Wahrnehmungen des Nationalsozialismus: NS-Jugendtagebücher – KZ-Ärzte – Entnazifizierungsdiskurse unter „Ehemaligen“ [1 ed.] 9783737011365, 9783847110798, 9783847111368

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Wahrnehmungen des Nationalsozialismus: NS-Jugendtagebücher – KZ-Ärzte – Entnazifizierungsdiskurse unter „Ehemaligen“ [1 ed.]
 9783737011365, 9783847110798, 9783847111368

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ZEITGESCHICHTE

Ehrenpräsidentin: em. Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl († 2014) Herausgeber: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Redaktion: em. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Ardelt (Linz), ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Ingrid Bauer (Salzburg/ Wien), SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler (Innsbruck), Dr.in Lucile Dreidemy (Wien), Dr.in Linda Erker (Wien), Prof. Dr. Michael Gehler (Hildesheim), ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Robert Hoffmann (Salzburg), ao. Univ.-Prof. Dr. Michael John / Koordination (Linz), Assoz. Prof.in Dr.in Birgit Kirchmayr (Linz), Dr. Oliver Kühschelm (Wien), Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler (Linz), Dr.in Ina Markova (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Mueller (Wien), Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz (Wien), Univ.-Prof. Dr. Dieter Pohl (Klagenfurt), Univ.-Prof. Dr.in Margit Reiter (Salzburg), Dr.in Lisa Rettl (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Innsbruck), Mag.a Adina Seeger (Wien), Ass.-Prof. Mag. Dr. Valentin Sima (Klagenfurt), Prof.in Dr.in Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main), Dr. Christian H. Stifter / Rezensionsteil (Wien), Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in Heidemarie Uhl (Wien), Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS (Vorarlberg), Mag. Dr. Florian Wenninger (Wien), Assoz.-Prof.in Mag.a Dr.in Heidrun Zettelbauer (Graz). Peer-Review Committee (2018–2020): Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Tina Bahovec (Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Arnd Bauerkämper (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin), Günter Bischof, Ph.D. (Center Austria, University of New Orleans), Dr.in Regina Fritz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Historisches Institut, Universität Bern), ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Univ.-Prof. i. R. Dr. Hanns Haas (Universität Salzburg), Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch (Salzburg), Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Doz. Dr. Hans Heiss (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Robert G. Knight, Ph.D. (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University), Dr.in Jill Lewis (University of Wales, Swansea), Prof. Dr. Oto Luthar (Slowenische Akademie der Wissenschaften, Ljubljana), Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien), Mag. Dr. Peter Pirker (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Prof. Dr. Markus Reisenleitner (Department of Humanities, York University, Toronto), Dr.in Elisabeth Röhrlich (Institut für Geschichte, Universität Wien), ao. Univ.-Prof.in Dr.in Karin M. Schmidlechner-Lienhart (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Wien), Assoc.-Prof. Dr. Gerald Steinacher (University of Nebraska), Assoz.-Prof. DDr. Werner Suppanz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA (Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien), Prof. Dr. Stefan Troebst (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Universität Leipzig), Prof. Dr. Michael Wildt (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin).

zeitgeschichte 47. Jg., Heft 3 (2020)

Wahrnehmungen des Nationalsozialismus NS-Jugendtagebücher – KZ-Ärzte – Entnazifizierungsdiskurse unter „Ehemaligen“ Herausgegeben von Bertrand Perz

V&R unipress Vienna University Press

Inhalt

Bertrand Perz Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Artikel Veronika Siegmund „Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte …“ – Die politische Instrumentalisierung des Tagebuchs in der Erweiterten Kinderlandverschickung (1940–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Lisbeth Matzer Aufwachsen als Teil der „Volksgemeinschaft“ – Jugendliche Handlungsspielräume im Nationalsozialismus zwischen Hitler-Jugend, Schule und Freizeitvergnügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Marco Pukrop Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in Eugen Kogons „Der SS-Staat“ – „Ein weißer Rabe unter den schwarzen Mördern im Ärztekittel“? . . . . . 365 Siegfried Göllner „Da waren die Nazi ja noch humaner“ – Sichtweisen ehemaliger NationalsozialistInnen auf die Entnazifizierung in Österreich 1945–1957 . 387 Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Rezensionen Bernd Nitzschke Karl Fallend, Unbewusste Zeitgeschichte. Psychoanalyse – Nationalsozialismus – Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

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Inhalt

Peter Pirker Elisabeth Boeckl-Klamper/Thomas Mang/Wolfgang Neugebauer, Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Anita Ziegerhofer Hans-Wolfgang Platzer, Bronislaw Huberman und das Vaterland Europa. Ein Violinvirtuose als Vordenker der europäischen Einigungsbewegung in den 1920er und 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Autor/inn/en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Bertrand Perz

Editorial

Das vorliegende Heft versammelt sehr unterschiedliche Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Eine Gemeinsamkeit lässt sich dennoch feststellen, in allen Fällen spielt die Wahrnehmung der NS-Herrschaft eine wichtige Rolle. Tagebücher dienen schon längere Zeit als Quelle zur Erschließung der Wahrnehmung und Erfahrung von Diktaturen durch ihren spezifischen Bezug zur jeweiligen Gegenwart.1 Lange dominierten hier aber, wie man am Beispiel des Nationalsozialismus sehen kann, Tagebücher von Opfern der Verfolgung wie Anne Frank oder Victor Klemperer sowie von Tagebuchaufzeichnungen politischer wie militärischer Eliten des Regimes. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit privaten Aufzeichnungen von dem NS-System durchaus zugewandten und in deren Massenorganisationen integrierten einfachen Personen ist erst in jüngerer Zeit in Gang gekommen.2 So kann das nationalsozialistische Projekt der Transformation von Gesellschaft in eine rassistisch definierte „Volksgemeinschaft“, das auf massenhafte individuelle Beteiligung von unten setzte, als eine Erfahrungsgeschichte aus der Perspektive des/der Einzelnen erschlossen werden. Diese Tagebücher können als feines Instrumentarium verwendet werden, um auszuloten, inwieweit Maßnahmen und Entwicklungen des NS-Staates unmittelbar Zustimmung oder Dissens hervorriefen und wie weit die Erwartungen und Regeln des Regimes, wie seine Politiken zu interpretieren sind bzw. auf welche Art und Weise Nationalsozialismus zu denken sei, auch angenommen wurden. Zwei Beiträge dieses Heftes, hervorgegangen aus Abschlussarbeiten am Institut für Geschichte der Universität Wien bei Christa Ehrmann-Hämmerle und an der a.r.t.e.s. Graduate School der Universität zu Köln betreut von Habbo Knoch, befassen sich mit Tagebüchern von Jugendlichen in der NS-Zeit in unterschiedlichen Organisationskontexten. Veronika Siegmund untersucht Tagebücher, die im Kon1 Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary Under Stalin, Cambridge 2006. 2 Beispielhaft für diese Forschungen: Janosch Steuwer, „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017.

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text der sogenannten „Erweiterten Kinderlandverschickung“, der ab 1940 erfolgten massenhaften Evakuierung von Kindern und Müttern aus vom Luftkrieg bedrohten Städten in weniger gefährdete Gebiete, vielmals in eigens dafür eingerichtete Lagern, entstanden sind. Dabei überließ das Regime die Textproduktion und damit der Rezeption des Geschehens nicht dem Zufall, sondern propagierte das Tagebuchschreiben selbst wie erwünschte Inhalte in Schreibaufrufen der KLV-Zeitschriften. Siegmunds Analyse fokussiert nun genau auf die Frage des Spannungsverhältnisses zwischen dem beabsichtigten, stereotypisierten und dem tatsächlichen thematischen Inhalt der KLV-Tagebücher und macht dabei deutlich, dass die versuchte Instrumentalisierung ihre Grenzen hatte und Jugendliche die Tagebücher für verschiedenste, vom Regime auch nicht intendierte Zwecke nutzten, was aber keineswegs einfach mit oppositionellem Verhalten gleichgesetzt werden kann. In eine ganz ähnliche Richtung gehen auch die von Lisbeth Matzer untersuchten Tagebücher österreichischer, in NS-Jugendorganisationen integrierter Jugendlicher, die deutlich machen, dass trotz aller Steuerungs- und Indoktrinationsversuche des Regimes und insbesondere der Hitler-Jugend durchaus Handlungsspielräume für Mädchen wie Burschen in der Gestaltung ihres alltäglichen Lebens zwischen Hitler-Jugend, Schule und Freizeitgestaltung bestanden. Dabei wird deutlich, dass schon in den wenigen untersuchten Fällen die Bandbreite bezüglich des idealen Verhaltens von der völligen Übernahme der Vorgaben des NS-Regimes – zu denen auch das Tagebuchschreiben als Teil des politischen Engagements bzw. aktiver Aneignung nationalsozialistischer Sichtweisen und Gefühle zählte –, bis zur partiellen Verweigerung möglich war. Ein gänzlich andere Frage der Wahrnehmung der NS-Zeit wirft eine von Marco Pukrop vorgenommene kritische Analyse der Darstellung des KZ-Arztes Peter Hofer in Eugen Kogons im Auftrag der US-Besatzung verfassten, 1946 publizierten Studie „Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“ auf. Die Beschäftigung mit Kogons, auf den „Buchenwald-Report“3, einer Sammlung von Überlebenden-Berichten zurückgehenden, Publikation macht einmal mehr deutlich, wie wichtig die quellenkritische Lektüre bzw. die Untersuchung der Entstehungsgeschichte auch von Berichten ehemaliger KZ-Häftlinge ist. Der schon länger andauernden Dekonstruktion4 dieser das Bild der Konzentrationslager im deutschen Sprachraum wie keine zweite lange Zeit prägenden Darstellung, wird hier nicht nur eine weitere Facette hinzugefügt, die auch wesentlich für die Medizingeschichte ist, zugleich wird deutlich, dass es in 3 David Hackett (Hg.), Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimer, München 1996. 4 Zuletzt durch Andreas Kranebitter, Die Vermessung der Konzentrationslager. Soziologiegeschichtliche Betrachtungen zum sogenannten Buchenwaldreport, in: Regina Fritz/Éva Kovács/ Béla Rasky (Hg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte, Wien 2016, 63–86.

Editorial

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der KZ-Forschung auch nach einer jetzt fast drei Jahrzehnte andauernden Forschungskonjunktur nach wie vor erhebliche Desiderata gibt. Die Auseinandersetzung mit österreichischen Nationalsozialisten in der Nachkriegszeit, den sogenannten „Ehemaligen“, sowohl Nachgeschichte der NS-Herrschaft wie Formationsgeschichte der Zweiten Republik, hat in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen.5 Dazu zählen auch die Forschungen von Siegfried Göllner zu Entnazifizierungsdiskursen, die unter der Leitung von Albert Lichtblau am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg durchgeführt wurden. In dem auf diesen Projekten basierenden Beitrag Göllners geht es dabei um die sich verändernden Sichtweisen ehemaliger Nationalsozialisten auf die Entnazifizierungsbemühungen in Österreich im ersten Nachkriegsjahrzehnt, die zugleich als eine Umdefinition ihrer Wahrnehmung und ihres Verhältnisses zum Nationalsozialismus analysiert werden können. Dabei spielen Entlastungsstrategien, Selbstviktimisierungen und Forderungshaltungen eine zentrale Rolle, die einen erhellenden Blick auf das Fortleben nationalsozialistischer Wertevorstellungen in der Zweiten Republik durch die fatale Integration ehemaliger Nationalsozialisten in das österreichische Opferkollektiv werfen.

5 Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Göttingen 2019.

Artikel

Veronika Siegmund

„Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte …“ – Die politische Instrumentalisierung des Tagebuchs in der Erweiterten Kinderlandverschickung (1940–1945)

I.

Einleitung

Im Februar 1944 reiste die elfjährige Wienerin Rosa Schobert mit etwa 20 Schulkolleginnen ins nördliche Waldviertel. Die Fahrt fand im Rahmen der sogenannten Erweiterten Kinderlandverschickung (KLV) statt, einer Evakuierungsmaßnahme des NS-Regimes mit der Intention, Großstadtkinder vor dem Luftkrieg zu schützen. Angekommen in der Kleinstadt Drosendorf wurden die Mädchen einem von der Reichsjugendführung (RJF) organisierten KLV-Lager zugeteilt, in dem sie über ein Jahr verbrachten. Unmittelbar nach der Ankunft im Lager legte Rosa Schobert ein Tagebuch an, das sie über ihren gesamten KLV-Aufenthalt hinweg führte. Am Beginn ihrer Aufzeichnungen schildert sie das Eintreffen am Provinzbahnhof sowie erste Eindrücke von der neuen Umgebung:1 „Die Ankunft in Drosendorf. Vor der Türe des Zuges stand ein Mädel, die unsere Führerin war, sie hieß Gretl. Zuerst machte die Stadt uns keinen guten Eindruck, alles so finster u. schon Buben hinter uns nach, die uns alle erzählten, daß es hier sehr schön ist, was wir am nächsten Tag auch schon erkannten. Sogar wunderschön ist es hier“.2 An diesen knappen, mit einer Buntstiftzeichnung ausgestatteten Lagebericht reihen sich zahlreiche weitere, thematisch sehr breit gefächerte Einträge. Der letzte entstand im Herbst 1945, kurz vor der Rückkehr des Mädchens nach Wien. Zeitgleich mit Rosa Schobert schrieb auch die im selben KLV-Lager untergebrachte, ebenfalls aus Wien stammende Inge Winkler ein Tagebuch, das sie nicht nur mit Illustrationen, sondern auch mit einer großen Bandbreite an unter1 Um eine gute Lesbarkeit der in diesem Beitrag zitierten Tagebuchpassagen zu gewährleisten, wurden orthografische und grammatikalische Fehler korrigiert. 2 Rosa Schobert (geb. 1932), Lagertagebuch (=LTB) (Bd. 1), 1944, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (=DLA) am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Mit dem Einverständnis von Rosa Zimerits (geb. Schobert) wird hier der tatsächliche Name der Schreiberin verwendet.

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schiedlichen Einklebungen versah.3 Als Textträger diente ihr – genau wie Rosa Schobert – ein kleinformatiges in Packpapier eingebundenes Schulheft. Die Tatsache, dass beide Mädchen während ihrer KLV-Zeit diaristische Aufzeichnungen führten, war kein Zufall. Wie auch in anderen NS-Einrichtungen und -Lagern für systeminvolvierte4 Kinder und Jugendliche üblich,5 wurden sie zu dieser Tätigkeit angehalten. Bemerkenswert am Tagebuchschreiben in den KLV-Lagern war, dass seitens des Regimes – genauer gesagt seitens der innerhalb der RJF geschaffenen (Reichs-)Dienststelle KLV6, die für die Planung und Durchführung der KLV-Lager zuständig war – ganz konkrete Vorstellungen bestanden, wie solche Tagebücher aussehen und welche Inhalte sie aufweisen sollten. Kommuniziert wurde dieser Idealtypus eines KLV-Tagebuchs über zwei von der Dienststelle KLV herausgegebene Zeitschriften, wobei sich eine davon an die in den Lagern tätigen ErzieherInnen und die andere an die LagerteilnehmerInnen richtete. Im Fokus dieses Artikels steht das Spannungsverhältnis zwischen dem intendierten Inhalt von KLV-Tagebüchern und dem tatsächlichen Inhalt der beiden soeben vorgestellten Mädchentagebücher.7 Nach einer kurzen Darstellung des aktuellen Forschungsstandes wird anhand der erwähnten Zeitschriften zunächst untersucht werden, welche Themen die jugendlichen SchreiberInnen in ihren KLV-Tagebüchern idealerweise aufgreifen sollten. In diesem Kontext soll auch der Frage nachgegangen werden, welche ideologischen und praktischen Zielsetzungen die OrganisatorInnen der KLV mit der Forcierung solcher Diarien verfolgten. Im Anschluss daran wird eine Auseinandersetzung mit dem thematischen Gehalt der beiden Mädchentagebücher stattfinden: Welche Themen behandelten Rosa Schobert und Inge Winkler in ihren Aufzeichnungen? Inwieweit deckten sich diese mit den von den OrganisatorInnen der KLV vorgeschlagenen 3 Vgl. Inge Winkler (geb. 1931), Lagertagebuch (=LTB) (5 Bde.), 1944–1945, Sammlung Frauennachlässe (=SFN) am Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 237. Aus Datenschutzgründen wird hier ein Pseudonym verwendet. 4 Begrifflichkeit nach Klaus Kienesberger, Einleitung, in: Bundesjugendvertretung (Hg.), Geraubte Kindheit. Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus, Wien 2010, 11–16, 11. 5 Vgl. Janosch Steuwer, „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, 137–138. 6 Ursprünglich war die 1940 eingerichtete Reichsdienststelle KLV die zentrale Einrichtung für die KLV, während die Dienststelle KLV nur für die HJ-Belange der KLV verantwortlich war. Mit der Zeit verschmolzen die beiden Behörden jedoch miteinander. Vgl. Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, München 2003, 889–891. 7 Der Artikel basiert auf den Ergebnissen meiner Masterarbeit, Veronika Siegmund, „Heraus mit Bleistiften und Tuschkästen …“.Tagebuchschreiben in der Erweiterten Kinderlandverschickung im Spannungsfeld von politischer Instrumentalisierung und individueller Praxis (1940– 1945), Masterarbeit, Universität Wien 2017. Die Arbeit wurde von Christa Hämmerle betreut, bei der ich mich sehr herzlich für die tatkräftige Unterstützung meiner Forschungen bedanke.

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Inhalten der Tagebücher? Um welche Dimensionen erweiterten die Schreiberinnen den vorgegebenen Kanon an Themen und welche Funktionen erfüllte das Tagebuchschreiben für sie? Im Zuge der Beschäftigung mit diesen Fragen soll aufzeigt werden, dass es den beiden Mädchen – trotz der in ihrem KLV-Lager vollzogenen politischen Instrumentalisierung von Tagebüchern – möglich war, ihre Aufzeichnungen auch einem individuellen Nutzen zuzuführen.

II.

Forschungsstand

Während des Zweiten Weltkrieges kam es – wie bereits im Ersten Weltkrieg – zu einer massiven kriegspolitischen Vereinnahmung der popularen Diaristik. Die Neuzeithistorikerin Christa Hämmerle spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „komplexen Instrumentalisierung“8 diaristischer Aufzeichnungen, die mehrere Dimensionen umfasste. Einerseits konfrontierte das NS-Regime die Bevölkerung bereits vor Kriegsbeginn mit einschlägigen tagebuchartigen Texten, bspw. mit solchen, die über den Aufstieg des Nationalsozialismus berichteten und eine an ihm orientierte Lebensart schilderten.9 Anderseits förderten die politischen Machthaber innerhalb der sogenannten „Volksgemeinschaft“ auch die Entstehung systemaffiner Tagebücher, wie etwa der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Schäfer und die Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Susanne zur Nieden in ihren Studien darlegten.10 Sowohl „im Feld“ als auch an der „Heimatfront“ sollte das Verfassen diaristischer Aufzeichnungen zu einer „heroisierenden Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges“11, aber auch zu einer „Veränderung individueller Lebensweisen und Selbstsichten“12 beitragen. Die Instrumentalisierung von Tagebüchern betraf auch Kinder und Jugendliche. In diversen Erziehungsinstitutionen wie der Schule oder der Hitlerjugend (HJ) wurden sie zur Führung von Kriegs- bzw. Lagertagebüchern instruiert, die

8 Christa Hämmerle, Between Instrumentalisation and Self-Governing. (Female) Ego-Documents in the European Age of Total War, in: François-Joseph Ruggiu (Hg.), The Uses of First Person Writings. Africa, America, Asia, Europe, Brüssel 2013, 263–284, 269. 9 Vgl. Janosch Steuwer, „Weltanschauung mit meinem Ich verbinden“. Tagebücher und das nationalsozialistische Erziehungsprojekt, in: Janosch Steuwer/Rüdiger Graf (Hg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, 100–123, 103–105. 10 Vgl. Hans Dieter Schäfer (Hg.), Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, Mainz 1972, 312; Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand, Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943–1945, Berlin 1993, 59. 11 Zur Nieden, Alltag, 59. 12 Steuwer, Weltanschauung, 102.

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durch eine regimetreue Haltung geprägt sein sollten.13 Diese gezielte Einflussnahme auf die jugendliche Tagebuchkultur fand in der historischen Forschung lange Zeit kaum Beachtung. Vereinzelt machten ForscherInnen zwar darauf aufmerksam, dass eine solche stattgefunden habe,14 wie diese konkret aussah, von welchen Erziehungsinstitutionen sie ausging bzw. welche Ziele sie verfolgte, wurde bis vor wenigen Jahren jedoch nicht näher hinterfragt. Pionierarbeit in diesem Kontext leistete der deutsche Zeithistoriker Janosch Steuwer. In einem 2015 erschienen Aufsatz15 und einer 2017 publizierten Monografie16, die sich mit dem Tagebuchschreiben in der NS-Zeit befassen, verdeutlichte er, dass Mädchen und Burschen – ebenso wie Erwachsene – aus unterschiedlichen Gründen zum Führen diaristischer Aufzeichnungen veranlasst wurden. Neben einer Veränderung von Denk- und Handlungsweisen sollte das kollektive Tagebuchschreiben durch die Betonung des Gemeinschaftserlebnisses die Einordnung des Individuums in die Gruppe begünstigen.17 Gleichzeitig waren derartige Schreibprojekte darauf ausgerichtet, individuelle Eindrücke zu überlagern.18 In seinen Ausführungen legt Steuwer den Schwerpunkt auf Tagebücher, die auf Jugendfahrten bzw. in Schulungs-, Arbeits- und Erziehungslagern für Systeminvolvierte entstanden. Auf KLV-Tagebücher nimmt er dabei nicht explizit Bezug, wohl auch deshalb, weil seine Forschungen sich auf den Zeitraum zwischen 1933 und 1939 konzentrieren, die KLV jedoch erst 1940 ins Leben gerufen wurde. In spezifischen Forschungen zur KLV werden KLV-Tagebücher mitunter erwähnt und als Mittel politischer Indoktrination erkannt.19 Speziell in regionalgeschichtlichen Studien werden gelegentlich auch Ausschnitte aus diesen ange-

13 Erika G. (geb. 1930) berichtet in ihrer 2016 verfassten Bildungsbiografie, dass sie in einer Wiener Hauptschule ein Kriegstagebuch führen musste, in das täglich eine Kurzfassung des Wehrmachtsberichts eingetragen wurde. Vgl. Erika G., Bildungsbiografie, 2016, DLA. In der HJ erfolgte der Appell ein Kriegstagebuch zu führen etwa über die Zeitschrift „JM-Führerinnendienst“. Vgl. Unser Kriegstagebuch, in: JM-Führerinnendienst, Gebiet Niederdonau (1941) 7, 33. 14 Vgl. etwa Christa Hämmerle, Ein Ort für Geheimnisse? Jugendtagebücher im 19. und 20. Jahrhundert, in: Peter Eigner/Christa Hämmerle/Günter Müller (Hg.), Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, 28–45, 32–34. 15 Siehe Anmerkung 9. 16 Siehe Anmerkung 5. 17 Vgl. Steuwer, Weltanschauung, 112. 18 Vgl. ebd., 119. 19 Vgl. Gerhard Kock, „Der Führer sorgt für unsere Kinder…“. Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, 165; Martin Rüther/Eva Maria Martinsdorf (Hg.), KLV Erweiterte Kinderlandverschickung 1940–1945. Eine Dokumentation auf zwei CD-ROMs mit einer Einführung in deren Nutzung, Köln 2000, 26–27.

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führt,20 eine nähere Auseinandersetzung mit der genannten Quellenform fand bisher jedoch nicht statt. Erstaunlich ist dieser Befund, weil die Instrumentalisierung von Tagebüchern in den KLV-Lagern – wie sowohl Beiträge in den von der Dienststelle KLV herausgegebenen Zeitschriften als auch die große Anzahl an erhaltenen KLV-Tagebüchern nahelegen – mit besonderem Nachdruck betrieben wurde. Eingebettet in Schulunterricht oder Freizeitgestaltung bildete die Arbeit am Tagebuch an vielen Standorten der KLV einen fixen Bestandteil des Lageralltags. Entsprechend bedeutsam erscheint eine eingehende Beschäftigung mit dieser speziellen Ausprägung des Lagertagebuchs. Der vorliegende Aufsatz, der einerseits die vom Regime gestellten Ansprüche an KLV-Tagebücher andererseits aber auch die Tagebuchpraxis in einem spezifischen KLV-Lager untersucht, soll dazu beitragen, das KLV-Tagebuch in seiner Rolle als Werkzeug des NS-Erziehungsapparates zu beleuchten. Gleichzeitig soll er dazu anregen, auch andere, bisher vernachlässigte Formen des politisch instrumentalisierten Jugendtagebuchs in den Blick zu nehmen.

III.

Tagebuchschreiben in der Erweiterten Kinderlandverschickung

3.1

Das KLV-Lager als Werkzeug der NS-Indoktrination

Wie bereits eingangs erwähnt entstanden die Tagebücher von Rosa Schobert und Inge Winkler im Rahmen der KLV. Anlass für dieses im September 1940 in die Wege geleitete Evakuierungsprogramm waren die zunehmenden britischen Luftangriffe auf deutsche Städte.21 Die Bombardements sorgten für eine wachsende Unruhe in der Bevölkerung, so dass sich die NS-Führungsspitze dazu entschloss, eine „spektakuläre Maßnahme des Zivilschutzes“22 zu ergreifen: Kinder aus bombengefährdeten Großstädten sollten in sichere ländliche Regionen des „Reiches“ gebracht werden. Der Begriff „Evakuierung“ wurde dabei ganz bewusst vermieden, um die „Volksgemeinschaft“ nicht in Panik zu versetzen.23 Stattdessen knüpfte man mit dem Terminus „Kinderlandverschickung“ an ein bereits 20 Vgl. Hans-Jürgen Feuerhake, Die Erweiterte Kinderlandverschickung in Hannover 1940– 1945. Erinnerungen – Tagebücher – Dokumente (Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940–1945), Bochum/Freiburg 2006, 185–194. 21 Vgl. Kock, Der Führer, 81–83. 22 Ebd., 84. 23 Vgl. Markus Holzweber, „Dürfen wir ihre Kinder verschicken?“ – Die Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV) in Niederösterreich. Darstellung, Rezeption und Widerhall in der NS-Zeit und Zweiten Republik, in: Verein für Landeskunde von Niederösterreich (Hg.), Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, St. Pölten 2013, 187–425, 211–213.

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vor dem Krieg bestehendes Erholungsprogramm an, das einen guten Ruf genoss.24 Mit der Planung der KLV wurde Baldur von Schirach, der Reichsleiter für die Jugenderziehung, betraut, der zu diesem Zweck die Reichsdienststelle KLV einrichtete. An der Durchführung der Aktion waren mehreren NS-Institutionen beteiligt: Neben der HJ spielten hier auch der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) eine wichtige Rolle. Je nach Alter der Heranwachsenden waren unterschiedliche Formen der Unterbringung vorgesehen: Kinder bis zu sechs Jahren wurden gemeinsam mit ihren Müttern Pflegefamilien oder eigenen Mutter-Kind-Heimen zugewiesen. Sechs- bis zehnjährige Kinder kamen ebenfalls in Pflegefamilien, während für die Zehn- bis Vierzehnjährigen nach Geschlechtern getrennte KLV-Lager eingerichtet wurden.25 Als Quartiere für die Lager dienten Jugendherbergen, Klöster, Stifte und Sanatorien, aber auch Gasthöfe, Pensionen und Hotels.26 Die Dauer der „Verschickung“ legte man auf sechs bis neun Monate fest, gegen Kriegsende verblieben die Kinder jedoch oft deutlich länger in den Aufnahmegebieten27 bzw. mussten aufgrund der heranrückenden Front in andere Regionen des „Reiches“ flüchten. Die Teilnahme an der KLV war prinzipiell freiwillig, mit der Fortdauer des Krieges setzte das NS-Regime die Eltern aber immer stärker unter Druck, dieses als großzügig deklarierte Angebot des NS-Staates für ihre Kinder in Anspruch zu nehmen. Insgesamt wurden nach Schätzungen des Historikers Gerhard Kock etwa 2,2 Millionen Kinder „verschickt“, ca. 850. 000 davon entfielen auf die KLVLager.28 Einigkeit herrscht in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur KLV darüber, dass die KLV keine rein karitative Maßnahme darstellte, sondern auch auf eine politische Indoktrination der Minderjährigen abzielte.29 Speziell die KLV-Lager boten ideale Rahmenbedingungen für ein solches Vorhaben: Fernab ihres Elternhauses sollten die LagerteilnehmerInnen unter dem Einfluss ausgewählter Lehrkräfte und HJ-FührerInnen nach nationalsozialistischen Erzie24 Vgl. Helmut Engelbrecht, Wien und die sogenannte Kinderlandverschickung, in: Ferdinand Oppl/Karl Fischer (Hg.), Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien (Bd. 57/58), Wien 2002, 25–113, 32–35. 25 Ein solches KLV-Lager erwähnt der österreichische Literat Arno Geiger in seinem 2018 erschienen Roman „Unter der Drachenwand“. Ausgangspunkt dafür waren Briefe eines Mädchens aus einem KLV-Lager, die der Autor auf einem Flohmarkt in Wien entdeckte. Vgl. Arno Geiger über seinen Roman „Unter der Drachenwand“. Wie man aus dem Bett des Teufels herauskommt, Domradio, URL: https://www.domradio.de/radio/sendungen/autorengespraech /arno-geiger-ueber-seinen-roman-unter-der-drachenwand (abgerufen: 5. 10. 2019). 26 Vgl. Holzweber, Dürfen wir, 203. 27 Als „Aufnahmegebiete“ bzw. „-gaue“ bezeichnete man jene Regionen, in die die Kinder „verschickt“ wurden. 28 Vgl. Kock, Der Führer, 142–143. 29 Vgl. Michelle Mouton, The Kinderlandverschickung: Childhood Memories of War Re-Examined, in: German History 37 (2019) 2, 186–204, 186.

Veronika Siegmund, „Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte …“

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hungs- und Wertvorstellungen geprägt werden. Vor diesem Hintergrund der gezielten Vereinnahmung und Manipulation der LagerteilnehmerInnen gilt es auch, das Tagebuchschreiben in der KLV zu betrachten.

3.2

KLV-Tagebücher und intendierte Inhalte

Treibende Kräfte bei der Entstehung von KLV-Tagebüchern waren, wie sich den retrospektiven Berichten einzelner LagerteilnehmerInnen entnehmen lässt, die in den Lagern tätigen ErzieherInnen. Sie forderten die Kinder dazu auf, Tagebücher zu führen, kontrollierten zuweilen aber auch den Schreibprozess und korrigierten die entstandenen Texte.30 Wie die Aufzeichnungen gestaltet waren, unterschied sich von Lager zu Lager. Während es mancherorts üblich war, nur knapp über den Tagesverlauf zu berichten, wurden andernorts ausführliche Einträge verfasst, die oftmals auch mit Zeichnungen und Fotos bestückt waren. In den Dienstanweisungen für die ErzieherInnen31 finden sich keine Hinweise darauf, dass diese dazu verpflichtet waren, die Mädchen bzw. Burschen zum Tagebuchschreiben anzuhalten. Ob und in welcher Form Diarien geführt wurden, oblag demnach der Entscheidung der jeweiligen Lagerleitung. Hier besteht ein ganz wesentlicher Unterschied zum Verfassen von Briefen, das in allen KLVLagern zweimal wöchentlich angesetzt war, „um eine laufende Unterrichtung der Eltern zu gewährleisten“.32 Im Gegensatz zu anderen den Lageralltag prägenden Tätigkeiten räumte die Dienststelle KLV dem Tagebuchschreiben also keine Priorität ein. Die von ihr herausgegebene, an die Erziehungskräfte gerichtete Zeitschrift „Unser Lager“ und das für die LagerteilnehmerInnen konzipierte Leseheft „Junge Heimat“ zeugen aber davon, dass das NS-Regime die Generierung von Lagertagebüchern nicht nur begrüßte, sondern auch dezidiert förderte. Insgesamt enthielten die genannten Zeitschriften sieben Beiträge, in denen die Führung eines KLV-Tagebuchs propagiert wurde. Die eigens dafür geschaffene Rubrik hieß „Mein/ Unser KLV.-Tagebuch“ und umfasste Schreibaufrufe sowie detaillierte Musterbeispiele für KLV-Tagebücher (siehe Abb. 1), aber z. B. auch ein Foto von zwei „Jungmädels“ beim Tagebuchschreiben. Den Kern solcher Beiträge bildete der Appell an die LagerteilnehmerInnen, ein KLV-Tagebuch anzulegen: „Aber nun hört einmal her! Verlaßt euer KLV.-Lager nicht, ohne eure schönsten Erlebnisse 30 Vgl. Günter de Bruyn, Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt am Main 1992, 109– 111. 31 Dienstanweisungen erfolgten über die von der Dienststelle KLV herausgegebenen „Nachrichten-“ und „Befehlsblätter“. 32 Anweisungen für die Jungen- und Mädellager, hg. v. der Dienststelle KLV, Berlin ²1941, 30.

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in einem eigenen KLV.-Tagebuch festgehalten zu haben“.33 Begründet wurden derartige Forderungen damit, dass sich mithilfe eines Tagebuchs eine wertvolle Erinnerung an die KLV-Zeit schaffen ließe: „Wenn ihr nach Beendigung eurer KLV.-Lagerzeit all diese Berichte wieder lest, dann werdet ihr später in der Heimat an manche frohe Stunde erinnert werden“.34 Darüber hinaus verwiesen die VerfasserInnen der Beiträge darauf, dass die Tagebücher es auch den Angehörigen der LagerteilnehmerInnen ermöglichen würden, sich ein Bild vom Lagerleben zu machen.35 Um die Kinder zur Durchführung des angepriesenen Schreibprojektes zu motivieren, rief die Zeitschrift „Junge Heimat“ im Sommer 1943 einen Wettbewerb ins Leben: „ ‚große[s] Preisausschreiben der KLV.-Tagebücher‘: Es winken die schönsten Preise! Ihr könnt Schreibmappen oder Bücher, Vasen oder gerahmte Bilder gewinnen, oder Eure Arbeit wird sogar mit der KLV.-Plakette ausgezeichnet!! […] darum nicht länger gezögert, heraus mit Bleistiften und Tuschkästen, mit Federn und Photoapparaten, mit Buntpapier und Skriptol und – – – an die Arbeit!“36 Bezeichnend für die Rubrik „Mein/Unser KLV-Tagebuch“ ist, dass diese nur von Juli bis Oktober 1943 bestand. Diese Tatsache sowie die Vehemenz, mit der das Tagebuchschreiben in dieser kurzen Zeitspanne beworben wurde, legen nahe, dass es sich hier um eine gezielt initiierte Kampagne handelte, deren Absicht darin bestand, jene Lagergemeinschaften, in denen bisher keine Tagebücher geführt worden waren, zur Aufnahme dieser Praxis zu bewegen. Ein ausführlicher, an die Erziehungskräfte gerichteter Beitrag aus dem Periodikum „Unser Lager“ verdeutlicht, dass seitens der OrganisatorInnen der KLV – zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt – ein ganz bestimmtes Bild davon vorherrschte, wie das Tagebuchschreiben in den Lagern organisiert sein sollte: „Die aus dem Alltag hervortretenden Ereignisse und besonderen Vorkommnisse werden im schulischen Unterricht oder in der Freizeit in der Form ausgewertet, daß darüber Aufsätze geschrieben werden. Der beste Bericht wird jeweils ausgezeichnet […] und von allen in ein besonderes Heft eingetragen. Es hat also jeder in seinem Tagebuch die gleichen Berichte“.37

33 34 35 36

Mein KLV.-Tagebuch, Junge Heimat. Die Lesestunde der KLV-Lager (1943) 8, 61–65, 61. Ebd. Vgl. Jungen und Mädel!, Junge Heimat. Die Lesestunde der KLV-Lager (1943) 8, 65–66, 65. Ebd., 66. Einem ganz ähnlichen, an die ErzieherInnen der Lager gerichteten Beitrag aus der Zeitschrift „Unser Lager“ entstammt das Zitat im Titel. Siehe dazu: Wettbewerb: „Mein KLVTagebuch“, Unser Lager. Richtblätter für die Dienstgestaltung in den Lagern der KLV (1943) 8, 427–428, 428. 37 Unser KLV-Tagebuch, Unser Lager. Richtblätter für die Dienstgestaltung in den Lagern der KLV (1943) 8, 426–427, 426.

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Abb. 1: Mustereintrag eines KLV-Tagebuchs, in: Junge Heimat (1943) 7, 58.

Wie hier deutlich wird, sollte das Tagebuchschreiben im KLV-Lager keinen individuell geprägten, sondern einen kollektiven, kontrollierten Akt darstellen: Alle Kinder einer Lagergemeinschaft sollten dieselben Texte in ihre Journale schreiben, wobei nicht sie selbst, sondern die ErzieherInnen darüber zu entscheiden hatten, welche Berichte Eingang in die Aufzeichnungen fanden. Auch in Bezug auf die äußere und inhaltliche Gestaltung der Tagebücher stellte die Dienststelle KLV Ansprüche. Besonderer Wert wurde auf die visuelle

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Ausgestaltung der Niederschriften gelegt: Zeichnungen, Fotos und andere Bildmaterialen sollten für Abwechslung im KLV-Tagebuch sorgen und dessen Attraktivität steigern: „[…] in eurem KLV.-Tagebuch darf kein Bericht ohne Bebilderung bestehen! Ob ihr nun ein Photo von eurem KLV-Heim einklebt, eine Postkarte oder einen Ausschnitt aus einem Prospekt, das ist gleichgültig. Nur für jedes KLV.-Tagebuch gilt nun einmal die Anweisung: Jeder Bericht muss bebildert werden. Am schönsten ist es, wenn ihr selbst zeichnet oder malt“.38 In Hinblick auf den intendierten Inhalt von KLV-Tagebüchern geben die untersuchten Zeitschriftenbeiträge darüber Aufschluss, dass die LagerteilnehmerInnen in ihren Aufzeichnungen ganz bestimmte Themen behandeln sollten. Am Modell der Qualitativen Inhaltsanalyse von Philipp Mayring orientiert,39 konnten sechs thematische Aspekte eruiert werden, die es gemäß der Idealvorstellungen der Dienststelle KLV in den Tagebüchern aufzugreifen galt. Einerseits wurden die Mädchen und Burschen in den Schreibaufrufen dazu ermuntert, über besondere Ereignisse zu berichten. Neben Ausflügen und Geländespielen zählten dazu auch als abenteuerlich geltende sportliche Aktivitäten wie z. B. Schifahren, aber auch diverse im Lager abgehaltene Feiern. Andererseits appellierte man an die Heranwachsenden, auch alltägliche Tätigkeiten, wie etwa den Schulbesuch oder gemeinsame Spaziergänge, zu dokumentieren40 und über die Lagergemeinschaft zu berichten. So wurde bspw. vorgeschlagen, ein entsprechendes Gruppenfoto in das Tagebuch einzufügen.41 Erwünscht waren auch Schilderungen der aktuellen Wetterlage und der bezogenen Unterkunft. Ebenso galt es, die aktuelle Umgebung des Lagers und die landschaftlichen Besonderheiten der vorübergehenden Heimat zu beschreiben: „Eine Fahrt oder ein Ausflug, der euch mit neuen landschaftlichen Schönheiten bekannt macht, muß selbstverständlich auch festgehalten werden. Auch die Blumen und Tiere eurer neuen Umgebung, das Dorf mit seinen andersartigen Häusern und euch bislang unbekannten volkskundlichen Schönheiten dürft ihr nicht vergessen, wenn ihr in Wort und Bild von eurem Lagerleben berichtet“.42 Sowohl aus den Schreibaufrufen als auch aus den beigefügten Mustereinträgen geht hervor, dass ausschließlich positive Schilderungen vom Lagerleben und den örtlichen Gegebenheiten in die Tagebücher einfließen sollten. Negative Er38 Mein KLV.-Tagebuch, Junge Heimat. Die Lesestunde der KLV-Lager (1943) 8, 61–65, 61. 39 Der Psychologe Philipp Mayring entwickelte Mitte der 1980er-Jahre eine Verfahrensweise zur qualitativen Auswertung von Texten. Im Vordergrund steht dabei die Bildung von Kategorien, entlang derer das Textmaterial systematisch analysiert wird. Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, in: Günther Mey/Katja Mruck (Hg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden 2010, 601–613. 40 Vgl. Aus dem Tagebuch, Junge Heimat. Die Lesestunde der KLV-Lager (1943) 7, 58–60, 58. 41 Vgl. Mein KLV.-Tagebuch, Junge Heimat. Die Lesestunde der KLV-Lager (1943) 8, 61–65, 61. 42 Ebd.

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fahrungen wie Drill, Hunger und Heimweh, die in retrospektiven mündlichen und schriftlichen Lebenszeugnissen einstiger LagerteilnehmerInnen durchaus Erwähnung finden,43 durften – so die Idealvorstellungen der Dienststelle KLV – nicht zur Sprache kommen. Ganz im Stil von Reise- bzw. Ferientagebüchern sollten KLV-Tagebücher von einer frohen, unbeschwerten Zeit in der „Fremde“ berichten.

3.3

Motive für die Forcierung von KLV-Tagebüchern

Im Zusammenhang mit dem intendierten Inhalt von KLV-Tagebüchern drängt sich die Frage auf, welche Ziele die OrganisatorInnen der KLV mit der Förderung solcher Journale verfolgten. Welche Wirkung sollte das Verfassen bzw. die Rezeption derartiger Aufzeichnungen auf die Schreibenden selbst, aber auch auf deren soziales Umfeld haben, und welchen Nutzen erhoffte man sich davon? Ein wesentliches Motiv für die Forcierung von KLV-Tagebüchern war die – möglichst durchgängige – Beschäftigung der LagerteilnehmerInnen. Ein vielfältiges Angebot an Aktivitäten sollte einerseits zur Strukturierung des Lageralltags beitragen, andererseits wollte man die Mädchen und Burschen durch die Ausschöpfung ihrer Leistungskapazität von etwaigem Trennungsschmerz ablenken.44 Vorschläge zu einer sinnvollen Ausgestaltung des Lagerlebens fanden die Lehrkräfte und HJ-FührerInnen – letztere wurden auch als Lagermädelschaftsführerinnen (LMF) bzw. Lagermannschaftsführer bezeichnet – unter anderem in der bereits erwähnten Zeitschrift „Unser Lager“. Im Rahmen einer ganzen Reihe an Beschäftigungsmöglichkeiten wurde hier auch das Tagebuchschreiben explizit angeführt.45 Das Verfassen diaristischer Aufzeichnungen im Kontext der KLV verfolgte aber auch einen spezifischen erzieherischen Zweck. Wie Steuwer dies in Bezug auf in NS-Schulungslagern und auf diversen Fahrten entstandene Diarien aufzeigte,46 waren auch KLV-Tagebücher auf die „Schaffung von Gemeinschaftlichkeit“47 ausgerichtet. In ihnen sollte – wie speziell die Mustereinträge aus den Zeitschriften veranschaulichen – nicht das individuelle, sondern das Gruppenerlebnis vordergründig sein. Durch diese spezielle Ausrichtung ihrer Niederschriften sollten die LagerteilnehmerInnen lernen, sich 43 Jost Hermand berichtet in der Reflexion über seine KLV-Zeit etwa von militärischem Drill und drakonischen Strafen. Vgl. Jost Hermand, Als Pimpf in Polen. Erweiterte Kinderlandverschickung 1940–1945, Frankfurt am Main 1993, 68–74. 44 Vgl. Holzweber, Dürfen wir, 329. 45 Vgl. Aus der Arbeit für die Arbeit, Unser Lager. Richtblätter für die Dienstgestaltung in den Lagern der KLV (1943) 11, 652–654, 653. 46 Vgl. Steuwer, Weltanschauung, 110–122. 47 Ebd.

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dem Kollektiv zugehörig zu fühlen und dazu angeleitet werden, ihre gesamte Lebensweise auf dieses abzustimmen.48 Die wichtigste Funktion des KLV-Tagebuchs bestand jedoch darin, ein idealisiertes Bild der KLV zu zeichnen. Die idyllischen, am Gruppenerlebnis orientierten Berichte über das Lagerleben, wie sie in den Schreibaufrufen gefordert wurden, sollten etwaige negative Erfahrungen von Einzelpersonen überlagern, mit dem Ziel, das Gedächtnis der LagerteilnehmerInnen zu formen: Sie sollten den KLV-Aufenthalt als eine Aneinanderreihung schöner Erlebnisse und Abenteuer in Erinnerung behalten.49 Auch das Ansehen der KLV in der Öffentlichkeit versuchte man mithilfe der Tagebücher positiv zu prägen. Notwendig erschien dies, weil die Evakuierungsaktion – entgegen der Erwartungen der InitiatorInnen – von Anfang an eine sehr unpopuläre Maßnahme darstellte. Viele Eltern standen der KLV skeptisch gegenüber, vor allem die mehrmonatige „Verschickung“ der Zehn- bis Vierzehnjährigen stieß aus mehreren Gründen auf Ablehnung.50 Einerseits waren viele Familien durch den Fronteinsatz der Väter und erwachsenen Söhne ohnehin bereits zerrissen, so dass die Mütter nun nicht auch noch den Verlust ihrer minderjährigen Kinder hinnehmen wollten. Andererseits bestand die Sorge, man wolle in diesen Lagern einen verstärkten politischen und erzieherischen Einfluss auf die Heranwachsenden ausüben.51 Die NS-Propaganda begegnete diesen Vorbehalten mit unterschiedlichen Mitteln: Neben einer überaus positiven Berichterstattung über die KLV in der „Wochenschau“ sowie in diversen Tageszeitungen und Jugendzeitschriften, setzte sie auch auf die Schaffung eigener Medien, die die Vorzüge der KLV betonten. Erwähnenswert in diesem Kontext sind der 1941 gedrehte Propagandafilm „Außer Gefahr“ und der sogenannte „Elternbrief“, eine monatlich erscheinende, von der RJF herausgegebene Zeitschrift, die unentgeltlich an die Haushalte der „verschickten“ Kinder versandt wurde. Das ca. zehnseitige Periodikum enthielt Fotos von zufriedenen, glücklichen Kindern und euphorische Berichte, Gedichte und Lieder über das Leben im KLV-Lager. Solche Publikationen suggerierten Außenstehenden einen idyllischen Lageralltag, lieferten den Eltern jedoch keine Information über das Wohlbefinden des eigenen Kindes. Diese überaus bedeutsame Aufgabe schrieb man autobiografischen Dokumenten zu: Regelmäßig an die Eltern verfasste Briefe, aber eben auch Tagebücher, die 48 Vgl. ebd. 49 Die generelle Funktion von Lagertagebüchern, Erinnerung zu (über-)formen wurde von Steuwer beschrieben. Vgl. Steuwer, Weltanschauung, 115. 50 Vgl. Kock, Der Führer, 141–142. 51 Vgl. Gerhard E. Sollbach, Die (erweiterte) Kinderlandverschickung (KLV) im Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Heino Ewers/Jana Mikota/Jürgen Reulecke/Jürgen Zinnecker (Hg.), Erinnerungen an Kriegskindheiten. Erfahrungsräume, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive, München 2006, 31–47, 35–36.

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unter der Prämisse entstanden, zu Hause Eltern und Geschwistern vorgelegt zu werden,52 sollten dem sozialen Umfeld der LagerteilnehmerInnen vor Augen führen, wie gut es den Kindern im Lager erging. In Bezug auf das Tagebuch setzten die OrganisatorInnen der KLV ganz bewusst darauf, dass diesem der Ruf von „Authentizität“ und „Unmittelbarkeit“ anhaftete.53 Zwar war man, wie anhand der Schreibaufrufe bereits aufgezeigt wurde, sehr darauf bedacht, dass diese unter der Kontrolle des NS-Erziehungsapparates entstanden, nach außen hin sollten sie aber den Anschein eines von persönliche Erlebnissen und Empfindungen durchdrungenen Lebenszeugnisses erwecken.

IV.

Die Tagebücher von Rosa Schobert und Inge Winkler

4.1

Biografischer Kontext der Schreiberinnen

Bevor nun der Blick auf die beiden eingangs präsentierten KLV-Tagebücher und deren Inhalt gerichtet wird, sollen die zwei jugendlichen Verfasserinnen kurz vorgestellt werden. Rosa Schobert wurde am 2. April 1932 in Wien geboren. Gemeinsam mit ihrer als Reinigungskraft tätigen Mutter und zwei Schwestern wohnte sie zunächst in Atzgersdorf, einem Bezirksteil von Liesing. Prekäre soziale und finanzielle Verhältnisse führten dazu, dass sie ab ihrem dritten Lebensjahr bei Pflegeltern aufwuchs. Mit fünf Jahren wurde Rosa Schobert einer Pflegefamilie aus Wien Floridsdorf zugewiesen; hier besuchte sie die Volksschule und im Anschluss daran eine nahegelegene Hauptschule.54 Auch Inge Winkler stammte aus Wien; am 2. September 1931 geboren, wuchs sie als einziges Kind ihrer Eltern in Floridsdorf auf. Ihr Vater arbeitete als Werkmeister und war während des Krieges in Frankreich stationiert, zur beruflichen Tätigkeit ihrer Mutter liegen keine Informationen vor. Seit Anfang der 1930er-Jahre lebte die Familie in einem Gemeindebau nahe der Nordbrücke, der während des Krieges schwer beschädigt wurde. Nach dem Abschluss der

52 Vgl. Jungen und Mädel!, Junge Heimat. Die Lesestunde der KLV-Lager (1943) 8, 65–66, 65. 53 In der geschichts- und literaturwissenschaftlichen Tagebuchforschung wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Tagebücher ihrem Ruf, authentische bzw. unmittelbare Lebenszeugnisse zu sein, nicht gerecht werden. Vgl. z. B. Nicole Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof/Susanne Rohr (Hg.), Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie Essay, Tübingen 2008, 39–60, 40f. 54 Die biografischen Informationen zu Rosa Schobert entstammen mehreren zwischen 2016 und 2019 geführten Gesprächen mit der Schreiberin.

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Grundschule besuchte Inge Winkler dieselbe Hauptschulklasse wie Rosa Schobert.55 Anfang 1944 nahmen beide Mädchen an der KLV teil. Sie bezogen zunächst ein KLV-Lager in Drosendorf, das nach etwa einem Jahr nach Gars am Kamp verlegt wurde. Nachdem sowjetische Truppen im Frühjahr 1945 über Ungarn auf das einstige österreichische Staatsgebiet vorgedrungen waren und Anfang April bereits Wiener Neustadt besetzt hatten,56 flüchteten die Lehrkräfte im Frühjahr 1945 mit den Kindern in Richtung Westen. Schließlich gelangten sie nach Oberaudorf in Bayern, wo sie in einem ehemaligen Erholungsheim Zuflucht fanden. Erst Anfang Oktober 1945 kehrten Rosa Schobert und Inge Winkler nach Wien zurück.

4.2

Aufbewahrungsort, Materialität und äußere Gestaltung

Die KLV-Tagebücher von Rosa Schobert und Inge Winkler werden heute in zwei an der Universität Wien institutionalisierten Sammlungseinrichtungen aufbewahrt: Rosa Zimerits übergab ihr Tagebuch57 2008 der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, Inge Winklers Tagebuch58 gelangte 2015 nach dem Tod der Schreiberin in die „Sammlung Frauennachlässe“ und ist Teil eines größeren Bestandes, der unter anderem auch einige amtliche Dokumente und etliche Fotoalben umfasst.59 Hinsichtlich ihres äußeren Erscheinungsbildes und ihrer Materialität ähneln die beiden Tagebücher einander stark. Die jugendlichen Schreiberinnen griffen auf die gleichen, in Packpapier eingebundenen Hefte zurück, wobei sie die Deckblätter unterschiedlich gestalteten: Inge Winkler versah die Einbände ihrer fünf Hefte mit Sprüchen bzw. kurzen Gedichten zur KLV, auf dem zweibändigen Tagebuch von Rosa Schobert hingegen prangt die Fahne der HJ, übertitelt mit der Aufschrift „Lagertagebuch“. Beide Diarien sind sehr aufwendig gestaltet: Die Mädchen versahen viele ihrer Einträge mit Zeichnungen oder Zierrahmen, bestückten sie aber auch mit kleinen Gegenständen und papierenen Artefakten.

55 Die biografischen Informationen zu Inge Winkler wurden diversen Dokumenten aus ihrem Nachlass entnommen. 56 Vgl. Engelbrecht, Wien, 66. 57 Rosa Schobert, LTB (2 Bde.), 1944–1945, DLA (siehe Anmerkung 2). 58 Inge Winkler, LTB (5 Bde.), 1944–1945, SFN, NL 237 (siehe Anmerkung 3). 59 An dieser Stelle herzlichen Dank an Günter Müller, der mir das Tagebuch von Rosa Schobert zur Verfügung gestellt hat, sowie an Li Gerhalter, die mich auf das Tagebuch von Inge Winkler aufmerksam gemacht hat.

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Auffällig ist, dass sich in den Tagebüchern, die die Mädchen führen mussten,60 keine Spuren einer äußeren Zensur finden: Sie enthalten weder sichtbare Korrekturen der Erzieherinnen noch Zensurstempel, die bei der Kontrolle der versandten Post zum Einsatz kamen. Poesiealbenartige Einträge einzelner Lehrerinnen und Lagermädelschaftsführerinnen zeugen aber davon, dass diese sehr wohl Einblick in die Tagebücher nahmen. Die Aushändigung der Aufzeichnungen an sie geschah – wie die Art der Einträge vermuten lässt – zwar offenbar freiwillig, dennoch ist davon auszugehen, dass derartige Praxen Einfluss darauf nahmen, welche Inhalte die Mädchen in ihren Tagebüchern aufgriffen bzw. bewusst aussparten. Belege für eine solche Selbstzensur, die abgesehen von der Rücksichtnahme auf mitlesende Erzieherinnen wohl auch deshalb vorgenommen wurde, weil die Kinder ihre Niederschriften untereinander herumreichten,61 finden sich in beiden Tagebüchern. Inge Winkler betonte in ihren Aufzeichnungen gleich mehrmals, dass sie bestimmte Gedanken und Erlebnisse ganz bewusst nicht in ihrem Tagebuch festhielt. Offensichtlich war sie sich darüber im Klaren, dass es sich hier um keinen geeigneten Ort für die Offenbarung von Geheimnissen handelte. Rosa Schobert traf in diesem Bewusstsein ebenfalls Maßnahmen: Sie griff auf verschiedene Geheimschriften zurück und eliminierte an mehreren Stellen bereits zu Papier gebrachte Textpassagen durch Schwärzen, Herausschneiden und Überkleben.62

4.3

Inhaltliche Gestaltung

Entgegen der über die Zeitschriften transportierten Forderung der Dienststelle KLV, alle TeilnehmerInnen eines KLV-Lagers mögen die gleichen Texte in ihr Tagebuch schreiben, ist der Inhalt der Diarien von Rosa Schobert und Inge Winkler nicht ident. Die beiden Schreiberinnen berichteten in ihren Aufzeichnungen zwar mitunter über dieselben Ereignisse, taten dies aber in einer individuellen Wortwahl und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Auch hinsichtlich der Schreibfrequenz und der Länge der Einträge lassen sich Divergenzen ausmachen: Inge Winker schrieb wesentlich häufiger und ausführlicher als Rosa Schobert, so dass sie während ihrer KLV-Zeit mehr als doppelt so viele Hefte füllte wie ihre zeitweilige Zimmerkollegin. 60 Diese Information geht aus einem 1983 verfassten Schreiben von Rosa Zimerits an einen Kurier-Redakteur hervor. Vgl. Rosa Zimerits an Hellmut Andics, 24. 10. 1983, DLA. 61 Belege dafür sind poesiealbenartige Einträge, aber auch Zeichnungen anderer Lagerteilnehmerinnen in den Tagebüchern von Rosa Schobert und Inge Winkler. 62 Zum Geheimnis als Funktion des Tagebuchschreibens vgl. Li Gerhalter, Die Entdeckung der Diaristik. Tagebücher in der Forschung und in Sammlungen seit 1800 (Arbeitstitel) [in Druck].

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In ihren Aufzeichnungen befassten sich die Mädchen durchaus mit Themen, die in den Schreibaufrufen propagiert wurden: Sie schilderten besondere Ereignisse, berichteten über den Lageralltag, thematisierten die Lagergemeinschaft, beschrieben die Unterkunft und Umgebung und dokumentierten die aktuelle Wetterlage. Darüber hinaus griffen die Schreiberinnen in ihren KLV-Tagebüchern aber auch thematische Aspekte auf, die über das Spektrum der von der Dienststelle KLV geforderten Inhalte hinausreichten. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der Aspekt „soziale Beziehungen“: Die Mädchen reflektierten über ihr Verhältnis zu den gleichaltrigen Lagerteilnehmerinnen aber auch über jenes zu den Erzieherinnen und versuchten, dieses mittels kleiner Erinnerungsobjekte zu dokumentieren. Zudem hielten sie in ihren Aufzeichnungen Geheimnisse und Träume fest, kommentierten die wechselnden Stubenbelegschaften und die aktuelle Versorgungslage, taten ihr Heimweh kund, tätigten NS-affine Äußerungen und berichteten über Krieg und Frieden. Vor allem die Schilderungen der Kinder über das persönliche Kriegserleben vor Ort, aber auch die Thematisierung von Hunger und Heimweh bilden einen starken Kontrast zum propagandistischen Anspruch der Dienststelle KLV an KLV-Tagebücher. Sie stellten das vom NS-Regime entworfene, idealisierte Bild der KLV nicht nur in Frage, sondern konterkarierten dieses regelrecht, zumal sie aufzeigten, dass die KLV-Lager den versprochenen Schutz der Kinder vor dem Luftkrieg nicht gewährleisten konnten, die Lebensmittelversorgung zumindest phasenweise unzureichend war und viele Lagerteilnehmerinnen stark unter der Trennung von ihrer Familie litten. Die Tatsache, dass es den beiden Mädchen möglich war, in ihren KLV-Tagebüchern auch über negative Erfahrungen zu berichten bzw. über solche, die der Reputation der KLV schaden konnten, macht deutlich, dass sie im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung ihrer Tagebücher über mehr Handlungsspielraum verfügten als dies von den OrganisatorInnen der KLV vorgesehen war.63 Sie konnten die thematische Ausrichtung ihrer Tagebücher zumindest mitbestimmen und die Aufzeichnungen somit auch individuellen Zwecken dienstbar machen. Ein solcher Prozess der Aneignung seitens jugendlicher DiaristInnen stellt auch in anderen zeitlichen und politischen Zusammenhängen durchaus

63 Wie der Vergleich mit andernorts verfassten KLV-Tagebüchern nahelegt, oblag Rosa Schobert und Inge Winkler in Bezug auf die Gestaltung ihrer Tagebücher eine verhältnismäßig große Entscheidungsfreiheit. Ob KLV-Teilnehmerinnen ihre Tagebücher nach eigenen Vorstellungen (mit-)gestalten konnten, war in erster Linie von den Erziehungskräften im jeweiligen Lager abhängig: Während manche den Prozess des Tagebuchschreibens – wie in den KLVZeitschriften vorgesehen – stark lenkten und kontrollierten, ließen andere den Kindern beim Verfassen der Einträge weitgehend freie Hand.

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kein Ausnahmephänomen dar und wurde in Forschungen zu Jugendtagebüchern bereits mehrfach beschrieben.64 Bemerkenswert in Hinblick auf Rosa Schobert und Inge Winkler ist jedoch, dass es den beiden Mädchen trotz der in ihrem Lager vollzogenen politischen Vereinnahmung von Diarien gelang, sich im Tagebuchschreiben einen Freiraum für die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse zu schaffen, wobei dieses Handeln nicht als Widerständigkeit gegenüber dem NS-Regime zu betrachten ist. Vielmehr kommt hier das von Alf Lüdtke entwickelte Konzept des „Eigen-Sinns“ zum Tragen65: Durch die Aneignung des verordneten Tagebuchschreibens beanspruchten die Mädchen im stark durch Regeln und Vorgaben geprägten Lageralltag „Raum und Zeit ‚für sich selbst‘“.66 Dabei bewegten sie sich in einem Spannungsfeld zwischen der Hinnahme auferlegter Zwänge und deren Auflockerung durch das – von den Erzieherinnen geduldete – Einbringen individueller Vorstellungen, aber auch durch den Rückgriff auf gesellschaftlich etablierte Tagebuchtraditionen.

V.

Genauere Betrachtung einzelner thematischer Aspekte

Angesichts der Erkenntnis, dass die Mädchen in ihren Tagebüchern auch thematische Aspekte aufgriffen, die nicht Teil des von der Dienststelle KLV propagierten Themenkanons waren, sollen nun zwei dieser Aspekte herausgegriffen und einer näheren Betrachtung unterzogen werden: zum einen die Kategorie „Krieg“, da zumindest Teilaspekte dieser Thematik aus Sicht der OrganisatorInnen der KLV als problematisch gelten mussten, und zum anderen die Kategorie „soziale Beziehungen“, weil diese in beiden Tagebüchern auffallend viel Raum einnimmt.

64 Vgl. Hämmerle, Ein Ort, 41–44; Peter Knoch, Kinder im Krieg 1914–18. Zwei Mädchen schreiben Kriegstagebuch, in: Gerhard Hergenröder/Eberhard Sieber (Hg.), Varia Historica. Beiträge zur Landeskunde und Geschichtsdidaktik, Plochingen 1988, 443–488, 462–464. 65 Der Historiker Alf Lüdtke untersuchte im Arbeitsalltag vollzogene soziale Praktiken deutscher Fabrikarbeiter um 1900. In Verbindung mit den bestehenden Machtverhältnissen zwischen Fabrikbesitzern und ihren Arbeitern betonte er die Bedeutung des „Eigen-Sinns“. Unter diesem Begriff verstand er Ausdrucksformen der Fabrikarbeiter, die sich zwar „nicht als direkter Widerstand gegen die Zumutungen ‚von oben‘“ richteten, aber ihren „Anspruch auf einen eigenen Raum“ verdeutlichten. Vgl. Alf Lüdtke, Lohn, Pausen, Neckereien: Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900, in: Alf Lüdtke (Hg.), EigenSinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse, Hamburg 1993, 120–154, 139. 66 Alf Lüdtke, „Fahrt ins Dunkle?“ Erfahrung des Fremden und historische Rekonstruktion, in: Lüdtke, Eigen-Sinn, 23–41, 36.

332 5.1

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Krieg

Die Thematisierung des Krieges ist in den untersuchten Diarien unterschiedlich stark ausgeprägt. Rosa Schobert befasste sich in ca. sieben Prozent ihrer Einträge mit diesem Aspekt, bei Inge Winkler waren es ca. 19 Prozent, wobei die Auseinandersetzung damit unterschiedliche Dimensionen umfasste.

5.1.1 Persönliches Kriegserleben Während ihres Aufenthalts im KLV-Lager berichteten Rosa Schobert und Inge Winkler in ihren Tagebüchern mehrmals von der Sichtung „feindlicher“ Flieger und vom Niedergang einzelner Bomben in der näheren Umgebung. Im Vergleich zu den österreichischen Industriezentren war das Waldviertel zwar verhältnismäßig wenigen gezielten Luftangriffen ausgesetzt,67 mitunter kam es aber zu sogenannten „Notabwürfen“68, die die Bevölkerung ebenso beunruhigten wie die zahlreichen Flugzeuge, die die Region überflogen.69 Im Sommer 1944 hielt Rosa Schobert eine solche Begebenheit in ihrem Tagebuch fest: „Flieger über Drosendorf. Eine aufregende Sache. 2 Tage sehen wir jetzt schon hintereinander sehr viele Flieger, aber feindliche. Besau beginnt gleich zu heulen und machte uns alle sehr nervös. Auch eine Bombe sah ich fallen. Es war bei Primersdorf. Und in Autendorf ist auch etwas passiert. Ich war natürlich auch aufgeregt“.70 Ihren Eintrag ergänzte das Mädchen durch eine kleine Zeichnung (siehe Abb. 2), die mehrere über eine Kirche hinwegfliegende Flugzeuge zeigt und folgenden Kommentar aufweist: „So flogen sie über die Kirchturmspitze. Das glänzte wie Silber in der Sonne“.71 In den Worten Rosa Schoberts spiegelt sich einerseits die Beklemmung wider, die das geschilderte Ereignis in ihr hervorgerufen haben muss. Andererseits schwingt in ihnen aber auch eine gewisse Faszination mit: Die so plötzlich am Himmel aufgetauchten Flieger, deren metallene Gehäuse in der Sonne blitzten, stellten zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch ein aufregendes Schauspiel für sie dar, das sie in Staunen versetzte.72 67 Vgl. Maria Mayr, Das Jahr 1945 im Bezirk Horn, Horn/Waidhofen an der Thaya 1994, 48. 68 Notabwürfe waren nicht geplante Bombenabwürfe, die z. B. getätigt wurden, wenn das anvisierte Ziel nicht erreicht werden konnte oder die Flugzeuge unter den Beschuss der Flak gerieten. Vgl. Mayr, Das Jahr 1945, 43. 69 Vgl. Wilhelm Romeder, Das Jahr 1945 in Weitra und Umgebung. Ereignisse – Erlebnisse – Schicksale, Horn/Waidhofen an der Thaya 1996, 11. 70 Rosa Schobert, LTB (Bd. 1), 1944, DLA. 71 Ebd. 72 Dieses Phänomen beschreibt Nicholas Stargardt in seinen Forschungen zum Kriegserleben von Kindern. Vgl. Nicholas Stargardt, Kinder in Hitlers Krieg, München 2008, 301–302.

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Abb. 2: Ausschnitt aus dem Tagebuch von Rosa Schobert, 1944 (DLA).

Fast zeitgleich verfasste Inge Winkler einen ganz ähnlichen Tagebucheintrag, mit dem Unterschied, dass in diesem die Furcht der Schreiberin vor den herannahenden Fliegern noch stärker zum Ausdruck kam. Wie Rosa Schobert illustrierte auch Inge Winkler ihre Ausführungen: Mit Buntstiften zeichnete sie ein kleines graues Flugzeug, umgeben von mehreren Gesteinsbrocken ähnelnden Bomben. Bildliche Darstellungen dieser Art dienten der Veranschaulichung der beschriebenen Ereignisse, ermöglichten es den Kindern – ebenso wie die schrift-

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liche Fixierung von Kriegserfahrungen – aber auch, das Erlebte zumindest „ansatzweise zu verarbeiten“.73 Neben den Kriegserlebnissen in Niederösterreich beschrieben die Mädchen in ihren Aufzeichnungen auch ihre im Frühjahr 1945 erfolgte Flucht nach Bayern. Der Weg dorthin war sehr beschwerlich. Häufig mussten die Kinder und ihre Lehrerinnen das Transportmittel wechseln und dabei oft tagelange Wartezeiten auf sich nehmen. Aufgrund des durch die Luftangriffe stark beeinträchtigten Verkehrsnetzes waren sie außerdem gezwungen, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Mit der Fortdauer der Strapazen stellte sich bei den Mädchen, wie die nachfolgende Passage aus Rosa Schoberts Tagebuch illustriert, ein Zustand der Verzweiflung und Erschöpfung ein: „Wir fuhren in der Nacht und konnten gar nicht schlafen, weil es so furchtbar kalt war. Endlich konnten wir aussteigen. Aber wir mußten noch 3 km gehen. Am Bahnhof weinten wir fast alle. Unsere Gruppe war ganz allein“.74 Neben Kälte und Schlaflosigkeit machte den Kindern auch der ständige Hunger zu schaffen sowie mehrere Tieffliegerangriffe, die sie aus nächster Nähe miterlebten. Ungewöhnlich an den während der Flucht entstandenen Tagebucheinträgen ist nicht nur, dass diese besonders detailliert ausfielen, sondern auch, dass sie im Gegensatz zur Mehrzahl der Einträge kaum Zeichnungen und Einklebungen enthalten. Anders als in den Schreibaufrufen gefordert, ging es den Diaristinnen hier nicht darum, sich eine ästhetisch ansprechende Erinnerung an ihre KLV-Zeit zu schaffen. Vielmehr war es ihnen in dieser letzten Phase des Krieges ein Bedürfnis, die sich überschlagenden Ereignisse rund um ihre Flucht zu dokumentieren. Das Festhalten der über sie hereinbrechenden Eindrücke half ihnen dabei, das Erlebte in eine zeitliche Ordnung zu bringen und es auf diese Weise fassbar zu machen.75

5.1.2 Kriegsgeschehen in Wien Ergänzend zur Schilderung persönlicher Kriegserlebnisse äußerten sich Rosa Schobert und Inge Winkler in ihren Tagebüchern auch über die aktuelle Kriegslage in Wien. Ihre Aufmerksamkeit galt dabei vor allem den Luftangriffen auf die Großstadt, die sie, wie die nachfolgende Notiz von Rosa Schobert aus dem 73 Constanze Kirchner, „Krieg“ in der Kinderzeichnung, in: Kunst + Unterricht (2004) 1, 4–17, 17. Die deutsche Kunstpädagogin weist in ihren Forschungen u. a. darauf hin, dass Zeichnungen Kindern die Gelegenheit geben, schwer kommunizierbare Inhalte zu artikulieren, wodurch die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen in Gang gesetzt werden kann. 74 Rosa Schobert, LTB (Bd. 2), 1945, DLA. 75 Vgl. Susanne zur Nieden, Chronistinnen des Krieges. Frauentagebücher im Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München/Zürich 1995, 835–860, 843.

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Frühsommer 1945 veranschaulicht, mit großem Entsetzen verfolgten: „Als wir erfuhren, wie Floridsdorf bombardiert wurde, war es ein furchtbarer Schlag für uns. Wir heulten schrecklich, denn es ist furchtbar, man kann sich das gar nicht denken“.76 Informationen über die Situation in Wien erhielten die Mädchen sowohl über den Briefkontakt mit ihren Angehörigen und den Austausch mit anderen Lagerteilnehmerinnen als auch über diverse Zeitungen. Ab Herbst 1944 – als die Bombenangriffe auf Österreich deutlich zunahmen77 – begann Inge Winkler auch entsprechende Zeitungsberichte und Bilder von zerstörten Gebäuden in ihr Tagebuch einzukleben, die sie zuweilen mit einem dem Jargon der nationalsozialistischen Berichterstattung angepassten Kommentar versah. Die jugendliche Schreiberin bediente sich hier einer gängigen diaristischen Praxis, die speziell in Kriegstagebüchern Anwendung fand und ihr möglicherweise aus einem anderen institutionellen Kontext – etwa aus der Schule oder der HJ – vertraut war. Als eine Art „Chronistin des Krieges“78 versuchte sie, das Kriegsgeschehen in ihrer Heimatstadt festzuhalten, vermutlich mit der Intention, sich selbst einen Überblick über die dortige Lage zu verschaffen. Da sie dabei jedoch lediglich Einzelereignisse herausgriff, sind ihre Darstellungen von sehr fragmentarischem Charakter.

5.1.3 Sorge um das persönliche Umfeld Die Kenntnis von den auf Wien verübten Luftangriffen ging mit der Sorge der Schreiberinnen einher, dass ihren Angehörigen etwas zugestoßen sein könnte. Rosa Schobert artikulierte diese Angst erstmals in einem Eintrag aus dem Frühjahr 1944: In Verbindung mit der Bombardierung ihres Heimatbezirks äußerte sie die Befürchtung, dass ihre Pflegeeltern nicht mehr am Leben seien. Auch Inge Winkler machte das Wohlbefinden ihrer Familie zum Gegenstand ihrer Aufzeichnungen. Im Sommer 1944 fügte sie ein „Lebenszeichen“ ihrer in Wien verbliebenen Mutter in ihr Tagebuch ein. Hierbei handelte es sich um eine von der Reichspost ausgegebene Eilnachrichtenkarte, die nach Bombenangriffen portofrei an Angehörige versandt werden konnte. Die Karte enthielt die stichwortartige Botschaft, dass Inge Winklers Mutter bei einem schweren Angriff auf Wien keinen physischen Schaden erlitten hatte, die Wohnung jedoch „kaputt“ sei und Post daher an die Großmutter geschickt werden müsse. Inge Winkler kommentierte diese Nachricht mit spürbarer Erleichterung: „Das ging ‚Gott sei Dank‘ noch gut aus. Die Hauptsache ist, daß meiner lieben Mutti nichts passiert 76 Rosa Schobert, LTB (Bd. 1), 1944, DLA. 77 Vgl. Manfried Rauchensteiner. Der Krieg in Österreich 1945 [1984], Neuauflage, Wien 2015, 32–34. 78 Zur Nieden, Chronistinnen, 845.

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ist“.79 Die Sorge um das Leben der Mutter prägte auch viele nachfolgende Tagebucheinträge Inge Winklers. Einen Höhepunkt erreichte diese im Frühjahr 1945, als im Zuge der Flucht nach Westen der Kontakt zu Maria Winkler abriss. 5.1.4 Kriegspropaganda Die Aufzeichnungen beider Schreiberinnen enthalten von der nationalsozialistischen Kriegspropaganda geprägte Einträge. Inge Winkler trug bspw. ein in der NS-Zeit von Herybert Menzel verfasstes Gedicht in ihr Tagebuch ein, das an den Kameradschaftswillen und das Durchhaltevermögen der „Volksgemeinschaft“ appellierte und fügte diesem ein Bild eines Soldaten bei. Rosa Schobert wiederum versah ihr Diarium anlässlich des Heldengedenktages mit kriegsverherrlichenden Versen und umrahmte diese mit mehreren Hakenkreuzfahnen. Eingang in die Tagebücher der beiden Mädchen fand aber auch nationalsozialistisches Liedgut, wie etwa das 1940 verfasste Propagandalied „Bomben gegen Engeland“ oder das etwa zeitgleich entstandene Marschlied „Drei Kameraden im Bunker“. Im Zusammenhang mit dem Aufgreifen propagandistischer Inhalte stellt sich die Frage, welchen Zweck die Schreiberinnen damit verfolgten: Wollten sie mittels solcher Äußerungen ihre Unterstützung für das herrschende Regime zum Ausdruck bringen oder agierten sie hier basierend auf angelernten Verhaltensweisen und den an sie gerichteten Erwartungen systemkonform? Anhand der Tagebücher lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten, da die Schreiberinnen besagte Gedichte, Lieder und Zeichnungen nicht weiter kommentierten. Bei Rosa Schobert erfolgten solche Einträge meist ohne erkennbaren Zusammenhang zu äußeren Geschehnissen. Bei Inge Winkler verhielt sich das anders: Sie trug derartige Inhalte mitunter im direkten Anschluss an Berichte über auf Wien verübte Luftangriffe in ihr Tagebuch ein, ganz so als verfolge sie damit das Ziel, ihre eigene Kriegsmoral zu stärken oder aber etwaige Zweifel am von der NS-Propaganda verheißenen „Endsieg“ zu beseitigen.

5.2

Soziale Beziehungen

Beim thematischen Aspekt „soziale Beziehungen“ handelt es sich um jene inhaltliche Kategorie, die in den untersuchten Tagebüchern am häufigsten in Erscheinung trat. In den Aufzeichnungen von Rosa Schobert fand sie in ca. 40 Prozent der Einträge Eingang, bei Inge Winkler waren es ca. 52 Prozent. In Anlehnung an den deutschen Psychologen Clemens Tesch-Römer, der soziale Beziehungen als 79 Inge Winkler, LTB (Bd. 1), 1944, SFN, NL 237.

Veronika Siegmund, „Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte …“

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ein wechselseitiges aufeinander bezogenes „Denken, Fühlen und Handeln“80 begreift, umfasst die genannte Kategorie sowohl Äußerungen der Schreiberinnen über ihre Gedanken und Gefühle gegenüber anderen als auch Äußerungen über Interaktionen mit Personen aus ihrem näheren sozialen Umfeld. Eine nähere Auseinandersetzung mit diesen beiden Subkategorien soll nun entlang der Personengruppe der Lagerteilnehmerinnen erfolgen. Rosa Schobert und Inge Winkler pflegten während ihres KLV-Aufenthalts zwar Kontakte zu unterschiedlichen Personen(gruppen) – etwa auch zu den Erzieherinnen im Lager oder zu ihren zu Hause verbliebenen Angehörigen –, ihrem Verhältnis zu den gleichaltrigen Lagerteilnehmerinnen schenkten die Mädchen aber die größte Aufmerksamkeit.

5.2.1 Äußerungen über Gedanken und Gefühle Ihre Gedanken und Empfindungen gegenüber anderen Lagerteilnehmerinnen äußerten Inge Winkler und Rosa Schobert in ihren Tagebüchern in unterschiedlicher Intensität. Inge Winkler ging mit solchen Bemerkungen eher sparsam um, meistens bezogen sich diese auf Martha T., ihre engste Freundin im Lager. Anfang 1945 bemerkte sie im Zusammenhang mit einem von ihr erhaltenen Brief, dass sie Martha „sehr gut leiden“81 könne und dass diese sie häufig „zum Lachen“82 bringe. Eine weitere, im Anschluss an einen „Bunten Abend“ verfasste Passage verdeutlicht, dass sie die Freundin nicht nur mochte, sondern durchaus tiefere Gefühle für sie hegte: „Martha war so lieb beim Spiel, ich war ganz vernarrt in sie und bin es noch immer“.83 Das Tagebuchschreiben ermöglichte es Inge Winkler, die Gefühle für ihre Lagerkameradin in Worte zu fassen und die zwischen den beiden Mädchen entstandene Freundschaft zu dokumentieren. In Rosa Schoberts Aufzeichnungen spielten Äußerungen über Gedanken und Gefühle gegenüber Altersgenossinnen eine weitaus größere Rolle. Zudem konzentrierten sich ihre diesbezüglichen Aussagen nicht auf eine Person, sondern betrafen alle Mädchen, die gerade ein Zimmer mit ihr teilten. Mehrmals nahm sie in ihrem Tagebuch eine Charakterisierung ihrer Stubenkolleginnen vor. So auch im Frühjahr 1944, als sie eine Liste ihrer Zimmergenossinnen erstellte und hervorstechende positive bzw. negative Eigenschaften jeder einzelnen anführte. Ein Vergleich mit an anderen Stellen des Diariums vorgenommenen Bewertungen verdeutlicht jedoch, dass die hier getroffenen Einschätzungen lediglich eine Momentaufnahme darstellten. Sie spiegelten das augenblickliche Verhältnis von 80 81 82 83

Clemens Tesch-Römer, Soziale Beziehungen alter Menschen, Stuttgart 2010, 17. Inge Winkler, LTB (Bd. 3), 1945, SFN, NL 237. Ebd. Ebd., (Bd. 4), 1945, SFN, NL 237.

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Rosa Schobert zu einzelnen Zimmerkolleginnen wider, das jedoch einem ständigen Wandel unterlag. 5.2.2 Äußerungen über Interaktionen Die beiden Schreiberinnen schilderten in ihren Aufzeichnungen unterschiedliche Interaktionen mit Lagerteilnehmerinnen. Sie berichteten von Gesprächen mit Altersgenossinnen, von geheimen nächtlichen Besuchen in anderen Zimmern, aber auch von Streichen, die sie gegeneinander ausheckten. So beschrieb etwa Inge Winkler im Herbst 1944, dass sie eine Hand und einen Fuß einer schlafenden Zimmerkollegin in Wasser getaucht hatte. In Rosa Schoberts Tagebuch wird deutlich, dass solche harmlosen Scherze auch in eine Erniedrigung und Demütigung einzelner Mädchen ausarten konnten. Sie führte in ihrem Tagebuch eine ganze Reihe von Aktionen an, die sich gegen eine bestimmte Stubenkameradin richteten: „Ja, Martha ist ein bedauernswertes Kind. Wir Schlimmen nähten ihr alles zusammen Zuerst will ich die Hose beschreiben: Erstmal unten, daß sie nicht durchkann. Dann wurde ein Zahnbürstel hineingenäht. […] Im Jackerl nähte Liesel ihr die Schere hinein. Die hat sie heute noch nicht heraußen. […] Sie hat auch geweint, die Arme. Zuhalten tun wir ihr auch immer. Heute haben wir auch Wasser auf sie geschüttet“.84

Die Schreiberin nutzte ihr Tagebuch hier, um die innerhalb ihrer Stube ausgetragenen Machtkämpfe und die daraus resultierende „Hackordnung“ darzustellen. Wie etwa die Erinnerungsberichte von Günter de Bruyn und Jost Hermand an ihre KLV-Zeit vor Augen führen, stellten solche – manchmal auch mit physischer Gewalt verbundene – Rangstreitigkeiten in KLV-Lagern durchaus keine Seltenheit dar und hinterließen deutliche Spuren im Gedächtnis der LagerteilnehmerInnen.85 Eine weitere von den Diaristinnen dokumentierte Interaktion zwischen den Lagerteilnehmerinnen war der Austausch kleiner Objekte und papierener Artefakte. So berichteten Inge Winkler und Rosa Schobert davon, dass sie anderen Mädchen kleine Geschenke machten bzw. selbst mit solchen bedacht wurden. Inge Winkler vermerkte z. B. im Frühling 1945, dass sie von einer Freundin im Lager ein „großes Herz“86 bekommen hatte, an anderer Stelle erwähnte sie, dass sie von ebendiesem Mädchen ein Bonbon erhalten hatte, wobei sie als Beleg dafür das entsprechende Papier in ihr Tagebuch einklebte. Ein anderes sehr begehrtes Geschenk waren Haarsträhnen, die sich die Mädchen abschnitten und zum gegenseitigen Andenken überließen. Inge 84 Rosa Schobert, LTB (Bd. 2), 1945, DLA. 85 Vgl. De Bruyn, Zwischenbilanz, 111–112; Hermand, Als Pimpf, 38 und 56. 86 Inge Winkler, LTB (Bd. 3), 1945, SFN, NL 237.

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Abb. 3: Ausschnitt aus dem Tagebuch von Inge Winkler, 1945 (SFN, NL 237).

Winkler befestigte eine ganze Reihe solcher mit kleinen Schleifen zusammengebundenen Strähnen in ihren Aufzeichnungen (siehe Abb. 3) und beschrieb auch die Umstände, wie sie zu diesen gekommen war: „Haare von meiner Kameradin Irma Nazim. Zuerst wollte sie mir keine geben, aber nach langem Bitten gab sie mir doch welche. Gerti Federl hat mir auch Haare gegeben. Aber weil sie sich die Haare hat abschneiden lassen. Sonst hätte ich sowieso keine bekommen. Aber von der Maria habe ich sie aus lauter Liebe bekommen“.87 87 Ebd., (Bd. 5), 1945, SFN, NL 237.

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Personenbezogene Erinnerungsobjekte wie Haarsträhnen dienten den Mädchen als dingliche „Beweis[e] ihrer Beziehung[en]“88 und erfüllten zudem eine Gedenkfunktion: Sie sollten nach dem Ende der KLV-Zeit an die jeweilige Spenderin erinnern. Weitere Souvenirs von Lagerkameradinnen, die Eingang in die untersuchten Tagebücher fanden, sind Portraitfotografien, Briefe, aber auch poesiealbenartige Einträge. Letztere wurden häufig zum Geburtstag der Tagebuchbesitzerin, manchmal aber auch ohne besonderen Anlass verfasst und enthielten – gemäß der damals unter jungen Mädchen sehr weit verbreiteten Stammbuchkultur – Ratschläge, Wünsche oder Sprüche, die häufig mit Zeichnungen, getrockneten Blumen, Karten oder kleine Basteleien verziert waren.89 Mit dem Transfer und der Aufbewahrung von Poesieeinträgen, Briefen und Portraitfotografien bedienten sich Rosa Schobert und Inge Winkler Erinnerungspraxen, die sich, wie die Historikerin Li Gerhalter aufzeigte, bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt herausgebildet hatten: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es unter den Schülerinnen österreichischer und deutscher Mädchenschulen üblich geworden, die genannten Erinnerungsgegenstände untereinander auszutauschen, um sich damit ein Andenken an Klassenkolleginnen zu schaffen.90 Bemerkenswert an der Gedenkpraxis von Inge Winkler und Rosa Schobert ist, dass sie in ihren Diarien nicht nur über den Transfer diverser Erinnerungsobjekte berichteten, sondern diese mitunter auch zu einem physischen Bestandteil ihrer Tagebücher machten. Vor allem Inge Winkler gestaltete ihr Tagebuch als ein hybrides Erinnerungsmedium, das als Speicher für Erlebnisse aus ihrer KLV-Zeit fungierte, mit fortschreitender Dauer des Lagers aber auch zu einem Poesiealbum und Aufbewahrungsort für Briefe, Fotografien und kleine Geschenke wurde.

88 Li Gerhalter, Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Materielle Aspekte persönlicher Beziehungen unter Schülerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Reinelde Motz-Linhart (Hg.), Tagungsbericht des 25. Österreichischen Historikertag 2008, St. Pölten 2010, 729–741, 731. 89 Vgl. Nora Witzmann, Denk an mich! Stammbücher und Poesiealben aus zwei Jahrhunderten. Katalog zur Ausstellung, Wien 2015, 31–35. 90 Vgl. Li Gerhalter, „Erika hätte so gern ein Bild von Koch.“ Materielle Erinnerungskulturen in Mädchenschulen in Österreich und Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Genre & Histoire. La revue de l′Association Mnémosyne 8 (2011), Absatz 7.

Veronika Siegmund, „Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte …“

VI.

341

Resümee

In vielen KLV-Lagern wurden systeminvolvierte Mädchen und Burschen zur Führung von Tagebüchern angehalten, wobei seitens des NS-Regimes konkrete Erwartungshaltungen bestanden, wie diese gestaltet sein sollten. Den Idealtypus eines KLV-Tagebuchs propagierte die Dienststelle KLV über Zeitschriften: Die Aufzeichnungen sollten positive Berichte über besondere Erlebnisse, den Lageralltag, die Lagergemeinschaft, das aktuelle Wetter, die Unterkunft und Umgebung enthalten und auch visuell ansprechend gestaltet sein. Vorrangiges Ziel solcher Niederschriften war es, ein idealisiertes Bild der KLV zu zeichnen, das einerseits die Erinnerung der LagerteilnehmerInnen formen sollte. Andererseits versuchte man, mit den als authentisch inszenierten Erlebnisberichten auch dem Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der KLV entgegenzuwirken. Am Beispiel von Rosa Schobert und Inge Winkler wurde exemplarisch aufgezeigt, dass zwischen den Ansprüchen an KLV-Tagebücher und der Tagebuchpraxis in den Lagern mitunter Diskrepanzen bestanden. So befassten sich die Mädchen in ihren Diarien auch mit Themen, die in den Schreibaufrufen keine Erwähnung fanden und tätigten Äußerungen, die dem von der NS-Propaganda transportierten Bild der KLV widersprachen. Die Heranwachsenden verfügten in der Arbeit an ihren Tagebüchern folglich über mehr Gestaltungsfreiheit als vorgesehen und machten ihre Aufzeichnungen auch persönlichen Bedürfnissen dienstbar. Eine besondere Rolle spielte dabei die Schilderung eigener Kriegserfahrungen sowie die Artikulation ihrer Sorge um Familienmitglieder. Gleichzeitig reflektierten die Mädchen in ihren Tagebüchern aber auch über ihre Beziehungen im Lager und sammelten Erinnerungsobjekte, um sich ein Andenken an ausgewählte Personen zu schaffen. Die unterschiedlichen, zum Teil individuellen Funktionen, die die Aufzeichnungen für die Mädchen erfüllten, veranschaulichen, dass im Lager von Rosa Schobert und Inge Winkler in Bezug auf das verordnete Tagebuchschreiben ein komplexer Prozess der Aneignung stattfand, der nicht zuletzt auch dem Einfluss kultureller Konventionen und Traditionen des Tagebuchschreibens und -gestaltens unterstand.

Lisbeth Matzer

Aufwachsen als Teil der „Volksgemeinschaft“ – Jugendliche Handlungsspielräume im Nationalsozialismus zwischen Hitler-Jugend, Schule und Freizeitvergnügen1

I.

Einleitung

Für als „arisch“ geltende Kinder und Jugendliche bedeutete Aufwachsen im Nationalsozialismus das Durchlaufen eines speziell auf diese Altersgruppe ausgerichteten Erziehungs- und Indoktrinationsapparates. Neben dem Schulsystem sollte die Hitler-Jugend2 mit ihren Gliederungen als zentrales Instrument der Herrschaftssicherung in Hinblick auf die Erfassung und ideologische Ausrichtung der künftigen Generationen dienen. Beiden Institutionen wurde im NSSystem die Aufgabe zu Teil, die Handlungsspielräume der heranwachsenden Generationen zumindest dahingehend einzuschränken, dass lediglich im nationalsozialistischen Sinne erwünschte Verhaltens- und Denkweisen ausgebildet werden würden, inklusive einem unkritischen Befürworten der „Volksgemeinschaft“. Vor allem die Hitler-Jugend beziehungsweise die Reichsjugendführung (RJF) verfolgte diesbezüglich den Anspruch und das Ziel, die völlige Unterordnung als Motor zur Inklusion in die „Volksgemeinschaft“ voranzutreiben. Die1 Dieser Artikel entstand im Rahmen des Dissertationsprojekts der Autorin zur Hitler-Jugend in Österreich und Slowenien, welches im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen durch die Europäische Union (Horizont 2020, Grant Agreement Nr. 713600) an der a.r.t.e.s. Graduate School der Universität zu Köln gefördert wurde. Dieser Aufsatz wäre nicht ohne die Hilfe und Unterstützung folgender Personen und deren Institutionen möglich gewesen, die mich bei der Suche nach und Benützung der hier verwendeten Quellen erheblich unterstützten: Li Gerhalter (Sammlung Frauennachlässe, Universität Wien), Günter Müller (Dokumentation Lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Universität Wien) und Martin Rüther (NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln). Mein Dank gilt auch Hedwig Ströher und Kurt H., die sich die Zeit für ein Gespräch mit mir nahmen und mir ihre Tagebücher zur Verfügung stellten. 2 Der Begriff Hitler-Jugend wird in dieser Arbeit, ebenso wie das Kürzel HJ und die Bezeichnung NS-Jugendorganisationen, als Bezeichnung für die gesamte nationalsozialistische Organisation für Jungen und Mädchen verwendet. In Fällen, in denen dezidiert auf eine der alters- und geschlechtsabhängigen Gliederungen referiert wird, werden die Begriffe Bund Deutscher Mädel (BDM, weibliche Jugend, 14–21 Jahre), Jungmädelbund (JM, weibliche Jugend, 10–14 Jahre), Deutsches Jungvolk (DJ, männliche Jugend, 10–14 Jahre) und Hitlerjugend (männliche Jugend, 14–18 Jahre) verwendet.

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sem nationalsozialistischen Erziehungssystem und den darin von verschiedenen Institutionen entwickelten Strategien und Strukturen zur Indoktrination der jüngeren Generationen haben sich bereits zahlreiche Studien gewidmet.3 In den letzten Jahren hat sich zusätzlich das wissenschaftliche Interesse ganz im Trend der historischen Kindheits- und Jugendforschung immer mehr auf die Lebensrealitäten einzelner Kinder und Jugendlicher innerhalb und außerhalb der „Volksgemeinschaft“ sowie auf deren Wahrnehmungen und Erfahrungen gerichtet.4 Egodokumente wie Tagebücher, Zeichnungen, Briefe, Fotoalben oder auch Interviews von und mit Kindern und Jugendlichen wurden in diesem Zusammenhang zu zentralen Quellen. Die bereits in mehrfachen Auflagen erschienenen Editionen von Anne Franks Tagebüchern geben beispielhaft Einblick in die Lebenswelt und das Erfahrungsspektrum von im NS-System verfolgten Kindern und Jugendlichen.5 Obwohl viele Fälle jugendlichen Widerstands gegen das NS-Regime in der historischen Forschung aufgedeckt wurden, gibt es abseits von Arbeiten zu den Geschwistern Scholl und der Weißen Rose wenige bis keine biografische Spuren von und Studien über jugendlichen Widerstand im Nationalsozialismus.6 Auf der anderen Seite des Erfahrungsspektrums – dem innerhalb der „Volksgemeinschaft“ – geben Tagebuch-Editionen oder (Auto-)Biografien des Weiteren vor allem Einblick in den Alltag, das Bewusstsein, die erlebten Indoktrinationsprozesse sowie in individuelle Motive von ehemaligen, meist höherrangigen HJ-Mitgliedern.7 Die meisten solcher (Auto-)Biografien behandeln das Leben von Kindern und Jugendlichen aus dem heutigen Deutsch3 Siehe exemplarisch: Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bände, München 2003; Klaus Peter Horn/Jörg-W. Link (Hg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011. 4 Vgl. Heinz-Hermann Krüger, Methoden und Ergebnisse der historischen Kindheits- und Jugendforschung, in: Heinz-Hermann Krüger/Cathleen Grunert (Hg.), Handbuch Kindheitsund Jugendforschung, Opladen 2002, 283–305; Francesca Weil/André Postert/Alfons Kenkmann (Hg.), Kindheiten im Zweiten Weltkrieg. Halle 2018; Nicholas Stargardt, Witnesses of war. Children’s lives under the Nazis, London 2005. 5 Zu den verschiedenen Varianten, Inhalten und Publikationen siehe hierzu die vom Museum Anne Frank Haus zusammengestellten Erläuterungen unter https://www.annefrank.org/de/an ne-frank/das-tagebuch/ (abgerufen 27. 8. 2019). 6 Vgl. Susan Campbell Bartoletti, Jugend im Nationalsozialismus. Zwischen Faszination und Widerstand, Berlin 2007; Christian Ernst, Die Weiße Rose – eine deutsche Geschichte? Die öffentliche Erinnerung an den Widerstand in beziehungsgeschichtlicher Perspektive (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs Band 34), Göttingen 2018; Miriam Gebhardt, Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden, München 2017. 7 Siehe hierzu beispielhaft: Sven Keller (Hg.), Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939–1946 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 111), Berlin/Boston 2015; Gisela Miller-Kipp, „Der Führer braucht mich“. Der Bund Deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs (Materialien zur historischen Jugendforschung), Weinheim 2007; Martin Rüther, „Macht will ich haben!“. Die Erziehung des Hitler-Jungen Günther Roos zum Nationalsozialisten, Bonn 2017.

Lisbeth Matzer, Aufwachsen als Teil der „Volksgemeinschaft“

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land, die Spezifika einer HJ-Karriere im heutigen Österreich oder auch in den sogenannten „volksdeutschen“ Siedlungsgebieten Süd- und Osteuropas werden dabei häufig ausgeblendet.8 Zudem wird der Alltag „normaler“ Jugendlicher innerhalb der „Volksgemeinschaft“, die keine oder eine weniger exponierte Karriere innerhalb der NS-Jugendorganisationen durchliefen und nicht aktiv in den Widerstand gegen das NS-Regime traten, nicht ausreichend beleuchtet. Richtet man den Blick auf diese jungen Menschen, zeigt sich auch in dem durch Schule und NS-Jugendorganisationen auf vollständige Erfassung gerichteten Apparat ein breites Spektrum an Handlungsspielräumen und Lebensrealitäten zwischen aktiver, begeisterter Teilnahme an der Hitler-Jugend, nonkonformem Verhalten, Verweigerung durch Nicht-Teilnahme an NS-Jugendaktivitäten und aktivem Protest in Form von subversivem Verhalten wie es zum Beispiel die sogenannten „Schlurfs“ als unangepasste Jugendliche repräsentierten.9 Auf dieser Basis fragt der vorliegende Beitrag anhand von drei exemplarischen, jugendlichen Tagebuchschreibenden nach dem Stellenwert, den einzelne „ostmärkische“ Jugendliche dem Nationalsozialismus im Allgemeinen und der Hitler-Jugend im Speziellen in ihrer Lebensgestaltung auf unterschiedliche Weise einräumten. Welche Handlungsspielräume wurden individuell geschaffen und/ oder wahrgenommen? Welche Motive wurden handlungsleitend, wenn es darum ging, sich dem Zugriff der NS-Jugendorganisationen zu entziehen oder sich dem NS-Regime unterzuordnen? Indem die Beispiele in unterschiedlichem Ausmaß Einblick in Momente der Begeisterung, der Verweigerung und in nonkonforme Verhaltensweisen in Bezug auf den Nationalsozialismus geben, soll gezeigt werden, dass die individuelle Teilnahme an HJ-Angeboten im Verhältnis zum Schul- und Freizeitalltag von den Jugendlichen selbst bestimmt werden konnte. 8 Das in dieser Hinsicht bereits von Johanna Gehmacher Anfang der 1990er-Jahre postulierte Defizit der Forschung, in Hinblick auf NS-Jugendorganisationen hauptsächlich deutsche Verhältnisse und Biografien zu beleuchten, gilt bis auf wenige Ausnahmen wie die Interviewstudien von Reinhard Sieder, Claudia Rauchegger-Fischer und Caroline Mezger bis heute. Vgl. Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 25–27; Reinhard Sieder, Ein Hitlerjunge aus gutem Haus. Narrativer Aufbau und Dekonstruktion einer Lebensgeschichte, in: Wolfram Fischer-Rosenthal/Peter Alheit (Hg.), Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktionen gelebter Gesellschaftsgeschichte, Wiesbaden 1995, 330–359; Claudia Rauchegger-Fischer, „Sind wir eigentlich schuldig geworden?“. Lebensgeschichtliche Erzählungen von Tiroler Frauen der Bund-Deutscher-Mädel-Generation, Innsbruck/Wien/Bozen 2018; Caroline Mezger, Youth, Nation, and the National Socialist Mobilization of Ethnic Germans in the Western Banat and the Batschka (1918–1944), phil. Diss., European University Institute Florenz 2016. 9 Vgl. Alfons Kenkmann, Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Abweichendes Verhalten unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, 144–162; Christian Gerbel/Alexander Mejstrik/ Reinhard Sieder, Die „Schlurfs“. Verweigerung und Opposition von Wiener Arbeiterjugendlichen im Dritten Reich, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 523–548.

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zeitgeschichte 47, 3 (2020)

In dieser Hinsicht wird die Ausgangsthese untersucht, dass der Erfolg oder Misserfolg der Hitler-Jugend als Inklusionsinstrumentarium der „Volksgemeinschaft“ vor allem davon abhing, welchen Stellenwert die Jugendlichen dem Nationalsozialismus allgemein sowie den NS-Jugendorganisationen im Speziellen in ihrem Identitätsprojekt zugestanden. Die Tagebücher, die den Kern dieser Untersuchung bilden, wurden zur Zeit des NS-Regimes in Wien, Oberösterreich und Salzburg über unterschiedliche Zeiträume hinweg verfasst. Die Schreibenden – ein Mädchen und zwei Jungen – geben darin jeweils auf unterschiedliche Art und Weise Einblick in ihren Alltag, ihre Wünsche, Hoffnungen und Sorgen ebenso wie in ihre Einstellungen zur Hitler-Jugend. Während die zwei Tagebücher von Hedwig Ströher (geb. 1930)10 und die sechs Tagebücher von Kurt H. (1930–2019)11 von den Schreibenden selbst der jeweiligen Sammlung übergeben wurden, ist jenes von Walter Schenk (1926– 2000)12 nach dessen Tod durch das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln angekauft worden. In der Tradition der Cultural Studies stehend wurde zur Bearbeitung dieses Materials ein analytisch-methodisches Patchwork vollzogen. An die grundlegende, durch die in Abschnitt II ausführlicher dargelegten Aspekte ergänzte Quellenkritik, wurde eine qualitative Inhaltsanalyse mit deduktiver Kategorienbildung nach Philipp Mayring13 angeschlossen. Um die für die Fragestellung dieser Arbeit zentralen handlungsleitenden Motive zu abstrahieren, wurden in einem weiteren analytischen Schritt orientiert an der reflektierenden Interpretation die verschiedenen Erfahrungsräume der Schreibenden identifiziert und in Hinblick auf deren Einfluss auf die individuelle, im Tagebuch sichtbare Lebensgestaltung hin interpretiert.14 10 Die Tagebücher von Hedwig Ströher sind überliefert in: Sammlung Frauennachlässe (SFN), Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 85. 11 Kurt H. ist ein Pseudonym, da die Tagebücher auf Wunsch des Schreibers durch die Autorin anonymisiert zu verwenden sind. Vgl. Gesprächsnotiz der Autorin über das Treffen zwischen Günter Müller, Lisbeth Matzer, Kurt H. und dessen Frau am 26. 1. 2018 in Wien, im Besitz der Autorin. Kurt H.s Tagebücher sind überliefert in: Dokumentation Lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (DLA), Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, 1930 K.H. 12 Das Tagebuch von Walter Schenk ist im Rahmen der digitalen „Editionen zur Geschichte“ des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln online unter Klarnamen verfügbar, weshalb der Tagebuchschreiber hier nicht anonymisiert wird. Das Tagebuch ist erhalten in: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (NSDOK), N 1603/38 Tagebuch Walter Schenk, URL: https://jugend1918-1945.de/portal/ARCHIV/thema.aspx?bereich=archiv&root=8873&id=21 101&redir (abgerufen 28. 8. 2019). 13 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim/ Basel 2010. 14 Die reflektierende Interpretation ist der zweite analytische Schritt der dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack. Diese Methode wurde in dieser Arbeit nicht durchexerziert, die Autorin orientierte sich allerdings in Hinblick auf handlungsleitende Erfahrungsräume und

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Bevor die gestellten Fragen auf diese Weise behandelt werden, widmet sich der folgende Abschnitt (II) dem historisch-geographischem Kontext sowie den quellenkritischen Grundlagen im Umgang mit den hier als Quellen verwendeten Jugendtagebüchern. Abschnitt III stellt die drei Schreibenden sowie deren Tagebücher ins Zentrum, bevor im letzten Teil des Aufsatzes (IV) die handlungsleitenden Erfahrungsräume der Jugendlichen innerhalb der „Volksgemeinschaft“ zusammenfassend identifiziert werden.

II.

Lebensrealitäten österreichischer Jugendlicher im Nationalsozialismus – Annäherungen an das Quellenmaterial

Alle drei Tagebuchschreibenden galten nach der nationalsozialistischen Rassediktion als „Deutsche“ und sollten – wie der Großteil der Jugendlichen in den österreichischen Bundesländern – nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ 1938 ab ihrem 10. Geburtstag in die Hitler-Jugend aufgenommen werden. Obwohl die Gründung der Hitler-Jugend in Österreich 1926 bereits kurz vor der Etablierung derselben NSDAP-Parteijugend in Deutschland erfolgt war, war der Zustrom zu den NS-Jugendorganisationen in diesen ersten Jahren relativ gering geblieben. Auch in der Zeit des Verbots der NSDAP und ihrer Gliederungen in Österreich, welches auch die Hitler-Jugend betraf, konnte zwischen 1933 und 1938 kein flächendeckendes Netz an NS-Jugendorganisationen errichtet werden.15 Während Hedwig Ströher und Kurt H. noch zu jung gewesen waren, um bereits Mitglied einer illegalen NS-Jugendgruppe gewesen sein zu können, konnte auch kein Beleg für eine HJ-Mitgliedschaft von Walter Schenk für die Zeit vor 1938 gefunden werden.16 Wann dieser zur Hitler-Jugend stieß und seine Karriere als Führer im Deutschen Jungvolk (DJ) in Wien begann, konnte

deren analytische Abstraktion ebenso wie in Bezug auf die Bedeutung der Begriffe Erfahrungsraum oder Typus/Typen an diesem theoretisch-methodischem Gerüst. Siehe hierzu: Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/Arnd-Michael Nohl (Hg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden 2013. 15 Zur Entwicklung der Hitler-Jugend in Österreich von ihren Anfängen bis nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 sowie für eine fundierte Darstellung der illegalen NS-Jugendorganisierung in Österreich siehe: Gehmacher, Zukunft. 16 Weder in seinem Tagebuch noch in den Gebietsbefehlen der Wiener Hitler-Jugend findet sich ein entsprechender Vermerk. Das Fehlen jedes Vermerkes einer „Illegalität“ auch in Schenks Gauakt wird aufgrund des hohen Stellenwertes eines solchen Engagements vor 1938 innerhalb des NS-Regimes dahingehend interpretiert, dass Schenk erst nach dem „Anschluss“ der Hitler-Jugend beigetreten sein dürfte. Vgl. Gauakt Walter Schenk *26. 1. 1926, Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Zivilakten der NS-Zeit, Gauakten Nr. 305.759.

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nicht festgestellt werden. Aufgrund seines recht niedrigen Dienstranges eines Oberjungenschaftsführers dürfte sein Beitritt aber erst nach 1938 erfolgt sein.17 In Wien wie auch in den anderen österreichischen Regionen begann die strukturierte Arbeit der Hitler-Jugend als staatlich gestützte Einheitsjugendorganisation unmittelbar nach dem „Anschluss“ im März 1938 mit öffentlichen Kundgebungen und Aufmärschen der bis dorthin im Verbotenen agierenden Hitler-Jugendgruppen. In den ersten Monaten nach der Etablierung der NSHerrschaft in Österreich kam es im Allgemeinen zu einem rapiden Anstieg der Mitgliederzahlen innerhalb der NS-Jugendorganisationen, obwohl parallel dazu die in Deutschland bereits etablierten Strukturen noch nicht zur Gänze übernommen worden waren.18 Der Aufbau eines flächendeckenden Erfassungswesens aller „deutschen“ Jugendlichen gestaltete sich in dieser Hinsicht für die Hitler-Jugend in Österreich als langwierig, wobei die Mitgliedschaft in den NSJugendorganisationen ebendort theoretisch erst ab 1941 als verpflichtend galt. Ob und wie stark Jugendliche zum Eintritt in die NS-Jugendorganisationen animiert oder gezwungen wurden, hing dabei – ebenso wie die Inhalte und die konkrete Praxis der NS-Jugendaktivitäten selbst – stark von lokalen Spezifika und den handelnden Personen innerhalb des NS-Herrschaftsapparates ab. Wo jemand aufwuchs, konnte in diesem Sinn auch Einfluss darauf haben, wie stark der Zugriff der NS-Jugendorganisationen auf die Person werden konnte.19 Während das genaue Eintrittsdatum in die NS-Jugendorganisationen für die beiden 1930 geborenen Schreibenden nicht festgestellt werden konnte,20 besuchte Kurt H. ab dem Beginn seiner Aufzeichnungen mit elf Jahren eifrig und regelmäßig die wöchentlichen Dienste in Salzburg (oft zwei bis drei pro Woche

17 Vgl. Walter Schenk, Tagebuch, 11. 5. 1943. NSDOK N 1603/38. Zur Hierarchie der Dienstränge innerhalb der Hitlerjugend und dem DJ siehe: Buddrus, Totale Erziehung 1, 327–329, 331; Die Verhältnisse und Entwicklungen der Wiener Hitler-Jugend nach dem „Anschluss“ skizzierte Johanna Gehmacher am Beispiel des BDM: Johanna Gehmacher, Biografie, Geschlecht und Organisation: der „Bund Deutscher Mädel“ in Österreich, in: Dagmar Reese (Hg.), Die BDMGeneration. Weibliche Jugendliche in Deutschland und Österreich im Nationalsozialismus (Potsdamer Studien 19), Berlin 2007, 159–213, 182–199. 18 Zu diesen Entwicklungen im Detail siehe: Gehmacher, Zukunft. 19 Vgl. Gehmacher, Zukunft, 454; Buddrus, Totale Erziehung 1, 289; Johanna Gehmacher, „Jugend“ als Anspruch und Organisationsform. Nationalsozialistische Jugendorganisierung in Österreich 1923–1945, in: Bundesjugendvertretung (Hg.), Geraubte Kindheit. Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus, Wien 2010, 99–112, 109–110. Die Idealvorgaben der RJF stimmten mit der lokalen Praxis nur selten überein. Da Quellen zur lokalen Arbeit der HitlerJugend häufig nicht überliefert wurden, nehmen zahlreiche Forschungsarbeiten auf (semi-) publiziertes Material der RJF Bezug. So wurde häufig ein Bild einer die Masse der Jugendlichen „total“ erfassenden Hitler-Jugend reproduziert. 20 Die Tagebücher von Hedwig Ströher beginnen erst mit 18. 2. 1942, jene von Kurt H. mit 15. 6. 1941. Beide hätten bereits 1940 in JM beziehungsweise DJ eintreten können. Vgl. DLA, 1930 K.H.; SFN, NL 85.

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während des Schuljahres).21 Hedwig Ströher hingegen nahm zwischen 1942 und 1943 in Wien nur sehr unregelmäßig an JM-Aktivitäten teil und konnte sich ab Herbst 1943 im ländlichen Raum Oberösterreichs dem Zugriff der NS-Jugendorganisationen ebenfalls entziehen.22 Die Schule als Kontroll- und Erziehungsinstanz verlor im Verlauf des Krieges gerade für die beiden jüngeren Schreibenden immer mehr an Einfluss, was am Beispiel von Kurt H.s Einträgen zu vermehrten Unterrichtsausfall aufgrund von Bombenangriffen oder aufgrund von Kriegseinsätzen wie damit in Verbindung stehende Aufräumarbeiten besonders deutlich zum Ausdruck kommt.23 In diesem historischen und geographischen Kontext verfassten die drei Jugendlichen ihre Aufzeichnungen in normalen Notizbüchern im A5-Format24 aus unterschiedlichen Motivationen heraus: Dokumentieren, Ordnen und Verarbeiten. War die Dokumentationsfunktion ausschlaggebend für das Führen eines Tagebuchs, hielten Schreibende in der Regel ihr Alltagsleben, ihre Tätigkeiten und Leistungen chronologisch fest und/oder dokumentierten äußere Ereignisse wie zum Beispiel das Kriegsgeschehen im Zweiten Weltkrieg in mehr oder weniger starker Verbindung mit ihrem eigenen Alltag.25 Während alle drei Tagebuchschreibenden ihre Einträge strikt chronologisch ordneten, kam diese Funktion mit der Schilderung der eigenen Leistungen besonders bei Kurt H. zum

21 Vgl. Kurt H., Tagebuch 0–5, DLA, 1930 K.H. Siehe hierzu auch Abschnitt 3.2. Zur HitlerJugend in Salzburg siehe: Helmut Uitz, Jugend unter dem Hakenkreuz. Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädchen in Salzburg, in: Helga Embacher (Hg.), Machtstrukturen der NSHerrschaft. NSDAP – Polizei/Gestapo – Militär – Wirtschaft (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus 5), Salzburg 2014, 120–165. 22 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 18. 10. 1942, 24. 5. 1943, 31. 5. 1943, 10. 6. 1943, 8. 10. 1943, 8. 2. 1944. SFN, NL 85; Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 16. 9. 1944, 28. 1. 1945, 29. 1. 1945. SFN, NL 85. Zur Hitler-Jugend in Oberösterreich siehe: Thomas Dostal, Jugend in Oberdonau, in: Oberösterreichisches Landesarchiv (Hg.), Reichsgau Oberdonau. Aspekte 2 (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 4), Linz 2005, 7–147. 23 Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, 21. 12. 1943, 11. 10. 1944, 24. 11. 1944; DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 5, 14. 12. 1944, 17. 4. 1945. DLA, 1930 K.H. Zum Verhältnis von Kurt H. zum Schulbesuch siehe Abschnitt 3.2. 24 Die Schilderungen der Schreibenden wurden somit nicht durch Platzmangel beeinflusst. Lediglich Hedwig Ströher verkleinerte bewusst ihre Schrift erheblich, um Platz zu sparen. Vgl. Li Gerhalter (Hg.), Bestandsverzeichnis der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, Wien 2012, 194. Im Fall der überlieferten Tagebücher wurden keine Einträge durch Herausreißen von einzelnen Seiten getilgt, auch das Löschen oder Unkenntlichmachen von Einträgen kam nur in Ausnahmefällen bei Kurt H. zur Korrektur einzelner Zeilen vor. Überliefert wurden alle Tagebücher in gutem Zustand, lediglich die Einbände der Tagebücher von Kurt H. und Walter Schenk waren abgenutzt und vor allem an den Ecken beschädigt. 25 Vgl. Christa Hämmerle/Li Gerhalter, Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Li Gerhalter/Christa Hämmerle (Hg.), Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950) (L’Homme Schriften 21), Wien/Köln/Weimar 2015, 7–31, 22–23.

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Vorschein.26 Kurt H. und Hedwig Ströher dokumentierten ihre Erlebnisse auch in Rezeption des Kriegsgeschehens gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem in Verbindung mit emotionalen Schilderungen zum Beispiel bezüglich Nachrichten über das Vorrücken der Alliierten.27 Ging es den Schreibenden direkt oder indirekt stärker um das Ordnen ihrer Erfahrungen, wurden besonders prägende Erlebnisse fokussiert und diesen innerhalb von Erzählung und Beschreibung Priorität eingeräumt.28 In dieser Hinsicht sticht vor allem das Tagebuch von Walter Schenk hervor, der in seinen täglichen Einträgen hauptsächlich rein Privates rekapitulierte.29 Auch Hedwig Ströher konzentrierte sich in ihren Einträgen eher auf die für sie persönlich wichtigen Aktivitäten, während Kurt H. im Sinn der oben erwähnten Dokumentationsfunktion auf Vollständigkeit in der Schilderung seiner Tagesabläufe bedacht war. Eine Ventilfunktion oder therapeutische Funktion bekam das Schreiben eines Tagebuches dann, wenn dabei Erlebtes durch das Niederschreiben verarbeitet wurde oder werden konnte. Dies kann auf die schriftliche Repräsentation von Freude, Hoffnung, Ärger und Enttäuschung, Desillusionierung oder auch die Schilderung von Schockerlebnissen zutreffen,30 wie dies bei Kurt H.31 oder Walter Schenk32 der Fall war. Diese drei Funktionen sind dabei nicht exklusiv und treten in den einzelnen in diesem Aufsatz verwendeten Texten abwechselnd unterschiedlich stark in Erscheinung.33 Aus diesen verschiedenen Zwecken, die das Schreiben eines Tagebuchs für einzelne Personen erfüllen kann, ergeben sich unterschiedliche Potenziale für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Selbstzeugnissen, die sie wiederum zu einzigartigen Erkenntnisquellen für Fragen nach individuellen Motiven, Handlungsspielräumen und Lebensrealitäten machen.34 Bei all diesem Potenzial ist eine kritische Herangehensweise in der Analyse von Egodokumenten 26 Vgl. Kurt H., Tagebuch 0–5. DLA, 1930 K.H. 27 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 11. 6. 1944, 10. 8. 1944, 25. 8. 1944. SFN, NL 85; Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 11. 9. 1944, 12. 9. 1944. SFN, NL 85; Kurt H., Tagebuch 3, 17. 11. 1944. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 5, 29. 4. 1945, 2. 5. 1945. DLA, 1930 K.H. 28 Vgl. Cord Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quelle, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), 449–463, 462. 29 Vgl. Walter Schenk, Tagebuch. NSDOK N 1603/38. 30 Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Tagebuch, 22–23; Antje Dussa, Einsichten. Kinder- und Jugendtagebücher als Erinnerungsort Leipziger Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, in: Francesca Weil/André Postert/Alfons Kenkmann (Hg.), Kindheiten im Zweiten Weltkrieg, Halle 2018, 56–72, 58, 60. 31 Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, 16.10.–17. 10. 1944, 15. 11. 1944. DLA, 1930 K.H. 32 Walter Schenk verarbeitete in seinem Tagebuch vor allem Sorgen und Hoffnungen in Hinblick auf sein Liebesleben. Siehe hierzu auch Abschnitt 3.3. 33 Siehe hierzu auch: Hämmerle/Gerhalter, Tagebuch, 22–23. 34 Zum Erkenntniswert von Tagebüchern in Hinblick auf individuelle Lebensaspekte zur Zeit des Nationalsozialismus sei auf die umfangreiche Studie von Janosch Steuwer verwiesen: Janosch Steuwer, „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017.

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im Allgemeinen aber unumgänglich, denn gerade Tagebücher stellen die Forschenden vor gewisse analytische Herausforderungen, wie von Christa Hämmerle und Li Gerhalter prägnant zusammengefasst wurde.35 Zum einen lehnten Schreibende ihr Tagebuch oft an Vorlagen an beziehungsweise folgten sie in Abfassung und Gestaltung ihrer Einträge einem bestimmten Muster, das als „richtiges“ Tagebuchschreiben wahrgenommen wurde. Diese Richtlinien können unbewusst aus rezipierten, publizierten Tagebüchern oder tagebuch-artigen Werken übernommen oder auch durch Zeitschriften, die Schule oder die HitlerJugend angeregt worden sein.36 In dieser Hinsicht beginnen Hedwig Ströher, Walter Schenk und Kurt H. ihre Tagebucheinträge jeweils mit Datumsangaben. Walter Schenk beschließt seine Einträge auch mit einer Grußformel, die je nach emotionaler Lage Freude, Traurigkeit oder Verzweiflung ausdrücken konnte, sowie mit seiner Unterschrift.37 Neben diesen bewussten oder unbewussten Vorbildern beeinflusste zeitliche Nähe oder Distanz zum Beschriebenen ebenso die Art und den Inhalt der einzelnen Einträge. Auch wenn ein chronologischer Aufbau ein tägliches Eintragen ins Tagebuch für die Lesenden suggeriert, kann es durchaus sein, dass Schreibende oft Tage oder Wochen nach einem Ereignis dieses erst niederschrieben. Die Sinnstiftung des Niedergeschriebenen ebenso wie dessen konkrete inhaltliche Ausformulierung konnte so auch durch Erinnerungsdefizite oder rezipierte Erzählungen anderer (in mündlicher oder medialer Form) beeinflusst werden.38 In allen in diesem Aufsatz verwendeten Tagebüchern finden sich entsprechende Vermerke der Schreibenden, dass wiederholt Einträge nachträglich angefertigt wurden.39 Ein dritter, wichtiger Aspekt für die Analyse von Egodokumenten ist die Frage nach Momenten der Selbstzensur beziehungsweise nach von den Schreibenden antizipierten Blicken auf ihr Produkt.40 Während Kurt H. der Autorin im Gespräch erzählte, seine Tagebücher wären von niemandem gelesen worden,41 erinnerte sich Hedwig Ströher daran, dass sie bewusst wenig Anti-Nationalsozialistisches geschrieben habe, aus Angst, sie oder ihre Familie könnten auf dieser

35 Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Tagebuch. 36 Vgl. ebd., 13–14, 17, 26; Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die „Kriegsjugendgeneration“ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften (Göttinger Studien zur Generationsforschung 16), Göttingen 2014, 30–31. 37 Vgl. Walter Schenk, Tagebuch. NSDOK N 1603/38. 38 Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Tagebuch, 20. 39 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1–2. SFN, NL 85; Kurt H., Tagebuch 0–5. DLA, 1930 K.H.; Walter Schenk, Tagebuch. NSDOK N 1603/38. 40 Vgl. Hämmerle/Gerhalter, Tagebuch, 13–14. 41 Vgl. Gesprächsnotiz, 26. 1. 2018.

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Basis als GegnerInnen des NS-Regimes denunziert werden.42 Walter Schenk entschied sich gegen eine inhaltliche Selbstzensur durch Auslassungen, verfasste aber große Teile seines Tagebuchs in Geheimschrift, wenn es sich um Ereignisse handelte, die zum Beispiel nicht für elterliche Augen bestimmt gewesen wären.43

III.

Aufwachsen innerhalb der „Volksgemeinschaft“ – Momente jugendlicher NS-Begeisterung, Non-Konformität und Verweigerung

Die unter Berücksichtigung der oben geschilderten Aspekte analysierten Tagebücher von Hedwig Ströher, Kurt H. und Walter Schenk sind in der Länge des abgedeckten Zeitraumes höchst unterschiedlich. Die kürzeste untersuchte Periode deckt das einzige von Walter Schenk überlieferte Tagebuch, welches er von 1. Mai 1943 bis 20. August desselben Jahres führte. Seine kurz gehaltenen Einträge in großteils Halbsätzen erinnern stilistisch an Telegramme.44 Konträr dazu war Kurt H. in seinen Ausführungen sehr detailliert und schrieb in vollständigen Sätzen. Auch im Umfang der Überlieferung decken Kurt H.s Tagebücher den längsten Zeitraum ab. In Summe stehen sechs Tagebücher, die er von 15. Juni 1941 bis 14. Mai 1945 verfasste, zur Verfügung. Lediglich für die Zeit von 8. November 1941 bis 31. Dezember 1942 gibt es eine Lücke, für die kein Tagebuch überliefert ist.45 Über einen ähnlich langen Zeitraum geben auch die Tagebücher von Hedwig Ströher Einblicke in ihren Alltag in Wien sowie in Oberösterreich. In zwei Tagebüchern schrieb sie ab dem 18. Februar 1942 bis Jahresende 1945 in fortschreitend platzsparender, kleiner Schrift und in vollständigen Sätzen.

42 Vgl. Interview mit Hedwig Ströher, geführt von Lisbeth Matzer, 18. 4. 2019, Aufnahme bei der Autorin. 43 Die Auflösung der Geheimschrift gelang Rotraud Jaschke am NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. 44 Vgl. Walter Schenk, Tagebuch. NSDOK N 1603/38. 45 Kurt H.s Tagebücher nummeriert er selbst ab 1. Jänner 1943 fortlaufend. Diese Nummerierung wurde im DLA übernommen, weshalb das chronologisch älteste Tagebuch unter der Nummer 0 geführt wird. Das Tagebuch 4 (10. 1. 1944–28. 8. 1944) ist chronologisch zwischen die Einträge des Tagebuchs 3 (1. 12. 1943–9. 1. 1944, 29. 8. 1944–10. 12. 1944) zu reihen. Vgl. DLA, 1930 K.H.

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3.1

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„Kein Hitlermädel“46 – bildungsbürgerlich und katholisch

Hedwig Ströher wurde 1930 in Wien geboren und stammte aus einer bürgerlichen Familie mit starkem Bildungshintergrund. Beide Elternteile waren MedizinerInnen. Sie hatte zwei jüngere Schwestern und wuchs in Wien auf.47 Während der Vater in Wien blieb, übersiedelte die Mutter mit ihren drei Töchtern im September 1943 aufgrund des Kriegsverlaufs auf einen Bauernhof nach Forstamt am Attersee in Oberösterreich, auf dem die Familie auch bereits im Februar 1943 geurlaubt hatte.48 Die Schreibende legte in ihren Einträgen weniger Wert auf Vollständigkeit ihrer Tagesabläufe, sondern hielt die für sie wichtig erscheinenden Ereignisse sowie ihre Gedanken dazu fest.49 Die sprachliche Ausformung der seltenen Einträge, die sie in Hinblick auf die NS-Jugendorganisationen tätigte, deutet dabei auf eine gleichgültige bis desinteressierte Haltung ihrerseits der HitlerJugend gegenüber hin.50 Die Tatsache, dass der Zugriff der NS-Jugendorganisationen auf Hedwig Ströher auch im ländlichen Raum am Attersee nicht verstärkt werden konnte, ist auch insofern bemerkenswert, dass eine Tochter der Bauernfamilie, die im selben Haus wohnte, als BDM-Führerin tätig war. In diesem Kontext schildert die Schreiberin Lauschversuche, Konflikte zwischen den beiden Familien oder die Vorsicht, die sie generell diesbezüglich ihren Mitwohnenden entgegenbrachten.51 Alles in Allem war Hedwig Ströhers Familie dem NSRegime gegenüber kritisch eingestellt, hatte aber aufgrund der elterlichen Berufe und ihrer gesellschaftlichen Stellung – am Attersee arbeitete die Mutter auch als Ärztin – mit wenigen Einschränkungen auch mit fortschreitenden Kriegsverlauf zu kämpfen.52 Die Kritik am Nationalsozialismus wurde innerhalb der Familie gehalten, was als klassisch nonkonformes Verhalten beschrieben werden kann.53 Ab Februar 1945 begann Hedwig Ströher auch, mit dem Geheimschrift-Kürzel „YLRH“ in ihrem Tagebuch Momente festzuhalten, in denen andere Personen oder sie selbst sich dem Nationalsozialismus gegenüber kritisch geäußert hat-

46 Hedwig Ströher, „Warum ich kein Hitlermädel war. Erinnerungen an die Nazizeit von Hedwig Ströher“, November 2015, autobiographischer Text. SFN, NL 85. 47 Vgl. Gerhalter, Bestandsverzeichnis, 194. 48 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1. SFN, NL 85. 49 Vgl. Gerhalter, Bestandsverzeichnis, 194; Hedwig Ströher, Tagebuch 1–2. SFN, NL 85. 50 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 18. 10. 1942, 24. 5. 1943, 31. 5. 1943, 10. 6. 1943, 8. 10. 1943, 8. 2. 1944. SFN, NL 85; Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 16. 9. 1944, 28. 1. 1945, 29. 1. 1945. SFN, NL 85. 51 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 12. 2. 1943. SFN, NL 85; Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 6. 9. 1944, 16. 9. 1944, 22. 9. 1944, 19. 10. 1944, 4. 11. 1944. SFN, NL 85. 52 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2. SFN, NL 85. 53 Vgl. ebd., 1. 4. 1945; Kenkmann, Nonkonformität, 145.

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ten.54 In mehreren Einträgen wird in weiterer Folge ihre Abneigung dem NSRegime gegenüber sichtbar, wenn sie zum Beispiel in Bezug auf eine neue Bekanntschaft in der Schule im Juli 1944 „[…] ist keine Nazisse. fein!“55 schrieb. Die Schreiberin äußerte sich ebenso negativ über Personen, von denen sie wusste, dass diese Mitglieder der NSDAP waren.56 Ähnlich abwertend schrieb Hedwig Ströher auch über andere Jugendliche, die nicht ihren bildungsbürgerlichen Horizont zu teilen schienen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Einträge vom Juni 1944, als die Schreiberin kurzzeitig den Unterricht einer luftverschickten Wiener Schule aus Ottakring besuchte.57 Die Schreiberin unterstützte die Lehrerinnen dieser Schule auch im Unterricht, da sie wissenstechnisch voraus gewesen zu sein scheint.58 In Hinblick auf ihre Freizeitgestaltung abseits von Schule und Hitler-Jugend behandelte Hedwig Ströher vor allem jene Aktivitäten in ihren Tagebüchern ausführlich, die einem bildungsbürgerlichen Habitus entsprachen. Hierunter fielen zum Beispiel Opernbesuche, das Hören oder Praktizieren klassischer Musik, das Schreiben von Briefen oder Lesen.59 Zudem verbrachte sie in Oberösterreich viel Zeit mit ihren Schwestern sowie mit Jugendlichen aus der Pfarrgemeinde.60 Prinzipiell berichtete sie – gerade aus Oberösterreich – hauptsächlich von ihren Aktivitäten rund um die Kirche – vom Orgelspielen, dem Singen im Chor und dem aktiven Mitarbeiten an den Messen sowie in der Pfarrgemeinde.61 Dabei räumte sie der Nacherzählung der Messgestaltung gerade von kirchlichen Feiertagen besonders viel Platz ein.62 Obwohl sie sehr viel Zeit in der Kirche und auch bei Messen verbrachte, berichtete sie kein einziges Mal von Störaktionen durch die Hitler-Jugend oder davon, dass ihre Kirchenbesuche ihr im ländlichen Raum Oberösterreichs durch NS-Instanzen negativ angerechnet worden wären.63 54 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 24. 2. 1945, 17. 3. 1945, 22. 3. 1945, 1. 4. 1945, 4. 5. 1945. SFN, NL 85. Zur Verwendung dieses Kürzels erinnerte sich Hedwig Ströher, dass sie Angst gehabt hätte, jemand hätte ihr Tagebuch lesen und sie und ihre Familie und Freunde auf diesem Weg denunzieren können. Vgl. Interview mit Hedwig Ströher, geführt von Lisbeth Matzer, 18. 4. 2019, Aufnahme bei der Autorin. 55 Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 7. 7. 1944. SFN, NL 85. 56 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 29. 9. 1944. SFN, NL 85. 57 Hierbei verwendete sie die Begriffe „blöd“, „dumm“ und „ordinär“. Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 11. 6. 1944, 13. 6. 1944, 16. 6. 1944. SFN, NL 85. 58 Vgl. ebd., 5. 7. 1944, 6. 7. 1944. 59 Vgl. ebd., 3. 12. 1942, 12. 3. 1943, 18. 5. 1943, 18. 4. 1944; Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 10. 9. 1944, 29. 10. 1944, 1. 2. 1945, SFN, NL 85. 60 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2. SFN, NL 85. 61 Vgl. ebd., 15. 9. 1944, 1. 10. 1944, 22. 10. 1944. 62 Vgl. ebd., 4. 2. 1945, 25. 3. 1945. 63 Zum Konfliktfeld zwischen Hitler-Jugend und Kirche in Oberösterreich siehe: Christian Angerer/Maria Ecker, Nationalsozialismus in Oberösterreich. Opfer. Täter. Gegner, Innsbruck/Wien/Bozen 2014, 137; Dostal, Jugend, 94–106.

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Nicht katholische oder nicht gläubige Personen bezeichnete die Schreibende wiederholt als „dumm“.64 In diesem Zusammenhang entwickelte Hedwig Ströher gerade während ihres Aufenthaltes in Oberösterreich in den letzten Kriegsjahren eine fast missionarische Tätigkeit im Kontakt mit nicht bekennend katholischen Menschen. Der Schilderung dieser Diskussionen widmete sie ebenfalls viel Raum in ihrem Tagebuch.65 Im Weiteren beschreibt sie den 25. Februar 1945 als einen „der schönsten Tage in meinem Leben“.66 An diesem Sonntag hatte die Schreibende die katholische Messe besucht, im Chor gesungen und Orgel gespielt und geübt.67 Das Spielen an der Orgel in der Pfarre am Attersee wird von der Schreibenden immer als große Freude beschrieben und schien auch den aus Wien vermissten Musikunterricht zu ersetzen.68 In dieser Hinsicht weniger begabt und begeistert war Kurt H., der den ihm von seinen Eltern verordneten Musikunterricht im Mozarteum nur widerwillig besuchte.69

3.2

„Kriegsfreiwillig“ ohne Fronteinsatz – Ein pflichtbewusster DJ-Führer an der „Heimatfront“

Kurt H. wurde wie Hedwig Ströher 1930 geboren und wuchs mit seinen drei jüngeren Geschwistern in der Stadt Salzburg auf. Seine bürgerliche Familie stand dem Nationalsozialismus positiv gegenüber, wodurch dieser familiäre Erfahrungsraum Kurt H.s NS-Indoktrination – im Gegensatz zum Beispiel von Hedwig Ströher – begünstigte.70 In seinen Tagebüchern erfasste Kurt H. jeden Tag chronologisch und listete dokumentarisch alle seine Aktivitäten, häufig auch mit Angabe der Uhrzeiten beziehungsweise der Dauer, auf. Hier war er insofern auf Vollständigkeit bedacht, als er auch anmerkte, wenn die Schule oder der DJDienst ausfielen oder dabei nichts Besonderes geschehen war.71 Während er in der Gestaltung des ältesten Tagebuchs (0) weniger Zeit investiert zu haben scheint, ändert sich dies ab Jänner 1943 mit Tagebuch 1: Ab diesem Zeitpunkt plante er die Gestaltung seiner Tagebücher detailliert durch und ergänzte seine Einträge häufiger mit Zeichnungen des Erzählten, in Tagebuch 0 nutzte er erst die letzten Seiten für gesammelte Zeichnungen. Illustrationen besonders einpräg64 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 13. 6. 1944. SFN, NL 85. 65 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 30. 9. 1944, 1. 10. 1944–5. 10. 1944, 29. 10. 1944, 5. 11. 1944, 21. 12. 1944. SFN, NL 85. 66 Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 25. 2. 1945. SFN, NL 85. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 1, 12. 3. 1943. SFN, NL 85; Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 29. 9. 1944, 17. 12. 1944, SFN, NL 85. 69 Vgl. Kurt H., Tagebuch 2, 6. 10. 1943, 13. 11. 1943. DLA, 1930 K.H. 70 Vgl. Gesprächsnotiz, 26. 1. 2018; Kurt H., Tagebuch 0–5, DLA, 1930 K.H. 71 Vgl. Kurt H., Tagebuch 1, 5. 2. 1943, 22. 6. 1943. DLA, 1930 K.H.

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samer Erlebnisse oder Ereignisse nutzte er im Tagebuch auch als symbolische Resümees zum Ende der Jahre 194372 und 1944.73 In Summe dürften jene Erlebnisse, die er ausführlich beschreibt und zusätzlich mit Zeichnungen ergänzt, für ihn in jener Zeit besonders wichtig und prägend gewesen sein. In Bezug auf seinen Schulbesuch in einem Salzburger Gymnasium kommentierte er in der Regel lediglich die Art der Schulstunden, Schularbeiten oder Schulnoten und hielt sich ähnlich knapp wie in der Beschreibung seiner Musikstunden im Mozarteum.74 Im Laufe der Erzählung entwickelte der Schreibende der Schule gegenüber eine immer stärkere Ablehnung, obwohl er 1941 noch sehr um seine schulischen Leistungen bemüht war.75 Auch nutzte er die Gelegenheiten, die ihm HJ-Aktivitäten boten, um nicht in die Schule gehen zu müssen – wie zum Beispiel im April 1945, als er, anstatt zur Schule zu gehen, freudig dabei half, in der Salzburger Residenz Akten zu verbrennen.76 Im Gegensatz zur Schule räumte er der Beschreibung seiner Freizeitaktivitäten mit Freunden, die ebenfalls im DJ waren, – Spielen im Wald oder im Garten, Wanderungen und Bergtouren mit Freunden oder auch der Familie – erheblich mehr Raum ein und ergänzte solche Einträge häufig mit Zeichnungen oder mit Skizzen von Wanderrouten oder Landkarten.77 Landkarten faszinierten Kurt H. im Allgemeinen sehr, da er sich nicht nur mehrfach ebensolche kaufte, sondern diese auch reproduzierte.78 Für sein kartographisches Können erhielt er 1943 in der Schule auch einen Preis.79 Neben Landkarten kaufte sich Kurt H. immer wieder Zeichenmaterial sowie einschlägig nationalsozialistische Bücher.80 Kurt H.s Tagebücher geben einen detaillierten Einblick in die Organisationsstruktur des DJ in einem Salzburger Bann sowie dessen Aktivitäten auf lokaler Ebene – inklusive der wöchentlichen Dienste, der Kriegseinsätze, der über NS-Jugendorganisationen organisierten Hilfsarbeiten sowie der saisonalen Wettkämpfe und Lagerfahrten. Dabei nahmen gerade letztere – die Sommer- und Winterlager – in Kurt H.s Erzählungen besonders viel Raum ein und wurden 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, „Das Jahr 1943“, o. S., o. D. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 5, „Das Jahr 1944“, o. S., o. D. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 2, 12. 10. 1943, 16. 11. 1943. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 0. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 4, 13. 4. 1944, 12. 6. 1944, Grafik über „Schularbeitsnoten Schuljahr 1943/44“, 71. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 3, 12. 11. 1944. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 5, 18. 4. 1945, 19. 4. 1945. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, 29. 8. 1944, 1. 9. 1944, 15. 10. 1944. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 4, 19. 5. 1944, 23. 6. 1944. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 2, „Meine Landkarten“, 105–106. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 5, 1. 5. 1945, DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 1, 3. 6. 1943. DLA, 1930 K.H. Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, 15. 2. 1943, 12. 10. 1944. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 4, 15. 1. 1944, 11. 4. 1944. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 5, 9. 2. 1945. DLA, 1930 K.H. Zur zentralen Rolle von Büchern in der NS-Erziehungsarbeit siehe: Steuwer, „Drittes Reich“, 215.

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ebenso mit ausführlichen Zeichnungen versehen.81 Während er Heimabende in der Regel nur kurz beschrieb,82 räumte er auch den sportlichen Aktivitäten wie Geländespielen oder Wettkämpfen erheblich mehr Platz in seinen Tagebüchern ein, obwohl er seinen eigenen Erzählungen zu Folge nicht sonderlich athletisch oder militärisch begabt gewesen zu sein scheint.83 Diese Berichte ergänzte er ebenso mit Zeichnungen,84 wie die im Rahmen der Hitler-Jugend organisierten Kriegshilfsdienste und Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen auf die Stadt Salzburg. Letzteren widmete er besonders viel Raum in der Erzählung und dokumentierte so auch seine eigenen Leistungen im Dienst für die „Volksgemeinschaft“.85 Sein Engagement innerhalb des DJ war Kurt H. sichtlich wichtig und er berichtete in seinem Tagebuch stolz vom Beginn seiner Führerschaftskarriere: Ab April 1943 führte er eine Jungenschaft – die unterste hierarchische Untergliederung des DJ – mit elf im untergebenen Jungen an.86 Seine erste Beförderung zum Hordenführer, dem niedrigsten Gemeinschaftsrang innerhalb des DJ, hielt er im November 1943 mit besonderem Stolz fest und zeichnete zu diesem Eintrag auch das entsprechende Abzeichen.87 Auch im zeichnerischen Jahresresümee 1943 widmete er dieser Beförderung die Zeichnung für den Monat November.88 Im April 1945 wurde er schließlich erneut befördert, diesmal zum Jungenschaftsführer.89 Die erfolgreiche HJ-Indoktrination zeigte sich bei Kurt H. auch darin, dass er sich nicht nur bereits im Mai 1944 als 14jähriger im Zuge einer Führerversammlung in Salzburg freiwillig zum Kriegseinsatz meldete.90 Sie kam auch in seiner ursprünglichen Vorfreude auf und seiner schlussendlichen Enttäuschung über den Anfang Mai 1945 doch nicht mehr stattfindenden Fronteinsatz zum Ausdruck.91 81 Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, 27. 12. 1943–2. 1. 1944. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 4, 9. 7. 1944–15. 7. 1944. DLA, 1930 K.H. 82 Vgl. Kurt H., Tagebuch 1, 22. 1. 1943, 18. 2. 1943. DLA, 1930 K.H. 83 Vgl. ebd., 20. 3. 1943, 29. 5. 1943; 15.7.–20. 7. 1943. 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, 16. 10. 1944, 6. 11. 1944, 13. 11. 1944. DLA, 1930 K.H.; Kurt H., Tagebuch 5, 27. 2. 1945. DLA, 1930 K.H. Zum Bedürfnis Jugendlicher, sich im Krieg entsprechend der NS-Propaganda zu bewähren siehe: Benjamin Möckel, „Die Bewährung der jungen Generation“. Geschlechterbilder in Jugendtagebüchern des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Li Gerhalter/Christa Hämmerle (Hg.), Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950) (L’Homme Schriften 21), Wien/Köln/Weimar 2015, 87–107. 86 Vgl. Kurt H., Tagebuch 1, 2. 4. 1943, 16. 4. 1943, 18. 4. 1943. DLA, 1930 K.H. 87 Vgl. Kurt H., Tagebuch 2, 7. 11. 1943. DLA, 1930 K.H. Zu den Diensträngen siehe: Buddrus, Totale Erziehung 1, 327. 88 Vgl. Kurt H., Tagebuch 3, „Das Jahr 1943“ November, o. S., o. D. DLA, 1930 K.H. 89 Vgl. Kurt H., Tagebuch 5, 8. 4. 1945. DLA, 1930 K.H. 90 Vgl. Kurt H., Tagebuch 4, 14. 5. 1944. DLA, 1930 K.H. 91 Vgl. Kurt H., Tagebuch 5, 1. 5. 1945. DLA, 1930 K.H.

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Kurt H. beendete seine Tagebücher auf der letzten Eintragsseite in der Regel mit einem kurzen, eher unpersönlichen Gedicht mit Bezug auf das Schreiben von Tagebüchern.92 Das letzte Tagebuch, welches im Mai 1945 endet, beschließt er hingegen mit folgenden Worten: „IN SCHWERER ZEIT, MEIN TAGEBUCH SCHREIB’ NIEDER ICH DEN ABSCHIEDSSPRUCH DER FEIND IM LAND, UND WIR SIND WEHRLOS UND LEIDER AUCH IST MANCHER EHRLOS! DOCH WENN ERST DEUTSCHLAND WIRD ERWACHEN, WIRD NIEDER FEINDES HERRSCHAFT KRACHEN! DANN WERDEN WIEDER WIR BEFREIT ICH HOFFE, NUN AUF – EWIGKEIT!“93

Während Hedwig Ströher das Kriegsende 1945 als Befreiung wahrnahm und in ihrem Tagebuch die Freude darüber kundtat,94 brach für Kurt H. mit dem Ende des NS-Regimes eine Welt zusammen.95 Mit den veränderten Machtverhältnissen unter amerikanischer Besatzung kam er anfangs nur schwer zurecht, was sich auch in Einträgen über das Beschaffen und Verstecken von Waffen für einen möglichen Aufstand96 ebenso wie über seine Empörung bezüglich der freundlichen Einstellung seiner Freunde gegenüber den Besatzungssoldaten ausdrückte.97 Das Gefühl, mit dem Ende der Welt konfrontiert zu sein, kannte auch der dritte Tagebuchschreiber, allerdings nicht in politischer Hinsicht.

3.3

Zwischen Liebe, Trieben und Hitler-Jugend? Der Alltag eines liebeskranken Teenagers

Der dritte in diesem Beitrag exemplarisch untersuchte Tagebuchschreibende ist der 1926 in Wien als Sohn einer Beamtenfamilie geborene und aufgewachsene Walter Schenk. Zwischen 1936 und 1944 besuchte er die Oberschule für Jungen am Jodok-Fink-Platz in Wien,98 danach begann er dank einer „Zurückstellung von RAD [Reichsarbeitsdienst] und Wehrmacht“99 im Sommersemester 1944 ein 92 Einzig das Tagebuch 2 endet vergleichsweise abrupt. Vgl. Kurt H., Tagebuch 0–1, 3–5. DLA, 1930 K.H. 93 Kurt H., Tagebuch 5, 15. 5. 1945. DLA, 1930 K.H. Hervorhebungen wie im Original. 94 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 4. 5. 1945–7. 5. 1945, SFN, NL 85. 95 Zum Umgang mit diesen Brucherfahrungen siehe: Möckel, Erfahrungsbruch. 96 Vgl. Kurt H., Tagebuch 5, 7. 5. 1945. DLA, 1930 K.H. 97 Vgl. ebd., 8. 5. 1945. 98 Vgl. Nationale der philosophischen Fakultät, Sommersemester 1944. Universitätsarchiv Wien (UAW), Philosophische Fakultät. 99 Ebd.

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Studium an der Universität Wien mit dem fachlichen Schwerpunkt in Physik und Chemie. Im Wintersemester 1944/45 unterbrach er dieses Studium bereits, um am „II. Chemischen Institut der Wiener Universität“ in der Währingerstraße zu arbeiten. Obwohl er zu Kriegsende bereits 18 Jahre alt war, erlebte er dieses ohne Fronteinsatz.100 Im Gegensatz zu Kurt H. und Hedwig Ströher sind Walter Schenks Einträge, die er als 17jähriger über die Sommermonate verfasste, großteils sehr privater, intimer Natur, was auch mit dem Altersunterschied zwischen den drei Schreibenden erklärt werden kann. Seine Einträge sind dabei auch von einer gewissen Dramaturgie gekennzeichnet, wenn er am Ende eines Tages seinen Gemütszustand rekapitulierte.101 Walter Schenk heftete zudem zahlreiche Elemente in sein Tagebuch ein: An ihn adressierte Briefe, Kinokarten besuchter Vorstellungen, genutzte Zugtickets von Ausflugsfahrten, eine Kurskarte der „Tanzschule Willy Elmayer v. Vestenbrugg“ in Wien oder auch Porträtfotos (von sich selbst oder von ihm in der DJ unterstellten Pimpfen).102 Auf diese Weise gibt er zusätzlich zu seinen schriftlichen Einträgen einen detaillierten Einblick in sein Freizeitverhalten im Wien des Sommers 1943. Seine oftmaligen Kinobesuche stechen dabei ebenso hervor, wie seine Vorliebe für das Tanzen und populärkulturelle Musik (Schlager und Jazz). Musik und Kino scheinen auch Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung seiner Einträge in Hinblick auf die hin und wieder dramatische Schilderung seiner Liebesbeziehung genommen zu haben.103 In Summe war das Tanzen eine jener Freizeitaktivitäten, die er mit seinen Freunden sehr häufig praktizierte und die ihm besonders viel Spaß bereitet zu haben scheint – wohl auch, weil es für ihn die Möglichkeit bot, sich jungen Frauen anzunähern, zu flirten und seine Freundin eifersüchtig zu machen.104 Im Vergleich zur sehr ausgeprägten Darstellung seines Freizeitverhaltens, räumte Walter Schenk der Schule sowie der Hitler-Jugend in seinem Tagebuch nur wenig Platz ein. In Hinblick auf seinen Schulbesuch erwähnte er besonders seine Tätigkeit im Nachhilfe Geben für seine Schulkameraden105 oder das Schwänzen einzelner Stunden oder Tage.106 100 101 102 103

Vgl. ebd.; Gauakt Walter Schenk *26. 1. 1926, ÖStA, AdR, ZNsZ, GA 305.759. Vgl. Walter Schenk, Tagebuch, 12. 6. 1943, 13. 7. 1943, 18. 8. 1943. NSDOK N 1603/38. Vgl. ebd., 15. 5. 1943, 16. 5. 1943, 25. 5. 1943, 31. 5. 1943, 6. 6. 1943, 19. 6. 1943, 12. 7. 1943. Vgl. ebd. Ähnliches Freizeitverhalten in Konkurrenz zur Hitler-Jugend illustriert auch Nicholas Stargardt: Vgl. Stargardt, Witnesses, 35. 104 Vgl. Walter Schenk, Tagebuch, 3. 5. 1943, 10. 5. 1943, 24. 5. 1943, 25. 5. 1943, 31. 5. 1943. NSDOK N 1603/38. Im Tagebuch wird mehrfach ein freundschaftliches Vierergespann, bestehend aus Walter Schenk, seiner Freundin sowie einem weiteren befreundeten Paar, erwähnt. Vgl. ebd., 5. 6. 1943. 105 Vgl. ebd., 4. 5. 1943, 6. 5. 1943, 3. 6. 1943. 106 Diesbezügliche Einträge verfasste er in Geheimschrift. Vgl. ebd., 17. 5. 1943, 26. 5. 1943, 1. 6. 1943, 4. 6. 1943.

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Bezüglich seiner von Seiten der RJF als Ideal angesehenen Einordnung in die „Volksgemeinschaft“ sowie Aufopferung für ebendiese im Krieg zeigt sich bei Walter Schenk ein – verglichen mit Kurt H.s Opferwillen – gegenteiliges Bild. Am 13. Mai versuchte er demnach, sich „weiter von der Heimatflak zuruckstellen[sic] [zu] lassen“107 und war sichtlich froh darüber, dass dies am darauffolgenden Tag auch geschah.108 Auch seine vorläufige Beurlaubung vom Wehrdienst schien ihn nicht zu betrüben.109 Innerhalb der NS-Jugendorganisationen war Walter Schenk 1943 im (niedrigen) Rang eines Oberjungenschaftsführers des DJ im Jungbann 491 Ottakring tätig. Aus dem Tagebuch geht hervor, dass er in Hinblick auf seine DJ-Führerschaft hier vor dem Beginn seiner Aufzeichnungen von seiner Stellung enthoben worden war. Er bemühte sich allerdings sichtlich, dies wieder rückgängig zu machen und hatte hier schließlich Erfolg, sodass er noch im Mai 1943 wieder als Führer eingesetzt wurde.110 Über die Sommerferien, die auch für die HJ-Dienste galten, engagierte er sich nicht für die NS-Jugendorganisationen und fuhr auch nicht auf ein Sommerlager wie noch 1942.111 Auch wenn er der Erzählung seiner Führertätigkeit innerhalb der NS-Jugendorganisationen wenig Platz im Tagebuch einräumte, schien ihm doch einiges daran gelegen zu haben. Abgesehen von seinem Einsatz, diese Führerposition zu behalten, berichtete er stolz von guten Leistungen der ihm unterstellten Jungen112 und trug am für seinen Wehrpass angefertigten Passfoto auch das HJ-Leistungsabzeichen in Silber.113 Auch machte er in einem Brief an seine Geliebte, den er als korrigiertes, inhaltlich vermutlich abgeschwächtes Duplikat zur Dokumentation auch ins Tagebuch einheftete, folgende Anmerkung: „Ich habe Dich bis jetzt so geliebt, ich habe mit meinen Eltern Hunderte von Zerwürfnissen gehabt! ich[sic] habe mich von der H.J. abgewendet[sic] nur um Dir ganz allein zu bleiben […].“114 Die Reduktion seines HJ-Engagements scheint somit nicht seine (erste) Wahl gewesen zu sein, jedoch dürfte die Liebesbeziehung zu dieser jungen Frau dahingegen für ihn zu dieser Zeit persönlich am Wichtigsten gewesen sein. Der Großteil seiner Einträge behandelte das Auf und Ab in der Beziehung zu dem etwas älteren Mädchen, gegenseitige Eifersüchteleien und die gemeinsamen oder alleinigen Freizeitaktivitäten.115 Besonders detailreich schilderte Walter 107 108 109 110 111 112 113 114 115

Ebd., 13. 5. 1943. Vgl. ebd., 14. 5. 1943. Vgl. ebd., 21. 6. 1943. Zu diesen Entwicklungen bezüglich seiner DJ-Führerkarriere siehe: Ebd., 5. 5. 1943, 6. 5. 1943, 11. 5. 1943, 12. 5. 1943, 28. 5. 1943. Vgl. ebd., 3. 6. 1943, 6. 7. 1943–20. 8. 1943. Vgl. ebd., 29. 5. 1943. Vgl. ebd., 19. 6. 1943. Ebd., Reproduktion eines Briefes von Walter Schenk an T., 17. 8. 1943, 18. 8. 1943. Vgl. ebd., 9. 5. 1943, 24. 5. 1943, 14. 6. 1943, 11. 7. 1943, 21. 8. 1943.

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Schenk in dieser Hinsicht – durchgehend in Geheimschrift – die sexuellen Aktivitäten mit seiner Freundin.116 Während Hedwig Ströher Erzählungen von Liebeleien von ihr bekannten Jungen schockiert in ihrem Tagebuch vermerkte,117 sind Walter Schenks sexuelle Abenteuer und Erkundungen als durchaus mit einer auf Reproduktion der als „arisch“ kategorisierten Bevölkerung ausgerichteten, nationalsozialistischen Sexualitätspolitik konform zu interpretieren.118 Gerade in den Sommerwochen waren Kabinen im Freibad die optimalen Orte für solche Aktivitäten – interessanterweise ließ sich Walter Schenk eine solche hierfür auch einmal von einem ihm unterstellten Pimpf reservieren.119

IV.

Handlungsleitende Erfahrungsräume Jugendlicher innerhalb der „Volksgemeinschaft“ – Ein Fazit

Das zuletzt ausgeführte Beispiel von Walter Schenk gibt Einblick in die romantischen Vorstellungen und Hoffnungen sowie in das große Interesse eines Teenagers an Sexualität und dem weiblichen Körper in Konkurrenz zum eigenen Engagement innerhalb der NS-Jugendorganisationen. Während seine fehlenden Einträge zur Hitler-Jugend über die Sommermonate auch auf die HJ-Dienstferien zurückgeführt werden könn(t)en, scheinen doch in Summe seine Freizeitaktivitäten jene Erfahrungsräume geliefert zu haben, die sein Denken und Handeln 1943 primär prägten. Thesenhaft kann hierfür der Typus eines romantisch verklärten, verliebten Teenagers formuliert werden. Um dies zu stützen, wären allerdings weitere, über einen noch längeren Zeitraum gehende Aufzeichnungen notwendig, da nicht festgestellt werden konnte, inwiefern diese Phase Einfluss auf seinen weiteren Lebensweg genommen hat. Während seines gesamten Studiums, das er 1954 mit der Promotion in Chemie beendete, heiratete er die im Tagebuch Angebetete jedenfalls nicht.120 Auch die Inklusionsfunktion der Hitler-Jugend schien zumindest in Hinblick auf die Vermittlung von Opferbereitschaft nicht funktioniert zu haben. Verglichen damit können in den umfangreicheren Fallbeispielen von Kurt H. und Hedwig Ströher die handlungsleitenden Erfahrungsräume eindeutiger 116 Vgl. ebd., 1. 5. 1943, 5. 6. 1943, 30. 7. 1943. 117 Vgl. Hedwig Ströher, Tagebuch 2, 23. 1. 1945. SFN, NL 85. 118 Zu verschiedenen nationalsozialistischen Positionen gegenüber Sexualität siehe: Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005, 23, 36. 119 Vgl. Walter Schenk, Tagebuch, 31. 7. 1943. NSDOK N 1603/38. 120 Vgl. Nationale der philosophischen Fakultät, Sommersemester 1944–Sommersemester 1952. UAW, Philosophische Fakultät; Promotionsprotokoll der Philosophischen Fakultät, UAW, M 34.7, PN 3211.

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identifiziert werden. Kurt H.s prägendster Erfahrungsraum ist jener des DJ, innerhalb dessen er auch seine Führerkarriere startete. Diese Erfahrungen und „Lernprozesse“ bedingten dabei auch seine Aufopferungsbereitschaft für den Nationalsozialismus. In seinem Fall war die durch die Hitler-Jugend vollzogene Indoktrination äußerst erfolgreich und konnte den Großteil seines Alltags durchdringen. Er wäre 1945 bereitwillig zur Verteidigung des NS-Regimes in den Krieg gezogen und musste sich nach Kriegsende zunächst vom Zusammenbruch seiner Welt erholen, um dem Nationalsozialismus schlussendlich den Rücken zu kehren. Er behielt aber seine Leidenschaft für die Natur und das Wandern und schrieb nach 1945 zahlreiche Reise- und Wanderführer, die er auch mit eigens gezeichneten Landkarten versah.121 Bei Hedwig Ströher zeichnen sich bereits in ihren Tagebüchern zwei ihr (späteres) Verhalten sowie auch ihren Lebensweg prägende, sich auch ineinander verschränkende Erfahrungsräume ab: die katholische Kirche und die bildungsbürgerliche Familie. Beide dominierten nicht nur ihr Freizeitverhalten, sondern übten auch erheblichen Einfluss auf ihre negative, ablehnende und verweigernde Einstellung gegenüber den NS-Jugendorganisationen aus. In ihrem weiteren Lebensweg waren diese beiden Elemente weiterhin prägend. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm sie zum Beispiel die Führung einer katholischen Jugendgruppe in Wien und engagierte sich nach ihrem Studium – sie wurde Doktorin der Biologie – auch in der katholischen Erwachsenenbildung.122 Alle drei Jugendlichen kamen aus gut situierten, bürgerlichen Verhältnissen und erlebten die Zeit des NS-Regimes innerhalb der „Volksgemeinschaft“. Die beiden Jungen waren auf den untersten Führungsebenen der NS-Jugendorganisationen aktiv, das Mädchen entzog sich jeder Pflicht oder Aufgabe in dieser Hinsicht. Die Schule als Erziehungsinstanz nahm bei allen dreien keine oder nur geringe Relevanz in Hinblick auf die Schaffung oder Wahrnehmung von Handlungsspielräumen ein. Es waren in den hier vorgestellten Beispielen die Erfahrungsräume der katholischen Kirche, der Hitler-Jugend sowie eines an populärkulturellem Konsum orientierten Freizeitverhaltens, die das Verhalten der Jugendlichen zwischen NS-Begeisterung, nonkonformem Verhalten oder Verweigerung entscheidend beeinflussten und bestimmten. Die Indoktrinationsund Inklusionsarbeit der Hitler-Jugend konnte somit von ebensolchen Faktoren gestützt oder behindert werden. Der familiäre Erfahrungsraum unterstützte bei Kurt H. und Hedwig Ströher die jeweiligen Handlungen und Positionierungen gegenüber dem Nationalsozialismus durch die jeweilige Haltung der Eltern für 121 Vgl. Gesprächsnotiz, 26. 1. 2018. Zum Zweck der Anonymisierung wird hier auf beispielhafte Zitation der Werke von Kurt H. verzichtet. 122 Vgl. Interview mit Hedwig Ströher, geführt von Lisbeth Matzer, 18. 4. 2019, Aufnahme bei der Autorin.

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oder gegen das NS-Regime. Entscheidend für die individuelle Positionierung innerhalb oder gegen die NS-Jugendorganisationen sowie für die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen diesbezüglich waren aber ebenso die Peergruppen der Schreibenden. Alle drei konnten hier auf ein ähnlich denkendes Netz an Freunden oder Geschwistern bauen. In Summe zeigen die Beispiele, dass auch wenn der Indoktrinationsapparat der Hitler-Jugend theoretisch recht ausgeklügelt war und viele Jugendliche – wie Kurt H. – zu erreichen vermochte, Jugend innerhalb der „Volksgemeinschaft“ von einer Vielfalt gekennzeichnet war, die abhängig von individuellen Faktoren weit mehr bedeutete oder bedeuten konnte als NS-Schulsystem und Hitler-Jugend.

Marco Pukrop

Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in Eugen Kogons „Der SS-Staat“ – „Ein weißer Rabe unter den schwarzen Mördern im Ärztekittel“?

I.

Einleitung

In den letzten Jahren ist ein vermehrt quellenkritischer Umgang mit Berichten ehemaliger KZ-Häftlinge zu beobachten, der auch die bekanntesten Zeugen aus den großen NS-Verfahren einschließt.1 So kommt Pascal Cziborra zu dem Ergebnis, dass Überlebende der Konzentrationslager (KZ) einen großen Vertrauensvorschuss besäßen, dem sie aber selten vollkommen gerecht würden, da unter ihnen Erinnerungsvermögen und sprachliche Ausgestaltungsfähigkeit breit gefächert seien.2 Dass seine These auch für den einflussreichsten deutschsprachigen Überlebenden Dr. Eugen Kogon (1903–1987) gilt, zeigt diese Studie. Volkhard Knigges Forderung nachkommend, Kogons Buch „auch auf Brüche hin zu 1 Kritische Anmerkungen zu Franz Blaha, Harry Naujoks, Hermann Langbein und Eugen Kogon finden sich in: Paul J. Weindling, Nazi Medicine and the Nuremberg Trials: From Medical War Crimes to Informed Consent, New York/Hampshire 2006, 95–96; Richard Overy, Verhöre. Die NS-Elite in den Händen der Alliierten 1945, Berlin 2005, 601–602 Anmerkung (Anm.) 40; Eugen Kogon/Hermann Langbein/Adalbert Rückerl u. a. (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 42003, 279–280; Michael Bryant, Die US-amerikanischen Militärprozesse gegen SS-Personal, Ärzte und Kapos des KZ Dachau 1945–1948, in: Ludwig Eiber/Robert Sigel (Hg.), Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–48, Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen, Göttingen 22007, 109–125, hier 124 Anm. 15; Helgard Kramer, SS-Mediziner in Auschwitz und ihre Repräsentation im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess – Dr. Hans Münch und Standortarzt Dr. Eduard Wirths, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Gesetzliches Unrecht. Rassistisches Recht im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2005, 209–240, hier 219–220 und 237 Anm. 48; Anke Schmeling, Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont. Der politische Weg eines hohen SS-Führers, Kassel 1993, 116–120; Marco Pukrop, SS-Mediziner zwischen Lagerdienst und Fronteinsatz. Die personelle Besetzung der Medizinischen Abteilung im Konzentrationslager Sachsenhausen 1936–1945, phil. Diss., Hannover 2015, 182, 407– 408, 533–534 und 548, URL: http://edok01.tib.uni-hannover.de/edoks/e01dh16/845059777.pdf (abgerufen 14. 2. 2016) und mit revisionistischen Tendenzen Armin Eisele/Raphael Ben Nescher (Hg.), Audiatur et altera pars. Das Memorandum des KZ-Arztes Hans Eisele, Hamburg 2013, 15–23. 2 Vgl. Pascal Cziborra, KZ-Autobiografien. Geschichtsfälschungen zwischen Erinnerungsversagen, Selbstinszenierung und Holocaust-Propaganda, Bielefeld 2012, 5 und 148.

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lesen“, wird hier eine Passage aus dem „SS-Staat“ über den österreichischen SSArzt Dr. Peter Hofer (1903–1965) analysiert. Es wird belegt, dass Kogon die seinem eigenen Erleben zugeschriebene Episode dem Bericht eines Mithäftlings entnommen, ohne Hinweis redigiert und aus dem Zusammenhang gerissen hat.3 Im zweiten Teil wird der Bericht zurück in den originären Kontext der im Herbst 1943 aufgedeckten Affäre um den ehemaligen Kommandanten der KZ Buchenwald und Majdanek Karl Otto Koch verortet und gezeigt, welche personellen Maßnahmen Dr. Enno Lolling (1888–1945) als „Leitender Arzt“ der KZ ergriff, um den im Zuge dieser Affäre verhafteten SS-Standortarzt Weimar-Buchenwald Dr. Waldemar Hoven (1903–1948) zügig ersetzen und den Dienstbetrieb in einem der wichtigsten SS- und KZ-Standorte aufrechterhalten zu können. Abschließend wird die Biografie Peter Hofers rekonstruiert, der in Kogons Buch nur an dieser einen Stelle erwähnt, dort aber moralisch überhöht und dem brutalen Lageralltag entrückt dargestellt wird. Er gilt bis heute als „guter“ SSArzt; die wenigen Nachkriegsdokumente vermitteln indes ein gänzlich anderes Bild von ihm als es im „SS-Staat“ seit nunmehr sieben Jahrzehnten konserviert wird.

II.

Eugen Kogon und die Entstehungsgeschichte des „SS-Staates“

In München am 2. Februar 1903 als unehelicher Sohn einer ukrainischen Jüdin geboren, bei Pflegeeltern aufgewachsen und in einem katholischen Internat erzogen, erwarb der promovierte Ökonom Eugen Kogon 1927 die österreichische Staatsbürgerschaft und trat für einen christlich-konservativ verfassten Ständestaat ein. Nach einem missglückten Fluchtversuch wurde Kogon am 12. März 1938 festgenommen und in Wien inhaftiert. Am 22. September 1939 erfolgte die Einlieferung in das KZ Buchenwald, in dem er – unterbrochen von zwei Überführungen nach Wien – bis zur Befreiung des Lagers im April 1945 eingesperrt blieb.4 Er wurde dort im Frühjahr 1943 für die Stelle als Sekretär des Leiters der 3 Vgl. Volkhard Knigge, „Die organisierte Hölle“. Eugen Kogons ambivalente Zeugenschaft, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, 24–28, hier 27. 4 Vgl. Aussage Eugen Kogon, 6. 1. 1947, in: Klaus Dörner/Angelika Ebbinghaus/Karsten Linne/ Karl Heinz Roth/Paul Weindling (Hg.), Der Nürnberger Ärzteprozess 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld. Mikrofiche-Edition, München 2000/2001, 1188–1190; Michael Kogon, Lieber Vati! Wie ist das Wetter bei Dir? Erinnerungen an meinen Vater Eugen Kogon. Briefe aus dem KZ Buchenwald, München 2014, 11, 17–18, 33, 52, 137–138, 211, 225 und 353–362 und David A. Hackett, Einführung, in: ders. (Hg.), Der Buchenwald-Report. Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, München 1996, 19–49, hier 38–40.

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Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung des Hygiene-Instituts der Waffen-SS, Dr. Erwin Ding-Schuler (1912–1945), vorgeschlagen, die er am 6. Juni 1943 antrat und bis zum Ende behielt.5 Da das KZ Buchenwald das erste große von den Westalliierten befreite Lager war, traf dort am 16. April 1945 ein Team der Psychological Warfare Division (PWD) ein, um Informationen über Aufbau und Funktion eines KZ zu sammeln. Diesem fehlte aber das Wissen um die komplexe Binnenstruktur der Lager. Eine Gruppe ehemaliger Häftlinge wurde daher unter Kogons Leitung beauftragt, einen Bericht über die dortigen Verhältnisse zu erarbeiten. Dieser umfasste einen von Kogon diktierten 125seitigen Hauptteil und als Anhang über 150 Einzelberichte zu unterschiedlichen Aspekten des Lagers.6 Da er seinem Ursprung nach ein Dokument für behördliche Zwecke, nicht für die Öffentlichkeit war, empfahl ein ehemaliges Mitglied der PWD, Kogon solle ein auf eine breite Leserschaft zielendes Buch publizieren. Nach eigener Darstellung verfasste er in der Zeit zwischen dem 15. Juni und dem 15. Dezember 1945 ein gänzlich neues Manuskript, für das er die Alleinautorenschaft beanspruchte.7 Das Buch erschien 1946 unter dem Titel „Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager“ in einer Gesamtauflage von 35.000 Stück in jeder der drei westlichen Besatzungszonen mit einem eigenen Verlagsort und ist zu gleichen Teilen „zeithistorischer Bericht, Analyse der Lagergesellschaft, moralische Mahnschrift, politischer Appell und Erzählung eines Leibeszeugen“, was ihm seine „authentische Sachlichkeit, seine Wahrheit“ verleihen würde. Laut Barbara Distel und Karin Orth war es „über Jahrzehnte hinweg die einzige systematische Darstellung“ des KZ-Systems und eines der „wichtigsten früh veröffentlichten“ Bücher. Nach Lutz Niethammer bestimmte das Buch wesentlich das Bild der KZ in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft.8 Durch die Tätigkeit für die PWD, die Veröffent5 Vgl. Direkte Befragung Eugen Kogon, 21. 4. 1947, URL: http://nuremberg.law.harvard.edu (abgerufen 14. 2. 2016) und Kogon, Vati, 373–374 und zu einer abweichenden Datierung 378. 6 Der Originalbericht erschien 1995 zunächst in englischer und 1996 in deutscher Sprache. Insgesamt verfassten 104 Überlebende die 168 Einzelberichte. Vgl. Andreas Kranebitter, Die Vermessung der Konzentrationslager. Soziologiegeschichtliche Betrachtungen zum sogenannten Buchenwaldreport, in: Regina Fritz/Éva Kovács/Béla Rásky (Hg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden, Wien 2016, 63–86, hier 64 und 81. 7 Sofern nicht anders genannt, wird die Erstausgabe von 1946 verwendet. Vgl. Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946, XI–XV; ders., Deutschland im Schatten von gestern und „Hinweise“, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Faksimile-Ausgabe der Jahrgänge 1–7 (1946–1952), Frankfurt a. M. 1978, Bd. 2, Heft 8, 788–799, hier 788 und Bd. 4, Heft 8, 717–718, hier 717. 8 Vgl. Knigge, Hölle, 24–25; Wolfgang Sofsky, Analyse des Schreckens. Eugen Kogons „Der SSStaat“ und die Perspektiven der KZ-Forschung, in: Hessische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Polis. Analysen, Meinungen, Debatten, Heft 15, Wiesbaden 1995, 2–8, hier 2; Barbara Distel, Das Zeugnis der Zurückgekehrten. Zur konfliktreichen Beziehung zwischen

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lichung des „SS-Staates“, den er „mit der Autorität des Augenzeugen“ verfasst habe9, und seine katholisch-konservative Herkunft avancierte Kogon nach 1945 zu einem der einflussreichsten deutschsprachigen Zeugen aus den Reihen der KZ-Überlebenden, der auch gesellschaftlichen Kreisen als glaubwürdig galt, die ehemaligen kommunistischen oder sozialdemokratischen, besonders aber jüdischen, „kriminellen“ oder osteuropäischen Häftlingen ablehnend gegenüberstanden. Mit den von ihm und Walter Dirks seit 1946 herausgegebenen „Frankfurter Heften“, der weiteren publizistischen Tätigkeit, später dann als Professor für Politikwissenschaft sowie als Leiter des TV-Magazins „Panaroma“ schaltete sich Kogon bis zu seinem Tod am 24. Dezember 1987 immer wieder in gesellschaftspolitische Debatten der Bundesrepublik Deutschland ein. In Nachrufen wurde er als „mutiger Kämpfer für eine bessere Republik“ und „Gewissen der Nation“ gewürdigt.10 Laut Norbert Frei hatte er früh erkannt, dass die politische Amnestierung und die soziale Integration der „Mitläufer“ so notwendig wie unvermeidlich war. Seine These vom „Recht auf den politischen Irrtum“ wurde – so Frei weiter – zum „vergangenheitspolitischen Grundgesetz“ der frühen Bundesrepublik.11 In diesem Sinne stellte Kogon am 23. August 1947 zusammen mit seinem ehemaligen Mithäftling und damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Hessens, Dr. Werner Hilpert, für Waldemar Hoven ein erfolgloses Gnadengesuch, weil er glaubte, dass es „[…] viel richtiger sein [kann], ihm [den Täter; M. P.] unbeschadet der Sühne, die das Gesetz verlangen muss, die Möglichkeit zu geben, sich aus dem Verhängnis der Schuld

KZ-Überlebenden und Nachkriegsöffentlichkeit, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Lizensierte Taschenbuchausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2002, 11–16, hier 11–12; Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999, 10 und Lutz Niethammer (Hg.), Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Dokumente, Berlin 1994, 70. Laut Hackett, Einführung, 11 erschienen 1947 französische, 1950 englische und 1965 spanische Auflagen des Buches. 9 Vgl. Nachruf Eugen Kogon, in: Der Spiegel 1 (1988) v. 4. 1. 1988, 156. 10 Im Jahr 1949 forderte Kogon Thomas Mann auf, wegen der politischen Gefangenen im sowjetischen Speziallager auf dem Gelände des früheren KZ Buchenwald nicht am GoetheJahr in Weimar teilzunehmen. Vgl. Bettina Greiner, Verdrängter Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB)), Bd. 1082), Bonn 2010, 333; Dennis Beismann, Eugen Kogons Netzwerke in der Bundesrepublik Deutschland, in: Dr.-Lothar-Beyer-Stiftung an der Universität Kassel (Hg.), Passagen in den Sozialwissenschaften. Beiträge der Stipendiaten, Kassel 2014, 218–234, hier 218 und Nachrufe ungenannter Verfasser, zitiert nach: Kogon, Vati, 34. 11 Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1999, 15 und 405 und Eugen Kogon, Das Recht auf den politischen Irrtum, in: Frankfurter Hefte (Faksimile-Ausgabe), Bd. 2, Heft 7, 641–655.

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allmählich zu befreien. Ohne bestimmte Voraussetzungen: Einsicht, Reue und Vorsatz, geht das freilich nicht.“12

In sich selbst sah Kogon alle Voraussetzungen eines guten Chronisten vereint, denn: „[…] ich [bin] als religiöser und politischer Mensch, als Soziologe und Schriftsteller einer der ganz Wenigen, die von vornherein die Voraussetzungen mitgebracht und sich durch besondere Umstände in die Lage versetzt gesehen haben, bei aller Entwürdigung zum bespieenen Objekt innerlich in souveräner Subjektstellung verharrend, kritisch zu erleben, was ihnen wiederfuhr[,] Umkreis und Bedeutung des Geschehenen abzuschätzen, das organisatorische Gefüge ausfindig zu machen, den Motivierungen und Reaktionen der vergewaltigten, der kranken, der pervertierten, der blindgewordenen Seelen nachzuspüren und im Individuellen das Typische zu erkennen.“13

Im Dachauer Buchenwald-Prozess, im Prozess gegen Angehörige des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes (SS-WVHA) und im Nürnberger Ärzteprozess trat Kogon als Zeuge der Anklage auf. Laut Paul Weindling avancierte er gerade im Ärzteprozess zu einem „key witness“, zu einer „authority on the Buchenwald vaccine experiments“. Auffällig ist, dass Kogon am 6., 7. und 8. Januar 1947 ausführlich als Zeuge vor Gericht aussagte, jedoch Hofer nicht erwähnte, den er noch im Vorjahr in seinem Buch als Gegenbeispiel zu brutalen SS-Ärzten wie Dr. Werner Kirchert (1906–1987) und Dr. Hanns Eisele (1913–1967) so positiv hervorgehoben hatte.14 Darüber hinaus bleibt seine Haltung gegenüber den ehemaligen kommunistischen Mitgefangenen ambivalent. So beschuldigte der frühere Blockälteste Emil Carlebach Kogon, ihn im Mai 1945 bei den Amerikanern als Kriegsverbrecher denunziert zu haben.15 Zeitgleich hatte sich dieser aber den fast fertigen Buchenwald-Bericht von fünfzehn Mitgliedern des Internationalen Lagerkomitees (ILK), darunter mindestens acht deutsche und zwei sowjetische Kommunisten, absegnen lassen. Zusätzlich hatte das ILK schon im Vorfeld dafür gesorgt, „dass die Mehrzahl der persönlichen Stellungnahmen von kommunistischen Lagerfunktionären abgegeben wurde“ und so Kritik an ihnen und ihrer „prekären

12 Eugen Kogon, Recht und Gnade, in: ebd., Heft 10, 991–992, hier 991. Waldemar Hoven wurde am 2. Juni 1948 in Landsberg hingerichtet. 13 Kogon, SS-Staat, VII. 14 Im Buchenwald-Prozess soll Kogon selber eine Anklage gedroht haben. Vgl. Niethammer (Hg.), Antifaschismus, 72; Weindling, Nazi Medicine, 34 und 180 und Trials of War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Nuernberg October 1946 – April 1949, Washington o.D./1950, Bd. II, 333 und Bd. V, 1258. 15 Vgl. Emil Carlebach, Bericht über das KL Buchenwald (1954), in: Niethammer (Hg.), Antifaschismus, 466–471, hier 470.

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Macht“ im Lager unterblieb.16 Im „SS-Staat“ heißt es dann, der Verdienst der kommunistischen Häftlinge um die übrigen Gefangenen könne nicht hoch genug eingeschätzt werden, um einschränkend fortzufahren: „Der Hauptvorwurf, den man der KP in den KL machen muss, gilt ihrem Widerstreben, Säuberungsaktionen in ihren eigenen Reihen vorzunehmen, während sie jederzeit rasch bei der Hand war, wenn es galt, Andersgesinnte ‚auszuschalten‘[.]“17

Vor dem Hintergrund, dass das Buch nie in der Deutschen Demokratischen Republik erschien, weil es die politisch motivierte Idealisierung der Solidarität der kommunistischen Häftlinge entzaubert habe, verwundert es nicht, dass der ostdeutsche Jurist Werner Scherf schon früh Kogons Aussagen angezweifelt hatte, insbesondere über die Rettung des Tagebuchs der Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung.18 Neben dem grundsätzlichen Problem, dass Kogon im „SS-Staat“ seine eigene KZ-Erfahrung verallgemeinert, auf alle anderen Lager, deren Existenzphasen und Häftlingsgruppen überträgt, wird dort kaum ersichtlich, was er im Lager selbst gesehen, gehört oder gelesen und was er nur durch Hörensagen oder aus den ihm vorliegenden Berichten nachträglich erfahren hatte, wie es hier anhand der Person Peter Hofer gezeigt wird.19 Ebenso problematisch ist sein Vorwurf an das deutsche Volk, dieses habe in den KZ-Insassen wohl nicht zu Unrecht Inhaftierte gesehen, urteilt Kogon doch selber, unter den „kriminellen“ Häftlingen habe der „überwiegende Teil“ aus „übelsten Elementen“ bestanden, die „verbrecherisch veranlagt waren“.20 Angezweifelt werden mittlerweile auch seine 16 Nur mit Hilfe kommunistischer Lagerfunktionäre gelang es Kogon im April 1943, einer Überstellung als Jude in das KZ Auschwitz zu entgehen. Vgl. Eugen Kogon u. a., Der permanente unterirdische Kampf zwischen SS und antifaschistischen Kräften im Lager (1945), in: ebd., 198–206, hier 198–199 Anm. 67; Bill Niven, Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda (Schriftenreihe der BpB, Bd. 783), Bonn 2009, 69; Kogon, SS-Staat, XII–XIII; Hackett, Einführung, 40–41; Kogon, Vati, 369–372 und Karin Hartewig, Wolf unter Wölfen? Die prekäre Macht der kommunistischen Kapos im Konzentrationslager Buchenwald, in: Herbert/Orth/Dieckmann (Hg.), Konzentrationslager, Bd. 2, 939–958. 17 Kogon, SS-Staat, 255. Vgl. auch Kranebitter, Die Vermessung, 67. 18 Vgl. Knigge, Hölle, 26; Werner Scherf, Die Verbrechen der SS-Ärzte im KZ Buchenwald – der antifaschistische Widerstand im Häftlingskrankenbau. 2. Beitrag: Juristische Probleme, jur. Diss., Berlin 1987, Teil 1 (Tag der Verteidigung: 7. Juli 1988), 40 und 53–58 und Karl Feuerer, Kogonsche KZ-Betrachtung [o. D.], in: Bundesarchiv Berlin (BArchB), KPD-Politbüro, RY 1/ 2/3166. 19 Im Pohl-Prozess befragt, ob er noch unterscheiden könne, was er selbst erlebt und was er aus anderen Quellen erfahren habe, bejahte Kogon dies. Vgl. Auszug aus dem Kreuzverhör Eugen Kogon, 22. 4. 1947, URL: http://nuremberg.law.harvard.edu (abgerufen 14. 2. 2016); Knigge, Hölle, 25–26 und Scherf, Verbrechen, 45. 20 In der Auflage von 1959 heißt es dann „aus üblen, zum Teil übelsten Elementen“. Vgl. Eugen Kogon, Gericht und Gewissen, in: Frankfurter Hefte (Faksimile-Ausgabe), Bd. 1, Heft 1, 25– 37, hier 35; ders., SS-Staat, 15 und ders., Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1959, 47.

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Angaben zu den Lost-Versuchen im KZ Sachsenhausen sowie die angebliche Entsendung des Leiters des Hygiene-Instituts der Waffen-SS, Prof. Joachim Mrugowsky (1905–1948), am 21. März 1945 in das KZ Bergen-Belsen.21 Widerlegt ist sein Paradigma, die „Lager-SS“ habe nur „sozialdeklassierte Primitive“ angezogen, die „man wirklich zu nichts anderem gebrauchen konnte“.22 Auf die SSÄrzte bezogen hat sich ferner die Behauptung als falsch erwiesen, die Lager seien eine „Drückeberger-Basis der Totenkopf-Elite“ gewesen.23 Gleichwohl verbleiben noch viele Ansätze, den „SS-Staat“ auf Brüche hin zu analysieren.

III.

Die Darstellung von Dr. Peter Hofer im „SS-Staat“ – Eine unbeabsichtigte Heroisierung?

Die folgende Passage aus dem „SS-Staat“, die seit 1946 unverändert in alle späteren Auflagen übernommen wurde, gehört zu den am häufigsten zitierten Stellen in der Literatur zur KZ-Medizin, zu den SS-Medizinern und wenn es zu belegen gilt, Verweigerung sei selbst in Heinrich Himmlers Eliteorden grundsätzlich möglich gewesen. Darüber hinaus hat sie das bis heute dominierende Bild von Peter Hofer als „guter“ SS-Arzt begründet: „Einige wenige unter ihnen hat es gegeben, die entweder die Verhältnisse nicht ertrugen und sich so bald wie möglich von den Lagern wegmeldeten, so insbesondere SSHauptsturmführer Dr. Hofer, dem schon die vertretungsweise Funktion als Lagerarzt genügte, um sich sofort an die Front zu melden. Zwischen ihm und SS-Standartenführer Dr. Lolling, dem Chefarzt aller KL, fand bald nach Hofers Amtsantritt in Buchenwald im SS-Revier folgendes Gespräch statt: Hofer: ‚Ich bin bereit, das Lager als 1. Lagerarzt zu betreuen, und versichere Ihnen, dass die Zahl der Toten auf ein Minimum sinken wird, was schon jetzt eingetreten ist.‘ – Lolling: ‚Darum werden Sie auch nicht 1. Lagerarzt.‘ –

21 Diese Versuche werden in der Erstausgabe noch nicht erwähnt. Vgl. Alexandra-Eileen Wenck, Zwischen Menschenhandel und „Endlösung“: Das Konzentrationslager Bergen-Belsen, Paderborn u. a. 2000, 367 Anm. 121; Christoph Kopke/Gebhard Schultz, Menschenversuche mit chemischen Kampfstoffen bei Wehrmacht und SS. Ein Forschungsbericht, in: Christoph Kopke (Hg.), Medizin und Verbrechen, Ulm 2001, 239–257, hier 247; Kogon, SS-Staat, 13 und ders., SS-Staat (Ausgabe von 1959), 189–190. 22 Vgl. Kogon, SS-Staat, 290; Sofsky, Analyse, 5; Pukrop, SS-Mediziner, 422 und Gunnar Boehnert, Rudolf Höss. Kommandant von Auschwitz, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hg.), Die SS: Elite unter dem Totenkopf – 30 Lebensläufe, Paderborn u. a. 2000, 254–266, hier 255. 23 Vgl. Kogon, SS-Staat, 247; Pukrop, SS-Mediziner, 179 und Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Durchgesehne und aktualisierte Neuausgabe der Ausgabe von 2002, Hamburg 2003, 15–16.

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zeitgeschichte 47, 3 (2020)

Hofer: ‚Dann bitte ich, mich zur Feldeinheit zu versetzen.‘ So geschah es nach wenigen Tagen.“24

Ob dieser Dialog aber jemals in Kogons Beisein, wann und in welchem Kontext er stattgefunden hatte, wurde nie hinterfragt. Dabei sind Zweifel an seiner Darstellung angebracht. Die Wiedergabe des Dialogs in wörtlicher Rede und der fehlende Hinweis, wer ihn überliefert hat, suggeriert erstens, Kogon sei im SSRevier außerhalb des Häftlingslagers persönlich Zeuge der Unterhaltung gewesen, obwohl er dort keinen Zugang gehabt haben dürfte. Zweitens ist belegt, dass Hofer noch bis Ende Januar 1944 Dienst im KZ Buchenwald verrichtet hatte. Schlussendlich findet sich im mittlerweile veröffentlichten „Buchenwald-Report“ eine von Kurt Leeser überlieferte Version des Dialogs, die nur in wenigen Details von Kogons abweicht, den Inhalt des Gesprächs aber in einem ganz anderen Kontext verortet. Als angelernter Desinfektor kann Leeser Zeuge der Unterhaltung geworden sein, da ihm das SS-Revier zugänglich war: „Nach der Verhaftung des Lagerarztes Hoven [am 13. September 1943; M. P.], […], wurde Dr. [Peter] Hofer aus Salzburg vertretungsweise Lagerarzt. Dieser Arzt war der einzige, der den Häftlingen gegenüber anständig auftrat und wirklich versuchte, das Los der unglücklichen Opfer der Nazis zu erleichtern. […] Nach wenigen Tagen seines Hierseins erschien der Chef des Amtes D III, SS-Standartenführer Lolling, und hatte mit Hofer eine Aussprache im SS-Revier. Dabei sagte Hofer voll Stolz: ‚Ich bin bereit, das Lager als 1. Lagerarzt zu betreuen, und versichere Ihnen, dass die Zahl der Toten auf ein Minimum sinken wird, was bereits jetzt eingetreten ist.‘ Die Antwort Lollings lautete: ‚Darum werden Sie auch nicht 1. Lagerarzt!‘ Dr. Hofer sagte daraufhin nur: ‚Ich bitte mich zur Feldeinheit zu versetzen.‘ Und so geschah es auch nur nach [sic] wenigen Tagen. Nie hat ein Arzt soviel Verständnis für die Häftlinge gezeigt, er war ein weißer Rabe unter den schwarzen Mördern im Ärztekittel.“25

24 Kogon, SS-Staat, 110–111. Hervorhebung im Original. Zitiert wird diese Stelle u. a. in: Fridolf Kudlien, Ärzte als Helfer von Verfolgten, Kritikern von NS-Maßnahmen, Gegner des Dritten Reiches, in: ders. (Hg.), Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985, 209–245, hier 218; Barbara Bromberger/Hans Mausbach, Die Tätigkeit von Ärzten in der SS und in Konzentrationslagern, in: Barbara Bromberger/Hans Mausbach/Klaus-Dieter Thomann, Medizin, Faschismus und Widerstand. Drei Beiträge, Frankfurt a. M. 21990, 186–262, hier 216 und Stefan Klemp, KZ-Arzt Aribert Heim. Die Geschichte einer Fahndung, Münster/Berlin 2010, 42–43. 25 Kurt Leeser, Hauptsturmführer Dr. Hofer, in: Hackett (Hg.), Buchenwald-Report, 257–258, hier 257–258. Kurt Leeser, 1904 in München geboren, kam im Januar 1938 als Häftling in das KZ Dachau. Von September 1938 bis zur Befreiung war er dann im KZ Buchenwald inhaftiert. Als angelernter Desinfektor zählte er dort zum Häftlingspersonal des Krankenreviers. Sollte Lollings Äußerung so gefallen sein, stände sie im Widerspruch zum Befehl vom 28. Dezember 1942 zur Senkung der Häftlingssterblichkeit. Vgl. Internationaler Tracing Service an den Verfasser, 22. 5. 2015 und Amtsgruppe D an die 1. Lagerärzte, 28. 12. 1942, abgedruckt in: Walter Wuttke-Groneberg, Medizin im Nationalsozialismus. Ein Arbeitsbuch, Tübingen 1980, 98.

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Im Vorwort der Erstauflage hatte Kogon noch versichert, er habe die „[…] früheren Einzelberichte, […] samt und sonders kritisch durchgearbeitet, in wenigen markanten Fällen sie wörtlich angeführt, sonst, wenn ich glaubte, die Verantwortung mit Fug und Recht übernehmen zu dürfen, sie als Unterlagen mitverwertet“.26

Für Kogon war Leesers Bericht über den „weißen Raben“ Hofer offenbar ein markanter Fall. Gleichwohl hat er diesen entgegen seiner Beteuerung ohne Hinweis redigiert und ihn damit aus dem ursprünglichen Kontext gerissen.27 Er nutzte den Dialog, um Hofer, über dessen vermeintlich menschliches Verhalten er kein eigenes Wissen besaß, als Gegenbeispiel zu SS-Ärzten wie Werner Kirchert und Hanns Eisele zu positionieren, die für ihn die schlimmsten im KZ Buchenwald waren. Dabei hatte er Kirchert selber gar nicht mehr und Eisele vermutlich nur kurze Zeit kennen gelernt.28 In erster Linie diente ihm der Dialog aber als Beleg dafür, dass auch in der „Lager-SS“ Verweigerung ohne Strafe möglich gewesen sei. Trotz der Unterschiede vermitteln beide Versionen den Eindruck, Hofer sei zum Zeitpunkt des Dialogs als verantwortlicher SS-Arzt erstmalig mit der katastrophalen medizinischen Situation und der Brutalität im KZ konfrontiert gewesen.29 Da Waldemar Hoven aber bis zu seiner Verhaftung nicht als SS-Lager-, sondern als SS-Standortarzt amtiert hatte, muss Hofer ihn in dieser Leitungsfunktion kommissarisch ersetzt haben, was nicht ungewöhnlich gewesen wäre. Entsprechend heißt es in einer Buchenwald-Dokumentation mit Bezug auf einen Befehl des SS-Standortarztes Hoven vom 11. Juni 1943, Hofer habe ihn schon einmal zu Pfingsten 1943 in der Funktion als SS-Standortarzt vertreten.30 Ferner ist davon auszugehen, dass Hofer zuvor bereits Einblick in die unzureichende 26 Kogon, SS-Staat, XIV. 27 Auch alle Artikel für die „Frankfurter Hefte“ hatte Kogon gründlich redigiert. Vgl. Leeser, Hauptsturmführer, 258 und Kogon, Vati, 250. 28 Kirchert hatte das Lager zum 1. Dezember 1938 verlassen. Eisele war dort vermutlich zwischen Januar und September 1941 tätig, während Kogon von Januar 1940 bis Juni 1941 in Wien inhaftiert war. Vgl. Kogon, SS-Staat, 111; Eugen Kogon u. a., Das Konzentrationslager Buchenwald (10. 5. 1945), in: Hackett (Hg.), Buchenwald-Report, 53–137, hier 91; Kogon, Vati, 225; Eisele/Ben Nescher (Hg.), Audiatur, 151 und Pukrop, SS-Mediziner, 602–603. 29 Vgl. Kogon, SS-Staat, 111 und Leeser, Hauptsturmführer, 258. 30 Vgl. Dokumentation zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Konzentrationslager Buchenwald und seinen Nebenlagern, begangen durch Angehörige der SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Buchenwald und seiner Nebenlager, erarbeitet im Auftrag der Lagergemeinschaft Buchenwald beim Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR von den Studenten der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin Hans-Heiner Göhler, Anke Jonas und Sepp Kohoutek (Berlin 13. März 1979), in: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), MfS, HA XX, Nr. 4692, 92. Die kommissarische Übernahme der Dienstgeschäfte des SS-Standortarztes wird hier auf den 7. September 1943 datiert.

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zeitgeschichte 47, 3 (2020)

Versorgung der Gefangenen erhalten hatte. Entweder war er als Krankheits- oder Urlaubsvertretung oder als Arzt vom Dienst selber im Häftlingslager tätig geworden oder er hatte durch Besprechungen und außerdienstliche Kontakte zu seinen Kollegen aus dem Lager Informationen erhalten.31 Zwischen Mitte September und Mitte Oktober 1943 verantwortete Hofer dann als kommissarischer SS-Standortarzt unmittelbar die mangelhafte ärztliche Versorgung und die Abordnung von SS-Ärzten zum Strafvollzug. Da er in dieser Funktion auch Erwin Ding-Schuler bei Abwesenheit als Leiter der Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung vertreten hatte, war er zudem Beteiligter an den dortigen Humanversuchen.32 Zugleich trug er in dieser Zeit die Verantwortung für die medizinische Versorgung des gesamten SS-Standortes. Hofer hatte somit, entgegen Leesers und Kogons Darstellung, Hoven nicht in der subalternen Position als SS-Lagerarzt, sondern als kommissarischen Leiter der Medizinischen Abteilung des KZ Buchenwald und des SS-Standortes Weimar-Buchenwald ersetzt. Darüber hinaus muss er zu jenem Zeitpunkt bereits von der mangelhaften Versorgung der Gefangenen und den mitunter tödlichen Versuchen an Häftlingen gewusst haben. Vermutlich hatte Kogon den Dialog ohne große inhaltliche Reflexion Leesers Bericht entnommen, um ihn für seine Zwecke zu verwenden. Denn im Gegensatz zum ehemaligen Mitgefangenen Walter Poller erkennt Kogon nicht die Systematik, die der Stellenbesetzungspolitik bei den SS-Ärzten zugrunde lag, obwohl er wie Poller eng mit diesen zusammengearbeitet hatte und bereits seit September 1939 im Lager inhaftiert gewesen war. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass mit dem Beginn des Russlandfeldzugs verwundete, erkrankte oder als frontuntauglich gemusterte SS-Ärzte in die Lager versetzt wurden, so dass spätestens ab 1943 kein im Lagerdienst tätiger SS-Arzt uneingeschränkt fronttauglich gewesen sein dürfte. Mit Blick auf diese Gruppe ist Kogons Urteil über die KZ als „Drückeberger-Basis der Totenkopf-Elite“ somit nachweislich falsch.33 Auch auf Hofer treffen die Merkmale dieser Stellenbesetzungsphase zu. Eine Erkrankung im Sommer 1942 war erst der Ausgangspunkt gewesen für die Versetzung in das KZ-System. Insofern stand ihm die Option gar nicht offen, sich durch eine freiwillige Meldung dem Lagerdienst zu entziehen. Im Übrigen erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sich der vierfache Familienvater im Herbst 1943 selber für einen Fronteinsatz gemeldet haben soll, der aufgrund der großen Verluste nur an 31 Vgl. Pukrop, SS-Mediziner, 74–77 und 452–458. 32 Auf die Frage: „Who took charge of the Institute when he [Ding-Schuler; M. P.] left?“ antwortete Hoven: „Officially, it was the chief doctor of the camp.“ Verhör Waldemar Hoven, 22. 10. 1946, URL: http://nuremberg.law.harvard.edu (abgerufen 14. 2. 2016). 33 Vgl. Walter Poller, Arztschreiber in Buchenwald. Bericht des Häftlings 996 aus Block 39, Hamburg 1947, 212; Kogon, SS-Staat, 247 und zu den Besetzungsphasen Pukrop, SS- Mediziner, 153–184.

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der Ostfront erfolgen konnte. Als Inhaber der Ostmedaille hatte er die Winterkatastrophe 1941/42 miterlebt und wusste folglich, was ihn dort erwarten würde.34 Wieder in den ursprünglichen Kontext der Korruptionsaffäre um Karl Koch eingebettet, erscheint der Dialog als Teilstück einer viel weiterreichenden Personalrotation im Kommandanturstab des KZ Buchenwald, die auch personelle Auswirkungen auf andere Lager hatte.

IV.

Die Koch-Affäre und ihre Auswirkungen auf die Leitung der Medizinischen Abteilung des KZ Buchenwald

Im November 1941 wurde Karl Otto Koch, der Kommandant des KZ Buchenwald, wegen Korruptions- und Mordverdacht durch den Höheren SS- und Polizeiführer Fulda-Werra verhaftet. Da er zu jener Zeit noch die Gunst Himmlers besaß, musste er wieder entlassen werden und das Verfahren wurde offiziell eingestellt.35 Im Nachgang der Affäre wurde Koch mit Teilen seines Kommandanturstabs nach Lublin versetzt, wo er den Aufbau des neuen Lagers Majdanek leiten sollte. Da er sich auch dort hemmungslos bereichert hatte und es darüber hinaus zu einem Ausbruch von Häftlingen gekommen war, nahm das dortige SSund Polizeigericht Ermittlungen wegen fahrlässiger Gefangenenbefreiung auf, die im Juli 1942 – nun mit Himmlers Genehmigung – auch auf Koch ausgedehnt wurden. Er wurde seines Postens enthoben, degradiert und zur Allgemeinen SS versetzt. Das Verfahren wurde zwar im Februar 1943 eingestellt, jedoch war die Untersuchung um die Vorgänge im KZ Buchenwald fortgeführt worden. Nach und nach konnten die Ermittler das Ausmaß der dortigen Korruption rekonstruieren und belegen, dass Koch Beweise hatte verschwinden und Mitwisser durch seinen Komplizen Waldemar Hoven ermorden lassen.36 Im August 1943 34 Eine freiwillige Meldung Hofers, der sich mit Handschlag beim Revierkapo verabschiedet habe, erwähnt auch der ehemalige Häftling Louis Napoleon Gymnich. Vgl. Aussage Dr. Louis Napoleon Gymnich, 19. 5. 1965, zitiert nach: Nico Biermanns, Landarzt und Sturmbannführer. Der Kreuzauer Arzt Dr. med. August Bender. Eine kritische Biographie, Düren 2019, 40 Anm. 128; zu den Verlusten an der Ostfront SS-Führungshauptamt (SS-FHA), Kommandoamt der Waffen-SS an den Reichsführer-SS, betr. Stärken und Verluste der SS-Divisionen, 24. 3. 1942, in: BArchB, NS 19/1520 und Roland Kaltenegger, Gefangen im russischen Winter. Unternehmen Barbarossa in Dokumenten und Zeitzeugenberichten 1941/42, Rosenheim 2007. 35 Laut Harry Stein schützte Koch der Ruf als „Aufbau“-Kommandant. Vgl. Harry Stein, Buchenwald-Stammlager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3, München 2006, 301–356, hier 308 und Schmeling, Erbprinz, 93–96. 36 Als Gutachter kam Prof. Dr. Werner Heyde im Koch-Verfahren zu dem Schluss, dass Hoven „trotz Bejahung der Zurechnungsfähigkeit […] einen Grenzfall darstelle und mangels aus-

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wurde Koch erneut inhaftiert, im Dezember 1944 durch ein SS-Gericht zum Tode verurteilt und am 5. April 1945 hingerichtet.37 Im Zuge der Ermittlungen wurde im KZ Buchenwald der SS-Hauptscharführer Rudolf Köhler als Belastungszeuge verhaftet, kurze Zeit später aber tot in seiner Zelle aufgefunden. An der Obduktion der Leiche am 13. September 1943 nahm Peter Hofer vermutlich in der Funktion als kommissarischer SS-Standortarzt zusammen mit Erwin Ding-Schuler und dem SS-Lagerarzt Dr. Heinrich Plaza (1912–1968) teil: „Er [der SS-Richter Konrad Morgen; M. P.] verdächtigte den Lagerarzt (Dr. Hoven) der Tat und ordnete an, dass Proben des Gifts, das sich im Magen des Toten [Rudolf Köhler; M. P.] gefunden hatte, vier sowjetischen Kriegsgefangenen verabreicht wurden. Die vier Männer starben im Beisein mehrer Zeugen, unter ihnen Morgen, […] und Hovens Kollege Dr. Schuler (alias Ding). Im Besitz dieses Beweismittels nahm Morgen Hoven fest.“38

Mit der Verhaftung des mutmaßlichen Täters Waldemar Hoven am 13. September 1943 setzte ein Revirement in den Medizinischen Abteilungen der KZ Natzweiler und Buchenwald ein, das sich von der personellen Kontinuität in den übrigen Lagern und der vorgesetzten Dienststelle abhob. Da Hoven als Leiter der Medizinischen Abteilung im KZ Buchenwald, als stellvertretender Leiter der Abteilung für Fleckfieber- und Virusforschung, als SS-Standortarzt und Amtsarzt Weimar-Buchenwald wichtige Funktionen ausübte, musste Lolling als Vorgesetzter schnell einen Nachfolger installieren, um die medizinische Versorgung des SS-Standortes zu gewährleisten. Dabei stand er vor dem Problem, dass er einen in der Leitung einer großen Medizinischen Abteilung erfahrenen SS-Arzt benötigte. Er konnte aber nur auf solche zurückgreifen, die ihm für seinen Bereich von der zuständigen Sanitätsdienststelle, der Amtsgruppe D im SS-FHA, zugestanden wurden. Hierfür kamen nur SS-Ärzte in Betracht, die keinen höreichender Intelligenz in gutem Glauben gehandelt hat“. ZbV-Gericht, Stellungsnahme des Untersuchungsführers im Strafverfahren gegen den SS-Staf. Koch und Andere zur Vorlage beim Gerichtsherrn, 11. 9. 1944, in: Archiv der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, JD 7/2, 122. 37 Vgl. Karin Orth, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 22001, 189–191 und 207–210 und die Dokumente SS-64 und SS-65, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg vom 14. November 1945–1. Oktober 1946, Bd. XLII, Nürnberg 1949, 543–562. 38 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Neunte, erneut durchgesehene Taschenbuchausgabe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1999, 970. Die Darstellung basiert auf einer Aussage Kogons im Nürnberger Ärzteprozess, die er im Jahre 1950 aber relativierte. Da Hofer an Köhlers Obduktion teilnahm, ist nicht auszuschließen, dass er auch den nachfolgenden Versuchen beiwohnte. Vgl. Friedrich Herber, Gerichtsmedizin unterm Hakenkreuz. Ungekürzte Lizenzausgabe, Paderborn 2006, 256; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral (Schriftenreihe der BpB, Bd. 1103), Bonn 2010, 149–150 Anm. 13 und Herlinde Pauer-Studer/J. David Vellemann, „Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin“. Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen, Berlin 2017, 133–142.

Marco Pukrop, Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in „Der SS-Staat“

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heren Dienstgrad als den eines SS-Sturmbannführers (für die SS-Standortärzte/ 1. Lagerärzte) oder eines SS-Hauptsturmführers (für SS-Lagerärzte) erreicht hatten. Zudem mussten sie untauglich für eine Frontverwendung und in keinem anderen Zweig des SS-Sanitätswesens einsetzbar sein.39 Für die kurzfristige Überbrückung der durch Hovens Verhaftung entstandenen Vakanz griff Lolling auf die bewährte Methode zurück, aus den Reihen der lokalen SS-Ärzte einen kommissarischen Nachfolger zu berufen.40 Dass die Wahl auf Hofer fiel, war folgerichtig. Durch die Beförderung zum SS-Hauptsturmführer am 20. April 1943 war er einer der ranghöchsten SS-Mediziner vor Ort, der Hoven bereits zu Pfingsten vertreten hatte und dessen Aufgaben kannte. Zudem besaß er die österreichische Qualifikation als Amtsarzt, hatte bereits als Stadt- und Polizeiarzt gearbeitet und war so in der Lage, die administrative Arbeit eines SS-Standortarztes zu bewältigen. Auch die vielleicht nicht ausfüllende Tätigkeit als SSTruppenarzt könnte die kurzfristige Personalunion und die damit verbundene doppelte Arbeitsbelastung ermöglicht haben.41 Warum Lolling Dr. Gerhard Schiedlausky (1906–1947) als regulären Nachfolger Hovens auserkoren hatte, ist nicht bekannt. Auffällig ist, dass dieser erst im August 1943 den Dienst als 1. Lagerarzt im kleinen KZ Natzweiler angetreten hatte, nachdem er im selben Monat aus disziplinarischen Gründen seines Postens als SS-Standortarzt im KZ Ravensbrück enthoben worden war.42 Ohne die personelle Kontinuität in der Medizinischen Abteilung eines anderen Lagers beenden und den eingespielten Dienstbetrieb stören zu müssen, besaß Lolling mit Schiedlausky einen Kandidaten, der bereits eine Führungsposition in einem großen KZ besetzt hatte, auf dem Posten im KZ Natzweiler eigentlich unterfordert war und durch die unverhoffte Bewährungschance ein loyaler Untergebener zu werden versprach.43 Um ihn für die Leitungsfunktion in Buchenwald frei zu 39 Diese begann im Februar 1941 mit Lollings Berufung zum „Leitenden Arzt“ der KZ. Vgl. Pukrop, SS-Mediziner, 179–181 und 463. 40 Im KZ Sachsenhausen wurde der SS-Truppenarzt Dr. Heinz Baumkötter (1912–2001) kommissarischer Vertreter des erkrankten Dr. Emil-Christian Schmitz (1914–1971), dann aber auch dessen regulärer Nachfolger. Vgl. ebd., 462. 41 Auch Hofers Nachfolger als SS-Truppenarzt, Dr. August Bender (1909–2005), kam aushilfsweise zeitgleich als SS-Lagerarzt zum Einsatz. Vgl. Biermanns, Landarzt, 41–44. 42 Unter seiner Dienstaufsicht hatte der SS-Arzt Dr. Rolf Rosenthal (1911–1947) ein Verhältnis mit einer Häftlingspflegerin begonnen und eine daraus resultierende Schwangerschaft unterbrochen. Vgl. Gerhard Schiedlausky, eidesstattliche Erklärung, 7. 8. 1945, in: Dörner/ Ebbinghaus/Linne/Roth/Weindling (Hg.)., Ärzteprozess, 4539 und Bernhard Strebel, KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes. Mit einem Geleitwort von Germaine Tillion, Paderborn u. a. 2003, 99–100. 43 Mit Recht betont Felix Römer personelle Kontinuität als Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit militärischer Verbände. Mit Heinz Baumkötter arbeitete Lolling vertrauensvoll in Oranienburg zusammen. Dr. Eduard Wirths (1909–1945), Dr. Alfred Trzebinski (1902–1946) und Dr. Otto Heidl (1910–1955) hatten sich in den Lagern Auschwitz, Neuengamme und

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bekommen, reaktivierte Lolling den fast 67-jährigen Dr. Richard Krieger (1876– 1960) zum dritten Male für das KZ-System, der zuvor bereits in mehreren Lagern tätig geworden war. Ihm traute Lolling offensichtlich nicht mehr zu, ein großes Lager verantwortlich leiten zu können und versetzte ihn deshalb in das kleine KZ Natzweiler, wo er Schiedlausky ablösen und für die neue Aufgabe freimachen konnte.44 Detailliert beschrieb dieser nach Kriegsende die offenbar sehr kurzfristig veranlasste Versetzung: „[…] etwa Mitte Oktober 1943 erhielt ich den Befehl vom Chef des Amtes D III, als Vertreter des in Untersuchungshaft befindlichen SS-H′Stuf. Dr. Hoven, […], die Geschäfte des Standortarztes der Waffen-SS Weimar und des 1. Lagerarztes Buchenwald zu übernehmen. Nachdem ich meine Dienstgeschäfte an SS-Stubaf. Dr. Krieger, […], übergeben hatte, übernahm ich dieses neue Amt. Meine Tätigkeit begann in Buchenwald etwa am 15/18. Oktober 1943 und endete am Tage der Besetzung des Lagers durch amerikanische Streitkräfte am 11. April 1945.“45

Mit Schiedlauskys Eintreffen trat Hofer zurück in die Funktion als SS-Truppenarzt, die er noch bis Ende Januar 1944 ausübte.46 Vermutlich bedingt durch die am 18. Dezember 1943 erheblich verschärften Tauglichkeitsbestimmungen und rigoroser Auskämmaktionen kam Hofer Anfang Februar 1944 dann doch noch zu einem zweiten Fronteinsatz, der bis Kriegsende andauerte.47

V.

Dr. Peter Hofer – Eine österreichische Arztkarriere im Nationalsozialismus

Peter Hofer wurde am 19. November 1903 als Sohn des Selchers Peter Alexander Hofer und seiner Ehefrau Mathilde Maria, geb. Stachl in Salzburg geboren. Nach Besuch der Volksschule wechselte er im Jahr 1914 auf das Stiftsgymnasium in Kremsmünster und bestand im Sommer 1922 das Abitur. Im Wintersemester

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Stutthof etabliert, während sich Dr. Richard Trommer (1910–1950 für tot erklärt) gerade erst im KZ Ravensbrück eingearbeitet hatte. Vgl. Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen. Mit einem Vorwort von Johannes Hürter und 30 Abbildungen im Text (Schriftenreihe der Bpb Bd. 1323), Bonn 2012, 179–184 und Pukrop, SS-Mediziner, 463. Laut Fritz Lettow war Krieger senil und hatte „ein Gedächtnis wie ein Sieb“. Vgl. Fritz Lettow, Arzt in den Höllen. Erinnerungen an vier Konzentrationslager, Berlin 1997, 149 und Pukrop, SS-Mediziner, 389–399. Gerhard Schiedlausky, eidesstattliche Erklärung, 7. 8. 1945, in: Dörner/Ebbinghaus/Linne/ Roth/Weindling (Hg.), Ärzteprozess, 4539. Neben der medizinischen Betreuung der SS-Männer und ihrer Familienangehörigen war Hofer auch für das Sonderlager „Fichtenhain“ zuständig, in dem Mitglieder der rumänischen „Eisernen Garde“ interniert waren. Vgl. Dokumentation zu Kriegsverbrechen, in: BStU, HA XX, Nr. 4692, 92. Vgl. Pukrop, SS-Mediziner, 178.

Marco Pukrop, Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in „Der SS-Staat“

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1922/23 nahm Hofer das Medizinstudium an der Universität Wien auf, das er am 25. Februar 1930 mit der Note „genügend“ abschloss; der Doktortitel und die Approbation wurden ihm am 7. März 1930 verliehen. Im Anschluss folgte, vermutlich bis Ende April 1933, die praktische Ausbildung am Landeskrankenhaus Salzburg. Am 1. Juni 1933 legte er in Innsbruck die Amtsarztprüfung ab und eröffnete am 1. Mai 1933 seine Praxis für Allgemeinmedizin in Salzburg; nebenamtlich war er Amtsarzt und kommissarischer Stadt- und Polizeiarzt in Salzburg. Die Praxis betrieb er, mit Unterbrechung in den Jahren von 1940 bis 1948, nach Wiedereröffnung Ende 1948 bis zum Juni 1965.48 Am 18. September 1926 heiratete Hofer, der zu einem unbekannten Zeitpunkt aus der katholischen Kirche ausgetreten war, erstmalig. Aus der später geschiedenen Verbindung entstammten vier Kinder. Eine zweite Ehe wurde am 9. Juni 1956 in Salzburg beurkundet.49 Obwohl Hofers erste Ehefrau aus einer katholischen Familie kam, sie Mitglied der NSDAP, der Nationalsozialistischen Frauenschaft und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) war, heißt es in einem Leumundschreiben der Polizeidirektion Salzburg über die Schwiegereltern fälschlich: „Umseitsgenannter [Peter Hofer; M. P.] wird im Hause Salzburg, […], nicht besonders gut beleumdet. Mit dem Tage der Annexion Österreich [sic] soll der Genannte seinen Schwiegereltern gegenüber, welche Juden sind und ebenfalls im selben Haus wohnen, ein schlechtes Benehmen zutage gelegt haben.“50

Nach 1945 bestritt Hofer, vor dem Mai 1938 in die NSDAP und SS eingetreten zu sein und je ein offizielles Mitgliedsbuch besessen zu haben. Dabei galt er selbst nach reichsdeutschen Maßstäben als „alter Kämpfer“ der Bewegung. Hofer war bereits am 2. Februar 1932 Parteimitglied (Nr. 6.338.766) geworden und hatte nach dem Anschluss Österreichs am 13. Mai 1938 ein zweites Aufnahmegesuch gestellt; fortan galt der 1. Februar 1932 als offizielles Eintrittsdatum. Er blieb nicht nur passives Mitglied, sondern betätigte sich in der Verbotszeit der NSDAP in Österreich zwischen 1933 und 1938 aktiv für die Partei, die SS und 48 Vgl. Vernehmung Peter Hofer, 1. 6. 1948, in: Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/48; Ärztekammer Salzburg an den Verfasser, 7. 8. 2011 und Universitätsarchiv Wien an den Verfasser, 16. 12. 2013. 49 Laut einer Stammkartenabschrift erfolgte die Eheschließung am 16. November 1920. Unbekannt ist das Datum der Scheidung und ob der zweiten Ehe Kinder entstammten. Vgl. SSStammkarte und Gebührniskarte, in: BArchB, SSO, Hofer, Peter, 19. 11. 1903; SS-Stammkarten-Abschrift (Abschrift), in: OÖLA, Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/48 und Stadt Salzburg an den Verfasser, 26. 7. 2011. 50 Bundespolizeidirektion Salzburg an das Landesgericht (LG) als Volksgericht (VG) Linz, 24. 11. 1948, in: OÖLA, Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/48. Zum Zeitpunkt des Schreibens war er bereits geschieden. Vgl. auch Magistrat der Stadt Wien an den Verfasser, 8. 5. 2017 und Matrikelbuch Maria Geburt Tom. 1904 Fol. 29 Rz. 88 und 89, in: Archiv Pfarrentwicklungsraum Maria-Drei-Kirchen Wien.

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den NS-Ärztebund sowie später dann als Gauredner und Hauptstellenleiter des Amtes für Volksgesundheit in der NSV. Neben der vermuteten Mitgliedschaft in der NSV gehörte er dem NS-Ärztebund sowie der Allgemeinen SS an, in die Hofer am 15. Mai 1933 eingetreten und als Sturmbannarzt tätig geworden war (Nr. 296.197). Aufgrund der SS-Zugehörigkeit erfolgte am 31. Oktober 1940 die Einberufung zur Waffen-SS, in der er bis Kriegsende bis zum SS-Hauptsturmführer der Reserve avancierte und diverse SS-interne und militärische Auszeichnungen erhielt. Zunächst bei der 5. SS-Totenkopfstandarte in Oranienburg militärisch ausgebildet, wurde er im Januar 1941 als Bataillonsarzt im Regiment „Germania“ zur 5. SS-Division „Wiking“ versetzt und nahm am Russlandfeldzug teil. Wie aus Unterlagen der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) hervorgeht, war Hofer zwischen dem 6. Mai und dem 14. Juli 1942 aufgrund einer unbekannten Erkrankung im SS-Lazarett Dachau in ärztlicher Behandlung, aus der die Versetzung in das KZ-System resultierte. Seit dem 20. Juli 1942 verzeichnet ihn die SS-Stammkarte als Angehörigen des Amtes D III im SS-WVHA, das für die medizinische Versorgung der KZ-Häftlinge und der SS-Wachmannschaften zuständig war und von Enno Lolling geleitet wurde.51 Wann genau er seinen Dienst im KZ Buchenwald antrat und ob er vorher noch in einem anderen Lager zum Einsatz kam, ist unklar. Unterlagen im Archiv des BStU gehen davon aus, dass er mindestens seit dem 12. Dezember 1942 im Lager Buchenwald als Arzt der SS-Truppen außerhalb des eigentlichen Häftlingslagers tätig war.52 Dass dies bis zur Versetzung im Januar 1944 seine Primärfunktion blieb, geht aus einer Erklärung Schiedlauskys hervor. Dieser gab an, bei seinem Amtsantritt in Buchenwald im Oktober 1943 sei Hofer bereits seit etwa Ende 1942/Anfang 1943 Truppenarzt gewesen. Wie die SS-Stammkarte und die Aussagen von Schiedlausky und des damaligen Kommandanten Hermann Pister übereinstimmend belegen, amtierte Hofer bis Ende Januar 1944 als Arzt der SS-Wachmannschaft. Er schied zu diesem 51 Vgl. SS-Stammkarte, in: BArchB, SSO, Hofer, Peter, 19. 11. 1903; Bundespolizeidirektion Salzburg an die Staatsanwaltschaft beim VG Linz, 6. 9. 1948; SS-Stammkarten-Abschrift (Abschrift) und Personal-Fragebogen zum Antragsschein auf Aufstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich, 21. 5. 1938, in: OÖLA, Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/48 und WASt an den Verfasser, 21. 10. 2011 und 28. 2. 2014. Bis Kriegsende erhielt Hofer die österreichische Erinnerungsmedaille, die Volkspflegemedaille, den SS-Julleuchter, den SS-Winkel, die Ostmedaille und die Eisernen Kreuze I. und II. Klasse. 52 Sollte die Versetzung in das KZ Buchenwald schon im Juli 1942 erfolgt sein, könnte sie im Zusammenhang mit Hovens Ernennung zum SS-Standortarzt Weimar-Buchenwald stehen, der zuvor SS-Truppenarzt gewesen war. Eine unsignierte Karteikarte aus dem Bundesarchiv Ludwigsburg (BArchL) nennt den 20. August 1942 als Dienstbeginn im KZ Buchenwald. Vgl. Trials of War Criminals, Bd. II, 287; Liste der im KZ Buchenwald eingesetzten SS-Mediziner und SDG [o. D.], in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 21985, 88 und Dachau Detachment, 7709 War Crimes Group, Datenblatt Peter Hofer, 14. 4. 1947, in: BArchL, ohne Signatur.

Marco Pukrop, Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in „Der SS-Staat“

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Zeitpunkt nicht nur aus dem KZ Buchenwald, sondern aus dem Lagersystem insgesamt aus. Da er sowohl als SS-Truppen- wie auch als kommissarischer SSStandortarzt vornehmlich außerhalb des Häftlingslagers tätig wurde, war er dem Blickfeld der Insassen weitgehend entzogen, so dass er nur Kurt Leeser und Louis N. Gymnich in Erinnerung geblieben war.53 Dem Lagerdienst folgte zwischen dem 26. Januar und dem 1. Februar 1944 die Versetzung zur Amtsgruppe D im SS-FHA und im Anschluss daran bis Kriegsende die zum Panzergrenadierregiment 36 der 16. SS-Division „ReichsführerSS“, die in Italien und Ungarn zum Einsatz kam.54 Wie Hofer in einer Vernehmung aussagte, wurde er aufgrund der SS-Mitgliedschaft zwischen dem 15. Juni 1945 und dem 13. Oktober 1947 an verschiedenen Orten interniert, zuletzt im amerikanischen Lager Marcus W. Orr bei Salzburg.55 Am 17. Oktober 1947 machte Hofer bei der Anmeldung in Salzburg falsche Angaben zu den Mitgliedschaften in NS-Organisationen, die er in einer persönlichen Aussage auch noch einmal bekräftigte. So habe er der NSDAP von Mai bis Juli 1938 zunächst als Anwärter, dann als einfaches Mitglied angehört, ein offizielles Parteibuch aber nie erhalten. In der Allgemeinen SS sei er ab 1938 lediglich Sturmbannarzt im Range eines SS-Oberscharführers gewesen. Die Stadt Salzburg verfügte aber über die Abschrift eines Fragebogens, den Hofers erste Ehefrau im August 1941 ausgefüllt hatte. In diesem datierte sie den NSDAP-Beitritt auf den 1. März 1922 und die Aufnahme von Tätigkeiten in der Partei oder einer ihrer Gliederungen auf den 1. April 1923.56 Die eingeschaltete Bundespolizeidirektion Salzburg kam zwar zu dem Schluss, dass Frau Hofer den Fragebogen absichtlich oder unwissentlich falsch ausgefüllt hatte. Allerdings lag der Direktion eine Abschrift der SSStammkarte, in der die richtigen Eintrittsdaten verzeichnet waren, und eine Auskunft der lokalen Ärztekammer vor. Die Ergebnisse der Nachforschungen wurden im September 1948 an die Staatsanwaltschaft beim VG Linz übersandt mit der Bitte um Prüfung, ob gegen Hofer ein Verfahren gemäß § 8 und 10 des

53 In Häftlingsberichten im Archiv der KZ-Gedenkstätte Buchenwald und in einer frühen Publikation wird er nicht erwähnt. Vgl. Archiv der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora an den Verfasser, 20. 8. 2014 und Kommunistische Partei Deutschlands/Stadt und Kreis Leipzig (Hg.), Das war Buchenwald. Ein Tatsachenbericht, Leipzig o. D. [1945]. 54 Vgl. SS-Stammkarte, in: BArchB, SSO, Hofer, Peter, 19. 11. 1903; Gerhard Schiedlausky, eidesstattliche Erklärung, 7. 8. 1945, in: Dörner/Ebbinghaus/Linne/Roth/Weindling (Hg.), Ärzteprozess, 4562; Hermann Pister, Bericht, 2. 7. 1945 (Abschrift), in: BArchL, B 162/19328, 102 und WASt an den Verfasser, 21. 10. 2011. 55 Vgl. Vernehmung Peter Hofer, 1. 6. 1948, in: OÖLA, Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/48. 56 Vgl. Meldeblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß § 4 des Verbotsgesetzes 1947, 17. 10. 1947 (Abschrift); Vernehmung Peter Hofer, 1. 6. 1948 und Personalfragebogen Peter Hofer, 26. 8. 1941 (Abschrift), in: ebd.

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Verbotsgesetzes vom Mai 1945 zu führen sei.57 Die Behörde erkannte genügend Verdachtsmomente und eröffnete am 22. September 1948 eine Voruntersuchung wegen Verstoßes gegen die § 8, 10 und 11 des Verbotsgesetzes (Nicht- oder Falschregistrierung, NSDAP- und SS-Mitgliedschaft vor dem März 1938, Stellung als SS-Führer). Einen Monat später entschied das Oberlandesgericht (OLG) Linz, keine Untersuchungshaft gegen Hofer zu verhängen.58 Am 24. November 1948 teilte die Polizeidirektion Salzburg dem LG Linz dann mit, Befragungen in seinem Wohnhaus in Salzburg hätten ergeben, dass Hofer sich vor 1938 dort nicht als illegales NSDAP-Mitglied bezeichnet habe, als solches aber allgemein bekannt gewesen sei.59 Trotz der wiederholten Falschangaben zu den Eintritten in die NSDAP und SS sowie des negativen Leumundszeugnisses wurde Hofer vom Bundesjustizminister (BMdJ) am 21. Dezember 1948 auf seinen Antrag hin durch den Bundespräsidenten die Ausnahmebehandlung nach § 27 des Nationalsozialistengesetzes von 1947 bewilligt und er von Sühneleistungen befreit.60 Nach Abschluss des Verfahrens übersandte die Polizeidirektion Salzburg der Staatsanwaltschaft beim VG Linz noch eine Aussage des nach Israel emigrierten Hans S., der in Hofers Haus gewohnt und ihn als frühes SS-Mitglied in Erinnerung behalten hatte: „Ich fand beigeschlossene Bilder vor, aus denen hervorgeht, dass Dr. Peter HOFER im Jahre 1938 kurz nach der Annexion Österreichs bereits in SS-Uniform mit einem Stern (Rangabzeichen vermutl. SS-Oberscharführer) aufscheint und daher anzunehmen ist, dass er im Gegensatz zu seiner Registrierung, wo er sich als Mitglied der SS seit 1938 registrieren ließ, illegales SS-Mitglied war. […] Außerdem weiß ich von meiner 57 Hofer teilte der Polizei mit, da der Fragebogen nicht handschriftlich unterschrieben sei, habe er keine Beweiskraft. Der Ärztekammer galt er als tüchtiger, anständiger Arzt. Vgl. Bundespolizeidirektion Salzburg an die Staatsanwaltschaft beim VG Linz, 6. 9. 1948; SS-Stammkarten-Abschrift (Abschrift); Personalfragebogen Peter Hofer, 26. 8. 1941 (Abschrift) und Peter Hofer an die Polizei-Direktion Salzburg, 1. 6. 1948, in: ebd. und Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), in: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1945, 19–22. 58 Vgl. Staatsanwaltschaft Linz, Antrags- und Verfügungsbogen, 22. 9. 1948; Staatsanwaltschaft Linz, Verfügung/Vermerk [o. D.] und OLG Linz an das LG Linz, 20. 10. 1948, in: OÖLA, Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/48. 59 Vgl. Bundespolizeidirektion Salzburg an das LG Linz als VG, 24. 11. 1948 und Postenkommandant Grödig an das VG Linz, 19. 11. 1948, in: ebd. 60 Gemäß § 27 konnte der Bundespräsident Ausnahmen von den Sühnemaßnahmen bewilligen, wenn der Betreffende die Zugehörigkeit zu NS-Organisationen nie missbraucht hatte, er eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich besaß, wenn ein öffentliches Interesse oder ein besonders berücksichtigungswürdiger Grund vorlag. Vgl. Bezirksgericht Salzburg, Vermerk, 7. 12. 1948; Der Bundesminister Helmer an das BMdJ, 21. 12. 1948 und Der Bundesminister Helmer an Peter Hofer, 21. 12. 1948 (Abschrift), in: ebd. und Bundesverfassungsgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten (Nationalsozialistengesetz), in: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1947, 277–303.

Marco Pukrop, Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in „Der SS-Staat“

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Schwiegermutter Maria B., […], dass sie (B.) in der Verbotszeit der NSDAP, während der Grenzsperre zwischen Deutschland und Österreich, von Dr. Peter HOFER, der einen besonderen Pass für die Einreise nach Deutschland, den damals nur Illegale besaßen, hatte, zum Obersalzberg mit dem Auto, dass v. Dr. Peter HOFER gelenkt wurde, gebracht und auch wieder zurückgeführt worden ist. […] Auch durch diese Handlungsweise des Dr. Peter HOFER geht hervor, dass dieser bereits illegales Parteimitglied sein musste.“61

Hatte Hofer sich zunächst als Landarbeiter durchschlagen müssen, weil er wegen des laufenden Verfahrens nicht als Arzt tätig werden durfte, konnte er durch die Zubilligung der Ausnahmeregelung die Praxis noch im Dezember 1948 wiedereröffnen, die er bis zum Tod betrieb. Am 25. Juni 1965 verstarb Peter Hofer in Salzburg ohne noch einmal von der deutschen oder österreichischen Justiz als Zeuge oder Beschuldigter befragt worden zu sein. Ermittlungsverfahren wegen der keinesfalls kurzen Tätigkeit im KZ Buchenwald sind nicht bekannt.62

VI.

Zusammenfassung

Im Jahr 2016 feierte die Erstauflage des Buches „Der SS-Staat“ seinen 70. Geburtstag. Keine andere Publikation hat seither über Jahrzehnte hinweg die westdeutsche Sicht auf das KZ-System und die in ihm tätigen SS-Männer so nachhaltig geprägt. Entsprechend zählt die hier analysierte Passage mit zu den am häufigsten direkt oder indirekt zitierten in der wissenschaftlichen Literatur. Dass „Der SS-Staat“ diese Ausnahmestellung einnehmen konnte, lag nicht zuletzt in der Person des Autors begründet. Bis zu seinem Tod gehörte Kogon mit seinen zahllosen Kontakten zu den einflussreichsten Intellektuellen in Westdeutschland: „Konservative Herkunft und Häftlingserfahrung statten das Buch einerseits mit besonderer Glaubwürdigkeit, andererseits mit der Aura höchster Authentizität aus. Gültigeres schien, so der Tenor (west)deutscher Rezensionen, nicht möglich.“63

Aus dem einleitenden Kapitel war bekannt, dass sein wichtigstes Werk auf einer Sammlung von Überlebendenberichten beruhte. Da diese aber als verschollen galt, war lange Zeit nicht zu rekonstruieren, in welchem Umfang Kogon auf die Berichte zurückgegriffen und ob er sie verändert hatte. Nachdem eine vollstän61 Aussage Hans S., 8. 2. 1949; in: OÖLA, Sondergerichte Linz, Schachtel 481, Zahl Vg 8 Vr 3870/ 48. Hervorhebung im Original. 62 Den Amerikanern galt Hofer als potentieller Zeuge in einem Buchenwald-Prozess. Vgl. Ärztekammer Salzburg an den Verfasser, 7. 8. 2013; Stadt Salzburg an den Verfasser, 26. 7. 2011 und Dachau Detachment, 7709 War Crimes Group, Datenblatt Peter Hofer, 14. 4. 1947, in: BArchL, ohne Signatur. 63 Knigge, Hölle, 24. Vgl. auch Beismann, Netzwerke, 230–231.

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dige Durchschrift in den 1980er-Jahren gefunden und Mitte der 1990er-Jahre veröffentlicht wurde, zeigt sich, dass Kogon zumindest in der hier analysierten Passage Leesers Originalbericht nahezu wortwörtlich übernommen hatte, er selber aber keine eigenen Informationen zu Peter Hofer und seiner vermeintlichen Humanität beitragen konnte. Jedoch hatte er, entgegen seiner Beteuerung, Änderungen am Text vorgenommen, um seine These belegen zu können, Widerspruch sei auch in der „Lager-SS“ möglich gewesen. Dadurch ging der ursprüngliche Bezug zur Koch-Affäre und das daraus folgende Personalrevirement gänzlich verloren. Obwohl Kogon eine akademische Ausbildung besaß, verzichtete er im „SSStaat“ konsequent auf Quellenbelege, so dass unmöglich zu unterscheiden ist, was sein eigenes Erleben war und wo er auf Häftlingsberichte zurückgegriffen hat. Nicht bekannt ist ferner, ob er die darin enthaltenen Aussagen und Wertungen überprüft hatte. So bleibt unklar, woher sein Urteil stammt, im KZ Buchenwald seien Kirchert und Eisele die schlimmsten SS-Ärzte gewesen. Während Eisele immerhin in sieben das KZ Buchenwald betreffenden Originalberichten erwähnt wird und Kogon ihn im Lager noch kurze Zeit selber beobachtet haben könnte, wird Kirchert in keinem einzigen genannt. Auf Kogon selber kann die Wertung nicht zurückgehen, da er diesen gar nicht mehr im Lager erlebt hatte.64 Dass er in Einzelfällen nicht der genaue Chronist war, für den er sich selber hielt, zeigt auch die Tatsache, dass ihm bei der Übernahme von Leesers Dialog nicht aufgefallen war, dass Waldemar Hoven im Sommer 1943 gar nicht mehr als SSLager-, sondern als SS-Standortarzt amtiert und Hofer ihn in diesem Amt vertreten hatte. Abschließend bleibt festzuhalten, dass „Der SS-Staat“ in der Vergangenheit wohl zu unkritisch als Primärquelle genutzt wurde, da Kogon die Berichte seiner ehemaligen Mithäftlinge mitunter abgewandelt und neu kontextualisiert hatte. In diesem Sinne wäre es angebracht, Werner Scherfs Vorwurf nachzugehen und auch Kogons zahlreiche Zeugenaussagen auf inhaltliche Kohärenz zu untersuchen. Nach 1945 konnte sich kaum ein anderer ehemaliger Häftling überhaupt an einen SS-Arzt Peter Hofer erinnern. Auch bleibt unklar, auf welche Verhaltensweisen Hofers sich Leesers Urteil konkret stützt. Als SS-Standortarzt waren seine Aufgaben vornehmlich administrativer Art gewesen, so dass er kaum direkten Kontakt zu kranken Häftlingen gehabt haben dürfte. Gleichwohl galt er Leeser im KZ Buchenwald als „weißer Rabe“, der als einziger versucht habe, den Kranken zu helfen und sich ihnen gegenüber anständig verhielt. Hingegen zeigen Hofers politischer Werdegang und die wenigen Berichte ihn aber als einen schon früh 64 Vgl. die Berichte von Herbert Mindus, Otto Kipp, Ludwig Scheibrunn, Artur Gadzinski, Max Nebig, anonym und Kurt Dietz [Titz] sowie auf das KZ Natzweiler bezogen den von Robert Leibbrand, in: Hackett (Hg.), Buchenwald-Report.

Marco Pukrop, Die Darstellung von Dr. Peter Hofer in „Der SS-Staat“

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überzeugten und aktiven Nationalsozialisten. Was zunächst als Widerspruch erscheint, kann durchaus möglich gewesen sein. Die bekannte, wenig differenzierte Aufteilung der „Lager-SS“ in Böswillige, Gleichgültige und Gutmütige ist zu starr und übergeht die Wandlungsfähigkeit menschlichen Verhaltens.65 Hofers berufliche und private Biografie nach 1945 ist nicht ungewöhnlich und entspricht den Lebenswegen früherer SS-Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der direkten Nachkriegszeit, die aus den falschen Angaben bei der Registrierung, nicht aus dem KZ-Dienst resultierten und eher zufällig aufgefallen waren, konnte er seine berufliche Karriere nahtlos fortsetzen und wieder praktizieren. Auf ihn trifft Norbert Freis These zu, ab Mitte der 1950er-Jahre habe niemand mehr groß fürchten müssen, wegen einer NS-Vergangenheit behelligt zu werden.66 Sofern Lolling selber Initiator des Revirements gewesen war, zeigt seine Personalpolitik ein beachtliches Maß an Kalkül, Improvisationstalent und Einsicht in die Bedeutung von personeller Kontinuität für die effektive Abwicklung des Dienstbetriebes in den unterbesetzten Medizinischen Abteilungen der KZ, die er durch seine Personalpolitik sicherstellen wollte. Dies dürfte der Grund sein, warum Hofer nicht zu Hovens regulärem Nachfolger berufen wurde. Entweder war Hofer durch die Erkrankung nur befristet frontuntauglich geworden oder aber Lolling wusste bereits um die beabsichtigte Verschärfung der Tauglichkeitsbestimmungen, die im Dezember 1943 in Kraft trat. Durch die Ernennung des vermutlich dauerhaft untauglichen Schiedlausky vermied es Lolling, mit Hofer einen Nachfolger an einem der wichtigsten SS-Standorte zu berufen, den er in absehbarer Zeit erneut hätte ersetzen müssen, was die angestrebte personelle Kontinuität gefährdet hätte. Abweichend von dem nach 1945 konstruierten Bild dokumentiert die Personalpolitik eine nicht für möglich gehaltene aktive Handlungsfähigkeit Lollings als „Leitender Arzt“ der KZ. Basierend auf Aussagen ehemaliger SS-Ärzte galt er bisher als „bequemer Vorgesetzter“, der Alkohol und gutes Essen zu schätzten gewusst habe und der von den ihm unterstellten SSÄrzten zwar anerkannt, nicht aber geachtet worden sei.67 Die hier im Kontext von Peter Hofers Biographie skizzierte Koch-Affäre gewährt somit interessante Einblicke in Lollings Personalpolitik und die Funktionsweise seines Amtes, über dessen Tätigkeit und Personal auch sieben Jahrzehnte nach Erscheinen von Eugen Kogons „Der SS-Staat“ noch viel zu wenig bekannt ist.

65 Vgl. Pukrop, SS-Mediziner, 40 Anm. 103, 50–51, 332–333 und 372–374. 66 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, 20. 67 Vgl. Pukrop, SS-Mediziner, 94 Anm. 269 und 98–101. Obwohl Enno Lolling einer der wichtigsten Funktionäre des Lagersystems war, ist eine fundierte biographische Studie, die seine Funktion und Amtsführung analysiert, bis heute ein bedauerliches Forschungsdesiderat.

Siegfried Göllner

„Da waren die Nazi ja noch humaner“ – Sichtweisen ehemaliger NationalsozialistInnen auf die Entnazifizierung in Österreich 1945–19571

Die Zweite Republik stand in den ersten Jahren ihres Bestehens vor der herausfordernden Frage des Umgangs mit jenen Personen, die an der nationalsozialistischen Herrschaft partizipiert hatten. Eine zunächst von den Besatzungsmächten vorangetriebene und mehrere Phasen durchlaufende Entnazifizierung war früh in die Verantwortung des unabhängigen Österreich übergeben worden. Die vor allem auf formalen Kriterien der Zugehörigkeit zur NSDAP und ihren Wehrverbänden fußende bürokratische Entnazifizierung stieß bald an die Grenzen ihrer Durchführbarkeit, sollte jedem Fall eine individuelle Beurteilung zuteil werden. Der baldige Übergang von der Entnazifizierung zur Reintegration ehemaliger NationalsozialistInnen wird von der zeitgeschichtlichen Forschung übereinstimmend als Folge der weltpolitischen Situation, sowie als demokratiepolitische und ökonomische Notwendigkeit gesehen.2 Dieser Wechsel im Umgang mit den „Ehemaligen“3 wurde im öffentlichen Diskurs des ersten Jahrzehnts der Zweiten Republik durch die Etablierung von Opfernarrativen begleitet, die die Mehrheitsbevölkerung umfassten. Die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen hingegen wurden in eine Rolle gedrängt, in 1 Dieser Beitrag beruht auf Forschungen des Autors im Rahmen der beiden Projekte „Der Entnazifizierungsdiskurs ehemaliger NationalsozialistInnen seit 1945“, gefördert vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Jubiläumsfonds-Projekt-Nr. 13752) und „Die Selbstdarstellung ehemaliger NationalsozialistInnen in Volksgerichtsverfahren und die Universalisierung der Opferthese“, unterstützt vom Wiener Wiesenthal Institut für HolocaustStudien (VWI). Beide Projekte wurden vom Autor unter Projektleitung von Albert Lichtblau am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg durchgeführt. Eine kombinierte Publikation der beiden Studien ist in Vorbereitung. 2 Vgl. Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981; Sebastian Meissl/Klaus-Dieter Mulley/Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld – Verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien 1986; Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich (Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2002), Linz 2004. 3 Der Begriff „Ehemalige“ wurde und wird vielfältig definiert. Im Beitrag wird er – wenn nicht anders ausgeführt – ohne ideologische Differenzierung synonym für von Entnazifizierungsmaßnahmen betroffene Personen verwendet. Zum Begriff vgl. Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Göttingen 2019, 32–38.

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der sie diesen sich ausbreitenden Opfermythos störten.4 Zu einer Bewusstseinsbildung um die Involvierung von ÖsterreicherInnen in die NS-Verbrechen konnte die Entnazifizierung somit nur wenig beitragen. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser begleitende öffentliche Diskurs und die Haltung der ehemaligen NationalsozialistInnen sich in einer Art Wechselwirkung gegenseitig beeinflussten und prägten. Ab 1947 dominierten in politischen Debatten die Darstellungen eines vermeintlich ungerechten Leidens der Betroffenen an der Entnazifizierungsgesetzgebung.5 Sicher scheint, dass das durch die Diskreditierung der Entnazifizierung entstandene Angebot der politischen Eliten an die „Ehemaligen“, sich als Opfer der Maßnahmen fühlen zu dürfen, angenommen wurde. Der Fokus liegt im Folgenden weniger auf den Effekten und Rückwirkungen dieses Diskurses auf vormalige Führungskader, sondern mehr auf den eher „durchschnittlichen“ MitläuferInnen, OpportunistInnen und „einfachen Parteimitgliedern“ und deren Reaktionen auf die Entnazifizierung. Ziel war weder, Kontinuitäten im Milieu der zu Recht unter Anführungszeichen stehenden „Ehemaligen“, also der tatsächlich weiterhin ideologisch überzeugten Personen,6 noch die Schulddiskurse der Hauptkriegsverbrecher zu beleuchten,7 sondern den Umgang weniger exponierter Personen mit den Entnazifizierungsmaßnahmen. Der Beitrag stellt Ergebnisse eines Projekts zur Untersuchung der diskursiven Entwicklung der Selbstdarstellung ehemaliger NationalsozialistInnen vor, das sich vorrangig auf informelle Briefe und Eingaben an die österreichische Bundesregierung, sowie auf Aussagen in Volksgerichtsverfahren stützt. Die Analyse orientiert sich an der diskurshistorischen Methode nach Ruth Wodak und an der Studie von Heidrun Kämper über den Schulddiskurs der

4 Vgl. Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2001) 1, 19–34; Siegfried Göllner, Die politischen Diskurse zu „Entnazifizierung“, „Causa Waldheim“ und „EU-Sanktionen“. Opfernarrative und Geschichtsbilder in Nationalratsdebatten (Studien zur Zeitgeschichte 72), Hamburg 2009. 5 Göllner, Diskurse, 202–213; Siegfried Göllner, „…die erbarmungslose Maschinerie…“. Die Diskreditierung der Entnazifizierungsgesetzgebung im Rahmen der Integration ehemaliger NationalsozialistInnen in das österreichische Opferkollektiv, in: Zeitgeschichte 36 (2009) 5, 324–339. 6 Vgl. Reiter, Die Ehemaligen; Margit Reiter, Inklusion und Exklusion, Zur politischen Formierung ehemaliger NationalsozialistInnen im Verband der Unabhängigen (VdU) und in der frühen FPÖ, in: Zeitgeschichte 44 (2017) 3, 143–159. 7 Vgl. Heidrun Kämper, Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des sprachlichen Umbruchs nach 1945 (Studia Lingustica Germanica 78), Berlin/New York 2005; Heidrun Kämper, Opfer – Täter – Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945–1955, Berlin/New York 2007.

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Nachkriegsjahre,8 wobei durch eine quantifizierende Inhaltsanalyse eine Periodisierung hegemonialer Argumentationsmuster in unterschiedlichen Phasen des Untersuchungszeitraumes abgeleitet werden konnte, um einen Vergleich mit der Entwicklung des politischen Diskurses zur Entnazifizierung zu ermöglichen. Obwohl der Untersuchungskorpus keine Repräsentativität für die sehr heterogene Gruppe der „Ehemaligen“ für sich beanspruchen kann, lassen sich auf diese Weise Rückschlüsse auf generelle Tendenzen ihrer Argumentation ableiten. Insbesondere sollte erfasst werden, wie sich die „Universalisierung“9 der Opferthese im öffentlichen Diskurs in den Selbstzeugnissen der „Ehemaligen“ spiegelte. Damit sollen die Funktionalisierungen der universalisierten Opferthese mit einer Tiefenschärfe aufgezeigt werden, die den Blick auf diese Grundlegungen der politisch-gesellschaftlichen Kultur der Zweiten Republik auf individueller Ebene abseits der Eliten freigibt. Die Untersuchung der Diskurssphäre der Volksgerichtsverfahren zeigt neben der Beständigkeit von NS-Moralvorstellungen, wie etwa der Orientierung am Begriff der „Volksgemeinschaft“, auch die Praxis auf, aktuelle politische Debatten zur Entnazifizierung und die sich wandelnde Spruchpraxis der Volksgerichte im eigenen Sinne zu instrumentalisieren. Zudem konnten auch die jeweiligen Selbstrechtfertigungen in konkreten Tatzusammenhängen sowie die Bewertung dieser durch die ermittelnden Behörden beleuchtet werden.

I.

Periodisierung des „Ehemaligendiskurses“

Als Primärquelle zur Periodisierung des „Ehemaligendiskurses“ dienten informelle Briefe an die österreichische Bundesregierung bzw. an den Bundespräsidenten.10 Diese Quelle erschien deshalb besonders geeignet zur Nachzeichnung 8 Stefan Titscher/Ruth Wodak/Michael Meyer/Eva Vetter (Hg.), Methoden der Textanalyse. Leitfaden und Überblick, Wiesbaden 1998; Ruth Wodak/Peter Nowak/Johanna Pelikan/ Helmuth Gruber/Rudolf de Cillia/Richard Mitten, „Wir sind alle unschuldige Täter!“ Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt/Main 1990; Ruth Wodak/ Rudolf de Cillia/Martin Reisigl/Karin Liebhart/Klaus Hofstötter/Maria Kargl, Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/Main 1998; Kämper, Schulddiskurs; Kämper, Opfer. 9 Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/ Weimar 2005, 316. 10 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), Bestand 40-N; Vgl. den Hinweis auf den Bestand bei Hiroko Mizuno, „Die Vergangenheit ist vergessen.“ „Vergangenheitsbewältigung“ in Österreich. Die österreichische Amnestiepolitik und die Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten 1945–1957, phil. Diss., Universität Graz 1999, 156. Gesichtet wurden sämtliche 39 Kartons der Jahre 1945–1957 des Bestandes, in dem interministerielle Korrespondenz, Statistiken zur Entnazifizierung, Berichte an den Alliierten Rat, Gesetzesentwürfe etc. enthalten sind. 259 (213 von Männern, 28 von Frauen

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der Diskursentwicklung, weil in diesen Schriftstücken im Unterschied zu ähnlichen Eingaben auf regionaler Ebene nicht die Aktivierung gesellschaftlicher Netzwerke zum persönlichen Vorteil im Mittelpunkt stand, sondern sie als Versuch der Etablierung eines Diskurses mit den politischen Entscheidungsträgern um die Ziele und Durchführung der Entnazifizierungsmaßnahmen gedeutet werden können.11 Während bei Schriftstücken, die im Zuge von Registrierungsverfahren für Ansuchen um Entregistrierung oder für Gnadenanträge verfasst wurden, eine beinahe standardisierte Reihe von Beteuerungen aufzustellen war, denen im Wesentlichen zu entnehmen sein musste, dass die Betreffenden von ihrer Parteimitgliedschaft nicht profitiert und niemandem geschadet hätten, zeichnen sich die im untersuchten Bestand aufgefundenen informellen Schreiben durch andere Qualitäten aus. Die Briefe geben einen großteils ungefilterten Einblick in die Rechtfertigungsstrategien und das Selbstverständnis der VerfasserInnen und sind in vielen Fällen – nicht nur in den anonymen – weitgehend frei von formellen Zwängen der positiven Selbstdarstellung, wie sie bei Gnadenanträgen und in Gerichtsverhandlungen bestehen. Die Eingaben zeichnen ein Bild eines teilweise unreflektiert zur Schau gestellten politischen Opportunismus, sowie in späteren Jahren den forschen Anspruch auf „Wiedergutmachung“ aller durch Entnazifizierungsmaßnahmen erlittenen Nachteile. Durch die quantitativ nachweisbare Verschiebung der Argumentationsschwerpunkte werden Parallelen zum politischen Diskurs sichtbar. So ist etwa der Rückgang von Reuebekenntnissen und von Zustimmung zu den Entnazifizierungsmaßnahmen in jenem Zeitraum, in dem der rhetorische Antifaschismus im politischen Diskurs seine hegemoniale Stellung verlor, augenfällig. Zwar können die AbsenderInnen selbstredend nicht als repräsentativ für die heterogene Gruppe der „Ehemaligen“ gelten, handelt es sich doch um ein spezielles Klientel, das auf dem Weg informeller schriftlicher Eingaben abseits des NS-Registrierungsvorganges Kontakt mit der Bundesregierung aufzunehmen versuchte. Dennoch erscheint es gerechtfertigt, aus den quantitativ erfassten Argumentationsschwerpunkten – also nicht aus beliebig herausgehobenen Einzelbeispielen – allgemeine Tendenzen abzuleiten.

verfasst, bei 18 war dies nicht zur erheben) informelle Briefe kamen für die Bearbeitung in Frage. 11 Das unterscheidet diesen Bestand von den Schreiben, die etwa bei der Aufnahme in politische Verbände und Parteien entstanden sind. Vgl. Maria Mesner (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien 2005; Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten. Herausgegeben vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA), Wien 2005.

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Die Argumentation der „Ehemaligen“ in informellen Eingaben und Briefen an die Bundesregierung konnte für die Studie in 60, am Quellenmaterial entwickelten Kategorien erfasst werden, die sechs Themenbereichen zugeordnet werden konnten: (1) Rechtfertigung der Mitgliedschaft; (2) Persönliche Rolle im Nationalsozialismus; (3) Beurteilung der Entnazifizierung in persönlicher und genereller Hinsicht; (4) Vorschläge zur Gesetzesänderung; (5) Österreich-Bekenntnisse und Abgrenzung vom Nationalsozialismus, sowie (6) Geschichtsbilder. Aus der Quantifizierung der Kategorien entlang einer Zeitachse konnten im Untersuchungskorpus für den Diskurs der „Ehemaligen“ drei Phasen abgeleitet werden, die jeweils von bestimmten Leitargumenten dominiert wurden. (1) Die Phase der vorgeschobenen Reue 1945–1946, (2) die Phase des Klagens über ungerechte Behandlung 1946/47–1948/49, sowie (3) die Phase des selbstbewussten Forderns 1948/49–1957. Diese drei identifizierten Diskursphasen sind nicht klar von einander abzugrenzen, einige Thematiken und Einschätzungen – insbesondere jene, die Entnazifizierung sei „ungerecht“ – blieben über den gesamten Untersuchungszeitraum virulent. Im Folgenden seien die Grundtendenzen der drei identifizierten Diskursphasen vorgestellt.

1.1

Phase der vorgeschobenen Reue

In der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/46) fanden sich in den Eingaben der „Ehemaligen“ Reuebekenntnisse und zustimmende Äußerungen zur Notwendigkeit der Entnazifizierungsmaßnahmen. Die im Untersuchungskorpus enthaltenen Schreiben, in denen der Entnazifizierung eine grundsätzliche Berechtigung zugesprochen wurde, entfallen fast ausschließlich auf die Jahre bis 1947. Ihr nahezu völliges Fehlen danach verdeutlicht, dass es den Verfassern offenbar nicht mehr notwendig erschien, Verständnis für die Maßnahmen auszudrücken. Es liegt nahe anzunehmen, dass diese Entwicklung nicht zufällig zeitgleich mit der Ablösung des rhetorischen Antifaschismus im politischen Diskurs erfolgte.12

12 Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in: Christian Gerbel/Manfred Lechner/Dagmar C. G. Lorenz/Oliver Marchart/Vrääth Öhner/Ines Steiner/Andrea Strutz/Heidemarie Uhl (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik (Reihe Kultur. Wissenschaften 9), Wien 2005, 50–85, hier 54–55; Dieter Stiefel, Forschungen zur Entnazifizierung in Österreich: Leistungen, Defizite, Perspektiven, in: Schuster/Weber, Entnazifizierung, 43–57, 56; Vgl. Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 421; Göllner, Maschinerie.

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Das 1945/46 gezeigte Verständnis für die Entnazifizierung fand sich auch bei prominenten Vertretern des Dritten Lagers, etwa in Leitartikeln des späteren VdU-Mitgründers Viktor Reimann in den „Salzburger Nachrichten“.13 Nach der Ablehnung des Dreiparteienvorschlages zum NS-Gesetz durch den Alliierten Rat14 vollzog er einen Schwenk in seiner Argumentation, bewertete die Entnazifizierung nunmehr als ungerecht und als Gefahr für die Demokratie.15 VdUGründer Herbert Kraus sah 1947 in einem Beitrag für die Zeitschrift „Berichte und Informationen“, für deren Herausgabe als „Mitteilungen des österreichischen Forschungsinstitutes für Wirtschaft und Politik“ er im Frühjahr 1946 die Genehmigung (Permit) erhalten hatte,16 mit dem NS-Gesetz „die Grundprinzipien der Demokratie verraten“, es würde durch die rückwirkenden Bestimmungen „den primitivsten Rechtsgrundsätzen widersprechen“ und sei unmenschlich.17 Auch patriotische Bekenntnisse zu Österreich und die explizite Distanzierung vom Nationalsozialismus sind in Briefen aus dieser ersten Phase konzentriert. Die Behauptung, von den Ideen des Nationalsozialismus „geheilt zu sein“ ist ebenfalls vorrangig in den Jahren 1945–47 zu finden und korrespondiert mit der politischen Zielsetzung dieser Jahre, den NS-Geist „auszutreiben“.18

1.2

Phase des Klagens

Im politischen Diskurs waren die Jahre 1947–49 geprägt von Darstellungen eines „ungerechten Leidens“ der von den Entnazifizierungsmaßnahmen betroffenen Personen. Auch medial wurde überwiegend ein Kurs des Verständnisses gegenüber den „Ehemaligen“ und eine Abkehr von Bestrafungen vertreten.19 So 13 Die Enttäuschten, Salzburger Nachrichten, 3. 1. 1946, 1; Bekenntnis zur Humanität, Salzburger Nachrichten, 14. 1. 1946, 1. Vgl. Siegfried Göllner, Zwischen „berührender Versöhnlichkeit“ und „Nazi-Propaganda“ – Journalismus im Nachkriegs-Salzburg, in: Alexander Pinwinkler/Thomas Weidenholzer (Hg.), Schweigen und erinnern. Das Problem Nationalsozialismus nach 1945 (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus 7; Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 45), Salzburg 2016, 266–311. Zu Reimann Vgl. Reiter, Die Ehemaligen, 86–90. 14 Vgl. Stiefel, Entnazifizierung, 101–111. 15 Das Nazigesetz, Salzburger Nachrichten, 18. 12. 1946, 1. Vgl. Göllner, Diskurse, 110–114. 16 Oliver Rathkolb, Politische Propaganda der amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 bis 1950. Ein Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges in der Presse-, Kultur- und Rundfunkpolitik, phil. Diss., Universität Wien 1981, 86. Zu Kraus vgl. Reiter, Die Ehemaligen, 77–85. 17 Das Nationalsozialistengesetz, Berichte und Informationen, 21. 2. 1947, 1–4, 2. 18 Göllner, Diskurse, 203. 19 Vgl. Herbert Dachs, Die Entnazifizierung in der Salzburger Presse, in: Erika Weinzierl/Kurt Stadler (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts

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argumentierte der Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“ Gustav Canaval in zwei Leitartikeln zum NS-Gesetz 1947, dass der Nationalsozialismus nur durch Erziehung und Psychologie, nicht aber durch Strafen überwunden werden könne.20 Viktor Reimann plädierte in einer Rede in der Salzburger Universitätsaula dafür, die bloße Parteimitgliedschaft mit keinen Sanktionen mehr zu belegen.21 Bei den „Ehemaligen“ selbst war das Gefühl der ungerechten Behandlung bis Anfang 1946 noch von Reuebekenntnissen überlagert, was sich dann grundlegend änderte. In den Zuschriften an die Bundesregierung wurden u. a. die für das NS-Gesetz vorgesehene Grenzziehung zwischen „minderbelasteten“ und „belasteten“ NationalsozialistInnen und die Sühneregelungen problematisiert. In mehr als zwei Drittel aller untersuchten Eingaben beklagten die „Ehemaligen“ eine „ungerechte Behandlung“ durch die Entnazifizierung. Im zeitlichen Verlauf zeigt sich eine deutliche Spitze im Jahr 1946, in dem dies in über 90 % der Eingaben der Fall war, im Jahr 1945 hingegen nur in knapp der Hälfte der Schreiben – die Maßnahmen also eher hingenommen wurden. 1947/48 pendelte sich die Häufigkeit wieder bei rund 50 % ein. Ein ähnlicher Verlauf ist bei der Behauptung, die Entnazifizierungsmaßnahmen würden Unschuldige treffen zu beobachten. Die Forderung nach einer „individuellen Behandlung“ der vormaligen NationalsozialistInnen, also nach der Beweiswürdigung der jeweiligen Beweggründe für die Parteimitgliedschaft und tatsächlicher Handlungen abseits der Unterfertigung eines NSDAP-Erfassungsantrages bzw. Personalfragebogens, spielte im Wesentlichen nur bis 1947 eine Rolle. Die Minderbelastetenamnestie dürfte die diesbezüglichen Forderungen der Betroffenen großteils erfüllt haben.

1.3

Phase des Forderns

Für die Jahre ab 1949 sind deutlich weniger Zuschriften „Ehemaliger“ an die Bundesregierung im untersuchten Bestand erhalten. Unter der Annahme, dass ein ebenso hoher Prozentsatz der insgesamt gemachten Eingaben aufbewahrt und daher auch im Bestand des BKA überliefert wurde wie in den vorangegangenen Jahren, weißt dies darauf hin, dass das Thema nach der Minderbelastetenamnestie, die die Anzahl der Betroffenen um 90 % reduziert hatte,22 entfür Geschichte der Gesellschaftswissenschaften Salzburg 1), Wien 1977, 227–247. Vgl. Göllner, Versöhnlichkeit, 274–277. 20 Nazigeist, Salzburger Nachrichten, 6. 2. 1947, 1–2; Entnazifizierung oder Volkserziehung?, Salzburger Nachrichten, 22. 2. 1947, 1–2. 21 Überzeugung, Salzburger Nachrichten, 4. 6. 1947, 2. Vgl. Göllner, Versöhnlichkeit, 278. 22 Vgl. Stiefel, Entnazifizierung, 115, 308.

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sprechend weniger virulent war. Auch der Einzug des VdU in den Nationalrat könnte sich auf den Rückgang informeller Zuschriften ausgewirkt haben. Nach der Minderbelastetenamnestie 1948 und der Nationalratswahl 1949 häuften sich – parallel zum politischen Diskurs – Forderungen nach weiteren Amnestieschritten. Dabei spielten Zuschriften von Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft eine tragende Rolle. Deren charakteristisches Argument, durch ihre Gefangenschaft bereits eine Sühne abgeleistet zu haben, findet sich auch in Volksgerichtsprozessen sowohl in der Selbstdarstellung der Angeklagten bzw. Beschuldigten, als auch als Milderungsgrund in Urteilsbegründungen. Im Nationalrat wurden im Dezember 1951 mit der so genannten Spätheimkehreramnestie Ausnahmen von den Registrierungsbestimmungen für Heimkehrer beschlossen, die nach dem 30. April 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurden.23 Die begleitende Debatte war ein Kristallisationspunkt der politischen Diskreditierung der Entnazifizierungsmaßnahmen, die vom späteren Bundeskanzler Alfons Gorbach (ÖVP) bei dieser Gelegenheit als „erbarmungslose Maschinerie“ bezeichnet wurden.24 Bereits 1946 hatte Klara P. in ihrem Schreiben an Bundeskanzler Figl gefordert, dass „diese schreckliche Zeit […] doch nicht noch solche schlechte Folgen für unsere Heimkehrer haben“ sollte, die „für uns 6 Jahre schwer gelitten haben.“25 Damals hatte das Bundeskanzleramt in einem Aktenvermerk noch festgehalten, dass Frontdienst und Gefangenschaft kein Grund für eine Sonderbehandlung sein könnten, da schließlich nicht jeder Heimkehrer automatisch als Bekehrter gelten könne.26 In den Zuschriften der 1950er-Jahre wurden zunehmend Forderungen nach „Wiedergutmachung“ erlittener Nachteile laut, sie finden sich im Untersuchungskorpus ab 1953 in über der Hälfte aller informellen Schreiben. Dies betraf etwa die Anrechnung von Dienstzeiten für Pensionsansprüche oder Gehaltsvorrückungen, sowie die Rückgabe beschlagnahmter Möbel, Wohnungen und Kleingärten. Ähnlich verhielt es sich mit der in dieser Phase verstärkt auftretenden Forderung nach einer „staatsbürgerlichen Gleichstellung“ der (schwer belasteten) ehemaligen NationalsozialistInnen. Zur Untermauerung dieses Anspruchsdenkens rückten legistische Bedenken gegen die Entnazifizierungsgesetzgebung in den Vordergrund. Die ab 1950 ebenfalls in der Hälfte der Eingaben getroffene Einschätzung, die Entnazifizierung widerspreche rechtsstaatlichen 23 Der Alliierte Rat verweigerte dem Verfassungsgesetz wegen eines Einspruchs des US-Vertreters die Zustimmung. Vgl. Stiefel, Entnazifizierung, 313. 24 Alfons Gorbach (ÖVP), Stenographische Protokolle des Nationalrates (STPNRÖ), VI. Gesetzgebungsperiode (GP), 77. Sitzung, 17. 12. 1951, 3014. Vgl. Matthias Falter, Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Die „Ehemaligen“ und die Österreichische Volkspartei, in: Zeitgeschichte 44 (2017) 3, 160–174. 25 Klara P. an Bundeskanzler Figl, 17. 4. 1946, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 44.953/1946. 26 Aktenvermerk, undat. [1946], ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 44.953/1946.

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Prinzipien, stellte vor allem auf die rückwirkende Einführung von Tatbeständen ab. Auf dieser Annahme fußten auch Behauptungen, die Entnazifizierungsmaßnahmen würden die Menschenrechte verletzen. Da eine rückwirkende Bestrafung den Menschenrechten bzw. der Rechtsstaatlichkeit widersprechen würde, erschienen im Umkehrschluss im „Ehemaligendiskurs“ die Rechtsstandards des Nationalsozialismus als verbindlich. In der Selbstdarstellung der „Ehemaligen“ erschien somit nicht 1938 als Jahr des Bruches der Rechtsstaatlichkeit, sondern 1945. Die NS-Herrschaft wurde damit zu einem Regime wie jedes andere in einer Zeit laufender Regimewechsel. Ein Bild, welches den im politischen Diskurs entworfenen Narrativen der „Verfolgungsautomatik“27 und der Hassspirale,28 die sich mit jedem Regierungswechsel fortsetze, entsprach. Die Rechtsstaatlichkeit der Entnazifizierung wurde vor allem vom VdU bzw. von der FPÖ angezweifelt.29 Deren Vertreter gingen dabei wie der Abgeordnete Helfried Pfeifer, ein 1945 entlassener Universitätsprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht,30 oftmals bis zur Diskreditierung von Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz (KVG) als „Rachegesetz“.31 Eine Bewertung, die sich in den Eingaben schon zu einem früheren Zeitpunkt fand.32

II.

Entlastungsmuster

Die Selbstzeugnisse der „Ehemaligen“ wurden von Rechtfertigungsnarrativen und Selbstviktimisierungen dominiert. Typische Entlastungsmuster bildeten die Opfer-Täter-Umkehr, die Abschiebung von Schuld und Verantwortung (v. a. durch die Konstruktion von Zwangssituationen mit vorgeblich eingeschränkten Handlungsspielräumen), die Berufung auf „Verführung“, sowie auf einen persönlichen „Idealismus“, der missbraucht worden sei. Hinzu traten rechtspositivistische Standpunkte und die Aufrechnung von subjektiv erlittenem „Unrecht“. Die Relativierung der Aussagekraft der Parteimitgliedschaft in der NSDAP war fester Bestandteil fast aller Zuschriften.

27 28 29 30

Alfons Gorbach (ÖVP), STPNRÖ, VI. GP, 77., 17. 12. 1951, 3015. Heinrich Zechmann (FPÖ), STPNRÖ, VIII. GP, 28., 14. 3. 1957, 1272–1273. Göllner, Diskurse, 83–86, 172–202. Pfeifer war von 1949–1959 Abgeordneter von VdU bzw. FPÖ. Als Verwaltungsjurist hat Pfeifer 1941 unter dem Titel „Die Ostmark. Eingliederung und Neugestaltung“ eine Sammlung von Rechtstexten herausgegeben. Vgl. Reiter, Die Ehemaligen, 136–140. 31 Helfried Pfeifer (FPÖ), STPNRÖ, VIII. GP., 28., 14. 3. 1957, 1253. 32 Dr. K. an Bundespräsident Renner, 30. 3. 1946, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 44.156/1946.

396 2.1

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Relativierung der Mitgliedschaft

Typische Attribute der Relativierung der eigenen Beziehung zum Nationalsozialismus waren die Versicherung, nicht „aktiv“ nationalsozialistisch tätig geworden zu sein, niemandem geschadet und nicht von der Mitgliedschaft profitiert zu haben. Gemeinsam ist diesen Relativierungen die Behauptung einer persönlichen Passivität. Als einziger aktiver Bezug zur NSDAP blieb in diesen Selbstdarstellungen allenfalls die Beantragung der Parteimitgliedschaft, so nicht selbst diese auf dritte Personen abgeschoben wurde. Die Bandbreite dessen, was „Ehemalige“ als „nicht aktive“ Betätigung verstanden, lässt sich daran ermessen, dass beispielsweise Journalisten, die antisemitische Hetzartikel verfasst hatten, in ihren Ansuchen um Streichung aus den Registrierungslisten keine Bedenken hatten zu behaupten, sie hätten sich nicht propagandistisch betätigt.33 Die Relativierungen waren häufig in sich widersprüchlich. Beispielsweise wurde zwar das berufliche Fortkommen als Grund für die Mitgliedschaft angegeben, Vorteile aus der Mitgliedschaft jedoch bestritten, wie etwa im Fall des Blumenhändlers Dominik A. in einem Brief an Bundeskanzler Figl im Jänner 1948: „Aus Berufsinteresse wurde ich zahlendes Mitglied der NSDAP, da dieselbe bei mir Kunde war. Ich habe mir durch die Parteizugehörigkeit keinerlei Vorteile verschafft, keinem Menschen geschadet und nichts arisiert. […] Auf Grund meiner langjährigen Parteizugehörigkeit habe ich das ‚goldene Ehrenzeichen‘ erhalten. Ich habe mich jedoch in keiner Weise parteipolitisch betätigt, hatte keine Funktion, ja nicht einmal meine Umgebung propagandistisch oder politisch beeinflusst.“34

Laut Gauakt war A. bereits seit 1927 Parteimitglied und stellte sein Geschäft in der „Verbotszeit“ als „Nachrichten-Zentrale“ und „Depot für illegale Druckschriften“ zur Verfügung. Sein Ortsgruppenleiter beschrieb ihn als „eines der ältesten und bewährtesten Mitglieder der Ortsgruppe“.35 Die Darstellung, von der Mitgliedschaft nicht profitiert zu haben zeigt möglicherweise eine Fortschreibung der von Frank Bajohr konstatierten Mentalität der „NSDAP als Partei des organisierten Selbstmitleids“.36 Die von „Alten Kämpfern“ bei der Wiedergutmachungsstelle der NSDAP gemachten Eingaben zu Beginn der NS-Herrschaft belegen übersteigerte „Erwartungen vieler Nationalsozialisten auf Begünstigung 33 Vgl. Siegfried Göllner, „Künder des Willens Adolf Hitlers“ – Nationalsozialistisches Pressewesen. Institutionen und Akteure, in: Sabine Veits-Falk/Ernst Hanisch (Hg.), Herrschaft und Kultur. Instrumentalisierung – Anpassung – Resistenz (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus 4), Salzburg 2013, 142–197, 170. 34 Dominik A. an Bundeskanzler Figl, 14. 1. 1948, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 70.675/1948. 35 Dominik A., Politische Beurteilung, 10. 5. 1940, ÖStA, AdR, Zivilakten NS-Zeit, Gauakt 151.636. 36 Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt/Main 2001, 13.

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und Patronage, […] materielle Sicherung und sozialen Aufstieg“.37 Bajohrs Befund für die deutschen Alt-Parteigenossen von 1933 ist, wie Hans Schafranek in seiner Studie über die Österreichische Legion aufzeigte,38 auf die österreichischen von 1938 übertragbar, was auch die in der Literatur oftmals konzedierte baldige Ernüchterung der „Illegalen“ erklärt, denen der ersehnte berufliche Aufstieg verwehrt blieb, weil ihnen „Parteigenossen“ aus dem „Altreich“ vorgezogen worden waren.39

2.2

„Idealismus“

Im Unterschied zur Rechtfertigung der NSDAP-Mitgliedschaft durch Berufung auf externe Faktoren dokumentiert die Aussage, sich aus „idealistischen“ Gründen betätigt zu haben, eine eigenständige, bewusste Entscheidung. In der Argumentation der „Ehemaligen“ wurde die damit einhergehende Verantwortung oftmals durch die Anmerkung abgeschwächt, dieser „Idealismus“ sei „enttäuscht“ worden. Ähnlich wie im Rechtfertigungsmuster „Verführung“ kommen dieser „Enttäuschung“ und „Verirrung“ in der Logik der „Ehemaligen“ exkulpierende Funktionen zu, sie sollen von Verantwortung befreien und quasi bereits eine Sühne für sich darstellen. Diese Muster finden sich auch häufig bei höherrangigen NationalsozialistInnen.40 Beispielhaft zeigen sie sich im Sample in den Ausführungen des pensionierten Beamten Matthäus O. in einem Schreiben an das Innenministerium: „Jedenfalls bin ich heute von meinem anfänglichen Idealismus gründlich geheilt, durch seinen völligen Zusammenbruch seelisch zermürbt und so für meine Leichtgläubigkeit und Vertrauensseeligkeit und für die bloss untätige Zugehörigkeit zu einer politischen Partei grausam bestraft worden.“41

37 Ebd., 34. 38 Hans Schafranek, Söldner für den Anschluss. Die Österreichische Legion 1933–1938, Wien 2011, 367–370. 39 Vgl. zu den Illegalen Nationalsozialisten Kurt Bauer, Arbeiterpartei? Zur Sozialstruktur der illegalen NSDAP in Österreich, in: Zeitgeschichte 29 (2002) 5, 259–272; Kurt Bauer, Elementarereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003; Winfried R. Garscha, Nationalsozialisten in Österreich 1933–1938, in: Emmerich Tálos/ Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938 (Politik und Zeitgeschichte 1), Wien 2005, 100–120; Hans Schafranek, Österreichische Nationalsozialisten in der Illegalität 1933–1938. Ein Forschungsbericht, in: Florian Wenninger/ Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuss/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien/Köln/Weimar 2013, 105–137. 40 Vgl. Kämper, Schulddiskurs, 243–247, 251–252; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt/Main 2012, 124–142. 41 Matthäus O. an das BMI, 10. 4. 1946, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 44.708/1946.

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Deutlich wird in diesen Ausführungen neben dem Eingeständnis des Irrtums, der auf „Leichtgläubigkeit“ und damit auf eine Irreführung durch andere zurückgeführt wird, vor allem die Überzeugung, mit ungerechter Härte bestraft worden zu sein: „Ich habe kein Verbrechen, kein Vergehen, keine Übertretung oder sonstige sühnefordernde Handlung begangen, bin deshalb aufs tiefste davon überzeugt, dass ich schuldlos, auch nicht ‚minderbelastet‘ bin, und halte mich deshalb für einen nach wie vor völlig makellosen und daher auch voll berechtigten Staatsbürger. […] Ich bin heute beinahe schon so weit, ein baldiges Lebensende für die beste Lösung für uns zu halten; wir wären von allen körperlichen und seelischen Qualen erlöst und der Staat von verfemten, nicht mehr schaffenden alten Leuten und den Kosten für ihren Unterhalt befreit.“42

Hermine S., die 1943 aus Altersgründen vom BDM in die Partei „überstellt“ worden war, legte ihrem Brief an die Bundesregierung ein Memorandum bei, in dem sie auf 32 Seiten ihren Werdegang schilderte und um Verständnis für ihren irregeleiteten jugendlichen „Idealismus“ – den sie als „Liebe“ interpretierte – warb: „Wer soll denn noch gläubig sein auf der Welt, als die Jugend! Wer kann denn noch alles als wahr aufnehmen, was man ihnen sagt, als sie, die selber noch reinen Herzens sind! Wer läßt sich am ehesten für eine Sache begeistern, die man ihm als Ideal hinstellt? […] Wer verurteilt das Mädchen, das in seiner Liebe betrogen wurde, weil es in seiner eigenen Sauberkeit nie daran dachte, daß der Geliebte mit ihm nur spielen könne? […] Wir jungen, ehemaligen Nationalsozialisten aber werden verstoßen, weil wir eine große Liebe gehabt haben: Deutschland und Adolf Hitler!“43

Die Jugend habe an „das Gute“ geglaubt, gibt S. ihre quasi-religiöse Sichtweise auf den Nationalsozialismus wieder. Ihre in einer Gleichsetzung von überzeugten Nationalsozialisten und Widerstandskämpfern gipfelnden Ausführungen zeigen, dass sie in der Beurteilung dieses „Glaubens“, der „Hingabe“ und „Opferbereitschaft“ weitgehend in nationalsozialistischen Denkmustern verhaftet geblieben war: „Mag unser Glaube sich als Irrglaube erwiesen haben – er kam aus reinem Herzen. Viele unter uns – besonders unter den männlichen Kameraden – hat er so sehr veredelt, daß sie für dieses Zeichen ihr eigenes, junges Leben freiwillig als reine Opferflamme verlodern ließen. Was immer nun unser damaliges Symbol verkörpert haben mag, wir Jugendliche glaubten an das Gute in ihm. Deshalb sind wir frei von Schuld! Wenn Ihr nun kommt und unsere Fahne herunterreißt, sie in den Kot tretet und uns dann damit ins Gesicht schlägt und verhönt [sic!], so trefft Ihr uns damit zutiefst in uns heiligen 42 Ebd. 43 Hermine S. an Bundesregierung, 20. 5. 1947, Memorandum, 10–11, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 47.006/1947.

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Empfindungen und unserem reinen Sinne. Wir haben genau so ehrlich an unsere Sache geglaubt und uns dafür eingesetzt, wie der österreichische Freiheitskämpfer für die seine.“44

2.3

Selbstviktimisierung

Die in den vorangegangenen Beispielen bereits deutlich gewordene Überzeugung der Betroffenen, einer ungerechten Behandlung ausgeliefert zu sein, war Kernbestandteil ihrer Selbstviktimisierung. In der Darstellung der Entnazifizierungsmaßnahmen als „Unrechtsgesetzgebung“ spielten die Gleichsetzung bzw. der Vergleich mit NS-Methoden eine wichtige Rolle, wie in einem anonymen Schreiben an Bundespräsident Renner vom Jänner 1946: „Die Beschlagnahme der Naziwohnungen, die Beschlagnahme ganzer Wohnungseinrichtungen, das Verschleppen vieler Oesterreicher nach Russland, die Inhaftierung tausender Menschen, weil sie Pg. waren, die Vernichtung tausender Existenzen, alles wird damit begründet, dass es die Nazi gerade so gemacht haben! Unter der Nazizeit haben wir alle diese Maßnahmen als Terror, Verbrechen, Raub usw. bezeichnet. Wenn nun jetzt dasselbe geschieht? Was ist es jetzt? Jetzt nennt man es Sühne!! Wofür? Auch im Naziregime nannte man es Sühne, bei den Personen, die sich gegen den damaligen Staat gestellt haben. Es scheint aber noch kein Fall bekannt, dass sich ein ehemaliger Nationalsozialist gegen den jetztigen [sic!] Staat gestellt hat. Wofür also Sühne? Wegen der Parteimitgliedschaft? Ist das nicht in der Geschichte der Demokratie ein einzig dastehender Fall? Ist es ein strafwürdiges Vergehen einer erlaubten bestehenden Partei anzugehören? Soweit ist nicht einmal der vergangene Staat gegangen, dem man doch wahrlich mehr vorwirft, als alle geriebenen [sic!] Juden in ihrem abgrundtiefen hass [sic!] erfinden können.“45

Überraschend an diesem Beispiel ist die Erinnerung, „wir alle“ hätten diverse Maßnahmen in der NS-Zeit als „Terror, Verbrechen, Raub“ bezeichnet. Im abschließenden, einer Opfer-Täter-Umkehrung entsprechenden und von antisemitischen Stereotypen getragenen Vorwurf an die „Juden“, aus Hass Vorwürfe gegen den NS-Staat zu „erfinden“, kommt die Einschätzung der Entnazifizierung als „Rache“ zum Tragen. Diese Diskreditierung von Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz als „Rachegesetz“ und „Vergeltungsgesetz“46 erfuhr im politischen Diskurs eine Untermauerung durch die Behauptung, die Entnazifizierung widerspreche rechtsstaatlichen Prinzipien.47 Diese Einstellung lässt sich in den Eingaben an die Bundesregierung bereits sehr früh nachweisen, oftmals auch deutlich mit 44 45 46 47

Ebd., 30. Anonym an Bundespräsident Renner, Jänner 1946, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 41.602/1946. Helfried Pfeifer (FPÖ), STPNRÖ, VIII. GP, 28., 14. 3. 1957, 1253. Göllner, Diskurse, 83–86, 172–202.

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dem Topos der „Rachegesetzgebung“ verbunden, wie beispielhaft im Schreiben eines Herrn K. aus Wien vom März 1946 an Bundespräsident Renner: „Täglich reden Ihre Minister von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit, aber keiner denkt daran, daß sie selbst die schreiendste Ungerechtigkeit begehen, indem sie für die Nazi ein Rachegesetz mit Rückwirkung gemacht haben, und etwas für ein Verbrechen erklären, was zur Zeit der Ausübung vollkommen erlaubt war. Diese Rückwirkung ist eine Kulturschande für Österreich, so etwas haben nicht einmal die Nazibanden gemacht. […] Diese ganze Naziverfolgung ist nichts anderes, als Parteirache […] es kommt einer Todesstrafe gleich, wenn jemandem seine Altersversorgung weggenommen wird. Da waren die Nazi ja noch humaner; die haben die Leute doch wenigstens schnell und schmerzlos umgebracht, und nicht durch langsames Verhungern.“48

Teil der Diskreditierung ist in diesem Beispiel die Behauptung, die Entnazifizierung stelle einen Kulturbruch dar, der die Verbrechen des Nationalsozialismus in seiner Unmenschlichkeit noch übertreffe. Aus dieser Sichtweise war es nur folgerichtig, dass „Ehemalige“ in weiterer Folge dazu übergingen, Entschädigungen einzufordern. Ein anonymes Schreiben an den Bundespräsidenten, gezeichnet mit „Komitee ehemaliger Nationalsozialisten“ sah im Oktober 1955 die Zeit für eine „Generalamnestie“ gekommen: „Das Verbotsgesetz 1947 ist ein überaus strenges Gesetz, das einem großen Teil der Bevölkerung arges Unrecht und schwerste Lasten auferlegte. In keinem anderen Staate wurden Nationalsozialisten so arg bestraft, als bei uns. Daß ehemalige Nazi dafür zu büßen haben, daß sie mordeten, in die Luft sprengten, Brand stifteten und denunzierten, fand man noch begreiflich, daß man aber auch Personen, die nur Mitglieder oder Anwärter und gezwungen eine untergeordnete Funktion ausüben mußten, wie Schwerverbrecher behandelt und sie zu Bürgern der tiefsten Klasse stempelt, ist […] ein großes Unrecht. […] Wir appellieren […] Unrecht wieder gutzumachen. Wir versichern, wie wir das schon oft taten, daß wir schon längst erkannt haben, daß der Nationalsozialismus ein Unglück für uns war und einen Irrtum bedeutet, dem wir zum Opfer fielen und den wir ehrlich bedauern. Wir bitten inständigst um Erlassung einer Generalamnestie“.49

Auch in diesem Fall unterblieb nicht der exkulpierende Verweis auf einen „Irrtum“, dem die „Ehemaligen“ zum „Opfer“ gefallen seien. Das „Bedauern“ dieses „Unglücks“ bezog sich daher wohl weniger auf NS-Verbrechen, als auf die eigene Situation. Ein Verständnis für die Erfassung von Parteimitgliedern ist nicht auszumachen, die Durchführungspraxis wurde stark verzerrt, indem behauptet wurde, jene, die „nur Mitglieder“ gewesen seien, wären wie „Schwerverbrecher“ behandelt worden. Diese Opferrolle auf Täterseite begegnet uns auch in den Erinnerungen ehemaliger Nationalsozialisten, die im Camp Marcus W. Orr 48 Dr. K. an Bundespräsident Renner, 30. 3. 1946, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 44.156/1946. 49 „Komitee ehemaliger Nationalsozialisten“ an Bundespräsident Körner, 10. 10. 1955, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 99.149/1955.

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(„Lager Glasenbach“) interniert waren,50 sowie in den in der Nachkriegszeit über das Lager kursierenden Mythen,51 die uns auch in Publikationen begegnen, in denen Glasenbach mitunter in eine Reihe mit dem Konzentrationslager Buchenwald gestellt wurde.52 Die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen waren in den Eingaben v. a. als rachsüchtige Revanchisten und Profiteure (unterfüttert mit antisemitischen Stereotypen in Weiterführung der nationalsozialistischen Propaganda) sowie als Vergleichsbild für relativierende Aufrechnungen präsent. Auch Bundeskanzler Figl wurden Rachegefühle unterstellt, etwa von Karl B., der in einem Brief vom Mai 1946 auch dessen Urteilsfähigkeit anzweifelte: „Durch Ihren langen Aufenthalt im K.Z. sind Sie allerdings mit den damaligen Verhältnissen der Bevölkerung nicht so vertraut und stehen vielleicht dem Volke etwas fremd gegenüber. Auch dürften Ihre persönlichen Rachegefühle gegenüber dem Nationalsozialismus eine Rolle spielen, sonst wären Sie in dieser Angelegenheit nicht so ein gefügiges Werkzeug der Alliierten. Überlegen Sie sich bitte also diese gewichtige Maßnahme genau, damit Sie nicht Ihr politisches Ansehen untergraben und in eine verschwindende Minderheit kommen.“53

In diesem untergriffigen und aggressiv formulierten Brief wird deutlich, wie ungefiltert manche „Ehemalige“ ihre Ansichten der Bundesregierung mitteilten, selbst wenn sie mit vollem Namen zeichneten.

III.

Selbstdarstellung vor den Volksgerichten

Die Erweiterung der untersuchten Diskurssphären um Aussagen in Wiener Volksgerichtsverfahren sollte die Selbstrechtfertigungen in konkreten Tatzusammenhängen beleuchten. Eine der Fragestellungen dieser Teilstudie – und jene, die für diesen Beitrag von Bedeutung ist54 – war, ob sich Elemente der Entwicklung des politischen Diskurses in der Argumentation vor Gericht spiegelten, ob die Selbststilisierung der Beschuldigten als „Opfer“ im Sinne der 50 z. B. bei Joseph Hieß, Glasenbach. Buch einer Gefangenschaft, Wels 1956. Zur Geschichte des Lagers „Glasenbach“ vgl. Oskar Dohle/Peter Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr. „Glasenbach“ als Internierungslager nach 1945, Linz/Salzburg 2009. 51 Vgl. Johannes Hofinger, „…wir, die dabei waren“. Erzählungen von Salzburgerinnen und Salzburgern über ihr Leben in der NS-Zeit (Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus Ergänzungsband 1, Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg 53), Salzburg 2019, 211–220; Vgl. Reiter, Die Ehemaligen, 38–47. 52 Hans Zeilinger, Was uns von der Politik abschreckt, Berichte und Informationen, 4. 3. 1949, 1– 3. 53 Karl B. an Bundeskanzler Figl, 1. 5. 1946, ÖStA, AdR, BKA, 40-N, Zl. 48.073/1946. 54 Zudem wurden in der Studie die für die jeweiligen Anklagepunkte nach dem Verbots- und Kriegsverbrechergesetz typischen Argumentationsmuster herausgearbeitet.

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universalisierten Opferthese auch in den Aussagen vor dem Volksgericht nachvollziehbar sind. Die auf Zufallsstichproben basierende Wahl des 207 Volksgerichtsverfahren umfassenden Untersuchungskorpus sollte eine Konzentration auf „durchschnittliche“ Fälle ermöglichen, also auf Verfahren, die gegen OpportunistInnen und MitläuferInnen unter den ehemaligen NationalsozialistInnen angestrengt wurden55 und bisher nicht im Fokus der zeithistorischen Forschung standen.56 Das untersuchte Sample kann keine Repräsentativität für die Gesamtheit der Wiener Volksgerichtsverfahren für sich beanspruchen. Für das Ziel der Herausarbeitung typischer Argumentationsmerkmale und der Grundzüge der Selbstdarstellung und Rechtfertigung der Beschuldigten besitzt das Sample trotz aller Abstriche jedoch Aussagekraft, da bei der Untersuchung der Rechtfertigungen der Beschuldigten deutlich wurde, dass sich diese auf Grund der formalen Zwänge der Selbstdarstellung vor Gericht in ihren Grundzügen – je nach Tatvorwurf – außerordentlich einheitlich gestalteten.57 Während in den 55 In die Untersuchung flossen 207 am Volksgericht Wien behandelte Fälle ein, die Auswahl basierte auf Stichproben aus allen Jahrgängen. Angestrebt wurde für die Tatbestände der Illegalität, der Denunziation, der „Arisierung“, sowie für die Misshandlungs-Delikte (§§ 3 und 4 KVG) eine für generelle Rückschlüsse auf die Hauptlinien der Verteidigungsstrategien ausreichende Anzahl an Volksgerichtsverfahren zu berücksichtigen. Deshalb wurde nach Erfassung der ersten 150 zufällig gewählten Fälle dazu übergegangen, aus den danach gezogenen Stichproben vorrangig die bis dahin in zu geringem Ausmaß vertretenen Misshandlungs- und „Arisierungsfälle“ (§§ 3, 4 und 6 KVG) in die Untersuchung aufzunehmen. 113 der Verfahren wurden bis 1949 durch Urteil oder Einstellung des Verfahrens abgeschlossen, 94 in den Jahren 1950–55. Die meisten Verfahren vor den österreichischen Volksgerichten waren laut Statistik des Justizministeriums bis 1949 abgeschlossen, 93 % der Verurteilten wurden zwischen 1945 und 1949 angeklagt. Vgl. Karl Marschall, Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich. Eine Dokumentation, hg. vom Bundesministerium für Justiz, 2. Aufl., Wien 1987, 42–43. Diese und weitere Statistiken findet sich auch auf Nachkriegsjustiz.at, URL: http://nachkriegsjustiz.at/ prozesse/volksg/index.php (aufgerufen 9. 12. 2019); Vgl. hierzu auch Brigitte Rigele, Verhaftet. Verurteilt. Davongekommen. Volksgericht Wien 1945–1955 (Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs 80), Wien 2010, 12–13. 56 Stellvertretend für die zahlreichen Forschungsarbeiten zu Aspekten der Nachkriegsjustiz sei verwiesen auf: Claudia Kuretsidis-Haider, Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung in Österreich, in: Schuster/Weber, Entnazifizierung, 563–601; Thomas Albrich/Winfried R. Garscha/Martin F. Polaschek (Hg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich, Innsbruck/Wien/Bozen 2006; Hellmut Butterweck, Verurteilt & Begnadigt. Österreich und seine NS-Straftäter, Wien 2003; Hellmut Butterweck, Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien. Österreichs Ringen um Gerechtigkeit 1945–1955 in der zeitgenössischen Wahrnehmung, Innsbruck/Wien/Bozen 2016. 57 Vgl. Heimo Halbrainer, „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“. Denunziation in der Steiermark 1938–1945 und der Umgang mit den Denunzianten in der Zweiten Republik, Graz 2007, 37. Allgemeine Überlegung zum Wert von Volksgerichtsakten als historische Quelle bei: Winfried R. Garscha/Claudia Kuretsidis-Haider, Die Nachkriegsjustiz als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung. Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich. Überlegungen zum strafprozessualen Entstehungszusammenhang und zu den Verwertungsmöglichkeiten für die historische Forschung, Wien 1995.

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Briefen der „Ehemaligen“ eine mit dem politischen Diskurs vergleichbare zeitliche Entwicklung der Argumentation ablesbar ist, war dies in der Selbstdarstellung in Volksgerichtsverfahren somit nicht möglich. Dennoch ließen sich drei Leitlinien identifizieren, die mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung stehen: (1) Fortwirken partikularer NS-Moralvorstellungen; (2) Anlehnung an den hegemonialen politisch-öffentlichen Diskurs und (3) Instrumentalisierung des politisch-öffentlichen Diskurses und der Schlussstrichmentalität.

3.1

Fortwirken partikularer NS-Moralvorstellungen

Heidrun Kämper hat in ihrer Untersuchung des Schulddiskurses der Hauptkriegsverbrecher ein Fortwirken der NS-Moralvorstellungen in den Aussagen der Beschuldigten nachgewiesen. Ähnliches zeigte sich auch in den untersuchten Aussagen vor dem Volksgericht Wien, etwa in der Rechtfertigung von Taten durch ihren Nutzen für die „Volksgemeinschaft“.58 Dies betraf z. B. Rechtfertigungen für Misshandlungen im Arbeitsumfeld. So wurden in Voruntersuchungen und Prozessen nach § 3 KVG („Quälereien und Misshandlungen“) bzw. §4 KVG („Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde“) angelastete Gewaltanwendungen mit dem Verhalten der Opfer gerechtfertigt. Beispielhaft etwa in der Verhandlung gegen den beim Arbeitsamt Krems für die Vermittlung von „Fremdarbeitern“ für den Einsatz in der Landwirtschaft zuständig gewesenen Josef B.: „Es ist unrichtig, dass ich ausländische Arbeiter mit der Faust geschlagen hätte, ich habe sie nur mit der flachen Hand geohrfeigt, ich habe nur solche Polen geschlagen, die renitent waren und mir persönlich feindselig waren.“59

B. wurde wegen Vergehen nach §4 KVG schuldig gesprochen und zu neun Monaten Kerker verurteilt. Das Gericht folgte jedoch seiner Relativierung und rechnete als mildernden Umstand das „herausfordernde und aggressive Verhalten der Ausländer“ an, durch welches B. sich „zu den Tätlichkeiten hinreissen liess“.60 In einem ähnlich gelagerten Fall, in dem gegen mehrere Angestellte eines Betriebes wegen Misshandlung ausländischer Arbeiter ermittelt wurde, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.61 Die Beschuldigten rechtfertigten ihre 58 Kämper, Schulddiskurs, 255–257; Vgl. Gross, Anständig, 124–142. 59 Einvernahme Josef B. am Landesgericht Wien, 13. 2. 1946, Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 5198/45. 60 Urteil gegen Josef B., 28. 5. 1948, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 5198/45. 61 Einstellungsvermerk der Staatsanwaltschaft, 17. 5. 1951, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 699/50.

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Übergriffe mit der angeblich unzureichenden Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter und entsprechenden Befehlen der Betriebsleitung. Einer der Verdächtigen legte sein Verständnis von Misshandlungen dar, das offenbar von der Staatsanwaltschaft geteilt wurde: „Ich habe ausländische Arbeiter nicht mißhandelt. Es kam ab und zu vor, daß ich einem ausländischen Arbeiter einen Stoß oder einen Schlag über den Kopf gab, wenn er nicht arbeitete oder sich sonst gegen die Disziplin vergangen hatte.“62

Die Rechtfertigung von Misshandlungen mit ihrer vorgeblichen Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Produktion deutet auf ein Fortwirken der NS-Moralvorstellung hin, alles dem Nutzen für die „Volksgemeinschaft“ unterzuordnen.

3.2

Anlehnung an den hegemonialen politisch-öffentlichen Diskurs

Aussagen in Volksgerichtsprozessen waren nicht frei von Einflüssen durch den hegemonialen öffentlichen Diskurs. Dies zeigte sich etwa in einem Rückzug auf eine Opferrolle, sei es durch den Verweis auf eine als ungerechtfertigt streng wahrgenommene Behandlung oder in der Abschiebung von Verantwortung durch eine eingeengte Darstellung des eigenen Handlungsspielraumes.63 In den nach 1949 angestrengten Verfahren wegen Illegalität gegen Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft häuften sich Beteuerungen, durch diese doch bereits genug Buße getan und eine Läuterung erfahren zu haben.64 Die Volksgerichte verzichteten in diesen Fällen mitunter auf die Strafverfolgung und warteten die Entschließungen des Bundespräsidenten zur Niederschlagung der Verfahren ab. Anträge auf Verfahrensaussetzung mit dem Hinweis auf eingebrachte Gnadenanträge hatten aufschiebende Wirkung.65 Die Argumentation, dass die Kriegsgefangenschaft eine ausreichende Sühne für nationalsozialisti-

62 Einvernahme Johann H. am Landesgericht Wien, 28. 2. 1951, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 699/50. 63 Die Berufung auf die nächsthöhere Hierarchieebene löste hier jene auf den „Führerbefehl“ ab, wie sie die NS-Haupttäter bei den Prozessen in Nürnberg oder Frankfurt vorgebracht hatten. Vgl. Christian Dirks, Selekteure als Lebensretter. Die Verteidigungsstrategie des Rechtsanwaltes Dr. Hans Laternser, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), „Gerichtstag halten über uns selbst…“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt am Main/New York 2001, 163–192; Kämper, Schulddiskurs, 260–276. 64 Begnadigungsansuchen Richard V., 25. 11. 1950, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 712/50. 65 Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, 2. 2. 1951, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 712/50.

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sche Aktivitäten sei, findet sich im politischen Diskurs in den Debatten um die Spätheimkehreramnestie.66 Der wegen Illegalität, Falschregistrierung und Wiederbetätigung angeklagte Eugen K., der mit Mitgliedern der NS-Geheimorganisation von Hugo Rößner, einem ehemaligen Wiener Gauhauptstellen- und Oberbereichsleiter der im Auftrag der „Werwolf“-Organisation handelte,67 in Kontakt gestanden war, sagte sich in seinem Gnadengesuch vom Nationalsozialismus los und bekannte einen „ideologischen Fehler“ ein, für den er jedoch „mit mehr als 5 Jahren Wehrdienstzeit und dem dauernden Verlust meines rechten Auges wohl schwer genug gebüsst“ habe.68 Kriegsdienst und Kriegsverletzung, die Nichtnationalsozialisten ebenso ereilten, dienten ihm als Beweis, Sühne geleistet zu haben. Eine weitere Strafe wäre nach seiner Ansicht ungerecht, da sie seine „schuldlose Familie“ treffen würde, „die völlig der Not ausgesetzt wäre und der staatlichen Fürsorge zur Last fallen müsste“. Unter ausdrücklicher Berufung auf den Gesetzgeber und damit auf die politischen Debatten jener Zeit, erklärte K. abschließend eine „neuerliche Bestrafung“ – gemeint war zusätzlich zu Kriegsdienstleistung, Verletzung und sechsmonatiger U-Haft – „und ständige Diskriminierung würde sicherlich weder dem Willen des österreichischen Volkes noch dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, der bereits oft und unmissverständlich für diese Formaldelikte eine mildere Behandlung gefordert hat.“69 In Aussagen vor dem Volksgericht wurde die auch der Externalisierung des Nationalsozialismus und anderen diskursiv angenommenen Opferrollen immanente Strategie der Abschiebung von Schuld und Verantwortung zum zentralen Motiv. In Denunziations- und Misshandlungsprozessen erfolgte dies häufig durch die Konstruktion von Zwangssituationen, die sich aus der Funktion der Beschuldigten ergeben hätten, etwa durch die Befehlsstruktur. Die Verantwortung konnte somit auf höherrangige Personen abgeschoben werden,70 wie beispielhaft bei Ortsgruppenleiter Josef S., der eine ihm gegenüber gemachte Anzeige weitergeleitet hatte und sich deshalb 1949 vor dem Volksgericht verantworten musste:

66 Vgl. Göllner, Diskurse, 164–169; Göllner, Maschinerie, 324–339. 67 Vgl. Volker Koop, Himmlers letztes Aufgebot. Die NS-Organisation „Werwolf“, Köln/Weimar/Wien 2008, 258–259. Zum Prozess gegen die NS-Gruppierungen von Hugo Rößner und Theodor Soucek siehe Martin F. Polaschek, Im Namen der Republik Österreich! Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955 (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 23), Graz 1998, 205–222. 68 Begnadigungsansuchen Eugen K., 24. 1. 1951, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 697/50. 69 Ebd. 70 Vgl. Kämper, Schulddiskurs, 260–276; Halbrainer, Denunziation, 177–182.

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„Wenn ich die Sache fallen gelassen hätte, wäre ich vielleicht selbst angezeigt worden […] Heute sehe ich auch ein, dass ich das nicht hätte machen sollen; man hat halt damals einen schweren Stand gehabt und habe ich meinen Dienst als Ortsgruppenleiter eben gewissenhaft versehen. Man darf auch heute nichts über die Regierung sagen!“71

Die behauptete Zwangssituation wurde hier mit einem Pflichterfüllungsethos angereichert sowie mit einer Gleichsetzung von „Regierungskritik“ im Nationalsozialismus mit jener in der jungen Zweiten Republik versehen. Diese Art des „Aufrechnens“ und Relativierens der eigenen Schuld bezeichnet Kämper als Egalisierungs-Strategie.72 Typisches Merkmal der Verhandlungen von Denunziationsfällen war die Diskreditierung der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen, u. a. mit dem Vorwurf der Verleumdung und Rache. Auch durch diese Opfer-Täter-Umkehr war es möglich, in eine Opferrolle zu schlüpfen. Typisch war dies auch in Verhandlungen gegen „Ariseure“. In Zusammenhang mit der Rückstellungsgesetzgebung wurde von „Ehemaligen“ zudem häufig „Unrecht“ beklagt und ein Geschäft jener „Emigranten“ vermutet, die vom Verkauf profitiert hätten.73

3.3

Instrumentalisierung der Schlussstrichmentalität

Als Strategie der Instrumentalisierung des politisch-öffentlichen Diskurses und der Schlussstrichmentalität in Volksgerichtsverfahren konnte in der Studie der Versuch identifiziert werden, von der Judikative Handlungen (bzw. Unterlassungen) unter Hinweis auf das öffentliche Meinungsklima einzufordern. Sie fand sich idealtypisch im Bemühen um die Niederschlagung eines wieder aufgenommenen Verfahrens nach §1 KVG. Rudolf Schwetz, ehemaliger Betriebsleiter der Enzesfelder Metallwerke und Karl Gschiel, Hütteningenieur und Werksdirektor ebendort und vormaliger Bürgermeister von Enzesfeld (Bezirk Baden, Niederösterreich) wurden beschuldigt im April 1945 ausländische Arbeiter erschossen zu haben.74 Das Volksgericht Wien fällte bei der ersten Verhandlung 71 Hauptverhandlung gegen Josef S., 11. 11. 1949, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 672/50. 72 Vgl. Kämper, Schulddiskurs, 258–260. 73 Gustav Walter, Stille Reparationen Österreichs. Glänzendes Geschäft und neues Unrecht durch das Dritte Rückstellungsgesetz, Berichte und Informationen, 16. 1. 1948, 1–2. Vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission Vermögensentzug während der NSZeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 3), Wien/München 2003. 74 WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 22/54. Die Anonymisierung entfällt, da Auszüge aus der Hauptverhandlung bereits ohne Anonymisierung publiziert wurden, siehe: Doku-

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1948 einen Freispruch und erklärte sich gleichzeitig für unzuständig. Dieses Urteil wurde durch den Obersten Gerichtshof fünf Jahre später aufgehoben und das Verfahren an das Volksgericht zurück überwiesen. Die Beschuldigten, mittlerweile wieder im Berufsleben integriert, Gschiel als Direktorstellvertreter der Eisen- und Stahlwerke AG in Ferlach (Kärnten), Schwetz als Zeitstudieningenieur bei der VOEST, brachten ein gemeinsames Gesuch um Niederschlagung des Verfahrens ein. Die Beschuldigten argumentierten darin, die Wiederaufnahme würde durch negative Pressemeldungen bei der Bevölkerung Erinnerungen an Ereignisse wecken, die längst in Vergessenheit geraten seien: „Wir sehen ein, dass durch eine Wiederaufrollung bzw. Neudurchführung unseres Verfahrens vielleicht dem formellen juridischen Standpunkt Genüge geleistet werden würde, wir glauben aber, dass die seinerzeitigen Ergebnisse [sic!, gemeint ist wohl: Ereignisse, Anm.] im Jahre 1945 im Zusammenhang mit dem Rückzug der deutschen Truppen und der Befreiung Oesterreichs in ihren Details in der Bevölkerung bereits in Vergessenheit geraten sind. Wir sind nicht überzeugt davon, dass ein Inerinnerungbringen detaillierter Vorgänge in der Presse in der negativen Form der Anklageschrift, die ja durch das seinerzeit abgeführte Beweisverfahren bereits widerlegt ist, zur Befriedigung der österreichischen Bevölkerung beitragen könnte, da erfahrungsgemäss, auch wenn das Gericht in der Folge zu einem Freispruch gelangt, wovon wir überzeugt sind, in der Erinnerung lediglich der erste negative Eindruck, bzw. die erste negative Meldung haften bleibt. Wir fürchten daher, dass solche Veröffentlichungen in der Presse eventuell der einen oder anderen Besatzungsmacht auch Anlass zu wenn auch unberechtigten Vorwürfen geben könnten.“75

Diese Instrumentalisierung der Schlussstrichmentalität zielte darauf ab, aus dem Mitte der 1950er-Jahre gesellschaftlich etablierten Konsens des Schweigens einen Vorteil zu ziehen und erhob die Nichtstörung dieses Schweigens zur obersten Maxime. Voraussetzung für eine solche Argumentation war ein entsprechendes gesamtgesellschaftliches Klima. Schwetz und Gschiel hatten Erfolg, das Verfahren wurde kurz vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages per Entschließung des Bundespräsidenten eingestellt.76

mentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich 1934–1945, Band 2, Wien 1987, 439–442. 75 Begnadigungsansuchen Gschiel und Schwetz, 13. 7. 1954, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 22/54. 76 Erklärung Staatsanwaltschaft zur Entschließung 4663/55 des Bundespräsidenten vom 29. 3. 1955, 13. 4. 1955, WStLA, Vg-Vr-Strafakten, Volksgericht, Vg 22/54.

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IV.

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Resümee

Die Auseinandersetzung mit der Selbstdarstellung ehemaliger NationalsozialistInnen zeigt, dass diese sehr mit ihrem eigenen „Schicksal“ beschäftigt waren, mit subjektiv empfundenen Ungerechtigkeiten haderten und den erlassenen Maßnahmen, von vordergründigen Reuebekenntnissen abgesehen, mit großem Unverständnis begegneten, das sich im Zeitverlauf noch steigerte bis es das rudimentär vorhandene Bewusstsein für die grundsätzliche Berechtigung der Entnazifizierung völlig verdrängte. Fragen nach einer moralischen Mitverantwortung für NS-Verbrechen wurden ausgespart. Sofern NS-Opfer in den Ausführungen vorkamen, wurde ihnen in diffamatorischer Absicht die Rolle der rachsüchtigen Revanchisten zugeteilt. Die eigene Involvierung in die NSDAP und ihre Gliederungen wurde fast durchgängig auf externe, unbeeinflussbare Faktoren abgeschoben, der eigene Handlungsspielraum verengt dargestellt, es dominierte eine Selbstdarstellung als „Opfer“ der Entnazifizierung, nachdem man zuvor schon „Opfer“ falscher Versprechungen geworden sei. Der auf Integration in die imaginierte Opfergemeinschaft abzielende politische Diskurs, der für das Selbstbild vieler ehemaliger NationalsozialistInnen anschlussfähig war, legitimierte Einstellungen und Haltungen der Abschiebung von Schuld und (Mit-)Verantwortung. Als „Verführte“, „Enttäuschte“, „missbrauchte Befehlsempfänger“, „Ausgebombte“ und im Zuge der Entnazifizierung „ungerecht Behandelte“ konnten sich MitläuferInnen wie TäterInnen als Opfer des Nationalsozialismus empfinden und ihre Mitverantwortung abstreifen. Die Verbindungen zwischen dem „Ehemaligendiskurs“ und dem politischöffentlichen Diskurs wurden sowohl bei parallelen Entwicklungen, als auch bei der Übernahme von Positionen der „Ehemaligen“ in den politischen Diskurs und umgekehrt deutlich. Dem hegemonialen politischen Diskurs vorweggenommen erfolgte etwa die Problematisierung der rückwirkenden Einführung von Straftatbeständen. Auffällig sind die zeitlichen Parallelen zwischen politischem Diskurs und dem „Ehemaligendiskurs“ in der Thematisierung der Amnestierung der Heimkehrer sowie die Parallelen in der ersten Phase (1945/46). Der rhetorische Antifaschismus und die klare Distanzierung vom Nationalsozialismus im politischen Diskurs bildeten sich in den Briefen der „Ehemaligen“ sowohl in den Reuebekenntnissen, die Verständnis für die Notwendigkeit einer Sühneleistung signalisierten, als auch in den ebenso in dieser Phase stärker auftretenden patriotischen Bekenntnissen ab, die durch die Betonung, vom Nationalsozialismus „geheilt“ zu sein, verstärkt wurden. Es wäre wohl kein überzogener Schluss daraus zu folgern, dass ein Beibehalten der antifaschistischen Rhetorik einer Bewusstseinsbildung über die moralische Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus dienlicher gewesen wäre, als der auf Integration in die

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Opfergemeinschaft und „Versöhnung“ abzielende Diskurs über die „ungerechten Leiden“ der vormaligen NationalsozialistInnen an der Entnazifizierungsgesetzgebung. Dieser signalisierte den „Ehemaligen“, dass ihnen Unrecht getan werde und verhinderte eine Auseinandersetzung mit dem eigenen opportunistischen Verhalten und den Verbrechen des Nationalsozialismus. Das diskursive Angebot der politischen Eliten an die „Ehemaligen“, sich als Opfer einer „ungerechten“ und von der österreichischen Regierung in dieser Art nicht gewollten (sondern von den Alliierten oktroyierten) Entnazifizierung zu sehen, wurde von diesen bereitwillig angenommen. Den solcherart in die österreichische „Opfergemeinschaft“ der NS-Opfer, Bombenopfer, Wehrmachtssoldaten und Kriegsgefangenen integrierten „Ehemaligen“ blieb zur moralischen Reorientierung somit statt Bewusstseinsbildung die Opferrolle, die Externalisierung des Nationalsozialismus sowie die Abschiebung jeglicher Verantwortung für das eigene Handeln auf externe Faktoren. Die Zusammenfassung von MitläuferInnen, TäterInnen und auch Opfern zu einem durch die Gleichsetzung und Aufrechnung von Leidenserfahrungen verschiedenster Art und Ursache imaginierten „Opferkollektiv“ sollte die politische Kultur Österreichs nachhaltig prägen.

Abstracts

Wahrnehmungen des Nationalsozialismus. NS-Jugendtagebücher – KZ-Ärzte – Entnazifizierungsdiskurse unter „Ehemaligen“ Veronika Siegmund “Mobilization of All Creative Forces …”: The Political Instrumentalization of Diaries in the Extended Children’s Evacuation Programme (KLV) 1940–1945 During the Second World War the diary culture of young people underwent political instrumentalization. In various educational institutions − like schools or the Hitlerjugend German boys and girls were encouraged to keep a diary which should reflect their affinity with the Third Reich. The present article examines the act of guided diary writing within the camps of the extended children’s evacuation programme (KLV), which were initiated by the Nazi-regime from 1940. At the heart of the investigation lies the tension between the intended and the actual thematic content of KLV-diaries: Which topics should they ideally touch upon and which themes were actually covered by the children in their journals? Based on the analysis of writing appeals in KLV-magazines and the diaries of two Viennese girls the article shows that the children used their diaries for various purposes, among others for some, which had not been propagated by the regime. Keywords: National Socialism, “Kinderlandverschickung (KLV)”, diary

Lisbeth Matzer Growing up within the “Volksgemeinschaft”: Motives and Behavior of Youth between Hitler Youth, School and Leisure Time under National Socialist Rule Growing up under National Socialist rule, “aryan” youth kept scopes of actions to shape their own daily routines in line with or contrary to the restrictive and

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indoctrinative limitations set by the regime and especially the Hitler Youth. This paper investigates three biographical examples of Austrian youth and shows the lingering possibility for the young to either fully embrace the (new) system or to evade (parts of) the ideal behavior as dictated by the Nazi regime. Examining motives and frames of orientation that shaped individual actions, the paper analyses reports of the individuals’ private lives as well as their experiences in the Hitler Youth Organization and the School system. Based on the diaries of one girl and two boys, it thus highlights motivational frames from a troubled love life, over catholic-bourgeois environment up to total indoctrination. Keywords: “Volksgemeinschaft”, Hitler Youth, diaries, youth experience

Marco Pukrop The portrayal of Dr. Peter Hofer in Eugen Kogon’s “Der SS-Staat”: “A white raven among the black murderers in surgical gowns”? The article focuses on the portrayal of the former SS physician Dr. Peter Hofer in Eugen Kogon’s historical bestseller “Der SS-Staat” first published in 1946. The book determined the West German perspective on the concentration camp system and the SS personnel operating there for nearly seven decades. It is also the basis for a kind of mystification and glorification of the austrian Peter Hofer being a “white raven” among the black ravens of the camp SS. The paper will show that Hofer was under no circumstances an opponent of National Socialism but an early and active member of the Nazi party. Furthermore, the article will demonstrate that Kogon was not the close observer and precise chronicler, he did consider himself. Keywords: concentration camps, SS physicians, camp survivors

Siegfried Göllner “The Nazi were more human”: Former National Socialists’ Perspectives on Denazification in Austria 1945–57 Within the first decade post-World-War-II the Austrian policy on denazification changed from punishment and exclusion to reintegration of former National Socialists. In the same timeframe the Austrian victim theory (“Opferthese”) underwent a universalization, aiming to integrate former National Socialists. Shifting patterns of political and public discourses on denazification were central in this transformation, whose repercussions can be seen in the development of statements given by former National Socialists on the matter during 1945–57. This paper intends to identify discursive shifts in the self-presentation of former

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National Socialists as shown in informal letters to Austrian Government and in statements in court. Keywords: World War II, National Socialists, Denazification

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Karl Fallend, Unbewusste Zeitgeschichte. Psychoanalyse – Nationalsozialismus – Folgen, Wien 2016, 352 Seiten. „Mein Name ist Karl Fallend. Ich wusste lange nicht warum, bis ich erst vor kurzem erfuhr, dass noch jemand diesen Namen trug: Karl Fallend, mein Onkel, von dem ich nichts weiß, außer, daß er [im Zweiten Weltkrieg] als 18-Jähriger freiwillig eingerückt […] in Rußland umkam. Durch mich konnte er ein Stück weiterleben“, schreibt der Autor des hier besprochenen Buches, in dem es – vor dem Hintergrund der Rekonstruktion kollektiver und individueller Geschichte(n) – schwerpunktmäßig um die transgenerationelle Fortwirkung abgewehrter (verdrängter oder verleugneter) Erinnerungen an die eigene Kindheit und an die Zeit geht, in der Österreich den Nationalsozialisten als erstes Land Europas in die Hände fiel – ein Geschichtsbild, mit dem der 1938 massenhaft beklatschte „Anschluss“ an Großdeutschland schöngeredet wurde. Der Autor hat recht: Schamangst und Schuldabwehr spielen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stets eine Rolle, wenngleich die Art und Weise sehr verschieden ausfällt, in der sich die Nachgeborenen den Ängsten stellen (oder entziehen), die bei der Konfrontation mit dem Fremden – und sei es die Kriegsbegeisterung des eigenen unbekannten Onkels – zu erleben (oder zu umgehen) sind. Dieses Weiterleben des Vergangenen in der Gegenwart war denn auch der Dreh- und Angelpunkt der realen wie der metaphorisch zu verstehenden Forschungsreisen, deren Ergebnisse in diesem Buch vorgestellt werden, das dem Leser anhand ausgewählter Beispiele die Verwobenheit der Kollektivgeschichte mit den Familiengeschichten und Lebensgeschichten der Nachgeborenen vor Augen führt; eine Zeitreise, die scheinbar nur die Vergangenheit betrifft – tatsächlich aber gegenwärtige Ereignisse verständlicher macht. Bildhaft ausgedrückt geht es dabei um den in der Vergangenheit verwurzelten Zeitgeist von heute, das heißt, um die Sichtbarmachung eines Rhizoms, dessen Auswüchse wieder neue Kraft gewinnen, und um Ängste, die – in Verbindung mit dem neoliberalen Turbokapitalismus – den Fortbestand der liberalen Demokratien gefährden. Seine in zwei Jahrzehnten in Sammelbänden und Fachzeitschriften verstreut erschienenen Arbeiten hat der Autor in vier Abschnitten thematisch neu geordnet. Um mit dem Ende zu beginnen: Der vierte Abschnitt enthält vom Autor verfasste Rezensionen „von Büchern , die […] im Rahmen meiner Forschungsarbeiten […] für mich [Karl Fallend] eine Lehre waren“, darunter die Erinnerungen von Ella Lingens, die gemeinsam mit Karl Motesiczky wegen Widerstand gegen das NSRegime nach Auschwitz kam und – anders als er – die Lagerhaft überlebte. Der so vermittelte Forschungsstand erhellt das im ersten Teil des Buches vermittelte Erbe der dunklen Zeit, das Neonazis heute wieder ganz offen zur Schau stellen – zum Beispiel so: „Was fürn Vater der Jud ist für uns die Moslembrut“ (Schmiererei an

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der Tür eines Kindergartens in Linz 2009). Andererseits halten „anständige“ Medizinstudenten noch heute den Pernkopf-Anatomie-Atlas arglos in der Hand, ohne zu ahnen, dass dessen Abbildungen auf Präparationen von über tausend während der NS-Zeit Hingerichteten beruhen, die im Anatomischen Institut seziert wurden, dem seinerzeit Eduard Pernkopf, der Namensgeber des Anatomie-Atlas, vorstand, der seine Antrittsvorlesung als Dekan der Medizinischen Fakultät an der Universität Wien 1938 in SA-Uniform hielt. Der zweite Teil des Buches ist der Geschichte der Psychoanalyse unter Hitler gewidmet, die nach dem Ende des NS-Regimes zunächst nur als eine Geschichte der Verfolgung und Vertreibung erzählt wurde, während später auch noch andere Seiten bekannt wurden, wozu die Recherchen von Fallend entscheidend beigetragen haben. Das betrifft zum Beispiel die Ausgrenzung der den Nationalsozialismus offen bekämpfenden Psychoanalytiker (wie Wilhelm Reich) aus den psychoanalytischen Organisationen, wodurch deren Fortbestand gesichert werden sollte, ein verhängnisvoller Kotau, der von Vereinsapologeten bis heute als notwendige Schutzmaßnahme verharmlost wird – so etwa von Michael Schröter, Herausgeber einer Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. Nach 1945 erfolgte dann die Aufnahme auch vormaliger Parteigenossen in die „Wiener Psychoanalytische Vereinigung“ (WPV), worüber die Öffentlichkeit nicht informiert wurde, weshalb es geschehen konnte, dass eine „Wissenschaftlerin jüdischer Herkunft […] erst Jahre nach ihrer Analyse erfahren hatte, dass ihr Analytiker bei der SS war“. Als Fallend diesen Sachverhalt aufdeckte und den betreffenden Analytiker erstmals beim Namen nannte, kam es zu „Irritationen“, schließlich hing in den neueingerichteten Räumen der WPV ja der gemalte bis zu Freud zurückreichende „Familienstammbaum“, zu dem solche Neumitglieder schlecht passen wollten. Fallend kommentiert: „Gerade in Österreich, […] wo die Psychoanalyse entstanden ist, aber auch vertrieben und zerstört wurde, scheint die Versuchung groß, die historische Verbindung zu den eigenen Eltern und Großeltern durch Gegenidentifizierungen zu überlagern.“ Mit bemerkenswerter Offenheit gibt der Autor im dritten Teil seines Buches Auskunft über seine eigene Familiengeschichte, soweit sie sich mit seiner Forschungsarbeit verbindet. Er ist in einer – vormals als „Hitler-Bauten“ etikettierten – Arbeitersiedlung des Linzer Stadtteils Bindermichl aufgewachsen, die zu einem NS-Rüstungsbetrieb gehörte, der nach dem Ende des Krieges in den VOESTStahlwerken aufging, in denen sein Vater ab 1950 „als einfacher Arbeiter“ tätig war. Als der Sohn 1998 Mitglied der Historikerkommission „Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen am Standort Linz der ehemaligen Hermann-Göring-Werke AG“ wird, erwachen die Gespenster der Kindheit zu neuem Leben. Das Unheimliche der „Umgebung, die uns schon als Kinder Angst einflößte, nur: wir wussten nicht warum“, wird noch einmal durchlebt – und jetzt anders als damals verstanden: In der Psychiatrischen Anstalt Niedernhart, die nahe dem Hummelhof-

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wald liegt, in dem die Kinder damals spielten, wurden während der NS-Zeit tausende Patienten ermordet. (Siehe: Brigitte Kepplinger/Gerhard Marckhgott/Hartmut Reese, Tötungsanstalt Hartheim. 2. erweiterte Aufl., Linz 2008). Karl Fallend reist jetzt, die Erinnerung an seinen namensgleichen in Russland gefallenen Onkel im Gepäck, nach Osten, um dort dem Unerhörten Gehör zu schenken. Er protokolliert die Lebensgeschichten ehemaliger Gefangener eines Außenlagers des KZ Mauthausen in Linz – und erfährt beiläufig, dass Dr. Oledij Derid aus Moldawien bisher vergeblich in „Dutzenden von Briefen“ um eine Entschädigungszahlung nachgesucht hat. „An wen soll ich schreiben? An Gott?“ Diese Frage des betagten Mannes wählte Fallend als Titel seines Theaterstücks, das am Leitfaden der Erinnerungen des Dr. Derid die dunkle Vergangenheit der „Donau- und Alpenreichsgaue“ in der österreichischen Gegenwart erhellt. Es wurde 2002 am Linzer Landestheater uraufgeführt. Brigitte Heusinger, die Dramaturgin, beschreibt in ihrem Beitrag zu Fallends Buch nachvollziehbar die emotionalen Reaktionen des Ensembles wie des Publikums, die dieses Stück ausgelöst hat. Als 1981, zwei Jahre nach der Emeritierung Igor Carusos, der als Vertreter einer sozialkritisch orientierten Psychoanalyse galt, ein erklärter Psychoanalysegegner auf den Lehrstuhl für Klinische Psychologie an der Universität Salzburg berufen wurde, setzten Studierende die administrativ unterbrochene Tradition fort, indem sie auswärtige WissenschaftlerInnen zu Werkstattgesprächen einluden. Daraus ging 1984 das „Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik“ hervor, zu dessen Herausgebern Fallend seit Anbeginn gehörte. Die schockartige Ernüchterung, die 2008 eintrat, als einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, dass Caruso während der NS-Zeit acht Monate lang psychologischer Gutachter an der Wiener Jugendfürsorgeanstalt „Spiegelgrund“ und damit in das NS-Euthanasieprogramm einbezogen war, schildert Fallend in seinem Beitrag „‚Carusos Erben‘. Reflexionen in einer erhitzen Auseinandersetzung“. Ende 2019 erschien das letzte „Werkblatt“. Fallend hat dafür als Herausgeber Gründe (Arbeitsbelastung, finanzielle Schwierigkeiten etc.) genannt, die nachzuvollziehen sind. Vielleicht gibt es aber auch noch unbewusste Beweggründe, die einer transgenerationaler Weitergabe und Fortführung des „Werkblatts“ im Wege standen? Ein Buch Carusos trug den Titel „Die Trennung der Liebenden. Eine Phänomenologie des Todes“ (1968). Unter diesem Aspekt sollte man den Beitrag über Carusos Erben besonders aufmerksam lesen, nennt der Autor doch einleitend Carusos NS-Verstrickung und die Gründung des „Werkblatts“ in einem Atemzug. Bernd Nitzschke

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Elisabeth Boeckl-Klamper/Thomas Mang/Wolfgang Neugebauer, Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945, Wien 2018, 494 Seiten. Wer sich mit der NS-Herrschaft in Österreich beschäftigte oder sich dafür interessierte, war in vielen Themenbereichen mit der Tätigkeit der Gestapo-Leitstelle Wien konfrontiert, konnte aber nicht zu einer systematischen Arbeit über die nach der Berliner Zentrale größte Gestapodienststelle des Deutschen Reiches mit mehr als 900 MitarbeiterInnen (Höchststand 1942) greifen. Dieses beträchtlichen Desiderats der zeithistorischen Forschung haben sich Elisabeth Boeckl-Klamper, Thomas Mang und Wolfgang Neugebauer angenommen. Sie haben die Aufgabe mit der vorliegenden Monografie ausgezeichnet erfüllt. Die langjährige Beschäftigung und mehrere Vorpublikationen insbesondere zum Führungspersonal, zur Rolle bei den Deportationen der Wiener Jüdinnen und Juden (Thomas Mang), der Bekämpfung von RegimegegnerInnen (Wolfgang Neugebauer) und der Einrichtung der Gedenkstätte am ehemaligen Standort der Gestapo-Leitstelle in der Salztorgasse (Elisabeth Boeckl-Klamper) weisen die beiden Autoren und die Autorin bereits als Kenner der Materie aus. Aufbauend auf der Erschließung von Quellen durch das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Dokumenten aus 17 weiteren österreichischen und internationalen Archiven sowie der mehrere Bände umfassenden, aber schwer zugänglichen und unveröffentlicht gebliebenen Dissertation von Franz Weisz aus dem Jahr 1991 ist es ihnen gelungen, eine in 16 Kapitel gut und übersichtlich strukturierte, in einer klaren Sprache verfasste Gesamtdarstellung vorzulegen. Die Stärke der Monografie liegt im grundsätzlichen Aufriss der institutionellen Geschichte der Gestapo im NS-Staat, der Einordnung der Wiener Leitstelle, der Zusammensetzung ihres Personals, ihrer Arbeitsweisen und Methoden, ihrer Verbrechen und Opfergruppen bis hin zur tatsächlichen bzw. nicht erfolgten Strafverfolgung der Täter nach dem Ende der NS-Herrschaft in Österreich und Deutschland. Sie bietet damit die für die Orientierung unerlässlichen Zahlen, Daten, personellen, organisatorischen und politischen Zusammenhänge. Den Aufbau eines großen und vergleichsweise kompakten geheimpolizeilichen Apparates mit geringer Fluktuation des Führungspersonals unter Franz Josef Huber (1938–1944) und einem Anteil von 84–92 Prozent (im Verlauf von 1938 bis 1945) aus Österreich stammenden BeamtInnen (Frauenanteil von 17–30 Prozent) sieht das Autorenteam in den spezifischen Wiener Herausforderungen begründet. Wesentliche Faktoren waren das Erfordernis einer raschen Implementierung im März 1938, die im Vergleich zum Altreich wesentlich stärkeren Aktivitäten von politischen GegnerInnen mit zum Teil separatistischen Zielen, die expansive Rolle hinsichtlich der Tschechoslowakei und Jugoslawien, die Zuständigkeit für die staatspolizeiliche Abdichtung der Grenzen im Südosten des Reiches und gegen-

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über der Schweiz, später die hohe Zahl an ZwangsarbeiterInnen aus Osteuropa und die Bekämpfung der Penetrationsversuche alliierter Geheimdienste. Die genaue Verortung der Organisation der Gestapo im dynamischen, nicht leicht zu durchschauenden institutionellen Gefüge der Herrschaftssicherung des NS-Regimes ermöglicht es Boeckl-Klamper, Mang und Neugebauer, die Unterschiede bei der Repression spezifischer Gruppen und die Prioritäten der Wiener Gestapo präzise herauszuarbeiten, etwa im Kapitel über die genaue Rolle und die Interessen der Gestapo bei der Verfolgung, Beraubung, Vertreibung und Deportation der jüdischen Bevölkerung. Die aktive Mitwirkung des durchwegs aus österreichischen Beamten zusammengesetzten „Judenreferates“ (II B 4) an den federführend von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ – einer Institution des Sicherheitsdienstes der SS – durchgeführten Deportationen von 48.000 Juden an die Vernichtungsorte in den besetzten Gebieten in Osteuropa war nach der Einschätzung der Autorin und der Autoren das größte Verbrechen der Gestapo-Leitstelle Wien. Da Huber in einer ungewöhnlichen Doppelfunktion auch Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD im Wehrkreis XVII war, unterstand ihm auch die Zentralstelle. Juristisch belangt wurde er für diese Verantwortung nach 1945 in Deutschland nicht. Nach seiner Internierung und der Einstufung als „Minderbelaster“ musste er bloß 500 DM in einen „Wiedergutmachungsfonds“ einzahlen. Nach dem Auslieferungsbegehren Österreichs tauchte Huber unter, um einer Verhaftung zu entgehen. Geschützt wurde er vom CIA, der verhindern wollte, dass Huber – wie Johann Sanitzer – in Österreich in die Hände der Sowjetunion fiel. Ähnlich wie bei anderen Gestapo-Tätern begründeten die deutschen Entnazifizierungsbehörden schließlich seine völlige Entlastung im Jahr 1954 mit geradezu NS-affinen Bewertungen („besonders tüchtiger Polizeibeamter“) (S. 432). Zu diesem Zeitpunkt war Hubers Stellvertreter Karl Ebner in Wien bereits begnadigt. 1948 zu 20 Jahren Kerker verurteilt, war er 1953 wieder auf freiem Fuß. Die Verfolgung von Homosexuellen, von Roma und Sinti, von als „asozial“ eingestuften Menschen überließ die Gestapo-Leitstelle Wien weitgehend der Kriminalpolizei. In ihrem Fokus standen, neben spezifischen Funktionen bei der Judenverfolgung, jene, denen das Potenzial für eine organisierte Regimegegnerschaft und Gefährdung der Herrschaftsstabilität zugeschrieben wurde. Dazu gehörten neben KommunistInnen, SozialistInnen, katholisch-konservative, bürgerliche und legitimistische NS-GegnerInnen auch zahlenmäßig sehr kleine Gruppen wie die Zeugen Jehovas und zu Beginn auch die Freimaurer. Zentral angeordnete Verhaftungsaktionen wie im März/April 1938, vor dem Kriegsbeginn im September 1939, nach dem Attentat auf Hitler im Juli 1944 werden ebenso beschrieben, wie die Ausführung der politisch beschlossenen Repressionen gegen die katholische Kirche.

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In populären und lang tradierten Vorstellungen über die Tätigkeit der Gestapo blieb unterbelichtet, dass ihre Hauptzielgruppe ab 1942/43 ausländische Arbeitskräfte waren, vor allem die so genannten Ostarbeiter. Die aus Polen, Jugoslawien und der Sowjetunion stammenden Männer und Frauen wurden bereits bei geringen Verstößen gegen das ihnen auferlegte Zwangsarbeitsregime in Konzentrationslager oder in das von der Gestapo-Leitstelle Wien betriebene Arbeitserziehungslager Oberlanzendorf eingewiesen. Die Hintergründe des rigiden Vorgehens – meist auf Anzeigen von Betriebsleitungen hin – waren strukturell und unmittelbar politisch. Durch die im Laufe des Krieges fast lückenlose Mobilisierung wehrfähiger Männer war die deutsche Kriegswirtschaft vom „Funktionieren“ der Zwangsarbeit vital abhängig. Die Zahl von mehr als 30.000 Festnahmen ausländischer ZivilarbeiterInnen führt den Schwerpunkt drastisch vor Augen. Zugleich wird die vergleichsweise hohe Bereitschaft zu militantem Widerstand unter ZwangsarbeiterInnen und Kriegsgefangenen betont – ein Thema, das noch weiterer Forschungen bedarf. Eine Überwachung der Bevölkerung im Alltag wurde von der Wiener GestapoLeitstelle nicht systematisch vorgenommen – hier verließ man sich auf die Mithilfe denunziationsbereiter „Volks- und Parteigenossen“. In diesem Zusammenhang steht eine wichtige Auseinandersetzung mit der im Kontext von Forschungen zu Gestapostellen im „Altreich“ gebildeten These, wonach die Allmacht der Gestapo ein Mythos sei, der nach 1945 dazu gedient habe, die NSHerrschaft als vorwiegend auf Repression beruhend darzustellen, was das Mittun der Bevölkerung verschleiert hätte. Im Buch wird dargelegt, dass die lückenlose Aufdeckung und Zerschlagung aller Versuche, Widerstand zu organisieren nur in geringem Ausmaß auf Verrat aus der Bevölkerung oder der sozialen Umgebung der AktivistInnen beruhte, sondern auf hochprofessioneller, mit Hilfe eingeschleuster V–Leute zielgenauer und äußerst brutaler Polizeiarbeit. Die Zahl der auf Denunziationen zurückgehenden Verhaftungen lag in Wien unter dem Ausmaß vergleichbarer Städte im „Altreich“. Das Buch bietet nicht nur eine große Synthese und eine empirisch fundierte Überprüfung des Wissensstands. Es enthält überdies neue Erkenntnisse, etwa zum Hotel Metropole, dem Sitz der Gestapo am Morzinplatz, oder zu den „Sonderhäftlingen“ Kurt Schuschnigg und Louis Rothschild. Es weist auf bestehende Wissenslücken hin, etwa auf den Grund, warum zwischen 1939 und 1943 auf Weisung Hitlers keine Gerichtsverfahren gegen österreichische „Separatisten“ durchgeführt wurden. All das macht die Monografie zu einem vorbildlichen Grundlagenwerk der NS-Forschung. Peter Pirker

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Hans-Wolfgang Platzer, Bronislaw Huberman und das Vaterland Europa. Ein Violinvirtuose als Vordenker der europäischen Einigungsbewegung in den 1920er und 1930er Jahren (CintEUs. An Interdisciplinary Series of the Centre for Intercultural and European Studies. Fulda University of Applied Studies 17), Stuttgart 2019, 160 Seiten. In Zeiten globaler Herausforderungen wie Klima, Digitalisierung und Migration, in denen der Global Player EU in Gegenwart und Zukunft eine bedeutende Rolle zu spielen hat, erinnert der deutsche Politikwissenschafter Hans-Wolfgang Platzer an eine Europavision aus der Zwischenkriegszeit. Diese Vision stammt von keinem Politiker, Juristen oder Philosophen, sondern von einem Geigenvirtuosen polnischer Herkunft, von Bronislaw Huberman (1882–1947). Platzer, der zurecht auf die Geschichtsvergessenheit der Europadebatte hinweist, sieht in der Darstellung des „politisch weitsichtigen Violinvirtuosen und europäischen Patrioten, der noch immer viel zu sagen hat“, ein lohnendes Unterfangen (Platzer, 154). Schon bevor das Wunderkind Huberman, der vom Altösterreicher Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972) gegründeten Paneuropa-Bewegung, die von Wien 1923 ihren Ausgang nahm, beitrat, hatte er sich für die Vereinigung der europäischen Staaten interessiert. Wie so oft, ist es der Blick von außen, der uns den Wert des Vorhandenen vor Augen führt, so auch bei Huberman. Seine Amerika-Tournee Anfang der Zwanzigerjahre und die genaue Beobachtung der prosperierenden amerikanischen Wirtschaft bildeten den Anstoß für Hubermans „Paneuropäertum“. Das vorliegende 160 Seiten umfassende Buch beruht auf Archivbeständen aus dem Felicja Blumenthal Music Center and Library in Tel Aviv und auf zwei Briefeditionen. Im Gegensatz zu Coudenhove-Kalergi – er verfasste fünf Autobiografien – hinterließ Bronislaw Huberman keine einzige Biografie; der Quellenbestand enden wollend, nicht jedoch die Sekundärliteratur. Dies gilt in erster Linie aus musikwissenschaftlicher Sicht, immerhin war Huberman ein Geigenvirtuose von Weltklasse, der auf einer Stradivari konzertierte und das Palestine Orchestra gründete. Aus diesem ging 1948, als der Staat Israel gegründet wurde, das Israel Philharmonic Orchestra hervor. Hubermans europapolitisches Engagement ist bis dato noch nicht entsprechend, etwa in Form einer Monografie, gewürdigt worden (Platzer, 22–24). Der Autor liefert keine verklärende oder gar überhöhende Darstellung des Geigenvirtuosen. Vielmehr unterzieht Hans-Wolfgang Platzer das Leben und Wirken des Künstlers, dessen Europa-Engagement und die Beziehung zwischen Huberman und Coudenhove-Kalergi einer ausführlichen Analyse und geht der Frage nach, inwiefern Hubermans Überlegungen in der heutigen EU verwirklicht wurden.

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zeitgeschichte 47, 3 (2020)

Das Buch folgt einem logischen Aufbau: Das erste Kapitel beinhaltet einen kurzen Überblick über die politischen Einigungsbestrebungen der Zwischenkriegszeit, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung bei deutschen Organisationen liegt, so etwa bei dem „Komitee für europäische Verständigung“. Jene Verbände, die in erster Linie auf eine wirtschaftliche Vereinigung ausgerichtet waren, zum Beispiel die „Internationale Handelskammer“ oder das „Internationale Rohstahlkartell“ beziehungsweise das Europa-Engagement der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung werden ebenfalls kurz skizziert. Diese Schwerpunktsetzung ist nachvollziehbar, zumal Huberman ein wirtschaftlich vereintes Europa präferierte. So verwundert es nicht, dass Karl Anton Rohans „Europäischer Kulturbund“ oder das „Deutsch-Französische Studienkomitee“ nur mit einem Wort, die Mitteleuropa-Konzepte gar keine Erwähnung finden. Schließlich nimmt Coudenhoves Paneuropabewegung in diesem Kapitel auch deshalb eine zentrale Rolle ein, weil Huberman Mitglied der Paneuropa-Bewegung war und in freundschaftlicher Beziehung zu Coudenhove stand. In einem weiteren Kapitel skizziert Platzer den Musiker und Politiker. Aus dieser Skizze geht eine beeindruckende Persönlichkeit hervor, für die „Kunst und Politik zwei Erscheinungsformen der sozialen Verpflichtung gewesen waren, Menschen zu geistiger und körperlicher Befreiung zu verhelfen“. (Platzer, 67). Hubermans Weg zu einem engagierten Europäer führt, wie eingangs schon erwähnt, über Amerika. Der Künstler war vom Mäzenatentum und Volkswohlstand der Vereinigten Staaten von Amerika beeindruckt, ganz besonders vom Autoindustriellen Henry Ford. All diese Eigenschaften und Fords Wirtschaftskonzept seien nur innerhalb von „Vereinigten Staaten“ möglich, so Huberman (Platzer, 84). Seine „amerikanischen Eindrücke“, verbunden mit der Mitgliedschaft bei der Paneuropa-Bewegung, verarbeitete Huberman in seinem Buch „Vaterland Europa“, das 1932 erschien und dem Platzer das vierte Kapitel widmet. Anhand vieler Originalzitate lässt der Autor Bronislaw Huberman „erzählen“, womit den LeserInnen dessen Überlegungen über eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Ausgestaltung des „Vaterlandes Europa“ authentisch nähergebracht werden. Schließlich folgen im fünften Kapitel „Rückblicke und Ausblicke“. HansWolfgang Platzer teilt Hubermans politisches Engagement ab 1920 in drei Schritte, die sich prozesshaft entwickelten: Zunächst versuchte der Künstler durch öffentliches Aufklären und Werben anhand von Vorträgen, Zeitungsartikeln oder Pressegesprächen seine Idee publik zu machen – nicht selten verwendete er das Konzertpult als Rednerpult und propagierte die Europa-Idee. Huberman wurde zu einem erbitterten Gegner von Adolf Hitler und bewies Mut, als er auch im Zuge von Konzerten gegen ihn auftrat. Später wird er nicht nur Coudenhove, sondern weiteren Intellektuellen in der Weimarer Republik den Vorwurf machen, nicht gegen Hitler aufgestanden zu sein. In einem nächsten Schritt wurde Huberman zum Aktivisten, indem er das polnische Paneuropa-

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Komitee mitinitiierte; in einem dritten Schritt forderte er schließlich die Schaffung einer europäischen Partei. Eine Forderung, der Coudenhove zunächst zögernd gegenüberstand, um Huberman dann 1932 mitzuteilen, doch eine Europäische Partei gründen zu wollen. Damals war es jedoch schon zu spät. Huberman lebte von 1926 bis zum „Anschluss“ Österreichs im Schloß Hetzendorf bei Wien. Die Kriegsjahre bis 1945 verbrachte er im US-amerikanischen Exil, um dann bis zu seinem Tod 1947 in der Schweiz seinen letzten Wohnsitz zu haben. Platzer bezeichnet Huberman als „Zeitdiagnostiker“ (Platzer, 130), der sensibel und penibel die Politik und Wirtschaft seiner Zeit zu deuten wusste. Ähnlich wie Coudenhove verrannte er sich in der Utopie, dass das vereinte Europa auf der Basis der Europäerinnen und Europäer aufgebaut werden könnte. Die Diskussion über eine europäische Identität, die Hans-Wolfgang Platzer in dem vorliegenden Buch anreißt, scheint auch über 2020 hinaus eine Never-Ending-Story zu sein. Platzer widmet sich nicht nur der bemerkenswerten Person Huberman, sondern stellt darüber hinaus den Bezug zwischen Huberman und der Europäischen Union sowie zu europäischen Integrationstheorien her, was von großer Brisanz ist. In der Tat bietet das Buch eine lohnende Lektüre, durch die sich die „geschichtsvergessenen Debatten über die Europaidee“ wieder anregen lassen. Der Paneuropäer Huberman steht beispielhaft für all jene Europa-Visionäre, die man bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen kann, und von denen einigen Ideen heute in der EU umgesetzt sind. Die Darstellung von Hubermans Europa-Konzeption beweist einmal mehr die Faszination Europa und die Strahlkraft europäischer Vereinigungsideen in das 21. Jahrhundert hinein. Das Buch – flüssig geschrieben mit wenigen Fußnoten, aber mit einer ausgewählten Bibliografie – ist ein weiterer wichtiger Beitrag zur Ideengeschichte Europas. Anita Ziegerhofer

Autor/inn/en

Siegfried Göllner, Mag. Dr. Historiker, freischaffend, [email protected] Lisbeth Matzer, Mag. MA Historikerin, MSCA-Fellow der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne der Universität zu Köln, [email protected] Bernd Nitzschke, Dr. Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DGPT), Düsseldorf, [email protected] Bertrand Perz, Univ.-Prof. Dr. Historiker, Universität Wien, Institut für Zeitgeschichte, [email protected] Peter Pirker, Mag. Dr. Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck, [email protected] Marco Pukrop, Dr. phil. Historiker und Politikwissenschaftler, lebt und arbeitet als freischaffender Historiker in Osterholz-Scharmbeck, [email protected] Veronika Siegmund, MA Redakteurin der Zeitschrift „L’Homme. Z. F. G.“, [email protected] Anita Ziegerhofer, Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen, Fachbereich Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung, Universität Graz, [email protected]

Zitierregeln Bei der Einreichung von Manuskripten, über deren Veröffentlichung im Laufe eines doppelt anonymisierten Peer Review Verfahrens entschieden wird, sind unbedingt die Zitierregeln einzuhalten. Unverbindliche Zusendungen von Manuskripten als word-Datei an: [email protected]

I.

Allgemeines

Abgabe: elektronisch in Microsoft Word DOC oder DOCX. Textlänge: 60.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und Fußnoten), Times New Roman, 12 Punkt, 1 12-zeilig. Zeichenzahl für Rezensionen 6.000–8.200 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Rechtschreibung: Grundsätzlich gilt die Verwendung der neuen Rechtschreibung mit Ausnahme von Zitaten.

II.

Format und Gliederung

Kapitelüberschriften und – falls gewünscht – Unterkapiteltitel deutlich hervorheben mittels Nummerierung. Kapitel mit römischen Ziffern [I. Literatur], Unterkapitel mit arabischen Ziffern [1.1 Dissertationen] nummerieren, maximal bis in die dritte Ebene untergliedern [1.1.1 Philologische Dissertationen]. Keine Interpunktion am Ende der Gliederungstitel. Keine Silbentrennung, linksbündig, Flattersatz, keine Leerzeilen zwischen Absätzen, keine Einrückungen; direkte Zitate, die länger als vier Zeilen sind, in einem eigenen Absatz (ohne Einrückung, mit Gänsefüßchen am Beginn und Ende). Zahlen von null bis zwölf ausschreiben, ab 13 in Ziffern. Tausender mit Interpunktion: 1.000. Wenn runde Zahlen wie zwanzig, hundert oder dreitausend nicht in unmittelbarer Nähe zu anderen Zahlenangaben in einer Textpassage aufscheinen, können diese ausgeschrieben werden. Daten ausschreiben: „1930er“ oder „1960er-Jahre“ statt „30er“ oder „60er Jahre“. Datumsangaben: In den Fußnoten: 4. 3. 2011 [keine Leerzeichen nach den Punkten, auch nicht 04. 03. 2011 oder 4. März 2011]; im Text das Monat ausschreiben [4. März 2011]. Personennamen im Fließtext bei der Erstnennung immer mit Vor- und Nachnamen. Namen von Organisationen im Fließtext: Wenn eindeutig erkennbar ist, dass eine Organisation, Vereinigung o. Ä. vorliegt, können die Anführungszeichen weggelassen werden: „Die Gründung des Öesterreichischen Alpenvereins erfolgte 1862.“ „Als Mitglied im

Womens Alpine Club war ihr die Teilnahme gestattet.“ Namen von Zeitungen/Zeitschriften etc. siehe unter „Anführungszeichen“. Anführungszeichen im Fall von Zitaten, Hervorhebungen und bei Erwähnung von Zeitungen/Zeitschriften, Werken und Veranstaltungstiteln im Fließtext immer doppelt: „“ Einfache Anführungszeichen nur im Fall eines Zitats im Zitat: „Er sagte zu mir : ,….‘“ Klammern: Gebrauchen Sie bitte generell runde Klammern, außer in Zitaten für Auslassungen: […] und Anmerkungen: [Anm. d. A.]. Formulieren Sie bitte geschlechtsneutral bzw. geschlechtergerecht. Verwenden Sie im ersteren Fall bei Substantiven das Binnen-I („ZeitzeugInnen“), nicht jedoch in Komposita („Bürgerversammlung“ statt „BürgerInnenversammlung“). Darstellungen und Fotos als eigene Datei im jpg-Format (mind. 300 dpi) einsenden. Bilder werden schwarz-weiß abgedruckt; die Rechte an den abgedruckten Bildern sind vom Autor/von der Autorin einzuholen. Bildunterschriften bitte kenntlich machen: Abb.: Spanische Reiter auf der Ringstraße (Quelle: Bildarchiv, ÖNB). Abkürzungen: Bitte Leerzeichen einfügen: vor % oder E/zum Beispiel z. B./unter anderem u. a. Im Text sind möglichst wenige allgemeine Abkürzungen zu verwenden.

III.

Zitation

Generell keine Zitation im Fließtext, auch keine Kurzverweise. Fußnoten immer mit einem Punkt abschließen. Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf das Erstzitat von Publikationen. Bei weiteren Erwähnungen sind Kurzzitate zu verwenden. – Wird hintereinander aus demselben Werk zitiert, bitte den Verweis Ebd./ebd. bzw. mit anderer Seitenangabe Ebd., 12./ebd., 12. gebrauchen (kein Ders./Dies.), analog: Vgl. ebd.; vgl. ebd., 12. – Zwei Belege in einer Fußnote mit einem Strichpunkt; trennen: Gehmacher, Jugend, 311; Dreidemy, Kanzlerschaft, 29. – Bei Übernahme von direkten Zitaten aus der Fachliteratur Zit. n./zit. n. verwenden. – Indirekte Zitate werden durch Vgl./vgl. gekennzeichnet. Monografien: Vorname und Nachname, Titel, Ort und Jahr, Seitenangabe [ohne „S.“]. Beispiel Erstzitat: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 311. Beispiel Kurzzitat: Gehmacher, Jugend, 311. Bei mehreren AutorInnen/HerausgeberInnen: Dachs/Gerlich/Müller (Hg.), Politiker, 14. Reihentitel: Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-

Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 27), Innsbruck/Wien [bei mehreren Ortsangaben Schrägstrich ohne Leerzeichen] 1997, 45. Dissertation: Thomas Angerer, Frankreich und die Österreichfrage. Historische Grundlagen und Leitlinien 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 1996, 18–21 [keine ff. und f. für Seitenangaben, von–bis mit Gedankenstich ohne Leerzeichen]. Diplomarbeit: Lucile Dreidemy, Die Kanzlerschaft Engelbert Dollfuß’ 1932–1934, Dipl. Arb., Universit8 de Strasbourg 2007, 29. Ohne AutorIn, nur HerausgeberIn: Beiträge zur Geschichte und Vorgeschichte der Julirevolte, hg. im Selbstverlag des Bundeskommissariates für Heimatdienst, Wien 1934, 13. Unveröffentlichtes Manuskript: Günter Bischof, Lost Momentum. The Militarization of the Cold War and the Demise of Austrian Treaty Negotiations, 1950–1952 (unveröffentlichtes Manuskript), 54–55. Kopie im Besitz des Verfassers. Quellenbände: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. II, hg. v. United States Department of States, Washington 1958. [nach Erstzitation mit der gängigen Abkürzung: FRUS fortfahren]. Sammelwerke: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995. Beitrag in Sammelwerken: Michael Gehler, Die österreichische Außenpolitik unter der Alleinregierung Josef Klaus 1966–1970, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger/ Hubert Weinberger (Hg.), Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung Klaus (Veröffentlichung der Dr.-Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien 1), Salzburg 1995, 251–271, 255–257. [bei Beiträgen grundsätzlich immer die Gesamtseitenangabe zuerst, dann die spezifisch zitierten Seiten]. Beiträge in Zeitschriften: Florian Weiß, Die schwierige Balance. Österreich und die Anfänge der westeuropäischen Integration 1947–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, 71–94. [Zeitschrift Jahrgang/Bandangabe ohne Beistrichtrennung und die Angabe der Heftnummer oder der Folge hinter die Klammer ohne Komma]. Presseartikel: Titel des Artikels, Zeitung, Datum, Seite. Der Ständestaat in Diskussion, Wiener Zeitung, 5. 9. 1946, 2. Archivalien: Bericht der Österr. Delegation bei der Hohen Behörde der EGKS, Zl. 2/pol/57, Fritz Kolb an Leopold Figl, 19. 2. 1957. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA)/AA, II-pol, International 2 c, Zl. 217.301-pol/ 57 (GZl. 215.155-pol/57); Major General Coleman an Kirkpatrick, 27. 6. 1953. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/103845, CS 1016/205 [prinzipiell zuerst das Dokument mit möglichst genauer Bezeichnung, dann das Archiv, mit Unterarchiven, -verzeichnissen und Beständen; bei weiterer Nennung der Archive bzw. Unterarchive können die Abkürzungen verwendet werden].

Internetquellen: Autor so vorhanden, Titel des Beitrags, Institution, URL: (abgerufen Datum). Bitte mit rechter Maustaste den Hyperlink entfernen, so dass der Link nicht mehr blau unterstrichen ist. Yehuda Bauer, How vast was the crime, Yad Vashem, URL: http://www1.yadvashem.org/ yv/en/holocaust/about/index.asp (abgerufen 28. 2. 2011). Film: Vorname und Nachname des Regisseurs, Vollständiger Titel, Format [z. B. 8 mm, VHS, DVD], Spieldauer [Film ohne Extras in Minuten], Produktionsort/-land Jahr, Zeit [Minutenangabe der zitierten Passage]. Luis BuÇuel, Belle de jour, DVD, 96 min., Barcelona 2001, 26:00–26:10 min. Interview: InterviewpartnerIn, InterviewerIn, Datum des Interviews, Provenienz der Aufzeichnung. Interview mit Paul Broda, geführt von Maria Wirth, 26. 10. 2014, Aufnahme bei der Autorin. Die englischsprachigen Zitierregeln sind online verfügbar unter : https://www.verein-zeit geschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_verein_zeitgeschichte/zg_Zitierregeln_ engl_2018.pdf Es können nur jene eingesandten Aufsätze Berücksichtigung finden, die sich an die Zitierregeln halten!

Ausbau und Reform des Hochschulwesens in den 1960er- und 1970er-Jahren

Maria Wirth (Hg.)

Neue Universitäten Österreich und Deutschland in den 1960er- und 1970er-Jahren zeitgeschichte Sonderheft 2020. 181 Seiten, kartoniert € 35,– D / € 36,– A ISBN 978-3-8471-1079-8

In den 1960er- und 1970er-Jahren befand sich die Universitätslandschaft im Umbruch. Auch in Österreich kam es mit der Errichtung von drei Hochschulen in Linz, Salzburg und Klagenfurt zu einem Ausbau des Universitätswesens. Dieses Sonderheft der zeitgeschichte rückt die Neugründungen in den Mittelpunkt und betont die Frage, was neu an diesen Hochschulen sein sollte. Zudem beleuchtet es Veränderungen in der Bildungspolitik, im Hochschuldiskurs, auf Seiten der Studierenden und in der Universitätsarchitektur. Es gibt einen Überblick über die Universitätsgründungen in Deutschland sowie deren Rezeption in Österreich und zeichnet mit der Hochschuldebatte in Vorarlberg auch eine Entwicklung nach, die zwar zu keiner Universitätsgründung, immerhin aber zur Errichtung einzelner akademischer Einrichtungen führte.

www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com