL)

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JVR

Jahrbuch des Völkerrechts

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

LNTS

League of Nations Treaty Series

Mitt. DGV

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

NDB

Neue Deutsche Biographie

NGO

Non-Governrnental Organisation

NJ

Neue Justiz

NL

Nachlaß

NLHW

Nachlaß Hans Wehberg

Nr.

Nummer

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

OLG

Oberlandesgericht

ÖZöR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht

PCIJ

Permanent Court of International Justice

RBDI

Revue beige de droit international

RdC

Recueil des Cours de l' Acadernie de droit international de la Haye

16

Abkürzungsverzeichnis

RDI

Revue de droit international

RDILC

Revue de droit international et de legislation comparee

RGBL

Reichsgesetzblatt

RGDIP

Revue gem!rale de droit international public

RStGB

Reichsstrafgesetzbuch

S-H

Schleswig-Holstein

s. 0.

siehe oben

Sp.

Spalte

StA

Staatsanwaltschaft

StiGH

Ständiger Internationaler Gerichtshof

UNCh

Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II, 431)

VBS

Satzung des Völkerbundes (RGBl. 1919, 717)

VN

Vereinte Nationen

WTO

World Trade Organisation

WVR

Wörterbuch des Völkerrechts

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

ZIR

Zeitschrift für internationales Recht

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZGStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

ZPO

Zi vilprozeßordnung

ZVR

Zeitschrift für Völkerrecht

Einleitung Bei der Annäherung an den Staats- und Völkerrechtslehrer Walther Schükking (1875-1935) gewinnt der interessierte Betrachter recht schnell das Bild einer beeindruckenden Persönlichkeit, deren Bedeutung sich schon an Schükkings Beteiligung an der Versailler Friedensdelegation und seiner späteren Ernennung zum ersten deutschen Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshoffestmacben läßt. Beschäftigt man sich intensiver mit der Person Schückings, sticht vor allem sein rastloses und konsequentes Engagement für den Gedanken der internationalen Verständigung und sein politisches Eintreten für eine liberale Demokratie ins Auge. Es ist daher verständlich, daß das Leben Schückings bereits Gegenstand einer Anzahl von Abhandlungen unterschiedlicher Länge gewesen ist und biographisch somit bereits recht gut erschlossen wurde.' Sinn und Zweck der folgenden Untersuchung ist es vor diesem Hintergrund nicht in erster Linie, ein weiteres Lebensbild Schückings zu zeichnen. Stattdessen soll sich der Blick auf das wissenschaftliche Werk Schückings konzentrieren und vor allem dessen völkerrechtliche Konzeption der internationalen Ordnung darstellen. Die wissenschaftliche Leistung Schückings auf völkerrechtlichem Gebiet soll erfaßt und als eigenständige Größe neben der praktischpolitischen Tätigkeit des Parlamentariers, Verbandsfunktionärs und Weltrichters sichtbar werden. Gedankliche Reibungsfläche bietet in dieser Hinsicht besonders die Behauptung des damaligen preußischen Kulturstaatssekretärs C. H. Becker, der im Jahr 1920 eine Berufung Schückings an die Berliner Universität mit der Begründung ablehnte, die von Schücking erbrachten wissenschaftlichen

1 Zu nennen sind zunächst verschiedene biographische Aufsätze von Hans Wehberg. Einen aufschlußreichen Überblick bieten auch zahlreiche Beiträge von Freunden und Kollegen in einer nach Schückings Tod im Jahre 1935 erschienenen Sonderausgabe der ,,Friedens-Warte". Aus der Nachkriegszeit ist an biographischem Material vor allem das Lebensbild von Schückings Sohn Christoph-Bernhard im Jubiläumsband des Kieler Instituts für Internationales Recht aus dem Jahre 1965 zu erwähnen. Ferner liefert die Dissertation des Historikers Detlev Acker aus dem Jahre 1970 einen vertieften Einblick in verschiedene Lebensbereiche Schückings. Vgl. zum Schrifttum, das Leben und Werk Schückings würdigt, die Übersicht im 2. Teil des Literatur- und Quellenverzeichnisses.

2 Bodendick

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Einleitung

Leistungen träten deutlich hinter seiner politischen und publizistischen Bekanntheit zurück. 2

A. Präzisierung des Erkenntnisinteresses der Arbeit Die vorliegende Arbeit soll also einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Völkerrechts erbringen. Dabei muß sie die methodischen Vorgaben beachten, die bei jeder Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte zu machen sind. Insbesondere muß sie der Doppelnatur Rechnung tragen, die der Rechtsgeschichte zwischen den Rechts- und den Geschichtswissenschaften zukommt. Rechtshistorisches Arbeiten hat sich einerseits an den methodischen Maßstäben messen zu lassen, die auch an einen Historiker anzulegen sind, also insbesondere gebildete Hypothesen über geschichtliche Zusammenhänge mit kritisch ausgewerteten Quellen belegen. Andererseits erfolgt im Rahmen der Rechtsgeschichte die Hypothesenbildung und Materialauswahl aber anband der juristischen Vorbildung des Rechtshistorikers und im Hinblick auf die rechtliche Bedeutsamkeit der historischen Tatsachen.3 Es werden deshalb auch im Rahmen dieser Arbeit ganz hauptsächlich rechtliche Phänomene betrachtet, während die allgemeine geschichtliche Entwicklung allenfalls in zweiter Linie behandelt wird. Die folgende rechtshistorische Untersuchung bewegt sich außerdem prima facie nicht im Bereich der Völkerrechtsgeschichte im engeren Sinne, die sich mit den tatsächlich existierenden Regeln im Bereich des Völkerrechts beschäftigt. Vielmehr gilt das historische Interesse der Arbeit- jedenfalls vordergründig- den Zeugnissen des Nachdenkens über das Völkerrecht, d. h. der Theorie des Völkerrechts, und ist deshalb in erster Linie Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtslehre. Obwohl es im Bereich des Völkerrechts eine- gerade im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten-vor allem in der ersten Hälfte des Jahrhunderts durchaus ausgeprägte Tradition einer Völkerrechts-Literaturgeschichte gibt,4 wurde der wissenschaftliche Wert dieser ideengeschichtlich geprägten Forschung häufig in Zweifel gezogen: Die völkerrechtshistorische Forschung leide darunter, daß sie 2 Vgl. die Debatte des Hauptausschusses der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung, 125. Sitzung vom 4.12.1920, in: Protokolle der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung 1919/1921, Nr. 3948, S. 23124, NL Schücking I, Nr. 108 bzw. NL Schücking li, Nr. VIIUl. 3 Planitl/Eckhardt ( 1971 ), S. 1; Wieacker, in: Handwörterbuch Rechtsgeschichte, Bd. 3 (1984), Sp. 519; Koebler(l990), S. 3 f. 4 Vgl. die Überblicke bei Stier-Somlo, in: Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3 (1929), S. 215 ff.; Preiser, in: EPIL, Bd. 2 (1995), S. 719 ff.

A. Präzisierung des Erkenntnisinteresses der Arbeit

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viel zu stark den Theorien gewidmet sei. Folge eines solchen Fehlgewichts sei die Gefahr, daß man die vergangene Rechtswirklichkeit in einem völlig verzeichneten und zu falschen Schlüssen anregenden Bild darstelle.5 Solche Bedenken betreffen aber wohl eher die Ausrichtung völkerrechtshistorischer Gesamtdarstellungen, schließen hingegen eine monographische Einzeldarstellung des wissenschaftlichen Werkes eines einzelnen Völkerrechtslehrers nicht aus. Dafür spricht nicht nur das Postulat, daß rechtshistorische Forschung wie alle historische Forschung auch das Recht zu "zweckfreier" Forschung besitze,6 oder der Hinweis, daß die Rechtswissenschaft der Vergangenheit ein deutlich unterscheidbarer, teilautonomer Sektor der gesamten Vergangenheit sei, der eine eigenständige historische Erforschung rechtfertige. 7 Vielmehr rechtfertigt sich eine intensivere Beschäftigung mit den Gedanken eines Völkerrechtstheoretikers auch mit der wichtigen Rolle, die den Völkerrechtslehrern bei der Rechtsentwicklung des Völkerrechts, insbesondere der Bildung einer entsprechenden Rechtsüberzeugung zukommt. 8 Diese Bedeutung läßt sich schlaglichtartig beleuchten mit dem großen Anteil der im allgemeinen Völkerrechtslehrern wie Hugo Grotius und Emer de Vattel an der Herausbildung der modernen Völkerrechtsordnung zugesprochen wird. 9 Auch ist auf Art. 38 Abs. llit. d des IGH-Statuts hinzuweisen, der die im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten hervorgehobene Rolle des völkerrechtlichen Schriftturns im System der völkerrechtlichen Rechtserkenntnisquellen unterstreicht. 10 Dennoch müssen die o. a. Einwände im Rahmen einer primär ideengeschichtlich orientierten Arbeit berücksichtigt werden, indem die Verbindungen der Völkerrechtstheorie zum jeweils geltenden Recht stets deutlich gemacht werden. Insbesondere sollte die Analyse des völkerrechtlichen Schriftturns zugleich beleuchten, an welchen Stellen und in welcher Weise sich die völkerrechtliche Theorie mit der Iex lata der jeweiligen Zeit auseinandergesetzt und sie als Aus'In diesem Sinne vor allem Preiser, Völkerrechtsgeschichte (1964), S. 46/48; Ziegler (1994), s. 3/5. 6 Ziegler (1994), S. 3. 7 Vgl. mutatis mutandis, Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1 (1988), s. 43. 8 Zu dieser Bedeutung: Huber, FW 52 (1953/55), S. 305 f. Siehe auch Verdross/Simma (1984), § 624; lpsen (1999), § 21 Rn. 5. 9 Münch, in: FS Guggenheim (1968), S. 4951504; Verdross/Simma (1984), §§ 9 ff.; Jpsen (1999), § 21 Rn. 5. 10 Schwanenberger, Current Legal Problems 9 (1956), S. 236 ff.; Dahm/Delbrück/ Wolfrum, Bd. 1/1 (1989), S. 78.

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Einleitung

gangspunktfür weitergehende rechtspolitische Forderungen genonnnen hat. 11 Für die vorliegende Arbeit über Schückings Konzeption der internationalen Ordnung soll diese Richtschnur vor allem dadurch berücksichtigt werden, daß die Berührungspunkte Schückings mit den grundlegenden Quellen positiven Rechts der damaligen Zeit, d. h. vor allem mit den Ergebnissen der Haager Friedenskonferenzen bzw. mit der Völkerbundsatzung, deutlich gemacht werden. Schließlich ist in methodischer Hinsicht zu berücksichtigen, daß diese Arbeit trotz ihres ideengeschichtlichen Ansatzes nicht in erster Linie als Querschnittsuntersuchung des Spektrums der Lehrmeinungen zu einem bestimmten Thema in einer bestimmten Zeit konzipiert ist. Noch weniger soll es ihre Aufgabe sein, in einem historischen Längsschnitt die geschichtliche Entwicklung eines völkerrechtlichen Gedankens, etwa des Gedankens des Ausbaus der internationalen Organisation, zu verfolgen.12 Vielmehr steht die Arbeit eher in der Tradition verschiedener Einzeldarstellungen des Werkes herausragender Völkerrechtswissenschaftler, die sich als Hauptaufgabe setzen, die Gedankengebäude eines einzelnen Gelehrten systematisch zu erschließen. 13 Nichtsdestotrotz werden im folgenden an geeigneten Stellen die Gedanken Schückings als Kristallisationspunkt für die rechtspolitischen und rechtstatsächlichen Äußerungen und Ideen anderer zeitgenössischer Völkerrechtslehrer angesehen, so daß in zentralen Punkten zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Ideengeschichte des Völkerrechts geleistet werden soll. Schon um den Umfang der Darstellung nicht zu stark auszudehnen, wird sich die Untersuchung aber auf die Völkerrechtswissenschaft im deutschsprachigen Raum konzentrieren. Im Bewußtsein, daß die Wissenschaft vorn Völkerrecht in besonderer Weise international ausgerichtet ist, wird allerdings auf Querverbindungen zur internationalen Völkerrechtslehre zumindest im Überblick einzugehen sein.

Grewe (1984), S. 20 f. und 25. Als Beispiel für völkerrechtsgeschichtliche Arbeiten der vorgenannten Kategorien lassen sich die Schriften von H. Waser, Das zwischenstaatliche Schiedsgericht als Spiegel der abendländischen_Geschichte (1960); G. Fahl, Der Grundsatz der Freiheit der Meere in der Staatenpraxis von 1493 bis 1648 (1969); U. Fortuna, Der Völkerbundgedanke im Ersten Weltkrieg (1974) nennen. 13 Vgl. aus dieser Kategorie etwa die Arbeiten von ], Soder, Francisco Suarez und das Völkerrecht (1973); B. Richter, Völkerrecht, Außenpolitik und internationale Verwaltung bei Lorenz von Stein (1973); P. K. Keiner, Bürgerlicher Pazifismus und "neues" Völkerrecht- Hans Wehberg (1976); A. Rub, Hans Kelsens Völkerrechtslehre-Versuch einer Würdigung (1995). 11

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B. Gang der Untersuchung

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B. Gang der Untersuchung Im Hinblick auf das vorstehend präzisierte Erkenntnisinteresse der Arbeit erscheint folgender Gang der Untersuchung angemessen: In einem ersten Kapitel sollen in verschiedener Hinsicht die Grundlagen für die weitere Untersuchung gelegt werden. Zunächst sollen für den Lebenszeitraum Schückings in großen Zügen die Entwicklungstendenzen der Völkerrechtsgeschichte beschrieben werden. Der knappen Darstellung der Ergebnisse der Haager Friedenskonferenzen und der Völkerbundsatzung wird dabei besondere Bedeutung zukommen (A.). Anschließend folgt ein Überblick über die verschiedenen Stationen des Lebens von Walther Schücking, der seine praktisch-politische Bedeutung abschätzen helfen und seine wissenschaftliche Tätigkeit in einen institutionellen Rahmen setzen soll (B.). Zur Vervollständigung der grundlegenden Informationen wird dann ein erster Einblick in das literarische Schaffen Schückings gegeben. Ziel ist dabei nicht die systematische Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Schückings, sondern eine erste, vor allem auch zeitliche Orientierung in seinem völkerrechtlichen Werk sowie ein Hinweis auf sein Wirken in anderen Rechtsgebieten, insbesondere dem Staatsrecht, die im folgenden aufgrund der völkerrechtshistorischen Ausrichtung der Arbeit ausgeblendet bleiben (C.). Im zweiten Kapitel und Hauptteil der Arbeit werden die Ideen Walther Schükkings zur Organisation der Welt entfaltet. Damit soll eine Aufgabe erfüllt werden, die der Völkerrechtsgeschichte grundsätzlich zu stellen ist, nämlich das Systematisieren und Zugänglichmachen der rechtlich relevanten Quellen aus vergangeneo Zeiten. 14 Thematisch schreitet die Untersuchung des Gedankengebäudes Schükkings vom allgemeinen zum speziellen voran. Zunächst soll Schückings allgemein-philosophische und rechtsmethodologische Orientierung aufgezeigt werden (A.). Danach soll die beherrschende Grundidee in Schückings völkerrechtlichem Schaffen, die Erforderlichkeil des Ausbaus der internationalen Organisation und einer wahren Herrschaft des Rechts, vorgestellt werden (B.). Schließlich sollen die einzelnen Elemente dieses Gedankengebäudes, die konkreten Strukturen der internationalen Ordnung, näher untersucht werden (C.). Während die Untersuchung in dieser Richtung fortschreitet, werden jeweils in den einzelnen Kapiteln verschiedene Aufgaben in Angriff genommen: Die Äußerungen Schückings werden systematisch zusammengestellt und zugleich in den ideengeschichtlichen Kontext eingeordnet. Dabei werden die Zusammenhänge sowohl mit dem geltenden Recht als auch mit der zeitgenössischen deutschen 14

Vgl. dazu Nussbaum (1960), S. VII; Soder (1973), S. 12.

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Einleitung

Völkerrechtsliteratur beleuchtet. Insbesondere wird es um die Originalität der Vorstellungen Schückings sowie um deren Rezeption und Wirkung unter seinen Zeitgenossen gehen. Zu beachten ist im übrigen die zeitliche Dimension: In den Abschnitten A und B wird das Schwergewicht der Betrachtung in der Zeit vor 1918/19liegen, weil in dieser Zeit vor der Gründung des Völkerbundes die Überlegungen Schückings zur Schaffung einer universalen Weltorganisation ihre besondere Bedeutung besitzen. Es soll aber in diesen Passagen auch die Weiterentwicklung der Ansichten Schückings widergespiegelt werden. In Teil C hingegen wird das gesamte völkerrechtliche Werk Schückings in die Betrachtung einbezogen. Im dritten Kapitel der Arbeit wird die richterliche Tätigkeit Schückings am Ständigen Internationalen Gerichtshof in den Blick genommen. Insbesondere erscheint von Interesse, inwieweit sich diese Tätigkeit als Fortsetzung von Schükkings wissenschaftlichem Lebenswerk darstellt. Im vierten Kapitel wird eine Gesamtwürdigung des wissenschaftlichen Werkes Walther Schückings versucht. Anband der im zweiten und dritten Kapitel gewonnenen eigenen Erkenntnisse, aber auch anband der Wertungen anderer Biographen und Völkerrechtshistoriker werden noch einmal die Hauptmerkmale der wissenschaftlichen Arbeit Schückings herausgearbeitet. Im fünften Kapitel soll nachgezeichnet werden, in welchem Ausmaß die wissenschaftliche Arbeit Schückings in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der deutschen und internationalen Völkerrechtswissenschaft rezipiert worden ist. Im sechsten Kapitel, das die Untersuchung beschließt, wird der- von den vorangegangenen Überlegungen strikt zu trennende- Versuch gemacht, eine Brücke zum heutigen Völkerrecht zu schlagen. Dabei wird zu diskutieren sein, inwiefern Schückings Lösungsansätze in der Völkerrechtsordnung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts unter Umständen noch als Wegweiser für die weitere Rechtsentwicklung dienen können.

Erstes Kapitel

Historische, biographische und bibliographische Grundlagen der Untersuchung In einem ersten Schritt sollen die Grundlagen für die Untersuchung des wissenschaftlichen Wirkens Walther Schückings und dessen Einordnung in die Geschichte der Völkerrechtswissenschaft gelegt werden.

A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen Die Lebenszeit Schückings (1875-1935) fällt, folgt man der Einteilung bei

Grewe, Preiserund Ziegler, in zwei große Epochen der modernen Völkerrechts-

geschichte: Zum einen liegt sie in dem vom Wiener Kongreß bis zum Ende des Ersten Weltkrieg reichenden sog. "Englischen Zeitalter", das zwar nicht von einer Hegemonie, aber doch von einem deutlich bestimmenden britischen Einfluß auf Weltpolitik und Völkerrechtsgestaltung geprägt ist. 1 Zum anderen liegt die Lebens- und Schaffenszeit Schückings im Zeitalter zwischen den Weltkriegen, das in völkerrechtlicher Hinsicht vor allen auch durch eine gemeinsame englischamerikanische Dominanz und die Errichtung des Völkerbundes gekennzeichnet wird. 2 I. Historische Entwicklung bis zum Jahre 1890

Das "englische Zeitalter" wurde nach den Erfahrungen der Französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons zunächst bestimmt durch die Tendenz zur Wiederherstellung der alten europäischen Ordnung, der Restauration. Auf dem Wiener Kongreß, im Rahmen der sog. "Heiligen Allianz" der christlichen Monarchen in Europa sowie ab ca. 1830 in Form des sog. "Europäischen Kon1 Preiser, in: Evangelisches Staatslexikon (1975), Sp. 2825; Grewe (1984), S. 501; Ziegler(1994), S. 210. 2 Grewe (1984), S. 679; Ziegler (1994), S. 240.

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

zerts" bemühten sich die Großmächte, die politischen und völkerrechtlichen Verhältnisse in Europa in ihrem sozialkonservativen Sinne zu ordnen. 3 Sehr schnell wurden jedoch die das Konzert zersetzenden Tendenzen immer stärker. Die nationale und die demokratische Idee, aber auch die räumliche Erweiterung der Völkerrechtsgemeinschaft um verschiedene nicht-europäische und sogar nichtchristliche Staaten sowie die zunehmende imperialistische Rivalität der Großmächte im Wettlauf um noch zu verteilende Kolonialgebiete in Afrika und Asien führten zu einer Zerrüttung des Zusammenspiels der Großmächte. 4 Der endgültige Bankrott der Kongreßdiplomatie des Europäischen Konzerts wird gewöhnlich mit dem Keimkrieg (1853-1856) angesetzt, weil sich hier mit Rußland einerseits und Frankreich sowie Großbritannien andererseits Großmächte offen im Krieg gegenüberstanden.5 Allerdings gab es auch in der Zeit nach 1870 unter geistiger Führung des deutschen Reichskanzlers Bismarck noch Bestrebungen, die internationalen Beziehungen durch ein Zusammenspiel der Großmächte zu regeln. Die diplomatischen Aktivitäten, mit denen Bismarck die politische und damit auch die Völkerrechtsordnung weiterhin nach diesen Grundsätzen steuern wollte, umfassen zum einen etwa die Berliner Konferenzen von 1878 und 1885, auf denen die weitere Zukunft Südosteuropas bzw. des Kongo-Gebietes geregelt wurden. Zum anderen beinhalten sie auch die bündnispolitischen Initiativen Bismarcks, mithin den Zwei- bzw. Dreibund des Deutschen Reichs mit Österreich und Italien sowie den Rückversicherungsvertrag mit Rußland. 6

II. Entwickungstendenzen in der Zeit von 1890 bis 1914 Die für die Arbeit über Schücking hauptsächlich relevante Zeit nach 18907 , also nach dem Ausscheiden Bismarcks aus dem Amt des Reichskanzlers, bietet 3 Nussbaum (1960), S. 207-211; Grewe (1984), S. 503-508; Ziegler (1994), S. 214 f. Vgl. dazu auch Baumgart (1974), passim. 4 Zu den Gründen für diese Systemkrise, vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, Bd. 111 ( 1989), S. 8; Ziegler (1994), S. 211-213. s Nussbaum (1960), S. 211; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 773; Dülffer, FW 74 (1999), S. 98. Kritisch zu dieser Wertung: Baumgart (1974), S. 16. 6 Hierzu: Grewe (1984), S. 511 ff.; Haffner (1987), S. 71 ff.; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), s. 781 f. 7 Zur Frage, inwieweit das Jahr 1890 für den in erster Linie aus deutscher Perspektive forschenden Historiker einen Einschnitt bedeutet, vgl. etwa Haffner ( 1987), S. 9 und 83 ff., bzw. Born (1990), S. 174 f. Aus verfassungsgeschichtlicher Sicht relativierend: E. R. Huber, Bd. V (1978), S. 244 ff.

A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen

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gerade im Hinblick auf die Geschichte des Völkerrechts ein widersprüchliches Bild. 1. Zunehmende weltpolitische Spannungen

Zunächst wurde offenkundig, daß sich das System des Mächtegleichgewichts, insbesondere im Sinne von Bismarcks Bündnissystem, nach dessen Ablösung als Reichskanzler nicht aufrechterhalten ließ. Zwar war die englische Politik nach wie vor darauf bedacht, das Gewicht der verschiedenen europäischen Mächte auszubalancieren, auf deutscher Seite gelangten Regierung und Diplomatie jedoch nicht mehr zu einer Aufrechterhaltung des Zusammenspiels der Mächte. 8 So verschärften sich die Bündnisgegensätze immer stärker. Als Symptome dieser Konfrontation lassen sich die englisch-französische Einigung in der entente cordiale von 1904 und deren Erweiterung um Rußland zur Tripelentente (1907) sowie die deutsch-englischen Gegensätze in der Frage des Ausbaus der Kriegsmarine benennen. Die in den Jahren nach 1890 existierenden Spannungen manifestierten sich in den verschiedenen Kriegen, an den Großmächte beteiligt waren, insbesondere dem Krieg zwischen Spanien und den USA von 1898, dem Burenkrieg von 1899-1902 oder dem russisch-japanischen Krieg von 1904.9 Möglicherweise noch bezeichnender für die angespannten Beziehungen innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft waren aber die .,nicht geführten Kriege" 10, also die Konflikte, die sich am Rande des Ausbruchs einer kriegerischen Auseinandersetzung befanden. Zu nennen sind etwa der Doggerbank-Zwischenfall zwischen England und Rußland (1904) oder die Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Deutschland um den Einfluß in Marokko, die sich in den Jahren 1906, 1908 und 1911112 zu ernsthaften Krisen zuspitzten. Weiterhin sind an dieser Stelle die Konflikte im Balkan zwischen Österreich und der Türkei bzw. Serbien und Rußland zu nennen, die in den Jahren 1908 bzw. 1912 ihren Höhepunkt erreichten.

2. Fortsetzung und Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit Trotz dieser für die Völkerrechtsordnung bedenklichen Entwicklungen erreichten die internationalen Beziehungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine vorher Grewe (1984), S. 513 f. Vgl. Dülffer, FW 74 (1999), S. 102 f. 10 Vgl. Fried, Handbuch, Bd. I (1911), S. 95 ff.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

unbekannte Dichte und Intensität. Als Gründe für diese "Internationalisierung" lassen sich vor allem die wissenschaftlichen Entdeckungen und der technische Fortschritt in dieser Zeit anführen.11 Ihre Symptome sind verschiedene Kongresse und Konferenzen, die anders als etwa noch die o. a. Berliner Konferenzen nicht lediglich aus Anlaß eines konkreten Krieges oder Konfliktes einberufen wurden, sondern vielmehr unabhängig davon die Lösung internationaler Probleme in Angriff nehmen wollten. In diese Kategorie fallen etwa die Brüsseler Anti-Sklaverei-Konferenz von 1890 und vor allem natürlich die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 bzw. 1907. Vor allem ist aber auf die reibungslose Arbeit der internationalen Verwaltungsunionen, also von internationalen Organisationen mit primär technischen Aufgaben, hinzuweisen. Neben den Flußschiffahrtskomrnissionen für Rhein und Donau sind vor allem die Internationale TelegraphenUnion von 1865 und der Weltpostverein von 1878 zu nennen. 12 Auch über diese internationalen Zusammenschlüsse hinaus hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein großes Wachstum des geschriebenen Völkerrechts stattgefunden. Unter den zahlreichen bi-und multilateralen Verträgen finden sich neben politischen Verträgen vor allem auch Handels- und Schiffahrtsverträge. 13

3. Blütezeit des Pazifismus 14 Mit den oben angesprochenen Spannungen zwischen den Staaten kontrastiert neben der "offiziellen" Internationalisierung eine weitere Entwicklung: Während im englischen Zeitalter das Recht der Staaten zur Führung von Kriegen von seinen naturrechtliehen Beschränkungen, z. B. der Bellum-iustum-Lehre, gelöst wurde und den Staaten nunmehr im Grundsatz das freie Kriegsführungsrecht zustand, gewann zugleich die moderne pazifistische Bewegung regen Zulauf. Unter dem Oberbegriff des Pazifismus kann man dabei in einem weiteren Sinne alle OrganiZiegler (1994), S. 224, sowie Dahm/Delbrück/Wolfrum (1989), Bd. U1, S. 9. Vgl. den Überblick über die vor 1914 bestehenden Verwaltungsunionen bei Fried, Handbuch Bd. 1 (1911), S. 122 ff.; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 779 ff. 13 Vgl. die Übersicht bei Fried, Handbuch Bd. 1 (1911), S. 122 ff.; Nussbaum (1960), S. 217 ff. und 226 ff.; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 783 f. 14 Die Begriffe .,Friedensbewegung" und ,,Pazifismus" sind weitestgehend synonym, vgl. Holl (1988), S. 18, oder Scheer (1981), S. 7. Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 14, weist auf gewisse Nuancen hin, hat aber dennoch im Ergebnis keine Bedenken gegen eine synoyrne Verwendung. Die Begriffe .,Pazifismus" bzw. .,Pazifist" sind 1901 geprägt worden und quasi unmittelbar in den allgemeinen Sprachgebrauch, insbesondere als Selbstbezeichnung der Friedensfreunde, übergegangen, vgl. Chickering (1975), S. 14 f., Scheer (1981), S. 6 f.; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 14; Holl (1988), S. 69 f. 11

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A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen

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sationen und Aktionen zusammenfassen, die darauf gerichtet waren, den Krieg aus dem Leben der Völker auszuschalten. 15 Verfolgt man die historische Entwicklung der modernen Friedensbewegung, 16 so lassen sich erstmals in den Jahren 1815/16 in den USA bzw. in England sog. ,,Friedensgesellschaften" nachweisen. Diese traten aus religiösen Motiven heraus für die völlige Abschaffung des Krieges als Mittel der Konfliktlösung ein. Im Jahre 1828 schlossen die amerikanischen Friedensfreunde sich erstmals auf überörtlicher Ebene in der American Peace Society zusammen. Einen ersten Höhepunkt der Kooperation auch auf staatenübergreifender Ebene erlebte die pazifistische Bewegung in den Jahren nach 1848. In diesem und in den folgenden Jahren fanden mehrere internationale Friedenskongresse statt, an denen sich neben angloamerikanischen auch französische Pazifisten und solche aus dem Benelux beteiligten. Bereits zu diesem Zeitpunkt läßt sich eine gewisse Verspätung der deutschen Friedensbewegung erkennen. Zwar nahmen schon 1849 einige wenige deutsche Vertreter an dem internationalen Friedenskongreß teil, 1850 fand der internationale Kongreß gar in Frankfurt/Main statt; die wenigen in Deutschland gegründeten Friedensgesellschaften aber gingen schon nach kurzer Frist wieder ein. Eine verstärkte Entwicklung und Blüte setzte um das Jahr 1890 ein, als die Friedensbewegung sich auf internationaler Ebene dauerhaft organisierte. Auf der einen Seite veranstaltete man ab 1889 nahezujedes Jahr einen Weltfriedenskongreß, der ein internationales Forum zur Debatte und Formulierung pazifistischer Forderungen bot, und errichtete als ständiges Organ 1892 das Internationale Friedensbüro in Bern. Auf der anderen Seite versammelten sich erstmals ebenfalls 1889 in Paris pazifistisch orientierte Parlamentarier aus verschiedenen Ländern zu einem sog. "Interparlamentarischen Kongreß". Auch diese Zusammenkünfte fanden fortan in regelmäßigen Abständen, häufig in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Weltfriedenskongressen, statt. Sie mündeten schon 1891 in die Schaffung der Interparlamentarischen Union, die sich insbesondere für die Propagierung des Schiedsgerichtsgedankens einsetzte. 17 15 Vgl. von der Heydte, in: Staatslexikon, Bd. 3 (1959), Sp. 602. Vgl. auch die Definition von Riesenherger (1985), S. 7, die Friedensbewegung werde gebildet von jenen Organisationen, die- von der Verwerflichkeit und Sinnlosigkeit des Krieges ausgehend- Konzeptionen, Methoden und konkrete Vorschläge erarbeiteten, die den Krieg verhindem und schließlich unnötig machen sollten. 16 Zu dieser historischen Entwicklung Fried, Handbuch, Bd. 2 (1913), S. 1-262; Quidde, in: Len11Fabian (Hrsg.) [1922], S. 8 ff.; Reales (1931), passim; von der Heydte, in: Staatslexikon, Bd. 3 (1959), Sp. 603 f.; Eyffinger (1999), S. 45 ff. 17 Zur näheren Charakterisierung der IPU: Schücking, Organisation der Welt (1909), S. 66 f.; Eickhoff, in: ZfP 8 (1915), S. 452-493; Quidde, in: Die Interparlamentarische

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Auch in Deutschland konnte sich die vorher schon vor allem in Großbritannien und den USA verwurzelte pazifistische Bewegung etwa ab dem Jahre 1890 etablieren. 18 Ein Meilenstein war im deutschsprachigen Raum insoweit der Roman .,Die Waffen nieder!" der Österreichischen Baronin Bertha von Suttner (1843-1914), die im darauf folgenden Jahr auch die Österreichische Friedensgesellschaft gründete. Zugleich war sie gemeinsam mit dem aus Wien stammenden Alfred H. Fried (1864-1921) Initiatorin der ersten deutschsprachigen Friedensrevue, die 1892 ebenfalls .,Die Waffen nieder!" betitelt wurde. Fried war noch im November desselben Jahres Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft. Ab 1899 gab er die wichtigste deutschsprachige Zeitschrift der Friedensfreunde, die noch heute bestehende .,Friedens-Warte", heraus. 19 Trotz dieser Aufwärtsentwicklung stieß die Friedensbewegung in der deutschen Öffentlichkeit insgesamt auf eine im internationalen Vergleich sehr scharfe Ablehnung und verblieb vor dem Weltkrieg in einer minoritären, häufig auch diskriminierten Position. 20 Hinzuweisen ist auf einen ideologischen Wandel, der sich innerhalb der Friedensbewegung vollzog. Während, wie oben bereits angedeutet, die amerikanischen und englischen Friedensfreunde, zunächst aus einem rein sittlichen oder religiösen Antrieb gegen den Krieg zu Felde zogen und dementsprechend auch in ihrer Argumentation juristischen Erwägungen und dem Völkerrecht eher fern standen, suchte man zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in der Friedensbewegung- vor allem in Mitteleuropa- nach einer anderen Orientierung. Da eine rein ethische Argumentation nicht geeignet schien, die gesellschaftliche U nterstützung für die Ziele des Pazifismus zu vergrößern, strebte man nach einer realistischeren, theoretisch fundierteren Ausrichtung. Als Exponent dieser neuen, wisUnion (1939), S. 3 ff. ; Baissier, RdC 88 (1955 II), S. 163 ff. ; Eisenbeiß (1980), S. 56 f. 18 Vgl. Chickering (1975), S. 52 f.; Holt (1988), S. 41. 19 Zum vorstehenden: Fried, Handbuch, Bd. 2 (1913), S. 104-106; Quidde, in: Lenz/ Fabian (Hrsg.) [1922], S. 13; Beales (1931), S. 210 f.; Scheer (1981), S. 38 ff.; Riesenberger (1985), S. 42 ff., 61 ff. Näher zu Bertha von Suttner, insbesondere mit kritischer Würdigung ihres Romans .,Die Waffen nieder!": Chickering (1975), S. 12 f. , 78 ff. m. w. N., 89 ff. ; Riesenberger(1985), S. 42 ff.; Clemens, in: Rajewski/Riesenberger (Hrsg.) [1987], passim; Holl (1988), S. 43,73 ff.; Benz, in: ders. (Hrsg.) [1988], S. 7 ff. Näher zu Alfred H. Fried: Wehberg, in: NDB, Bd. 5 (1961), S. 441 f.; Chickering (1975), S. 80 ff.; Riesenberger, in: Rajewski/Riesenberger (Hrsg.) [1987], S. 54 ff. Ausführlich zur Geschichte der ,,Friedens-Warte": Porsch, FW 74 (1999), S. 39 ff. 20 Vgl. Chickering (1975), S. 88; Riesenherger (1985), S. 42, 78 ff. ; Holl (1988), S. 60 und 83 ff.; Benz, in: ders. (Hrsg.) [1988], S. 12. Prägnant ist insoweit die Formulierung Holls, S. 86, der resümierend von einem .,wilhelminischen Anti-Pazifismus-Syndrom" spricht.

A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen

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senschaftlieberen Richtung des Pazifismus kann gerade Alfred H. Fried angesehen werden. 21 Fried argumentierte unter Rückgriff aufverschiedene andere pazifistisch orientierte Denke~2 • Friede bedeute nicht nur bloße Waffenruhe, sondern vielmehr einen Zustand des Kräfteausgleichs und der Ordnung der Kulturstaaten, in der Gewaltanwendung auch auf zwischenstaatlicher Ebene zur seltenen Ausnahme werde. Der zu beobachtende technische Fortschritt fördere quasi naturgesetzlich auch die Vervollkommnung der gesellschaftlichen Ordnung bis hin zur zwischenstaatlichen Ebene. Der Pazifismus müsse diese Gesetzmäßigkeit den Menschen bewußt machen, um die natürliche Entwicklung möglichst schnell zum höchsten Ertrag zu bringen, d. h. einen Zusammenschluß sämtlicher Kulturstaaten zu erreichen. Die neue Strömung der Friedensbewegung, die sich auch als "wissenschaftlicher Pazifismus" charakterisieren läßt,23 erwies sich rasch als mehrheitsfähig und bestimmte dementsprechend die Grundhaltung der deutschen Friedensbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 24

4. Einwirkungen des pazifistischen Gedankens auf die völkerrechtliche Praxis

Die pazifistische Bewegung ist auch gegenüber der Völkerrechtspraxis nicht ohne Einfluß geblieben. 25

21 Vgl. zum folgenden: Fried, Handbuch Bd. 1 (1911), S. 3 ff. Aus der Sekundärliteratur: Chickering (1975), S. 94 ff.; Scheer (1981), S. 125; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 15 f.; Riesenberger, in: Rajewski/Riesenberger (Hrsg.) [1987], S. 55 ff. 22 Hol/ (1988), S. 76, nennt vor allem Marx, Bloch, Nowicow und Schlief. Vgl. zu den Quellen Frieds auch Chickering (1975), S. 95 ff. 23 Fried selbst verwendete für die neue Richtung der Friedensbewegung im Verlauf der Jahre unterschiedliche Bezeichnungen. Im Jahr 1900 sprach er in ,.Die Haager Friedenskonferenz" (S. 21) noch von der ,.praktischen" Friedensbewegung, im Jahr 1905 prägte er den Ausdruck ,.revolutionärer Pazifismus", mit dem er verdeutlichen wollte, daß der Pazifismus sich nicht mit einer Reform des bisher anarchischen internationalen Systems zufriedengeben dürfe, sondern in revolutionärer Weise für eine grundlegende Veränderung dieses Systems eintreten müsse, vgl. Fried, FW 8 ( 1906), S. 1. In der zweiten Auflage der erstmals im Juli 1908 veröffentlichten Schrift ,.Die Grundlagen des revolutionären Pazifismus", die im Jahre 1916 erschien, änderte Fried den Titel in ,.Grundlagen des ursächlichen Pazifismus, womit er darauf abhob, daß seine Art von Pazifismus sich nicht auf eine Verbesserung der Symptome, sondern auf eine Umgestaltung der Ursachen des Krieges, sprich eine Beseitigung der internationalen Anarchie, konzentriere. 24 So vor allem Chickering (1975), S. 103/122. 25 Vgl. Grewe (1984), S. 606; Delbrück, in: ders. (Hrsg.), Friedensdokumente (1984),

s. 9.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

a) Humanisierung der Kriegsführung So lassen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bemühungen der Staaten beobachten, den Krieg zwar nicht abzuschaffen, aber doch wenigstens die Kriegsführung selbst zu humanisieren. Die Herausbildung eines "humanitären Völkerrechts"26 wurde vor allem eingeleitet durch die im engen Zusammenhang mit der Rotkreuzbewegung von Henri Dunant stehenden Genfer Konvention von 1864. Es folgten die Petersburger Konvention von 1868 und die Brüsseler Deklaration von 1874. Vor allem aber wurde die Ausbildung eines umfassenderen Kriegsrechts durch die beiden Haager Friedenskonferenzen gefördert. Die Erste Haager Friedenskonferenz27 wurde unter der Beteiligung von 27 Staaten auf Inititative des russischen Zaren Nikolaus I. in der Zeit vom 18. Mai bis 29. Juli 1899 veranstaltet. Neben den Diplomaten und Regierungsvertretern hielten sich auch eine Reihe prominenter Pazifisten, unter ihnen u. a. Bertha von Suttner, im Haag auf. Sie versuchten, den Verlauf der Konferenz im pazifistischen Sinne zu beeinflussen. In kriegsrechtlicher Hinsicht brachte die Erste Haager Konferenz mit dem Rotkreuzabkommen für den Seekrieg und der Haager Landkriegsordnung bedeutsame Ergebnisse. Die Zweite Haager Friedenskonferenz28 versammelte sich vom 15. Juli bis 18. Oktober 1907 in der niederländischen Hauptstadt. Unter Beteiligung von diesmal sogar 44 Staaten konnten im Bereich des humanitären Völkerrechts erneut beachtliche Ergebnisse erzielt werden, was die Unterzeichnung von drei den Landkrieg und acht den Seekrieg betreffenden Abkommen beweist. Diese Verträge sollte außerdem das Londoner Seekriegsrechtsabkornmen ergänzen, welches aber nie in Kraft trat, weil das englische House ofLords 1911 die Ratifikation verweigerte. 29

26 Zum folgenden: Nussbaum (1960), S. 249 ff.; Kimminich, Humanitäres Völkerrecht (1972), S. 14 ff.; Gasser (1995), S. 13 ff. 27 Zu Vorgeschichte und Durchführung der Ersten Haager Konferenz: Meurer, Bd. 1 (1905), S. 9-53; Scott, Bd. 1 (1909), S. 35-87; Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 201-212; Zorn, in: Das Werk vom Haag (1917), S. 1-42; Wehberg, RdC 37 (1931 III), S. 544 ff. Aus jüngerer Zeit: Mössner, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 671 ff.; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 787 ff.; Dülffer, FW 75 (1999), S. 98 ff.; Eyffinger (1999), passim. 28 Allgernein zur Zweiten Haager Friedenskonferenz: Nippold, ZIR 27 (1907), S. 504-520; Scott, Bd. 1 (1909), S. 88-187; Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 240-249; Wehberg, RdC 37 (1931 III), S. 610 ff. Ausneuerer Zeit: Mössner, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 674 ff.; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 787 ff.; Eyffinger (1999), S. 450 ff. 29 Zorn, Haager Friedenskonferenzen (1920), S. 63; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 790.

A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen

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b) Einfluß auf das Friedensvölkerrecht Entscheidender, gerade aus Sicht der Pazifisten, war jedoch die Frage, inwieweit es gelingen konnte, den Krieg nicht nur an gewisse Spielregeln zu binden, sondern ihn vielmehr möglicherweise als legale Erscheinung im Völkerrechtsleben ganz zu beseitigen. In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, daß die Bedeutung der Schiedsgerichtbarkeit für die Beilegung von Staatenstreitigkeiten im 19. Jahrhundert gegenüber früheren Epochen deutlich anwuchs. 30 Vor allem die USA und Großbritannien griffen wiederholt auf das Instrument des Schiedsgerichts zurück. 31 Auch auf den Haager Konferenzen zeitigten pazifistische Ideen im Bereich des Friedensrechts ihren Niederschlag: So konnte auf der Ersten Haager Konferenz eine bindende Einigung über einen Rüstungsstillstand oder eine Abrüstung zwar nicht erzielt werden. Insoweit blieb es bei einer unverbindlichen Erklärung der beteiligten Staaten. Unterzeichnet und dann auch von einer sehr großen Zahl von Staaten ratifiziert wurde aber das "Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle"32 : In dessen Art. 1 bekennen sich die Signatarstaaten zum Prinzip einer möglichst friedlichen Streitbeilegung, bevor in drei großen Abschnitten einzelne Instrumente der friedlichen Streitbeilegung behandelt werden: In Titel II (Art. 2-8) sind die Institute der Vermittlung und der guten Dienste näher geregelt. Während sich bei der Vermittlung ein Vermittler aktiv um einen sachlichen Ausgleich und eine Streitschlichtung zwischen den Parteien bemüht, bestehen die guten Dienste lediglich darin, Verbindungen zwischen den Streitteilen herzustellen, ohne daß der Dritte sich zum Streitgegenstand äußert oder seinen Einfluß in der Sache geltend machtY Gemäß Art. 2 sind die Staaten, nur "soweit die Umstände es gestatten" verpflichtet, sich der Vermittlung zu bedie30 Nussbaum (1960), S. 241 ff.; Grewe (1984), S. 606 ff.; Schlochauer, EPIL, Bd. 1 (1992), S. 218 f.; Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 782 f. 31 Vgl. etwa den Fall der "Alabama": Umstritten war zwischen den USA und Großbritannien die Verletzung von Neutralitätsregeln im amerikanischen Sezessionskrieg. Die USA warfen Großbritannien vor, es habe nicht verhindert, daß in britischen Werften Kriegsschiffe für die Sezessionsstaaten gebaut wurden. Die Entscheidung des Schiedsgerichts erging im Jahr 1872. Dazu: Nussbaum (1960), S. 242; Grewe (1984), S. 607; Seidel, EPIL, Bd. 1 (1992), S. 97 ff. 32 Abkommen betreffend die friedliche Erledigung internationaler Streitfälle vom 29.7.1899, RGBI. 1901, S. 393 ff.; abgedruckt auch bei: Meurer, Bd. 1 (1905), S. 378-391; Scott, Bd. 1 (1909), S. 224-229; auszugsweise auch in Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente (1984), Dokument Nr. 1. 33 Kunzmann, in: WVR, Bd. 3 (1962), S. 403.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

nen. In Titel III (Art. 9-14) wird für die Tätigkeit der sog. "internationalen Untersuchungskommissionen" eine rechtliche Regelung geschaffen. Eine solche Kommission sollte in einem internationalen Streitfall strittige Tatsachen durch eine gewissenhafte und unparteiische Untersuchung klarstellen, ohne im Streit selbst eine Entscheidung zu treffen. Auch dieses Instrument der friedlichen Streitbeilegung ist ausweislich von Art. 9 des Haager Friedensabkommens nur eine Empfehlung an die Staaten und keineswegs verpflichtend. Den Hauptteil der Konvention machen schließlich in Titel IV (Art. 15-57) die Regeln über die internationale Schiedssprechung aus. Auch die Schiedsgerichtsbarkeit wurde für die Staaten, vor allem auf Druck des Deutschen Reiches, im Konfliktfall nicht obligatorisch, sondern lediglich als fakultatives Angebot ausgestaltet. 34 Immerhin enthielt das Abkommen in Art. 19 aber eine Öffnungsklausel, die es den Vertragsparteien gestattete, in besonderen bilateralen Schiedsahkommen die friedliche Streitbeilegung mittels eines Schiedsgerichts in ihren jeweiligen Beziehungen unbedingt verpflichtend zu machen. Vor allem aufgrund der Propagandatätigkeit der Pazifisten wurde diese Klausel in der Zeit nach 1899 durch den Abschluß zahlreicher bilateraler Obligatorien häufig genutzt. 35 In institutioneller Hinsicht errichtete die Konvention einen sog. "Ständigen Schiedshof', der den Vertragsparteien und gemäß Art. 26 Abs. 2 auch anderen Staaten jederzeit zugänglich war. Dieser Schiedshof wurde aber- auf deutsches Drängen- im Gegensatz etwa zum heutigen Internationalen Gerichtshof nicht als wirklich ständige Einrichtung ausgestaltet. 36 Für einen Fall, den die Parteien vor das Gericht brachten, war nicht ein im voraus festgelegtes Richterkollegium zuständig. Vielmehr bestand der Schiedshof gemäß Art. 23 aus einer Liste von Schiedsrichtern, aus denen die Parteien im Bedarfsfall gemäß Art. 24 das konkrete Schiedsgericht auswählten. Neben dem Schiedshof errichtete die Konvention ein Internationales Büro (Art. 22) für administrative Zwecke, d. h. zur Unterstützung der schiedsrichterlichen Tätigkeit, und einen internationalen Verwaltungsrat (Art. 28), der aus Staatenvertretern bestand und den Geschäftsablauf im Haag in den großen Zügen vorgab und überwachte. Abschließend regelte die Konvention noch ausführlich die Verfahrensordnung des Schiedsprozesses, vgl. Art. 30-57 des Abkommens. 34 Meurer, Bd. 1 (1905), S. 177-185; Hull (1908), S. 326-331; Scott, Bd. 1 (1909), S. 321-330, vor allem S. 321; Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 218-220. 33 Vgl. Meurer, Bd. 1 (1905), S. 211; Scott, Bd. 1 (1909), S. 328 f.; Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 220 f.; Zorn, Haager Friedenskonferenzen (1920), S. 67. 36 Meurer, Bd. 1 (1905), S. 223-232; Hull (1908), S. 370-387, vor allem S. 386 f.; Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 221 f.

A. Völkerrechtsgeschichtlicher Rahmen

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Auch auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz bildeten die Beratungen zum Ausbau des Friedensvölkerrechts einen wichtigen Teil der Erörterungen. Vor allem wurden Möglichkeiten einer Revision des Friedensabkommens von 1899 erörtert. Im Ergebnis wurde zwar eine veränderte Konvention37 aufgelegt, der ursprüngliche Vertrag aber nicht grundstürzend verändert: Während der Titel über das Institut der Vermittlung praktisch nicht geändert wurde, statteten die Vertragsstaaten den Abschnitt über die internationalen Untersuchungskommissionen mit einer vollständigen Prozeßordnung für die zu bildenden Kommissionen aus. 38 Ausbauvorschläge einiger Staaten zum Herzstücks des Abkommens, d. h. zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, wurden von der Konferenz hingegen nicht angenommen: Zum einen erzielte man in der schon 1899 diskutierten Frage, ob die Schiedsgerichtsbarkeil für die Signatarstaaten obligatorisch werden sollte, also ein Einlassungszwang vor internationalen Gerichten begründet werden sollte, kein greifbares Ergebnis. Vor allem aufgrundder Bedenken der deutschen Regierung gegen eine solche umfassende und universelle Einführung des Prinzips der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeil beließen es die Delegierten bei einer dieses Prinzip grundsätzlich begrüßenden, aber gänzlich unverbindlichen Erklärung. 39 Auch die weitere, bereits 1899 heftig diskutierte Frage, ob die Rechtsprechung nicht einem wirklich ständigen Gremium im voraus bestimmter ständiger Richter mit regelmäßigen, kontinuierlichen Sitzungen übertragen werden sollte, wurde negativ entschieden. Zwar präsentierten einige Staaten Projekte, die in diese Richtung gingen. 40 Diese Entwürfe trafen jedoch wegen der Frage der Verteilung der Richterposten auf den entschiedenen Widerstand verschiedener, insbesondere kleinerer Staaten, die fürchteten, daß ihr eigenes Land keine Berücksichtigung bei der Besetzung der Richterbank finden würde. Nicht zu diesen skeptischen Staaten zählte allerdings das Deutsche Reich, das sich im Gegenteil sogar positiv zu dem

37 Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle vom 18.10.1907, RGBI. 1910, S. 5 ff.; der englische Text auch bei Scott, Bd. 2 (1909), S. 308-355; der französische Text in der ZIR 17 (1907), S. 428-442. V gl. auch Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente (1984), Dokument Nr. 2. 38 Nippold, ZIR 17 (1907), S. 524 bzw. 530; Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 249; Zorn, Friedenskonferenzen (1920), S. 65 f. 39 Nippold, ZIR 17 (1907), S. 556 f.; Hull (1908), S. 331-348; Scott, Bd. 1 (1909), 330-385; Fried, Handbuch Bd. 1 (1911), S. 249-253; Zorn, Friedenskonferenzen (1920), S. 67-73, hier vor allem S. 72. 40 Nippold, ZIR 18 (1908), S. 200 f.; Zorn, Friedenskonferenzen (1920), S. 73. Vgl. z. B. den Vorschlag der USA, abgedruckt bei Scott, Bd. 1 (1909), S. 821 f. 3 Bodendiek

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Gedanken äußerte. 41 Die Änderungen im Schiedsgerichtsteil des Abkommens blieben insgesamt marginal. Es wurde lediglich aus Gründen der Kosten- und Zeitersparnis ein summarisches Schiedsgerichtsverfahren eingeführt, vgl. Art. 86-90 n. F. 42 Bemerkenswerter war unter den friedensrechtlichen Ergebnissen die Unterzeichnung zweier separater Konventionen. Zum einen wurde auf der Zweiten Haager Konferenz die sog. Drago-Porter-Konvention unterzeichnet. 43 In diesem Vertrag wurde für die Geltendmachung von vertraglichen Ansprüchen eigener Staatsangehöriger gegenüber fremden Staaten ein teilweises Gewaltverbot ausgesprochen. Zwar machte man die Schiedsgerichtsbarkeit als Mittel zur Lösung solcher Konflikte nicht ausdrücklich obligatorisch, immerhin wurden aber die Signatarstaaten indirekt darauf verwiesen, den Schiedsweg zu beschreiten. Eine Selbsthilfe des Gläubigerstaates sollte nur zulässig sein, wenn der Schuldnerstaat eine schiedsgerichtliche Streitbeilegung schuldhaft verhindert hatte.44 Während die Drago-Porter-Konvention tatsächlich in Kraft getreten ist, erlangte die Haager Konvention zur Errichtung eines Internationalen Prisengerichtshofs nach ihrer Unterzeichnung keine praktische Wirksarnkeit.45 Sie sollte mehr Rechtssicherheit im Bereich des Prisenrechts schaffen, d. h. für jenen Bereich des Seekriegsrechts, der die Wegnahme eines feindlichen oder neutralen Handelsschiffs bzw. seiner Ladung betrifft. Nach der Konvention sollte die Rechtmäßigkeitskontrolle in diesem sensiblen Gebiet zwar grundsätzlich den Gerichten des die Prise nehmenden Staates verbleiben. Zugleich sollten diese nationalen Gerichtsentscheidungen aber in bestimmten Fällen, auf Antrag des betroffenen Staates oder gar der betroffenen Privatpersonen, vor einem internationalen Prisengerichtshof angefochten werden können.46 Der Internationale Prisengerichtshof, 41 Nippold, ZIR 18 (1908), S. 223; Scott, Bd. I (1909), S. 434 f.; Zorn, Friedenskonferenzen (1920), S. 73 f. 42 Nippold, ZIR 18 (1908), S. 248; Zorn, Friedenskonferenzen (1920), S. 66; Reibstein, Bd. 2 (1963), S. 212. 43 Konvention betreffend die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Vertragsschulden vom 18.10.1907, RGBl. 1910, S. 59 ff.; der französische Text auch in ZIR 17 (1907), S. 443 f.; vgl. auch Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente (1984), Dokument Nr. 3. 44 Nippold, ZIR 18 (1908), S. 250 ff.; Zorn, Friedenskonferenzen (1920), S. 66 f.; Benedek, EPIL, Bd. 1 (1992), S. 1102 f. 45 XII. Haager Konvention zur Errichtung eines internationalen Prisenhofes vom 19.10.1907. Französischer Text abgedruckt in: ZIR 17 (1907), S. 480-491. Vgl. auch Scheuner, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 1346-1348. 46 Nippold, ZIR 18 (1908), S. 273; Fried, Handbuch, Bd. I (1911), S. 259 f.; Wehberg, RdC 37 (1931 111), S. 636.

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dessen Errichtung in Titel 11 (Art. 10-27) des Abkommens geregelt wurde, sollte mit 15 ständigen Richtern besetzt werden. Acht dieser Richter sollten von den damaligen Großmächten berufen werden. Die kleineren und mittleren Staaten konnten nicht ständig mit einem Richter vertreten sein, was zu ihrem entschiedenen Widerstand gegen die Konvention führte. 47 Nachdem sich das englische Parlament geweigert hatte, das materielle Seekriegsrecht in Gestalt der Londoner Seerechtsdeklaration zu ratifizieren, war auch das Schicksal des prozessualen Rechts der Prisenhofkonvention besiegelt. Es wurde kein Prisenhof errichtet. 48 Schließlich bleibt hinsichtlich der praktischen Auswirkungen des pazifistischen Gedankens auf das Völkerrecht noch zu erwähnen, daß die Raager Institutionen in einer ganzen Reihe von Fällen tatsächlich zur Anwendung kamen. So konnte eine internationale Untersuchungskommission im sog. Doggerbank-Zwischenfall im Februar 1905 zu einer schnellen und befriedigenden Klärung eines Konflikts zwischen England und Rußland beitragen.49 Internationale Schiedsgerichte im Rahmen des Ständigen Schiedshofs wurden in den Jahren nach 1902 in einer ganzen Reihe von Fällen eingesetzt, wobei auch Konflikte mit, z. T. sogar ausschließlicher, Beteiligung von Großmächten betroffen waren. Als prominenteste Beispiele lassen sich die Beilegung des Venezuela-Streites von 1903 und der Casablanca-Krise zwischen Deutschland und Frankreich 1909 anführen. 50 Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnten die Raager Institutionen aber nicht verhüten. Sie spielten - während der auf die Ermordung des Österreichischen Thronfolgers in Sarajewo folgenden Krise im Juli/August 1914- gegenüber der traditionellen Geheimdiplomatie nur eine untergeordnete Rolle. 51

Scott, Bd. 1 (1909), S. 504; Wehberg, RdC 37 (1931 III), S. 636 f. Vgl. Wehberg, RdC 37 (1931 111), S. 637 f.; Reibstein, Bd. 2 (1963), S. 212. 49 Dazu Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 269; Nussbaum (1960), S. 248; Schneider, EPIL, Bd. 1 (1995), S. 1090. Ein weiterer Anwendungsfall dieser Einrichtung war der Fall des französischen Schiffes "Tarignano" aus dem Jahr 1912, in dem eine französisch-italienisch-englische Untersuchungskommission nach dem Haager Abkommen eingesetzt wurde, vgl. FW 14 (1912), S. 303. so Für einen Überblick über die Tätigkeit des Haager Schiedshofs 1902-1914, vgl. Fried, Handbuch, Bd. 1 (1911), S. 263-268 (bis April 1911); Meurer, Bd. 1 (1905), S. 286-288 (bis Anfang 1905); Nussbaum (1960), S. 246 f.; Eyffinger (1999), S. 442 ff. Eine Einzeldarstellung der Urteile des Haager Schiedshofs findet sich in: Das Werk vom Haag, hrsg. von Watther Schücking, Zweite Serie, Erster Band. SI Vgl. dazu Preiser, in: Evangelisches Staatslexikon (1975), Sp. 2825; Schücking, Völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges (1917), S. 25-205, mit einer ausführlichen Beschreibung, inwieweit überhaupt an eine Einschaltung der Haager Institutionen, d. h. Schiedshof bzw. Untersuchungskommission, gedacht wurde. 47 48

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

111. Die Zeit zwischen den Weltkriegen

Das Ende des Ersten Weltkrieges markiert eine entscheidende Zäsur in der völkerrechtsgeschichtlichen Entwicklung. So urteilt Grewe, daß 1918/19 der Übergang vomVölkerrechtder klassischen zumVölkerrechtder nachklassischen Periode erfolgt sei. Das bis dahin unorganisierte internationale System habe sich zu einem System gewandelt, in dem die Nationalstaaten offener für die Idee der Beschränkungen ihrer Souveränität geworden seien und der Völkerbund sich zu einem Rahmen für die Regulierung des internationalen Verkehrs entwickelt habe. Ein grundlegender Wandel sei auch insoweit eingetreten, als daß die Staaten begonnen hätten, den Krieg als legitimes Instrument nationaler Politik auszuschalten. 52

1. Die Pariser Friedensverträge Am Ende des Ersten Weltkrieges und damit am Beginn der nachklassischen Periode desVölkerrechts stehen zunächst die Pariser Friedensverträge, aus deutscher Sicht insbesondere der Friedensvertrag von Versailles. 53 Die Bedingungen der Friedensverträge wurden von den siegreichen Mächten der Entente ab Januar 1919 in Paris ausgehandelt. Der fertige Vertragsentwurf wurde der deutschen Delegation am 7. Mai 1919 vorgelegt. Während sich die deutsche Delegation in verschiedenen diplomatischen Noten bemühte, Änderungen zu ihren Gunsten zu erreichen, waren die Siegermächte nicht bereit, einzelne Vertragsbestimmungen zur Diskussion zu stellen.54 Nach einem Ultimatum vom 16. Juni wurde der ursprüngliche Vertragsentwurf vom Mai mit ganz geringfügigen Änderungen schließlich von der deutschen Regierung unterzeichnet. 55 Neben der Schaffung 52 Grewe (1984), S. 679; ders.. EPIL, Bd. 2 (1995), S. 839 f. Vgl. auch Scheuner, in: WVR, Bd. 3 (1962), S. 745, der im Ersten Weltkrieg ebenfalls die "Wasserscheide ... der internationalen Entwicklung" sieht. 53 Friedensvertrag zwischen dem Deutschen Reich und den Alliierten und Assoziierten Mächten vom 28.6.1919 (Versailler Vertrag), RGBI. 1919, S. 687 ff.; vgl. auch Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente (1984), Dokument Nr. 40 m. w. N. 54 Zu dem sich nach dem 7. Mai 1919 entspannenden "Notenkampf' zwischen der deutschen und den alliierten Delegationen, vgl. Huber, Bd. V (1978), S. 1156 ff.; Schwabe, in: ders. (Hrsg.) [1997], S. 22 ff., sowie die Dokumente bei Schwabe (Hrsg.) [1997], s. 249 ff. 55 Zur innerdeutschen Diskussion um Annahme oder Ablehnung des Vertrages, vgl. E. R. Huber, Bd. V (1978), S. 1159 ff.; Dreyer/Lembcke (1993), S. 157 ff. Für die Annahme votierten bei der Schlußabstimmung die SPD, das Zentrum und die USPD. Gegen

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des Völkerbundes, dessen Satzung mit ihren 26 Artikeln in allen Verträgen das integrierte erste Kapitel bildete, wurden im Friedensvertrag eine Reihe weiterer Folgen des Krieges geregelt. Diese Regelungen betrafen vor allem die neuen Grenzen Deutschlands, weitere politische Bestimmungen für Europa (wie die Besetzung des linken Rheinufers und die Einrichtung der freien Stadt Danzig) und die überseeischen Besitzungen Deutschlands sowie die Regelung der Kriegsschuldfrage zu Lasten Deutschlands in Art. 231 und die damit verbundene Verpflichtung, Kriegsverbrecher zu verfolgen und Reparationen zu zahlen. 56

2. Der Völkerbund Aus völkerrechtsgeschichtlicher Sicht sind von den Bestimmungen des Versailler Vertrages die Regelungen über den Völkerbund vorn größten Interesse. Der Völkerbund kann in seiner 1919 konkret beschlossenen Form als anglo-amerikanische Schöpfung betrachtet werden. Anstoß zu seiner Gründung waren neben der Arbeit von privaten Friedensgesellschaften aus dem englischsprachigen Raum eine Botschaft des englischen Außenstaatssekretärs Lord Grey sowie vor allem das Wirken des US-amerikanischen Präsidenten Wilson. In seinen berühmten "14 Punkten zur Grundlage für einen künftigen Friedensschluß" vom 8. Januar 1918 nannte er die Gründung eines Völkerbundes als letzten Punkt und setzte sich als "entschiedenster Vertreter des Völkerbundgedankens" für dessen Realisierung ein.57 Auch die tatsächliche Ausgestaltung der Völkerbundsatzung ergab sich aus einem Zusammenspiel von englischen und amerikanischen Regierungskreisen. 58 Aufbauend auf einem Entwurf der von der britischen Regierung eingesetzten sog. ,,Philimore-Kommission" vorn März 1918 wurde nach zahlreichen Modifikationen am 28. April1919 auf der Versailler Friedenskonferenz der Siegermächte diejenige Version der Satzung des Völkerbundes vorgestellt, die mit ganz unwesentlichen Veränderungen Gegenstand u. a. des Versailler Friedensvertrages vorn 28. Juni 1919 wurde. Ein Gegenentwurf der deutschen Regierung vorn 9. Mai die Annahme sprach sich neben der DNVP und der DVP der weitaus überwiegende Teil der DDP - für die auch Schücking zu dieser Zeit in der Nationalversammlung saß- aus. 56 Vgl. E. R. Huber, Bd. V (1978), S. 1174 ff.; von Puttkamer, EPIL, Bd. 4 (1982), s. 278 f. 51 Zum Vorstehenden: Weber, in: Wolfrum (Hrsg.), Bd. 2 (1995), S. 849; Schückingl Wehberg (1924), Kommentar, S. 5; Parry, EPIL, Bd. 3 (1997), S. 177. 58 Dazu Grewe (1984), S. 691, Fn. 16; Parry, EPIL, Bd. 3 (1997), S. 177; Weber, in: Wolfrum (Hrsg.), Bd. 2 (1995), S. 849; Schücking/Wehberg, Satzungskommentar (1924), s. 11-19.

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l. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

1919 wurde von den Alliierten verworfen und gewann keinerlei Einfluß auf die endgültige Fassung der Völkerbundsatzung. 59 Zu den Hauptorganen des neu gegründeten Völkerbundes gehörten die Versammlung des Völkerbundes- eine periodische Zusannnenkunft von Staatenvertretern, der grundsätzlich gemäß Art. 3 VBS für alle Angelegenheiten des Völkerbundes eine allgemeine Kompetenz zustand, die aber keine rechtsverbindlichen Beschlüsse, sondern nur Empfehlungen aussprechen konnte- sowie der Völkerbundrat, der gemäß Art. 4 VBS gewissennaßen als Exekutivausschuß unter besonderer Betonung der Rolle der Großmächte tätig wurde. Seine Kompetenzen waren zwar grundsätzlich ebenfalls umfassend, konzentrierten sich aber im Bereich der Friedenserhaltung.60 Als permanentes Verwaltungsorgan war das Sekretariat des Völkerbundes vorgesehen. Außerdem wurde im Jahr 1922 aufgrundeines eigenen Statuts der in Art. 14 VBS vorgesehene Ständige Internationale Gerichtshof eingesetzt.61 Der Aufgabenbereich des Völkerbundes urnfaßte vorrangig die Friedenssicherung im engeren Sinne62 , deckte daneben aber noch weitere Funktionen ab: So war der Völkerbund u. a. gemäß Art. 22 ff. VBS für die Durchführung eines Systems von Mandaten über verschiedene Kolonialgebiete und die Aufsicht über die weltweiten Spezialorganisationen zuständig. Daneben trat die Ausführung zahlreicher Bestimmungen der Friedensverträge, etwa derjenigen über den Schutz der nationalen Minderheiten. Das Friedenssicherungssystem der Völkerbundsatzung hatte folgendes Aussehen: Die Mitgliedsstaaten garantierten sich in Art. 10 in allgemeiner Form gegenseitig ihre territoriale Unversehrtheit. Der Krieg bzw. die Kriegsdrohung gegen einen der Mitgliedsstaaten wurde nach Art. 11 als Angelegenheit des ganzen Bundes definiert, die Wiederherstellung des Friedens als Aufgabe des Völkerbundes verstanden. 63 Dennoch wurde durch die Völkerbundsatzung kein umfassendes, absolutes Gewaltverbot herbeigeführt.64 Statt dessen zählten die Art. 12 ff. detaillierte V erpflichtunVgl. Schücking/Wehberg, Kommentar (1924), S. 20 f. Verdross!Simma (1984), § 86; Parry, EPIL, Bd. 3 (1997), S. 181 f.; zur Überschneidung der Kompetenz von Rat und Versammlung Schücking/Wehberg, Kommentar (1924), s. 382 f. 61 Barandon, Vereinte Nationen und Völkerbund (1948), S. 62; Verdross!Simma (1984), § 86; Parry, EPIL, Bd. 3 (1997), S. 182. 62 Verdross!Simma (1984), § 85; Weber, in: Wolfrum (Hrsg.), Bd. 2 (1995), S. 850 f. 63 Vgl. zu Art. 10 f. VBS: Verdross!Simma (1984), § 87; Weber, in: Wolfrum (Hrsg.), Bd. 2 (1995), S. 851; Parry, EPIL, Bd. 3 (1997), S. 178. 64 Berber, Bd. 2 (1962), S. 33; Randelzhofer, in: Sirnma (Hrsg.) [1994], Art. 2 (4), Rn. 7. '9 60

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gen der Mitgliedsstaaten auf, die den Beginn eines Krieges durch die Mitgliedsstaaten nach Möglichkeit erschweren sollten. Nach Art. 12 Abs. l VBS mußte in einer Konfliktsituation entweder der Rat des Völkerbundes oder ein Schiedsgericht mit der Frage beschäftigt werden. In keinem Fall durfte vor Ablauf der "Cooling-off'Periode, einer Drei-Monats-Frist nach der Entscheidung des Schiedsgerichts bzw. des Völkerbundrates, zum Krieg geschritten werden. Nach Art. 15 Abs. 6, l3 Abs. 4 S. l VBS durfte ferner gegen einen Konfliktgegner, der sich dem Schiedsspruch bzw. einem einstinunigen Beschluß des Rates unterwarf, überhaupt nicht zum Krieg geschritten werden. Dennoch verblieben verschiedene Schlupflöcher, z. B. im Fall einer bloß mehrheitlichen und nicht einstinunigen Beschlußfassung im Rat,65 die einem entsprechend entschlossenen Staat auch in rechtlicher Hinsicht das Führen eines Angriffskrieges nicht untersagten. 66 Das Friedenserhaltungssystem der Völkerbundsatzung wurde in den Artikeln 8 und 9 VBS durch die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur militärischen Abrüstung ergänzt. Allerdings war diese Verpflichtung eher programmatischer Art, da die Völkerbundsatzung die mitgliedsstaatliehen Rüstungen nicht unmittelbar beschränkte, sondern auf die Schaffung von gesondert zu vereinbarenden, durch den Völkerbundrat zu initiierenden Abrüstungsplänen verwies. Ferner regelte die Satzung die Möglichkeit, gegen diejenigen Staaten, die ihren Friedenspflichten gemäß Art. 12 ff. VBS nicht nachkamen, Sanktionen zu verhängen. Dabei bestand zwar gemäß Art. 16 Abs. 1 VBS die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, gegen den Friedensbrecher wirtschaftliche Sanktionen zu ergreifen. Eine zentrale Instanz, die autoritativ feststellen konnte, ob ein Bundesbruch vorlag, wurde aber nicht eingerichtet.67 Des weiteren waren in Art. 16 Abs. 2 VBS militärische Sanktionen geregelt, ohne daß sich aus dieser Vorschrift eine wirksame Verpflichtung der Völkerbundmitglieder zu einem bewaffneten Vorgehen gegen die friedensbrechenden Staaten ableiten ließe. 68 65 Zu dieser Fallgruppe: Berber, Bd. 2 (1962), S. 33; Verdross/Simma (1984), § 87; Weber, in: Wolfrum (Hrsg.), Bd. 2 (1995). S. 851. 66 Vgl. Berber, Bd. 2 (1962), S. 34; Grewe (1984), S. 729 f.; Parry, EPIL, Bd. 3 (1997), s. 178. 67 Vgl. dazu Schücking!Wehberg, Kommentar (1924), S. 610 ff., unter Hinweis aufeine Resolution der 2. Bundesversammlung des Völkerbundes aus dem Jahre 1921 (Journal Officiel 1921, S. 806/814), in der eine- später nicht ratifizierte- Satzungsänderung bzgl. Art. 16 VBS einstweilen als verbindliche Auslegungsrichtlinie deklariert wurde. In Ziff. 4 dieser Richtlinie heißt es, es komme den verschiedenen Mitgliedern zu, zu bestimmen, ob ein Bruch der Völkerbundsatzung vorliege. Vgl. dazu Rappard, RdC 71 (1947 II), S. 212 ff.; Martenczuk (1996), S. 136 f. 68 Weber, in: Wolfrum (Hrsg.), Bd. 2 (1995), S. 851 f.; Parry, EPIL 3 (1997), S. 178 f. Auch Schücking/Wehberg, Satzungskommentar (1924), S. 632, nahmen zwar grundsätzlich

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

3. Völkerrechtsentwicklungenjenseits der Völkerbundsatzung

Die Lücken des Friedenserhaltungskonzepts des Völkerbundes führten dazu, daß die Staaten außerhalb des Rahmens der Völkerbundsatzung weitere Anstrengungen unternahmen. Zu nennen ist das sog. "Genfer Protokoll über die friedliche Regelung internationaler Streitfälle",69 das am 1. Oktober 1924 in der fünften Völkerbundversannnlung angenommen, später aber von keinem Staat ratifiziert wurde.70 Das Genfer Protokoll sah ein gänzliches Verbot des Angriffskrieges, kombiniert mit einer über die Völkerbundsatzung hinaus gehenden Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung, vor. Die Vertragsstaaten sollten sich gemäß Art. 3 des Protokolls der obligatorischen Rechtsprechung des StiGH unterwerfen. Für die Streitigkeiten, die aufgrund der Fassung der jeweiligen Unterwerfungserklärungen nicht von diesem Obligatorium erfaßt wurden, war in Art. 4 ein differenziertes, stark gestuftes Verfahren der friedlichen Streitbeilegung vorgesehen: Sollten die Parteien sich nicht auf die gerichtliche oder schiedsgerichtliche Lösung des Konfliktes einigen, hing das weitere Vorgehen davon ab, ob wenigstens eine der Konfliktparteien nach einer schiedsgerichtlichen Konfliktlösung verlangt hatte. War dies der Fall, sollte gemäß Art. 4 Abs. 2 ein Schiedsausschuß gebildet werden. Begehrte keiner der beteiligten Staaten eine schiedsgerichtliche Lösung, entschied der Rat. Ein einstimmiger Ratsbeschluß sollte gemäß Art. 4 Abs. 3 S. 2 GP wie schon in der Völkerbundsatzung verbindlich sein. Ein nicht einstimmig zustandegekommener Beschluß sollte zur Berufung eines isolierten Schiedsgerichts durch den Völkerbundrat führen, das gemäß Art. 4 Abs. 4 GP eine endgültige Konfliktlösung zu treffen hatte. Abgerundet wurde das Reformwerk durch eine Verstärkung der gemeinschaftlichen Sanktionsmechanismen und einen ambitionierten Abrüstungsplan. 71 Weiter ist auf den Locarno-Pakt (Rheinpakt) vom 16. Oktober 192572 hinzuweisen. In diesem auf das westliche Europa beschränkten Vertrag schlossen eine entsprechende Handlungspflicht der Mitgliedstaaten an, konzedierten aber, daß diese von den betreffenden Mitgliedern effektiv ohne weiteres unterlaufen werden konnte. 69 Abgedruckt in: Journal officiel, Supplementspecial Nr. 21, Oktober 1924, S. 21 ff. ; ZIR 33 (1924/25), S. 163-201. 1923 war bereits der von Lord Robert Cecil entwickelte sog. "Garantieplan" gescheitert, vgl. Wehberg, RdC 24 (1928 IV), S. 170 ff., sowie von der Heydte, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 529 ff. 70 Zu diesem Scheitern vgl. vor allem Thieme (1927), S. 62 ff.; P. Kaufmnnn (1927), s. 41. 71 Schlochauer, Friedenssicherung (1946), S. 8; Barandon (1948), S. 112 f. ; Berber, Bd. 2 (1962), S. 34; Grewe (1984), S. 7251730; Randelzhofer, in: Simma (Hrsg.) [1994], Art. 2 (4), Rn. 9. 72 RGBI. 1925 II, S. 976 ff. Auszugsweise abgedruckt in: Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente (1984), Dokument Nr. 6.

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Deutschland, Frankreich und Belgien einen Nichtangriffspakt, der verbunden wurde mit einer Garantie der Grenzen zwischen diesen Staaten durch England und Italien sowie mit Schiedsgerichtsverträgen Deutschlands mit Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei und Polen. Im Ergebnis bedeutete der Vertrag ein generelles Kriegsverbot auf regionaler, mitteleuropäischer Ebene. Er machte den Weg frei für den 1926 erfolgten Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. 73 Als bedeutsamer für die langfristige Fortentwicklung des Völkerrechts ist allerdings der Pariser Kriegsächtungsvertrag vom 27. August 1928, der sog. Briand-Kellogg-Pakt/4 einzustufen. Auch wenn seine juristische Bedeutung nicht immer einheitlich bewertet worden ist, kann man doch -jedenfalls dem Grundsatz nach- davon sprechen, daß die Vertragsstaaten in ihren Beziehungen die Lücken des Kriegsverbotes der Völkerbundssatzung schlossen und einen generellen Kriegsverzicht aussprachen. 75 Es waren nur noch ausgesprochene Verteidigungskriege und solche kriegerischen Maßnahmen zulässig, die aufgeund der Völkerbundsatzung oder der Locarnoverträge als Kollektivmaßnahmen ergriffen werden konnten. Nicht zu leugnen sind aber auch die Defizite des Briand-Kellogg-Paktes. Zum einen blieb die Definition des Krieges gegenüber dem heutigen Verbot jeglicher zwischenstaatlicher bewaffneter Gewalt zurück, zum anderen besaß der Pakt weder ein eigenes Sanktionssystem, noch war eine Verknüpfung mit den Sanktionsmechanismen des Völkerbundes vorgesehen.76 Diese mangelnde Abstimmung mit der Völkerbundsatzung ist insbesondere darauf zurückzuführen, daß der Briand-Kellogg-Pakt auf Initiative der USA 73 Vgl. Barandon (1948), S. 114 ff.; Nussbaum (1960), S. 281; Berber, Bd. 2 (1962), S. 34; Kimminich, in: Picht!Eisenbarth (Hrsg.) [1973], S. 322 f.; Randelzhofer, in: Siroma (Hrsg.) [1994], Art. 2 (4), Rn. 9. Zur Vorgeschichte des Locamo-Paktes, vgl. Strupp, Das Werk von Locamo (1926), S. 1-60; Walters, Bd. 1 (1952), S. 283 ff. 74 Abgedruckt z. B. LNTS, Bd. 94 (1929), S. 57-64; ZIR 39 (1928/29), S. 421-432. Vgl. an älteren Darstellungen zur Entstehung des Paktes: Miller, Peace Pact of Paris (1928), passim; Shotweil (1929), passim; Myers (1929), passim; Wehberg, Ächtung des Krieges (1930), S. 83 ff. Vgl. aus heutiger Sicht: Buchheit (1995), S. 28 ff.; Kastner, JA 1999, S. 709 ff., sowie Roscher, FAZ vom 7.12.1999, S. 12. 1 s Zur völkerrechtsgeschichtlichen Bedeutung aus Nachkriegssicht, vgl. Schlochauer, Friedenssicherung (1946), S. 9; Barandon (1948), S. 119 f. ; Wehberg, RdC 78 (1951 1), S. 43 ff.; Walters, Bd. 1 (1952), S. 377 ff.; Berber, Bd. 2 (1962), S. 35-40; Verdross/ Simma (1984), § 89; Randelzhofer, in: Siroma (Hrsg.) [1994], Art. 2 (4), Rn. 10. 76 Aus heutiger Sicht sind noch weitere Schwächen zu benennen, die dazu führen, daß das Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Paktes deutlich hinter dem Standard zurückbleibt, der im heutigen Völkerrecht durch das in Art. 2 Abs. 4 UN-Charta niedergelegte und darüber hinaus auch gewohnheitsrechtlich geltende Gewaltverbot gesetzt wird. Vgl. dazu Barandon, Vereinte Nationen und Völkerbund (1948), S. 121; Randelzhofer, in; Siroma (Hrsg.) [1994], Art. 2 (4), Rdnr. 10; Kastner, JA 1999, S. 710.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

geschaffen wurde, die dem Völkerbund ferngeblieben war. 77 Die amerikanischen Bemühungen zur Friedenssicherung umfaßten neben dem Pakt die 1931 im Zusammenhang mit dem japanisch-chinesischen Konflikt ausgesprochene sog. "Stimson-Doktrin", die eine Politik der Nichtanerkennung gegenüber völkerrechtswidrigen Territorialgewinnen postulierte, sowie verschiedene Bemühungen zur Regelung der Kriegsschulden (u. a. das "Hoover-Moratorium"), mit deren Hilfe die USA die friedliche politische Entwicklung in Europa zu beeinflussen suchten. 78

4. Das Scheitern des Völkerbundes Noch zu Lebzeiten Schückings begann in den frühen dreißiger Jahren der Niedergang des Völkerbundes. Im Jahr 1931 konnten sich die Mitgliedsstaaten des Völkerbundes nicht auf ein effektives Vorgehen gegen die japanische Eroberungspolitik in der Mandschurei verständigen. 79 Als 1935 italienische Truppen in Abess.inien einmarschierten, griff der Völkerbund nur sehr halbherzig zu Sanktionsmaßnahmen gegen die Italiener. Die Staaten nahmen 1936 schließlich sogar die endgültige Annexion Abessiniens hin. 80 Eklatante Symptome der Krise der Völkerbundidee waren schließlich die im Jahr 1933 erklärten und satzungsgemäß im Jahre 1935 wirksam gewordenen AustritteJapansund Deutschlands aus dem Völkerbund. 81 Insgesamt konnte das Projekt des Genfer Völkerbundes daher bereits Mitte der dreißiger Jahre als gescheitert betrachten werden.

71 Grewe (1984), S. 693; vgl. auch Nussbaum (1960), S. 281. ZurEntstehungdes Paktes vor dem Hintergrund der starken amerikanischen Kriegsächtungsbewegung, vgl. Wehberg, RdC 24 (1928 IV), S. 174 ff.; Wette, in: HoHlWette (Hrsg.) [1981], S. 153 f. 78 Vgl. Nussbaum (1960), S. 281; Grewe (1984), S. 693 bzw. 708. 79 Vgl. Kunz, ZVR 16 (1932), S. 714 ff.; Walters, Bd. 2 (1952), S. 465 ff.; Henig (1973), S. 91 ff.; Bendiner (1975), S. 232 ff.; Northedge (1986), S. 137 ff. 80 Im Juli 1936 wurden die zunächst gegen Italien verhängten Sanktionen wieder aufgehoben, vgl. Pfeil (1976), S. 4, 22 f., der diese Aufuebung als Vorgang bezeichnet, der den endgültigen Niedergang des Völkerbundes manifestiere. Siehe auch Henig (1973), s. ll7ff. 81 Zu den vorgenannten Ereignissen: Verdross/Simma (1984), § 87; Grewe (1984), S. 708 f.; Martenczuk (1996), S. 138 f. Deutschlands vorn 19.10.1933 datierende Austrittserklärung ging dem Völkerbund am 21.10.1933 zu, so daß der Austritt zum 21.10.1935 wirksam wurde.

B. Zur Biographie Schückings

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B. Zur Biographie Schückings Auch wenn der Darstellung der Biographie Schückings nach dem Grundkonzept der Arbeit nicht das Schwergewicht zukommt, soll versucht werden, einen kompakten und zugleich möglichst vollständigen Eindruck seines Lebenslaufs zu vermitteln und einige bislang weniger besprochene Aspekte seines Lebens stärker zu erhellen. Auf diese Weise soll vor allem auch das Verständnis für die persönlichen Hintergründe des wissenschaftlichen Werks Schückings geschaffen werden.

I. Die familiäre Herkunft Schückings In verschiedenen biographischen Schriften wird die große Bedeutung betont, die die Traditionen der spätestens seit dem 14. Jahrhundert fest in Westfalen verwurzelten82 Familie für den Lebensweg und das wissenschaftliche Schaffen Walther Schückings gehabt haben. So findet sich in den Reihen der Familie Schücking schon seit langer Zeit eine große Zahl von Juristen, nach dem Dreißigjährigen Krieg vor allem in verschiedenen Positionen im Dienst des Fürstbistums Münster. 83 Diese juristische Tradition setzten auch Schückings Urgroßvater Paulus Modestus (1787-1867),84 u. a. Richter und Amtmann in Sögel, Kreis Aschendorf, Großvater Levin (1814-1883)85 und sein Vater Lothar (1844-1901)86 fort,

82 C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 174; Acker (1970), S. 4; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 232; Lütgemeier-Davin, Lotbar Enge1bert Schücking (1998), s. 14 f. 83 Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 162; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 174, sowie vor allem die Darstellung bei Acker (1970), S. 4 f. 84 Hüffer, in: ADB, Bd. 32, S. 643 f. "Wehberg, FW 35 (1935), S. 190; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 174. Vgl. insbesondere auch Hüffer, in: ADB, Bd. 32, S. 643-647. Levin Schücking wurde aufgrundseines Vomamens häufig für einen Juden gehalten. Auch seine Nachfahren und insbesondere Walther SchOcking waren später immer wieder antisemtischen Anfeindungen ausgesetzt. So mutmaßt der von dem Antisemiten Philipp Stauf! herausgegebene sog. "Semi-Kürschner", eine 1913 angefertigte Aufstellung von im öffentlichen Leben auftretenden Deutschen jüdischer Abstammung, in den Sp. 454 f., daß auch Schückings Großmutter Louise von Gall,)udenblut in den Adern" gehabt habe. Jedenfalls lege die Weltanschauung der jüngeren Generation der Schückings, gemeint sind in erster Linie Walther und Lotbar Engelbert Schücking, dieses nahe. Weitere antisemitische Angriffe gegen Walther Schükking finden sich z. B. 1908 in den Deutsch-Sozialen Blättern (vgl. dazu Lütgemeier-Davin, Lotbar Engelbert Schücking [1998], S. 94, Fn. 47), in den Deutschen Hochschulstimmen

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l. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

der z. B. als Landgerichtsrat in Münster tätig gewesen ist. Auch Schückings Bruder Lothar Engelbert (1873-1943) ,87 Bürgermeister von Husum und später Rechtsanwalt in Dortmund, Walther Schückings Sohn Christoph Bernhard (geb. 1912), Landrat in Dithmarschen und Staatssekretär in Kiel, sowie seine Enkel Jan Prosper, Kreisoberrechtsrat in Marburg, und Christoph, Anwalt in Frankfurt/Main, blieben der Rechtswissenschaft treu. Daneben besitzt die Farnilie Schücking eine beachtliche künstlerische Tradition. Schon Schückings Urgroßmutter, Katharina Busch (1791-1831), hat verschiedentlich Gedichte in Zeitschriften und literarischen Taschenbüchern veröffentlicht.88 Auch ihr Sohn, Schückings bereits erwähnter Großvater Levin, ergriff sehr bald anstelle des Juristenberufs den Beruf des Schriftstellers. Er betätigte sich zunächst als Literaturkritiker und Feuilletonredakteur bei verschiedenen Zeitungen, veröffentlichte vor allem aber auch eine Vielzahl von Romanen, Gedichten und Novellen. 89 Besonders bekannt ist, daß Levin Schücking enge freundschaftliche Beziehungen zur berühmten Dichtenn Annette von DrosteHülshoff(1197-1848) unterhielt. Er war aber ebenfalls mit anderen Dichterpersönlichkeiten der Vormärzzeit wie Heinrich Heine (1797-1856) und Ferdinand Freiligrath (1810-1876) gut bekannt.90 Auch Levins Frau, Walther Schückings Großmutter väterlicherseits, die hessische Generalstochter Louise von Gall (1815-1855) ist als Autorin verschiedener Novellen in der Öffentlichkeit hervorgetreten.91 Walther Schücking selbst, so das verbreitete Urteil, sei nicht im eigentaus der Ostmark vom 15.11.1915, Jg. 7, Heft 35/36, und in der Deutschen Wochenschau vom 4.10.1930. Vgl. dazu auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 187, Fn. 35. 86 Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 163; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 175; Lütgemeier-Davin, Lothar Engelbert Schücking (1998), S. 12 f. 87 V gl. Wehberg, FW 43 (1943), S. 178 ff.; Lohmeier, in: Biographisches Lexikon S-H, Bd. 7 (1985), S. 281; Wieland, in: Josephson (Hrsg.) [1994], S. 852 f. Vor allem aber auch Lütgemeier-Davin, Lothar Enge1bert Schücking (1998), passim. 88 Hüffer, in: ADB, Bd. 32 (1891), S. 643 ff. Vgl. auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 162; ders., FW 35 (1935), S. 187; Acker (1970), S. 5. 89 Zu nennen sind u. a. folgende WerkeLevin Schückings: Der Familienschild (1841), Eine dunkle Tat (1846), Die Ritterbürtigen (1846), Der Bauernfürst (1851). 90 Acker (1970), S. 5; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 232. Zur Beziehung zwischen Schücking und von Droste-Hü1shoff, vgl. Hüffer, in: ADB, Bd. 32 (1891), S. 644 ff.; Levin Schücking, Annette von Droste- ein Lebensbild (1862); Watther Schükking, Annette von Droste (1897); ders., Annette von Droste, Levin Schücking und Louise von GaU (1928). 91 Hüffer, in: ADB, Bd. 32 (1891), S. 646; Müller, in: Deutsches Literaturlexikon, Bd. 6 (1978), Sp. 35 f. Lütgemeier-Davin, Lothar Enge1bert Schücking (1998), S. 15, weist auf weitere schriftstellerische tätige Familienangehörige hin, insbesondere aufWalther Schükkings Tante Theophanie (1850-1903) und seinen Onkel Adrian (1852-1914).

B. Zur Biographie Schückings

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liehen Sinne künstlerisch begabt gewesen. Wohl aber wird der künstlerischen Familientradition zugutegehalten, daß sie ihm das nötige Maß an Phantasiebegabung mitgegeben habe, um im Bereich der Jurisprudenz nicht vor dem Erdenken neuartiger juristischer Konzepte zurückzuschrecken.92 Ein weiterer familiärer Einfluß auf das Leben und Werk Schückings ist in der liberalen Geisteshaltung seiner Familie zu sehen. Vor allem durch die Vermittlung seiner Mutter Louise Beitzke ( 1849-1920) war Walther Schücking mit dem politischen Erbe seines Großvaters, Heinrich Beitzke (1798-1867) geistig eng verbunden.93 Dieser nahm bereits in sehr jungen Jahren als Freiwilliger am preußischen Freiheitskrieg von 1814/15 teil. Er blieb auch nach dem Feldzug gegen Frankreich als Offizier in der preußischen Armee, bis er 1845 seinen Abschied nahm und sich seinen publizistischen Neigungen widmete. U. a. schrieb er über den Freiheitskrieg eine vielbeachtete, mit dem Ehrendoktortitel der Universität Jena gewürdigte historische Abhandlung.94 1858 entdeckte Beitzke seine politische Berufung und agierte über Jahre als einer der prominentesten und im Volk beliebtesten Abgeordneten der Fortschrittspartei im preußischen Landtag. In dieser Eigenschaft wird er als einer der härtesten Gegner Bismarcks während der Zeit des Verfassungskonflikts geschildert, der wiederholt Repressionen seitens des preußischen Ministerpräsidenten ausgesetzt war.95 Auch die väterliche Linie, also die Familie Schücking, orientierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends zum Liberalismus hin. So waren die Romane Levin Schückings von einem durchaus fortschrittlichen, z. B. gegenüber dem Adel in seiner westfälischen Heimat kritischen Geist geprägt. 96 Lothar Schücking, 92 Wehberg, FW 35 (1935), S. 162; C. B. Schücking, in: 50 Jahre UR (1965), S. 177. Walther Schücking selbst hat sich wohl nur einmal in seinem Leben im eigentlichen Sinne literarisch versucht: Im Göttinger Musenalmanach von 1899 veröffentlichte er die Erzählung ,,Der Mormonenhäuptling", vgl. dazu Wehberg, FW 35 (1935), S. 191 f. 93 Schücking schrieb nicht nur 1913 einen Aufsatz über seinen Großvater (,.Heinrich Beitzke- der Geschichtsschreiber der Freiheitskriege, Heimatkunde und Heimatschutz in Hinterpommem"); er widmete auch die aus dem gleichen Jahr stammende Schrift ,.Neue Ziele der staatlichen Entwicklung" seinem Großvater, vgl. Kohl, in: KritischeJustiz (Hrsg.) [1988], S. 234. Vgl. auchLohmeier, in: Biographisches Lexikon S-H, Bd. 7 (1985), S. 282. 94 Heinrich Beitzke, Die Geschichte der Freiheitskriege, 3 Auflagen 1855-1864, dazu Wegele, in: ADB, Bd. 2 (1875), S. 295 f. 95 Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 163; ders., FW 35 (1935), S. 188; C. B. Schücking, in: 50 Jahre UR (1965), S. 175; Acker (1970), S. 5; Münch, in: Macburger Gelehrte (1977), S. 232. Zur Person Beitz/ces Wegele, in: ADB, Bd. 2 (1875), S. 295 f. 96 Hüffer, in: ADB, Bd. 32 (1891), S. 645 f., nennt den Roman "Die Ritterbürtigen" von 1846. Wehberg, FW 35 (1935), S. 162, meint gar, die RomaneLevin Schückings seien bereits von pazifistischen Ideen beeinflußt worden.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Walthers Vater, stand dem Liberalismus nahe, tendierte aber eher in die Richtung der Nationalliberalen.97 Der Regierung Bismarck stand er daher grundsätzlich offen gegenüber, was auch denjungen SchOcking zunächst noch beeinflußt haben dürfte. 98 Der Wandel der politischen Anschauung der Familie ging einher mit einem Konfessionswechsel: Die ursprünglich dem im Münsterland ganz herrschenden katholischen Glauben anhängende Familie SchOcking trat zunächst zum altkatholischen und schließlich zum protestantischen Glauben über. 99

ß. Kindheit und Schulzeit Schückings Walther SchOcking wurde am 6. Januar 1875 in Münster geboren und verbrachte die ersten Lebensjahre in Burgsteinfurt. Im Jahre 1879 zog er mit der Familie wegen einer Versetzung des Vaters wieder zurück nach Münster. 100 Hier verlebte er seine weitere Kindheit und Jugend, soweit sich die Familie nicht zu Ferien- und Festzeiten auf ihrem Landgut in Sassenberg im Münsterland aufhielt. Die elterliche Erziehung war durch die gegensätzlichen Erziehungsstile von Lothar und Louise Schücking geprägt. Während der Vater in seinem Umgang mit den Kindern als eher streng beschrieben wird und ihnen wohl bereits in jungen 97 V gl. Lütgemeier-Davin, Lotbar Engelbeet Schücking (1998), S. 17, der angibt, Lotbar Schücking sei zeitweise Vertrauensmann der Nationalliberalen in Münster gewesen. 98 Wehberg, FW 35 (1935), S. 192 f. Auch Acker (1970), S. 10, verweist darauf, daß Schücking in seiner Studienzeit einmal mit einer studentischen Delegation beim Reichskanzler zu Besuch gewesen sei. Später ist Schückings Einstellung zu Bismarck zwiespältig gewesen. Schücking würdigt durchaus die ,.hohe staatsmännische Weisheit und ,.Genialität" des Reichskanzlers, vgl. Schücking, Weltrassenkongreß (1911); ders., Bismarck und Österreich-Ungarn (1915), S. 230. Er macht andererseits aber auch deutlich, daß seines Erachtens die Politik Bismarcks sowohl in innen- als auch in außenpolitischer Hinsicht fatale Folgen für die Nachwelt gehabt und für die geistige Isolierung Deutschlands in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg mitverantwortlich gewesen ist, vgl. Schücking, Staatsphilosophie des Reichskanzlers (1910); ders., L'Allemagne et les progres (1914), S. 418 f.; ders., Bismarck und Österreich-Ungarn (1915); ders., Vom deutschen Staat (1917), S. 798 f. 99 Vgl. dazu Acker (1970), S. 6, der auch darauf hinweist, daß schon Schück.ings Urgroßvater Paulus Modestus 1838 in der Schrift ,.Krone und Tiara - Friedensstimme aus Münster von einem Katholiken" gegen das klerikale Papsttum Stellung bezog. LütgemeierDavin, Lotbar Engelbeet Schücking (1998), S. 16 f., vermerkt, daß Schückings Vater sich bei der Geburt seines Sohnes Walther innerlich bereits vom Katholizismus zurückgezogen habe. Walther sei dementsprechend bereits altkatholisch getauft und später protestantisch erzogen worden. Siehe auch Schücking, in: Festgabe zum 70. Geburtstag Martin Rades (1927), S. 176 f. Zur persönlichen religiösen Einstellung Walther Schückings auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 189; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 176. 100 Wehberg, FW 35 (1935), S. 163; Acker (1970), S. 6.

B. Zur Biographie Schückings

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Jahren viel Selbstdisziplin abverlangt hat, wird Schückings Mutter in ihrer Erziehung als herzlich und warm. wenngleich trotzdem nüchtern und realistisch charakterisiert. 101 Die Beziehung Walther Schückings zu seinen Brüdern- neben dem bereits erwähnten älteren Bruder Lothar Engelbert hatte er noch einen weiteren, jüngeren Bruder, Levin Ludwig (1878-1964), der später als Professor der Anglistik in Breslau, Leipzig und Erlangen lehrte und in seinem Fachgebiet große Erfolge errang, wird als eng und herzlich beschrieben. 102 Sie hat auch in späteren Lebensabschnitten der Brüder angehalten. Seine schulische Ausbildung erhielt Walther Schücking in konfessionell gebundenen Schulen. Zunächst besuchte er eine evangelische Volksschule, wechselte danach auf das katholische Gymnasium Paulinum. 103 Die schulischen Leistungen des späteren Völkerrechtslehrers werden als weit überdurchschnittlich beschrieben. Schücking sei stets ein Musterschüler, wenn nicht gar der Jahrgangsbeste gewesen. Allerdings wird auch gesagt, Schückings Neigungen seien von vomherein weniger den Naturwissenschaften als vielmehr den Geisteswissenschaften zugetan gewesen. 104 In der Schulzeit lassen sich auch schon die wichtigsten Charakterzüge Schückings beobachten. Besonders herausgestellt wird sein überaus ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, der sich mit einem sehr starken Antrieb verbunden habe, für das als ethisch richtig und gerecht erkannte Ergebnis die nötigen Kräfte zu mobilisieren und gegebenenfalls auch eigene Nachteile in Kauf zu nehmen. 105

101 Wehberg, FW 35 (1935), S. 189; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 175 f.; Acker (1970), S. 5; Lütgemeier-Davin, Lothar Enge1bert Schücking (1998), S. 20 f. 102 Wehberg, FW 35 (1935), S. 190; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 177. 103 Wehberg, FW 35 (1935), S. 163; ders., FW 35 (1935), S. 189; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR ( 1965), S. 176. Vgl. zum Paulinum auch Lütgemeier-Davin, Lothar Engelbert Schücking (1998), S. 22 f. 104 Wehberg, FW 35 (1935), S. 189; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 176 f.; Acker (1970), S. 6; Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 232. 105 Wehberg, FW 35 (1935), S. 163 f.; ders., FW 35 (1935), S. 190. Zu Schücking als Mensch, vgl. auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 231 ; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 181. Überliefert sind auch Äußerungen des Alt-Bundespräsidenten Theodor Heuss zur Begeisterungsfähigkeit Walther Schückings: Schücking sei ein Mann gewesen, den man leicht begeistern und leicht verärgern konnte, vgl. Heuss (1963), S. 315. Vgl. auch Wehberg, Als Pazifist im Weltkrieg (1919), S. 66, der berichtet, daß Schücking in einem Brief vom November 1914 Wilhelm von Humboldt zitierte: Man müsse dasjenige tun, was man für richtig erkannt habe, dann werde diese Handlungsweise auch immer Segen haben. Schließlich schreib Fischart, Weltbühne 1 (1919), S. 407, die Schückings seien alle unverbesserliche Idealisten, die sich selbsttreublieben und über Stock und Stein ihren Weg geradeaus ins Ziel gingen.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

111. Studium und Anfänge der akademischen Lautbahn

Im Alter von 19 Jahren nahm Walther Schücking zum Sommersemester 1894 das Studium der Rechtswissenschaften in München auf. Allerdings scheinen hier juristische Vorlesungen für ihn eher im Hintergrund gestanden zu haben. Vielmehr hat Schücking hauptsächlich historische Vorlesungen sowie Veranstaltungen des linksliberalen, sozialreformerischen Nationalökonomen Lujo von Brentano (1844-1931) gehört und mit Begeisterung das reichhaltige künstlerische Leben der Großstadt München genossen. Nach einem Jahr wechselte Schücking die Universität; seine jeweils nur ein Semester währenden Aufenthalte in Bonn bzw. Berlin scheinen jedoch keine besondere Bedeutung für seinen weiteren Werdegang gehabt zu haben. 106 Initialzündung für ein wirklich regesInteresse an der Jurisprudenz wurde erst der letzte Studienabschnitt, der Schücking im Sommersemester 1896 nach Göttingen führte. Im Mai 1897 absolvierte Schücking das Referendarexamen mit der Note "gut". Vor allem aber wurden die Professsoren der Göttinger Georg-AugustUniversität auf seine juristischen Begabungen aufmerksam: Schücking gewann eine von der Fakultät ausgeschriebene Preisarbeit zum Thema "Das Küstenmeer im internationalen Recht", obwohl er sich vorher nicht in nennenswertem Umfang mit dem Völkerrecht beschäftigt hatte. Das Werk hatte eine solche Qualität, daß die Fakultät es als Dissertationsschrift annahm und Schücking bereits im Juni 1897 den Doktortitel zuerkannte. 107 Im Anschluß an die Promotion brachte Schücking die ersten Abschnitte seiner Referendarzeit in Dülmen und Münster hinter sich. 108 Schon nach kurzer Zeit entschied er sich aber, eine wissenschaftliche Karriere anzustreben. Gefördert wurde er dabei vom Göttinger Professor Ludwig von Bar (1836-1913), der als sein akademischer Lehrmeister seine weitere Laufbahn und wohl auch seine politischen Ansichten entscheidend bestimmte. Von Bar selbst war neben dem Strafrecht auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts und des Völkerrechts vielseitig tätig. Zudem war er Mitglied der Interparlamentarischen Union 109 und 106 Wehberg, FW 35 (1935), S. 191; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 177 f.; Acker (1970), S. 7. 107 Wehberg, FW 35 (1935), S. 164; ders., FW 35 (1935), S. 192; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 178; Acker (1970), S. 8; Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 464; Kohl, in: KritischeJustiz (Hrsg.) [1988], S. 233. 108 Vgl. die Schreiben des Präsidenten des OLG Hamm an Schücking vom 25.5.1897 bzw. 22.12.1897, NL Schücking I, Nr. 108. 109 Schon Ende 1891 war von Bar an der Gründung eines "Parlamentarischen Komitees für Frieden und Schiedsgerichtsbarkeit" beteiligt, das Keimzelle der deutschen

B. Zur Biographie Schückings

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wurde vom Deutschen Reich für die Richterliste des Haager Schiedshofs benannt. Politisch engagierte er sich im Freisinn und saß für die linksliberale Partei von 1890 bis 1893 als Abgeordneter im Reichstag.110 Die Habilitation Schückings bei von Bar erfolgte im Oktober 1899 mit einer rechtshistorischen Arbeit; Schücking erhielt die venia legendi im Staatsrecht, Völkerrecht, Kirchenrecht und Verwaltungsrecht und wirkte zunächst als Privatdozent in Göttingen. 111 Schon zum Wintersemester 1900/01, d. h. im Alter von 25 Jahren, wurde Schücking, unterstützt vom einflußreichen Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium Althoff, 112 als damals jüngster Extraordinarius in Preußen -nach Ablehnung eines Rufes an die Universität Jena 113 - auf eine neugeschaffene außerordentliche Professur in Breslau berufen. 114 Im Mai 1902 heiratete der junge Gelehrte in Oberbehme im westfälischen Kreis Herlord seine entfernte Cousine Adelheid von Laer ( 1881-1952). 115 Die Ehe der beiden wird allgemein als sehr glücklich und als stets verläßlicher Rückhalt für Wallher Schücking beschrieben. Aus der Ehe gingen insgesamt sechs Kinder, fünf Söhne und eine Tochter hervor. 116 Sektion der Interparlamentarischen Union wurde, vgl. Chickering (1975), S. 45; Holl (1988), s. 43. no Näher zu von Bar; de Boeck, ZVR 8 (1914), 420 ff.; Wehberg, FW 36 (1936), S. 173 ff.; Lang-Hinrichsen, in; NDB, Bd. 1 (1953), S. 579 f. m. w. N. Vgl. außerdem Schücking, Ludwig von Bar (1908), sowie ders., Erinnerungen an Ludwig von Bar (1913). Auch lange nach der Göttinger Zeit Schückings war das Verhältnis zu von Bar noch recht eng, vgl. die Darstellung bei Wehberg, FW 35 (1935), S. 225. 111 Vgl. den Brief des damaligen Göttinger Rektors Merke! an Schücking vom 28.10.1899, NL Schücking I, Nr. 108, sowie Wehberg, FW 35 (1935), S. 165; Acker (1970), s. 8. 112 Acker (1970), S. 9; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 233. Zur Unterstützung, die Althoff jungen Gelehrten an preußischen Universitäten zuteil werden ließ, vgl. auch Doehring (1965), S. 163 f. ; E. R. Huber, Bd. IV (1969), S. 927. Die "Ära Althofr' dauerte im preußischen Kultusministerium von 1882 bis 1907, vgl. vom Brocke, in: Baumgart (Hrsg.) [1980], S. 11 ff.; vom Bruch, in: Chickering (Hrsg.) [1996], S. 344 f. llJ V gl. ein Schreiben des Kultusministeriums des Großherzogtums Sachsen-Weimar an Schücking vom 14.8.1900, NL Schücking I, Nr. 108, das ein Angebot für eine Professur in Jena enthält. n 4 Vgl. ein Schreiben des preußischen Unterrichtsministeriums vom 20.8.1900, NL Schücking I, Nr. 108, in dem Schücking die Breslauer Professur angeboten wird. Siehe auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 165; C. B. Schücking, in; 50 Jahre IIR (1965), S. 179. 115 Delbrück, in: Biographisches Lexikon S-H, Bd. 7 (1985), S. 283 ff. Näher zu Adelheid von Laer: C. B. Schücking, in; 50 Jahre IIR ( 1965), S. 179; Acker (1970), S. 11. n 6 Wehberg, FW 35 (1935), S. 165; Acker (1970), S. 11. Genauer Wehberg, FW 35 (1935), S. 232; ders., Erinnerungen, NL Wehberg, Nr. 80, S. 18 f., wo es u. a. heißt: "Schückings liebstes menschliches Glück war seine Familie". Die Kinder: Wallher (geb. 4 Bodendiek

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l. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

IV. Die Vorkriegszeit in Marburg Im August 1902 nahm Schücking einen Ruf nach Marburg an, nachdem er zuvor einen Ruf nach Gießen abgelehnt hatte. Im darauf folgenden Jahr wurde er Ordinarius an der Ludwig-Philipps-Universität. 111

1. Schückings gesellschaftliche Stellung in Marburg Schückings akademische Karriere war bis zu diesem Zeitpunkt glanzvoll und sehr rasch verlaufen. 118 Er wird deshalb zu diesem Zeitpunkt auch als "aufgehender Stern" bezeichnet. Als Gelehrter habe er alles erreicht, was man sich in seinem Alter wünschen könne. 119 Schücking schuf sich in Marburg zunächst planmäßig die Grundlagen für seine weitere Lehr- und Forschungstätigkeit und scheint sich dabei zunächst in durchaus herkömmlichen Bahnen bewegt zu haben. Ihm werden hohe pädagogische und rhetorische Fähigkeiten attestiert, die es ihm, verbunden mit seiner Fachkenntnis, leicht gemacht hätten, eine große Zahl begabter Schüler um sich zu sammeln. 120 Politisch ordnete sich Schücking in diesen Jahren dem Linksliberalismus zu und stieß schon bald nach seiner Berufung in Marburg zum Nationalsozialen

1909), Christoph Bernhard (geb. 1912), Nicolaus (geb. 1916), Hermann-Reyner (geb. 1919), Frank-Prosper (geb. 1922) und Insea (geb. 1924). 117 Wehberg, FW 35 (1935), S. 165; Acker (1910), S. 9/11. 118 Ein Blick in Kürschners Gelehrtenkalender von 1926 (hrsg. von G. Lüdtke) zeigt, daß die Zeitgenossen Schückings häufig erst fast 10 Jahre nach ihrer Habilitation mit der Berufung auf eine ordentliche Professur rechnen konnten, z. B. Max Fleischmann (Habil. 1902, Ordinarius 1915), Max Huber (Habil. 1902, Ordinarius 1914), JosefG. Ebers (Habil. 1908, Ordinarius 1919) oder Heinrich Pohl (Habil. 1910, Ordinarius 1919). 119 Wehberg, FW 35 (1935), S. 165; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 179. 120 Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 165 f.; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 179. Die Zahl der Äußerungen über die besonderen rhetorischen Fähigkeiten Schückings ist unüberschaubar, vgl. nur die lobenden Worte über die "ungemein witzige und humorvolle Rede" Schückings anläßtich der Ferialkurse in Salzburg, bei denen er über die Geschichte der Staatsideen referierte, Neue Freie Presse (Wien) vom 19.9.1904, Nr. 212, S. 52. Von seinen Schülern aus dieser Zeit ist vor allem Kurt Wolzendorff (1882-1921) zu nennen, der 1906 bei Schücking promovierte, sich bei ihm habilitierte und ihn später bei den Friedensverhandlungen in Versailles als Privatsekretär begleitete, zu nennen. Vor seinem frühen Tode lehrte Wolzendorff als ordentlicher Professor in Halle/Saale. Vgl. Wehberg, Führer der Friedensbewegung (1923 }, S. 71 ff.; Schücking, Kurt Wolzendorff (1921 ); ders., Kurt Wolzendorff (1931).

B. Zur Biographie Schückings

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Verein Friedrich Naumanns. 121 Dabei engagierte er sich u. a. im Kampf gegen die Konfessionsschule. 122 Nach 1907 war er Vorsitzender der Ortsgruppe der Nachfolgeorganisation der Nationalsozialen in Marburg, des Liberalen Volksvereins, und später der Ortsgruppe der Fortschrittlichen Volkspartei. 123 Die Linksliberalen vertrat er 1908 und 1911 in z. T. heftig geführten Wahlkämpfen als Kandidat für das preußische Abgeordnetenhaus. Anders als Helmut von Gerlach ( 1866-1935), der 1903 bis 1907 den Marburger Wahlkreis bei den Reichtagswahlen für den Linksliberalismus eroberte, 124 konnte Schücking sich angesichts des in Preußen geltenden Dreiklassenwahlrechts nicht gegen seine konservativen bzw. nationalliberalen Konkurrenten durchsetzen. 125 Aufgrund seiner liberalen politischen Orientierung hatte Schücking in der Kleinstadt Marburg einen schweren Stand und wurde in eine gewisse gesellschaftliche Außenseiterrolle gedrängt. Allerdings unterhielt er enge geistige Beziehungen zu ähnlich liberal gesinnten Kollegen anderer Fakultäten, 126 insbesondere

121 C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 179; Acker (1970), S. 12; Münch, in: Marburger Gelehrte ( 1977), S. 464. Zum Nationalsozialen Verein, vgl. E. R. Huber, Bd. IV (1969), s. 87 ff. 122 Im Jahr 1906 wurde in Preußen eine Änderung des Schulunterhaltungsgesetzes in das preußische Parlament eingebracht, die vorsah, daß Schüler in der Volksschule nur von Lehrern ihrer eigenen Konfession unterriebt werden sollten. Die "Konfessionsschule" wurde mit diesem am 28.7.1906 verabschiedeten Gesetz zur Regelschule, vgl. E. R. Huber, Bd. IV (1969), S. 903 ff. Gegen das Gesetz wurden unter Schückings aktiver Beteiligung in Marburg Kundgebungen veranstaltet, vgl. Hessische Landeszeitung vom 26.1.1906, und Aufrufe von Hochschullehrern unterschrieben, vgl. FZ vom 23.3.1906, Nr. 81. 123 Vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 493. Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist die Angabe von Eisenbeiß (1980), S. 68, der davon spricht, Schücking habe sich wegen der außenpolitischen Ziele Naumanns von diesem losgesagt. Es läßt sich höchstens vermuten, daß Eisenbeiß auf die Tatsache anspielt, daß der Nationalsoziale Verein in Marburg als einziger Ortsverband auch nach der nominellen Auflösung durch Naumann im Jahre 1903 fortbestand und Schücking als Nationalsozialer den Wechsel Naumanns zur Freisinnigen Vereinigung nicht nachvollzog. 124 Siehe vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 477. Zu von Gerlach, vgl. E. R. Huber, Bd. IV (1969), S. 89 ff. 125 Wehberg, FW 35 (1935), S. 168; Acker(1910), S. 21126, Fn. 44; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 234. Vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 458 f., 467, gibt eine Übersicht der Wahlergebnisse. Zu den äußerst scharf geführten Wahlkämpfen, vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 469 f., 510. 126 Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 165; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 179; Acker (1970), S. 12; Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 464; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 233. Schücking, in: Festgabe 40 Jahre Christliche Welt (1927), passim.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

zu den Philosophen Hermann Cohen (1842-1918) 127 und Paul Natorp (1854-1924), 128 dem Nationalökonomen Heinrich Sieveking (1871-1945) 129 sowie dem liberalen Theologen Martin Rade ( 1857-1940) , 130 mit welchem er auch nach seiner Marburger Zeit noch eine enge Freundschaft pflegte. In Anspielung auf die erwähnten Gelehrten spricht man vom "freiheitlichen Marburg", 131 was darauf hindeutet, daß sich in Marburg eine durchaus beachtliche Zahlliberal gesonnener Köpfe zusammengefunden hatte. Zu spüren war Schückings Isolation allerdings in starkem Maße innerhalb der Juristischen Fakultät. Von dieser wird berichtet, sie sei zu Beginn des Jahrhunderts besonders konservativ gewesen. 132 Tatsächlich waren Schückings Kollegen in parteipolitischer Hinsicht zum allergrößten Teil konservativ bzw. nationalliberal orientiert, so vertraten etwa der Zivilrechtier Ludwig Ennecerus in den 1890er Jahren als Nationalliberaler und der Staatsrechder Viktor Bredt (1879-1940) ab 1911 als Freikonservativer Marburg im Preußischen Abgeordnetenhaus. Weiterer Grund für das gespannte Verhältnis Schückings zu den anderen Professoren mag auch der große Altersunterschied zwischen Schücking und seinen durchschnittlich zwanzig Jahre älteren Kollegen gewesen sein. 133 Symptomatisch für die Art und Weise, in der man Schücking gegenübertrat, sind die über lange Jahre immer wieder vergeblichen Versuche Schückings, zur Förderung des völkerrechtlichen Unterrichts an der Universität Marburg ein eigenes völkerrechtliches Seminar mit 127 Zu ihm DBE, Bd. 2, S. 351 f.; Cohen war von 1876 bis 1912 ordentlicher Professor in Marburg. 128 Zu ihm DBE, Bd. 7, S. 344 f.; Natorp war von 1893 bis 1922 ordentlicher Professor in Marburg. 129 Zu ihm DBE, Bd. 9, S. 321; Sieveking war 1903 bis 1907 außerordentlicher Professor in Marburg. 130 Zu ihm DBE, Bd. 8, S. 114. Rade nahm seine Lehrtätigkeit in Marburg ungefähr zeitgleich mit Schücking, im Jahre 1904, aufund war ebenfalls im politischen Liberalismus aktiv, u. a. von 1919 bis 1921 Abgeordneterder DDP in derPreußischen Verfassunggebenden Versammlung. Zum Verhältnis Schücking!Rade vgl. auch Schücking, Festgabe zum 70. Geburtstag Martin Rades (1927), S. 176 ff. C. B. Schücking (Gespräch 1998, S. 13) bezeichnet Rade als engen Freund der Familie. Gemeinsam mit Rade und anderen liberalen Hochschullehrern wie Troeltsch, Cohen und Natorp war Schücking vor allem in den Jahren 1906-1908 im Kuratorium des Vereins zur Veranstaltung volkstümlicher studentischer Hochschulkurse tätig, dessen Vorsitz er 1908 auch für kurze Zeit übernahm, vgl. NL Schücking II, Nr. V /2. 131 Vgl. vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 494. 132 Vgl. FW 35 (1935), S. 193; Acker (1970), S. 11; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], s. 233. 133 vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 459 f. bzw. S. 510.

B. Zur Biographie Schückings

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besonderen Forschungsmöglichkeiten zu gründen. 134 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Schücking im Rückblick seine Zeit in Marburg als ,.Kampfesjahre" bezeichnet hat. 135

2. Schückings Konflikt mit dem preußischen Staat

Parallel zur oben beschriebenen relativen gesellschaftlichen Isolation entwikkelte sich auch ein immer heftigerer Konflikt mit der preußischen Bürokratie, insbesondere den Kultusbehörden. Diese Differenzen lassen sich im Prinzip schon bis zur Haltung Schückings im Lippischen Thronfolgestreit zurückverfolgen, in dem der junge Gelehrte den dynastischen Interessen der Hohenzollern an der Grafschaft Lippe zuwiderhandelte und sich zudem gegen die rechtliche Anerkennung des Gottesgnadenturns aussprach. 136 Weitere Reibungspunkte mit den Staatsorganen ergaben sich aus dem vehementen Auftreten Schückings für eine Beseitigung der demokratischen Defizite der deutschen und insbesondere preußischen Verfassung. Auch das Eintreten für einen Studenten jüdischer Abstanunung, dem 134 Die Bemühungen Schückings setzten bereits im Jahre 1912 ein. SchOcking hoffte, allerdings ohne Erfolg, durch die Vermittlung von James Brown Scott eine finanzielle Unterstützung durch die Camegie-Stiftung erlangen zu können, vgl. Wehberg, Erinnerungen, NL Wehberg, Nr. 80, S. 6, sowie ders., FW 35 (1935), S. 168 und S. 224 ff.; C. B. Schükking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 185; Chickering (1975), S. 178, Fn. 54. Jedenfalls wurde eine entsprechende Eingabe Schückings vom 4.4.1914 zwar zunächst von seiten der Fakultät pro fonna befürwortet, ohne allerdings- wie Schücking beklagte- die besondere persönliche Qualifikation Schückings herauszustellen, vgl. Wehberg, Erinnerungen, NL Wehberg, Nr. 80, S. 6. Der königliche Kurator der Universität Marburg lehnte daraufhin unter Hinweis auf fehlende Hilfsmittel für einen Seminarbetrieb die Errichtung eines völkerrechtlichen Seminars in einem Brief vom 15.5.1914 an das preußische Unterrichtsministerium ab. Eine Wiederholung des Vorschlags durch Schücking am 19.6.1917 wurde unter Hinweis auf die Person Schückings und sein Verhalten im Weltkrieg ebenso abschlägig beschieden. V gl. zu diesem Komplex Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), s. 89. 135 BriefSchückings an Rade vom 17.1.1930, NL Schücking I, Nr. 26. Siehe auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 224; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 1811185; Meister, Blätter für deutsche und internationale Politik 39 (1994), S. 1503. Chickering (1975), S. 178, verweist auf einen Brief Schückings an Fried vom 22.1.1909, in dem Schücking beklagt, er sei wegen seiner fortschrittlichen Ideen in Marburg vollständig isoliert. Vom Brocke, in: Marburg im Kaiserreich (1980), S. 510, zitiert aus einem Schriftwechsel Schükkings mit Sieveking vom MärZ 1909, in dem Schücking meint, die geistige Lage in Marburg sei .,furchtbar" und sein .,Umgangskreis" werde immer kleiner. 136 Wehberg, FW 35 (1935), S. 166; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 180; Acker (1970), S. 9 f.; Schücking, In eigener Sache (1908). Zur Ablehnung des Gottesgnadentums, vgl. Schücking, Der Staat und seine Agnaten (1902), S. 9.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

die Verwaltung trotz bestandenen Examens den Eintritt in den Referendardienst verweigerte, wurde Schücking als Unbotmäßigkeit stark angekreidet. 137 Später machte sich Schücking bei der Obrigkeit erneut sehr unbeliebt, als er als einziger preußischer Staatsrechtslehrer scharf gegen das am 20. März 1908 schließlich verabschiedete preußische Enteignungsgesetz protestierte, aufgrund dessen preußische Steuennittel für die Enteignung von Grundbesitz der polnischstämmigen Bevölkerung in der Provinz Posen und die Weitergabe an deutschstämmige Siedler zur Verfügung gestellt werden sollten. 138 Als Schücking die offizielle preußische Politik in einer öffentlichen Rede im Dezember 1907 als "unsittlich" brandmarkte, trug ihm das nicht nur die Gegnerschaft der nationalkonservativen Presse ein, die in entstellender Weise über ihn berichtete. 139 Vielmehr wurde er nach Erteilung eines Verweises im Januar 1908 bei der Neufestsetzung der staatlichen Prüfungskommission für Referendare am OLG Kassel im März des gleichen Jahres nicht mehr berücksichtigt, was geeignet war, den Besuch seiner Vorlesungen für die Jurastudenten in Marburg weniger attraktiv zu machen und auf diesem Umweg auch zu finanziellen Einbußen Schückings durch geringere Kolleggelder der Studenten führen konnte. 140 Der Konflikt eskalierte im Lauf des Jahres 1908 erneut, als Schücking sich in der Öffentlichkeit zugunsten seines Bruders einsetzte, gegen den als linksliberalen Bürgermeister von Husum seit Juli 1908 ein Amtsenthebungsverfahren durchgeführt wurde, weil er sich in der im Februar des gleichen Jahres publizierten Schrift "Die Reaktion in der preußischen Verwaltung" kritisch gegenüber dem preußischen Staat geäußert hatte. 141 Die bereits vom Anfang des Jahres 1908 Vgl. das Selbstzeugnis Schückings, In eigener Sache (1908). Huber, Bd. IV (1969), S. 504 ff. 139 Vgl. Nationalzeitung vom 11.l2.1907, Nr. 580 ("maßlose Ausfälle Schückings", "wohlpräparierte Späße"); Neue Preußische Kreuz-Zeitung vom 15.12.1907, Nr. 587, 1. Beilage ("Parteiunwesen an preußischen Universitäten"); Schlesische Zeitung vom 22.12.1907, Nr. 898. Zur Schücking unterstützenden Reaktion der liberalen Presse, die bei der Kritik an Schücking konservativ-antisemitische Kreise am Werk sah, vgl. FZ vom 21.l2.1907, Nr. 353; BT vom 18.12.1907, Nr. 642; Die Hilfe vom 21.12.1907, Nr. 51. 140 Vgl. das entsprechende Schreiben des OLG-Präsidenten an Schücking vom 24.1.1908, NL Schücking I, Nr. 122, sowie Schücking, In eigener Sache (1908); Wehberg, FW 35 (1935), S. 167; Spühler, Völkerbund 13 (1935), S. 99; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 180; Acker (1970), S. 22; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 234. 141 Vgl. zu dem Skandal um Lotbar Engelbert Schücking: Watther Schücking, Das Anklagematerial der preußischen Regierung ( 1908); ders., Die Reaktion in der preußischen Verwaltung- ein geheimes Verfahren gegen einen Bürgermeister (1908). Vgl. außerdem Wehberg, FW 35 (1935), S. 167; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 234, sowie aus jüngster Zeit vor allem Lütgemeier-Davin, Lotbar Engelbert Schücking (1998), S. 63 ff., 74 ff. Lütgemeier-Davin nennt die Affäre den "wohl aufregendste(n) Verwal137 138

B. Zur Biographie Schückings

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datierende Entfernung W alther Schückings aus der Prüfungskommission für Referendare wurde nun im Oktober 1908 auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Vor allem linksliberale Presseorgane interpretierten diese Maßnahme im Zusammenhang mit der Diskussion um die Husumer Amtsenthebung als weitere Schikanierung eines entschiedenen Liberalen durch die konservative Bürokratie und werteten sie als eklatante Verletzung der Forschungsfreiheit an den preußischen Universitäten. 142 Schückings Äußerungen über den preußischen Staat sind in der folgenden Zeit von einer sehr heftigen und geradezu polemischen Kritik geprägt. Vor allem beklagte er das niedrige Kulturniveau Preußens, bezeichnete die Vorherrschaft des preußischen Elements in Deutschland als "geistigen Rückschlag" und äußerte sich abfällig-ironisch über die "Segnungen der preußischen Zivilisation".' 43 Die Gesamtheit der beschriebenen Spannungen hatte zur Folge, daß ein Weggang aus Marburg auf eine andere Professur faktisch unmöglich wurde und Schücking in der als stark belastend empfundenen Enge der hessischen Stadt quasi gefangen blieb. 144

3. Die Hinwendung zur pazifistischen Idee In die oben beschriebene Zeit der Konflikte fällt auch die von den Behörden und der Marburger "Gesellschaft" argwöhnisch beäugte Hinwendung zur pazifistischen Idee. Schücking begann öffentlichkeitswirksam für den Gedanken der internationalen Organisation Propaganda zu betreiben. Die wissenschaftsgeschichttungsskandal der Wilhelminischen Zeit" (S. 9). Das Verfahren endete im September 1909 mit einer gerichtlichen Bestätigung der Amtsenthebung und zusätzlich mit der Aberkennung der Pensionsansprüche Lotbar Engelbert Schückings. Lotbar Engelbert SchOcking war auch in späteren Jahren politisch aktiv, nach einer erfolglosen linksliberalen Kandidatur für die Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus 1908, vor allem auch in der Friedensbewegung sowie in der SPD, siehe Lohmeier, in: Biographisches Lexikon S-H, Bd. 7 (1985), S. 282, sowie Lütgemeier-Davin, Lotbar Engelbert Schückung (1998), S. 135 ff., 178 ff. 142 Vgl. die Pressezusammenstellung im NL SchOcking II, Nr. VIII/4, Mappe 2. 143 Schücking, Organisation der Welt ( 1908), S. 77; ders., Kultur und Internationalismus (1911), S. 38; ders., Neue Ziele der staatlichen Entiwcklung (1913), S. 11-13; ders., L'Allemagne et les progres (1914), S. 418 f. Nach Angaben von Schückings Sohn Christoph Bemhard hatte SchOcking kurz vor seinem Tode mit der Arbeit an einem Manuskript über "Glanz und Elend Preußens" begonnen, in dem er aufweisen wollte, daß jede Großtat Preußens auch immer eine negative Seite gehabt habe, vgl. C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 194. 144 C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 181.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

liehe Bedeutung dieses Handeins soll noch Gegenstand ausführlicherer Untersuchungen sein. An dieser Stelle soll nur kurz dargestellt werden, in welchem institutionellen Rahmen sich Schücking in dieser Zeit bewegte. Erwähnenswert ist zunächst, daß mit den bereits erwähnten, Schücking nahestehenden Kollegen Rade, Cohen und Natorp einige der ganz wenigen deutschen Universitätsprofessoren in Marburg konzentriert waren, die sich offen zum Pazifismus bekannten. 145 Schücking selbst hielt ab dem Wintersemester 1908/09 in Marburg für Hörer aller Fakultäten regelmäßig ein Publikum über die Bedeutung der Haager Konferenzen und die Idee der internationalen Organisation, das jedenfalls nach Aussagen pazifistischer Kreise - sehr gut angenommen wurde. 146 Daneben lehnte sich Schücking an die im eigentlichen Sinne pazifistische Bewegung an, indem er der Deutschen Friedensgesellschaft beitratl47 und am Zweiten Deutschen FriedenskoogreS 1909 in Stuttgart teilnahm, auf dem er neben Fried und Ludwig Quidde (1858-1941) 148 einer der Hauptredner war. 149 Schücking strebte aber auch danach, für die Idee der internationalen Organisation politisch maßgeblichere Schichten unter Einschluß möglichst vieler Völkerrechtslehrer, die sich nicht mit den Pazifisten im engeren Sinne identifizieren wollten, zu gewinnen. Gemeinsam mit dem Berner Völkerrechtslehrer Otfried Nippold (1864-1938) 150 bemühte er sich ab Ende 1909 um die Konstituierung des "Verbandes für internationale Verständigung", 151 die nach zähem Ringen um die programmatischen Grundsätze im Juni 1911 in Frankfurt/Main erfolgen konnte. 152 Vgl. dazu Chickering (1975), S. 139 f.; Hol! (1988), S. 66 f. Vgl. FW 11 (1909), S. 33; FW 12 (1910), S. 76; FW 13 (1911), S. 55. 147 Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 236. 148 Zu Quidde: Wehberg, Ludwig Quidde (1948), passim; Holl, in: Quidde, Der deutsche Pazifismus ( 1979), S. 11-33; Schücking, Ludwig Quirldes Lebenswerk ( 1928). Quidde war neben vielen anderen Funktionen insbesondere von 1914 bis 1929 Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft. 149 Wehberg, FW 35 (1935), S. 167; Quidde, FW 35 (1935), S. 219. Vgl. den Bericht in: FW 11 (1909), S. 109. 150 Zu Nippold: Wehberg, FW 38 (1938), S. 235 ff.; Gasser, in: Josephson (Hrsg.) [1994], s. 698 f. 151 Wehberg, FW 13 (1911), S. 171, weist darauf hin, daß der Anstoß für diese Verbandsgründungvon Fried ausging. Holl (1988), S. 95, nennt Nippold den .,akademischen Promotor" der Friedschen Idee. Chickering ( 1975), S. 158, und Riesenherger (1985), S. 77, weisen darauf hin, daß Nippo1d sehr bald Fried "überspielt" und aus dem Verband verdrängt habe. 152 Vgl. vor allem Acker (1970), S. 50 ff., mit einer detaillierten Untersuchung der Geschichte dieser Vereinigung zum Verband allgemein auch Wehberg, FW 1911, S. 171 ; Chickering, Journal of Contemporary History 8 (1973), S. 147 ff.; Scheer (1981), 145

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Innerhalb dieser Vereinigung, die auch eher traditionalistische Völkerrechtler und Politiker umfaßte und deshalb gelegentlich als "Oberhaus der deutschen Friedensbewegung" bezeichnet wurde 153, war Schücking sehr engagiert. Er war Mitglied des Zentralvorstandes und wirkte mit Aufsätzen und Reden u. a. anläßlich der Tagungen in Heidelberg (1912) und Nürnberg (1913), aber auch noch später in der Kriegszeit, in der er zum Vorsitzenden des Verbandes aufrückte. 154 Vorstandsmitglied war Schücking auch im 1912 gegründeten Deutschen Verein für Internationales Recht, einer Tochterorganisation der International Law Association, die sich ohne ausdrücklich pazifistische Gesinnung den Ausbau des Völkerrechts zum Ziel gesetzt hatte. Iss Der Überblick über den institutionellen Rahmen für Schückings Bemühungen wird vervollständigt, wenn man berücksichtigt, daß Schücking schon 1910 associe des renommierten Institut de droit international wurde, einer 1873 gegründeten Körperschaft, die das internationale Recht auf eine streng wissenschaftliche Grundlage stellen wollte und u. a. das vorbereitende Material für verschiedene zwischenstaatliche Kodifikationskonferenzen geschaffen hatte. 1s6 Schücking nahm an den Tagungen des Instituts in Oslo ( 1912) und Oxford ( 1913) teil. 157 Schließlich besuchte Schücking 1911 auch den in London veranstalteten ersten WeltS. 147 ff.; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 32 ff.; Holt (1988), S. 94 ff. Zum Verhältnis Schücking/Nippo1d, vgl. Wehberg, FW 38 (1938), S. 237 ff. Zur Beteiligung Schückings: Chickering (1975), S. 1SO; Seheer (1981 ), S. 148; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 32, der den ersten Kontakt zwischen Fried und Schücking in bezugauf die Verbandsgründung auf September 1907 datiert, ernsthafte Bemühungen aber erst für Ende 1909 konstatiert. uJ Vgl. Wehberg, FW 13 (1911), S. 171. 1' 4 Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 465. Vgl. aber Quidde, Der deutsche Pazifismus (1941), S. 67 und 111, der daraufhinweist, daß der Verband im Krieg defacto in seiner Arbeit völlig lahmgelegt war bzw. sich äußerste Zurückhaltung auferlegte. Immerhin fand am 21.1.1917 eine geschlossene Mitgliederversammlung in Frankfurt/Main statt, vgl. entsprechende Aufzeichnungen in NL Wehberg, Nr. 67. Nach dem Krieg wurde erstmals am 28.11.1920 in Frankfurt/Main eine Mitgliederversammlung veranstaltet, auf der Schücking als Vorsitzender bestätigt wurde, vgl. FZ vom 29.10.1920. Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 35, merkt ebenfalls an, daß Schücking in der Nachkriegszeit weiterhin dem Verband vorstand, moniert aber, daß er die sich daraus ergebenden Verpflichtungen vernachlässigt habe. Dazu auch Eisenbeiß (1980), S. 102. Schücking blieb bis zur Auflösung des Verbandes im Jahre 1926 Vorsitzender, vgl. Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), s. 35 f. m Vgl. ZIR 29 (1921), S. 399. Zu dieser Vereinigung: Strupp, ZVR 8 (1914), S. 299. 1' 6 Vgl. Schirnneister, ZIR 14 (1904), S. 152 ff. m Wehberg, FW 35 (1935), S. 167, und Reuterskjöld, FW 35 (1935), S. 209, sowie Acker (1970), S. 49, der darauf hinweist, daß Schücking seine verhältnismäßig frühe Berufung in diese Stellung wohl vor allem Ludwig von Bar zu verdanken hat.

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rassenkongreß, den er durch einen eigenen Vortrag rnitgestaltete. 158 Seine bereits zu diesem Zeitpunkt beachtliche internationale Reputation wird dadurch beleuchtet, daß er 1913 an einer Untersuchungsmission der Camegie-Friedensstiftung159 beteiligt werden sollte, die die Ursachen des Balkankrieges untersuchte. 160

V. Der Erste Weltkrieg Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges versetzte Schücking, wie anderen im Pazifismus engagierten Menschen, einen schweren Schock. Sein Nationalbewußtsein und sein tiefes Gefühl für die Notwendigkeit eines gerechten Friedenszustandes, eines wahren Rechtsfriedens, gerieten in einen fundamentalen Konflikt. 161 So wurde Schücking nicht müde, die Pflichterfüllung der einfachen Soldaten und die Opfer der Bevölkerung herauszustellen. 162 Zugleich blieb er aber auch seiner Einschätzung treu, daß der Krieg etwas zutiefst Sinnloses sei und die bewaffneten Auseinandersetzungen möglichst schnell durch einen Verständigungsfrieden beendet werden müßten. 163 Dementsprechend beantwortete er auch die Frage seiner 158 Wehberg, FW 35 (1935), S. 161;Acker(1910), S. 49. Vgl. auch Schücking, Weltrassenkongreß (1911). 159 Das Camegie Endowment for International Peace wurde 1910 von dem OS-amerikanischen Industriellen Andrew Camegie (1835-1919) gestiftet und hatte den Stiftungszweck, die Abschaffung des internationalen Krieges zu bescheunigen, vgl. Fried, Handbuch Bd. 2 (1913), S. 239 f., 280 f., sowie Macalister-Smith, EPIL, Bd. 1 (1992), S. 536 f. 160 Acker (1970), S. 59. Vgl. ein Telegramm von Paul Henri d'Etournelles de Constant (1852-1924), dem Präsidenten des europäischen Büros der Camegie-Stiftung an Schükking vom 26.8.1913, NL Schücking II, Nr. II. Vgl. aber auch weitere Schreiben des Camegie-Mitarbeiters Jules Jean Prud'hommeaux (1869-1945) an Schücking vom 10.9.1913, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 9, sowie von Schücking an Prud'hommeaux vom 14.9.1913, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 23, BI. 9, aus denen sich ergibt, daß Schükking seine Teilnahme wieder absagte, nachdem sich die serbische und griechische Regierung ablehnend gegenüber dem Projekt einer Untersuchungskommission geäußert hatten und Schücking daraufhin diplomatische Verwicklungen fürchtete. Zum Verlauf der Mission vgl. Fried, FW 16 (1914), S. 203 ff. 161 Vgl. Scheuner, FW 58 (1975), S. 16 f. Erkennbar wird dieser Konflikt z. B. in: Schücking, Weltkriegund Pazifismus (1914), S. 3; ders., Buropa am Scheidewege (1915), S. 42; ders., Vorwort zu .,Dauerfriede" (1917). Vgl. auch einen bei Eisenbeiß (1980), S. 100, zitierten Briefwechsel zwischen Schücking und Wehberg, aus dem das Spannungsverhältnis zwischen Nationalgefühl und internationaler Gesinnung deutlich hervortritt. 162 Schücking, Weltkrieg und Pazifismus (1914), S. 3; ders., Vorwort zu Freiherr von Mayer, Völkerrechtliche Stellung Ägyptens (1914). 163 Vgl. Schücking, Weltkrieg und Völkerrecht (1915), S. 9; ders., Weltfriedensbund (1917), S. 7; ders., Vorwort zu .,Dauerfriede" (1917); siehe auch Wehberg, FW 35 (1935),

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Söhne, ob die Familie anläßlich militärischer Erfolge der Deutschen im Kriege nicht auch, wie es verbreitete Übung war, eine deutsche Flagge hissen wolle. Schücking sagte nämlich, daß erst am Tage des Friedensschlusses seine Frau ihr bestes Bettuch aus dem Schrank holen werde und die Familie es dann mit Freuden als Friedensfahne aus dem Fenster hängen lassen werde. 164 Auf nationaler Ebene engagierte sich Schücking weiterhin in pazifistischen Organisationen. Neben der schon bald in ihrer Tätigkeit lahmgelegten 165 Deutschen Friedensgesellschaft war das vor allem der im Herbst 1914 gegründete "Bund Neues Vaterland", der sich das Ziel eines Friedens ohne Annexionen auf die Fahnen geschrieben hatte. 166 Im Laufe des Krieges radikalisierte sich die ohnehin politisch weit linksstehende Vereinigung noch stärker, 167 so daß Schükking sich schließlich von ihr abwandte. 168 Schücking war aber ab dem Sommer 1916 in der "Zentralstelle für Völkerrecht" aktiv, einem lockeren Zusammenschluß von dem Friedensgedanken zugeneigten Personen, unter denen er allerdings der einzige anerkannte Völkerrechtler war. 169 S. 169; Bakker-VanBasse, FW 35 (1935), S. 201; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 186; Acker (1970), S. 61; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 237. 164 C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 2. 165 Vgl. Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 95 ff. Begonnen wurde mit verschärften Maßnahmen gegen Ortsgruppen der DFG im Herbst 1915; Betätigungsverbote wurden ab Apri11916 ausgesprochen, vgl. Quidde (1941), S. 103 ff.; Eisenbeiß (1980), s. 140 f. 166 Wehberg, FW 35 (1935), S. 169;Acker(1910), S. 69; Hall (1988), S. 114. Schücking wird unter den ersten zehn Mitgliedern geführt, vgl. Lersch, in: HoHlWette (1981), S. 114 f. Er übernahm auf einer Versammlung im August 1915 sogar die Versammlungsleitung, vgl. Wehberg, Als Pazifist im Weltkrieg (1919), S. 58; Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 83, und verfaßte im Kontext des Verbandes die Schrift "Die deutschen Professoren und der Weltkrieg". Projektiert war im Sommer 1915 außerdem eine Reihe von Abhandlungen über Grundsteine eines dauernden Friedens, in der Schücking über den Ausbau des Haager Werkes schreiben sollte. Dieses Projekt wurde allerdings nicht mehr verwirklicht, vgl. Hall ( 1988), S. 121. Zum im Februar 1916 mit einem Betätigungsverbot belegten "Bund Neues Vaterland" außerdem: Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 67 ff.; Eisenbeiß (1980), S. 114 ff.; Riesenberger(1985), S. 100 ff.; Hall (1988), S. 113 ff.; Benz, in: ders. (Hrsg.) [1988], S. 19 f. 167 Vgl. Fortuna (1974), S. 46; Lersch, in: HoHlWette (1981), S. 115 f.; Hall (1988), s. 135. 168 Quidde, FW 35 (1935), S. 220; Acker (1970), S. 79. 169 Zur Zentralstelle: Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 112 ff.; Fortuna (1974), S. 46; Eisenbeiß (1980), S. 151 f.; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 86 f.; Riesenherger (1985), S. 113 f.; Hall (1988), S. 125 f.; zur Beteiligung Schückings: Strupp, ZIR 26 (1916), S. 497; Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 119. Schücking unterzeichnete insbesondere auch den Gründungsaufruf der Organisation, vgl. Benz (Hrsg.), S. 123.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Schücking bemühte sich sehr darum, ungeachtet aller Verwerfungen, die der Krieg ausgelöst hatte, den Kontakt mit pazifistisch ausgerichteten Menschen in anderen, neutralen und kriegführenden, Staaten aufrechtzuerhalten, um auf diese Weise der internationalen Verständigung zu dienen. Bereitsam 24. Oktober 1914 nahm er in Bern an der Tagung eines "Verständigungskomitees" mit deutschen und schweizerischen Pazifisten teil. 170 Später spielte er eine hervorragende Rolle bei der Errichtung der "Zentralorganisation für einen dauernden Frieden". Die eigentliche Initiative für diesen Zusammenschluß einflußreicher Pazifisten, Völkerrechtler und Politiker aus zehn neutralen, aber auch kriegsbeteiligten Ländern ging zwar von der holländischen Pazifistenorganisation Anti Oorlog Raad aus; Schücking kann aber dennoch als Mitbegründer der Zentralorganisation bezeichnet werden.m DerVerband konstituierte sich auf einem Treffen vom 7.-12. April 1915 im Haag, 172 auf dem unter reger Anteilnahme Schückings auch ein sog. "Mindestprogramm für einen dauernden Frieden" beschlossen wurde. In diesem sind die Vorstellungen der anwesenden Experten von der Struktur der internationalen Ordnung niedergelegt, die viele spätere Entwürfe über den Aufbau des Völkerbundes entscheidend beeinflußt haben. 173 Schückings an diese Aktivitäten anknüpfenden Bemühungen, in Deutschland für die Zentralorganisation zu werben oder gar eine deutsch-englische Annäherung mit dem Ziel eines späteren Friedensschlusses zu vermitteln, scheiterten jedoch. 174 Aufgrund seines fortgesetzten Engagements für die internationale Verständigung war Schücking in der Zeit des Weltkrieges Zielscheibe heftiger persönlicher Attacken, Denunziationen und Verleumdungen. m Vor allem aber war er auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 169;Acker(l970), S. 68. Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 169; Acker (1970), S. 69; Eisenbeiß (1980), S. 120. Zur ,,zentralorganisation": Wehberg, FW 44 (1944), S. 315; Zechlin, JIR 11 (1962), S. 448 ff.; Acker (1970), S. 66 ff. Eine Übersicht der Mitglieder findet sich bei Fortuna (1974), S. 238, Fn. 53. Zum "Anti Oorlog Raad": Schücking, Weltfriedensbund (1917), S. 10; Zechlin, JIR 11 (1962), S. 453. 172 Vgl. Schücking, Weltfriedensbund (1917), S. 11; Zechlin, JIR 11 (1962), S. 454; Acker (1970), S. 72 ff. 173 Zechlin, JIR 11 (1962), S. 454 ff. Das Minimalprogramm ist u. a. abgedruckt bei Schücking, Der Dauerfriede (1918), S. 87-91, sowie in den "Receuil de Rapports" der Zentralorganisation, jeweils aufS. IV. 174 Vgl. dazu vor allem: Acker (1970), S. 76 ff. Außerdem: Wehberg, FW 35 (1935), S. 169; Quidde, FW 35 (1935), S. 219; ders., Pazifismus in Deutschland (1941), S. 71 ff.; C. B. Schücking, in: 50 Jahre Institut für Internationales Recht (1965), S. 186; Eisenbeiß (1980), S. 124 ff.; Holl (1988), S. 117 f.; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 237. m Vgl. vor allemSchückings eigene Schilderung, in: Weltfriedensbund (1917), S. 9. In Macburg kam es zu Behinderungen von Schückings Lehrtätigkeit und scharfer Kritik an dessen angeblich unpatriotischer Haltung. Ihm wurde u. a. in einer Beschwerde an den 170 171

B. Zur Biographie Schückings

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starken Repressionen von amtlicher Seite ausgesetzt und auf diese Weise in seinen Wirkungsmöglichkeiten stark beschränkt. 176 Im November 1915 wurde ihm durch die Militärbehörden ein weitreichendes Veröffentlichungs- und Reiseverbot auferlegt, das trotz wiederholterEingaben in den Jahren 1916 und 1917 und auch angesichts einer zunehmenden Offenheit von offiziellen Kreisen gegenüber dem Verständigungsgedanken erst im Jahre 1918 vollständig aufgehoben wurde. 177 Rektor vorgeworfen, er habe in einer Vorlesung am 8.5 .1915 das Eiserne Kreuz beschimpft. Die Einleitung eines von Schücking daraufhin gegen den Urheber der Beschwerde angestrengten Verleumdungsverfahrens wurde vom Oberstaatsanwalt in Kassel abgelehnt, weil sich keine wissentliche Falschaussage nachweisen lasse und die Äußerung ansonsten jedenfalls als Wahrnehmung berechtigter Interessen i. S. v. § 193 RStGB erscheine. V gl. zu diesem Vorfall den Brief des Kurators der Universität Marburg an SchOcking vom 14.5.1915, NL SchOcking I, Nr. 111; Verfügung der StAKassel vom 8.8.1915, NL Schükking II, Nr. VIII/4, Fase. 2, sowie einen Artikel aus den Deutschen Hochschulstimmen aus der Ostmark, Ausgabe vom 15.11.1915, in: NL SchOcking I, Nr. 20. In der Berliner "Post" wurde im Herbst 1915 vor Pazifisten wie SchOcking "gewarnt": Diese seien Dolchstiche, die den Rücken der "für den deutschen Gedanken streitenden Krieger" träfen, vgl. Scheer (1981), S. 355; Grünewald, in: ders. (Hrsg.) [1992], S. 54. Zum ganzen außerdem auch C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 186; Acker (1970), S. 78 f., Fn. 69 ff.; Shand, Journal ofContemporary History 10 (1975), S. 102. Im Herbst 1917 wurde SchOcking nach Presseberichten im "Deutschen Herold" über den angeblich staatsfeindlichen Inhalt seiner Vorlesungen mit einem offiziellen Auskunftsersuchen des Kurators der Universität Marburg konfrontiert, vgl. das Schreiben des Kurators Hassenpflug an Schücking vom 9.10.1917, NL Schücking I, Nr. 108. Schücking empfand dieses Ersuchen als klaren Eingriff in seine Lehrfreiheit. Das preußische Kultusministerium wies eine entsprechende Beschwerde Schückings jedoch als unbegründet zurück, vgl. das Schreiben des Kultusministeriums an SchOcking vom 4.1.1918, NL SchOcking I, Nr. 108. 176 Zu diesen Pressionen, vgl. die Äußerungen des Demokraten Gothein arn 5.6.1918 im Reichstag, abgedruckt in: FW 20 (Sept. 1918), S. 222 ff. Vgl. auch Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941 ), Fn. 568 f., und Riesenherger (1985), S. 110. SchOcking wurde nicht nur von den Militärbehörden argwöhnisch beäugt, aus deren Kreisen Wehberg (Führer der Friedensbewegung [1919], S. 55, und in: Die Hilfe 1928, S. 464) die Äußerung kolportiert, SchOcking sei "der größte Schweinehund in Deutschland" und "schlimmer als die Sozialisten". Schücking wurde vielmehr auch vom Auswärtigen Amt als Paria behandelt, vgl. den Bericht von Niemeyer (in einem Brief an Martius vom 20.7 .1928, Akten des IIR, A I 0 I, BI. 75, NL Schücking II, Nr. V/1), das Auswärtige Amt habe 1917 die Unterstützung für die neugegründete Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht verweigert, weil diese durch die Aufnahme von Mitgliedern wie Walther Schücking einen für das Auswärtige Amt unmöglichen Kurs gesteuert habe. 177 V gl. die Schreiben des Universitätskurators Hassenpflug an Schücking vom 18.11. bzw. 11.12.1915, NLSchücking I, Nr. 108: "Aufgrund des Gesetzes überden Belagerungszustand vom 4.6.1851 wird Ihnen jede weitere Betätigung in dieser Richtung (gemeint ist eine Diskussion der Kriegsziele im pazifistischen Sinne) verboten und das Verlassen Deutschlands sowie Reisen in grenznahe Gebiete untersagt." Vgl. zum ganzen auch Wehberg, FW 35 (1935), S. 169; Zechlin, JIR 11 (1962), S. 475; Acker (1970), S. 79/81;

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Insbesondere eine Teilnahme Schückings an einer weiteren Konferenz der "Zentralorganisation" in Bern im November 1917 war nur mit großen Mühen durchzusetzen. 178

VI. Die Nachkriegszeit Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs nutzte Schücking die sich ihm als vormals quasi verfemten Pazifisten in der neuen Weimarer Demokratie bietenden Möglichkeiten 179 und entfaltete ab dem Ende des Jahres 1918 eine kaum übersehaubare Tätigkeit.

1. Watther Schücking im Dienst der Weimarer Demokratie Noch im November 1918 fand Schücking den Weg in die Politik und trat der Demokratischen Partei bei. 180 Bei den Wahlen im Januar 1919 zog er für seine Partei in die Verfassunggebende Nationalversammlung ein und wurde auch bei den darauffolgenden Urnengängen in seinem Wahlkreis Hessen-Nassau in den Reichstag gewählt, bis er 1928 freiwillig nicht mehr für einen Sitz im Parlament kandidierte. 181 Schücking war zwar im Jahre 1919 zunächst Mitglied des HauptShand, Journal of Contemporary History 10 (1975), S. 102; Eisenbeiß (1981), S. 141 f. Fonuna (1974), S. 69 und S. 248, Fn. 222, verweist darauf, daß Reichskanzler BethmannHollweg persönlich Einspruch gegen das von den Militärbehörden ausgesprochene Verbot eingelegt habe. Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), Fn. 370, merkt an, daß die erste Eingabe gegen das Veröffentlichungsverbot vom 10.11 . 1916, dem Tag nach der Friedensresolution des Reichstages stamme. 178 Zechlin, JIR 11 (1962), S. 477 ff.; Acker (1970), S. 92 ff.; Fortuna (1974), S. 251, Fn. 306; Shand, Journal ofContemporary History 10 (1975), S. 105. Vgl. zur Teilnahme Schückings auch: Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 163; Holl (1988), S. 130 f. 179 Stephan (1973), S. 45; Riesenherger (1985), S. 215; Holl (1988), S. 135 f., zitieren zur Beschreibung der politischen Lage aus Sicht der Pazifisten Ernst Troeltsch, der von einem "Traumland" der Waffenstillstandszeit (November 1918 bis Mai 1919) gesprochen habe. Die Hoffnung der Bevölkerung, eine Identifizierung mit dem Pazifismus würde einen milden Frieden verschaffen, habe bekannte Pazifisten in wichtige politische Positionen gelangen lassen. 180 Acker (1970), S. 113. Vgl. auch die Antwort der Berliner DDP-Zentrale auf ein Unterstützungsangebot Schückings aus dem November 1918, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 2. Die offizielle Gründung der DDP erfolgte am 20.11.1918, vgl. E. R. Huber, Bd. V (1978), s. 986. 181 Wehberg, FW 35 (1935), S. 110;Acker(l910), S. 123; Stephan (1973), S. 174; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 238.

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vorstaodes der DDP und wirkte an der Erarbeitung des Parteiprogrammes mit 182, geriet dannjedoch auch unter den veränderten Umständen der Weimarer Demokratie in eine gewisse innerparteiliche Außenseiterrolle. 183 Diese Nichtbeachtung Schückings wird auf seine strikten Auffassungen in Verfassungsfragen, insbesondere sein Drängen auf die Zerschlagung des preußischen Staates, zurückgeführt. Sie wird besonders daran deutlich, daß Schücking, obgleich Staatsrechtslehrer, von seiner Partei nicht in den Verfassungsausschuß der Nationalversammlung berufen wurde. 184 In späteren Jahren mußte sich Schücking innerhalb der DDP zunehmend für sein pazifistisches Engagement rechtfertigen, z. B. angesichts von Bestrebungen, den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Friedensgesellschaft, Ludwig Quidde, wegen der Affäre "Schwarze Reichswehr", aus der Partei auszuschließen. Schücking setzte sich in der Angelegenheit zugunsten Quiddes ein, der im März 1924 nach dem Versailler Vertrag unzulässige Rüstungen der Reichswehr an die Öffentlichkeit gebracht hatte und daraufhin wegen Landesverrats belangt wurde. 185 Nach der Auflösung der DDP im November 1930 schloß sich Schücking im Gegensatz zu den meisten anderen Pazifisten 186 nicht einer neugegründeten radikaldemokratischen Partei an, sondern trat der eigentlichen Nachfolgeparteider DDP, der mehr nach rechts neigenden Deutschen Staatspartei bei, ohne sich dort aber politisch zu exponieren. 187

182 Vgl. Stephan (1973), S. 143; Riesenherger (1985), S. 220: Schücking gestaltete gemeinsam mit Quidde, Preuß und Gerland den Abschnitt "Der Staat". 183 Die auch nach dem Krieg andauernde Außenseiterrolle Schückings wird in einem Brief reflektiert, den der Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein am 21 .8.1925 an Schükking schrieb. Darin konstatiert er, daß Schücking und er Geistesverwandte seien und wegen ihrer unbequemen Ansichten beide geistig recht isoliert dastünden. V gl. NL Schücking II, Nr. I, Brief 74. Schückings linksliberale politische Weltanschauung war unter den öffentlich-rechtlichen Rechtsprofessoren die Ausnahme. Vgl. zu den parteipolitischen Engagements der Professoren: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 ( 1999), S. 120 f. 184 Acker (1970), S. 125; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 239. Die o. a. Isolation wird auch bei von Bemstorff, FW 35 ( 1935), S. 208, deutlich. Vgl. aber auch die Rede Schückings anläßlich der ersten Lesung des Verfassungsentwurfs in der Nationalversammlung am 3.3.1919, Verhandlungen der Nationalversammlung, Bd. 326, S. 475 ff., abgedruckt auch in: Die Hilfe 34 (1928), S. 342. V gl. dazu auch E. R. Huber, Bd. V (1978), S. 1189; Meister, Blätter für deutsche und internationale Politik 39 (1994), S. 1504 m.w.N. 18' Vgl. Stephan (1973), S. 143/335, und Riesenberger(l985), S. 220, die auf eine Rede Schückings vom 1.3.1925 hinweisen, mit der Schücking maßgeblich dazu beitrug, daß das Parteiausschlußverfahren gegen Quidde scheiterte. 186 Vgl. Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 282. 187 C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 4.

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Als Abgeordneter beschäftigte sich Schücking hauptsächlich mit außenpolitischen bzw. völkerrechtlichen Fragen. Vor allem war Schücking auch Mitglied des ParlamentarischenUntersuchungsausschusses über strittige Fragen der deutschen Politik im Weltkrieg. Er leitete zunächst den Unterausschuß zur Frage deutscher Völkerrechtsverletzungen und übernahm 1924 die Leitung des Gesamtausschusses. 188 Schon vorher- ab Dezember 1918- hatte Schücking den Vorsitz eines Gremiums inne, das sich aufgrundeiner Verordnung des Rates der Volksbeauftragten mit der Frage der völkerrechtswidrigen Behandlung von Kriegsgefangenen in Deutschland befaßte und als "Kommission Schücking" bekannt wurde. 189 Schücking war ab dem Sommer 1919 neben Graf Max Montgelas und dem Hamburger Völkerrechtsprofessor Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (1874-1936) 190 mit der Edition der deutschen Regierungsakten zum Kriegsausbruch betraut. 191 Durch die letztgenannten Aktivitäten sah sich Schükking der Schwierigkeit ausgesetzt, bei der Suche nach der objektiven Wahrheit auch für national gesinnte Deutsche unangenehme Dinge ans Tageslicht zu befördern. 192 Umgekehrt wurde ihm von Seiten der Linken ein zu schonender Umgang mitdeutschem Fehlverhalten vorgeworfen. 193 Die Aufklärungsarbeiten, an denen Schücking beteiligt war, wurden nicht zu einem Erfolg für die junge Demokratie. Vor allem der Parlamentarische Untersuchungsausschuß wurde von den Rechtsparteien mehr und mehr zur Agitation gegen die Weimarer Republik mißbraucht. Schücking selbst war angesichts des unzulänglichen Beweismaterials, insbesondere der Tatsache, daß Staatsangehörige der Ententemächte nicht als Zeugen gehört wurden, über die Ergebnisse der Untersuchung enttäuscht. 194 Trotzdem fand er sich in den Jahren 1929 bis 1931 auf Bitten 188 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Acker (1970), S. 133 ff.; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 239 f. 189 Zu diesem Ausschuß: Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Acker (1970), S. 133 ff.; Keiner (1976), S. 37; Dreyer/Lembcke (1993), S. 93 f. 190 Zu ihm: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 395. 191 Dazu ausführlich: Dreyer/Lembcke (1993), S. 198 ff. 192 Vgl. einen Brief Schilckings an Nussbaum vom Juni 1928, Akten des IIR, A 11 I, Bl. 34 ff., NL Schilcking II, Nr. III: "Wie furchtbar schwer ist es, in internationalen Dingen ein objektiver Richter zu sein." 193 Münch, in: MarburgerGelehrte (1977), S. 477. Vgl. insbesondereden Fall Fryatt, in dem Schilcking auf diese Weise in die Zwickmühle geriet, vgl. Acker (1970), S. 135; Dreyer/Lembcke (1993), S. 94, sowie Schücking, Das Urteil im Fryatt-Prozeß (1919). Vgl. hierzu auch den Artikel .,Prof. Schücking kapituliert vor dem Militarismus", in: Die Freie Zeitung (Bem) vom 10.4.1919, Jg. 3, Nr. 31: ,,Er [Schücking] hat dem bösen Geist das Feld geräumt." 194 Brief Schilckings an Martius (Auswärtiges Amt) vom 8.3.1929, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 12, Bl. 7.

B. Zur Biographie Schückings

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Albert Einsteins (1879-1955) hin bereit, insbesondere die Frage deutscher Kriegsverbrechen in Löwen im Jahre 1914 mit belgiseben Experten zu erörtern, um die deutsch-belgisehe Aussöhnung zu fördern. 195 Schück.ing .stand dem deutschen Staat mit seinem, durch sein Verhalten im Kriege noch gewachsenen internationalen Ansehen auch bei der Vertretung nach außen zur Verfügung. Zusammen mit Diplomaten des Auswärtigen Amtes erarbeitete er im April 1919 den offiziellen Entwurf der deutschen Regierung für die Satzung des zu gründenden Völkerbundes und nahm als einer der sechs Hauptdelegierten von Ende April bis Mitte Juni 1919 an den Friedensverhandlungen in Versailles teil. Dort war er maßgeblich an der Formulierung der Einleitung der deutschen Gegenvorschläge zum Friedensvertragsentwurf, der sog. "Mantelnote" beteiligt. 196 Auch später bemühte sich Schücking stets um einen guten Kontakt zum Auswärtigen Amt und suchte dort für viele seiner internationalen Aktivitäten Rückendeckung. 197

195 V gl. NL Schücking II, Nr. III, Fase. 12, v. a. BI. 1, Brief Einsteins an Schücking vom 20.2.1929. Schücking traf sich im Mai 1929, Januar 1930 und Mai 1931 mit dem belgischen Geistlichen Norbert Nieuwland. 196 Vgl. das Protokoll der Kabinettssitzung vom 14.5.1919, abgedruckt in: Akten der Reichskanzlei, Bd. 1 (Kabinett Scheidemann), Dok. Nr. 72, sowie Schwabe (Hrsg.), Dokument Nr. 110, S. 278 ff. Insbesondere auch die Denkschrift Schückings, bei Schwabe (Hrsg.), Nr. 111, S. 283-291. Siehe zudem Wehberg, FW 35 (1935), S. 170; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 238. Zu den Umständen derErnennungund den Vorstellungen Schückings über den voraussichtlichen Verlauf der Friedensverhandlungen: Acker (1970), S. 113 ff., insbes. S. 113, Fn. 4. Zur Stimmung bei den Sitzungen und innerhalb der deutschen Delegation, vgl. Schücking, HLZ vom 30.6.1919. 197 So berichtete Schücking dem Auswärtigen Amt über seine Tätigkeit in der Kodifikationskommission des Völkerbundes, vgl. die Aufforderung zur Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt durch Staatssekretär von Bülow, NL Schücking I, Nr. 89/2, und die entsprechenden Berichte Schückings vom 13.4.1927 und 4.7.1928, NL Schücking I, Nr. 90/4. Auch seine Eröffnungsansprache auf dem Berliner Kongreß der Interparlamentarischen Union von 1928 stimmte er eng mit Ministerialdirektor Martius ab, vgl. entsprechende Briefwechsel zwischen beiden Männern aus dem August 1928, in den Akten des IIR, A 11 I, BI. 47 ff., 69a, 73, NL Schücking Il, Nr. V/I. Schücking erstellte wiederholt Gutachten für das Auswärtige Amt, vgl. etwa den Auftrag für eine Denkschrift, die der deutschen Regierung als Material für die internationale Abrüstungskonferenz 1932 dienen sollte, siehe Briefe Schückings an Boissier (IPU) vom 2.4.1932, Akten des IIR, All II, BI. 31, NL Schücking Il, VII, bzw. Brief Schückings an Wehberg vom 10.l.l933, NL Wehberg Nr. 80.

5 Bodendick

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

2. Die Arbeit für den Gedanken der internationalen Organisation Schücking war auch nach dem Weltkrieg unermüdlich für den Ausbau der internationalen Organisation tätig. 198

a) Die akademische Lehrtätigkeit Schückings Angesichts der herausgehobenen Position, die Schücking in der neuen Republik bekleidete, versuchte man für ihn, der seit 1919 keine Vorlesungen mehr in Marburg abhielt, 199 eine adäquate Professur an der Berliner Universität mit speziellen völkerrechtlichen Forschungsmöglichkeiten zu beschaffen, die ihm auch im akademischen Bereich ein optimales Eintreten für den Gedanken der internationalen Organisation ermöglichen sollte. Trotz der energischen Befürwortung seiner Berufung durch den damaligen Finanzstaatssekretär Erzberger00 und dem Pazifismus nahestehende Organisationen201 scheiterte dieses Vorhaben, nachdem 198 An dieser Stelle soll wiederum nur auf die institutionellen Rahmenbedingungen von Schückings Wirken eingegangen werden. Die wissenschaftsgeschichtlich relevanten Einzelheiten werden später erörtert. 199 Vgl. Liepmann (1919), S. 26 f., deru. a. angibt, daß Schückingnoch im Wintersemester 1918/19 eine dreistündige Völkerrechtsvorlesung sowie eine einstündige Vorlesung über die Idee der Internationalen Organisation gehalten habe. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Schreiben des Kultusstaatssekretärs Becker an Schücking vom 11.11.1919, NL Schücking I, Nr. 108, in dem Becker seinen Eindruck äußert, daß Schückings Verhältnis zur Macburger Fakultät offenbar kaum je wieder ein vertrauensvolles werden werde. 200 Vgl. ein Schreiben, das Erzherger in seiner Eigenschaft als Präsident der Deutschen Liga für Völ kerbund am 21 .1.1919 an das preußische Kultusministerium richtete (Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Jur. Fak. 496, BI. 163-191R). Dazu auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 256, Fn. 55. Angesichts der Länge und des Detailreichtums des Schreibens sowie der direkten, scharfen Angriffe gegen die Berliner Fakultät in anderen Werken Wehbergs (Führer der Friedensbewegung [1919], S. 56; Chinesische Mauer um die Universität Berlin [ 1920]) kann man mit einer gewissen Berechtigung mutmaßen, daß Erzherger das Schreiben nur in Auftrag gegeben bzw. unterschrieben hat, daß Schückings Freund Hans Wehberg, der zu dieser Zeit in der von Erzherger präsidierten Deutschen Liga für Völkerbund als Geschäftsführer angestellt war, aber der eigentliehe geistige Urheber des Schreibens war. 201 Vgl. die Denkschrift "Die Pflege des Völkerrechts an den deutschen Universitäten", die Liepmann 1919 im Auftrag der Deutschen Liga für Völkerbund erstellte und die mit den Unterschriften von u. a. Schücking und Erzherger an das preußische Kultusministerium gegeben wurde. Darin heißt es (S. 12): "Soll die Universität Berlin auch in Zukunft eine Zentrale des Geisteslebens sein, muß hier ein Gelehrter berufen werden, der den modernen Geist der Völkerrechtswissenschaft vertritt und dem Inland ebenso wie dem Ausland als anerkannte Autorität erscheint." Damit zielte man doch recht deutlich auf die Person

B. Zur Biographie Schückings

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sogar der Preußische Landtag darüber beraten hatte und die SPD sich ebenfalls zugunsten Schückings äußerte,202 am Widerstand der Berliner Fakultät.203 Die Ablehnung der Berufung Schückings wurde offiziell mit Zweifeln an dessen wissenschaftlicher Qualifikation begründet - eine Argumentation, die sich, wie bereits erwähnt, auch der Kultusstaatssekretär Becker zueigen machte. 204 Den Widerstand der Berliner Fakultät gegen Schücking mag man zum einen auf die konservative Grundhaltung der dortigen Rechtswissenschaftler zurückführen. Wahr ist allerdings auch, daß gerade die Intervention Erzhergers in rechtunsensibler Weise die universitäre Eigenständigkeit der Berliner Fakultät mißachtete und einige ihrer Mitglieder, z. B. Erich Kaufmann (1880-1972)20s, persönlich angriff, so daß die Ablehnung Schückings in einem etwas anderen Licht erscheint. Schücking jedenfalls empfand die ganze Angelegenheit gleichwohl als starke persönliche Zurücksetzung. 206 Schückings ab. V gl. außerdem das Schreiben des Pazifistischen Studentenbundes an das preußische Kultusministerium vom 10.4.1921, NL Schücking I, Nr. 108, in dem ausdrücklich die Berufung Schückings an die Berliner Universität gefordert wird. 202 Vgl. dazu die Debatte des Hauptausschusses der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung, 125. Sitzung vom 04.12.1920, in: Protokolle der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung 191911921, Nr. 3948, S. 23/24, NL Schücking I, Nr. 108 bzw. NL Schücking II, Nr. VIII/1. 203 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171 ; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 187; Acker (1970), S. 125, Fn. 78, m. w. N.; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [ 1988], S. 238. Die Berliner Fakultät sperrte sich nach Aussagen Schückings sogar dagegen, Schücking wenigstens einen ,,kleinen Lehrauftrag in völkerrechtlichen Dingen" zu erteilen, vgl. Schreiben Schückings an Kultusstaatssekretär Becker vom 6.2.1922, NL Schücking I, Nr. 108. Zur Bedeutung der Berliner Juristischen Fakultät in der Weimarer Zeit sowie speziell zur konservativen politischen Haltung der Professoren der Berliner Universität insgesamt, vgl. E. R. Huber, Bd. VI (1981), S. 982 f.; vom Bruch, in: Schwabe (Hrsg.) [1983], s. ll2ff., 118. 204 Vgl. dazu ein Typoskript Schückings, in: NL Schücking II, Nr. XVII. Becker führt in der o. a. Sitzung des Haushaltsausschusses über den Haushalt des Wissenschaftsministerium aus, man müsse für Berlin den unbedingten besten Mann für die öffentlich-rechtliche Professur gewinnen, der vor allem auch Stärken im Bereich des Verwaltungs- und Kirchenrechts haben müsse, vgl. Nr. 3948, Ldvers. 1919/1921, 125. Sitzung des Haushaltsausschusses vom 4.12.1920, S. 20. 20s Zu ihm: Partsch, ZaöRV 30 (1970), S. 223 ff. 206 Vgl. den BriefSchückings an seinen Bruder Levin vom 3.3.1921, in dem Schücking davon spricht, daß die Ungerechtigkeit im Zusammenhang mit der verweigerten Berliner Professur erbitternd wirke, NL Schücking I, Nr. 112. Vgl. auch den Brief Schückings vom 11.2.1922 an einen unbekannten Adressaten, NL Schücking li, Nr. III, Fase. 2, in dem er erneut auf die Ungerechtigkeit verweist, daß ertrotz seiner wissenschaftlichen Leistungen nicht an der Berliner Universität unterrichten konnte. Vgl. auch das Fragment eines Briefes an Philipp Zorn, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 2, in dem Schücking Zorn um ein objekti-

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Nachdem Schücking noch im Jahr 1919 einen Ruf an die Universität von Halle/Saale abgelehnt hatte207 und wegen seiner parteipolitischen Aktivitäten Bemühungen um ein Ordinariat in Göttingen gescheitert waren, 208 nahm er 1921 schließlich eine Berufung des Kuratoriums der durchaus renommierten Berliner Handelshochschule als Nachfolgerdes zwischenzeitlich zum Reichsinnenminister ernannten H ugo Preuß auf einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl an.209 Da an dieser Hochschule aber ganz überwiegend Diplomkaufleute ausgebildet wurden, fand Schücking naturgemäß keine optimalen Bedingungen, um sich gründlich der Völkerrechtswissenschaft widmen zu können. 210 Einen gewissen Ausgleich verschaffte ihm wohl ein Lehrauftrag an der Deutschen Hochschule für Politik, an der er in Attache-Kursen angehende Diplomaten im Völkerrecht ausbildete. 211 Er bedauerte aber auch später noch, daß er in seinen Berliner Jahren keine Gelegenheit hatte, juristische Schüler für die Gelehrtenlaufbahn auszubilden. 212 Vor diesem Hintergrund bemühte er sich im Jahre 1925 um einen Wechsel an das neu gegründete ves Urteil, quasi ein Gutachten, über die wissenschaftliche Arbeit Schückings erbittet, das ihn von dem Vorwurf mangelnder wissenschaftlicher Qualifikation befreien sollte. 207 Vgl. den o. a. Sitzungsbericht, in: NL Schücking I, Nr. 1/1. 208 Die Göttinger Fakultät nahm ausdrücklich Anstoß daran, daß Schücking in seinen Vorlesungen auch seine politischen Anschauungen einfließen lasse, vgl. Göppinger ( 1990), S. 185, Fn. 13. 209 Diese Professur wurde Schücking bereits am 28.10.1919 angetragen, vgl. das Schreiben von Max Apt (1869-1957), dem damaligen Kurator der Handelshochschule, an Schükking, NL Schücking II, Nr. I, Brief Nr. 7, sowie ein Schreiben von Kultusstaatssekretär Becker an Schücking vom ll.ll.1919, NL Schücking I, Nr. I 08. Der Entschluß, an die Handelshochschule zu gehen, fiel wohl im Dezember 1920 nach der schon wiederholt angesprochenen Landtagssitzung, vgl. auch die Bestätigung der Berufung durch das Ministerium am 7.2.1921, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 5. 210 Wehberg, FW 35 (1935), S. 228; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 187; Acker (1970), S. 125 und 200; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 238. Exemplarisch ist Schückings Vorlesungsplan im Jahr 1924, vgl. NL Schücking I, Nr. 20, wonach er zwar eine Stunde zum Thema "Völkerbund", daneben aber 5 Stunden Staatsrecht und 2 Stunden Allgemeine Staatslehre las. Überdies hörten die angehenden Kaufleute an juristischen Vorlesungen ganz hauptsächlich nur das Privatrecht, während öffentlich-rechtliche Vorlesungen nur als Wahlfach zu absolvieren waren, vgl. Typoskript von der Hand Schükkings, NL Schücking II, Nr. XVII. 211 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Acker (1970), S. 201. V gl. die Anfrage von Ernst Jäckh betreffend die Mitarbeit Schückings vom 27.3.1923, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 23, BI. 224. 212 Brief Schückings an Ministerialdirigent Martius vom 6.1.1928, Akten des UR, A 20 I, BI. 16-18, NL Schücking III; C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 10. Vgl. auch eine Äußerung Schückings in einem Brief an seinen Bruder Levin vom 23.12.1925, NL Schücking I, Nr. 112: ,,Für meine Fächer kommt an der Handelshochschule doch nur besserer Unterricht in Staatsbürgerkunde in Betracht."

B. Zur Biographie Schückings

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Kaiser-WHhelm-Institut für internationales und ausländisches öffentliches Recht in Berlin. Seine Bemühungen fruchteten allerdings nicht, weil man bereits ohne Berücksichtigung oder Hinzuziehung Schückings die drei zu vergebenen Direktorenposten anderweitig besetzt hatte. 213

b) Verbandstätigkeit Schückings im Sinne des internationalen Gedankens Schücking beteiligte sich sehr rege an Organisationen, die den Gedanken der internationalen Organisation nicht mit einem vorrangig wissenschaftlichen Ansatz behandelten, sondern eher als praktisch-politisch eingestuft werden können. Dazu gehörten die pazifistischen Vereinigungen: Schücking war von 1919 bis 1922 Mitglied des Präsidiums der Deutschen Friedensgesellschaft,214 nahm am Deutschen Pazifisten-Kongreß 1920 in Braunschweig sowie dem Weltfriedenskongreß 1924 in Berlin teilmundbeteiligte sich u. a. 1922 neben Kurt Tucholsky ( 1890-1935) und Harry Graf Keßler als Redner an Großkundgebungen der "Nie-

213 Vgl. Brief Koch-Weser an Hamack vom 24.7.1925, NL Schücking II, Nr. II, Brief 72. Aus einem Brief des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt von Bülow an Schücking vom 26.7.1925, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 19, BI. 15, ergibt sich, daß Bülow den zum Direktor auserkorenen Viktor Bruns (1884-1943)- zu ihm: Stolleis, Bd. 3 (1999), S. 256, Fn. 57 - zu einem Gespräch ins Auswärtige Amt bestellte. Bei diesem Gespräch stellt sich heraus, daß die Errichtung des Instituts und die Berufung der Direktoren (neben Bruns waren dies zunächst Triepel und Smend) unter Umgehung des Auswärtigen Amtes aus Mitteln des Innen- und Justizministeriums erfolgt war. Zur Gründung des Kaiser-Wilhelm-Institutes in Berlin, vgl. Stolleis, Bd. 3 (1999), S. 89 und 257, jeweils m. w. N. Ähnlich wie Schücking erging es im übrigen in der Weimarer Zeit auch anderen pazifistisch gesonnenen Wissenschaftlern, die bei Stellenbesetzungen an deutschen Universitäten übergangen oder gar aus ihren angestammten Professuren entfernt wurden. Vgl. etwa Hellmut von Ger/ach, Professor Nicolais Exil. Ein Beitrag zur Mentalität der deutschen Hochschulen, abgedruckt in: Benz (Hrsg.) [1988], S. 179 ff. Dieser verweist auf die im Vergleich zu Schücking noch härteren Schicksale des Mediziners Georg Friedrich Nicolai (1874-1964), des Historikers Veit Valentin (1885-1947) sowie des Pädagogen und Psychologen Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966). Zur Diskriminierung pazifistischer Akademiker, vgl. auch Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 172 f.; Benz, in: ders. (Hrsg.) [1988], S. 23 ff. 214 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Eisenbeiß (1980), S. 183, Fn. 546; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 240. Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 35, berichtet, Schücking sei seit Oktober 1921 Beisitzer im Präsidium gewesen, wäre aber wiederholt den Sitzungen ferngeblieben und habe überhaupt nur noch ein geringes Engagement in den Friedensverbänden gezeigt. 215 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Quidde, FW 35 (1935), S. 220/222. Vgl. auch die Fotografie bei Grünewald (Hrsg.), Bildseite II.

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wieder-Krieg"-Bewegung. 216 Ferner war er in den Jahren 1920 bis 1923 auch Mitglied des Rates des Genfer Internationalen Friedensbüros. 217 Im Laufe der zwanziger Jahre zeichnete sich allerdings eine immer stärkere Polarisierung innerhalb der deutschen Friedensbewegung ab. Dem gemäßigten, völkerrechtlich orientierten Pazifismus von Fried, Quidde, Wehberg und Schücking stand nunmehr eine radikalere Strömung gegenüber, die sich betont anti-militaristisch positionierte. 218 Aufgrund dieses ideologischen Wandels und aus Verärgerung über die anhaltenden internen Streitigkeiten der Friedensbewegung, distanzierte sich Schücking schließlich mehr und mehr vom organisierten Pazifismus.219 Nachdem man ihm verschiedentlich vorgeworfen hatte, den pazifistischen Gedanken während des Krieges und nun in seinen neuen staatstragenden Funktionen nur in wenig konsequenter Weise verfolgt zu haben, 220 legte er schließlich seine Ämter in den pazifistischen Vereinigungen nieder. 221 Schücking wirkte aber als zweiter Vorsitzender der im Dezember 1918 gegründeten "Deutschen Liga für Völkerbund". 222 Wie schon mit dem "Verband für in216 Lütgemeier-Davin, in: HolUWette (Hrsg.) [1981], S. 62 bzw. 70; Riesenherger (1985), s. 135. 217 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Quidde, FW 35 (1935), S. 222; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 240. 218 Zur Beschreibung der Richtungen des deutschen Pazifismus in der Weimarer Zeit: Wette, in: Holl/Wette (Hrsg.) [1981], S. 24; Holl, in: Holl/Wette (Hrsg.) [1981], S. 136; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 15 ff.; Grünewald (1992), S. 74 f., diejeweils insbesondere Quidde, Schücking und Wehberg als Exponenten der gemäßigteren Richtung nennen. 219 Vgl. einen BriefSchückings an Wehberg vom 7.2.1924, NL Wehberg, Nr. 79. "Ich habe mich als Pazifist zurückgehalten, weil ich so angeekelt bin von den Stänkereien in unserem Lager. Ich bin niemals unserer Sache untreu geworden, mußte aber auf meine Stellung Rücksicht nehmen." Vgl. auch C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 11, der angibt, die Radikalisierung der Friedensbewegung habe seinen Vater sehr gequält. 220 Schücking, Der Weg des Pazifismus (1920), S. 18 f.; Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), Fn. 737. Auf der Kasseler Versammlung der Deutschen Friedensgesellschaft im Oktober 1919 kritisierte z. B. der Radikalpazifist Nicolai Schücking in aller Schärfe, vgl. Donat, in: HolUWette (Hrsg.)[1981], S. 31m. w. N.; Riesenberger(1985), S. 150. Zu diesen Auseinandersetzungen und der daraus resultierenden Aversion Schückings gegenüber Nicolai, siehe Lütgemeier-Davi11, Pazifismus (1982), S. 87, insbes. Fn. 32. 221 Vgl. Schücking, Der religiöse Menschheitsbund (1921), S. 27; Acker (1970), S. 155; Holl (1988), S. 145. 222 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171; Eisenbeiß (1981), S. 183, Fn. 544; LütgemeierDavin, Pazifismus (1982), S. 28; Holl (1988), S. 149. Schücking wurde am 17.4.1929 neben Stresemann, Marx, Simons und Löbe Mitglied des Ehrenausschusses der Liga, vgl. NL Schücking II, Nr. III, Fase. 10. Zur Deutschen Liga für Völkerbund, vgl. Acker (1970), S. 147 ff.; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 27 ff.; Riesenherger (1985), S. 194; Holl (1988), S. 149.

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teenationale Verständigung" vor dem Weltkrieg sollte der Versuch unternommen werden, für die Idee der Staatenorganisation über den Kreis der bereits für die Friedensbewegung gewonnenen Personen hinaus Zustimmung und Verständnis zu schaffen. Während vor dem Krieg ein eher kleiner Kreis von Politikern und Wissenschaftlern angesprochen werden sollte, wurde mit der Gründung der "Deutschen Liga für Völkerbund" das Ziel verfolgt, über Parteigrenzen hinweg möglichst breite Schichten der Bevölkerung für den Völkerbundgedanken einzunehmen. Ähnliche Absichten verfolgte der "Verband für europäische Verständigung", an dessen Gründung Schücking 1926 maßgeblich beteiligt war. 223 Er war auch zunächst Präsident des Verbandes, überließ jedoch die eigentliche Verbandsarbeit seinem demokratischen Parteifreund Wilhelm Heile (1881-1969). 224 Ein weiteres Forum, zu dem Schücking in der Weimarer Zeit Zugang hatte, war die Interparlamentarische Union. In diesem Kreis konnte er sich neben der Förderung des Völkerrechts und der Staatenorganisation auch um eine Durchbrechung der deutschen Isolation nach dem verlorenen Kriege bemühen. 225 Nach der bereits 1919 erfolgten Wiederbegründung der deutschen Gruppe der IPU konnten sich deutsche Parlamentarier, darunter Schücking als Präsident der deutschen Gruppe, 1921 erstmals wieder an den Veranstaltungen der Union beteiligen, nachdem Schücking in einer Rede aussöhnende Worte gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner Belgien gefunden hatte. 226 Im folgenden hat Schücking, der 1925 bis 1930 auch Mitglied des Exekutivausschusses des Verbandes wurde, durchgängig bis auf 1923 an den Konferenzen der Nachkriegszeit teilgenommen. Er war bei drei Gelegenheiten Berichterstatter zu völkerrechtlichen Themen. 227 Als Stern223 Wehberg, FW 35 (1935), S. 172; Acker (1970), S. 182 ff.; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 78 ff. Dem Verband wartrotz z. T. prominenter Mitglieder kein nachhaltiger Erfolg beschieden, vgl. Acker ( 1970), S. 183 f. Der Verband ging 1931 in der Deutschen Liga für Völkerbund auf, vgl. Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 80. 224 Vgl. Akten IIR, A 17, NL Schücking II, Nr. VI 1. Hier ist abzulesen, daß Schücking zumindest 1928 noch Präsident des Verbandes war, sich aber aus den heftigen Auseinandersetzungen, die innerhalb der pro-europäischen Bewegung in Deutschland, insbesondere mit der Paneuropäischen Union von Kalergi-Coudenhove, tobten, weitgehend heraushielt. Zu Heile, vgl. Holt, in: Josephson (Hrsg.) [1994], S. 394 f. 225 C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 188; Acker (1970), S. 158. Schon 1920 bereiste Schücking die skandinavischen Länder, vgl. seinen Reisebericht "Nordische Erinnerungen" (1920). 226 Vgl. den Brief des belgiseben Senators und Pazifisten Lafontaine an Schücking vom 8.4.1921, in dem dieser die Bedingung für die belgisehe Zustimmung zur Teilnahme der deutschen Gruppe formuliert, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 10. 227 Wehberg, FW 35 (1935), S. 172; Lange, FW 35 (1935), S. 205 ff.; Quidde, FW 35 (1935), S. 221; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 240. Schücking erstattete Berichte auf der 19. Konferenz (Stockho1m 1921) zum Thema "Völkerbund", auf der

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l. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

stunde in Schückings Lautbahn wird insbesondere die Leitung der Berliner Interparlamentarischen Konferenz im Jahr 1928 beschrieben. 228 Nach seinem Ausscheiden aus dem Reichstag wurde Schücking zum lebenslangen Mitglied ernannt und konnte als solches weiterhin in der Union mitwirken. Er zog sich Mitte 1929 dennoch als Vorsitzender der deutschen Gruppe der Interparlamentarier zurück. Nach der Wahl zum Richter am StiGH trat er wegen des politischen Charakters der Organisation mit Rücksicht auf seine Neutralitätspflichten von allen Ämtern in der IPU zurück. 229 Schücking arbeitete auch im Dienste einer Reihe von im engeren Sinne völkerrechtlichen Vereinigungen. In Deutschland war das die im März 1917 von dem Kieler Völkerrechtslehrer Theodor Niemeyer ( 1857-1939) gegründete "Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht", 230 deren Kommission für Völkerbund er von 1927 bis 1932leitete und deren stellvertretender Vorsitzender er 1929 wurde/31 auf internationaler Ebene das Institut de droit international, dem Schücking bereits in der Kaiserzeit als associe angehört hatte. Er wurde 1921 als ordentliches Mitglied aufgenommen und konnte so schon früh die internationale Isolation der deutschen Völkerrechtswissenschaft nach demErsten Weltkrieg beenden. Schückings internationale Anerkennung wird daran deutlich, daß die deutsche V ölkerrechtswissenschaft zu Beginn der zwanziger Jahre im Institut nur noch durch zwei weitere Mitglieder, Theodor Niemeyer und Wilhelm Kaufmann (1858-1926) vertreten war. Da die jeweiligen Mitglieder einer nationalen Gruppe des Instituts ein Vorschlagsrecht für weitere in das Institut zu wählende Mitglieder hatte, konnte Schücking

22. Konferenz (Bem und Genf 1924) zum Thema ,,Parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Politik" und auf der 24. Konferenz (Paris 1927) zum Thema "Kodifikation des Völkerrechts". 228 Vgl. Quidde, FW 35 (1935), S. 221; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 187; Acker (1970), S. 178. Vgl. auch die Rede Schückings zu diesem Anlaß, in Compte rendu de la XXVeme Conference de l'Union Interparlementaire (1928), S. 189-192. 229 Vgl. Briefe Schückings an Paul Löbe vom 11.4.1929, Akten IIR, A 11 li, Bl. 96, NL Schücking II, Nr. V11 bzw. an den !PU-Generalsekretär Christian Lange vom 30.12.1930, Akten IIR, A 1111, Bl. 17, NL Schückingll, Nr. V/1. 230 Zur Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht: Eisenbeiß (1981), S. 159 f. Vgl. auch Berichte der DGV I (1957), S. 67 ff. 231 Wehberg, FW 35 (1935), S. 171. Bereits seit unmittelbar nach der Gründung war Schücking Mitglied des als Exekutivausschuß fungierenden Rates der DGV, vgl. ZIR Bd. 27 (1918), S. 280; ZIR Bd. 29 (1921), S. 397. Bei der Wahl zum Vorsitzenden der DGV kandidierte Schücking 1929 als Nachfolger für den ausscheidenden Theodor Niemeyer. Während er elf Stimmen erhielt und Erich Kaufmann mit sieben Stimmen aus dem Rennen ging, setzte sich Walter Simons mit 17 Stimmen als neuer Vorsitzender durch, vgl. einen Brief Schückings an Wehberg vom 6.6.1929, NL Wehberg, Nr. 79.

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einen nicht unbeträchtlichen Einfluß ausüben. 232 Schücking nahm an den Tagungen von 1921 (Rom), 1925 (Haag) und 1929 (New York) teil und fungierte von 1925 bis 1927 darüber hinaus als Vizepräsident des Instituts. 233 Die internationale Anerkennung Schückings wird unterstrichen durch die Berufung zum Mitglied des Kuratoriums der Völkerrechtsakademie im Haag234 und die Gründungsmitgliedschaft im 1926 ins Leben gerufenen Institut de droit international public. 235 Vor allem die Mitwirkung im Haager Kuratorium war ebenfalls mit nicht zu vernachlässigenden Einflußmöglichkeiten verbunden, da in diesem Gremium unter anderem die international mit einem beträchtlichen Renommee verbundenen Dozenturen an der Haager Akademie vergeben wurden.

c) Tätigkeit in Organen der Weltgemeinschaft Das Bild vom praktischen Wirken Schückings für die internationale Organisation in dieser Zeit ist durch den Hinweis auf seine Tätigkeit in der internationalen (Schieds-)Gerichtsbarkeit zu ergänzen. Schücking wurde 1921 bzw. 1927 für jeweils sechs Jahre von der deutschen Regierung auf die Liste des ständigen Haager Schiedshofs berufen. Schücking wirkte als nationaler Richter an zwei Deutschland betreffenden Verfahren vor dem StiGH mit, dem Wimbledon-Fall von 1923 und dem Verfahren um den oberschlesischen Schulstreit 1928. 236 Ehrenvoll ist für Schücking auch die Tatsache, daß sich der Völkerbund im Rahmen seiner Kodifikationsbemühungen Schückings Fähigkeiten bediente. So gehörte der Deutsche noch vor dem Völkerbundeintritt seines Landes der im Dezember 1924 eingesetzten Kodifikationskommission des Völkerbundes an. In den folgenden Jahren verfaßte er zwei breit angelegte Berichte und beteiligte sich auch ansonsten intensiv an der Ausschußarbeit Im Anschluß (1928) wurde er in den sog. "Dreierausschuß" berufen, der im Auftrag des Völkerbundes die Mög232 Zu associes wurden 1924 Otfried Nippo1d (membre ab 1931) und Walter Simons (membre ebenfalls ab 1931 ), 1927 Herbert Kraus und Kar! Strupp (membre ab 1932), 1928 Alfred Verdroß, 1929 Friedrich Gaus, 1931 Erich Kaufmann gewählt. 233 Zu Schücking im Institut de droit international: Wehberg, FW 35 (1935), S. 181; de Visscher, FW 35 (1935), S. 177 f.; Reuterskjöld, FW 35 (1935), S. 209; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [ 1988], S. 240. 234 V gl. ZIR 31 (1923), S. 177. 235 Vgl. NL Schücking I, Nr. 44/1. An dieser internationalen Vereinigung von Staatsrechtslehrern waren aus Deutschland neben Schücking nur Anschütz und Stier-Somlo beteiligt. 236 Wehberg, FW 35 (1935), S. 172;Acker(1970), S. 203 f. ; Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 466.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

lichkeit einer systematischen Totalkodifikation des Völkerrechts untersuchen sollte, und nahm als offizieller deutscher Delegierter an der letztendlich erfolglos gebliebenen Haager Kodifikationskonferenz im März 1930 teil. 237

3. Berufliche Erfolge in Kiel und im Haag Im Jahr 1926 nahm Schücking, nachdem die Kieler Fakultät zunächst andere Kandidaten ins Auge gefaßt hatte und erst einige Bedenken überwinden mußte, einen Ruf auf den Lehrstuhl für Völkerrechtarn Institut für Internationales Recht der Universität Kiel an. 238 Nach den Widrigkeiten und Anstrengungen der bis dahin überwiegend mit primär politischen Aktivitäten zugebrachten Nachkriegszeit bedeutete die Berufung für Schücking eine "ideale Lösung". 239 Sein Zeitplan war zwar nach wie vor randvoll mit Reiseaktivitäten zu den verschiedensten nationalen und internationalen Veranstaltungen, die dem Auf- und Ausbau des Völkerrechts dienten. In der KielerEinrichtung fand er aber nach seinem gleichzeitig er237 Wehberg, FW 35 (1935), S. 172 f.; de Visscher, FW 35 (1935), S. 178; Gidel, FW 35 (1935), S. 184; Guggenheim, FW 35 (1935), S. 210 ff.;Acker(l970), S. 191 ff.;Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 466; Meister, Blätter für deutsche und internationale Politik 39 (1994), S. 1507. Vgl. auch 2. Kapitel, C. I. 6. 238 Zu dieser Berufung: Doehring (1966), S. 189. Schücking gibt gegenüber seinem Bruder Levin in einem Brief vom 7 .12.1925, NL Schücking I, Nr. 112, an, das Unterrichtsministerium habe ihm die Kieler Stelle schon seit längerem zuwenden wollen. Schücking hatte dementsprechend schon seit längerem Fühlung mit dem Kieler Institut aufgenommen und besuchte es u. a. im März 1925, vgl. BriefSchückings an Wehberg vom27.3.1925, NL Wehberg, Nr. 79. Er wurde aus diesem Anlaß zum korresporrendierenden Mitglied des Instituts ernannt, vgl. die diesbezügliche Urkunde vom 10.3.1925, in NL Schücking, Nr. VIII/4. Entscheidend für das Zustandekommen der Berufung durch die Kieler Fakultät war wohl vor allem Gustav Radbruch, der in den ersten Jahren der Weimarer Republik Reichsjustizminister für die SPD war und selbst bis 1926 an der Kieler Universität Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte. Vgl. Brief Schückings an Wehberg vom 9.1 .1926, NL Wehberg, Nr. 79. Der Ruf an Schücking erging wohl im Dezember 1925, vgl. einen Brief des Rektors der Berliner Handelshochschule an Schücking vom 29.12.1925, NL Schükking I, Nr. 108, der Schücking zum Bleiben in Berlin bewegen sollte. Die eigentlichen Berufungsverhandlungen fanden im Frühjahr 1926 statt, vgl. Briefe Schückings an Wehberg vom 9.2.1926 bzw. 1.6.1926, NL Wehberg, Nr. 79. 239 Vgl. C. 8 . Schücking, 50 Jahre IIR (1965), S. 189. Schücking verspürte in den Jahren 192511926 eine große Belastung durch die Doppelrolle als Politiker und Wissenschaftler. In Briefen an seinen Bruder Levin (NL Schücking I, Nr. 112) schrieb er am 7.12.1925, dieser Doppelberuf werde mit jedem Tag unerträglicher. Am 23.12.1925 äußerte er, es vertiefe sich bei ihm das Gefühl, daß er so nicht weiterleben könne. Er müsse das Parlament aufgeben, da er den wichtigen Pflichten nicht entsprechend ihrer Bedeutung nachkommen könne.

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folgenden Rückzug aus der Tagespolitik240 ab dem Wintersemester 1926/27 die damals möglicherweise besten akademischen Möglichkeiten für einen Völkerrechtslehrer im Deutschen Reich vor. Als Nachfolger Niemeyers baute er das Institut zu einem international anerkannten Forschungszentrum aus. 241 Schücking betreute eine Vielzahl von Veröffentlichungsprojekten 242 und veranstaltete eine Vortragsreihe mit einer Reihe von renommierten, aber auch kontroversen Referenten. 243 Das Institut zog zudem in dieser Zeit eine Reihe von begabten Jungwissenschaftlern an, für die Schücking sich stets stark engagierte.244 240 Immerhin war Schücking aber weiterhin in der Kieler Ortsgruppe der DDP präsent und hielt z. B. in der Kieler Nord-Ostsee-Halle eine Rede vor großer Versammlung aus Anlaß des Verfassungstagesam 14.8.1928. Seine Ansprache, die sich u. a. kritisch mit der Wilhelminischen Vergangenheit auseinandersetzte, fand zwar bei den anwesenden Arbeitern großen Anklang, die bürgerlichen Honoratioren allerdings reagierten frostig auf die von ihnen als polarisierend empfundene Rede, vgl. C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 13 f., sowie die Reaktionen in den Kieler Neuesten Nachrichten vom 15.8. 1928, Nr. 190, S. 3. 241 Vgl. Wehberg, FW 31 (1931), S. 84 ff.; ders., FW 35 (1935), S. 173; C. B. Schükking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 190; Acker (1970), S. 202; Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 466. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 89, nennt das Kieler Institut neben dem Kaiser-WHhelm-Institut in Berlin und dem Hamburger Institut für Auswärtige Politik als Zentren der deutschen Völkerrechtswissenschaft in den zwanziger Jahren. Würdigend über die akademischen Leistungen Schückings in Kiel auch Politis, FW 35 (1935), S. 179; Gidel, FW 35 (1935), S. 184; Spiropoulos, FW 35 (1935), S. 203 ff.; Doehring (1966), S. 189. Schückings Lehrtätigkeit in Kiel hat sogar literarischen Niederschlag gefunden. So berichtet Ernst von Salomon in seinem vielbeachteten Roman ,,Der Fragebogen" (1951), S. 185-194, von einem Gespräch mit dem "verehrungswürdigen" Professor Walther Schücking in Kiel. Tatsächlich hatte Schücking den gerade nach Verbüßung einer Strafe wegen des Ratbenau-Mordes aus dem Zuchthaus entlassenen von Salomon, der Anfang 1928 in Preetz bei Kiel in einem Sanatorium weilte, nach Kiel eingeladen. Schücking war der Auffassung, daß man sich um solche jungen Leute, die auf die falsche Bahn geraten seien, kümmern müsse, vgl. C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 10, sowie Klein (1994), S. 146. 242 So die Neuauflagen des Völkerbundkommentars mit Wehberg, die Veröffentlichungsreihe des Instituts und die Deutsche Ausgabe einer Sammlung der Urteile des Haager Gerichtshofs. 243 Zu erwähnen sind eine Vortragsreihe des berühmten amerikanischen Völkerrechtlers James Brown Scott im Juni 1928 sowie weitere Veranstaltungen mit dem norwegischen Präsidenten der Interparlamentarischen Union, Christian Lange, Kurt Blumenfeld von der International Jewish Agency, vgl. Akten IIR, A 17 sowie einen Brief Schückings an Wehberg vom 6.6.1928, Akten IIR, A 24 I, NL Schücking II, Nr. V/2. Siehe hierzu auch Wehberg, FW 31 (1931), S. 85; Doehring (1966), S. 191. 244 Von seinen Schülern sind Guggenheim, Spiropoulos, Schätze!, Böhmert und Münch an erster Stelle zu nennen. Besonderes Beispiel für Schückings Engagement für seine Schüler sind seine Bemühungen, für Dr. Buschauereine Stelle als Redakteur der deutschen Ausgabe der Haager Urteilssammlung zu erlangen, vgl. Akten IIR, A 20 II, NL Schücking III,

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Förderlich für seine Tätigkeit war auch das fortschrittliche und aufgeschlossene Klima, das zu dieser Zeit innerhalb der Kieler Juristischen Fakultät herrschte. 245 Indiz für die liberale Offenheit der Fakultät in der Weimarer Zeit, in der neben Gustav Radbruch (1878-1949)246 Walter Jellinek (1855-1955)247 und Hermann Kantorowicz (1877-1940) 248 in Kiel lehrten, sind auch die heftigen Attacken, die die Nationalsozialisten schon in den frühen dreißiger Jahren gegen die ihnen zu liberal gesinnte Fakultät richteten. 249 Wenn Schücking ab 1931 weniger Zeit für seine Verpflichtungen am Kieler Institut hatte, lag das an einer großen Ehre, die ihm zuteil wurde. Am 25. September 1930 wählten ihn die Organe des Völkerbundes zum Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof, 250 nachdem er schon bei der letzten Zuwahl von Richtern im Jahr 1928 vom deutschen Vorschlagskomitee ohne Erfolg nominiert worden war251 und zwischenzeitlich andere deutsche Kandidaten wie der hohe oder sein Eintreten für die Berufung seines Schülers Walther Schätze! nach Kiel, Brief Schückings an von Hippe! vom 8.1.1932, NL Schücking I, Nr. 18/2. Andererseits klagt Schücking über leidige Erfahrungen mit wenig zuverlässigen Mitarbeitern, siehe Brief Schückings an Wehberg vom 25.11.1929, Akten IIR, A 24 I, BI. 81, NL Schücking Il, Nr. V/2. 245 Schücking spricht in einem Brief an seinen alten Freund Martin Rade vom 17.1.30 von einem .,Wunder an Harmonie und fortschrittlichem Geist" innerhalb der Fakultät, siehe NL Schücking I, Nr. 26. Schon in einem Briefan Walter Simons vom 9.3.1929, Akten IIR, A 181, BI. 71 ff., NL Schücking Il, Nr. V/2, schreibt Schücking, er fühle sich sehr glücklich an der Kieler Fakultät, weil diese momentan eine sehr glückliche Zusammensetzung habe. Siehe auch Doehring (1966), S. 1851190; Göppinger (1990), S. 188; Eckert, in: Säcker (Hrsg.), S. 38 ff.; Kempter (1998), S. 441. 246 Zu Radbruch, vgl. H. Otte (1982), S. 34 ff.; Schneider, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], s. 295 ff. 247 Zu Walter Jellinek, vgl. Bachof. JZ 10 (1955), S. 429. 248 Zu Kantorowicz, vgl. Fromme/, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 243 ff.; Eckert, in: Säcker (Hrsg.) [1992], S. 39 f. 249 Vgl. ein Flugblatt des NS-Studentenbundes vom November 1930, NL Schücking I, Nr. 2112; Eckert, in: Säcker(Hrsg.) [1992], S. 41. 250 Schücking wurde mit 34 von 52 Stimmen gewählt und rangierte damit auf Platz 10 der 15 insgesamt zu wählenden Richter. Vgl. Societe de Nations, Journal de Ia Onzieme Session de I' Assemblee, Genf 1930, Nr. 15 vom 26.9.1930, S. 271, sowie Fachiri (1932), S. 27 ff.; Hudson, PCIJ (1943), S. 252 f. m Briefe Schückings an Ministerialdirektor von Martius vom 10.7.1928 bzw. an Max Huber vom 14.7.1928, vgl. Akten IIR, A 20 I, S. 47 bzw. 54 f., NL Schücking III. Siehe auch den Artikel .,Richterwah1 im Haag", Vossische Zeitung vom 25.7.1928, Nr. 176. Schücking regte, um seine Kandidatur 1930 zu sichern, schon 1928 an, seinen Parteifreund, den Justizminister Koch-Weset als deutscher Vertreter auf die Liste des Ständigen Schiedshofs zu setzen, da die jeweiligen nationalen Gruppen der Schiedshofliste zugleich die Vorschläge für die Richterposten beim StiGH machten, vgl. Brief Schückings an Koch-Weser

B. Zur Biographie Schückings

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Ministerialbeamte Gaus und der ehemalige Reichsgerichtspräsident Simons für aussichtsreichere Kandidaten gehalten wurden. 252 Die nun folgende Tätigkeit im Haag wurde von Schücking selbst wie von seinen Biographen als Krönung der juristischen Karriere empfunden. 253 Schücking siedelte im Herbst 1932, um die sich seit langen Jahren immer wieder über Monate hinziehende Trennung von Frau und Kindem zu vermeiden, mit seiner Familie ganz nach Holland übe~54 und widmete sich mit großem Einsatz und unter Rückzug von der großen Zahl seiner anderen Positionen der internationalen Rechtspflege.m

4. Der Nationalsozialismus Schon vor dem Jahr 1933 war Schücking von nationalkonservativen Kreisen immer wieder stark unter Beschuß genommen worden. 256 So fielen die Reaktionen der rechten Kreise auf die Berufung Schückings zum Weltrichter hart und verlet-

vom 13.7.1928, NL Schücking I, Nr. 32/1. Das Komitee bestand deshalb nach 1928 aus Koch-Weser (DDP), Geheimrat Kriege aus dem Auswärtigen Amt (DVP), Gerichtsrat von Staff (DNVP) sowie Schücking selbst. m Vgl. Briefe Guggenheims an Schücking vom 6.5.1929, NL Schücking II, Nr. I, Brief 113, bzw. vom 12.5.1930, NL Schücking II, Nr. XIII, BI. 6la (Das AuswärtigeAmt betreibe die Kandidatur von Gaus). Siehe außerdem FZ vom 15.6.1930; Journal de Geneve vom 24.9.1930 (NL Schücking II, Nr. XIII/I). m Vgl. zu dieser Selbstaussage Schückings Briefe, z. B. an Koch-Weser vom 8.10.1930, NL Schücking I, Nr. 1/1; an Lange vom 22.10.1930, Akten IIR, A 11 II, Bl.l3, NL Schücking II, Nr. V11 (,,Als Jurist kann es für mich kein höheres Amt geben."). Siehe auch Politis, FW 35 (1935), S. 179; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR, S. 191; Acker (1970), S. 203; Scheuner, FW 58 (1975), S. 7; Münch, in: Macburger Gelehrte (1977), S. 46; Kohl, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 240. 254 Vgl. Brief Schückings an Wehberg vom 23.8.1932, Akten IIR, A 18 II, BI. 58, NL Schücking II, Nr. V/2. m Zur Würdigung dieses Einsatzes, vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 174; de Visscher, FW 35 (1935), S. 178; van Eysinga, FW 35 (1935), S. 213 f.; Hammarskjöld, FW 35 (1935), S. 214 ff.; Münch, in: Macburger Gelehrte (1977), S. 476. Wie ernst Schücking seine Aufgaben als Richter nahm, zeigt die Tatsache, daß Schücking auf die Verleihung der Ehrenpromotion der Universität Cambridge verzichtete, die nur an Anwesende verliehen wurde, weil er glaubte, angesichtsdes gerade verhandelten Zollunion-Streites nicht die Reise nach England antreten zu können, vgl. Bericht über die Arbeiten des Instituts für Internationales Recht in Kiel vom 1.1.1932, NL Schücking I, Nr. 22/2. 256 Schücking soll in den frühen zwanziger Jahren auf der Liste deljenigen Männer gestanden haben, die von der .,Organisation Consul" nach dem Ratbenau-Mord umgebracht werden sollten, vgl. C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 10 f.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

zend aus. 257 Zeugnis von der Feindschaft insbesondere der Nationalsozialisten legt ein "Überfall" auf eine Veranstaltung Schückings im Sommersemester 1931 ab: Am 30.6.1931 warf der 19jährige im Nationalsozialistischen Studentenbund aktive Hans-Joachim Eichhoffeine Tränengasbombe in eine Versammlung des demokratischen Studentenbundes in der Kieler "Seeburg", auf der Schücking sprach. 258 Die Einstellung Schückings gegenüber dem Nationalsozialismus wird durch eine Äußerung in einem Brief an Martin Rade beleuchtet: Schücking zeigt sich besorgt darüber, daß das deutsche Bürgertum auf den "Hitler-Schwindel" hereinzufallen scheine. 259 Auch leitete er mit großem Elan eine Untersuchung, die zur Zwangsexmatrikulation eines nationalsozialistischen Studenten im Anschluß an dessen Beleidigungskampagne gegen den Kieler Theologieprofessor Baumgarten führte. 260 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß sich die Nationalsozialisten nach ihrer "Machtübernahme" im Jahre 1933 sehr schnell bemühten, Schükking aus dem Staatsdienst zu entfernen. Schücking wurde noch im April 1933 unter Anwendung von § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns wegen angeblich fehlender nationaler Zuverlässigkeit von dem immer noch bekleideten Professorenamt an der Universität Kiel beurlaubt.261 Wohl nach interner Fürsprache wurde die Zwangsbeurlaubung offiziell statt mit politischen Gründen mit der dauernden Abwesenheit Schückings wegen der Richtertätigkeit

257 So warf die DNVP-nahe Presse Schücking gerade im Zusammenhang mit der Wahl zum Richter arn StlGH Ämterjagd und Geldgier vor, vgl. Parlamentsbeilage vom 31 .7 .1928, NL Schücking I, Nr. 32/1. Diese Vorwürfe wiederholen sich in: "Der Tag" vom 30.8.1932, Nr. 208. 258 Vgl. Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 1.7.1931, Nr. 150; Kieler Neueste Nachrichten vom 2. 7.1931, Nr. 151. Eichhoff wurde später wegen dieses Überfalls zu einem Monat Gefangnis verurteilt, vgl. Kieler Zeitung vom 12.3.1932, Nr. 72. Allgemein zu den Übergriffen der NS-Studentenschaft an deutschen Universitäten, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 250. 259 Brief Schückings an Rade vom 29.8.1932, NL Schücking I, Nr. 26. 260 Vgl. NL Schücking I, Nr. 21/2. 261 Vgl. ein Schreiben Schückings an den Kieler Dekan von Hentig vom 4.5.1933, NL Schücking I, Nr. 121, in dem er von seiner arn 26.4. 1933 verfügten Zwangsbeurlaubung durch das Unterrichtsministerium berichtet. Das Kieler Institut wurde ab dieser Zeit kommissarisch von Curt Rühland (1891-1987) geleitet, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 394 f., 271. Zur weiteren Entwicklung der Kieler Fakultät sowie insbesondere zur "Kieler Schule", vgl. Eckert, in: Säcker (Hrsg.) [1992], S. 43 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 279 ff. Zur Vertreibung mißliebiger Professoren aus deutschen Universitäten: Rüthers (1989), S. 129 ff., sowie speziell zur Vertreibungjüdischer Juraprofessoren Göppinger (1990), S. 196 ff., 206 ff.

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im Haag begründet. 262 Auch zur Aufgabe dieser Stellung forderte die neue Regierung Schücking nach der Erklärung des deutschen Austritts aus dem Völkerbund vom Oktober 1933 auf. Schücking lehnte jedoch mit Hinweis auf die Tatsache, daß er Organwalter der Staatengemeinschaft sei, dieses Ansinnen ab und nahm weiterhin voll seine Richteraufgaben im Haag war.263 Aus dem deutschen Staatsdienst schied Schücking zwangsweise im November 1933 endgültig aus. 264 Die Geschehnisse in der Heimat versetzten Schücking nach eigenen Aussagen neben dem Ausgang der Friedensverhandlungen von Versailles den "zweiten großen Knax" in seinem Leben. 265 In den Jahren nach 1933 war sein seelischer Zustand angesichts des Scheiteros der deutschen Demokratie, aber auch angesichts des damals immer stärker sichtbaren Niedergangs des Völkerbundes, stark von Resignation und Zweifeln an der Richtigkeit und Realisierbarkeit der eigenen Vorstellungen geprägt. 266 Schücking, der im Haag von zahlreichen aus Deutschland geflohenen, überwiegend jüdischen Intellektuellen um Hilfe und Beistand

262 Wehberg, FW 35 (1935), S. 173; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 193. Vgl. auch die Zeitungsmeldung über SchOckings Beurlaubung, die über den Allgemeinen Preußischen Pressedienst verbreitet und z. B. in der Kieler Neuesten Nachrichten vom 4.5.1933, Nr. 104, S. 18, oder dem Berliner Lokalanzeiger vom 4.5.1933, Nr. 208, veröffentlicht wurde. 263 Diese Tatsache wurde der Öffentlichkeit erstmals durch einen Artikel Ludwig Quiddes zum 60. Geburtstag Schückings in den Basler Nachrichten vom 7.l.l935, Beilage zu Nr. 5, bekannt. SchOcking war sehr ärgerlich über diese Indiskretion, da er die Aufforderung der deutschen Regierung gerne geheimgehalten hätte, vgl. dazu die Briefe von Quidde an SchOcking vom 31 .1.1935, NL SchOcking I, Nr. 111, bzw. von Wehberg an Anna Leber vom August 1957, NL Wehberg, Nr. 82. 264 V gl. ein Schreiben von Curt ROh1and, dem geschäftsführenden Direktor des Kieler IIR, an Schückingvom 30.l.l934, NL Schücking I, Nr. 110. Im März 1934 gab Schücking auf Druck des Kern-Verlages und dringendes Anraten Rühlands auch die Herausgeberschaft der Zeitschrift für Völkerrecht auf, die er bis dahin gemeinsam mit den "NichtAriern" Fleischmann und Strupp innegehabt hatte. Schücking weigerte sich aber zugleich Druck auf die beiden auszuüben, damit diese sich genauso wie er verhalten würden. Vgl. Schreiben Rühlands an Schücking vom 30.l.l934 bzw. 13.3.1934, NL Schücking I, Nr. 110 bzw. 111, sowie ein Schreiben von Rühland an den Kern-Verlag vom 3.4.1934, NL Schücking I, Nr. 113. Vgl. dazu auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 392. 265 Vgl. Wehberg, FW 35 (1935), S. 228; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 192; Acker (1970), S. 205; Kohl. in: Kritische Justiz (Hrsg.) [ 1988], S. 241. 266 C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 194; Scelle, FW 35 (1935), S. 182. Vgl. auch einen Brief SchOckings an Martin Rade vom 31.12.1934, NL SchOcking I, Nr. 112: "Der Glaube an den Fortschritt des Menschengeschlechts, in dem ich erzogen wurde, wird von mir als Kardinalirrtum begriffen. Kurz: der enttäuschte Idealist auf der ganzen Linie."

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

angegangen wurde, 267 schämte sichangesichtsder antisemitischen Übergriffe für sein deutsches Vaterland. 268 Mit Rücksicht auf seine Richterstellung und auf seine in Deutschland verbliebenen Familienangehörigen, die von Regierungsseite ohnehin schon persönlichen Repressalien ausgesetzt waren, 269 enthielt er sich aber öffentlichen Äußerungen über das Naziregime. 270 Schücking fürchtete zudem nicht ohne Grund bei einer Einreise nach Deutschland vom NS-Regime verhaftet und in ein Konzentrationslager verbracht zu werden, und hat deshalb in seinen letzten Lebensjahren Deutschland nicht mehr betreten. 271 267 Vgl. die unzähligen Bittbriefe, die im NL Schücking I, Nr. 113, erhalten sind, sowie einen Brief Schückings an einen unbekannten Adressaten vom 14.6.1933, NL Schücking I, Nr. I 08: "Fast täglich erhalte ich Besuche und Briefe von Amtsentsetzten und Flüchtigen, die ihre Not klagen und um Hilfe bitten." Unter den Bittstellern waren u. a. der bekannte Historiker und Pazifist Veit Valentin, vgl. dessen Brief vom 31.7.1933, NL Schücking I, Nr. 110, sowie Schückings Völkerrechtskollege Karl Strupp, vgl. einen Brief Schückings an Geheimrat Kriege vom 6.6.1933, NL Schücking I, Nr. 111 . Schücking initiierte auch die internationale Sammlung von Unterstützungsgeldem für den früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe (SPD), vgl. einen Brief des Generalsekretärs der IPU Paul Boissier an Schücking vom 29.1.1935, NL Schücking I, Nr. 121. 268 C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 193, unter Hinweis aufden Arierparagraphen des Vereins für Kriegsblinde, durch den kriegsversehrte Judentrotz ihres unbestreitbaren Opfers für das Deutsche Reich aus diesem Verein ausgeschlossen wurden. 269 So wurde der Göttinger Völkerrechtsprofessor Herbert Kraus aufgefordert, Schükkings Sohn Christoph Bemhard aus einem seiner völkerrechtlichen Seminare zu entfernen, an dem dieser im Rahmen seines Jurastudiums in Göttingen teilnahm, vgl. Brief Schücking an unbekannten Adressaten vom 14.6.1933, NL Schücking I, Nr. 108. Schückings Bruder Lotbar Engelbert wurde damit gedroht, die Anwaltszulassung zu entziehen, vgl. ein Schreiben des preußischen Justizministeriums an Lotbar Engelbert Schücking vom 26.3.1933, NL Schücking I, Nr. 121 sowieein Schreiben Schückings an Kriege vom 6.6.1933, NL Schükking I, Nr. 111. Auch Schückings Schüler waren ähnlichen Verfolgungen und Benachteiligungen ausgesetzt. So saß Fritz Münch nach einer Denunziation sogar vorübergehend im Gefängnis, vgl. seinen Brief an Schücking vom 28.12.1933, NL Schücking I, Nr. 113. Nach der Prüfung zum Assessorexamen wurde ihm - nach einem Bericht von Schückings Sohn Christoph Bemhard -mitgeteilt, daß eine Anstellung im Staatsdienst für ihn wegen seiner Verbindung zu Professor Schücking nicht in Betracht komme, vgl. C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 18. Auch Schückings Kieler Assistent Viktor Böhmert wurde bei seiner Habilitation in Kiel stark behindert, vgl. etwa den Brief Böhmerts an Schücking vom 10.8.1934, NL Schücking I, Nr. 110. 270 Vgl. einen Brief Schückings an Wehberg vom 7.12.1934, NL Wehberg Nr. 80: "Ich möchte mich unbedingt aus den politischen Tageskämpfen heraushalten." In diesem Sinne auch einen BriefWehbergs an Anna Leber vom August 1957, NL Wehberg, Nr. 82. 271 Die Familie Schücking konnte ihr Oberhaupt im Frühjahr 1933 nur mit größter Mühe davon abhalten, eine Reise nach Berlin zu unternehmen, wo er u. a. zusammen mit Geheimrat Kriege die Arbeit an einem Gutachten betreffend die Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg fortsetzen sollte, C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 3. Von verschiedener Seite, darunter wohl zunächst auch durch den damaligen deutschen Gesandten im Haag, Graf Zech, warnte

B. Zur Biographie Schückings

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Am 25. August 1935, im Alter von erst 60 Jahren, verstarb Walther Schücking im Haag an einem plötzlich aufgetretenen Leberleiden. 272 Dort wurde ihm auch eine, von der holländischen Regierung ausgerichtete würdige Trauerfeier zuteil, 273 während sein Tod in Deutschland fast vollständig verschwiegen wurde. 274 Walther Schücking ist in Oberurff, einem Ortsteil von Zwesten im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis, in der Nähe eines 1932 als Altersruhesitz erworbenen Gutshofes beigesetzt. Entgegen einer Anweisung der örtlich zuständigen GeStaPo Kassel nahm nahezu die gesamte Bevölkerung des Ortes an Schückings Beisetzung teil. 275 man Schücking in für ihn glaubhafter Weise, nach Deutschland einzureisen, vgl. Briefe Schückings an seinen Bruder Levin vom 25.3.1933 bzw. 25.4.1933, NL Schücking I, Nr. 112. Jedenfalls formulierte Schücking schon im Juni 1933, er habe so viele Einzelheiten über Unmenschlichkeit und Greuel gehört, über Rohheiten und Willkürakte, über Verwilderung und Verwüstung des Geistes an den deutschen Universitäten, daß für ihn eine Reise nach Deutschland derzeit nach in Frage komme, vgl. den Entwurf eines Briefes an Graf Zech vom 6.6.1933, NL Schücking I, Nr. 121. Nachdem die ablehnende Haltung Schückings gegenüber einer Reise nach Berlin deutlich wurde, besuchte ihn der hohe Ministerlaibeamte Kriege persönlich in Holland, um Schücking von einer Teilnahme an dem Gutachten zu überzeugen, vgl. einen BriefentwurfSchückings an einen unbekannten Adressaten vom 14.6.1933, NL SchOcking I, Nr. 108, und auch GrafZech redete ihm offensichtlich nunmehr zu, sich einem persönlichen Treffen in Berlin nicht zu entziehen, Entwurf eines Schreibens von Schücking an Kriege vom 6.6.1933, NL Schücking I, Nr. lll . Schükking blieb dennoch bei seiner Weigerung, nach Berlin zu reisen, die er offiziell mit seiner richterlichen Neutralitätspflicht begründete. Graf Zech schrieb später (am 24.1.1936) an Schückings Richterkollegen van Eysinga (NL Wehberg, Nr. 82), er sei überzeugt, Schükking habe damals, d. h. im Jahre 1933, unbehelligt nach Berlin reisen können, auch wenn Schücking geglaubt habe, mit der Überführung in ein Konzentrationslager rechnen zu müssen. Vgl. auch einen Brief Schückings an Wehberg vom 21.2.1934, NL Schücking I, Nr. 108, in dem Schücking sein Bedauern darüber ausdrückt, daß er zur Zeit nicht ohne Gefahr für Leib und Leben nach Deutschland einreisen könne. 272 Vgl. C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 194. 273 Zur Trauerfeier im Haag, vgl. den Bericht in der FW 35 (1935), S. 234 ff. Nach Schückings Tod sammelte außerdem ein Komitee, damit der bekannte holländische Maler Bakels ein Porträt des deutschen Völkerrechtlers und Weltrichters angefertigen konnte. Dieses Porträt wurde am 3.4.1936 im Haager Friedenspalast enthüllt, vgl. die Briefe Wehbergs zu diesem Thema, in: NL Wehberg, Nr. 83. 274 Spühler, Der Völkerbund 13 (1935), S. 98, spricht davon, daß Schücking außer einer knappen Mitteilung des amtlichen Nachrichtenbüros jegliche Würdigung verwehrt wurde. Tatsächlich ist es zutreffend, daß der Tod Schückings durch die amtliche Agentur mitgeteilt und daher auch in unzähligen deutschen Zeitungen in äußerst knapper Form abgedruckt wurde. Nur in der FZ erschien eine etwas ausführlichere Würdigung des Lebens und Werks von Schücking, die in ihrer Länge jedoch weit hinter den Würdigungen in zahllosen holländischen oder schweizerischen Zeitungen zurückblieb, vgl. dazu NL Schücking I, Nr. 123. 275 Vgl. Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 467. 6 Bodendiek

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l. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

VII. Fazit Die nähere Untersuchung bestätigt den ersten Eindruck von der prominenten Stellung, die Walther Schücking im öffentlichen Leben - vor allem ab 1918/19 einnahm. Nachdem Schücking schon vor dem Ersten Weltkrieg vielfältige Aktivitäten entfaltet hatte, unterhielt er in der Weimarer Zeit regen Kontakt mit Persönlichkeiten der unterschiedlichsten Couleur in Wissenschaft und Politik. Als Wissenschaftsorganisator nahm er im Bereich der Völkerrechtswissenschaft einen zentralen Platz ein, den er mit einem ungeheuren Arbeitspensum neben seinen politischen Ämtern ausfüllte.

C. Das literarische Schaffen Schückings Das literarische Schaffen W alther Schückings ist, wie sich vielleicht bereits bei einem ersten Blick auf seine Bibliographie276 ermessen läßt, äußerst vielfältig: Zum einen ist die Bandbreite der Forschungsgebiete, mit denen sich Schücking im Laufe der Jahre 1897 bis 1935 befaßt hat, sehr groß, zum anderen hat er seine Gedanken in verschiedenster Form und in den verschiedensten Publikationsorganen veröffentlicht: Neben einer Anzahl von größeren Einzelschriften stehen kleinere Monographien und Nachdrucke von Reden, die Schücking im Rahmen verschiedener Vereinigungen gehalten hat. Ferner liegt eine Unzahl von Aufsätzen aus Zeitschriften verschiedenster Fachgebiete sowie eine fast ebenso große Zahl von Artikeln aus Tageszeitungen vor. Besonders in den großen liberalen, dem Pazifismus gegenüber durchaus offenen Publikationen der Zeit, dem "Berliner Tageblatt" und der ,,Frankfurter Zeitung"277, konnte Schücking immer wieder an prominenter Stelle zu ihn bewegenden Themen Stellung nehmen. Im folgenden soll ein erster Überblick über das vielfältige Material gegeben werden. 276 V gl. dazu das Schriftenverzeichnis im Anhang. Es ist aufgebaut auf den Zusammenstellungen von Wehberg, FW 35 (1935), S. 254-268; C. B. Schücking, in: 50 Jahre IIR (1965), S. 195-220, und Acker (1970), S. 210-226. Die Quellenangaben wurden nach Möglichkeit im einzelnen überprüft, vereinheitlicht, zum Teil verbessert und neu angeordnet. Zum besseren Verständnis werden die Werke Schückings in diesem bibliographischen Teil der Arbeit im Vergleich zur sonstigen Zitierweise mit zusätzlichen Angaben nachgewiesen. 277 Zur Einstellung der Frankfurter Zeitung und des Berliner Tageblatts als zuverlässige Bundesgenossen des Pazifismus, vgl. HolZ (1988), S. 64 f. Chickering (1975), S. 189 f. urteilt, die FZ habe dem Pazifismus am nächsten gestanden, das BT sei demgegenüber zwar auch sehr wichtig, aber weniger zuverlässig gewesen. V gl. auch Eksteins, Journal of Contemporary History 6 (1971), S. 4 f.

C. Das literarische Schaffen Schückings

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I. Arbeiten Schückings in der Vorkriegszeit Dabei gilt es zunächst, die Arbeiten Schückings in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den Blick zu nehmen.

1. Traditionelles Völkerrecht

Am Beginn der akademischen Karriere stand bei Schücking die Beschäftigung mit dem Völkerrecht in seiner traditionellen Form. Nach seiner als Dissertation angenommenen Göttinger Preisschrift "Das Küstenmeer im internationalen Recht" aus dem Jahre 1897,278 beschäftigte er sich auch in den folgenden Jahren wiederholt mit internationalrechtlichen bzw. seerechtliehen Themen, vor allem mit dem Seekriegsrecht,279 und besprach in angesehenenjuristischen Fachzeitschriften eine ganze Reihe von völkerrechtlichen Arbeiten anderer Autoren. In diesen Rezensionen ließ er aber stets auch seine eigenen Ansichten zu den betroffenen Sachgebieten einfließen. 280

2. Deutsche Rechtsgeschichte

In seiner wissenschaftlichen "Frühzeit" um die Jahrhundertwende galt Schükkings Aufmerksamkeit in starkem Maße der rechtshistorischen, insbesondere germanistischen Forschung. Zu nennen ist vor allem die 1899 erschienene Habilitationsschrift "Der Regierungsantritt", in der Schücking die Formen der Huldigung beim Regierungsantritt der Könige in west- und ostgermanischen Stammes-

278 Die Arbeit wurde auch viele Jahre später für aktuell gehalten und hoch eingeschätzt, vgl. etwa das ausdrückliche Lob von Radnitzky, AöR 22 ( 1907), S. 438; Niemeyer, ZIR 36 (1926), S. 4 f.; Swarztrauber (1972), S. 101 f. 279 Vgl. Schücking, Das finnische Seefischereirecht, Mitteilungen des Deutschen Seefischereivereins 1899, S. 273-275; ders., Rückblick auf den Streit mit Venezuela, DJZ 8 (1903), S. 157-160; ders., Die Verwendung von Minen im Seekrieg, ZIR 16 (1906), S. 121-152; ders., Die Verwendung von Minen im Seekrieg, DJZ ll (1906), S. I 058-l 061. Der wissenschaftliche Wert der beiden letztgenannten Arbeiten ist durchaus hoch einzuschätzen, vgl. von Ullmann, ZIR 16 (1906), S. 561 f., und Laun, Internationalisierung der Meerengen und Kanäle (1918), S. 14. 280 V gl. als besonders prägnanten Beleg für diese These: Schücking, Besprechung von Emest Nys, ZIR 14 (1904), S. 552-556.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

reichen untersuchte. 281 Schon zuvor hatte Schücking einen größeren Aufsatz aus dem Bereich der Deutschen Rechtsgeschichte publiziert.282 Im folgenden hat er aber keine ausschließlich rechtsgeschichtlichen Arbeiten mehr veröffentlicht. Es ist aber bezeichnend, daß er auch bei späteren Überlegungen, etwa zur Struktur der Völkerrechtsordnung, stets großen Wert auf eine fundierte historische Analyse der rechtlichen Materie gelegt hat. 283

3. Privatfürstenrecht

In den ersten Jahren seiner Marburger Tätigkeit entwickelte Schücking auch eine gewisse Spezialisierung für das sog. "Privatfürstenrecht", d. h. für das Sonderrecht der hochadligen Häuser in vermögens-, familien-und erbrechtliehen Fragen. Den Grundstein für seine Expertise auf diesem Gebiet legte er schon im Jahre 1902 mit der Monographie "Der Staat und seine Agnaten", in der er untersuchte, ob die staatliche Gesetzgebung auf den Thronfolgeanspruch der Agnaten, also der durch Männer verwandten männlichen Angehörigen eines regierenden Fürstenhauses, Einfluß nehmen kann. Im folgenden wurde der junge Marburger Professor im Thronstreit um das Großherzogtum Oldenburg als Gutachter tätig284 und nahm auch zum lippischen Erbfolgestreit mehrfach Stellung. 285 Im angesehe-

281 Vgl. Acker (1970), S. 8 f., Fn. 25. Zum guten Ansehen, das die Schrift auch Jahrzehnte später noch genoß, vgl. die Angaben zur Rezeption des Werkes bei Münch, in: Marburger Gelehrte (1977), S. 471, Fn. 31. 282 Schücking, Über die Entstehungszeit und Einheitlichkeit der Iex Saxonum, Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 24 (1899), S. 631-670. 283 Dies wird besonders in Schriften wie "Der Kosmopolitismus der Antike" (1907) oder "Organisation der Welt" (1908) deutlich. Auch C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 6, weist darauf hin, daß sein Vater aufgrund seiner großen Kenntnisse über die deutsche Rechtsgeschichte und insbesondere über das Heilige Römische Reich deutscher Nation stets Anschauungsmaterial für die Lösung der Probleme der Gegenwart greifbar gehabt habe. 284 Vgl. Schücking, Die Nichtigkeit der Thronansprüche des Grafen Alexander von Welsburg in Oldenburg (1905). Siehe auch Schücking, Nochmals der Fall Welsburg, Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 38 (1905), S. 903-910; ders., Fürstenrechtliche Fragen zum Fall Welsburg, Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 40 (1907), S. 858-864; ders., Die Regelung der Oldenburgischen Thronfolge im Jahre 1904, JöR 5 (1911), S. 561-569. 285 Schücking, Neue Literatur zum Streit um Lippe, Juristisches Literaturblatt 17 ( 1905), Nr. 161; ders., Der erste Schiedsspruch im Streit um Lippe, Juristisches Literaturblatt 18 (1906), Nr. 9.

C. Das literarische Schaffen Schückings

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neo "Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrecht" wurde ihm die Bearbeitung einiger Artikel zu fürstenrechtlichen Fragen anvertraut. 286

4. Verfassungsrecht Vor allem widmete sich der junge Gelehrte in den ersten Jahren seiner Professur aber dem eigentlichen Schwerpunktfach seines Marburger Lehrstuhls, dem Verfassungsrecht So gab er 1904 eine Textausgabe der preußischen Verfassungsurkunde, 1906 eine Quellensarrunlung zum preußischen Staatsrecht und 1911 eine systematische Darstellung zum Staatsrecht des Großherzogtums Oldenburg heraus. Neben diesen eher herkömmlich anmutenden Arbeiten beschritt Schücking aber auch progressivere Wege: In Auseinandersetzung mit Leo von Savignys Monographie "Das parlamentarische Wahlrecht im Reiche und in Preußen" (1907) legte er 1908 seine Ansichten zum Wahlrecht dar und sprach sich dabei vehement für ein allgemeines, gleichesWahlrechtund damit insbesondere für eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts aus. 287 Später stellte Schücking das System des "deutschen Konstitutionalismus" vollständig in Frage und forderte den Übergang zu einem parlamentarischen Regierungssystem, bei dem nicht mehr die Regierung das Parlament leite, sondern die Regierung vielmehr selbst dem Reichstag verantwortlich sei. 288 Betrachtet man Schückings Schriften aus dieser Zeit, wird zugleich deutlich, daß Schücking im Linksliberalismus parteipolitisch stark aktiv war. 289 Verfassungspolitische Überlegungen gehen bei ihm häufig ein286 V gl. Schücking, Artikel "Adel", "Autonomie", ,,Ebenbürtigkeit", in: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. I (1911), S. 55 ff. , 290 ff., 623 ff. 281 Schücking, Die Reform des preußischen Wahlrechts, Juristisches Literaturblatt 20 (1908), Nr. 192, insbes. S. 28-31. Schücking wandte sich in diesem Aufsatz gegen von Savigny gefordertes "Pluralwahlrecht", bei dem anknüpfend an Alter, Besitz und Bildung dem Einzelnen durch Kumulation sechs bis sieben Stimmen zukommen sollen. Ein Wahlrecht für Frauen lehnte Schücking interessanterweise mit der Begründung ab, die Frauen besäßen - jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt - im Durchschnitt noch ein geringeres Verständnis für die politischen Dinge. Vgl. zur Frage eines wahrhaft demokratischen Wahlrechts auch eine Rede Schückings anläßlich eines liberalen Parteitags in Kassel am 28.4.1907, HLZ vom 30.4.1907. 288 Schücking, Der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem, März 4 (191 0), S. 177 f. Zur gleichen Frage, mit einer historischen Analyse der Verwurzelung der demokratischen Staatsidee in Deutschland, vgl. Schücking, Die Staatsphilosophie des Reichskanzlers, BT vom 3.3.1910. 289 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die bereits angesprochene Parteitagsrede Schückings vom 28.4.1907, HLZ vom 30.4.1907, die einen Überblick über damals politisch relevante Diskussionspunkte bietet.

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l. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

her mit einer harschen Kritik an der Politik der Nationalliberalen Partei, die sich nach seiner Ansicht von ihren ursprünglichen liberalen Wurzeln allzuweit entfernt hatte.290 Eine ausführliche Darstellung und Zusanunenfassung seiner innenpolitischen und staatsrechtlichen Ansichten präsentierte Schücking in der 1913 erschienenen Studie "Neue Ziele der staatlichen Entwicklung". Gestützt auf frühere Überlegungen stellte Schücking zunächst fest, daß das nationalistische und antidemokratische Deutschland des wilhelmischen Zeitalters sich von den Wurzeln des deutschen Wesens, die er im Genossenschaftsstaat der Germanen verwirklicht sah, bedauerlich weit entfernt habe. 291 Um den Anforderungen der Zeit gerecht zu werden, müsse der deutsche Staat wieder Sache des Volkes werden, was sich besonders auch dadurch unter Beweis stellen lasse, daß man auch von konservativen, monarchietreuen Ansichten abweichende Meinungen hinnehme und diese nicht, wie bezüglich der Sozialdemokratie üblich, gleich als Ausdruck staatsfeindlicher Gesinnung werte. 292 DieVerfassungsordnung des Kaiserreichs, der sog. "deutsche Konstitutionalismus" mit seiner typischen Vormachtstellung der Krone gegenüber der Volksvertretung, sei möglicherweise eine zeitlich notwendige Übergangslösung gewesen. Sie habe sich aber nun überlebt, weil das von Bismarck konstruierte System zu kompliziert strukturiert sei und auf personalen und politischen Voraussetzungen aufbaue, die mittlerweile nicht mehr gegeben seien. Die Regierung des Reiches müsse daher anstatt auf die Autorität des Kaisers auf die Mehrheit im Parlament gestützt werden. 293 Die überragende Stellung Preußens im föderalen System des Kaiserreiches mache es zudem erforderlich, das Wahlrecht in Preußen und im Reich anzugleichen; da man aber schlechterdings den Bürgern das demokratische Reichstagswahlrecht nicht wieder wegnehmen könne, müsse auch für die Wahlen 290 Vgl. etwa Schücking, Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem, März 4 (191 0), S. 178 f. Zur Auseinandersetzung mit den Nationalliberalen vgl. auch Schücking, Tragödie des Liberalismus, BT vom 4.5.1908. 291 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 20 f.; insgesamt entspricht§ 3 der "Neuen Ziele", jedenfalls von S. 20 unten bis S. 23 Mitte, mit nur ganz geringen Abweichungen der Vorarbeit "Die Staatsphilosophie des Reichskanzlers", BT vom 3.3.1910. 292 Vgl. Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 23 f. bzw. S. 37. 293 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 29 ff. § 4 dieses Aufsatzes stützt sich ganz offensichtlich auf den Aufsatz "Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem", März 4 (1910), S. 177 ff. Schücking hat diesen Text an einigen Stellen unwesentlich verändert, kleinere Abschnitte hinzugefügt bzw. umgestellt. Er veröffentlichte diesen Paragraphen in wiederum nur leicht veränderter Form, erneut unter dem Titel "Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem" in der FZ vom 31.3.1913.

C. Das literarische Schaffen Schückings

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zum preußischen Landtag ein wahrlich demokratisches W abirecht unter Beachtung der Grundsätze der allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahl eingeführt werden. 294 Weitere Reformvorstellungen Schückings betrafen die zweite preußische Kammer, das Herrenhaus, das er insbesondere unter Einbeziehung der zahlreichen berufsständischen Organisationen demokratisieren wollte295, und die Stellung des Monarchen selbst, dem er statt der bisherigen staatslenkenden Funktionen die Rolle eines "Vertrauensmannes des Volkes" zuschrieb. 296 Auch zur staatsrechtlichen Stellung der Frau äußerte sich Schücking. Zwar wollte er zum damaligen Zeitpunkt den Frauen noch nicht unmittelbar ein Stimmrecht bei den Wahlen zugestehen, weil die Frauen typischerweise noch geringere politische Kenntnisse hätten. Er konstatierte aber dennoch eine von ihm durchaus begrüßte, unaufhaltsame Entwicklung, in deren Zuge sich die Frauen auf dem Marsch in eine immer größere Zahl von Institutionen befänden und die schon bald dazu führen werde, daß ihnen das W abirecht zu gewähren sei. 297 Schließlich müßten auch für die Verwirklichung des sozialen Gedankens die staatsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Kapitalismus und Sozialismus müßten miteinander versöhnt werden, wozu einerseits das Privateigentum, auch an Produktionsmitteln, grundsätzlich entschieden zu verteidigen sei, andererseits aber auch eine möglichst allumfassende soziale Fürsorge "zur Vorbeugung jeglicher Verarmung" ausgebaut werden müsse. Die Finanzierung dieses sozialen Sicherungssystem sollte zum einen durch eine intensivere Besteuerung von Grund und Boden sowie von Erbschaften, zum anderen durch eine Verwirklichung des dritten Leitgedankens Schückings, des internationalen Gedankens, gewährleistet

294 Vgl. Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 42 ff. Schücking greift auch in dieser Passage auf eigene Vorarbeiten zurück. So finden sich die Ausführungen über die Unmöglichkeit, das demokratische Wahlrecht im Reich abzuschaffen (S. 43 f.) bereits in "Die Reform des preußischen Wahlrechts", Juristisches Literaturblatt 20 (1908), Nr. 192, S. 29. Die Ausführungen zur geheimen Wahl, S. 44 f., finden sich dort aufS. 31. Vor allem aber in der Auseinandersetzung mit Savignys Vorschlag eines an Alter, Bildung und Besitz orientierten Pluralwahlrechts hat Schücking seinen alten Aufsatz verarbeitet, vgl. Neue Ziele derstaatlichen Entwicklung (1913), S. 43 ff., bzw. Die Reform des preußischen Wahlrechts, Juristisches Literaturblatt 20 (1908), Nr. 192, S. 30.

Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 51 f. Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 53 ff. 297 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 61 ff. Siehe auch die noch etwas zurückhaltendere Beurteilung in "Reform des preußischen Wahlrechts", Juristisches Literaturblatt 20 (1908), Nr. 192, S. 28. 29'

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werden, indem nämlich die Rüstungsausgaben durch allseitige Abrüstungsbemühungen entscheidend gedrosselt würden. 298

5. Die Nationalitätenfrage Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt Schückings findet sich an einer Schnittstelle von Staats- und Völkerrecht, der Nationalitätenfrage. In einem am 12. Dezember 1905 in Marburg gehaltenen Vortrag analysierte er erstrnals299 vertieft die Entwicklung des nationalen Gedankens und kritisierte in diesem Zusammenhang die preußische Politik gegenüber den nationalen, insbesondere der polnischen, Minderheiten heftig. 300 In schriftlicher Form wurde dieser Vortrag im darauf folgenden Jahr in der von seinem Freund, dem Marburger Theologen Martin Rade, herausgegebenen "Christlichen Welt" veröffentlicht. 301 In der Folgezeit gelangte Schücking zu einer wesentlichen Umarbeitung und Erweiterung seines Vortrages, die er in der im Herbst 1907 fertiggestellten ausführlichen Studie "Das Nationalitätenproblem" veröffentlichte. 302 Hierin beschäftigte er sich insbesondere mit der Lage der Minderheiten in Österreich-Ungarn und der Frage, ob die Einheit der Donaumonarchie gewahrt werden könne. 303

6. Modemes Völkerrecht: Die Organisation der Welt Was sich in der fortschrittlichen Haltung zur Demokratiefrage und dem Nationalitätenproblem für den inneren Bereich des Staates schon angedeutet hatte, ließ sich schließlich auch in bezug auf das Völkerrecht feststellen. Schücking verließ die ausgetretenen Pfade seiner Zunft und wandte sich mit großem Interesse der Frage einer Umgestaltung der Völkerrechtsordnung im Sinne einer "Organisa-

298 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 83 ff. bzw. S. 86 f. Zum Problem der Abrüstung vgl. auch im folgenden, 2. Kapitel, C. I. 4. 299 Allerdings geht er bereits vorher en passant in der Rezension von Emest Nys, Droit international, ZIR 14 (1904), S. 553, auf das Nationalitätenproblem ein. 300 Vgl. den Bericht über Schückings Vortrag im Verein "Frauenbildung- Frauenstudium", HLZ vom 13.12.1905. 301 Schücking, Das Nationalitätenproblem, Christliche Welt 20 (1906), Sp. 219 ff. 302 Vgl. das Vorwort zu Schücking, Das Nationalitätenproblem (1908). 303 Zu diesem Thema auch Schücking, Die Zukunft Österreich-Ungarns, Süddeutsche Monatshefte 6 (1909), S. 411 ff.

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tion der Welt" zu. Nachdem Schücking sich bereits 1904 in einer Rezension 304 im Anschluß an verschiedene Denker der Neuzeit zu einer rechtlichen Organisation auf internationaler Ebene bekannt hatte, bildete die Beschäftigung mit dieser Frage ab dem Jahr 1907 ganz eindeutig den Schwerpunkt seines literarischen Schaffens. In diesem Jahr trat Schücking zunächst in den kurzen Aufsätzen "Neue Ziele des Völkerrechts", erschienen am 6. Juni 1907, also kurz vor Beginn der Zweiten Haager Friedenskonferenz, bzw. "Modemes Weltbürgertum," erschienen am 17. August 1907, also während die Zweiter Haager Friedenskonferenz noch in vollem Gange war, für den Gedanken der internationalen Organisation ein. Im gleichen Jahr präsentierte er mit "Der Kosmopolitismus der Antike" eine erste historische Analyse des Problems der internationalen Organisation. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Themenkreis, d. h. eine vertiefte305 historische Analyse und die von ihm daraus für die heutige Völkerrechtsordnung gezogenen Schlüsse, veröffentlichte Schücking im Jahre 1908306 unter dem Titel "Organisation der Welt". Die Abhandlung erschien zunächst im ersten Band der Festgabe für Paul Laband, wurde aber im Mai des darauf folgenden Jahres 307 noch einmal gesondert in einer Volksausgabe herausgebracht. Schücking stellte sein Werk im folgenden auch auf demZweiten Deutschen FriedenskoogreS in Stuttgart im Jahre 1909,308 in einer Teilveröffentlichung in französischer Sprache in der Revue generale de droit internationa/309 und in der liberalen Tagespresse vor. 310 In den Jahren 1910 bis 1911 arbeitete Schücking in den bereits angesprochenen, später auch abgedruckten Festvorträgen auf pazifistischen Veranstaltungen seine Vorstellungen weiter aus. 311 Er beleuchtete zum einen in größerer Tiefe die Schücking, Bspr. Ernest Nys, Droit international, ZIR 14 (1904), S. 552 ff. Schücking baut insoweit auf seinem Aufsatz "Kosmopolitismus der Antike", Zeitschrift für Sozialwissenschaft 10 (1907), S. 519-527, auf. 306 Die Veröffentlichung erfolgte wohl im Mai 1908, vgl. FW 10 (1908), S. 95. 307 Vgl. FW II (1909), S. 33. 308 Vgl. den Vortrag "Organisation der Welt", abgedruckt in: Der II. deutsche Friedenskongreß in Stuttgart (1909), S. 45-54, der der Veröffentlichung in der FS Laband ziemlich exakt entspricht. 309 Schücking, L'organisation internationale, RGDIP 15 (1908), S. 5-23. 310 Schücking, Die Organisation der Welt, BT vom 20.5.1908; ders., Pierre Dubois- der erste moderne Pazifist, FZ vom 29.12.1908, Revue de Ia Paix 14 (1909), S. 171-176; ders., Rüstungsbeschränkungen, BT vom 12.5.1909. 311 Schücking, Kultur und Internationalismus, gehalten auf dem Deutschen Kulturtag zu Berlin im März 1910, in: ders., Bund der Völker (1918), S. 35-56; ders., Die Annäherung der Menschenrassen durch das Völkerrecht, gehalten auf dem Ersten Weltrassenkongreß in London vom 26. bis 29.7.1911, in: ders., Bund der Völker (1918), S. 57-78. 304 305

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

sozialen und politischen Hintergründe der geistigen Bewegung des Internationalismus312, zum anderen stellte er ausführlicher die bisher schon vollzogene Internationalisierung des Völkerrechts dar, die sich durch die Ausdehnung auf eine größere Zahl von Staaten und die Gründung einer großen Zahl von Verwaltungsunionen auszeichnet. 313 Zugleich verstärkte Schücking seine Publikationstätigkeit in den pazifistisch orientierten Zeitschriften "Friedens-Warte" und "Christliche Welt". Hier begann er auch, aus der Sicht des Völkerrechtslehrers das aktuelle weltpolitische Zeitgeschehen zu komrnentieren.314 In den Jahren 1912 bis 1914 schließlich beschäftigte sich Schücking abgesehen von der Studie "Neue Ziele der staatlichen Entwicklung" fast ausschließlich mit der Frage der internationalen Organisation. Vor allem zu nennen ist die breit angelegte Untersuchung "Der Staatenverband der Haa:ger Konferenzen". Auf nahezu 300 Seiten arbeitete Schücking die organisatorische Bedeutung der Ergebnisse der beiden ersten Haager Konferenzen heraus. Er stellte zudem die aus seiner Sicht wünschenswerte Weiterentwicklung des Haager Werks durch die damals geplante, tatsächlich aber niemals zustande gekommene dritte Haager Konferenz, aber auch die in der Zeit danach anzustrebenden Reformschritte dar und entwarf sogar ein Statut für diesen fortentwickelten Staatenverband.315 Sein eigenes Werk war der Auftakt einer gleichfalls von ihm herausgegebenen Veröffentlichungsreihe mit Schriften, die eine Gesamtwürdigung des Werks vom Haag leisten sollten. Als zweiter Band in dieser Reihe erschien eine Abhandlung von Hans Wehberg, die sich mit dem "Problem eines internationalen Staatengerichtshofs" befaßte. Daneben wurden in einer zweiten Serie die gerichtlichen Entscheidungen des Haager Schiedshofs herausgegeben. Zunächst erfolgte im Frühjahr 1914 die Veröffentlichung eines ersten Bandes dieser Entscheidungssammlung, in dem die Schücking, Kultur und Internationalismus (1910). Schücking, Annäherung der Menschenrassen durch das Völkerrecht (1911). 314 Vgl. z. B. Schücking, Was lehrt uns die Marokko-Affare?, Christliche Welt 25 (1911), Sp. 1067-1071. m Schücking, Der Staatenverband der Haager Konferenzen, erschienen 1912; eine englische Übersetzung wurde 1918 unter dem Titel "The International Union of the Hague Conferences" von der Camegie-Stiftung mit einer Einleitung von James Brown Scott herausgegeben. Wie schon bezüglich der Werke "Organisation der Welt" und "Neue Ziele der staatlichen Entwicklung" beobachtet, bemühte Schücking sich auch beim "Staatenverband vom Haag", seine Ideen und Forschungsergebnisse zusätzlich an anderer Stelle zu publizieren, vgl. Schücking. Das Statut des Haager Staatenverbandes, in: Dokumente des Fortschritts, Dezember 1912, S. 809-812, und ders., Die Organisatorische Bedeutung der Haager Konferenzen, Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre 11 (1913), S. 117-125, eine den Inhalt des "Staatenverbandes vom Haag" zusammenfassende Rede vom 15. 3. 1913. 312 313

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renommierten Internationalisten Otfried Nippold, Joseph Kohler (1849-1919)316, Ernst Zitelmann (1852-1923) 317 , Christian Meurer (1856-1935) 318 und Theodor Niemeyer insgesamt fünf Entscheidungen des Schiedshofes referierten. Die Veröffentlichung von zwei weiteren Bänden wurde durch den Kriegsausbruch bis zum Anfang des Jahres 1917 verzögert. Erst dann konnten die Besprechungen von sieben weiteren Fällen durch die ebenfalls bedeutenden Fachvertreter James Brown Scott, Ludwig von Bar, Ferdinand von Martitz (1839-1921) 319, Karl Strupp (1886-1940)320 und Max Fleischmann (1872-1943)321 erscheinen.322 Gesondert zu erwähnen sind von Schückings Arbeiten aus der Vorkriegszeit außerdem die im Oktober 1912 im Rahmen des Verbandes für internationale Verständigung gehaltene Rede "Die wichtigste Aufgabe des Völkerrechts" und der im Oktober 1913, ebenfalls auf einer Tagung dieses Verbandes präsentierte und später in deren Schriftenreihe abgedruckte, eher moralisch-pazifistisch als völkerrechtlich ausgerichtete Vortrag "Kultur und Krieg". Schücking verfaßte in der Zeit vor dem Kriegsausbruch darüber hinaus eine ganze Reihe von kleineren Aufsätzen, in denen er sich mit der Vorbereitung der geplanten dritten Haager Konferenz323, institutionellen Aspekten324 und prominenten Persönlichkeiten der Frie-

316 Zu Kohler: Liebmann, DJZ 29 (1919), S. 733 f. ; Held, ZIR 29 (1920), S. 186; Fleischmann, ZVR 11 (1920), Heft 4, S. IX. 317 Zitelmann war in erster Linie auf dem Gebiet des internationalen Privatrechts tätig, vgl. Niemeyer, ZIR 31 (1923), S. 3S7 f.; Landsberg, DJZ 29 (1924), S. 41 f. 318 Zu Meurer: Dräger, Weg zur Freiheit 11 (1931), S. 13 ff. 319 Zu von Martitz: Triepel, ZIR 30 (1923), S. ISS ff. 320 Zu Strupp: Bothe, in: ders. (Hrsg.), S. 161 ff.; Vagts, AJIL 84 (1990), S. 682. 321 Zu Fleischmann: Wehberg, FW 46 (1946), S. 381; Pauly, in: ders. (Hrsg.) [ 1996], s. 33 ff. 322 Die Zweite Serie des "Werks vom Haag" war ursprünglich als Festgabe für die Eröffnung des Friedenspalastes im Jahre 1914 vorgesehen. Die Veröffentlichung des ersten Bandes verzögerte sich aber, weil Scotts Beiträge erst ins Deutsche übersetzt werden mußten, vgl. BT vom 4.3.1914, Nr. 114, 2. Beilage. In der Kriegszeit war dann zunächst nicht an eine weitere Veröffentlichung zu denken. In den späteren Kriegsjahren wurde die Herausgabe wegen der Einleitung, die Zorn zu diesem Band geschrieben hatte, zurückgehalten, vgl. Brief von Duncker & Humblot an Schücking vom 22.5.1917, NL Schücking I, Nr. 411 . 323 Schücking, Vorbereitung der dritten Haager Konferenz, Der Staatsbürger 3 (1912), s. 883-888. 324 Schücking, Eine internationale Hochschule für Völkerrecht, BT vom 9 .8.1912; ders. , Union der internationalen Gesellschaften, Korrespondenz des Verbandes für internationale Verständigung 2 (1913), Nr. 3, S. 9-11 ; ders., Verband für internationale Verständigung, März 7 (1913), S. 471-474; ders., Der Stand des völkerrechtlichen Unterrichts in Deutschland, ZVR 7 (1913), S. 37S-382.

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

densbewegung325 auseinandersetzte. Bemerkenswert ist schließlich eine nur in französischer Sprache erschienene Übersicht über die jüngste Entwicklung der Völkerrechtspraxis und -lehre in Deutschland aus dem Jahr 1914.326

II. Arbeiten Schückings während des Ersten Weltkriegs In den ersten Kriegsjahren veröffentlichte Schücking Aufsätze und Artikel, die eher allgemeiner politischer als speziell völkerrechtlicher Natur waren. Thematisch widmete er sich dabei zum einen der Analyse der Gründe für den Kriegsausbruch, insbesondere der deutschen Isolation, 327 und der Frage nach konkreten politischen Wegen, zu einem Friedensschluß zu gelangen.328 Zum anderen bekräftigte er in zahlreichen Aufsätzen in eher genereller Form seine Forderung nach einer Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen und einer Aufrechterhaltung der internationalen Organisation329 und warb um Verständnis für Verbände, die sich der internationalen Verständigung verschrieben hatten.330 Während in den Jahren 1914 und 1915 Schücking noch große Tageszeitungen (Berliner Tageblatt, Frankfurter Zeitung) und progressive Zeitschriften (März, Christliche Welt) offenstanden,331 machten sich in den Jahren 1916 und 1917 die Schücking auferlegten Publikationsbeschränkungen bemerkbar.332 So wich Schükking in seiner Veröffentlichungstätigkeit auf ein unverfänglicheres Gebiet wie das m Schücking, Bertha von Suttner und die Wissenschaft vom Völkerrecht, FW 16 (1914), S. 252-256; ders., Erinnerungen an Ludwig von Bar, BT vom 18.9.1913. 326 Schücking, L' Allemagne et les progres du droit international, Revue Politique Internationale 1 (1914), S. 417-432. 327 Schücking, Bismarck und Österreich-Ungarn, Generalanzeiger Hamburg-Altona vom 2.4.1915; ders., Das europäische Gleichgewicht, BT vom 28.1.1915; ders., Die deutschen Professoren und der Weltkrieg (1915); ders., Das neue System, BT vom 10.9.1915. 328 Schücking, Der Weg zum Frieden, Internationale Rundschau 1 (1915), S. 142-146. 329 Schücking, Der Weltkrieg und der Pazifismus, Christliche Welt 28 (1914), Sp. 875-877; ders., Weltkrieg und Völkerrecht, BT vom 28.1.1915; ders., Europa am Scheidewege, März 9 (1915), S. 40-44; ders. , Das neue System, BT vom 10.9.1915; ders. , Über Bedeutung und Zukunft des Völkerrechts, Champagne-Kriegszeitung vom 9.10.1915. 330 Schücking, Der holländische Anti-Oorlog-Raad, FZ vom 18.10.1915 331 Die FZ stand in dieser Zeit aber auch schon teilweise unter dem Einfluß der in Deutschland vorherrschenden kriegsbejahenden Stimmung, vgl. Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 52; Eisenbeiß (1980), S. 247 f. 332 Mit dem Ende des Jahres 1915 wurde die Repression aber nicht nur gegenüber Schücking, sondern allgemein gegenüber kritischen pazifistischen Autoren verschärft, vgl. Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 95 ff.

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Arbeitsrecht aus. 333 Seine Meinung zur Entwicklung auf internationalem Gebiet hingegen konnte er zu dieser Zeit nicht mehr der großen Öffentlichkeit präsentieren: Im Rahmen des Verbandes für internationale Verständigung erstellte er im Januar 1916 die an Reichskanzler Bethmann-Hollweg gerichtete Denkschrift "Meeresfreiheit gegen Rechtsgarantien", in der er einen auch für Deutschland akzeptablen Weg zu einem Verständigungsfrieden aufzeigen wollte. Die Denkschrift wurde zunächst nicht veröffentlicht, Auszüge wurden erst Ende des Jahres, 334 die gesamte Schrift schließlich in der 1917 erscheinenden Aufsatzsammlung "Der Dauerfriede-Kriegsaufsätze eines Pazifisten" abgedruckt. Auch der aus dem Frühjahr 1916 stammende Aufsatz "Ausbau des Haager Werkes", der für die Arbeit am Mindestprogramm der Zentralorganisation für einen dauernden Frieden bestimmt war, blieb zunächst einer breiteren Öffentlichkeit verschlossen und wurde erst im Jahre 1917 im "Völkerfriede", der Zeitschrift der Deutschen Friedensgesellschaft,335 herausgebracht. Vom Ende des Jahres 1916 stammt schließlich ein weiterer Vortrag, in dem Schücking auf einer Veranstaltung der Zentralstelle für Völkerrecht erste Ansätze eines Zukunftsszenarios für die internationale Ordnung entwarf: "Der Weltfriedensbund und die Wiedergeburt des Völkerrechts" .336 Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1917 konnte Schücking sich wieder häufiger in der Öffentlichkeit zu Wort melden, da die Pazifisten etwa ab dieser Zeit wieder verstärkt auf die allgemeinen Presseorgane zurückgreifen konnten. 337 So befaßte er sich erstmals auch wieder mit staatsrechtlichen Themen, z. B. äußerte er sich in 333 Vgl. Schücking, Besprechung von Appel, Die rechtliche Stellung der Zwischenpersonen beim gewerblichen Arbeitsvertrage, JW 45 (1916), S. 1390 f. Der Aufsatz "Das Arbeitsrecht und die juristischen Fakultäten", Arbeitsrecht 2 (1915), S. 218-221, wurde aber von Schücking schon vor Ausbruch des Krieges abgeliefert, vgl. Brief der Redaktion "Arbeitsrecht" an Schücking vom 21.7.1914, NL Schücking I, Nr. 4/l. 334 Schücking, Die Meeresfreiheit, Champagne-Kriegszeitung vom 6.12.1916. m Der "Völkerfriede" wurde von dem Stuttgarter Pfarrer Otto Urnfrid als Organ der DFG herausgebracht. Das Erscheinen der Zeitschrift war von November 1915 bis Anfang 1917 verboten, vgl. Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 50 f. und 99 f. 336 "Der Weltfriedensbund" war eigentlich bereits im Januar 1917 für die Auslieferung bereit, vgl. BriefSchückings an Wehberg vom 13.1.1917, NL Wehberg, Nr. 78. Die Veröffentlichung wurde aber immer wieder durch die Behörden behindert, so wurde die Schrift am 16.8.1917 durch das Generalkommando Berlin beschlagnahmt, vgl. eine Denkschrift über die Handhabung des Gesetzes über den Belagerungszustand gegenüber Deutschen Pazifisten vom 1.7.1917, Anlage, BI. 3, NL Schücking I, Nr. 4712. Auch im November rügte das Generalkommando, daß sowohl der "Weltfriedensbund" als auch der "Dauerfriede", die mittlerweile erschienen und vertrieben waren, Zensurvorschriften verletzt hätten, vgl. Schreiben an Schücking vom 8.11 .1917, NL Schücking II, Nr. VIII/4. 337 Vgl. dazu Eisenbeiß (1980), S. 158.

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einer Besprechung der im gleichen Jahr erschienenen Monographie "Vom deutschen Staat und seinem Recht" seines Schülers Wolzendorffzur Frage der inneren Demokratisierung Deutschlands und machte sich erneut für den Übergang vom sog. "Herrschaftsstaat" zum "Volksstaat" stark. 338 Gerade die Ereignisse des Weltkrieges legten es aus Schückings Sicht nahe, auch in Preußen endlich zu einem gleichen W abirecht überzugehen. 339 Zu erwähnen sind aus der Spätzeit des Weltkrieges noch von Schücking gehaltene, später in Zeitschriften abgedruckte Vorträge zum Ausbau der internationalen Organisation340 und verschiedene Zeitungsartikel341 sowie der Sammelband "Bund der Völker", der ganz überwiegend Aufsätze Schückings aus der Vorkriegszeit enthält. 342 Vor allem aber sind die beiden Hauptwerke Schückings aus der Kriegszeit anzusprechen: In dem im Sommer 1917 vollendeten Werk "Die völkerrechtliche Lehre des Weltkriegs" unternahm Schücking eine ausführliche Analyse der Kriegsursachen, insbesondere der Schwächen des alten Haager Systems zur Kriegsverhinderung, 343 während er in "Internationale Rechtsgarantien", auf diesen Erkenntnissen aufbauend, im Juli 1918344 ein detailliertes Programm zur Verbesserung und Fortentwicklung des Haager Werkes entwarf, mit dessen Hilfe das erneute Ausbrechen eines Krieges nach Möglichkeit verhindert werden sollte. Die 338 Schücking, Vom deutschen Staat, März, Jg. 11 (1917), Bd. 3, S. 798-802; vgl. auch die weitere Besprechung in: IW 1918, S. 18. Die letztgenannte Besprechung wurde vom JW-Schriftleiter Magnus bereits mit einem Schreiben vom 27.6.1917 Schücking angetragen, vgl. NL Schücking I, Fiche 4/l. 339 Schücking, Das gleiche Wahlrecht und die Gebildeten, FZ vom 29.1.1918. 340 Schücking, Internationale Rechtsorganisation und ihre Bedeutung für den überseeischen Handel, Nachrichtendienst des Deutschen Wirtschaftsverbandes für Süd- und Mittelamerika e. V. vom 20.8.1917; ders., Freiheit der Meere, Vortrag vom 10.2.1918, gehalten im Verband für internationale Verständigung, in: ders., Bund der Völker (1918), s. 135-155. 341 Schücking, Die halbsouveränen Staaten, BT vom 5.4.1918; ders., Anmerkungen zu ,Jus und Justitia", FZ vom 22.9.1918. 342 Ursprünglich sollte diese Sammlung unter dem Titel"Die Haager Hoffnung" erscheinen. Diese Veröffentlichung wurde jedoch vom Generalkommando Leipzig am 22.4.1918 gestoppt, vgl. das entsprechende Schreiben an Schücking in NL Schücking I, Nr. 4/1. Im Juni 1918 berichtet Schücking an Wehberg erneut von der Verschleppung der Veröffentlichung des Bandes, vgl. Brief vom 9.6.1918, NL Wehberg, Nr. 78. Erscheinen konnte das Werk dann endgültig erst Ende September/Anfang Oktober 1918, vgl. den Brief des Verlages an Schücking vom 27.9.1918, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 15. 343 Der Antrag Schückings auf Veröffentlichung der "Völkerrechtlichen Lehren" vom 2.10.1917 wurde von staatlicher Seiteam 11.12.1917 abgelehnt. Zwar sei Schückings Buch eine "ernste Gelehrtenarbeit", gleichwohl sei sie aber unvollständig und insgesamt unerwünscht, vgl. Schreiben an Schücking vom 11.12.1917, NL Schücking II, Nr. Vlll/4. 344 So die Angabe von Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), S. 198.

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Veröffentlichung aller zuletzt genannten Werke wurde auch noch im letzten Kriegsjahr von offizieller Seite, wenn schon nicht völlig verboten, so doch immerhin stark verschleppt. 345

m. Die Veröffentlichungen Schückings nach Ende des Weltkrieges Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem nahezu simultan mit der deutschen Niederlage erfolgenden Übergang zu einem neuen Regierungssystem fand Schücking völlig veränderterte, freiere Rahmenbedingungen für seine wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit.

1. Das Ringen um den Friedensvertrag Schückings Veröffentlichungen in der Zeit von November 1918 bis Mitte 1919 wurden ganz eindeutig durch das Ringen um die Friedensbedingungen und die Ausgestaltung der internationalen Nachkriegsordnung bestimmt. Aus dieser Zeit stammen vor allem verschiedene politische Reden Schückings, aus denen sich jeweils sehr deutlich der Einfluß des Fortgangs der Friedensverhandlungen mit den Siegermächten ablesen läßt. 346 Speziell zum Pariser Völkerbundsentwurf der Entente gab Schücking auch zahlreiche Interviews 347 und schrieb selbst einige Zeitungsartikel, in denen er die damals diskutierten Entwürfe einer Völkerbundsatzung erörterte, ohne daß man dabei politische und völkerrechtliche Aspekte trennscharf unterscheiden könnte.348 Für abstraktere, insbesondere völkerrechtsdogmatische Erörterungen blieb Schücking in den für ihn aufgrund der neuen

Brief Schückings an Wehberg vom 9.6.1918, NL Wehberg, Nr. 78. zum Rechtsfrieden" vom 8.12.1918, gehalten im Berliner Opernhaus in einer Kundgebung pazifistischer Organisationen für den Rechtsfrieden; "Wahlrede", in: HLZ vom 16.1.1919; ,,Ein neues Zeitalter?", gehalten in Versailles vor der deutschen Friedensdelegation am 5.5.1919; "Annehmen oder Ablehnen?", gehalten am 19.6.1919 in der Demokratischen Fraktion in Weimar. 347 HLZ vom 19.2.1919; Neue Zürcher Zeitung vom 19.3.1919; Leipziger Tageblatt vom 9.4.1919; Haller Tageblatt vom 29.4.1919. 348 Schücking, Der Pariser Plan zum Völkerbund, FZ vom 28.2.1919; ders., Das Weltparlament, DAZ vom 30.4.1919; ders. , Über den Völkerbund, Freiburger Tageblatt vom 7.5.1919. Vgl. auch aus der Rückschau: Schücking, Wir waren für: Nein, AAB vom 27.6.1929; ders., Vor zehn Jahren in Versailles, Der Heimatdienst 9 (1929), S. 210. 345

346 "Durch

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politischen Lage hektischen und arbeitsreichen Jahren unmittelbar nach dem Krieg hingegen nur wenig Zeit. 349

2. Schriften zum Völkerbund Auch nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages im Juni 1919 blieb der neugeschaffene Völkerbund für Schücking eindeutig im Zentrum des Interesses. Bei weitem die meisten seiner Schriften, vor allem auch die umfangreicheren Arbeiten, waren diesem Erkenntnisgegenstand gewidmet.

a) Grundsätzliche Haltung zum Völkerbund Die Jahre von 1919 bis zum Beitritt Deutschlands zum Völkerbund im Jahre 1926 sind vor allem durch das Bemühen Schückings gekennzeichnet, die grundsätzliche Haltung Deutschlands gegenüber dem zunächst ohne deutsche Beteiligung gegründeten Völkerbund auszuloten. Schon im Juli 1919 veröffentlichte Schücking zu diesem Thema im Berliner Tageblatt den programmatischen Artikel "Deutschlands Mission", um danach mit variierender Akzentuierung immer wieder, vor allem im Berliner Tageblatt, die Frage zu beantworten, welche Haltung Deutschland angesichts des z. T. als äußerst feindselig empfundenen Verhaltens der Siegermächte gegenüber dem Völkerbund einnehmen sollte. 350 Als größere Arbeit zu diesem Problemkreis ist der Vortrag "Nationale Aufgaben der auswärtigen Politik" aus dem Januar 1922 hervorzuheben, in dem Schücking seine Auffassung bezüglich des richtigen Vorgehens bei der Beendigung der deutschen Isolation nach dem Weltkrieg darlegte.m Die herausgehobene Bedeutung gerade dieser Arbeit wird dadurch beleuchtet, daß Schücking unter dem gleichen Titel 1926 in einem Sammelband einige seiner Aufsätze zur deutschen Außen- und Völkerbundpolitik in der Nachkriegszeit zusammenfaßte. Darüber hinaus verfaßte 349 Vgl. aber immerhin Schücking, Völkerrecht und Weltorganisation, Illustrierte Zeitung vom 12.6.1919; ders., Das vierte Zeitalter (1919), später abgedruckt in: "Nationale Aufgaben der Politik" (1926). 350 Schücking, Gerechtigkeit, BT vom l 0.2.1920; ders., Die Sorge Frankreichs, BT vom 8.8.1920; ders., Vorwort zu Watther Schätze!, Die Annexion im Völkerrecht ( 1920); ders., Der wahre Völkerbund, BT vom 17.4.1921 ; ders., Genf und Washington, Mitteilungen der Deutschen Liga für Völkerbund 3 (1921), Nr. 6 vom 10.9.1921. 351 Inhaltlich an diesen Vortrag anschließend: Schücking, Der Friede von Versailles, HLZ vom 30.11.1922; ders., Offener Brief an General v. Seeckt, Berliner Volkszeitung vom 3.2.1924; ders., Ein weltgeschichtlicher Versuch, BT vom 6.2.1924.

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Schücking in den Jahren 1924 bis 1926 eine Reihe von Artikeln, in denen er die immer konkreter werdende Debatte um den deutschen Eintritt in den Völkerbund begleitete.352 Nach dem Eintritt Deutschlands rückten dann naturgemäß die fundamentalen Fragen zugunsten von Detailproblemen des Völkerbundsrechts in den Hintergrund. 353

b) Einzelheiten zur Völkerbundsatzung Aber auch schon lange vor dem Eintritt Deutschlands befaßte sich Schücking mit den Einzelheiten der internationalen Organisation durch den Völkerbund. Der zusammen mit Wehberg verfaßte, in drei Auflagen 1921, 1924 und 1931 erschienene Kommentar zur Völkerbundsatzung ist insoweit an erster Stelle zu nennen. Neben diesem Werk sticht- auch wegen seines großen Umfangs- die im Krieg begonnene und 1923 abgeschlossene Arbeit Schückings zum Untersuchungs- und Vermittlungsverfahren hervor. 354 Ferner schrieb Schücking verschiedene größer angelegte Abhandlungen, die das Werk des Völkerbundes als ganzes, auch in seiner zeitlichen Fortentwicklung, darstellten, dabei aber in deutlich kürzerer Form als der Satzungskommentar abgefaßt wurden. 355 Schücking publizierte außerdem zahlreiche kleinere, auch an die breite nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit gerichtete Artikel über organisatorische Einzelheiten der Völkerbundsatzung. 356 Schließlich untersuchte er in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausführ352 Vgl. Schücking, London und die Frage des Völkerbundes, AAB vom 8.8.1924; ders., Deutschland hat viel im Völkerbund zu leisten!, AAB vom 4.3.1926; ders., Deutschlands Eintritt in den Völkerbund, "Führer-Stimmen" 5 (1926), Nr. 18 vom 6.3.1926; ders., Deutschlands Einzug in Genf, AAB vom 10.9.1926; ders., Das demokratische Prinzip und die Gemeinschaft der Völker, Deutsche Republik 1 (1926), Heft 5, S. 11-14. 353 Vgl. aber immerhin aus dem Jahre 1934 noch einmal die Arbeit "Die Aufgaben der deutschen Völkerrechtswissenschaft, FW 34 (1934), S. 145-150. 354 Neben der Ganzschrift aus dem Jahre 1923 vgl. Schücking, Ordnung des Untersuchungs- und Vermittlungsverfahrens im Völkerbunde, in: Union Interparlementaire, Compte Rendu de Ia XIXe conference tenue a Stockholm (1921), S. 119-129. 355 Vgl. Schücking, Der Völkerbundentwurf der deutschen Regierung, in: Munch (Hrsg.), Bd. 1 (1923), S. 138-160; ders., Der Völkerbund, in: Das Werden der Weltwirtschaft (1926); S. 9-36; ders., Le developpement du Pacte de Ia Societe des Nations, RdC 20 (1927 V), S. 353-457; ders., Der Völkerbund, in: Harms (Hrsg.) [1929], S. 52-84; ders., Die Entwicklung der Völkerbundorgane in den letzten 10 Jahren, De Volkenbond 1929, s. 111-120. 356 V gl. Schücking, Der Weltgerichtshof, FZ vom 26.10.1920; ders. , Der Weltgerichtshof, Mitteilungen der dt. Liga für Völkerbund 4 (1922), Nr. 1 vom 6.2.1922; ders., Zur Struktur des Völkerbundes, Die Hilfe 29 (1923), S. 258 f.; ders., Paneuropa und der V öl-

7 Bodendiek

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lieh die Bemühungen um eine Reform des internationalen Friedenssicherungssystems.357

c) Der Kommentar mit Wehberg zur Völkerbundsatzung'58 Herausgehoben und ausführlich behandelt werden soll noch der von Schücking zusammen mit Hans Wehberg veröffentlichte Kommentar zur Satzung des Völkerbundes.

aa) Exkurs: Biographische Angaben zu Hans Wehberl59 Zum besseren Verständnis zunächst einige biographische Angaben: Hans Wehberg wurde am 15.12.1885 in Düsseldorf geboren. Ähnlich wie Schücking wurde auch Wehberg in starkem Maße durch sein Elternhaus geprägt, insbesondere durch seinen Vater Heinrich Wehberg, der zum einen als Armenarzt stark sozial engagiert war, zum anderen auch dem organisierten Pazifismus nahestand. 360 Wehberg studierte in Jena, Bonn und Göttingen Rechtswissenschaften und promovierte 1909 - als seinen akademischen Lehrer bezeichnet er den Bonner Professor kerbund, Bulletin offleieil du XXIIIe Congres Universeide Ia Paix (1924), S. 70-74; ders., Militarisierung des Völkerbundes, AAB vom 6.3.1925; ders., Der Völkerbundrat und seine Reform, in: ders., Nationale Aufgaben unserer auswärtigen Politik (1926), S. 66-71; ders., Der Weltgerichtshof, Der Heimatdienst (1931), S. 220 f.; ders., Die Definition des Angriffs, Völkerbund 1932, Nr. 12, S. 1 ff.; ders., Die Organisation der Völkerbundsexekution gegen den Angreifer, ZVR 16 (1932), S. 529-571. 3s1 Vgl. Schücking, Genfer Protokoll (1924); ders., Eine regionale Befriedung, JW 53 (1924), S. 1343; ders., Genfer Protokoll, Völkerbundfragen I (1924), S. 142-152. Zum Locamopakt: Schücking, Der Sicherheitspakt, BT vom 17.3.1925. Zum Kelloggpakt: Schücking, Echo der jungen Demokratie 11 (1929), Heft 2/3, S. 26-29; ders., Die Einarbeitung des Kelloggpaktes in den Völkerbundspakt und die Genfer Generalakte, Mitt. DGV 10 (1930), S. 178-195; ders., Revision der Völkerbundsatzung im Hinblick auf den Kelloggpakt (1931). Zur Generalakte: Schücking, BT vom 18.7.1929. Jss Leider gibt es nach Auskunft des Verlags Vahlen dort keine Unterlagen mehr über die Edition der drei Auflagen des Kommentars zur V ölkerbundsatzung. 3s9 Vgl. Guggenheim, FW 56 (1961166), S. 297 ff. ; Verdross, FW 56 (1961166), S. 301 ff.; Keiner (1976), passim. Für eine gemeinsame Würdigung von Schücking und Wehberg, vgl. Bodendiek, FW 74 (1999), S. 79 ff. Eine Übersicht der Schriften Wehbergs findet sich bei Keiner (1976), S. 324 ff. 360 Keiner (1976), S. 4, bzw. Scheer (1981), S. 69. Letzterer berichtet, daß Heinrich Wehberg 1895 an der Gründung der Düsseldorfer Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft beteiligt war. Vgl. auch Wehberg, FW 37 (1937), S. 232-236.

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Philipp Zorn (1850-1928)361 - über das "Beuterecht im Land- und Seekrieg". Wehberg begann anschließend eine intensive Veröffentlichungstätigkeit und trat 1913 als Mitherausgeber in die Redaktion der ,,Zeitschrift für Völkerrecht" ein, eine Stellung, die er allerdings nach Kriegsausbruch Ende des Jahres 1914 aufgab, um ein Zeichen gegen die Gesinnung des Herausgebers Kahler zu setzen, der u. a. den nach England ausgewanderten Gelehrten Lucius Oppenheim aus der Redaktion entfernt hatte und den deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien rechtfertigte.362 Aufgrund seiner pazifistischen Grundhaltung litt Wehberg wie Schücking im Kriege unter staatlichen Pressionen. So wurde ihm zeitweise die publizistische Betätigung verboten, und er wurde im Oktober 1915, "gewissermaßen strafweise",363 zum Wehrdienst eingezogen, konnte aber schon 1917 auf eine wissenschaftliche Stelle am Kieler Institut für Weltwirtschaft wechseln, die er bis Anfang 1919 innehatte.364 Wehberg engagierte sich nach dem Krieg verstärkt in Organisationen, die sich dem Ausbau des Völkerrechts und dem Gedanken der Völkerverständigung verschrieben hatten. Zum einen war er Leiter der Völkerrechtsabteilung der Deutschen Liga für Völkerbund in Berlin,365 zum anderen wirkte er in exponierter Position im Institut de droit internationaP66 sowie der Deutschen Friedensgesellschaft.367 Wehberg übernahm zudem nach dem Tode Frieds ab 1924 die Herausgeberschaftder ,,Friedens-Warte", an der er schon seit 1911 intensiv mitgearbeitet hatte. 368 Einen tiefen Einschnitt im Leben Wehbergs markiert das Jahr 1928, als 361 Wehberg, in: FS Schätze! (1960), S. 536. Vgl. auch Wehberg, FW 28 (1928), S. 42 ff. Zu Zorn: Triepel, DJZ 33 (1928), Sp. 161; Giese, ZVR 14 (1928), S. 325 ff.; Schücking, Philipp Zorn- ein Gedenkblatt (1928). 362 Wehberg, Als Pazifist im Weltkrieg (1919), S. 50 ff.; Guggenheim, FW 56 (1961166), S. 297; Keiner (1976), S. 6 f.; Eisenbeiß (1980), S. 110 f. 363 Vgl. Eisenbeiß (1980), S. 142m. w. N., insbes. Fn. 303. 364 Zum Vorstehenden: Wehberg, Als Pazifist im Weltkrieg (1919), passim, vor allem S. 72 ff.; Keiner (1976), S. 8 f., 28 ff. 36~ Keiner (1976), S. 9 und 77 f. 366 Wehberg wurde 1921 associe und 1923 membre des Instituts. Er war außerdem 1933/34 Vizepräsident und 1950--1962 Generalsekretär der Vereinigung. Zu Wehbergs Wirken im Institut de droit international, vgl. de Visscher, FW 56 (1961166), S. 307ff.; von der Heydte, FW 56 (1961166), S. 201; Guggenheim, FW 56 (1961166), S. 299; Verdross, FW 56 (1961/66), S. 301. 367 Keiner (1976), S. 10 f. Wehbergzog sich 1929 aus der DFG zurück, als die Radikalpazifisten sich dort endgültig durchsetzten. Zur Auseinandersetzung Wehbergs mit den Radikalpazifisten vgl. Wehberg, FW 27 (1927), S. 161 ff., S. 193 ff.; ders., FW 31 (1931), S. 241 ff., S. 263 ff., sowie Bodendiek, FW 74 (1999), S. 94. 368 Guggenheim, FW 56 (1961166), S. 298; Keiner ( 1976), S. 22 ff. Wehbergs Mitherausgeber waren nach 1924 zunächst Walther Schücking und Ludwig Quidde.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Wehberg, dem bis dahin keine völkerrechtliche Professur im Deutschen Reich zu verschaffen war69 , obwohl er bereits mehrfach an der Haager V ölkerrechtsakademie gelesen hatte370, in die Schweiz übersiedelte. Dorthin folgte er einem Ruf an das Genfer Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales, einer Einrichtung, die mit interdisziplinärem Ansatz - beteiligt waren vor allem Juristen, Ökonornen und Historiker- die internationalen Beziehungen erforschte.371 Von Genf aus verfolgte Wehberg die weitere Entwicklung in Deutschland und begleitete sie auch publizistisch, u. a. in der von ihm bis zu seinem Tode geführten "Friedens-Warte". Auch nach dem Krieg und seiner 1959 erfolgten Emeritierung lebte er, obgleich nach wie vor deutscher Staatsbürger, in der Schweiz. Dort verstarb er im Jahr 1962.

bb) Die Beziehung zwischen Schücking und Wehberg Die Wurzeln der Beziehung von Schücking und Wehberg lassen sich bis in das Jahr 1911 zurückverfolgen. Wehberg trat damals an den bereits aktiv in der Öffentlichkeit für pazifistische Ideen eintretenden Schücking heran372, der seinerseits den jungen Mann als vielversprechendes völkerrechtliches Talent erkannte und ihn für eine intensivere Zusammenarbeit zu gewinnen suchte. So bemühte Schükking sich im Rahmen des gescheiterten Projekts der Errichtung eines völkerrechtlichen Spezialseminars in Marburg auch darum, eine Habilitationsstelle für Wehberg zu erlangen.373 Angesichts des schwierigen Standes Schückings gegenüber den preußischen Kultusbehörden fruchteten diese Bemühungen allerdings zu dieser Zeit genauso wenig wie spätere Versuche, Wehberg in Berlin am neugegründeten Kaiser-WHhelm-Institut oder bei Schückings Wechsel ans Kieler In369 Böhmen, nR 10 (1962), Vorbemerkung, nennt als Gründe zum einen die pazifistische Orientierung Wehbergs, weist zum anderen aber auch auf dessen einseitig völkerrechtliche Ausrichtung, die in Deutschland, wo zumeist die Lehrstühle mit dem Lehrauftrag für das Öffentliche Recht verbunden waren, ein Handicap bedeutete. 370 Insgesamt las Wehberg sechsmal vor der Haager Akademie, vgl. dazu die Übersicht der Vorlesungen bei Bodendiek, FW 74 (1999), S. 95. 371 Vgl. Härle, FW 33 (1933), S. 111 ff.; Wehberg, FW 41 (1941), S. 180 ff. ; Lütgemeier-Davin, Pazifismus (1982), S. 173. 372 Wehberg, Die Hilfe 34 (1928), S. 463; ders., FS Schätze! (1960), S. 535; ders., Erinnerungen, S. 2, NL Wehberg, Nr. 80, legt den Termin der ersten Begegnung auf die Gründungssitzung des Verbandes für internationale Verständigung, also den 11.6.1911. Schon vorher habe er, Wehberg, aber seinen Aufsatz über die Haager Friedenskonferenzen aus der Deutschen Revue an Schücking geschickt. 373 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 89 m. w. N.

C. Das literarische Schaffen Schückings

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stitut eine adäquate Position zu verschaffen. Selbst in Kiel hätte sich allenfalls eine finanziell ungesicherte außerordentliche Professur für Wehberg einrichten lassen. 374 Insgesamt ergibt sich, vor allem aus den unzähligen, in den Jahren zwischen 1910 und 1935 zwischen Schücking und Wehberg ausgetauschten Briefen das Bild einer immer engeren, freundschaftlichen Beziehung der beiden Völkerrechtsgelehrten, deren Basis Wehberg in einer grundlegenden Geistesverwandschaft sah.375 Schücking war für Wehberg auch so etwas wie ein Mentor und väterlicher Freund, der ihm die in Anbetracht seiner lange Zeit nicht gesicherten Lebensverhältnisse- die Berufung nach Genf erreichte Wehberg erst im Alter von 43 Jahren- psychologisch äußerst nötige Bestätigung seiner Arbeit zuteil werden ließ. 376 Dietreue Verbundenheit mit Schücking wird etwa dadurch illustriert, daß Wehberg, bevor er 1928 den Ruf nach Genf akzeptierte, zunächst die Meinung Schückings zu dieser Frage einholte. 377 Es ist insoweit gerechtfertigt, wenn man in dem Zusammentreffen Wehbergs mit Schücking eine entscheidende Wendung in Wehbergs Leben annimmt. 378

cc) Die erste Auflage des Satzungskommentars Die Idee der Erstellung eines Kommentars der Völkerbundsatzung entstand ursprünglich im Rahmen des Vorhabens eines Gesamtkommentars, der sämtliche Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages in streng juristischer Art und Weise untersuchen sollte. Das im Spätsommer 1919 angestoßene Projekt des 374 Vgl. einen Briefvon Bülows an Schücking vom 26.7.1925, NL Schücking II, Nr. III, Fase. 19, Bl. 15, bzw. BriefWehbergs an Schücking vom 19.5.1928, Akten IIR, A 24 I, NL Schücking II, Nr. V/2, Bl. 40 ff. 375 Vgl. Wehberg, FS Schätze! (1960), S. 536. Schücking zählt Wehberg zum "engsten Kreis", vgl. Brief Schückings an Wehberg vom 5.1.1925, NL Wehberg Nr. 79. In ihren Briefen wählten Schücking und Wehberg zunächst die Anrede "Herr Professor" bzw. "Herr Doktor", bevor sie nach Wehbergs Berufung nach Genf zur Anrede ,,Lieber Freund" übergingen, vgl. Brief Schückings an Wehberg vom 6.6.1928, Akten des IIR, A 24 I, Bl. 46 ff. , NL Schücking II, Nr. V/2. 376 Schücking beteiligte Wehberg auch an der Erstellung der zahlreichen Rechtsgutachten, die Schücking in den zwanziger Jahren für verschiedene Auftraggeber erstellte, vgl. den BriefWehbergs an Schücking vom 29.11. 1926, NL Schücking I, Nr. 109. 377 BriefWehbergs an Schücking vom 19.5.1928, NL Schücking II, Nr. V/2, Akten IIR, A 24 I, Bl. 40 ff. Auch C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 8, berichtet von einem sehr starken Treueverhältnis zwischen Wehberg und Schücking. 378 Böhmert, JIR 10 (1961/62), Vorbemerkung.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Gesamtkommentars wurde von der Deutschen Liga für Völkerbund betreut. Zu den Bearbeitern zählten neben Wissenschaftlern wie Strupp, Fleischmann, Wolzendorff, Herbert Kraus ( 1884-1965)379 undAlbrecht M endelssohn-Bartholdy vor allem Praktiker aus den Reihen des Auswärtigen Amtes, denen auch im Redaktionsausschuß ein deutlicher Einfluß zugestanden wurde. 380 Schücking hatte den Vorsitz der Redaktionskommission und sollte neben den Vorschriften über die Kriegsschuldfrage gemeinsam mit Wehberg die Normen der Völkerbundsatzung kommentieren. 381 Die einzelnen Autoren hatten allerdings große Probleme, die engen zeitlichen Vorgaben für die Ablieferung der Manuskripte einzuhalten, so daß sich die Herausgabe des Gesamtkommentars immer weiter verzögerte. Schließlich wurde das ambitionierte Projekt im Laufe des Jahres 1921 ganz gestoppt. Neben der Tatsache, daß dem Verlag Vahlen das Verlagsrisiko und die sachlichen Ausgaben zu groß waren, spielte bei der Aufgabe der Idee einer umfassenden juristischen Durcharbeitung des Versailler Vertrages wohl auch die politische Großwetterlage eine entscheidende Rolle. Angesichts der Aufteilung Oberschlesiens382 und der Rheinlandbesetzung383 im Jahr 1921 war die Ablehnung gegenüber dem V ersailler Vertrag in Deutschland noch gewachsen. Eine umfassende und objektive wissenschaftliche Untersuchung des Friedensvertrages war vor diesem Hintergrund offensichtlich nicht mehr opportun.384 Nur ein kleinerer Teil der insgesamt geplanten Beiträge zum Gesamtkommentar war zu diesem Zeitpunkt bereits als Vorveröffentlichung erschienen.385 Zu Kraus: Menzel, JIR 12 (1965), S. 341 ff. Zum Vorstehenden vgl. den anläßlich der Sitzung des Redaktionsausschuß vom 8.9.1919 entstandenen Entwurf der Bearbeiter-Richtlinien, NL Schücking I, Nr. 72/2, sowie NL Wehberg, Nr. 5. Außerdem das Protokoll der Sitzung der Gruppenleiter im Redaktionsausschuß vom 20.1.1920, NL Wehberg, Nr. 5. Zum Rahmenvertrag zwischen der Deutschen Liga für Völkerbund und dem Verlag Franz Vahlen, vgl. Brief Schückings an den Verlag Vahlen vom 27.10.1928, Akten IIR, A 24 I, S. 55, NL Schücking II, V/2. 381 Wehberg, Erinnerungen, S. 11, NL Wehberg, Nr. 80, spricht davon, daß die gemeinsame Beauftragung Schückings und Wehbergs ganz spontan festgelegt wurde, ohne daß beide vorher darüber eine Ansprache getroffen hätten. 382 Vgl. dazu Ottlik, Bd. I (1927), S. 350-354; Pfeil (1976), S. 70 ff. 383 Vgl. dazu etwa Schücking, London und Genf, in: Neue Brücken 1921, Heft 3/4. 384 Vgl. einen Rundbrief des Redaktionsbeauftragten der Deutschen Liga für Völkerbund, Herbert Kraus, vom 6.10.1920, NL Wehberg, Nr. 5, sowie den undatierten Entwurf eines Rundschreibens, in dem über die endgültige Aufgabe des Gesamtprojektes informiert wird, zugleich aber aufgefordert wird, weiterhin nach einer objektiven wissenschaftlichen Durchdringung des Versailler Vertrages zu streben, NL Schücking II, Nr. XVII. 38' Das sind vor allem zwei Urkundenbände zu den Friedensverträgen, zusammengestellt von Kraus und Rödiger, sowie eine Chronik der Friedensverhandlungen nebst einer Über379 380

C. Das literarische Schaffen Schückings

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Unter diesen Vorveröffentlichungen befand sich u. a. der Kommentar der Völkerbundsatzung von Schücking und Wehberg, der im September 1921 in einer Auflage von 600 Exemplaren auf den Markt kam. 386 Der Kommentar war in den Jahren 1920 und 1921 in sehr enger Zusammenarbeit von Schücking und Wehberg in Berlin entstanden. Schücking war zwar in diesen Jahren aufgrund seiner politischen Ämter und der im April 1921 angetretenen Professur an der Handelshochschule zeitlich stark beansprucht. Dank der insistierenden Haltung Wehbergs, der als Geschäftsführer der Deutschen Liga für Völkerbund wirkte, arbeitete Schücking dennoch im Frühsommer 1921 in den Räumen der Deutschen Liga für Völkerbund täglich mehrere Stunden am Kommentar, so daß die rechtzeitige Fertigstellung vor der im September 1921 stattfindenden Zweiten Bundesversammlung des Völkerbundes gelang. Diegenaue Aufteilung der Abschnitte des Kommentars zwischen beiden Autoren läßt sich kaum nachweisen. Aus diesen Jahren ist verhältnismäßig wenig Schriftverkehr zwischen Schücking und Wehberg erhalten, beide Autoren konnten ihre Zusammenarbeit persönlich in Berlin abwikkeln. Mit Sicherheit steht aber fest, daß die allgemeine Einleitung zum Völkerbund (S. 44 bis 90) von Schücking stammt, während Wehberg den Großteil der Einzelbestimmungen kommentierte. Letztenendes hatte Wehberg auf jeden Fall den größeren Zeitaufwand für die Erstellung des Kommentars, wofür auch die Aufteilung des Autorenhonorars ein Indiz sein dürfte, da Wehberg 3/5 und Schükking 2/5 dieses Honorars erhielt.387 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes von Schücking und Wehberg im Jahre 1921 hatte die Literatur zum Thema "Völkerbund" bereits einen durchaus beachtlichen Umfang erreicht. Es wurden neben Arbeiten, die die Geschichte des Völkerbundgedankens beleuchteten388 oder die Entstehung des PariserVölkersieht über die Diplomatie des Weltkrieges, herausgegeben von denselben Autoren. Diese Werke stammen aus den Jahren 1920 bzw. 1921. Daneben wurde noch ein Kommentar zum internationalen Arbeitsrecht von Eckhart und Kuttig realisiert, vgl. BriefKuttigs an Schükking vom 20.10.1928, Akten UR, A 24 I, S. 53, NL Schücking li, Nr. V 2. Dieser Kommentar ist in zwei Auflagen (2. Auflage von 1922) erschienen. Weiterhin sind zu nennen die Beiträge von E. Zitelmann, Rußland im Friedensvertrag von Versailles ( 1920); E. Wolf/. Privatrechtliche Beziehungen zwischen früheren Feinden nach dem Friedensvertrage, Abschnitt V des Versailler Vertrages (1921); H. Bruck, Behandlung der Versicherungsverträge im Friedensvertrage zu Versailles ( 1921); Rudolf Laun, Deutsch-Österreich im Friedensvertrage von Versailles (Abschnitt VI des Friedensvertrages) [1921]. 386 Vgl. zum exakten Erscheinungsdatum den Brief Schückings an Wehberg vom 15.9.1921, NL Wehberg, Nr. 78. 387 Die Honorarvereinbarung vom 27.9.1921 findet sich im NL Wehberg, Nr. 5. 388 V gl. etwa Valentin, Die 48er Demokratie und der Vö1kerbund (1919); ders.• Die Geschichte des Völkerbundgedanken in Deutschland (1920); Rühlmann (Hrsg.) [1919].

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

bundstatuts dokumentierten, 389 auch verschiedene knappe Einführungen geringen Umfangs veröffentlicht, die zum großen Teil unmittelbar nach Bekanntwerden der Entwürfe des Pariser Statuts oder jedenfalls noch vor der Ersten Bundesversammlung im Jahre 1920 veröffentlicht wurden. Sie waren wohl auch deshalb zumeist sehr deutlich von der jeweiligen Nationalität des Autors beeinflußt. 390 Diese Aussage gilt auch für die deutschen Einführungs werke, deren Länge im übrigen 60 bis 70 Druckseiten kaum überschritt. 391 Hinsichtlich des Umfangs wie der wissenschaftlichen Durcharbeitung des Rechtsstoffs der Völkerbundsatzung bedeutete das Werk von Schücking und Wehberg deshalb sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine Pionierleistung. In den zahlreichen Besprechungen des Werkes, das sich nicht nur in den Fachzeitschriften, sondern auch in den Literaturspalten der Tageszeitungen interessierter Beachtung erfreute,392 wurde diese Vorreiterrolle ausdrücklich hervorgehoben. 393 Die sehr positive Aufnahme des Kommentars in der Öffentlichkeit erstreckte sich auch auf die konservativen Völkerrechtslehrer und die kon389 Vgl. Kluyver (1920); Lansing (1921); Mandeli House/Symon (1921). Aus Deutschland z. B. Fiala (1920). 390 Aus dem englischen Sprachraum sind zu nennen: Taft/Wickersham/Lowell/Taft (1919)- eine Sammlung von Briefen aus dem Mai/Juni 1919; Duggan (Hrsg.) [1919]ebenfalls eine Aufsatzsammlung mit Beiträgen verschiedener Autoren von Juli 1919; Pollock (1920). Aus Frankreich: Bourgeois (1919)- gleichfalls ein Sammelband mit Reden des bekannten pazifistischen Politikers Leon Bourgeois; Scelle, La pacte de Ia Societe des Nationset sa Iiaison avec Je traite de paix (1919). 391 Z. B. Zorn, Der Völkerbund (1919); Grabowski (1919); Meurer, Grundlagen des Versailler Friedensvertrages und des Völkerbundes (1920); Kraus, Vom Wesen des Völkerbundes ( 1920); ders., Völkerbund und Friedensvertrag (1920); Liepmann, Der Friedensvertrag und der Völkerbund (1920); Schätzet, Nationalismus, Bolschewismus, Völkerbund (1920); von Thadden (1920); Lukas (1921). Vgl. außerdem- mit einer gewissen Sonderstellung aufgrundihrer nicht reichsdeutschen Staatsangehörigkeit: Huber, Die allgemeinen politische Grundlagen des Völkerbundvertrages (1920)- ein Vortrag vom 15.12.1919; Lammasch, Völkermord oder Völkerbund? (1920)- vom Januar 1920; von Auer (1920)abgeschlossen bereits im Oktober 1919, eine erste Annäherung eines Budapester Gelehrten an die Kommentierung der Einzelbestimmungen der Völkerbundsatzungen. Von den 64 Seiten der Schrift bestehen 37 Seiten aus dem Abdruck des Textes der Satzung mitjeweils kurzen Anmerkungen. 392 Vgl. etwa die Besprechungen in der Danziger Zeitung vom 29.9.1921, Neue Zürcher Zeitung vom 24.11. 1921, Kölnische Volkszeitung vom 24.1l.l92l, Der Tag vom 25.12.1921. 393 Spahn, Kölnische Volkszeitung vom 24.11.1921 (,.Die erste erschöpfende Darstellung"); Held, Weltwirtschaftliches Archiv 17 (1922), Heft 4 (,.das bisher bedeutendste Werk über die Völkerbundsatzung"); Thoma, FZ vom 4.8.1922 (.,Die anderen Nationen haben nichts entgegenzusetzen.").

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servative Presse, die der Völkerbundidee, zumal in ihrer durch den Versailler Vertrag positivierten Form, höchst reserviert gegenüberstanden. 394 Insgesamt läßt sich festhalten, daß Schücking und Wehberg ihren Konunentar schon mit seiner ersten Auflage fest in der Landschaft der Völkerbundliteratur verankert hatten und insbesondere den Grundstein für eine wissenschaftlich-dogmatische Diskussion der völkerrechtlichen Aspekte des Völkerbundes gelegt hatten. 395

dd) Die zweite Auflage des Satzungskommentars Die Arbeit an der zweiten Auflage des Konunentars stand 1923/24 unter ähnlichen Vorzeichen wie die Arbeit an der ersten Auflage, da sowohl Schücking als auch Wehberg nach wie vor in Berlin ansässig waren. Wiederum ging die Arbeit im einzelnen aber nicht ohne Probleme vonstatten. Nicht nur war das Material zur Völkerbundsatzung in den vergangenenen Jahren stark angewachsen, darüber hinaus war Schücking durch zahlreiche Verpflichtungen stark in Anspruch genonunen und konnte sich die Zeit für die Arbeit am Konunentar nur mit Mühe freihalten. 396 Wohl auch deshalb übernahm Wehberg die Konunentierung der Einzelbestinunungen der Völkerbundsatzung wiederum letztlich fast alleine, während Schücking erneut den allgemeinen Teil des Werkes bearbeitete.397 Schücking war zwar in wichtigen dogmatischen Fragen an der Entscheidung über die inhaltliche Ausrichtung des Konunentars beteiligt, dennoch dürfte Wehberg wiederum die Hauptlast der Herstellung der zweiten Auflage getragen haben. Er selbst sprach 394 Vgl. Zorn, Der Tag vom 25.12.1921 ("bedeutendstes Werk der gesamten Völkerbundsliteratur"); Giese, Literarisches Zentralblatt vom 20.5.1922, S. 378 ("Das Werk muß jedem ehrlichen Kritiker Achtung abgewinnen."). Vgl. auch die Neue Preußische Kreuzzeitung vom 19.11.1924 ("Man wird anerkennen müssen, daß Wehberg und Schücking ihre demokratisch-pazifistische Einstellung sachlicher juristischer Arbeit unterordnen. Das Werk ist für jeden, der sich mit dem Völkerbund beschäftigen will, unentbehrlich."). 395 Die beachtliche internationale Rezeption des Werkes wird etwa daran deutlich, daß sich im griechisch-italienischen Streit um die Insel Korfu der italienische Delegierte Salandra zur Untermauerung seiner Rechtsansicht auf den Kommentar von Schücking und Wehberg berief, vgl. Vossische Zeitung vom 18./19.9.1923. 396 Vgl. etwa den Brief Schückings an Wehberg vom 14.2.1924, NL Wehberg Nr. 79. Schücking verspricht hier, daßertrotz seiner Beanspruchung alles tun werde, was in seiner Macht stehe, um die Arbeit möglichst bald zu einem Abschluß zu bringen. 397 Vgl. Wehberg, Erinnerungen, S. 18, NL Wehberg, Nr. 80, der berichtet, alles Technische, das Nachschlagen und Literatursuchen habe Schücking nicht sehr geliebt. Auch C. B. Schücking, Gespräch (1998), S. 6 und 8, spricht davon, daß Wehberg Schücking einen großen Teil der Vorarbeit abgenommen und die eher technischen Aufgaben verrichtet habe.

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

jedenfalls von einer "geradezu gigantischen Arbeit", die ihn über Monate hinweg 15 Stunden täglich in Anspruch genommen habe. 398 ZurUnterstützung wurden für die Bearbeitung der Art. 6 (Budget des Völkerbundes) und 22 (Völkerbundsmandate) der spätere schweizerische Völkerrechtsprofessor Paul Guggenheim sowie der Diplomat Gottfried Knoll gegen ein geringes Honorar herangezogen. 399 Die endgültige Fertigstellung der zweiten Auflage verzögerte sich jedoch trotz des Einsatzes von Wehberg, insbesondere weil Schücking im Mai 1924 den Reichstagswahlkampf bestreiten mußte und häufig in seinem Wahlkreis in Hessen weilte. Erst im Juli 1924 gelang es, die Neuauflage zum Abschluß zu bringen und die Veröffentlichung zu ermöglichen. 400 Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage im Jahre 1921 waren, vor allem in Frankreich, einige umfangreichere Darstellungen zur Völkerbundsatzung erschienen.401 Hinzu kam 1923/24 der in Dänemark von Peter Munch herausgegebene Sammelband "L'origine et J'oeuvre de Ia Societe des Nations", in dem 33 bekannte Völkerrechtler, Politiker und Diplomaten verschiedener Nationalität zu unterschiedlichen Themen rund um den Völkerbund Beiträge veröffentlichten.402 In Deutschland, wo das wissenschaftliche Interesse an der tatsächlichen Arbeit des Völkerbundesangesichts der Verweigerung einer deutschen Mitgliedschaft im Völkerbund ganz offensichtlich geringer war, ist aus den Jahren vor 1924 hingegen nur das im Januar 1923 fertiggestellte Werk des später für Völkerbundfragen zuständigen Staatsekretärs im Auswärtigen Amt Bernhard Wilhelm von Bülow ( 1885-1936)403 "Der Versailler Völkerbund" besonders zu erwähnen. Alle vorgenannten Werke haben aber eher den Charakter eines vorläufigen Fazits der bisherigen Arbeit des Völkerbundes. Sie diskutierten einzelne Themenkreise des Völkerbundssystems, leisteten jedoch keine systematische juristische Durchdringung des Rechtsstoffes. Wohl aus diesem Grund wurde auch die zweite Auflage des Satzungskommentars von der Fachöffentlichkeit sehr wohlwollend aufgenommen. Insgesamt erkannte man auf nationaler und internationaler Ebene Mitte 398 BriefWehbergs an Schück.ing vom 22.3.1930, Akten IIR, A 24 I, BI. 99, NL Schükk.ing II, V/2. 399 Vgl. Vorwort zur zweiten Auflage. Vgl. auch Brief Wehbergs an Schück.ing vom 22.3.1930, Akten IIR, A 24 I, BI. 99, NL Schück.ing II, V/2: Wehberg war zudem mit der Arbeit Guggenheims auch nicht durchweg zufrieden. 400 V gl. u. a. Brief Schück.ings an Wehberg vom 27.6.1924, NL Wehberg Nr. 79. 401 Brunet (1921 ); Fleicher (1922); Bourgeois (1923). 402 Vgl. zur Würdigung dieses Sammelbandes, in dem auch Schück.ing einen Beitrag veröffentlichte, Pfeil (1976), S. 17 f. 403 Von Bülow war zu dieser Zeit Leiter des Völkerbundsreferates im deutschen Außenamt. Von 1930 bis 1936 war er an gleicher Stelle Staatssekretär.

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der zwanziger Jahre an, daß der Kommentar von Schück.ing und Wehberg sich als ein sehr wichtiges Standardwerk der Völkerbundliteratur etabliert hatte. 404 Man lobte insbesondere die Vollständigkeit und Intensität der wissenschaftlichen Durchdringung des positiven Rechtsstoffes,405 ein Lob, dasangesichtsder Rollenverteilung zwischen beiden Autoren zu einem großen Teil Wehberg angerechnet werden muß. Schück.ing und Wehberg waren durchaus stolz auf den wissenschaftlichen Erfolg ihres "Monumentalwerkes",406 auch wenn sich wegen der großen Eile, in der man letztendlich die Veröffentlichung betrieben hatte, in der zweiten Auflage eine Reihe von Flüchtigkeitsfehlern eingeschlichen hatten407 und zudem die Verkaufszahlen des Werkes nicht befriedigend waren. Von den 1500 insgesamt gedruckten Exemplaren der zweiten Auflage wurden bis Ende 1927 nur ca. 720 abgesetzt.408 Jedenfalls entsprach der kommerzieHe Erfolg nicht den Vorsteilungen des Verlegers, der sich aus diesem Grund zunächst auch gegen eine neue, dritte Auflage des Kommentars sträubte.409 Die beiden Autoren nahmen das Verhalten ihres Verlegers mit großem Widerwillen auf,410 obwohl auch sie durchaus ein404 V gl. Ray, Bd. 1 (1930), S. 11: ,,Nous ne devons pas manquer pourtant de rendre homrnage au travail doctrinal considerable auquelle Pacte a deja donne lieu et de citer en particulier Je beau traite de Schücking et Wehberg." Siehe auch Ottlik. Bd. 2 (1928), S. 13 ("ouvrage de premier ordre"). Schücking/Wehberg finden außerdem u. a. bei Fanshawe (1925) als einziger deutschsprachiger Titel, bei Hojer ( 1926) neben von Bülow ( 1923) als einer von zwei deutschsprachigen Werken Erwähnung. Vgl. auch Schmitt, Kernfrage des Völkerbundes (1926), S. 8, 19, 40, 80, wenngleich das Lob Sehnritts angesichts der inhaltlichen Differenzen zwischen beiden Wissenschaftlern allerdings wohl eher ironisch gemeint ist. 405 Vgl. Redslob, RDI 1925, S. 44 f. ("tres complet", "rien ne manque"); Valentin, Berliner Börsenkurier vom 16.9.1924 (,Jnternational vollständigste und wissenschaftlich durchdringendste Kommentierung"); Stier-Somlo, Kölnische Zeitung vom 4.12.1924, sowie die Besprechung im Journal de Geneve vom 7.11.1924 ("das kompletteste und autoritativste Werk"). 406 BriefSchückings an Wehberg vom 13.1.1927, Akten IIR, A 24 I, BI. 1, NL Schükking II, V/2. 407 Vgl. Briefe Wehbergs an Schücking vom 30.1.1928, Akten IIR, A 24 I, BI. 21 ff., NL Schücking li, V/2, bzw. vom 27.5.1931, NL Wehberg, Nr. 7. 408 Vgl. einen Briefdes Verlages Vahlen an Wehberg vom5.11.1927, Akten IIR, A 24 I, BI. 8, bzw. den Brief Schückings an die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes vom 2.1.1928, Akten IIR, A 24 I, BI. 14 ff., jeweils NL Schücking II, Nr. V/2. 409 Vgl. Briefe Schückings an Wehberg vom 13.1.1927 bzw. des Verlages Vahlen an Wehberg vom 5.11.1927, Akten IIR, A 24 I, NL Schücking II, Nr. V/2, BI. I bzw. 8. 410 V gl. Briefe Wehbergs an Schücking vom 12.11.1927 ("halsstarriger Verlag"), Schükkings an Wehberg vom 14.11.1927 ("schurkische Ausbeutung") bzw. Schückings an Kuttig ("sehr zäher und geldgieriger Verleger"), Akten IIR, A 24 I, NL Schücking II, Nr. V/2, BI. 6, 8 bzw. 57.

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

sahen, daß das Werk in wirtschaftlicher Hinsicht ein Mißerfolg war. 411 Erst nachdem das Auswärtige Amt 5.000 DM für den Ankauf weiterer 300 Exemplare der alten Auflage bereitgestellt hatte, war der Weg frei für eine dritte Auflage,412 für die man allerdings, um ähnliche Probleme zu vermeiden, eine niedrigere Auflage von 1.000 Exemplaren vorsah. 413

ee) Die dritte Auflage des Satzungskommentars In die Vorbereitung der Neuauflage des Kommentars traten die beiden Autoren im Laufe des Jahres 1928 ein. Die politischen und rechtliche Entwicklungen machten eine Aktualisierung und gründliche Überarbeitung des Materials dringend erforderlich. Zudem waren auf internationaler Ebene414 wie auch in Deutschland415 (nach dem deutschen Eintritt in den Völkerbund) umfängliche Darstellun411 Brief Schückings an die Nobel-Stiftung vom I 0.2.1928, Akten IIR, A 24 I, BI. 27 ff., NL Schücking li, Nr. V/2. 412 V gl. den Bittbrief Schückings an das Auswärtige Amt vom 2.1 .1928, Akten IIR, A 24 I, BI. 14 ff., sowie eine Notiz Schückings vom 30.1.1928, Akten IIR, A 24 I, BI. 19, beides NL Schücking II, Nr. V/2. 413 Verlagsvertrag vom 24.5.1928 bzw. 6.6.1928, Akten IIR, A 24 I, BI. 44, NL Schükking li, Nr. V/2. V gl. auch die Bestätigung der tatsächlichen Auflagenhöhe von 1.000 Exemplaren in einem Schreiben Wehbergs an Schücking vom 27.9.1934, NL Schücking I, Nr. 109. Insoweit ist die Angabe bei Keiner (1976), S. 18, der von 1.500 geplanten Exemplaren spricht entsprechend zu ergänzen. 414 In der "Blütephase" des Völkerbundes (vgl. Pfeil [1976], S. 20) von 1926 bis 1928 entstand z. B. das 520 Seiten starke Werk von Olof Hojer (1926), dem allerdings ein wissenschaftlicher Anmerkungsapparat fehlt, sowie das zweibändige Werk von Gonsiorowski (1927). Das Werk von Miller (1928) ist für die Beschäftigung mit dem Völkerbund zwar sehr wichtig, dokumentiert aber in erster Linie die Entstehungsgeschichte der Organisation. Aus dem Jahr 1930 stammt das Werk, das man als das französischsprachige Standardwerk der Völkerbundliteratur bezeichnen kann, die Arbeit von Jean Ray, vgl. dazu etwa Ottlik, Bd. 5 (1932), S. 17, der insbesondere auch die Detailliertheil des Ray' sehen Werkes hervorhebt. m In Deutschland erschien 1925 die aus dem Kieler IIR entstammende Arbeit von Niemeyer, Rühland und Spiropoulos. Im Jahr 1926 veröffentlichte der deutschnationale Völkerrechtler von Freytagh-Loringhoven - zu ihm: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 161 -seinen Völkerbundkommentar, das nach Schücking/Wehberg meistbeachtete deutschsprachige Standardwerk zu Rechtsfragen des Völkerbundes. Wehberg hatte zudem alleine einen volkstümlicheren "Kommentar" zur Völkerbundsatzung in drei Auflagen herausgegeben, der aber aufgrundseiner Konzeption keine ernsten wissenschaftlichen Ansprüche erhob, vgl. dazu Wehbergs Selbstaussage in der dritten Auflage, S. 4, es solle jedem Staatsbürger ein eigenes Urteil über den Völkerbund ermöglicht werden. Schließlich sei an wichtigen deutschsprachigen Gesamtdarstellungen zur Völkerbund-

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genzur Völkerbundsatzung entstanden, die in ihrer ganzen Anlage durchaus den Ansprüchen an einen wissenschaftlichen Koßllllentar genügten. Die Arbeitsaufteilung zwischen den beiden Autoren sah vor, daß Schücking wiederum die grundsätzlichen Erörterungen übernehmen sollte, zusätzlich aber auch verschiedene Einzelnormen (Art. 1, 6, 7, 15 Abs. 8, 22, 23) zu koßllllentieren hatte, während Wehberg die Bearbeitung der restlichen Einzelnormen, insbesondere die Abschnitte über Abrüstung und Schiedsgerichtsbarkeil übernehmen sollte.416 Die Fertigstellung der Neuauflage ging jedoch nur äußerst schleppend voran. Zwar verrichtete Schücking einen großen Teil seiner Arbeit bereits im Wintersemester 1929/30,417 war anschließend aber wegen der im März 1930 stattfindenden Kodifikationskonferenz in Genf und vor allem wegen seiner Berufung an den StiGH im September 1930 sehr in Anspruch genoßllllen. Aber auch Wehberg war, anders als 1924, aufgrundseiner Lehrtätigkeit am Genfer Institut des Hautes Etudes in dieser Zeit nach eigenen Aussagen zeitlich sehr angespannt.418 Überdies konnten Schücking und Wehberg nicht wie früher in Berlin regelmäßig persönlich zusaßllllentreffen, was die Abstißllllung naturgemäß entscheidend verkomplizierte. 419 Ohne die Mitarbeit des Schücking-Schülers und Kieler Institutsmitarbeiters Viktor Böhmert wäre die Erstellung der dritten Auflage vermutlich gar nicht möglich gewesen. 420 Vor allem große Teile der Koßllllentierung der Art. 6 und 7 VBS entstaßllllen der Feder Böhmerts, wobei Schücking allerdings betonte, daß er, soweit es sich um bedeutsame dogmatische Ausführungen gehandelt habe, selbst die entscheidenden Vorgaben gernacht habe. 421 satzung auf das 1932 von dem aus der französischsprachigen Schweiz stammenden Paul Guggenheim veröffentlichte Werk, dazu auch Pfeil (1976), S. 20 f., sowie auf die Arbeit von Paul Barandon aus dem Jahre 1933 hingewiesen. 416 BriefWehbergs an Schücking vom 30.1.28, Akten IIR, A 24 I, BI. 21 ff. 417 BriefSchückings an Wehberg vom 19.6.1931, NL Wehberg, Nr. 7. Vgl. auch Briefe Schückings an Wehberg vom 25.11.1929, Akten IIR, A 24 I, BI. 81 bzw. vom 26.1.1930, BI. 91, beide NL Schücking li, Nr. V/2, in denen Schücking schreibt, er sei in dieser Zeit dauernd mit der Neuauflage beschäftigt. 418 Vgl. BriefWehbergs an Schücking vom 3.5.1931, NL Wehberg, Nr. 7. 419 Vgl. den BriefWehbergs an Schücking vom 30.1.1928, NL Schücking II, Nr. V/2, Akten IIR, A 24 I, BI. 21 ff., in dem Wehberg auf die Schwierigkeiten der räumlichen Trennung hinweist. Erst im April 1930 kam es zu einem längeren Treffen von Schücking und Wehberg in Genf, bei dem sie die Arbeit am Kommentar besprechen konnten. 420 Vgl. BriefWehbergs an Böhmert vom 25.4.1931, Nachlaß Wehberg, Nr. 7 ("unendlich bedeutsame Hilfe"). V gl. auch die Erwähnung Böhmerts auf dem Titelblatt und im Vorwort. 421 Vgl. Briefe Schückings an Wehberg vom 19.6.1931 bzw. 7.7.1931, beide NL Wehberg, Nr. 7.

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

Aufgrund der zeitlichen Verzögerungen entstand schließlich die Idee, den Kommentar in zwei Teilbänden herauszubringen.422 Während Wehberg sich zunächst vehement gegen diesen Plan aussprach und meinte, das Werk müsse unbedingt eine Einheit bilden423 , befürwortete Schücking die Aufteilung, weil er die Veraltung des gesamten Stoffes und das Notwendigwerden einer abermaligen vollständigen Überarbeitung fürchtete. 424 Im Frühjahr 1931 entschied man sich dann, nachdem auch der Verleger zugestimmt hatte, für die Aufteilung in zwei Bände425 • Nach einer intensiven Arbeitsphase im Mai und Juni 1931, mitten in den Arbeiten zum IGH-Zollunionsfall, und nach inständigem Drängen beider Seiten426 konnten im Juli und August 1931 die Korrekturfahnen des ersten Teilbandes, der nur die Einleitung und die Kommentierungen der ersten sieben Artikel umfaßte, bearbeitet werden.427 Die Veröffentlichung des ersten Teilbandes erfolgte im September des gleichen Jahres. 428 Der eigentlich fest projektierte zweite Teil konnte hingegen wegen der allgemein katastrophalen wirtschaftlichen Situation und des erneuten wirtschaftlichen Mißerfolges des ersten Teilbandes429 , später auch wegen der ab 1933 vollständig veränderten politischen Lage und dem allgemeinen Niedergang des Völkerbundes nicht mehr realisiert werden. Auch nach dem Tode Schückings wurde eine Fortführung des Kommentars, etwa durch Wehberg und dem Schücking-Schüler Fritz Münch zwar diskutiert. Die Pläne erreichten aber niemals ein konkretes Stadium.430 422 So erstmals von Schücking in Briefen vom 6.3.1930 bzw. 10.3.1930 geäußert, vgl. Akten IIR, A 24 I, BI. 93/97, NL Schücking II, V/2. 423 BriefWehbergs an Schücking vom 12.10.1930, NL Schücking I, Nr. 28/2. 424 BriefWehbergs an Böhmert vom 25.4.1931, NL Wehberg, Nr. 7. 425 BriefBöhmerts an Wehberg vom 1.5.1931, NL Wehberg, Nr. 7. 426 Briefe Wehbergs an Schücking vom 16.5.1931 und 27.5.1931, NL Wehberg, Nr. 7, in denen er Schücking auffordert, "Himmel und Hölle in Bewegung" zu setzen. Aber auch Schückings Drängen, BriefWehbergs an Schücking vom 9.7.1931, NL Wehberg, Nr. 7. 427 Details des Satzes wurden zwischen Wehberg und Böhmert abgewickelt. Schücking war bereits wieder mitten in den Verhandlungen im Haag. 428 Brief Schückings an Wehberg vom 20.9.1931, NL Wehberg, Nr. 7. 429 Bis zum 31.12.1933 wurden lediglich 238 Exemplare des Kommentars abgesetzt, vgl. einen Brief Wehbergs an den holländischen Verlag Tjeenk Willink vom 10.10.1934, NL Schücking I, Nr. 109. Bis Ende 1934 betrug der Absatz insgesamt 339 Exemplare, vgl. Brief Wehbergs an Schücking vom 15.1.1935, NL Schücking I, Nr. 119. Schücking gab selbst bereits im Jahre 1932 zu, daß der Absatz des ersten Teilbandes kläglich sei, vgl. Brief Schückings an Wehberg vom 3.3.1932, NL Wehberg, Nr. 80. 430 Vgl. die Korrespondenz von Münch und Wehberg aus dem März/April 1936, NL Wehberg Nr. 7. Schücking und Wehberg arbeiteten wohl nach der Veröffentlichung des ersten Teilbandes, allerdings mit deutlich gebremsten Schaum, an dem zweiten Teilband, vgl. etwaeinen BriefWehbergs an Schücking vom27.5.1933, NL Schücking I, Nr. 113. Es

C. Das literarische Schaffen Schückings

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ff) Fazit Der Völkerbundkommentar von Schücking und Wehberg wurde in seinen drei Auflagen von den Zeitgenossen als Standardwerk431 auf dem Gebiet des Rechts des Völkerbundes betrachtet, das bei allen Erörterungen maßgeblich zu berücksichtigen war. Besonders deutlich wird diese Ausnahmestellung daran, daß auch die deutsche Literatur zum Völkerbund aus der nationalsozialistischen Ära bei ihren völkerrechtlichen Erörterungen nicht an dem Werk der als Pazifisten und Liberale verfemten Autoren Schücking und Wehberg vorbeikam und, sei es z. T. auch mit einer ablehnenden Tendenz, sehr häufig auf deren Kommentar Bezug nahm.432 Zwartrifft es zu, daß Wehberg ein großer Anteil arnRuhmdes Satzungskommentars gebührt. Die Arbeit der beiden Gelehrten läßt sich aber schwerlich auseinanderdividieren. Gerade die Briefwechsel aus den Jahren 1928 bis 1931 geben ein plastisches Bild davon ab, wie eng sich beide Autoren bei der Erstellung des Kommentars absprachen und insbesondere dogmatische Probleme intensiv diskutierten. Im Ergebnis steht daher fest, daß Schücking durch die Mitarbeit arn Satzungskommentar eine für die Völkerrechtswissenschaft sehr bedeutsame Leistung erbracht hat.

3. Weitere Aspekte des Versailler Vertrages Neben dem Völkerbund, der eindeutig den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Betätigung bildete, befaßte Schücking sich auch mit anderen Aspekten der Friedensregelungen von Versailles. So griff er immer wieder publizistisch in die Auseinandersetzung um die Reparationszahlungen der Deutschen und die franzögab nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten Überlegungen, den Völkerbundkommentar einem holländischen Verleger anzuvertrauen. Diese Überlegungen haben sich aber schnell wieder zerschlagen, vgl. einen Brief des Verlegers Tjeenk Willink an SchOcking vom 17.10.1934, NL Schückingl, Nr. 109, sowie auch die Absagedes Verlages Martinus Nijhoff an Wehberg vom 8.10.1934, NL Schücking I, Nr. 109. 431 Vgl. Held, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 37 (1933), S. 120 (Literaturteil); Strupp, ZVR 17 (1933), Heft 2 (,,klassischer Kommentar"); Barandon (1933), S. 4 f.; Websterl Herbert (1933), S. 309. 432 Vgl. etwa GrafWestarp, DJZ 38 (1933), S. 1389 ff.; Semper(l935); Wemer(1936); Fettig (1937); Reinhold (1937); Bleiher (1939); Göppert (1938), S. 22 ("Der meist gebrauchte und umfangreichste Kommentar zur Satzung war das Werk von SchOcking und Wehberg" [Hervorhebungen vom Verf.] ; Bilfinger, Völkerbundrecht gegen Völkerrecht (1938), S. 20, 24, 38, 39, 49; ders., Der Völkerbund als Instrument britischer Machtpolitik (1940), S. 19, 29, 31, 34, 44. In letztgenanntem Werk werden Schücking/Wehberg mit dem Zusatz zitiert, der Kommentar sei sicherlich nicht immer unvoreingenommen gewesen.

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I. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

sische Besetzung von Rheinland und Ruhrgebiet ein,433 äußerte sich zum Status des Saargebiets,434 zur Oberschlesienfrage435 und einem etwaigen "Anschluß" Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich. 436 Auch zur Kriegsschuldfrage437 und zur Entschädigung für das enteignete deutsche Auslandseigentum nahm er Stellung.438 4. Sonstige völkerrechtliche und pazifistische Schriften

Gegenüber der Beschäftigung mit der Ausgestaltung des Völkerbundes blieb die Arbeit zu sonstigen völkerrechtlichen Themen wie schon in der Zeit vor und während des Krieges im Hintergrund. Gewisse Schwerpunkte lassen sich in der -allerdings eng mit der Völkerbundproblematik verknüpften- Frage der Kodifikation des Völkerrechts439 bzw. dem Seerecht440 erkennen. Daneben beschäftigte 433 V gl. im Jahre 1921: Schücking, Denkschrift betr. die Maßnahmen des Obersten Rates nach den LondonerVerhand1ungen, Neue Brücken 1921, Nr. 3/4, S. 7 f.; ders., Die Pariser Beschlüsse und die deutschen Familien, BT vom 12.2.1921; ders., Die Sanktionen, BT vom 10.3.1921. Außerdem im Jahre 1923: Schücking, Bruch des Völkerrechts, AAB vom 11.1.1923; ders., Frankreichs Rechtsbruch am Rhein, BT vom 28.1.1923; ders. , Wer hilft?, BT vom 7.2.1923. Schließlich in späteren Jahren: Schücking, Die Räumung der Ruhr, BT vom 1.8.1924; ders., Der Schrei nach dem Recht, BT vom 7.8.1924; ders., Appell an den Haager Weltgerichtshof, AAB vom 15.1.1925; ders., Das Recht auf Rheinlandräumung (1929). 434 Vgl. u. a. Schücking, Deutschlands Recht auf das Saargebiet, Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung 4 (1919), Nr. 15/16; ders., Rechtsstellung der Saarbeamten, DJZ 30 (1925), S. 285-293; ders., La Sarre allemande, La Revue des Vivants 3 (1929), S. 1024-1031; ders., Bergbau unter der Grenze her, FZ vom 15.5.1930; ders., Das völkerrechtliche Problem der Wamdtgruben, Melanges Ernst Mahaim, Bd. 2 (1935), S. 299-312. 435 Schücking, Oberschlesien, Deutsche Demokratische Beiträge vom 2.4.1921; ders., Für ein ungeteiltes Oberschlesien, in: Für ein ungeteiltes deutsches Oberschlesien (1921), S. 23-29. Die Anregung zur Beschäftigung mit dem Oberschlesien-Problem kann wohl auf eine Anregung des Pressedienstes für Oberschlesien zurückgeführt werden, der einen entsprechenden Beitrag Schückings nachfragte, vgl. Brief an Schücking vom 7.1.1921, NL Schücking I, Nr. 5/1. 436 Schücking, Anschluß, Selbstbestimmung, Völkerrecht, Neue Freie Presse (Wien) vom 9.3.1922; ders., Offener Brief an Aristide Briand, BT vom 14.12.1928; ders., Zur Anschlußfrage, Kieler Zeitung vom 25.1.1929. 437 Schücking, Enthüllungen, BT vom 27.7.1919; ders., Die Schuld im Kriege, in: Die Kriegsschuldfrage (1928), S. 77-82. 438 Schücking, Die Entschädigung der deutschen Reichsangehörigen hinsichtlich der Liquidation oder Zurückhaltung ihres Eigentums, ihrer Rechte oder Interessen in den feindlichen Ländern, ZVR 11 (1920), S. 548-572. 439 Schücking, Kodifikation des Völkerrechts, FZ vom 12.4.1925; ders. , Die Kodifikation des Völkerrechts durch den Völkerbund, Interparlamentarisches Bulletin 6 (1926),

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Schücking sich auch mit den völkerrechtlichen Aspekten einer parlamentarischen Kontrolle der auswärtigen Gewalt,441 dem Fremdenrecht und dem Völkervertragsrecht. 442 Zum letztgenannten Thema sticht besonders ein der chinesischen Regierung im Jahr 1927 erstattetes Rechtsgutachten heraus. Schücking hat in den zwanziger Jahren zahlreiche weitere Gutachten zu den verschiedensten völkerrechtlichen Themen abgeliefert. Die Beschäftigung mit dem Pazifismus nahm in Schückings Werk nach 1919 einen weniger prominenten Platz als in der Vorkriegszeit ein. Nur sporadisch verschaffte sich Schücking in diesem Bereich öffentlich Gehör.443 Besonders hinzuweisen ist aber auf den Aufsatz "Was heißt Pazifismus?" aus dem Jahre 1935, der gewissermaßen als pazifistisches Vennächtnis des bereits im holländischen Exil lebenden Schücking angesehen werden kann.444

5. Innenpolitik und Verfassungsrecht Trotz seiner Mitgliedschaft im Reichstag und der bis 1926 wahrgenommenen Professur an der Berliner Handelshochschule blieben Veröffentlichungen Schükkings zu staatsrechtlichen Themen eher isoliert und vereinzelt. Zwar gab Schükking bereits sehr früh erste Bewertungen über die staatsorganisationsrechtliche S. 29 ff., 64 ff., 120 ff.; ders., Die Arbeit des Völkerbundes an der Kodifikation des Völkerrechtes, Völkerbundfragen 3 ( 1926), S. 125-13 3; ders., Kodifikation af Folkeretten, Okonomi og Politik 1928, S. 190-207; ders., Codification progressive du droit international, Journal Officiel de la Soci~t~ des Nations 1929, S. 1072-1076. 440 Schücking, Eaux territoriales, Rapport au Conseil de Ia Societe des Nations (1927), S. 29 ff, 72 f.; ders., Die Konferenz von Washington, in: Nationale Aufgaben unserer Politik (1926); ders., Der Kodifikationsversuch betreffend die Rechtsverhältnisse des Küstenmeeres (1931 ). 441 Schücking, Bericht für die XXll. Interparlamentarische Konferenz (1924), S. 182-193. 442 Schücking, L' Allemagne et !es Traites Internationaux, Academie diplomatique internationale, Seances et Travaux, Bd. 3 ( 1928), S. 42-44; ders., La port~e des regles de Droit constitutionnel pour Ia conclusion et Ia ratification des trait~s internationaux, Annuaire de l'Institut International de Droit Public 1930, S. 225-227; ders., La revisiondes traites, in: Dictionnaire diplomatique, Bd. 2 (1935), S. 967 f.; ders. , Die Kündigung des belgisehchinesischen Handelsvertrages von 1865, in: FG für das Reichsgericht (1929), S. 72 ff.; ders., Schutz der wohlerworbenen Rechte, in: FG Max Huber (1934), S. 198 ff. 443 Schücking, Der religiöse Menschheitsbund, Die Hilfe 27 ( 1921 ), S. 198-200; ders., Richtungen im deutschen Pazifismus, Vrije Arbeid 2 (1922), S. 386 f.; ders., Wege zum Pazifismus, in: LenzJFabian (1922), S. 101-103; ders., Der Weg zum Pazifismus, FW 23 (1923), S. 15-18; ders., Ein neuerWeg zur Abrüstung, FW 31 (1931), S. 133 f. 444 Schücking, Was heißt Pazifismus?, FW 35 (1935), S. 1-6. Schücking schrieb diesen Aufsatz im Dezember 1934 und Januar 1935. Wehberg nennt ihn Schückings .,politisches Testament", vgl. Erinnerungen, NL Wehberg, Nr. 80, S. 17. 8 Bodendiek

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1. Kap.: Historische, biographische und bibliographische Grundlagen

wie über die grundrechtliche Seite der neuen Weimarer Reichsverfassung ab,445 schrieb dann aber keine größer angelegten Werke mehr, die sich etwa mit der in der Vorkriegszeit veröffentlichten Studie "Neuen Zielen der staatlichen Entwicklung" vergleichen ließen. Es war deutlich zu spüren, daß in der gesamten Weimarer Zeit der Arbeitsschwerpunkt Schückings in wissenschaftlicher Hinsicht unverkennbar auf dem Recht des Völkerbundes lag. Die tatsächlich noch erfolgten Veröffentlichungen zum innerstaatlichen Recht waren eher allgemeine Äußerungen zur Demokratie in Deutschland446 und hatten mehr politischen als staatsrechtlich-dogmatischen Charakter. Schücking konzentrierte sich sehr viel stärker als alle seine deutschen Kollegen aus dem Bereich des öffentlichen Rechts - mit Ausnahme von Wehberg, der sich schon immer nur mit dem Völkerrecht befaßt hatte- auf die Arbeit am Völkerrecht. Selbst durchaus aktive Völkerrechtler wie Karl Strupp, Erich Kaufmann, Heinrich Triepel ( 1868-1946)447 oder RudolfLaun äußerten sich häufiger zu staatsrechtlichen Themen als Schücking. Dementsprechend verwundert es nicht, daß Schücking als einziger renommierter ÖffentlichRechder nicht Mitglied in der während der zwanziger Jahre gegründeten Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VDSt) wurde.448

6. Artikel zu biographischen und institutionellen Themen

Von den übrigen Artikeln und Aufsätzen Schückings sind vor allem noch die zahlreichen biographischen Artikel zu erwähnen, die Schücking über Persönlichkeiten der Friedensbewegung449 und der Völkerrechtswissenschaft450 445 Schücking, Die Notverfassung, BT vom 16.2.1919; ders., Die Grundrechte der neuen Staatsverfassung, Düsseldorfer Nachrichten vom 4. 3.1919. 446 Schücking, Die Sorge Frankreichs, BT vom 8.8.1920; ders., Die Verfassungstreue Mitte, FZ vom 26.7.1922; ders., Die Politik der Heimat, BT vom 10.8.1922; ders. , Der Friede von Versailles, HLZ vom 30.11.1922; ders., Der Staat der Gemeinschaft, Echo der jungen Demokratie 4 (1922), Nr. 5; ders., Quiddes Verhaftung- eine außenpolitische Gefahr, BT vom 18.3.1924; ders., Volksgemeinschaft- Amerikanische Lehren, FZ vom 1.1.1926; ders., Republik und Hochschule, Die Hilfe 35 (1929), S. 371 ff. 447 Zu Triepel: Schmidt, DJZ 33 (1928), S. 231 f.; Bilfinger, ZaöRV 13 (1950/51), s. 1 ff. 448 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 1581188. 449 Schücking, Vorwort zu Grete Umfrid, Zum Gedächtnis von Otto Umfrid (1920); ders., Zur Erinnerung an Alfred H. Fried, in: Goldscheid (Hrsg.) [ 1922], S. 15-18; ders., Zum Tode Lord Weardales, BT vom 9.3.1923; ders., Beitrag zum 70. Geburtstag Martin Rades, in: FG 40 Jahre "Christliche Welt" (1927), S. 176-179; ders., Ludwig Quiddes

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schrieb. Außerdem ist auf kurze Äußerungen zu Organisationen, in denen Schücking Mitglied war, hinzuweisen, so vor allem seine Äußerungen zur linksliberalen Partei der Weimarer Zeit, der Deutschen Demokratischen Partei. 451

IV. Fazit Spätestens ab 1909 hatte die wissenschaftliche Arbeit Schückings im Bereich des Völkerrechts stets ein starkes Übergewicht gegenüber den staatsrechtlichen Forschungen. Innerhalb des Völkerrechts wiederum kam dem Recht der Friedenssicherung die ganz herausragende Bedeutung zu. Zwar hat Schücking auch zu anderen Themen das Wort ergriffen, jedoch erscheinen diese Äußerungen im Gesamtkontext deutlich im Hintergrund. Diese Tatsache wird im folgenden Abschnitt zu berücksichtigen sein, indem sich die Analyse auf das Recht der Friedenssicherung konzentriert.

Lebenswerk, FW 28 (1928), S. 1-6; ders., RudolfGoldscheids Haltung im Weltkrieg, FW 30 (1930), s. 196-199. 450 Schücking, Kurt Wolzendorff, FZ vom 8.4.1921; ders., Kurt Wolzendorff, Die Justiz 6 (1931), S. 281-291; ders., Philipp Zorn- ein Gedenkblatt, FZ vom 6.1.1928; ders., Ein Meister des Rechts- Zum 75. Geburtstag von Christian Meurer, BT vom 13.1.1931. 451 Schücking, Die Jugend und die Demokratische Partei, BT vom 23.2.1922; ders., Die Zukunft der Demokratischen Partei, BT vom 25.5.1924.; ders., Zur Interparlamentarischen Union, Der Heimatdienst 8 (1927), S. 255. Zur DGV: Schücking, Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht, JW 58 (1929), S. 1529.

Zweites Kapitel

Schückings Konzeption der internationalen Ordnung Vor dem soeben beschriebenen völkerrechtsgeschichtlichen, biographischen und bibliographischen Hintergrund soll im folgenden Schückings Konzeption der internationalen Ordnung einer systematischen inhaltlichen Untersuchung unterzogen werden.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings Bevor sich die Untersuchung den konkreten dogmatischen Strukturen der Schückingschen Konzeption der internationalen Ordnung zuwendet, sind einige logisch vorrangige Aussagen zu Schückings wissenschaftlichem Selbstverständnis zu machen. Dabei ist zunächst auf Schückings allgemeine philosophische Orientierung (unten, 1.), dann auf seine Haltung zu generellen Methodenfragen der Rechtswissenschaft (unten, II.) sowie speziell auf seine Auffassung von Aufgabe und Methode der Völkerrechtswissenschaft (unten, ill.) einzugehen. Insbesondere ist Schückings Selbstverständnis jeweils mit der Grundhaltung zeitgenössischer Wissenschaftler zu vergleichen. Angesichts der völkerrechtsgeschichtlichen Orientierung der Arbeit wird vor allem die Grundhaltung der zeitgenössischen deutschen Völkerrechtslehre in die Betrachtung einbezogen.

I. Allgemeine philosophische Orientierung Zur Beantwortung der Frage nach der allgemeinen philosophischen Orientierung Schückings kann man nicht auf ausführlichere theoretische Betrachtungen Schückings zurückgreifen. Verschiedene Äußerungen Schückings ermöglichen es aber, einige grundlegende Aussagen zu seiner Verortung in den Traditionen der Philosophie zu machen: Auffallend ist vor allem Schückings explizites Bekenntnis zum Gedankengut des Idealismus. Es wird ergänzt durch seine Aufforderung an die geistig führenden Köpfe Deutschlands, ein "neues Zeitalter des deutschen

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Idealismus" herbeizuführen.• Mit diesem Bekenntnis stand Schücking in seiner Zeit nicht alleine. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fand in wissenschaftlichen Kreisen die Geisteshaltung des Idealismus allgemein wieder stärkeren Anklang. 2 Im Gegensatz zum Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden philosophischen "Materialismus", für den die Materie das einzige Prinzip des Seins ist, da nur sie das praktisch-geschichtliche Dasein des Menschen erklären könne/ orientiert sich der Idealismus nicht an bloßen Tatsachen. Er billigt vielmehr den Gedankeninhalten des menschlichen Geistes, den Ideen, einen zentralen Stellenwert zu und fragt nach der vollendeten Grundgestalt hinter der unvollkommenen Abbildung dieser Ideen in den realen Dingen. 4 Unter den Philosophen, die man unter den weiten Oberbegriff der ,,Idealisten" fassen kann, fühlte Schücking sich inhaltlich mit lmmanuel Kant (1724-1804) am engsten verbunden. Diese Nähe zu Kant wird zum einen dadurch belegt, daß Schükking Kant in seinen Werken immer wieder als nahezu unangreifbare Autorität in Anspruch nahm und ihn als größten Philosophen und Denker des deutschen Volkes überhöhte. 5 Zum anderen trat Schücking mit Entschiedenheit für einen "kritischen" Idealismus ein. 6 Gerade mit dieser Qualifizierung hatte auch Kant bereits seine Vorstellung vom Idealismus präzisiert.7 Mit der Rückbesinnung auf Kant lag Schücking 1 Schücking, Erster Weltrassenkongreß (1911), S. 230; ders., Staatenverband (1912), S. 5; ders., Allemagne et !es progres (1914), S. 427; ders., Weltkrieg und Völkerrecht (1915), S. 11. Bemerkenswert ist auch die Äußerung Schückings in "Bertha von Suttner" (1914), S. 131, die Epoche des deutschen Idealismus sei das "geistige Heldenzeitalter" der Deutschen. 2 Zu dieser Renaissance idealistischen Denkens, vgl. Oesterreich, in: Überwegs Grundriß der Philosophie, Bd. 4 (1951 ), S. 313; Ha/der, in: Staatslexikon, Bd. 4 ( 1959), Sp. 190; Neumann, in: Wörterbuch Philosophie, Bd. 4 (1976), Sp. 129. 3 Lübbe, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1959), Sp. 615 f./619; Coreth/Ehlen/Schmidt (1989), Rn. 222. 4 Ha/der, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1959), Sp. 191 f. s Schücking, Idee der Internationalen Organisation (1908), S. 16 f.; ders. , Annäherung der Menschenrassen (1911), S. 77; ders., Bertha von Suttner (1914), S. 131; ders., Weltkrieg und Völkerrecht (1915), S. 11. Kant wird von Schücking auch in "Organisation der Welt" (1908), S. 57 und 76 als Autorität zitiert. Ein Bekenntnis zu Kant legt Schücking auch in "Kultur und Internationalismus" (191 0), S. 38, ab. Zu weiteren Querverbindungen zwischen Kant und Schücking, siehe unten 2. Kapitel, B. II. 3. a). 6 Schücking, Reform des preußischen Wahlrechts (1908), S. 26; ders., Allemagne et Je progres (1914), S. 427. 7 Vgl. Kant, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 239 f. Dazu auch Ha/der, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1959), Sp. 189; Hirschberger, Bd. 2 (1963), S. 268; Kohlenberger, in: Wörterbuch Philosophie, Bd. 3 (1976), Sp. 38. Der Kritizismus Kants bezog sich v. a. auf die Erkenntniskritik, d. h. auf die Frage nach den Grundlagen und Grenzen kritischer Vernunft, wie Kant sie etwa in "Kritik der reinen Vernunft" (178 I), .,Kritik der praktischen Vernunft"

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im Trend seiner Zeit, in der die Schule des Neukantianismus im Bereich der Philosophie immer einflußreicher wurde. Kennzeichnend für den Neukantianismus war das Bestreben, der Philosophie in Form der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie gegenüber den systematischen Wissenschaften, z. B. den Naturwissenschaften wieder eine eigenständige Berechtigung zu geben. Zu diesem Zweck gingen die Neukantianer insbesondere den logischen Bedingungen der wahren Erkenntnis, die der Erfahrung vorausliegen, nach, sie fragten also nach den formalen Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis.8 Mit zwei der bedeutendsten Vertreter des Neukantianismus, mit seinen bereits erwähnten Marburger Kollegen Paul Natorp und Hermann Cohen, pflegte Schükking während seiner Marburger Zeit nicht nur engeren persönlichen Kontakt. Er machte sich den wissenschaftstheoretischen Standpunkt von Paul Natorp auch inhaltlich zu eigen: Gerade in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg äußerte Schücking sich relativ häufig zu seinem Verständnis von den Aufgaben eines Wissenschaftlers. Scharf lehnte er jene ,,Fachgelehrten" ab, die sich in "vornehmer Zurückgezogenheit" nur im engsten Umkreis ihrer Studierstube bewegten und den Kontakt mit dem wirklichen Leben vollständig verloren hätten.9 Er forderte vielmehr unter expliziter Berufung auf Natorp eine enge Wechselbeziehung von Politik und Wissenschaft. Einerseits müsse sich die Wissenschaft, d. h. nicht nur die Rechtswissenschaften, sondern auch andere Disziplinen wie die Geschichtswissenschaft oder die Nationalökonomie, mit den Ideen des Lebens erfüllen. Andererseits müsse aber auch das Leben mit den Ideen und Erkenntnissen der Wissenschaft erfüllt werden. 10 Die Wissenschaft müsse die politischen Tagesprobleme untersuchen und dann öffentlich eine eindeutige Handlungsempfehlung aussprechen. Auf einer derart fundierten wissenschaftlichen Basis, so Schückings Überzeugung, müßte es gelingen, die anstehenden politischen Probleme zu lösen. 11 Der betroffene Gelehrte darf sich nach Schückings Wissenschaftsverständnis aber nicht auf irgendeinen beliebigen Standpunkt stellen. Zwar billigte Schücking im Staatsleben grundsätzlich sowohl fortschrittlichen als auch konservativen An(1788) und "Kritik der Urteilskraft" (1790) stellte. Der kritische Idealismus ist von der Nachwelt auch zur Abgrenzung der Entwürfe Kants vom "absoluten" Idealismus Hegels, vgl. Hirschherger (1963), S. 410 ff., oder zum "subjektiven" Idealismus Fichtes, vgl. Hirschherger (1963), S. 364 ff., herangezogen worden. 8 Halder, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1959), Sp. 190; Coreth/Schöndorfer(1990), Rn. 283. 9 Schücking, Bertha von Suttner (1914), S. 129. 10 Schücking, Wichtigste Aufgabe des Völkerrechts (1912), S. 3. Vgl. zur Verbindung von Politik und Wissenschaft auch Schücking, Das europäische Gleichgewicht (1915), s. 25. 11 Schücking, Nationalitätenproblem (1908), S. 6 f.

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sichten und Parteien einen bedeutenden Wert für die Gesamtentwicklung des Gemeinwesens zu. Die Wissenschaft aber hielt er für verpflichtet, sich stets "für den Fortschritt" einzusetzen, der für ihn den ,,Atem Gottes in der Weltgeschichte" darstellte.12 Bildlich beschrieb Schücking diesen Sachverhalt so, daß die Wissenschaftler das "Segel am Staatsschiff' sein müßten, das diesem erst die Fortbewegung ennögliche. 13 Für ihn war der Begriff ,,Fortschritt" inhaltlich nicht ein für alle mal fest definiert, vielmehr könne und müsse er zu jeder Zeit einen jeweils ganz unterschiedlichen Bedeutungsinhalt annehmen. Schücking gestand deshalb auch dem Historiker Heinrich von Treitschke, dessen Ansichten er in der Gegenwart als rückschrittlich und nicht mehr vertretbar empfand, durchaus zu, daß dieser in der Vergangenheit als national gesinnter Historiker gegenüber den beharrenden Kräfte des legitimistisch-monarchisch orientierten Mainstreams sehr wohl für zur damaligen Zeit fortschrittliche Ideen eingetreten sei. Es gelte aber für jede nachwachsende Generation von Wissenschaftlern stets aufs neue, nicht bei dem einmal errungenen Stand der Erkenntnis stehenzubleiben, sondern sich für die jeweils speziellen neuen Ideen und Ziele einer Zeit mit der gesamten geistigen Kraft einzusetzen. 14 Insgesamt kann man festhalten, daß Schücking zwar nicht in ausführlicher Form zu allgemeinen philosophischen Fragen gearbeitet hat, daß er sich aber als Anhänger eines kritischen Idealismus im Geiste Kants zu erkennen gab und in wissenschaftstheoretischer Hinsicht dafür eintrat, daß die Wissenschaft sich für fortschrittliche Ideen engagieren möge.

II. Aufgabe und methodische Ausrichtung der Rechtswissenschaft 15

Wendet man sich auf konkreterer Ebene den Vorstellungen zu, die Schücking von Zielsetzung und Methodik der Rechtswissenschaft hatte, kann man feststel12 Vgl. z. B. Schücking, Wichtigste Aufgabe des Völkerrecht (1912), S. 12. Für eine entsprechende moralische Pflicht des Studenten als wissenschaftlichem Nachwuchs, vgl. Schücking, Studentisches Philisterium (1921 ). 13 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 10. 14 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 10 f. 15 Unter der ,,Methode" einer Wissenschaft werden im folgenden die Arten des Vorgehens einer Wissenschaft verstanden, die diese einschlägt, um Antworten auf die von ihr gestellten Fragen zu erlangen, vgl. zu dieser Definition Larenz/Canaris (1995), S. 7. Der Begriff ,,Aufgabe" wird in der Überschrift zu diesem Kapitel gesondert eingefügt, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß etwa mit dem Postulat, Rechtswissenschaft müsse sich auch der rechtspolitischen Betätigung zuwenden, eigentlich nicht bloß eine andere Vorgehensweise auf dem Weg zu einem unveränderten Ziel, sondern vielmehr bei genauer Betrachtung ein ganz anderes Ziel vorgegeben wird.

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len, daß Schücking nicht in größerer Breite allgemeine methodologische Untersuchungen durchgeführt oder gar einen Ansatz zu einer eigenen Methodenlehre versucht hat. Er war sich jedoch seiner eigenen methodischen Ausrichtung als Rechtswissenschaftler sehr wohl bewußt und machte dezidierte Aussagen darüber, nach welchen Maßgaben der moderne Rechtswissenschaftler zu arbeiten habe. Schücking gelangte so zu einer Kritik an den vorherrschendenjuristischen Denkschulen des 19. Jahrhunderts, deren Vorgehensweisen er zwar in Anerkennung der Zeitbedingtheit juristischer Methoden in der Vergangenheit ihre Berechtigung zugestand, 16 denen er diese Berechtigung jedoch für die Gegenwart mit Entschiedenheit absprach.

1. Ablehnung der "historischen Rechtsschule" Diese Beurteilung betraf zunächst die Rolle der sog. "historischen Rechtsschule". Unter diesen Begriff, der- wie auch Schücking unterstrich- untrennbar mit Leben und Werk Friedrich Carl von Savignys (1779-1861) verbunden ist, faßt man jene Richtung juristischen Denkens und juristischer Methodik, die das geschichtlich gewordene Recht, vor allemjenes der klassischen römischen Jurisprudenz, als Lehrmeisterin und Muster für die Gestaltung des Rechts in Gegenwart und Zukunft betrachtet. Eine Rechtsfortbildung ohne Rücksicht auf das durch Geist und Beharrungsvermögen der Völker gewachsene Recht lehnte sie ab. 17 Zwar mußte auch Schücking anerkennen, daß sich positive Arbeitsergebnisse der historischen Betrachtungsweise nicht verleugnen ließen. 18 Schädlich habe sich aber ausgewirkt, daß die historische Richtung sich zu einseitig der Vergangenheit zugewendet habe. Über dem Gedanken an das gewordene Recht habe sie den Gedanken an das Richtige und die Gerechtigkeit vergessen und sei deshalb den Anforderungen der Gegenwart, insbesondere der sozialen Frage, nicht gerecht geworden.19

16 Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 4. Vgl. v. a. von Savigny (1840), S. XIV f. Dazu auch Bader, in: Staatslexikon, Bd. 4 (1959), Sp. 87 f.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte (1967), S. 348-458. 18 Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 5. 19 Schücking, Neue Ziele des Völkerrecht (1907); ders. , Organisation der Welt (1908), s. 6. 17

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2. Ablehnung des Rechtspositivismus

Eine ähnlich negative Bilanz stellte Schücking dem sog. "Rechtspositivismus" aus, jenem methodischen Ansatz, der im Bereich der Jurisprudenz auf alle "metaphysischen Lehren", insbesondere auf jeglichen naturrechtliehen Ansatz, verzichtete und Wertfragen soweit wie möglich aus dem Bereich der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit ausschloß. Der Rechtspositivismus akzeptierte als Rechtsnormen demgemäß nur jene Normen, die durch einen erkennbaren, äußeren historischen Akt von einer kompetenten Autorität als Rechtsnormen anerkannt oder in Kraft gesetzt wurden. 20 Diese auch als "streng juristisch" bezeichnete Methode war nach der Reichsgründung unter dem maßgeblichen Einfluß von Paul Laband (1838-1918) auch im deutschen Staatsrecht herrschend geworden, was besonders darauf zurückgeführt wird, daß die vergleichsweise junge Disziplin zur Festigung ihres Wissenschaftscharakters eine klare Distanz zu politisch-philosophischen Erwägungen für dringend erforderlich hielt. 21 Schücking gestand zu, daß die Staatsrechtslehrer auf die neugegebene Reichsverfassung nach 1871 zunächst mit einer ausführlichen dogmatischen Durcharbeitung des neuen Rechtsstoffes reagieren mußten und der staatsrechtliche Positivismus im übrigen beachtliche Errungenschaften aufzuweisen hatte. 22 Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sah Schücking- nach dem fast vierzigjährigen Bestehen des Reiches-jedoch das dringende Erfordernis, von einer rein positivistischen Betrachtungsweise abzugehen, da diese auch im Staatsrecht den veränderten tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr gerecht werden könne. Es gelte sich zu besinnen, daß höchster Beruf der Rechtswissenschaft nicht die Lehre vom positiven Recht, sondern die Lehre von der Gerechtigkeit sei. 23

3. Befürwortung des Kontakts von Jurisprudenz und Philosophie

Schückings Auffassung davon, welche methodische Grundausrichtung für die Rechtswissenschaft der Gegenwart angemessen sei, wird durch die positive Wür2°Coing (1969), S. 77. Vgl. insbesondere von Gerber (1880), S. 237 f.; Laband (1911), Vorwort zur 3. Auflage. 21 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 (1992), S. 349, bzw. Bd. 3 (1999), S. 171 f. Siehe auch Korioth, AöR 117 (1992), S. 212 f. 22 Schücking, Reform des preußischen Wahlrechts ( 1908), S. 26. 23 V gl. Schücking, Reform des preußischen Wahlrechts (1908), S. 26; ders., Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 5.

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digung24 der Vorreiterrolle Rudolf Stammlers (1856-1938) erhellt. Der Neukantianer Stammler trug entscheidend zur Wiederbelebung der Rechtsphilosophie und der Förderung des Kontaktes von Rechtswissenschaften und Philosophie bei und zeigte u. a. mit seiner Schrift "Vom richtigen Recht" (1896) einen möglichen Weg von einem reinen Rechtspositivismus zurück zu einer mehr wertenden Betrachtung des Rechts auf.25 Stammler war Teil einer neuen rechtspolitisch orientierten Strömung in der Zeit um die Jahrhundertwende. ·Als deren Charakteristika lassen sich - bei aller Mannigfaltigkeit im einzelnen - das klare Bekenntnis zur Geschichtlichkeit des Rechts und der Versuch der Synthese des historisch Gewordenen mit naturrechtlichem Gedankengut hervorheben. 26 Eben diese Charakteristika sind auch im Werk Schückings deutlich zu beobachten: Zum einen war es Schükking stets äußerst wichtig, den historischen Hintergrund eines bestimmten rechtlichen Phänomens ausführlich zu durchleuchten. Zum anderen bekannte er sich aber auch dazu, das geschichtlich gewordene Recht im Sinn der von ihm durchaus hochgeschätzten naturrechtliehen Lehre zu reformieren, das Recht de lege ferenda also an der Idee der sittlichen Gerechtigkeit neu zu orientieren.27 Schücking läßt sich deshalb in den Kontext der rechtsmethodologischen Bewegung einordnen, die im Anschluß an Stammler in der Zeit um die Jahrhundertwende von dem vorher gepflogenen strengen Positivismus Abstand nahm. In seiner staatsrechtlichen Arbeit bezeichnete Schücking sich selbst ausdrücklich als Teil einer "Bewegung",28 die die theoretischen Vorarbeiten Stammlers und anderer Rechtsphilosophen für die praktische Arbeit am materiellen Recht, sowohl im öffentlichen als auch im Privatrecht, nutzbar machte und sich nicht mehr nur auf die Untersuchung des positiven Rechts beschränken wollte. Kennzeichnend fürdiese neue Strömung, so Schücking, sei die Bereitschaft, juristische Normen zu entwickeln, die den Postulaten des modernen Wirtschaftslebens und der modernen sozialen Verhältnisse entsprächen.29 Ein solches Vorgehen sei bereits aufgrund des folgenden Umstands zwingend: Tatsächliche Gegebenheiten und rechtliche Verhältnisse stünden in einer permanenten Wechselwirkung. Eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse habe früher oder später immer auch zur Schücking, Al1emagne et !es progres (1914), S. 426 f. Scheuner, ZaöRV 13 (1951), S. 591; Radbruch (1963), S. 97; Larenz (1969), S. 86; Coing (1969), S. 71; Fikentscher, Bd. 3 (1974), S. 289 ff. 26 Larenz (1969), S. 87. 27 V gl. etwa Schücking, Nationalitätenproblem (1908), S. 26 ff. 28 Zu dieser Bewegung: Schücking, Reform des preußischen Wahlrechts (1908), S. 26. V gl. dazu auch: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 ( 1992), S. 349 und 450, sowie Preuß, AöR 18 (1903), 373-378; Korioth, AöR 117 (1992), S. 212 ff. 29 Vgl. dazu Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 7 ff. 24 2'

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Herausbildung neuer rechtlicher Formen geführt. Umgekehrt bedeuteten diese neuen Rechtssätze neue Tatsachen, die ihrerseits erneut auf die Lebensverhältnisse der Menschen einwirkten.30 Das Wissen um diese ständigen Veränderungen mache es für den Juristen zur vornehmsten Aufgabe, an der Entwicklung des werdenden Rechtes mitzuarbeiten und die Politiker für den Rechtsfortschritt zu gewinnen. 31 Nötig sei eine konsequente rechtspolitische Tätigkeit, eine Diskussion über die Fortentwicklung des Erreichten und die Aufstellung neuer Ziele, d. h. die Formulierung realisierbarer Utopien.32 Als Vertreter einer nach vorne gerichteten, rechtspolitisch orientierten Rechtswissenschaft und insofern auch als seinen eigenen methodologischen Geistesverwandten sah Schücking im Privatrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzig Johann Caspar Bluntschli (1808-1881). 33 Als Meilenstein des Umschwungs zu einer mehr philosophischen Betrachtung der Jurisprudenz nannte Schücking aus dem Bereich des Staatsrechts die Arbeiten von Georg Jellinek (1851-1911)34, vor allem dessen "Allgemeine Staatslehre"35 - eine Beurteilung, die von seinen Zeitgenossen und von der heutigen rechtshistorischen Forschung geteilt wird. 36 Als Vorkämpfer rechtspolitischer Arbeit hob Schücking den auch als ,juristischen Sozialisten" bezeichneten Anton Menger (1841-1906) hervor, der seine auf soziale Gerechtigkeit bedachten sozialpolitischen Konzepte in rechtlicher Form im Jahre 1903 als "Neue Staatslehre" vorstellte. 37 Die Jahre nach 1906 brachten nach Ansicht Schückings eine steigende Zahl von Staatsrechts30 Schücking, Kultur und Internationalismus (1910), S. 47 f.; ders., Annäherung der Menschenrassen (1911), S. 59177. 31 Schücking, Bertha von Suttner (1914), S. 133. 32 Schücking, Neue Ziele des Völkerrechts (1907), passim. 33 Wegen dessen Entwurfs einer Arbeitsordnung für Fabriken, vgl. Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 6, sowie zur Biographie Bluntschlis Meili (1908); Bullinger, JZ 13 (1958), S. 560; Faßbender-Ilge (1981), S. 13-32; Hohe, AVR 31 (1993), S. 367 f. 34 Zu Jellinek vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 (1992), S. 450 ff.; Kempter (1998), vor allem S. 154-216, 262-378. 35 Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1907), S. 7; ders., Modernes Weltbürgertum (1907), S. 245. Nach Schücking war Jellineks "Allgemeine Staatslehre" in seiner Zeit das anerkannt beste deutsche Buch über den Staat, vgl. "Staatenverband vom Haag (1912), S. 76. Schücking lobt aber auch Jellineks 1906 erschienene Studie "Verfassungsänderung und Verfassungswandlung", vgl. Schücking, Reform des preußischen W abirechts (1908), S. 26. 36 V gl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 (1992), S. 450; für die zeitgenössische Bewertung vgl. Preuß, AöR 18 (1903), S. 373 ff. 37 Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 6. V gl. zuMengervon Westemhagen, in: Kritische Justiz (Hrsg.) [1988], S. 81 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2 (1992), S. 445 f. ; Dölemeyer, in: Stolleis (Hrsg.) [1995], S. 422.

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politischen Werken hervor. Er nannte neben Arbeiten von Triepel und Leo von Savigny seine eigenen Monographien "Das Nationalitätenproblem" und "Neue Ziele der staatlichen Entwicklung". 38

4. Die evolutionistische Methode der Rechtspolitik Erwähnenswert ist die Art und Weise, in der Schücking seine rechtspolitischen .Erkenntnisse gewann. Schücking bezeichnete diese Methode selbst als "evolutionistisch".39 Aufgabe des Rechtswissenschaftlers sei es, die normativen Grundtendenzen der Zeit bzw. des Fortschritts in einer Zeit aufzuspüren.40 Die gefundenen Entwicklungslinien seien dann quasi-logisch fortzusetzen. Aus dem Gewordenen und vor allem dem Werdenden, d. h. dem gegenwärtigen Rechts geschehen, müsse das Recht gedeutet werden, wie es zukünftig sein solle.41 Allerdings bestünden auch nach der Herausarbeitung der Entwicklungstendenzen einer Zeit durchaus noch Ansatzpunkte, um durch eine Korrektur an den jeweiligen Entwicklungskurven eine Lösung anstehender, bereits sichtbarer Probleme zu ermöglichen. 42 Wichtig sei aber, daß diese Veränderungen sich nicht ohne Verankerung in der bisherigen Wirklichkeit, sondern behutsam, eben in einer evolutionären Entwicklung vollzögen. Methodologisch bewegte sich Schücking mit seinem Postulat der evolutionistischen Fortbildung des Rechts auf einer Linie mit Franz von Liszt (1851-1919)43 . Dieser begründete die "evolutionistische" Methode der Rechtspolitik, die gekenn38 V gl. Schücking, Reform des preußischen Wahlrechts (1908), S. 26. Von Savigny, Das parlamentarische Wahlrecht im Reiche und in Preußen und seine Reform (1907); Triepel, Unitarismus und Föderalismus (1907). Zur Pionierstellung von Schückings .,Neuen Zielen", vgl. Fuchs, JW 48 (1919), S. 5. 39 Schücking, L' Allemagne et !es progres (1914), S. 427. Zum Begriff des Evolutionismus, siehe auch Radbruch, Rechtsphilosophie (1963), S. 97. Der Begriff ,,Evolutionismus" ist hier nicht deckungsgleich mit der allgemeinen philosophischen Richtung des Evolutionismus, der alles Leben durch die Theorie der Entwicklung der Lebensformen erklärt, vgl. Coreth/Ehlen/Schmidt ( 1989), Rn. 231 ff. 40 Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 9; ders., Idee der internationalen Organisation (1908), S. 4 f.; ders., Internationale Rechtsgarantien (1918), S. 54. 41 Schücking, Organisation der Welt ( 1908), S. 9; ders., Idee der internationalen Organisation (1908), S. 22. 42 Vgl. dazu vor allem Schücking, Organisatorische Bedeutung (1913), S. 96. Zum ,,Entwicklungsgedanken" aus späterer Zeit auch ders., Vorwort Claparede-Spir (1925). 43 Zu von Liszt vgl. Heinemann, JW 48 (1919), Sp. 545 ff.; Goldschmidt, DJZ 24 (1919), S. 570; Held, ZIR 29 (1921), S. 185 f.

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zeichnet wird durch den Schluß vomWerdenden auf das Seinsollende, vor allem für den Bereich der Strafrechtswissenschaft ausführlich und verteidigte sie auch gegen heftige Angriffe,44 während Schücking sich nur fragmentarisch zu dieser methodischen Grundfrage äußerte. Immerhin antizipierte auch Schücking die Kritik, die unweigerlich gegen die deterministische Grundhaltung des angeführten evolutionistischen Verständnisses der Rechtspolitik vorgebracht werden mußte.45 Er bestand deshalb auf der deutlichen Unterscheidung zwischen dem tatsächlich geltenden Recht, der Iex lata, und dem erst noch zu schaffenden Recht, der Iex ferenda. Die Begeisterung für subjektive Ziele dürfe nicht so weit gehen, daß man diesen Unterschied, dessen Herausarbeitung er für eine der bedeutendsten Errungenschaften der positivistischen Rechtsschule hielt, bei der Fortbildung bestehender Rechtstendenzen verwische.46

5. Zwischenergebnis Schücking sah sich in seiner Tätigkeit als Staatsrechtslehrer einer neuen Tendenz in der Rechtswissenschaft verbunden, die mit der historischen Schule und einem reinen Positivismus brach und statt dessen unter Aufnahme rechtsphilosophischer Denkanstöße nach einem evolutionistischen Ansatz Rechtspolitik betrieb.

III. Aufgabe und methodische Ausrichtung der Völkerrechtswissenschaft Der Fokus der Untersuchung soll nunmehr spezifischer auf Aufgabenstellung und Methodik der Völkerrechtswissenschaft gerichtet werden.

44 V gl. von Liszt, ZGStW 26 (1906), S. 553 ff., und 27 (1907), S. 91 ff. Für den Bereich des Völkerrechts mit Überlegungen, wie der Begriff der ,,Entwicklung" zu fassen ist: von Liszt, Das Wesen des völkerrechtlichen Staatenverbandes (1910), S. 8. Als Überblick über den methodischen Streit, der in dieser Zeit um die evolutionistische Methode der Rechtspolitik vor allem in der Strafrechtswissenschaft ausgefochten wurde, vgl. Radbruch, ZGStW 27 ( 1907), S. 246; Kantorowicz, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform4 (1907/08), S. 79. 45 So etwa von Radbruch (1963), S. 97; vgl. auch schon ders., Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 2 (1905/06), S. 423 f., der von einem "marxistischen Irrtum" spricht, wenn man von Entwicklungstendenzen auf das Seinsollende schließt. 46 Vgl. vor allem Schücking, Neue Ziele der staatlichen Entwicklung (1913), S. 9. Vgl. auch bereits Schücking, Der Staat und seine Agnaten (1902), S. 28 f.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

1. Die Grundhaltung Schückings Zunächst ist die Grundhaltung Schück:ings in diesen Fragen zu untersuchen.

a) Rechtspolitische Orientierung der Völkerrechtslehre Hinsichtlich der Aufgaben der Völkerrechtswissenschaft sticht Schückings Auffassung ins Auge, daß für die Völkerrechtswissenschaft als jüngste und entwicklungsbedürftigste Disziplin ein besonderer Bedarf dafür bestehe, daß sich die Forschung der Rechtsfortbildung und der rechtspolitischen Tätigkeit zuwende. Eine rein positivistische Betrachtung des geltenden Rechts könne allein deshalb nicht einmal die aktuell auftretenden Streitfragen bewältigen, weil im Völkerrecht der rechtlich nicht geregelte Bereich sehr groß sei. Gegenüber den Fragen der Zukunft der internationalen Rechtsordnung müsse die strengjuristische Methode erst recht vollständig versagen.47 Einen guten Völkerrechtswissenschaftler zeichne aus, daß er sich vorstellen könne, daß die Dinge auch einmal ganz anders werden könnten, als sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt darstellten. 48 Beinahe poetisch sprach Schücking davon, daß der Völkerrechtsjurist bemüht sein müsse, der Menschheit Mittel und Wege aufzuzeigen, die sie aus dem Sumpf der Vergangenheit auf die lichten Höhen der Zukunft führe. 49

b) Die Bedeutung des modernen Naturrechts Bei der rechtspolitischen Mitarbeit am werdenden Völkerrecht, so stellte Schück:ing heraus, sei es erforderlich, bewußt von einer bestimmten- fortschrittlichen- Weltanschauung auszugehen. 50 Daß hierzu auf die Lehre vom Naturrecht zurückzugreifen sei, werde bereits dadurch nahegelegt, daß der Begründer des modernen Völkerrechts, Hugo Grotius, zugleich auch ein herausragender Vertreter des Naturrechts gewesen sei. In der Sache sei es einfach unerläßlich, sich bei der Fortbildung des Völkerrechts zur Orientierung eines modernen Naturrechts zu bedienen. Dieses zeichne sich dadurch aus, daß es - im Gegensatz zum grotianischen Verständnis -keinen für alle Zeiten unabänderlichen Inhalt besitze, 47

Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 7; ders., Bertha von Suttner (1914),

s. 133.

Schücking, Otto Umfrid (1921), S. 142. Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. IX. so Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 4 ff.

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sondern aus der Natur der Dinge, verstanden im Sinne der konkreten Lebensbedürfnisse, abgeleitet werde. 5 1 Nach Schückings Auffassung war die Anerkennung eines solchen modernen Naturrechts für einen Völkerrechtslehrer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin selbstverständlich. 52 Als Beleg für die feste Verankerung naturrechtlicher Positionen in der Staatenpraxis diente ihm Art. 2 Abs. Vill der Haager Konvention zur Errichtung eines internationalen Prisenhofs, der dem Prisenhof gestatten sollte, in Ermangelung bestehender positiver Rechtsnonnen nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Billigkeit zu entscheiden.53 Nach dem Ersten Weltkrieg gewann die naturrechtliche Denkweise, die das Recht philosophisch aus der Idee der Gerechtigkeit und den Bedürfnissen der Völker entwickelte, für Schücking noch an Bedeutung.54 Schücking wies auch in dieser Zeit deutlich darauf hin, daß das formale, geschriebene Recht nur Bestand haben könne, wenn es mit dem wahren, philosophischen, eben dem natürlichen Recht übereinstimme. 55 Naturrechtlichen Forderungen, etwa dem Anspruch eines unter Übervölkerung leidenden Staates auf die Zuweisung zusätzlichen Siedlungsgebietes, müsse die internationale Rechtsordnung durch die Ausbildung entsprechender positiver Rechtsregeln entgegenkommen.56

c) Verhältnis zum Pazifismus Ausführlicher als zur Frage des Naturrechts äußerte sich Schücking in der Vorkriegszeit zum Verhältnis von traditioneller Völkerrechtswissenschaft und moderner Friedensbewegung. Schon in seinen ersten Arbeiten über die Reform der internationalen Ordnung würdigte Schücking die Leistungen der pazifistischen Bewegung. Die Pazifisten seien die Urheber der nützlichsten Ideen für den Fortschritt der ganzen zivilisierten Welt. 57 Die Schriften der Friedensbewegung, vor allem diejenigen der modernen wissenschaftlichen Richtung Frieds lobte er als "unentbehrliches Rüstzeug" für jeden Völkerrechtswissenschaftler und wünschte ihnen eine möglichst weite Verbreitung in den Kreisen der VölkerrechtswissenSchücking, Organisation der Welt (1908), S. 7 f. Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 138. 53 Vgl. Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 8. 54 Vgl. Schücking, Vorwort zu A. Nicho1s (1932). 55 Schücking, Durch zum Rechtsfrieden (Dezember 1918), S. 8. 56 Vgl. Schücking, Der wahre Völkerbund (1921). 57 Schücking, Idee der internationalen Organisation (1908), S. 3. 51

52

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

schaft. 58 Die Aufgabenverteilung zwischen Pazifismus und Völkerrechtswissenschaft sah Schücking in concreto so, daß die pazifistischen Bestrebungen und das Völkerrecht "Hand in Hand" arbeiten müßten, um die internationale Ordnung sachlich richtig auszugestalten. 59 Der Pazifismus solle danach dem Völkerrecht mögliche Zielvorstellungen vorgeben und so als Schrittmacher wirken,60 während die Völkerrechtswissenschaft bei den Pazifisten Anleihen aufnehme und die erhaltenen Anregungen mit dem ihr eigenen wissenschaftlichen Instrumentarium juristisch durcharbeite. 61 Schückings gesamte völkerrechtliche Arbeit ist von der Einsicht getragen, daß speziell für den Bereich des Völkerrechts die geistesbefruchtenden Aufgaben des Naturrechts, d. h. die Aufgaben als Katalysator für neue rechtspolitische Konzepte, vom Pazifismus übernommen werden müssen. 62 Während Schücking in den Jahren 1907/08 noch deutlich machte, daß er sich bei aller Wertschätzung für die Ideen der Pazifisten doch eher als Völkerrechtler sah, und auf eine gewisse Distanz ging, 63 sprach er bei späteren Gelegenheiten, gerade nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, immer wieder ausdrücklich aus, daß er sich selbst als Pazifist betrachte.64 Zwar betonte er auch in dieser Zeit noch seine wissenschaftliche Herkunft, 65 insgesamt wird jedoch sehr deutlich, daß für ihn Pazifismus und Völkerrecht keineswegs unüberbrückbare Gegensätze waren, sondern das nach seinem Dafürhalten wahre Völkerrechtswissenschaft ohne gleichzeitiges Bekenntnis zu den Zielen der Friedensbewegung nicht mehr möglich war. 66 58

Schücking, Besprechung Fried (1908).; ders., Kultur und Internationalismus (1910),

s. 38.

Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 66. Schücking, Besprechung Wehberg (1912); ders., Bertha von Suttner (1914), S. 132 f. Ganz ähnlich auch noch ders., Otto Umfrid (1921), S. 141 . 61 Schücking, Modemes Weltbürgertum (1907); ders., Staatenverband vom Haag (1912), s. 4 ff. 62 Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 1 ff. 63 Vgl. Schücking, Modemes Weltbürgertum (1907): "Die Anregungen, die von da zu uns gekonunen sind ... "; ders., Besprechung Fried (1908): "wir vom Bau"; ders., Organisation der Welt (1908), S. 67: "Blütenbäume der Pazifisten". 64 Schücking, Weltkrieg und Pazifismus (1914), S. 3; ders., Europa am Scheideweg (1915), S. 42 f.; ders., Das europäische Gleichgewicht (1915), S. 29 f.; ders., Weltfriedensbund (1917), S. 13. 65 V gl. Schücking, Weltfriedensbund (1917), S. 28: "Wir Juristen können es nicht alles alleine machen, die Pazifisten der gesamten Welt müssen uns unterstützen, gemeinsam der Welt Perspektiven aufzuzeigen." sowie ders., Ein neues Zeitalter (1919), S. 3: "Wir Juristen müssen uns klar sein: ... Wir können den Völkerbund nichts als etwas Lebendiges schaffen, wir können nur Formen geben." 66 Vgl. aus der Nachkriegszeit Schücking, Erinnerung an Fried (1922), S. 64. 59

60

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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d) Zwischenergebnis Schücking hat seine Vorstellungen von der methodischen Ausrichtung der Völkerrechtswissenschaft klar artikuliert: 67 Er bekannte sich in seinen Schriften zur rechtspolitischen Aufgabe der Völkerrechtsforschung und plädierte dafür, daß diese sich gegenüber naturrechtliehen und pazifistischen Gedanken öffnen müsse.

2. Die Grundhaltung der zeitgenössischen deutschen Völkerrechtswissenschaft Es soll nun weiter gefragt werden, wie die beschriebene Haltung Schückings zu grundlegenden Fragen der Aufgabenstellung und Methodik der eigenen Disziplin vor dem Hintergrund der Auffassungen in der deutschen Völkerrechtswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts historisch zu würdigen ist. Dabei soll zunächst geklärt werden, welche Personen für die Zwecke dieser Untersuchung zum Kreis der "deutschen Völkerrechtswissenschaft" zu zählen sind (unten, a)). Danach soll dargestellt werden, wie Schücking die Haltung seiner Kollegen und seine eigene historische Rolle wahrnahm (unten, b)), bevor am Beispiel zweier Charakteristika,68 nämlich der Haltung zur Völkerrechtspolitik (unten, c)) bzw. zum Verhältnis von Völkerrecht und Pazifismus (unten, d)) das methodische Selbstverständnis der zeitgenössischen deutschen Völkerrechtslehre beleuchtet und zugleich Schückings Selbsteinschätzung auf ihre Richtigkeit überprüft wird.

67 So hebt auch Schüle, BDGV 3 (1959), S. I, hervor, daß sich Schücking als einer von ganz wenigen Völkerrechtlern überhaupt zu Methodenfragen äußert. Allerdings bezeichnet er auch Schückings Äußerungen als "beiläufige Ausführungen". Schückings Methodiküberlegungen in "Organisation der Welt" werden auch von Sauer (1955), S. 28, hervorgehoben. 68 Auf das weiter oben herausgearbeitete Charakteristikum, Schückings Affinität zu naturrechtliehen Vorstellungen, soll hier aus Platzgründen allerdings nicht mehr eingegangen werden: Zum einen erscheinen die beiden anderen hier gewählten Spezifika für Schükkings Arbeit wichtiger gewesen zu sein. Zum anderen gewann die Diskussion um das Naturrecht in Kreisen der Völkerrechtswissenschaft m. E. überhaupt erst nach dem Ersten Weltkrieg wirklich an Bedeutung. Vgl. dazu Scheuner, ZaöRV 13 (1951), S. 556 ff., sowie vor allem auch eine von Niemeyer unter deutschen und ausländischen Völkerrechtswissenschaften durchgeführte Umfrage, in der etwa die Frage, ob internationale Gerichte auch naturrechtliche Normen bei ihrer Rechtsfindung berücksichtigen sollten, ganz überwiegend negativ beantwortet wurde, vgl. ZlR 34 (1925), S. 113-189, z. B. Giese (S. 141), HoldFemeck (S. 144), Meurer(S. 160), Strupp (S. 173 f.), Triepel (S. 187 f.), Verdroß (S. 188). Allgemein zum Methodenstreit Naturrecht/Positivismus im öffentlichen Recht, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 153 ff. 9 Bodendick

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung a) Die "deutsche Völkerrechtswissenschaft"

Wenn im folgenden von der "deutschen" Völkerrechtswissenschaft die Rede ist, so erscheint es gerechtfertigt, auch deutschsprachige Autoren österreichischer bzw. deutschschweizerischer Abstammung mit in die Untersuchung einzubeziehen: Im betrachteten Zeitraum veröffentlichten Österreichische und schweizerische Autoren wie Heinrich Lammasch, Gustav Roszkowski oder Max Huber mit gleicher Regelmäßigkeit Aufsätze in den deutschen Zeitschriften wie aus dem Deutschen Reich stammende Völkerrechtswissenschaftler. Ursprünglich schweizerische Völkerrechtslehrer wie Bluntschli oder Nippold, aber auch aus Österreich stammende Professoren wie Felix Stoerk, Emanuel von Ullmann, Georg Jellinek oder Franz von Liszt unterrichteten an ,,reichsdeutschen" Universitäten. Man kann -jedenfalls für die Zeit vor 1918/19, mit Abstrichen auch in der Zeit danach von einem über die Staatsgrenzen hinweg im ganzen deutschen Sprachraum geführten wissenschaftlichen Diskurs sprechen. 69 Schwieriger fällt die personale Abgrenzung des Kreises der zu betrachtenden Völkerrechtswissenschaftler im Hinblick auf deren beruflichen Hintergrund und deren akademische Qualifikation. Für die Zwecke der Untersuchung werden aber unter dem Begriff der Völkerrechtswissenschaftler primär jedenfalls die Hochschullehrer zu fassen sein, die an den rechtswissenschaftliehen Fakultäten des deutschsprachigen Raumes im Bereich des Völkerrechts unterrichtet haben. Da im betrachteten Zeitraum an den deutschen Universitäten üblicherweise der völkerrechtliche Unterricht vom Inhaber des staatsrechtlichen Lehrstuhls übernonunen wurde und zudem viele das Völkerrecht lesende Professoren gar keine eigene Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet entfalteten/0 wird man auch die Äußerungen solcher Gelehrter berücksichtigen müssen, die - wie z. B. die Staatsrechtier Conrad Bomhak und Georg Jellinek oder der Strafrechtler Franz von Liszt- sich in 69 Vgl. aus zeitgenössischer Sicht: Nippold, JöR 7 (1913), S. 24, 31. Aus moderner Sicht: Scupin, EPIL, Bd. 2 (1995), S. 198, der bei seiner Literaturübersicht auf die deutsche Sprache als Abgrenzungskriterium abstellt. Vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 6, der in seine Betrachtung der Geschichte des öffentlichen Rechts selbst nach 1919 Österreichische Autoren einbezieht. Er weist aber auch darauf hin, daß diese Einbeziehung ab 1919 schwieriger zu vertreten ist. M . E. gilt dies im Bereich der Völkerrechtswissenschaft vor allem für die Schweizer Gelehrten wie Huber oder Nippold, die aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit anders als die Österreichischen Kollegen nicht unmittelbar durch die Folgen der Pariser Vorortverträge betroffen waren. Gerade die gemeinsame Betroffenheit durch diese Friedensregelungen macht es andererseits durchaus plausibel, auch Österreichische Völkerrechtautoren wie Verdroß, Kunz oder Kelsen an geeigneter Stelle in die Untersuchung einzubeziehen. 70 Vgl. Schücking, Stand des völkerrechtlichen Unterrichts (1913), S. 379 ff.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auf andere Rechtsgebiete konzentrierten und eher gelegentlich auch zu völkerrechtlichen Themen Stellung nahmen. Ferner sind auch jene Nachwuchskräfte zu berücksichtigen, die sich durch Promotion bzw. Habilitation auf die akademische Karriere im Bereich des Völkerrechts vorbereiteten. Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist letzten Endes, ob die betreffenden Autoren die Ausgestaltung des internationalen Systems mit juristisch-normativen Ansatz behandelt haben und in diesem Sinne am wissenschaftlichen Diskurs teilnahmen. Nicht zum Kreis der Völkerrechtswissenschaft werden daher jene Autoren gezählt, die ohne juristischen Ansatz zu Fragen des internationalen Systems und der Weltpolitik Werke weltanschaulicher bzw. praktisch-politischer Art verfaßt haben, selbst wenn sie dabei zu Problemen, die wie die Schiedsgerichtsfrage auch für das Völkerrecht im eigentlichen Sinne von höchstem Interesse waren, intensiv Stellung nahmen. 71 Insbesondere werden die Schriften von ethisch-humanitär argumentierenden pazifistischen Persönlichkeiten wie Bertha von Suttner oder Otto Umfrid (1857-1920)72 nicht als Teil des i. e. S. völkerrechtlichen Diskurses aufgefaßt. Aber auch Fried, der den Pazifismus als Wissenschaft verstanden wissen wollte und nach Einschätzung Schückings73 von den Pazifisten dem Völkerrecht technisch am nächsten kam, kann nicht als Teilnehmer am eigentlichen völkerrechtlichen Diskurs verstanden werden: Er hat seine wissenschaftliche Betätigung selbst nicht als primär juristisch-normativ gesehen. Vielmehr bemühte er sich um eine ganzheitliebere Erfassung des Phänomens des internationalen Lebens74 und betrachtete den Pazifismus entsprechend als Zweig der sich in dieser Zeit gerade ausdifferenzierenden Soziologie.75 Ebenso wie die Nichtjuristen unter den Pazifi71 In diesem Sinne differenzierte bereits die Friedens-Warte, die in den Jahren nach 1910 in ihren monatlichen Literaturübersichten die eingegangenen Schriften u. a. in die Kategorien ,Jntemationale Politik" einerseits und "Völkerrecht" andererseits unterteilt. StierSomlo beschränkt in seinem Artikel über die Völkerrechts-Literaturgeschichte (1929) die Darstellung ebenfalls auf die spezifisch völkerrechtliche Literatur und bezieht die nach seinen Aussagen gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts in reichem Maße erschienenen "allgemeinen Traktate" nicht in die Betrachtung ein. Auch Fortuna (1974), S. 10, sieht in Völkerrecht und Pazifismus in der Vorkriegszeit grundsätzlich zwei distinkte Diskussionskreise. 72 Zu Urnfrid, vgl. Schücking, Otto Urnfrid (1920); Donat, in: Rajewski/Riesenberger (Hrsg.) [1987], S. 61 ff.; Grünewald(Hrsg.) [1992], S. 17. 73 Schücking, Bspr. AngeH (1911), schreibt, Fried sei ursprünglich ein völliger "outsider" gewesen, habe nunmehr aber eine "einzigartige Stellung" in der deutschen Völkerrechtswissenschaft gewonnen. 74 Fortuna (1974), S. II. 15 Fried war z. B. Mitglied der 1909 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie, vgl. Holl (1988), S. 78. Zur Geschichte der Soziologie, vgl. etwa vom Bruch, in: Schwabe (Hrsg.) [1988], S. 136.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

sten bleiben schließlich auch andere interessierte Personen aus der praktischen Politik außer Betracht, die wie etwa die deutschsprachigen Mitglieder der Interparlamentarischen Union oder konservative Politiker und Militärs, zwar gleichfalls feste Vorstellungen zu völkerrechtlichen Themen hatten, ihre Erwägungen aber nicht mit dogmatischen und normativen Erwägungen verbanden und daher nicht im eigentlichen Sinne arn wissenschaftlichen Diskurs über diese Probleme teilnahmen.

b) Schückings Beurteilung der wissenschaftlichen Grundhaltung seiner Zeitgenossen Schücking selbst zeichnete für den Beginn seiner intensiven Beschäftigung mit dem Problem des Ausbaus der internationalen Organisation, also die Jahre 1907/08, ein düsteres Bild vom Stand der Völkerrechtslehre in Deutschland. Die deutsche Völkerrechtswissenschaft sei durch die Vorherrschaft der historischen Schule76 und die verspätete Bildung des deutschen Nationalstaates77 in einen starken Rückstand gegenüber der Wissenschaft in den anderen Staaten geraten. Sie habe selbst das existierende positive Völkerrecht nur äußerst rudimentär behandelt und die rechtspolitische Erarbeitung von Zukunftskonzepten - Schücking nennt als Ausnahme nur den Namen und das Werk Bluntschlis- völlig dem Ausland überlassen.78 Vor allem sei auch zu tadeln, daß die deutsche Völkerrechtslehre sich in dieser Zeit in hochmütiger Weise von den Ideen der pazifistischen Bewegung hermetisch abgeriegelt habe. 79 Schücking fühlte sich nach eigenen Aussagen bei der Veröffentlichung seiner Vorarbeiten zur "Organisation der Welt" im Jahr 1907 unter den traditionellen Völkerrechtslehrern mit seinem Eintreten für eine methodische Neuorientierung noch wie ein "Prediger in der Wüste". 80 Zugleich konstatierte er, daß ab dieser Zeit ähnlich wie in der deutschen Staatsrechtslehre ein deutlicher Umschwung in der methodischen Grundausrichtung zu beobachten sei. Zumindest einige Völker76 Schücking, Organisation der Welt (1908), S. 7 und 62 ff.; ders., Bertha von Suttner (1914) s. 129 f. 77 Schücking, Kultur und Internationalismus (1910), S. 39. 78 Schücking, Neue Ziele des Völkerrechts (1907), Sp. 547; ders., Organisation der Welt (1908), S. 62 ff. Zu diesem Zustand der Stagnation auch Schücking, Allemagne et !es progres (1914), S. 422. 79 Schücking, Neue Ziele des Völkerrechts (1907), Sp. 547; ders., Idee der internationalen Organisation (1908), S. 3; ders., Besprechung Fried (1908), S. 325. 80 So Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. I ff.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

133

rechtslehrerhätten ihre Forschungstätigkeit stärker politisch-philosophisch ausgerichtet. Diese Neuorientierung habe zugleich bewirkt, daß auch die Ideen des Pazifismus von Teilen der traditionellen Völkerrechtslehre rezipiert worden seien und der Pazifismus einen festen Platz in der deutschen Völkerrechtswissenschaft habe einnehmen können.s' Schücking bezeichnete das Jahr 1907 wegen des Aufkommens einer "neuen Schule" des internationalen Rechts in Deutschland auch als "Meilenstein in der Geschichte der deutschen Völkerrechtswissenschaft". Er nahm für sich in Anspruch, parallel mit dem Bemer Professor Nippold, aber geistig unabhängig von diesem. Initialzünder für diesen epochalen Wechsel gewesen zu sein. 82 Bei aller Begeisterung für progressive Kollegen wie Nippold oder Wehberg mußte Schücking aber eingestehen, daß die beharrenden Kräfte der konservativen und traditionalistischen Völkerrechtler, die mit dem Pazifismus nichts zu tun haben wollten, nach wie vor sehr zahlreich waren und die universitäre Ausbildung im Bereich des Völkerrechts weiterhin nur schwach ausgeprägt war. 83 Schücking empfand seine minoritäre Position so stark, daß er sich noch 1912 als "einzigen Zukunftsjuristen" im Bereich der deutschen Völkerrechtswissenschaft bezeichnete. 84

c) Zur Frage der Völkerrechtspolitik Die Einschätzung Schückings, rechtspolitische Arbeiten seien in der deutschen Völkerrechtslehre vor dem Jahr 1907 nicht anzutreffen, ab 1907 sei aber verstärkt, angeregt auch durch ihn selbst, solche Aktivität anzutreffen, soll im folgenden einer kritischen Überprüfung unterzogen werden.

aa) Die Einstellung der Völkerrechtswissenschaft vor 1907 Der Stand der Forschung in der deutschen Völkerrechtswissenschaft wurde in der Zeit um die Jahrhundertwende von der eigenen Zunft als unbefriedigend

81 Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 1 ff.; ders., Al1emagne et les progres (1914), S. 424; ders., Völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges (1918), S. 10, Fn. 1. 82 Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 1 ff. ; ders. , Allemagne et !es progres (1914), s. 426 f. 83 Vgl. Schücking, Stand des völkerrechtlichen Unterrichts (1913), S. 379 f. 84 Schücking, Staatenverband vom Haag (1912), S. 8.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

empfunden. 85 Dieses Empfinden läßt sich objektiv durchaus nachvollziehen. Während das Angebot an völkerrechtlichen Gesamtdarstellungen und Lehrbüchern noch als einigermaßen befriedigend bezeichnet werden kann, 86 ist das Angebot an Periodika, die der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion ein Forum geboten hätten, im deutschsprachigen Raum nur mangelhaft entwickelt gewesen. Die wichtigsten völkerrechtlichen Publikationsorgane der Zeit erschienen im Ausland. 87 In Deutschland hingegen gab es keine wirklich auf das Völkerrecht spezialisierte Zeitschrift. Die Zeitschrift für internationales Privat- und öffentliches Recht setzte ihre Schwerpunkte, zumal in der Zeit vor 1907, eindeutig auf das internationale Privatrecht. 88 In Zeitschriften wie dem Archiv des öffentlichen Rechts, der Deutschen Juristenzeitung oder den Juristischen Literaturblättern erschienen nur sporadisch völkerrechtliche Artikel. 89 Schließlich war

85 Vgl. nur Schlief, AöR 8 (1893), S. 191, und AöR 14 (1899), S. 264; Preuß, AöR 9 (1894), S. 312; Heilborn (1896), S. 415; Heimburger, AöR 13 (1898), S. 606; von Ullmann, Völkerrecht (1898), S. 22 f.; Stoerk, AöR 15 (1900), S. 625. Für eine moderne Bewertung, die gleichfalls eine Unterentwicklung konstatiert, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 88 f. Das Völkerrecht sei in Deutschland ein akademisches Randgebiet gewesen, was u. a. auf die Verspätung des deutschen Nationalstaatlichkeit und den hier stark betonten Rechtspositivismus zurückzuführen sei. 86 V gl. die Übersicht der Gesamtdarstellungen bei Scupin, EPIL, Bd. 2 ( 1995), S. 786, der die Werke von Gareis (1888/1901), Heilborn (1896), von Ullmann (189811908), von Liszt (1898 ff.) und A. Zorn (1903/1913) als die verbreitetesten Lehrbücher nennt. Die gleiche Aufzählung findet sich auch bei Stier-Somlo, in: WVR, Bd. 3 (1929), S. 220. 87 Siehe Stoerk, Literaturübersicht 1884-1894 (1896), S. 34 ff. Zu nennen sind die Revue de droit international et de 1egislation comparee (seit 1869), die Revue du droit international prive et de lajurisprudence comparee (seit 1874), die Revuegenerale de droit international public (seit 1894). Vgl. zu den Zeitschriftengründungen in dieser Zeit, Hueck, in: Stolleis (Hrsg.), passim, sowie die Übersicht bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 397 f. 88 Im Zeitraum von 1890 bis 1906 erschienen in der ZIR außer zwei Artikeln von Roszkowski ( 1893 und 1895) an Beiträgen mit völkerrechtlichem Inhalt nur kurze Berichte von internationalen Konferenzen des Institut de droit international oder ähnlicher Organisationen. 89 In der Frühzeit des Bestehens des AöR (1885-1894) erschienen noch relativ viele völkerrechtliche Aufsätze. In den folgenden Jahren gab es pro Jahr selten mehr als einen Aufsatz mit völkerrechtlichem Inhalt. Einen gewissen Ausgleich fand dieser Mangel darin, daß jeweils eine Reihe von völkerrechtlichen Monographien im AöR rezensiert wurden und die Rezensenten diesen Raum nutzten, um ihre eigenen völkerrechtlichen Anschauungen kundzutun. Zum AöR, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 72 m. w. N. In der DJZ sind völkerrechtliche Beiträge ebenfalls nur sehr punktuell anzutreffen. Selbst diese Beiträge waren meist nur völkerrechtliche Anmerkungen zu aktuellen internationalen Ereignissen.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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auch die Zahl der in deutscher Sprache erscheinenden völkerrechtlichen Monographien recht gering. 90 Ganz überwiegend wurde der Mangel aber nicht wie von Schücking im Hinblick auf eine fehlende rechtspolitische Aktivität empfunden. Vielmehr galt dieses Empfinden dem Mangel an konstruktiv-dogmatischer Durcharbeitung des positivrechtlichen Stoffs, der gerade im Vergleich zum Zivilrecht als besonders gravierend empfunden wurde. In diesem Bereich sah man den Arbeitsauftrag für die Völkerrechtslehre.91 Eine rechtspolitische Aktivität der Völkerrechtslehrer wurde allenfalls im Rahmen der Regierungsdelegationen zu internationalen Konferenzen gutgeheißen.92 Ansonsten war man froh, daß in der Völkerrechtslehre nicht mehr wie früher in breit angelegten Arbeiten über Veränderungen der Strukturen des internationalen Systems nachgedacht wurde.93 Man sah nämlich insoweit die Gefahr, daß eine Vermischung von geltendem und gewünschtem Recht die Wissenschaftsqualität des Völkerrechts insgesamt in Frage stellen würde. Die bereits angesprochenen Arbeiten von Bluntschli wurden in dieser Hinsicht ausdrücklich als abschreckendes Negativbeispiel hervorgehoben.94 Ganz offensichtlich stand die Völkerrechtswissenschaft noch unter dem Eindruck, daß das Völkerrecht noch in jüngster Vergangenheit um seine Erkennung als wirkliches, positiv geltendes Recht hätte kämpfen müssen.95 Selbst diejenigen Wissenschaftler, die die Rechtspolitik grundsätzlich als Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft akzeptieren wollten, schlossen sie jedenfalls für die eigene Arbeit entschieden aus96 oder betonten vehement, daß stets das zu einem Zeitpunkt tatsächlich Mögliche im Vordergrund 90 Positiver aber Stoer/c, Literaturübersicht 1884-1894 (1896), S. 15, der von "unverkennbaren Fortschritten" spricht. Bei kritischer Durchsicht der Stoerkschen Zusammenstellung ergibt sich aber, daß ein Großteil der Monographien von nicht-deutseben Autoren stammte bzw. aus dem Gebiet des internationalen Privat- bzw. Verwaltungsrecht entnommen war, für unsere Zwecke also außer Betracht bleiben muß. 91 Heilborn (1896), S. 415-417; Stoerk, Literaturübersicht 1884-1894 (1896), S. 16. 92 Stoer/c, Literaturübersicht 1884-1894 (1896), S. 2 f. Vgl. mit der gleichen Auffassung: He.ffter-Gesscken (1888), Vorwort zur 7. Auflage; Resch (1885), S. VII f. 93 Vgl. Stoerk, Literaturübersicht 1884-1894 (1896), S. 16. Siehe auch ders. , AöR 15 (1900), s. 623 f. 94 He.ffter-Gesscken (1880),Vorwort zur7. Auflage; Resch (1885), S. VII f.; Stoerk, AöR 15 (1900), s. 623 f. 95 Zu den ,,Leugnern des Völkerrechts" von Liszt, 2. Auflage (1901), S. 6 ff.; Gareis (1887), S. 3 ff. Sie nennen vor allem Lasson, Lorimer, Westlake und Ph. Zorn. 96 Von Neumann (1885), S. 59 ff.; Gareis (1887), Vorwort, S. 4; von Liszt, 2. Aufl. (1902), S. VI. Im Hinblick auf das letztgenannte Zitat ist mir die Beurteilung von Chickering (1975), S. 144 f., von Liszt sei ein Vorkämpfer völkerrechtspolitischer Arbeit gewesen, mangels näherer Belege nicht ganz einsichtig.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

stehen müsse.97 Praktische Folge dieser theoretischen Grundhaltung war das weitestgehende Fehlen von Erwägungen zur Rechtsfortbildung in den o. a. Zeitschriften und Monographien. Dennoch kann Schückings durchgängig negativer Bewertung der deutschen Völkerrechtslehre im Hinblick auf völkerrechtspolitische Überlegungen in der Zeit vor dem Erscheinen seiner "Organisation der Welt" nicht in ihrer Absolutheil zugestimmt werden. Von den großen Lehrbuchautoren der damaligen Zeit bekannte sich etwa der baltische Völkerrechtsgelehrte August von Bulmerincq (1822-1890) ausdrücklich dazu, selbst an der Fortentwicklung des Völkerrechts mitarbeiten zu wollen. 98 Was die tatsächliche rechtspolitische Arbeit angeht, so existierten etwa im Bereich des Kriegsrechts verschiedene wissenschaftliche Überlegungen zur Rechtsfortbildung. 99 Und auch im Bereich des Friedensvölkerrechtes gab es schon vor 1907 auch Überlegungen zum weiteren Ausbau der Instrumente der friedlichen Streitbeilegung. Zu nennen ist Meurers ausführliches Werk "Die Ergebnisse der Haager Friedenskonferenzen", das sich zwar primär der Darstellung der Konferenzergebnisse widmete, daneben jedoch auch längere Ausführungen über wünschenswerte Veränderungen enthält. 100 Nicht vergessen werden dürfen die Schriften von Schückings akademischem Lehrer Ludwig von Bar. 101 Vereinzelt erörterten deutsche Völkerrechtswissenschaftler sogar die Möglichkeit grundlegender Strukturveränderungen im Völkerrecht. Neben dem völkerrechtlichen Werk Bluntschlis, den auch Schücking in diesem Zusammenhang nennt, ist vor allem auf die Arbeiten von Eugen Schlie/(1851-1912) 102 hinzuweisen. Schliefveröffentlichte schon 1892 unter dem Titel "Friede in Europa" eine sehr umfassende, von ihm selbst so genannte "völkerrechtlich-politische Studie". Er hielt ausdrücklich fest, daß er als Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft auch die aktive Mitarbeit an der Vervollkommnung des Völkerrechts ansehe.103 97 Slatin, AöR 6 (1891), S. 471 f.; von Ullmann, AöR 7 (1892), S. 304; Meissner (1900), S. 84. 98 von Bulmerincq (1889), S. 182. 99 Vgl. z. B . Roszkowski, ZIR 5 (1895), S. 249-255 ; Niemeyer, DJZ 10 (1905), S. 331-333, oder Meurer, Die Genfer Konvention und ihre Reform (1906). Siehe vor allem auch Schücking, Verwendung von Minen im Seekrieg (1906), passim. 100 Meurer, Die Haager Friedenskonferenzen (1905), S. 60. 101 Vgl. von Bar, RDILC 31 (1899), S. 464 ff.; ders., Annuaire de l'IDI 21 (1906), S. 462 ff. 102 Zu Schlief, vgl. Fried, FW 14 (1912), S. 54 ff.; Wehberg, Führer der Friedensbewegung (1923), S. 16 ff. 103 Vgl. Schlief, Friede in Buropa (1892), Vorwort, S. VII; aber auch ders., AöR 6 (1893), 189 ff.

s.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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Insgesamt ist Schückings Feststellung, die deutsche Völkerrechtswissenschaft habe die Erörterungen de lege ferenda in der Zeit vor der Zweiten Haager Friedenskonferenz stark vernachlässigt, jedenfalls der Tendenz nach richtig. Schükking war aber nicht der erste deutsche Völkerrechtslehrer, der die kategorische Selbstbeschränkung dieser Disziplin auf die dogmatische Untersuchung des geltenden Rechts aufgab und sich wieder Fragen der Rechtspolitik öffnete.

bb) Die Einstellung der Völkerrechtswissenschaft ab 1907 Blickt man auf die Einstellung der Völkerrechtswissenschaft zur Rechtspolitik ab dem Jahre 1907, fällt zunächst der Name des Rechtsphilosophen Jaseph Kahler ins Auge. In seiner Anfang 1907 ins Leben gerufenen Zeitschriftfür Völkerrecht bot er der Diskussion um mögliche Fortentwicklungen des Völkerrechts im deutschsprachigen Raum ein ganz neues Forum. Kahler bekannte sich im Vorwort zum ersten Jahrgang der Zeitschrift auch ganz explizit dazu, an der rechtspolitischen Entwicklung des Völkerrechts mitwirken zu wollen. 104 Eine ähnlich zentrale Figur war Otfried Nippald, der ebenfalls nachdrücklich dafür eintrat, die Rechtspolitik als legitime Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft zu begreifen, solange Erwägungen de lege lata und Erwägungen de lege ferenda nicht vermischt würden.105 Nippald zog - anders als ältere Autoren wie etwa von Bulmerincq - auch praktische Konsequenzen aus seinem Bekenntnis und betrieb, vor allem in seiner Anfang des Jahres 1907 erschienenen Schrift "Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten", selbst völkerrechtspolitische Arbeit. 106 Wie auch Schücking zugestand, begann Nippalds völkerrechtspolitische Tätigkeit somit zumindest zeitgleich mit derjenigen Schückings. Überzeugend erscheint der Erklärungsansatz Nippalds 107 für diese Koinzidenz: Die bevorstehende Zweite Haager Konferenz dürfte für beide Völkerrechtsautoren inspirierende Wirkung gehabt haben. Zur Abrundung des Kreises der Völkerrechtslehrer, die in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg rechtspolitischer Aktivität ausdrücklich positiv gegenüberstanden, sind der Schweizer Max Huber108 , Hans Wehberg und Schückings Schüler Vgl. Kahler, Einführung zur ZVR 1 (1907). Vgl. Nippold, ZVR 2 (1908), S. 472; ders., ZVR 3 (1909), S. 219 f.; ders., JöR 7 (1913), S. 22 und 24. 106 Nippold, Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten ( 1907), v. a. S. 59 ff. und 480 ff. 107 Nippold, JöR 7 (1913), S. 26. Mit dem gleichen Erklärungsansatz auch Chickering (1975), s. 147. 108 Vgl. Huber, JöR 4 (1910), S. 60. 104

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

Kurt Wolzendorffzu nennen. Die beiden letzteren betonten den Wert der Arbeit de legeferenda besonders und bezeichneten diese als "wahre Wissenschaft" bzw. "ernsteste wissenschaftliche Arbeit". 109 In der Zeit ab 1907 blieb es nicht bei theoretischen Bekenntnissen zur Völkerrechtspolitik. Verschiedene Autoren nahmen, sowohl in der jetzt mehr dem Völkerrecht geöffneten Zeitschrift für internationales Recht als auch in der neu gegründeten Zeitschrift für Völkerrecht und dem Jahrbuch des öffentlichen Rechts, zur Fortentwicklung des Kriegs-, vor allem des Seekriegsrechts Stellung. 110 Es erschienen ferner zahlreiche Aufsätze zu völlig neuen Rechts gebieten; 111 auch die Zahl von Äußerungen zur Frage der Fortbildung der Schiedsgerichtsbarkeit war recht groß. 112 In vielen dieser Aufsätze lag allerdings das Schwergewicht doch stark auf der Darstellung der Iex lata, der eher knapp gehaltene Ausführungen zur Wünschbarkeit einer weiteren Rechtsfortbildung angefügt wurden. Äußerungen zu Fragen einer grundlegenden Umgestaltung des Völkerrechts, wie sie Schücking beschäftigten, blieben auch nach 1907 die Ausnahme. 113 Neben den Gelehrten, die der Völkerrechtspolitik ausdrücklich wohlgesonnen waren, war eine ganze Reihe eher zurückhaltender Stimmen zu vernehmen, die den "Mainstream" der deutschen Völkerrechtswissenschaft bildeten. Als repräsentativ für diese Mehrheit können Äußerungen Pilotys gelten, der sich zwar nicht ausdrücklich gegen rechtspolitische Aktivitäten von Völkerrechtslehrern aus109 Wehberg, AöR 31 (1913), S. 608; ders., ZVR 8 (1914), S. 247 f.; Wolzendorff, AöR 32 (1914), S. 306. 110 Vgl. z. B. Liepmann, Seebeuterecht, ZIR 17 (1907), S. 303-354, v. a. S. 344 ff.; Posener, Kriegskonterbande, ZVR 2 (1908), S. 231-361, v. a. S. 360 f.; Wehberg, Seekriegsrecht und Schiedsgerichtsbarkeit, ZIR 19 (1909), S. 497-512, v. a. S. 510 ff.; Wetzstein, Die Seeminenfrage im Völkerrecht (1909), v. a. S. 35 f. 111 Oppenheim, Kanaltunnel und Völkerrecht, ZVR 2 (1908), S. 1-16, v. a. S. 3 f.; Schneeli, Radiotelegraphie und Völkerrecht (1908), z. B. S. 41 f.; Meili, Das Luftschiff im internen und im Völkerrecht (1908), v. a. S. 45 ff.; Grünwald, Das Luftschiff in völkerrechtlicher und strafrechtlicher Beziehung (1908), z. B. S. 25 ff.; Zitelmann, Luftschifffahrtsrecht, ZIR 19 (1909), S. 458-496; Kohler, Luftschiffahrtsrecht, ZVR 4 (1910), S. 588-594; Gargas, Völkerrechtliche Regelung der modernen Wanderungen, ZVR 5 (1911), s. 278-322. 112 von Ullmann, JöR 1 (1907), S. 82-136, v. a. S. 94 ff.; Huber, JöR 2 (1908), S. 470--649, v. a. S. 518 ff.; Zorn, ZfP 2 (1909), S. 321-370, v. a. S. 350 ff.; Wehberg, Ein internationaler Gerichtshof für Privatklagen (1911); von Bar, ZVR 7 (1913), S. 429-437; Kohler, ZVR 7 (1913), S. 113-133, v. a. S. 120 ff.; Meurer, ZVR 8 (1914), S. 1-47, v. a. s. 14 ff., 25 ff. 113 Vgl. aber Grosch (1912), v. a. S. 14, sowie die Ansätze bei W. Kaufmann, ZVR 2 (1908), S. 419 ff.; Huber, JöR 4 (1910), S. 56 ff.; Wehberg, FW 15 (1913), S. 139 ff., 178 ff.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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sprach, aber meinte, die Aufgabe des Völkerrechtswissenschaftlers sei eher die eines "stillen Gesellschafters", der die Staatenpraxis hauptsächlich zu begleiten habe. 114 In eine ähnliche Richtung gingen Äußerungen von Dungems, der auf eine "enge Anhindung an die Staatenpraxis" pochte. 115 Von Liszt war der Auffassung, die Völkerrechtslehre müsse aus den Rechtstatsachen ihre Folgerungen ziehen und sich den Rechtsveränderungen anpassen, während die eigentlichen Überlegungen zur Rechtsfortbildung den Regierungen zukämen. 116 Ebenfalls vorsichtiger äußerte sich Strupp. Er betonte den Wert sauberer dogmatischer Vorarbeiten für die rechtspolitischen Erörterungen und warnte nachdrücklich vor gut gemeinter Übereilung. 117 Schließlich gab es neben den aufgeführten, eher moderaten Stimmen aber auch nach 1907 noch Wissenschaftler, die der Rechtsfortbildung ausdrücklich ablehnend gegenüberstanden. Von diesen ist vor allem der junge Heinrich Pohl ( 1883-1931 ) 118 zu nennen. Er wollte, unter expliziter Berufung auf ältere Autoren wie Stoerk oder Heilbom, die Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft strikt auf die konstruktive Durchbildung der vorhandenen Rechtstatsachen beschränken. 119 Allerdings war Pohl in seiner Zeit doch schon eher eine isolierte Erscheinung, zurnal er anders als die Mehrheit der deutschen Völkerrechtler das Völkerrecht überhaupt nur als äußeres Staatsrecht ansah. Für ihn gab es über den Staaten stehendes- und damit nicht nationales- Recht, sondern nur ein Völkerrecht im Sinne eines Komplexes derjenigen Rechtssätze, die jeder einzelne Staat im internationalen Verkehr zu anderen Staaten gelten läßt. 120 Im Ergebnis wird man im Hinblick auf die Völkerrechtspolitik im großen und ganzen die Einschätzung Schückings teilen können: Das Jahr 1907 markiert einen Zeitpunkt, ab dem ein beachtlicher Teil der deutschen Völkerrechtswissenschaft die Mitwirkung an der Rechtsfortbildung als Aufgabe der Völkerrechtslehre zu begreifen begann. Schücking war in dieser Zeit mit seinem rechtspolitischen Engagement in methodischer Hinsicht also nicht isoliert, räumte der Rechtspolitik gegenüber der dogmatischen Durcharbeitung des Rechtsstoffes im Verhältnis zu Piloty, AöR 26 (1910), S. 402 f. von Dungem, ZIR 24 (1914), S. 17 f. 116 von Liszt, Wesen des völkerrechtlichen Staatenverbandes (1910), S. 24. 117 Strupp, Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit (1914), S. 89. Zu diesem Mainstream ist z. B. auch Zitelmann, ZIR 19 (1909), S. 463 f., zu zählen. 118 Zu ihm, vgl. Wehberg, FW 31 (1931), S. 144; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 198 und 262. 119 V gl. Pohl, ZIR 17 (1907), S. 5; ders., Deutsche Prisengerichtsbarkeit (1911), S. 9 f. 120 Pohl, Deutsche Prisengerichtsbarkeit (1911), S. 3 f. 114 115

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

anderen Autoren aber ein sehr viel größeres Gewicht ein. 121 Anzeichen dafür, daß Schückings Wirken für die Hinwendung zur Völkerrechtspolitik kausal war, lassen sich außer vielleicht in Randbereichen 122 nicht ausmachen. Abschließend sei darauf verwiesen, daß in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Rechtspolitik als Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft noch sehr viel stärkere Akzeptanz fand. Sie wurde - so kann man mit Fug und Recht behaupten - zum methodischen Allgemeingut der gesamten Disziplin. 123

d) Die Bedeutung des Pazifismus für die Völkerrechtswissenschaft124 Im folgenden soll Schückings Einschätzung verifiziert werden, daß pazifistisches Gedankengut, nicht zuletzt aufgrund seines eigenen Einflusses, ab 1907/08 einen festen Platz in der deutschen Völkerrechtswissenschaft habe einnehmen können.

aa) Einstellung der deutschen Völkerrechtswissenschaft vor 1907 Wie bereits oben gezeigt, war das geistige Klima der Wilhelminischen Gesellschaft von einer klaren Ablehnung der Ziele der Friedensbewegung geprägt. Krieg und Kriegsbereitschaft waren gesellschaftlich keineswegs negativ besetzte Begrif121 Vgl. Keiner (1976), S. 164 ff., vor allem S. 166, der zu einer ähnlichen Beurteilung gelangt. 122 Vgl. Laun, Internationale Meerengen (1918), S. 14-21, der darauf hinweist, daß Schückings Aufsatz "Die Verwendung von Minen im Seekrieg" von 1906 Anstoß für zahlreiche Dissertationsbemühungen jüngerer Autoren gewesen ist. 123 Bezeichnend etwa Niemeyer, DJZ 25 (1920), S. 732; ders., Rechtspolitische Grundlegung (1923), S. 23, oder Kraus, Gedanken über Staatsethos (1925), S. 2. In diesen Zusammenhang gehört auch, daß sich in Deutschland die Gesellschaft für Völkerrecht (DGV) als ausdrücklich rechtspolitisch orientierte Organisation erst 1917 konstituierte, vgl. zu der methodischen Orientierung der DGV z. B. Kraus, Mitt. DGV 11 (1930), S. 6, sowie eine Rede des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden Christian Meurer auf der ersten Jahresversammlung der DGV am 5.10.1917, abgedruckt in: Mitt. DGV 1 (1918), S. 14. "Die wichtigste Aufgabe der Völkerrechtswissenschaft liegt .. . auf dem Gebiet der Fortbildung des Völkerrechts." 124 Zu Pazifismus und akademischer Welt im Wilhelminischen Deutschland allgemein, z. B. Chickering (1975), S. 135 ff.; vom Bruch, in: Dülffer/Holl (Hrsg.) [ 1986], passim, die sich insbesondere mit Historikern, Nationalökonomen, Philosophen und Soziologen auseinandersetzen.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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fe. 125 Auch die deutsche Völkerrechtswissenschaft grenzte sich um die Jahrhundertwende streng gegenüber den "Friedensfreunden" ab. Dies geschah allerdings nur zum Teil mit abfälligen, für den heutigen Leser überzogen wirkenden Äußerungen, die die Pazifisten als geistig nicht für voll zu nehmende "Schwärmer und Romanschriftstellerinnen" diffamierten. 126 Repräsentativer für die Haltung der deutschen Völkerrechtswissenschaft erscheinen moderatere Töne, die ohne haltlose Polemik und übertrieben militaristischen Duktus gegen die Pazifisten argumentierten. In der Sache schotteten sich aber auch diese gemäßigteren Völkerrechtslehrer ganz eindeutig gegen die als völlig utopisch empfundenen Ideen der Friedensbewegung ab. 127 Eine interessante Rolle in der Geschichte der Beziehungen von Pazifismus und Völkerrechtswissenschaft im Deutschland der Nach-Bismarck-Ära spielte derbereits erwähnte Dresdener Rechtsanwalt Eugen Schlief Er vertrat in seinen Schriften fortschrittliche Ideen, die den Gedankengängen der Friedensbewegung inhaltlich eigentlich sehr nahe standen. Schlief war aus diesem Grund auch eine der ersten Persönlichkeiten, an die sich Fried im Jahr 1892 im Zuge seiner Bemühungen um die Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft mit der Bitte um Unterstützung wandte. 128 Schlief gehörte unmittelbar nach der Gründung zum Vorstand 125 Charakteristisch für diese Geisteshaltung im wilhelminischen Deutschland, z. B. eine - wenngleich etwas ältere - Äußerung von Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke in einem Brief vom 11.12.1880 an Bluntschli (vgl. Bluntschli, Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, Bd. 5, S. 194): "Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm [dem Krieg] entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen[ ... ]. Ohne Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen." Auch in den Jahren um 1907lebten diese Anschauungen unverändert fort. So schrieb Steinmetz in seiner ,,Philosophie des Krieges" (1907), S. 163 ff.: "Ich habe mich immer über die häßliche, die grausame Kühnheit dieser Friedensschwärmer gewundert, die mit ihren Zukunftsträumen die Vergangenheit zum dämonischen, entsetzlichen Irrsinn stempeln." Bereits im Jahr zuvor hatte auch der Philosoph Alfred Lasson sein dreißig Jahre altes Werk "Kulturideal des Krieges" erneut veröffentlicht, vgl. FW 8 (1906), S. 98. Wehberg, FW 29 (1929), S. 234 ff.- das Schlußkapitel eines Gutachtens, das Wehberg für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß, in dem Schücking als Mitglied eine wichtige Rolle einnahm, erstellte - verweist u. a. auf die Ablehnung, mit der man in der deutschen Öffentlichkeit im allgemeinen den Interparlamentarischen Kongressen und - noch viel stärker- den Weltfriedenskongressen entgegentrat, selbst als diese 1908 in Deutschland (Berlin bzw. München) ausgerichtet wurden. 126 So mit besonders deutlieben Worten Lueder, in: Handbuch des Völkerrechts, Bd. 4 (1889), S. 176, 195 ff., 200; von Stenge/, AöR 15 (1900), S. 197. 127 Vgl. von Holtzendorff(l882), S. 48; G. Jellinek, Die Zukunft des Krieges (1890), S. 517 ff.; Preuß, AöR 9 (1894), S. 312; Meissner (1900), S. 84. Deutlieb ablehnend gegenüberden Pazifisten zurdamaligen Zeit auch noch: Lammasch, ZIR 11 (1901), S. 23. 128 Fried, FW 14 (1912), S. 55; Wehberg, Führer der Friedensbewegung (1923), S. 18.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

der DFG129, konnte sich aber mit seiner Konzeption der Gesellschaft als einer auf den parlamentarischen Raum ausgerichteten Lobbyorganisation für den Schiedsgerichtsgedanken nicht durchsetzen. 130 Schlief widerstrebte zudem die einseitig humanitär-moralische Ausrichtung des Pazifismus nach der Art Bertha von Suttners, die zu diesem Zeitpunkt in der deutschen Friedensbewegung noch bestimmend war. 131 Diese Ausprägung der Friedensbewegung war dem Juristen Schlief zu träumerisch und realitätsfem, die Argumentation der "sich besonders breitmachenden menschenfreundlichen Weltverbesserer" zu "dilettantenhaft", 132 so daß er sich schon 1893 wieder aus der DFG zurückzog.133 Auch nach dem ideologischen Wandel in der deutschen Friedensbewegung zu Beginn des Jahrhunderts, wie er etwa durch Frieds wissenschaftlichen Pazifismus verkörpert wird, richtete Schliefnoch harsche Kritik an die Adresse der Friedensbewegung.134 Er attackierte den "verschwommenen Kosmopolitismus", die ,,regen Phantastereien", die innerhalb der Friedensbewegung immer noch zu viel Raum einnähmen. 135 Es gebe zu viele "Friedensästhetiker", die einem nicht mit intellektuellen Anstrengungen verbundenen Idealismus huldigten. 136 An die Stelle der "verstiegenen unhistorischen Phantasien naiver Weltverbesserer" müßten die wirklich sachverständigen Köpfe der Friedensbewegung ein technisch präzises, realisierbares Programm setzen, 137 da auch die Ergebnislosigkeit der Haager Konferenzen auf diesen Mangel der Friedensbewegung und deren "heillose Uneinigkeit" zurückzuführen sei. 138 In methodischer Hinsicht empfahl der Jurist Schlief eine strikte Trennung von pazifistischer Technik, d. h. Wissenschaft und Theorie, und pazifistischer, an die breite Öffentlichkeit gerichteter Agitation. 139 Insgesamt kann Schlief aber trotz seines zum Teil sehr aggressiven Umgangs mit weiten 129 Vgl. den Aufruf der DFG: ,,An das deutsche Volk!", abgedruckt bei Benz (Hrsg.), S. 63 ff. (65); siehe auch Grünewald, in: ders. (Hrsg.) [ 1992], S. 20 f. 130 Wehberg, Führer der Friedensbewegung (1923), S. 18; Chickering (1975), S. 48 f.; Scheer (1981), S. 45 f.; Holl (1988), S. 44 f.; Grünewald, in: ders. (Hrsg.) [1992], S. 13. 131 Vgl. Scheer(198I), S. 85. 132 Schlief, AöR 14 (1899), S. 260. 133 Vgl. Chickering (1975), S. 93 m. w. N., sowie S. 417. 134 Fried, FW 11 (1909), S. 25, wirft ihm in dieser Hinsicht eine zu undifferenzierte Sichtweise vor und meint, Schlief habe die entscheidende Wendung, die der revolutionäre oder wissenschaftliche Pazifismus bedeute, nicht voll rezipiert. 135 Schlief, FW 8 (1906), S. 45. 136 Schlief, FW 9 (1907), S. 44. 137 Schlief, FW 10 (1908), S. 7 f. 138 Schlief, FW 9 (1907), S. 45; ders. , FW 10 (1908), S. 6. 139 Schlief, FW 10 (1908), S. 27 f.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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Teilen der Friedensbewegung und seiner oft demonstrativ zur Schau getragenen Distanzierung vom organisierten Pazifismus 140 als früher Protagonist eines realistischeren, juristisch fundierten Pazifismus oder - anders gewendet - eines sich aktiv mit dem Pazifismus auseinandersetzenden und den Pazifismus als Quelle von Anregungen begreifenden Völkerrechts angesehen werden. 141 Bei genauerer Betrachtung kann man auch im übrigen schon vor dem von Schücking genannten Jahr 1907 beobachten, daß die starre Abwehrhaltung der deutschen Völkerrechtswissenschaft gegenüber dem Pazifismus aufgeweicht wurde.142 So gelangteMeurer 1905 in seinem bereits erwähnten Werk über die Erste Haager Friedenskonferenz zu einer sehr sachlichen Auseinandersetzung mit den pazifistischen Bestrebungen und zu einer Würdigung der Verdienste der Friedensbewegung auf der Haager Konferenz. 143 Selbst wenn Niemeyer noch vor einer Verschmelzung von Völkerrechtswissenschaft und Pazifismus warnte, seine positive Haltung gegenüber dem Pazifismus somit nicht die gleiche Intensität wie bei Schücking erreichte, bleibt bemerkenswert, daß auch Niemeyer sich bereits 1905 positiv zu den Bestrebungen der Friedensbewegung äußerte und meinte, diese verdienten "ernsteste Beachtung". 144 140 Fried, FW 14 (1912), S. 55 f., berichtet davon, daß er auch bei der Gründung des Verbands für internationale Verständigung zunächst auf die Hilfe Schliefs zurückgreifen wollte. Da dieser aber wiederum mit seiner ganz speziellen, von ihm mit großer Hartnäckigkeit verfolgten Konzeption der internationalen Verständigung nicht durchdringen konnte, erfolgte die Verbandsgründung schließlich ohne das Zutun von Schlief. Vgl. auch Wehberg, Führer der Friedensbewegung (1923), S. 16, der davon spricht, Schlief habe wahrhaft pazifistisch gedacht, wenn er sich auch äußerlich nicht der Friedensbewegung zurechnete. 141 Diese Einschätzung teilen auch Scheer (1981), S. 45, und Riesenberger, in: Rajewski/Riesenberger (Hrsg.) [1987], S. 55, sowie Wehberg, Führer der Friedensbewegung (1923), S. 19, der von "dem" Vorläufer der völkerrechtliche pazifistischen Schule spricht. 142 Vgl. in diesem Sinne Fried, FW 8 (1906), S. 88: "Seit langem vollzieht sich ein Einstellungswandel [gegenüber dem Pazifismus] in der deutschen Völkerrechtswissenschaft." Siehe auch Fleischmann (1909), S. 17, der auf den schon in den Jahren vor 1907 in der Völkerrechtslehre zu beobachtenden Trend zu mehr Offenheit gegenüber dem Pazifismus hinweist und in diesem Zusammenhang neben Meurer und Niemeyer auch von Liszt und Lammasch nennt. Dem entspricht die, allerdings nicht durch ausführliche Belege unterstützte, Wertung von Hol/ (1988), S. 78, der meint, nach der Ersten Haager Konferenz sei es in der deutschen Völkerrechtswissenschaft zu einer breiteren, intensiveren Diskussion gekommen. Neben den "z. T. pazifistisch argumentierenden" von Liszt, G. Jellinek und von Bar seien auch Niemeyer, Zorn, Nippold und Meurer zu einer gerechteren Würdigung des Pazifismus gelangt. Auf die pazifistischen Tendenzen bei von Bar, vor allem in seiner Schrift über den Burenkrieg aus dem Jahr 1900, weist auch Wehberg, Die Führer der Friedensbewegung (1923), S. 34 ff., hin. 143 Meurer, Die Ergebnisse der Haager Friedenskonferenz ( 1905), § 1. 144 Niemeyer, ZIR 15 (1905), S. 509.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

bb) Einstellung der deutschen Völkerrechtswissenschaft zwischen 1907 und 1914

Auch in der Zeit nach 1907, also nach der Zweiten Haager Friedenskonferenz, hielt eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Völkerrechtswissenschaftlern die Ideen des Pazifismus noch für äußerst gefährlich. Diese Gelehrten mochten die Zurückdrängung des Krieges nicht als Paradigma für die Fortbildung des Völkerrechts akzeptieren. Zu nennen ist vor allem der Münchener Professor Kar/ von Stenge/, der von den Pazifisten selbst als "größter Gegner" betrachtet wurde. 145 1908 begründete er in"Weltstaat und Friedensproblem" sein Eintreten für ein Zurückdrängen pazifistischen Gedankengutes in Völkerrechtslehre und öffentlicher Meinung. Vom nationalen Standpunkt sei ein zunehmender pazifistischer Einfluß auf die Politik gefährlich, weil er die deutsche Verteidigungsfähigkeit schwäche. Die Pazifisten hätten zudem ein völlig falsches Menschenbild, wenn sie an die Brüderlichkeit zwischen Menschen aus verschiedenen Völkern glaubten, weil der Selbsterhaltungstrieb der einzelnen Völker viel stärker sei. Wenn die Pazifisten dennoch von dieser Brüderlichkeit sprächen, seien das "lächerliche Tiraden". 146 Neben Stenge/ wollten sich auch andere Autoren wie der Berliner Conrad Bomhak141, Heinrich Poh/ 148 , Kar/ Mehrmann 149, Friedrich Giese (1882-1956) 150 und 145 Wehberg, FW 15 (1913), S. 290. Die Reaktion der Pazifisten auf von Stenge! war gleichfalls sehr heftig. Vgl. etwa Fried, FW 11 (1909), S. 148 ff. (,.lächerliche Argumente", ,.Minderwertigkeit der Argumentation", ,.gefährlicher Brandstifter"). Vgl. auch Novicow, FW 11 (1909), S. 151 ff., und Umfrid (1909), passim. Zu Umfrids Kritik an von Stenge!, vgl. auch Donat, in: Rajewski/Riesenberger (Hrsg.) [1987], S. 65 f. Zu von Stenge! vgl. auch Chickering (1975), S. 393 ff. Vom Bruch, in: Dülffer/Holl (Hrsg.) [1986], S. 81, bescheinigt von Stenge! geistige Nähe zum Gedankengut der Alldeutschen. 146 von Stenge[, Weltstaat und Friedensproblem (1908), S. 25-27. 147 In einem Leserbrief an die Friedenswarte schreibt Bomhak (FW 10 [1908], S. 35), daß die Pazifisten das ,.hohe Kulturniveau" des Krieges völlig mißachteten und ihre Schriften, besonders die Friedenswarte, einen zutiefst undeutschen Inhalt hätten. In der FW 14 (1912), S. 109, meint er die Friedensbewegung sei eine ,.psychopathische Erscheinung". Chickering (1975), S. 393, bezeichnet Bornhak als einen der entschiedensten Gegner des Pazifismus unter den deutschen Wissenschaftlern. Im Weltkrieg erstattete Bornhak als Staatsrechtier ein Gutachten zugunsten des Rechts der Alldeutschen auf freie Meinungsäußerung, vgl. Kruck (1954), S. 74. 148 Ebers, ZfP 8 (1915), S. 275, bezeichnet ihn als einen der entschiedensten Gegner pazifistischer Bestrebungen. Wehberg, FW 14 (1912), S. 77, nennt ihn einen ,.Reaktionär von der Art von Stengels". 149 Vgl. auch Mehnnann, ZIR 23 (1913), S. 161. 150 Giese, Literarisches Zentralblatt vom 21.9 .1912, leugnete jeden Zusammenhang zwisehen Friedensbewegung und Völkerrecht und bezeichnete sich selbst als ,.entschiedenen Gegner der Friedensbewegung", vgl. Giese, FW 15 (1913), S. 453 f. Zu Giese vgl. auch Stolleis, in: Juristen an der Universität Frankfurt/Main, S. 117 ff.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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Erich Kaufmann 151 in ihrer völkerrechtlichen Arbeit keinesfalls mit den Pazifisten und ihrer ,,Menschenverbrüderungssentimentalität" anfreunden.

Demgegenüber ließen ab ca. 1907, dem Jahr der Zweiten Haager Konferenz, wohl auch unter dem Eindruck der praktischen Erfolge der genuin pazifistischen Schiedsgerichtsidee in der politischen Praxis, eine ganze Reihe weiterer Autoren ihre Sympathien für den Pazifismus, und zwar den Pazifismus rational-realistischer, mithin Friedscher Prägung deutlich erkennen und setzen insoweit die zuvor bereits u. a. beiMeurer und Niemeyer beobachtete Entwicklung fort. Offenbar lieferte ihnen der Ansatz Frieds eine plausible soziologische Fundierung des Völkerrechts und war daher ungleich akzeptabler als die Gedanken der rein ethisch-humanitär argumentierenden Friedensbewegung früherer Provenienz. 152 Neben Schücking bekannte sich Wehberg amrückhaltlosesten zum Pazifismus. Wehberg betonte regelmäßig, welche wertvollen Anregungen der Pazifismus der Völkerrechtswissenschaft liefere. 153 Von ihm stammt auch die These, "die deutsche Völkerrechtswissenschaft müsse in Zukunft pazifistisch sein, sonst werde sie gar nicht sein. 154 An anderer Stelle relativierte er diese radikale Aussage allerdings, indem er ausdrücklich herausstellte, daß bei aller Wertschätzung Völkerrechtswissenschaft und Pazifismus völlig unterschiedliche Aufgaben hätten und beider Vermischung nicht ratsam sei. 155 Sehr positiv äußerte sich zum Pazifismus in dieser Zeit auch Kohler, der allerdings nicht zu differenzierteren Aussagen zum Verhältnis von Pazifismus und Völkerrecht gelangte.156 Ausdrückliche Anerkennung zollte den Verdiensten der Friedensbewegung um die Fortentwicklung des Völkerrechts auch Strupp. Er nannte die Anregungen der Pazifisten "stimulierend", erkannte insoweit also eine gewisse Schrittmacherfunktion der Friedensbewegung an, ohne aber - wie Schücking - die Einbeziehung pazifistischen Ge151 Zum "bellizistischen Denken" Erich Kaufmanns, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1999), S. 88. 152 Vgl. Chickering (1975), S. 145 f. 153 Wehberg, ZVR 6 (1912), S. 237; ders., ZVR 7 (1913), S. 422 bzw. S. 609; ders., ZVR 8 (1914), S. 250. Zu Wehbergs Einstellung zum Pazifismus vgl. auch Keiner (1976), S. 42 ff., 171 ff. ; Chickering (1975), S. 147 f. 154 Wehberg, FW 14 (1912), S. 326; ders., AöR 31 (1913), S. 608. Eine Kritik dieser Äußerung findet sich bei Nippold, JöR 7 (1913), S. 32 ff. 155 Wehberg, AöR 31 (1913), S. 608. 156 Kohler, ZVR 4 (1910), S. 13; ders., ZVR 6 (1912), S. 103 ff. und 276. Vgl. außerdem den Brief Koh1ers an Schücking vom 19.11.1912, NL Schücking I, Nr. 18/3: "Meine Zeitschrift (die ZVR, Anm. d. Verf.) bewegt sich ganz im Fahrwasser des Pazifismus." Kohler war in der Gründungszeit 1892 ähnlich wie Schlief in der DFG aktiv, zog sich aber schon Anfang 1893 wieder aus dem organisierten Pazifismus zurück, vgl. Scheer (1981 ), S. 48; Holl (1988), S. 44 f.

10 Bodendiek

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

dankenguts in die Arbeit des Völkerrechtswissenschaftlers zu einem regelrechten methodischen Postulat zu machen. 157 Ganz ähnlich ist die Einstellung Fleischmanns, der darauf hinwies, daß pazifistische Organe wie die ,,Friedens-Warte" im Verhältnis zur Völkerrechtswissenschaft die Aufgabe übemonunen hätten, Anregungen zu geben und Materialien bereit zu legen, und so der Völkerrechtswissenschaft einen wertvollen Dienst leisteten. 158 Daß die Annäherung der Völkerrechtslehre an den Pazifismus zu recht erfolge, meint auch JosefG. Ebers ( 188(}...1958). 159 Nach seiner Auffassung hatte die Friedensbewegung, vor allem in Form der Friedschen Richtung, Anspruch darauf, endlich wissenschaftlich gewürdigt zu werden.160 Der bereits im Zusammenhang mit der Frage der Völkerrechtspolitik erwähnte Otfried Nippold erkannte in den Jahren ab 1907 die positive Leistung des Pazifismus ebenfalls eindeutig an. 161 Er nahm für sich selbst sogar in Anspruch, den Pazifismus in Deutschland hoffähig gemacht zu haben, stritt sich also mit Schükking insoweit um die Vorreiterrolle bei der Öffnung der Völkerrechtswissenschaft zum Pazifismus. 162 Nippold hielt andererseits aber auch sehr viel deutlicher als Schücking Distanz zu den Pazifisten, indem er eine eindeutige Aufgabentrennung zwischen Völkerrechtswissenschaft und Pazifismus postulierte. Er wollte dem Pazifismus Friedscher Prägung keinen Wissenschaftscharakter zugestehen, ihn vielmehr auf eine vor allem propagandistische Tätigkeit festlegen, während er umgekehrt der Völkerrechtswissenschaft ein streng objektives Vorgehen empfahl, das die Ideen des Pazifismus unvoreingenommen prüft, dabei aber den eigenständigen Charakter der Völkerrechtswissenschaft wahrt. 163 1s1 Strupp, Das internationale Schiedsgericht (1914), S. 5 bzw. 26. Strupp hörte in Marburg auch bei Schücking Vorlesungen, was erklärt, daß er ihn auch Jahrzehnte später noch als seinen "verehrten Lehrer" anredete, vgl. Brief Strupps an Schücking vom 29.3.1932, Akten IIR, A lOa, BI. 36 ff., NL Schücking II, Nr. V/1. Iss Fleischmann, FW 10 (1908), S. 5, sowie ders., Weltfrieden und Gesandschaftsrecht (1909), S. 20 f., wo er die Friedens-Warte ein "großes Kulturzentrum", eine ,,Lichtgestalt", ein ,,leuchtendes Idol" nennt. " 9 Zu Ebers, vgl. Ermacora, AöR 83 (1958), S. 369 ff. 160 Ebers, ZfP 8 (1915), S. 266. 161 Nippold nahm z. B. an der Dritten Deutschen Friedenskonferenz 19 I 0 teil, vgl. FW 12 (1910), S. I 16. Vgl. zu Nippold auch Quidde, Pazifismus in Deutschland (1941), Fn. 138 m. w. N. 162 Nippold, JöR 7 (1913), S. 31. Fried, FW 9 (1907), S. 2, erkannte die Vorreiterrolle Nippolds an. Er feierte Nippolds "Die Fortbildung des völkerrechtlichen Verfahrens" ( 1907) als epochales Ereignis. 163 Nippold, JöR 7 (1913), S. 32-35; zur Vorsicht mahnend auch ders., ZIR 18 (1908), S. 293; ders., ZVR 7 (1913), S. 306 f., sowie in einem Briefan Wehberg vom 11.3.1910, NL Wehberg, Nr. 67.

A. Das wissenschaftliche Selbstverständnis Schückings

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Nippolds zwar für die Inhalte des Pazifismus offenere und verständnisvollere, aber zugleich auf Distanz zum methodischen Vorgehen des Pazifismus bedachte Haltung ist bezeichnend für die Mehrheit der deutschsprachigen Völkerrechtswissenschaftler in den Jahren zwischen 1907 und 1914. In diesen Kontext sind auch Äußerungen des Schweizers Max Huber einzuordnen, man müsse den Pazifismus "verstehen und respektieren". 164 Auch Gelehrte wie Philipp Zorn, die zu Zeiten der Ersten Haager Friedenskonferenz dem Pazifismus noch eindeutig ablehnend gegenüber standen, nahmen nunmehr die Haltung ein, daß man den Pazifismus nicht lächerlich machen dürfe, weil er sich durchaus Verdienste um die Rechtsfortbildung erworben habe, warnen aber zugleich immer wieder vor den zu sehr von einer starken Phantasie geprägten Ideen der Pazifisten.165 Verschiedene Belege stützen die These, daß ein vorsichtiges Zugehen auf die vorher in einer Pariastellung befindlichen Pazifisten unter gleichzeitiger W ahrung einer gewissen Distanz charakteristisch für die Haltung der meisten deutschen Völkerrechtler ist: 166 So kann zunächst auf die Antworten verwiesen werden, die eine Reihe von Völkerrechtslehrern auf eine Umfrage der "Friedens-Warte" aus dem Jahr 1907 nach der Einschätzung der Rolle und Bedeutung der "Friedens-Warte" gegeben haben. 167 In dieser begrüßten die Wissenschaftler die allgemeine Tendenz zur internationalen Verständigung. 168 Sie lobten insbesondere die hervorragenden Leistungen und Verdienste der "Friedens-Warte", 169 äußerten aber zumeist gleichzeitig deutlich ihre Skepsis gegenüber einer zu vollständigen Identifizierung mit der pazifistischen Bewegung

164 Huber, AöR 23 (1908), S. 317. 165 Zorn, ZfP 2 (1909), S. 321,328,330,345,354, 361; ders., Das Deutsche Reich und

die internationale Schiedsgerichtsbarkeit (1911 ), S. 10, 11, 12, 16. Zorns Stimmungswandel wurde in den pazifistischen Organen sehr aufmerksam beobachtet, vgl. Fried, FW 10 (1908), S. 233; ders., FW 11 (1909), S. 128-130; ders., FW 12 (1910), S. 107 f. Wehberg, FW 13 ( 1911 ), S. 139 ff. Gerade im letztgenannten Aufsatz wird aber deutlich, daß der von den Pazifisten begrüßten Annäherung Zorns an ihre Ideen sehr enge Grenzen gesetzt waren. Vgl. ferner für eine solche restriktive Haltung W. Kaufmann, ZVR 2 (1908), S. 424; Niemeyer, ZIR 20 (1910), S. 9, darin schon fast zurückhaltender als in seinen positiven Äußerungen von 1905. Charakteristisch auch Lammasch, ZVR 8 (1914), S. 48. 166 Ich meine deshalb, daß die Einschätzung Chickerings (1975), S. 148, der Einfluß auf die deutsche Völkerrechtswissenschaft sei beeindruckend gewesen, zumindest modifiziert werden muß. 167 FW 9 (1907), S. 221-226. Dazu: Porsch, FW 74 (1999), S. 51. 168 V gl. insbesondere die Äußerungen von Jellinek, Laband, von Bar. 169 Vgl. insbesondere die Äußerungen von Larnrnasch, Nippold, von Liszt, von Bar.

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2. Kap.: Schückings Konzeption der internationalen Ordnung

bzw. betonten die Unterschiede zwischen Völkerrechtswissenschaft und Friedensbewegung. 170 Daß eine wirkliche Aufhebung der Distanz zwischen Völkerrechtswissenschaft und Pazifismus nicht auf breiter Front erfolgte, zeigt auch ein Blick auf die Veröffentlichungstätigkeit zu Problemen der internationalen Ordnung. So berichtete etwa die "Friedens-Warte" in den Jahren nach 1907 akribisch über dem Pazifismus wohlwollende literarische Äußerungen von Völkerrechtslehrem171 und konstatierte zunächst immer regere Wechselbeziehungen. 172 Bei unvoreingenommener Betrachtung ergibt sich aber, daß neben Schücking und Schlief13 nur noch Wehberg114 und Grosch 115 in größerem Stil in pazifistischen Fachorganen publiziert haben, während daneben nur jeweils sehr vereinzelte Äußerungen von Huber176 , von Bar171 , Strupp 118 und Piloty 119 in den Zeitschriften der Friedensbewegung erschienen. Umgekehrt kam es auch nicht zu Veröffentlichungen fachfremder pazifistischer Autoren in den völkerrechtlichen Fachzeitschriften. 180

170 Vgl. die Äußerungen von Jellinek, Zorn, von Bar. Hinzuweisen ist im übrigen auf weitere Umfragen, FW 10 (1908), S. 5 ff. bzw. 66 ff., FW 13 (I9II), S. I ff. 171 Inhaltsangaben der Aufsätze von VIImann (FW IO [I908], S. 190 f.), Niemeyer (FW 11 [1909], S. liO ff.), lAmmasch (FW 11 [1909], S. 158 f.), 'Z