Wahn: Definition - Psychodynamik - Therapie [1 ed.] 9783896449184, 9783896732088

Der Umgang mit Wahnerleben stellt einen zentralen Bereich psychiatrischen und psychotherapeutischen Handelns dar. Im vor

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German Pages 204 [205] Year 2004

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Wahn: Definition - Psychodynamik - Therapie [1 ed.]
 9783896449184, 9783896732088

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Peter Hartwich Š Arnd Barocka (Hrsg.)

Wahn Definition – Psychodynamik – Therapie

Mit Beiträgen von: A. Barocka, M. Grube, P. Hartwich, F. Langegger K. Maurer, S. Mentzos, M. Musalek, F. Pfeffer, B. Pflug, F. Poustka, Chr. Scharfetter

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-89673-208-0

© Verlag Wissenschaft & Praxis

Dr. Brauner GmbH 2004 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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Vorwort In der vorliegenden Buchpublikation, die sich auf die überarbeiteten und wesentlich erweiterten Vorträge des 9. Frankfurter Psychiatrie-Symposions bezieht, geht es um Wahnerkrankungen. Das ist eines der zentralen Themen unseres Faches. Aufgezeigt werden die historischen Auseinandersetzungen mit der Abgrenzung des Wahnphänomens gegenüber Religiosität, Glaube, Aberglaube, Überzeugung, subjektiver und objektiver Realität. Des Weiteren werden Differentialdiagnose sowie Darstellung der Krankheitsbilder im Kindes- und Jugend-, im Erwachsenen- und späteren Lebensalter von erfahrenen Klinikern und Forschern auf diesem Gebiet vorgelegt. Neue Beobachtungen und Überlegungen über die Psychodynamik des Festhaltens am Wahn im Sinne einer „Wahnsüchigkeit“ und des psychodynamischen Sinns als Gegenregulation und Antikohäsion werden ausführlich erörtert. Damit wird der therapeutische Umgang, dessen pharmakologischer Anteil in einem eigenen Beitrag dargelegt wird, durch psychotherapeutische Akzentsetzungen ergänzt. Darüber hinaus wird von einem Workshop über den Umgang mit Wahnkrankheiten berichtet, der nomothetisch orientierte Darstellungen um idiographisch ausgerichtete Fallbesprechungen ergänzt und die subtile psychodynamische Arbeit in der Interaktion mit dem einzelnen Patienten exemplifiziert. Es wird somit eine Zusammenstellung publiziert, die den Leser sowohl umfassend über die heutigen diagnostischen Perspektiven des Phänomens Wahn informiert und neue Orientierungen für den therapeutischen Zugang bietet. Die Herausgeber

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Inhalt Autoren....................................................................................................... 9

Was ist Wahn? ARND BAROCKA Was ist Wahn? .......................................................................................... 13 CHRISTIAN SCHARFETTER Weltbilder und Wahn ............................................................................... 29 STAVROS MENTZOS Warum ist der Wahnkranke sehr oft fast „wahnsüchtig“? .......................... 73 PETER HARTWICH Wahn – Sinn und Antikohäsion ................................................................ 85

Klinische Probleme bei Wahnkranken FRITZ POUSTKA Wahnerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ................................. 101 KONRAD MAURER Wahn im Alter ........................................................................................ 113 MICHAEL MUSALEK Parasitophobie und Parasitenwahn ......................................................... 125 FELIX PFEFFER UND MICHAEL GRUBE Pharmakotherapie des Wahns................................................................. 159

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Glaube und Wahn BURKHARD PFLUG Wahn und Religiosität............................................................................. 171 FLORIAN LANGEGGER (Aber)Glaube, Wahn, Normalität ............................................................ 181

Workshopbericht MICHAEL GRUBE Psychodynamische Behandlungsansätze bei Wahnkranken .................... 201

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Autoren Barocka, Arnd, Prof. Dr. med., Klinik Hohe Mark, Friedländerstr.2, 61440 Oberursel Grube, Michael, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Städt. Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65929 Frankfurt am MainHöchst Hartwich, Peter, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Städt. Kliniken, Gotenstraße 6-8, 65929 Frankfurt am Main-Höchst Langegger, Florian, Dr. med., em. Direktor der Psychiatrischen Klinik Zürichberg, Dufourstraße 165, CH-8008 Zürich Maurer, Konrad, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der J.-W.Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Strasse 10, 60528 Frankfurt am Main Mentzos, Stavros, Prof. Dr. med., em. Direktor der Abt. Psychosomatik der Universität Frankfurt/Main, Beethovenstr. 12, 60325 Frankfurt am Main Musalek, Michael, Prim. Univ. Prof. Dr., Anton Proksch Institut Wien, Mackgasse 7-11, A-1230 Wien Pfeffer, Felix, Dr. med., Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Städt. Kliniken, Gotenstr. 6-8, 65929 Frankfurt am MainHöchst Pflug, Burkhard, Prof. Dr. med., Leiter der Abteilung Klinische Psychiatrie II des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Heinrich-Hoffmann-Straße 10, 60528 Frankfurt/Main Poustka, Fritz, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt/Main, Deutschordenstraße 50, 60590 Frankfurt/Main Scharfetter, Christian, Prof. em. Dr. med., Psychiatrische Universitätsklinik, CH-8008 Zürich

Was ist Wahn?

ARND BAROCKA

Was ist Wahn? 1. Einleitung Die Frage nach dem Wesen des Wahns beschäftigt Ärzte und Kranke (und merkwürdigerweise auch Philosophen) seit Jahrhunderten immer wieder. Offensichtlich trat das Phänomen Wahn zu allen Zeiten und in allen Kulturen auf. Doch waren Deutung und Bewertung in jeder Kultur verschieden. Je nach eigener Geistesverfassung und Interessenlage ging man anders mit Wahnkranken um und sah andere Aspekte des Wahns als bedeutsam an. Dementsprechend gab und gibt es auch eine Vielzahl von Hypothesen zur Wahnentstehung. Selbst die begriffliche Definition ist bis heute nicht befriedigend gelungen. Wer auf die saubere Definition von etwas, das jeder mit ein wenig Übung leicht erkennen kann, Wert legt, der hat es schwer mit dem Begriff Wahn. 1989 erschien das Buch „Was ist Wahn?“ von Manfred Spitzer (1). Der vorliegende Beitrag hat einen anderen Zugangsweg und eine andere Zielsetzung als Spitzers Buch. Es handelt sich hier um eine Einführung für Leser, die mit den gängigen Wahntheorien noch weniger vertraut sind, um eine Grundlage für die Lektüre der folgenden Artikel zu schaffen; der Kenner wird dabei wenig Neues finden. Auf dem Weg zu Antworten auf die Frage „Was ist Wahn? “ wollen wir historische Stationen aufsuchen. Die historischen Konzepte sind oft sehr aktuell, und die Geschichte der Psychiatrie ist oft ihre Gegenwart.

2. Etymologie Sehen wir uns zunächst die sprachliche Herleitung der Fachausdrücke an. Woher kommt z.B. das Wort Wahn? Wenn man etymologisch korrekt sein will, muss man bei der Herleitung von dem vollständigen Wort, nämlich „Wahnsinn“ ausgehen. Sein erster Teil „Wahn-“ leitet sich von der althochdeutschen Vorsilbe wan ab, die für sich genommen kein eigenes Wort darstellt und deren Bedeutung „leer, vergeblich, nichtig“ (engl. vain) ist; also: leerer Sinn.

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Dazu kommt das mittelhochdeutsche Wähnen in der Bedeutung von „wünschen, unsicher meinen“ (vgl. Argwohn) (2). Wenn Hans Sachs in den Meistersingern von Nürnberg singt: Wahn, Wahn, überall Wahn, wohin ich sinnend blick’, in Stadt und Weltchronik – dann ist die ältere Form des vergeblichen Wünschens gemeint. Beide Bedeutungen fließen in unseren umgangssprachlichen Wahnbegriff ein, während der wissenschaftliche Wahnbegriff das unsichere und vergebliche Wünschen meist ausschließt und allenfalls eine Beziehung zum nichtigen Sinn herstellen kann. Etwas konkretere Aussagen ergeben sich bei der Etymologie von Fachausdrücken, die aus der lateinischen oder griechischen Nomenklatur stammen. Das Wort Delir ist aus dem Lateinischen de lira (aus der Furche) abgeleitet (2). Ganz ähnlich ist die ursprüngliche Bedeutung von Paranoia. Dieses Wort stammt aus dem Griechischen und leitet sich ab von pará= daneben, vorbei und noós= Sinn, Verstand; also: „neben dem Sinn, Ver-rücktheit“ (3). Das englische Wort delusion stammt vom lateinischen deludere = falsch spielen (4). Ergänzend könnte man umgangssprachliche Begriffe von heute nennen „von der Rolle“, „neben der Kappe“. Auf diese Weise ist schon eine erste Aussage möglich, und zwar darüber, was die Sprache implizit unter Wahn versteht: dass nämlich zuerst eine Struktur angenommen wird, die in irgendeiner Weise „richtig“ ist, wie die geradlinige Ackerfurche, die Spielregel oder – allgemeiner gesagt – der Sinn, dass aber im Wahn der Mensch aus dieser Struktur heraus geraten ist. Damit ist der Wahn ein Regelverstoß.[1]

[1]

Dass dieser Verstoß das Denken und nicht die Wahrnehmung betrifft, ist altes Wissen. Die Unterscheidung von Wahn und Halluzination wurde bereits von Asklepiades vorgenommen, der im 1. Jahrhundert vor Christus lebte: Ein Kranker, der ein Objekt sieht, es aber für etwas anderes hält, leidet an Wahn, während ein Kranker, der etwas hört, was andere nicht hören können, halluziniert. Der Name Asklepiades verweist auf Asklepios, den griechischen Gott der Heilkunst, und auf die Schule der Asklepiaden, die auch mit religiösen und psychosomatischen Vorstellungen arbeitete im Gegensatz zur Schule von Kos, die naturwissenschaftlich orientiert war. Seine Aussage zum Wahn ist nicht direkt überliefert, sondern wird bei Caelius Arelianus, einem römischen Arzt, zitiert (5).

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3. Spaltung und Identifikation: Reaktionen auf Wahn Wie gehen nun die verschiedenen historischen Epochen und die verschiedenen Gesellschaften, mit dem Regelverstoß um? Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Reaktion: Strenge und Nachsicht oder psychologisch formuliert: Spaltung und Identifikation.

3.1 Absolutismus und französische Revolution Zunächst einmal hat sich vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert die Haltung gegenüber psychisch Kranken (und das sind in vielen Fällen Wahnkranke) sehr verändert. Diese Entwicklung ist Gegenstand von Michel Foucaults Werk „Histoire de la folie“ aus dem Jahr 1961 (dt.: „Wahnsinn und Gesellschaft“ 1969) (6). Foucault beschreibt darin eine zunehmende Strenge gegenüber Wahnkranken in dem Maße, in dem Aufklärung und Rationalismus sich in Europa durchsetzen. Seine These: Der Wahn stört die Vernunft. Demgemäß ist im 18. Jahrhundert die Internierung von Wahnkranken als eine administrative Technik, sich ihrer zu entledigen, weit fortgeschritten. Der Name Philippe Pinels, des Direktors der Salpétrière in Paris während der französischen Revolution, symbolisiert für viele Psychiater eine andere Haltung, nämlich eine humane Haltung, die von Verständnis für den Regelverstoß geprägt ist. Pinel „befreit die Kranken von ihren Fesseln“ und veröffentlicht einfühlsame von Mitgefühl geprägte Krankengeschichten. Es kommt allerdings auch bei Pinel und seinen Nachfolgern nicht mehr zu einer Entlassung der Kranken oder zu einer Auflösung der Asyle. Die Internierung bleibt bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehen als administrative Basis der Irrenbehandlung. Nur innerhalb dieses nicht mehr in Frage gestellten Rahmens oszillieren die therapeutischen Konzepte zwischen einer liebevoll mitleidigen Position (wie in Conollys „no restraint“Konzept), und strengeren, zum Teil brutalen Interventionen (6).

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3.2 Psychiker und Somatiker Dennoch reflektiert zumindest die Theorie weiterhin unterschiedliche Reaktionen auf den Regelverstoß Wahn je nach dem Selbstverständnis des jeweiligen Autors. So vertrat der Leipziger Psychiater Johann Christian Heinroth 1773-1843 zu Beginn des 19. Jahrhunderts die (seitdem heftig kritisierte) Auffassung, dass psychische Symptome Folgezustände eines zunächst moralischen Versagens seien. Er bezeichnet normalpsychologische Fehlentwicklungen („Leidenschaft, Selbsttäuschung und Laster“) als „primäre Krankheit“, die eine „sekundäre Krankheit“ etwa Melancholie, Wahnsinn und Tobsucht zur Folge hat. Der Verstoß gegen moralische Regeln als primäre Krankheit führt zum Verstoß gegen die Regeln des richtigen Denkens, zum Wahnsinn, zur sekundären Krankheit. Heinroth gehörte in Deutschland zur Gruppe der sog. Psychiker, die stark von romantischen Ideen bestimmt war und als Vorläufer der Psychotherapie und Psychosomatik gilt. Die Gegenbewegung der sog. Somatiker war mehr naturwissenschaftlich geprägt. Sie sah Wahn als Ausdruck einer letztlich körperlichen Erkrankung und steht damit den meisten heutigen Ärzten wahrscheinlich näher. Aber auch diese Schule ist nicht ideologiefrei, sondern einer positivistischen Fortschrittsphilosophie zuzuordnen. Die vom Bürgertum bestimmte Gesellschaft, deren Grundlage die Fortschrittsphilosophie war, litt ihrerseits und leidet bis heute unter erheblichen Spannungen, die sich auch in der Interpretation des Wahns zeigt. Ein Beispiel hierfür ist die Vorstellung, dass zwischen Wahn und Genialität eine besondere Beziehung bestehen soll. Wahn und Genialität In Deutschland wurde durch Wilhelm Lange-Eichbaum (7) die Vorstellung populär, dass geniale Menschen eine besondere Anfälligkeit für Erkrankungen, insbesondere psychische Erkrankungen haben. Bereits 1886 hatte der Philosoph Wilhelm Dilthey einen Vortrag über „Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn“ gehalten. Er zeigt Unterschiede, aber eben auch Ähnlichkeiten zwischen Genie und Wahnsinn auf (8). Die soziale Relevanz dieses Denkens ist folgende: Der Künstler, insbesondere in seiner extremen Ausprägung als Genie, ist der Antipode des Bürgers in der bürgerlichen Gesellschaft. Er hat besondere Rechte und Freiheiten, die dem Bürger normalerweise nicht eingeräumt werden. Der Künstler je-

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doch nimmt sich diese Rechte. So durchzieht die Sehnsucht danach, ein Künstler zu sein, die bürgerliche Gesellschaft. Sie stabilisiert sie aber auch, denn sie bietet zumindest die Hoffnung und grundsätzliche Möglichkeit (wenn auch nur für wenige Ausnahmemenschen) dass individuelle narzisstische Bedürfnisse in stärkerem Maße befriedigt werden. Da auch der Wahnkranke zumindest in seinem Denken sich besondere Freiheiten zu gestatten und über eine besondere Kreativität zu verfügen scheint, wird er in einer exotischen Weise interessant. Dieses Interesse besteht fort, solange die Doppelfigur Bürger-Künstler relevant ist. Die wahnsinnigen Künstler Lenz, Hölderlin, Schumann sind aus diesem Grunde hoch bedeutsam für das Selbstverständnis der Kultur. Schon die Romantik hatte den Wahn in diesem Sinne gewissermaßen überhöht: „Die Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben“, schreibt der Philosoph Friedrich Wilhelm v. Schelling 1810, „sind die Menschen von leerem unfruchtbaren Verstand. Daher der göttliche Wahnsinn, von dem Plato, von dem die Dichter sprechen“ und Victor v. Weizsäcker, im 20. Jahrhundert der Begründer der psychosomatischen Medizin in Deutschland, in seinem Werk Pathosophie: „Wir verdanken dem Wahn mehr als dem Wissen.“ (8) Hier ist ein hohes Maß an Identifikation erreicht[2]. Wir halten fest, dass die eigene Position zum Wahn, als die eines Gesunden, sehr unterschiedlich und von politischen, sozialen und biographischen Umständen geprägt sein kann. In der Beziehung zum Wahnkranken müssen wir uns über diese eigenen Prägungen und ihre Folgen für die Gegenübertragung Rechenschaft ablegen.

4. Inhalt des Wahns Wenn der Wahn, wie Schelling und Weizsäcker meinen, wichtige Botschaften enthält, werden seine Inhalte wichtig. Ein Wahninhalt ist nun allerdings definitionsgemäß falsch. So lautet die Definition des DSM-IV: Falsche persönliche Überzeugung aufgrund unrichtiger Folgerungen aus der Realität, die fest beibehalten wird, trotz abweichender Ansichten fast aller anderen Personen und trotz aller unwiderlegbaren Beweise des Gegenteils. Diese Überzeugung wird nicht von den Angehörigen derselben Kultur oder

[2]

Eine noch höhere Identifikation kann vorkommen, wenn die Wahninhalte von der sozialen Umwelt des Kranken übernommen werden wie im Fall des „falschen jüdischen Messias“ Sabatai Zwi, der wahrscheinlich an einer affektiven Psychose litt (9).

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Subkultur des Betreffenden geteilt (ist also kein religiöser Glaubensinhalt).(10)“ Jaspers (11), dessen Kriterien bis heute den größten Einfluss ausüben, nennt folgende Merkmale: •

Außergewöhnliche Überzeugung und subjektive Gewissheit



Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und durch zwingende Schlüsse



Unmöglichkeit des Inhalts.

Diese Unmöglichkeit des Inhalts betrifft aber ein gewissermaßen alltägliches common-sense Verständnis von Unmöglichkeit. Man kann nicht sagen, Jaspers sei widerlegt, weil man zum Beispiel Wahninhalte psychoanalytisch zu deuten vermöge. Geht man über das Alltagsverständnis hinaus und bedient sich eines Verfahrens der Interpretation, dann befindet man sich auf einer anderen Verständnisebene. Hier können Wahninhalte durchaus etwas Richtiges aussagen, wobei der Wert der Aussage natürlich mit dem Wert des Interpretationsverfahrens steht und fällt. 4.1 Epochale Einflüsse auf Wahninhalte Ein nahe liegendes Verfahren der Inhaltsanalyse des Wahns erfasst z.B. die persönlichen und sozialen Relevanzen des Kranken und damit das, was in seiner Zeit gesellschaftlich gewissermaßen „in der Luft“ liegt. Lenz (12) wertete 1964 Akten einer ländlichen österreichischen Anstalt aus und stellte fest, dass Verfolgungswahn sich vor 1900 häufig auf „die Preußen“ bezog, in den 20iger Jahren auf „die Sozialdemokraten“, in den 50iger Jahren auf „die Russen“. Auch der erste Weltkrieg wurde von Wahnkranken einige Jahre vorher sensibel vorausgespürt. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass man mit zunehmender Säkularisierung einen Rückgang religiöser Wahninhalte sieht. Schwieriger zu interpretieren ist der beobachtete Rückgang grandioser Wahnideen. Auf diese Weise können jedoch, allgemein gesprochen, Theorien über die soziale und historische Umwelt des Wahnkranken formuliert werden. 4.2 Assoziation und Wahn Wichtiger für Therapeuten individueller Patienten ist vielleicht die Frage, ob Wahninhalte entstellte, aber entschlüsselbare wahre Aussagen des Kranken über sich selbst enthalten. Die Entstellung des Textes kann auf Merkmalen des schizophrenen Denkens wie dem Konkretismus oder den Neolo-

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gismen beruhen. Eugen Bleuler und seine Schule versuchten durch assoziationspsychologische Verfahren das Denken des Wahnkranken zu verstehen (8). Das ist ein interessanter Ansatz, der auch heute von den kognitiven Neurowissenschaften mit Verfahren der neuronalen Netzwerken verfolgt wird. 4.3 Psychoanalytische Deutung von Wahninhalten Ein Klassiker der psychoanalytischen Wahntheorie ist Freuds Schrift „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)“ aus den Jahren 1910-12. Zugrunde lag dieser Schrift das Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ von Daniel Paul Schreber, der darin seine Wahnsymptomatik selbst beschreibt. Das Buch erschien nach der zweiten von insgesamt drei stationären Behandlungen. Zu Schrebers Biographie gehört wesentlich sein berühmter Vater, ein damals sehr bekannter Orthopäde, der seine schmerzhaften und einengenden Methoden an den eigenen Kindern erprobte. Der Wahn des jüngeren Schreber bestand nun darin, dass er berufen sei, die Welt zu erlösen, dass sich dafür aber sein Körper in den einer Frau umwandeln müsse – ein Prozess, der mit unvorstellbaren Leiden verbunden war. Von seinem Arzt fühlte er sich verfolgt. Die Pointe der Interpretation Freuds ist es, aus diesen Wahninhalten folgenden Schluss hinsichtlich des zweiten Erkrankungsschubs zu ziehen, „dass der Anlass der Erkrankung das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie war, welche die Person des Arztes zu ihrem Objekte genommen hatte“. Weitere Symptome – Bestrahlung durch den Sonnengott, Stimmen, Gedankeneingebung – werden in Hinblick auf die massiv gestörte Vaterbeziehung gedeutet. Dieses Beispiel reicht sicher nicht, um eine Vorstellung von dem großen Gebiet „Psychoanalyse und Wahn“ zu erhalten. Es zeigt aber, dass hermeneutische d.h. verstehend interpretierende Zugänge zu Wahninhalten seit Ende des 19. Jahrhunderts möglich sind. Sie wurden immer wieder versucht und zwar nicht nur von Psychoanalytikern, sondern auch von phänomenologisch oder dynamisch orientierten Psychiatern.

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5. Struktur des Wahns Mindestens ebenso bedeutsam wie der Inhalt des Wahns ist für Psychopathologen seit jeher seine Struktur. So war es schon am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert eine wichtige Frage, ob eine Wahnsymptomatik relativ isoliert auftreten kann ohne Beeinträchtigung anderer Persönlichkeitsbereiche als sog. „partielles“ im Gegensatz zum generalisierten Delir. 5.1. Partieller Wahn Jean Etienne Esquirol, der wichtigste Schüler Pinels, entwickelte die Lehre von den Monomanien, zu denen etwa Erotomanie oder Querulantenwahn gerechnet wurden. Monomanie hat nichts mit dem modernen Begriff der Manie im Sinne einer affektiven Gehobenheit zu tun, sondern ist noch aus dem alten Begriff der mania in der allgemeinen Bedeutung von Irrsinn und Raserei zu verstehen (8). Die Monomanien können als Vorläufer der Paranoia und der sog. monosymptomatischen Psychosen gelten, also etwa der Dysmorphophobie oder des Eigengeruchswahns. Obwohl sich diese Erkrankungen meist nicht auf ein einziges Symptom beschränken, sind andere Persönlichkeitsfunktionen der Patienten relativ wenig beeinträchtigt verglichen mit einer generalisierten Wahnkrankheit wie der Schizophrenie. 5.2 Die Wahnwahrnehmung Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung struktureller Aspekte des Wahns ist das Konzept der Wahnwahrnehmung bei Kurt Schneider (14). Er versteht darunter die Situation, „wenn wirklichen Wahrnehmungen ohne verstandesmäßig (rational) oder gefühlsmäßig (emotional) verständlichen Anlass eine abnorme Bedeutung, meist in der Richtung der Eigenbeziehung, beigelegt wird.“ Schneider wie auch vor ihm Jaspers und Gruhle unterscheidet in seiner Klinischen Psychopathologie die Wahnwahrnehmung vom Wahneinfall anhand ihrer psychologischen Struktur: während sich der Wahneinfall nur im Denken abspielt, besteht die Wahnwahrnehmung aus zwei (psychologischen) „Gliedern“‚ einer Sinneswahrnehmung und einem Wahngedanken, der daran anknüpft und diese Sinneswahrnehmung wahngemäß als Eigenbeziehung interpretiert. Die Wahnwahrnehmung ist ein Symptom 1. Ranges für die Schizophrenie und damit diagnostisch besonders aussagekräftig.

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Warum? Weil die Identifizierung dieser spezifischen Wahnstruktur den Diagnostiker unabhängig von den Unklarheiten des Inhalts macht. Denn die Aufgabe, die Falschheit oder Unmöglichkeit einer persönlichen Überzeugung nachzuweisen, kann durchaus zur Überforderung werden. Arbeitet der Patient wirklich für den Geheimdienst? Ist seine Ehefrau wirklich untreu? Von solchen Überlegungen nicht abhängig zu sein, ist ein großer Vorteil für die Diagnostik. Die Grenze zwischen Wahrnehmung und Wahngedanken wird noch dadurch verdeutlicht, dass die Wahrnehmung für Schneider eine „wirkliche“ oder „harmlose“, jedenfalls nicht eine bereits krankhaft veränderte Wahrnehmung ist. Wahn ist nur ihre Interpretation. Ein Beispiel aus der Klinischen Psychopathologie: „Ein Hund auf der Stufe eines katholischen Schwesternhauses lauerte mir in aufrecht sitzender Haltung auf, sah mich ernst an und hob eine Vorderpfote hoch, als ich in seine Nähe kam. Zufällig ging einige Meter vor mir eine andere männliche Person des Weges, die ich eiligst einholte und schnell kontrollierte, ob der Hund vor ihm auch präsentiert hätte. Ein staunendes Nein von diesem setzte mich nun in die Gewissheit, dass ich es hier mit einer deutlichen Offenbarung zu tun hatte.“ Dieses Beispiel vom Meister selbst zeigt die beiden psychologischen „Glieder“, Bild und Interpretation, zugleich aber auch, dass die Wahrnehmung selbst vielleicht doch nicht so „wirklich“ und „harmlos“ ist, sondern durch den Wahn schon mit einer ominösen Bedeutung gefärbt („lauerte mir auf, sah mich ernst an“). Diesen Einwand formulierte mit Recht P. Matussek (1). Aber auch, wenn man diesen Einwand anerkennt, stellt die Wahnwahrnehmung gegenüber der Wahnidee doch eine Zuspitzung dar: die Umwelt des Kranken wird in den Wahn einbezogen, der Wahn hat gleichermaßen vom Innen und vom Außen Besitz ergriffen. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch die Wahnstruktur eine Dynamik besitzt. Sie kann sich ausbreiten, fokussieren, verdeutlichen, zurückziehen. 5.3 Die beginnende Schizophrenie (K. Conrad) Einen exzellenten Einblick in die Dynamik sich entwickelnder Wahnstrukturen findet man in Klaus Conrads Werk „Die beginnende Schizophrenie“ (15). Der besondere Wert dieses Buchs liegt darin, dass das Drama der ersten Wochen einer schizophrenen Erkrankung, das Drama der Auseinandersetzung des Patienten mit einer krankhaft veränderten Welt und die Veränderungen und Anpassungsleistungen, denen er selbst unterliegt, anschaulich dargestellt werden. Aus diesem Grunde lohnt es sich, die von Conrad

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gebildeten Begriffe Trema, Apophänie und Anastrophé zu kennen und zu verwenden. Im Trema (griech. Zittern, Sich Fürchten), der ersten Stufe der Wahnentstehung hat auch die von Jaspers so genannte Wahnstimmung (besser: Wahnatmosphäre; Berner; 16) ihren Platz. Die Apophänie (griech, apophaíno ans Licht bringen) bezeichnet den Moment der Gewissheit, die Beziehungssetzung und die Wahnwahrnehmung. Anastrophé (griech. Schwenkung, Umkehr) gehört in die Phase der Apophänie hinein und bezeichnet die Situation, dass der Kranke in gewisser Weise ständig im Mittelpunkt steht, beobachtet, gefilmt oder geprüft wird. Es ist ein „Schwenk“ einer imaginären Kamera erfolgt, die von nun an nur noch auf den Kranken gerichtet bleibt. Conrads Darstellung macht noch mehr als Jaspers und Schneider deutlich, dass Wahngedanke oder Wahnwahrnehmung keine isolierten Symptome sind, sondern dass sich im Wahn eine für den Kranken neuartige und beängstigende Welt bildet, die Wahnwelt, aus der sich die einzelnen Wahnsymptome ableiten. Wir halten fest, dass Wahnstrukturen eine Dynamik aufweisen, die etwas über die Auseinandersetzung des Kranken mit seiner Symptomatik, die Wahnarbeit, aussagt.

6. Ursachen des Wahns Als Ursachen von Wahn vermutet man bis zum 18. Jahrhundert ungezügelte Leidenschaften – also eine Basis im affektiven Bereich, aber nicht nur, denn bei seinen Gefühlen eine goldene Mitte einzuhalten, ist seit der Antike auch eine moralische Forderung an die Lebensführung. Daneben dient der Wahnsinn auch als Argument der Zivilisationskritik: Verweichlichung, Luxus, Reisen, Lektüre von Romanen, Theater und andere Vergnügungen sollen in ungesunder Weise die Einbildungskraft steigern und zum Wahn führen. Häufig werden Wahn und Traum miteinander gleichgesetzt vor allem später von romantischen Autoren. Daneben werden auch biologische Theorien formuliert: Wahnerkrankungen sind eine Folge von Ernährungsfehlern (Paracelsus), Giften, Stoffwechselstörungen oder Funktionsstörungen im Hirnkreislauf (Cullen) (5,8). Bei dieser verwirrenden Fülle spekulativer Ursachen stellt sich die Frage nach einem Ordnungsprinzip. In welchen Kategorien kann man überhaupt nach Ursachen für Wahn fragen?

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Zunächst kann man natürlich die psychischen Erkrankungen betrachten, in deren Verlauf Wahn als ein Symptom auftritt. Man kann ihre Ursachen diskutieren oder sie selbst als Ursache des Wahns darstellen. Ebenso lassen sich auf der Symptomebene Entwicklungsschritte beschreiben, die zum Wahn hinführen, z.B. von der depressiven Verstimmung zum Schuldwahn, von der Halluzination zum Verfolgungswahn. Man kann konstitutionelle Eigenschaften des Kranken untersuchen, z.B. seine Persönlichkeit oder äußere belastende Faktoren. Schließlich kann man neurophysiologische und interaktionelle Bedingungen formulieren, die in den Wahn einmünden oder die – das ist nicht immer leicht zu trennen – Wahn letztlich nur in ihr jeweiliges Begriffssystem übersetzen. 6.1 Degeneration Die Degenerationslehre war eine Theorie der Entstehung von Krankheiten. Sie wurde im 19. Jahrhundert in Frankreich entwickelt. Man verstand darunter eine Krankheitsdisposition, die auf unklare Weise vererbt war. In einer Zeit vor der Humangenetik mussten derartige Vorstellungen über Vererbung notwendigerweise unklar bleiben. Man stellte sich vor, dass die defizitäre Entwicklung sich von Generation zu Generation verstärkte. So nahm man an, dass auf eine Generation mit neurotischen Störungen in der nächsten Generation Psychosen folgten, auf die Psychosen in einer weiteren Generation die Idiotie. Man erkannte Degenerierte an äußeren Merkmalen wie der Form der Ohren. Auch Wahnkrankheiten wurden z.B. von Magnan (17) auf Degeneration zurückgeführt. Interessanterweise galt auch Genialität als eine Form von Degeneration in der Form einer dégénerescance supérieure. Die Degenerationslehre wurde am Beginn des 20. Jahrhunderts verlassen, weil sich die Degenerationsmerkmale empirisch nicht bestätigen ließen und auch zunehmend gravierende Diagnosen in der Abfolge von Generationen einer Familie nicht nachgewiesen werden konnten. Sie ist dennoch von Bedeutung als Vorläufer der Lehre von den endogenen Psychosen. 6.2 Wahn bei psychischen Erkrankungen Berner (16) hat seit den 60er Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass Wahn etwas diagnostisch Unspezifisches ist, da er bei einer hirnorganischen Schädigung, einer affektiven Störung, einer Schizophrenie oder einer abnormen psychogenen Entwicklung auftreten kann. Diese nüchterne Haltung war aber nicht von Anfang an selbstverständlich.

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6.3 Primärer Wahn Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es klar, dass Wahn aus einer Melancholie oder Manie abgeleitet sein kann. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden dann primäre Wahnerkrankungen von mehreren Autoren gewissermaßen entdeckt und neu beschrieben (Snell, Griesinger, Westphal [8]). Viele dieser damals beschriebenen Bilder würde man heute als Schizophrenie bezeichnen, doch lassen sich auch wahnhafte Störungen erkennen. 6.4 Grundstörungen als Basis für Wahn Im 20. Jahrhundert war man früh der Meinung, dass auch der primäre Wahn Folge einer zugrunde liegenden, vielleicht diskreten, anderen Störung ist. Für Eugen Bleuler (18) war diese zugrunde liegende Störung ein pathologischer Affekt; den Wahn bezeichnete er als „akzessorisches“ Symptom. Kraepelin (8) beschrieb 1909 die „Psychose der Schwerhörigen“ als Folge einer gestörten Sinneswahrnehmung. Berze (19) stellte eine spezifische Aufmerksamkeitsstörung mit vermehrter Ablenkbarkeit fest. Huber (20) beschrieb Basisstörungen als z.B. Störungen der Wahrnehmung, des formalen Denkens oder der Aufmerksamkeit. Wahn ist dann ein unzureichender Versuch diese Defizite zu kompensieren. 6.5 Entwicklung oder Prozess? „Entwicklung oder Prozeß?“ nennt Jaspers die Grundfrage der Psychopathologie. Entwicklung ist ein verständlicher in eine Persönlichkeit harmonisch eingebundener Vorgang, Prozess dagegen krankheitsbedingt, damit im Bruch zur Persönlichkeit stehend, nicht unmittelbar verständlich. Beim Wahn stellt sich diese Frage ebenfalls. Für Jaspers ist allerdings echter Wahn immer Ausdruck eines Prozesses. Man kann vielleicht die Wahninhalte verstehen, nicht aber das Auftreten des Wahns an sich, den paranoiden Mechanismus. Dementsprechend hatte die Schule von Jaspers und Schneider auch gewisse Schwierigkeiten mit dem Konzept des Sensitiven Beziehungswahns von Ernst Kretschmer (21). Dieser wurde von Kretschmer als ein psychogener Wahn, Ergebnis einer verstehbaren Persönlichkeitsentwicklung, dargestellt. Zugrunde liegt eine sensitive Persönlichkeitsstruktur. Ein traumatisches Ereignis („Schlüsselerlebnis“) setzt die Entwicklung in Gang. Als weitere Beispiele für Psychogenese des Wahns werden die folie à deux genannt, der Wahn von Kriegsgefangenen in sprachfremder Umgebung und

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auch der schon erwähnte Wahn der Hörgeschädigten, denn die Wahrnehmungsstörung hat auch unmittelbare psychische Folgen. 6.6 Anthropologische Psychiatrie Parallel zur naturwissenschaftlichen Psychiatrie entwickelte sich im 20. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich die anthropologische Psychiatrie, die von der Husserlschen Phänomenologie geprägt war. Der im Oktober 2002 verstorbene Marburger Psychiater Wolfgang Blankenburg war ein prominenter Vertreter dieser Richtung, dessen Einfluss noch lange fortbestehen wird. Er hat sich intensiv mit dem Wahnproblem beschäftigt und wesentliche Beiträge zum Verständnis geleistet, indem er einerseits die Welt des Wahnkranken im Einzelnen anschaulich vergegenwärtigte, andererseits aber Ordnungsprinzipien entwickelte und pathogenetische Zwischenglieder einführte, die eine eigentümliche, aber klinisch hilfreiche Art von Verstehen ermöglichten. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf sein Buch „Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit“ (22) und auf den von ihm herausgegebenen Kongressband „Wahn und Perspektivität“(23).

7. Schlussbemerkung Damit sind wir in der Gegenwart. Spitzer (1) versucht eine sprachanalytische Erläuterung, die folgendermaßen abgeleitet ist: Wahn ist ausgezeichnet durch subjektive Gewissheit und Unkorrigierbarkeit. Ein Gesunder spricht mit subjektiver Gewissheit und ist nicht korrigierbar, wenn es um seine eigenen inneren Zustände geht. Demnach ist Wahn eine Übertragung dieser Art zu denken, die für innere Zustände des Selbst angemessen ist, auf die Außenwelt. Oder man könnte sagen, die Außenwelt wird behandelt, als sei sie ein Teil des inneren Selbst. Auch diese Definition – oder ist es nur eine Vergegenwärtigung des Wahnerlebens? – ist kritisiert worden (Cutting, 23). Doch kann man in jedem Fall sagen, dass die Auseinandersetzung um die Frage „Was ist Wahn?“ weitergeht. Wir halten fest, dass viele Ursachen für Wahn angeschuldigt wurden und werden. Es spricht vieles dafür, dass Wahn ein durch andere Störungen vermitteltes Phänomen ist. Nicht immer leicht ist es, zwischen Ursachen und Wesen des Wahns zu unterscheiden.

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Die Behandlung von Wahn ist auch heute oft schwierig vor allem in den Fällen, in denen Neuroleptika nicht ansprechen. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, eine Beziehung zum Wahnkranken herzustellen. Deshalb wird jeder Therapeut sich um eine eigene Position zum Verständnis des Wahns bemühen müssen. Gute Kenntnisse über die verschiedenen Konzepte, die zugleich verschiedene Aspekte des Wahns illustrieren, helfen dabei die notwendige Empathie zu entwickeln.

WAS IST WAHN?

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Literatur (1)

Spitzer, M: Was ist Wahn? – Untersuchungen zum Wahnproblem. Springer Verlag Berlin u.a. 1989

(2)

Wasserzieher E: Woher ? – ableitendes Wörterbuch der deutschen Sprache. 16. Auflage bes. v. Werner Betz. Ferd. Dümmlers Verlag Bonn 1963

(3)

Gemoll W: Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch. 9.Auflage Verlag Hölder-Picher-Tempsky Wien 1991

(4)

Hamlyn: The New Hamlyn Encyclopedic Word Dictionary. Revsd. Ed. Hamlyn Publishing Group. London 1988

(5)

Stone MH: Healing the Mind – A History of Psychiatry form Antiquity to the Present. Pimlico London 1998

(6)

Foucault M: Wahnsinn und Gesellschaft : eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main,1969. Originaltitel: Histoire de la folie

(7)

Lange-Eichbaum, W: Genie, Irrsinn und Ruhm. Reinhardt Verlag München u.a. 1987

(8)

Leibbrand, W, Wettley A: Der Wahnsinn – Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Karl Alber Verlag Freiburg 1961

(9)

Barocka A: Sabbatai Zwi – ein falscher jüdischer Messias. Schweiz. Arch. f. Neurol., Neurochirurg. u. Psychiat. 136, 3 (1985) 43-54

(10) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fourth Edition. American Psychiatric Association Washington D.C. 1994 (11) Jaspers K: Allgemeine Psychopathologie. 1. Auflage Springer Verlag Berlin 1913 (12) Lenz H: Vergleichende Psychiatrie. Wilhelm Maudrich Verlag Wien 1964 (13) Freud S: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch berichteten Fall von Paranoia. Dementia paranoides. 1910-12. Studienausgabe Band VII S. 133-201 S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 1973 (14) Schneider K: Klinische Psychopathologie. Georg Thieme Verlag Stuttgart 1. Auflage 1946 (15) Conrad K: Die beginnende Schizophrenie – Versuch einer Gestaltsanalyse des Wahns. Georg Thieme Verlag Stuttgart 6. unveränd. Auflage 1992 (16) Berner P : Das paranoische Syndrom. Springer Verlag Berlin 1965 (17) Magnan V: Leçons cliniques sur les maladies mentales. Lecrosnier Paris 1893 (18) Bleuler E: Affektivität, Suggestivität und Paranoia. Harhold Verlag Halle 1906 (19) Berze J: Das Primärsyndrom der Paranoia. 1903 (20) Huber G, Gross G: Wahn. Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1977

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(21) Kretschmer W: Der sensitive Beziehungswahn. 1. Auflage Springer Verlag Berlin 1911 (22) Blankenburg W: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien. Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1971 (23) Blankenburg W (Hrsg.):Wahn und Perspektivität – Störungen im Realitätsbezug des Menschen und ihre Therapie. Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1991 (24) Cutting J: Principles of Psychopathology. Oxford Medical Publications 1997

CHRISTIAN SCHARFETTER

Weltbilder und Wahn1 Warum wir bestimmte Weltanschauungen nicht Wahn nennen dürfen. Ein Blick in die Werkstatt der Seele am Beispiel der Tierkommunikation.

1. Warnung vor der Pathologisierung von sonderbaren Weltanschauungen Manche Weltanschauungen, die heute in der New-Age-Kultur blühen, scheinen auf einen oberflächlichen Blick gewisse Ähnlichkeiten in ihrer Form und auch im Motivationsgrund mit Wahn aufzuweisen, indem ein „Wissen“, Durchschauen, gar Beeinflussenkönnen von Geschehnissen, ihren Ursachen, ihrer Bedeutung, ihrem Sinn mit selbstbestätigender Gewissheit vorgetragen werden und die Lebensführung bestimmen, von Geschehnissen, die „gewöhnlichen“ Menschen nicht erkennbar sind. Bei einem achtsamen Studium eines aktuellen Beispiels aus der Naturmythik, der Tierkommunikation, trifft man auf ein germinatives, d.h. hier für ad-hocKreationen offenes und nicht in sich abgeschlossenes, weltanschauliches System von „Wissen“ über eine „non-ordinary reality“ (Castaneda 1974) jenseits des intersubjektiv und in Repetition überprüfbaren Wissens der „ordinary reality“, der common-sense Alltagsrealität, das den Nicht-Eingeweihten immer wieder verblüfft, zu Staunen, Bewunderung, Befremden bringt oder ihn im Abseits („ausserhalb der Kirche“) positioniert. Diese Weltanschauungen, die sich in ihren einzelnen Vertretern und in einer Work-shop-vermittelten Schule kundgeben, mögen den Aussenstehenden recht eigenartig, sonderbar, nicht nachvollziehbar anmuten, als ausserhalb des common-sense, der kulturell gültigen Norm zu lokalisieren. Sie mögen dem unzureichend ausgebildeten Psychiater oder Psychologen, der in einem anderen Welt- und Menschenbild und ihren Normen gefangen ist, gar wie ein Wahn erscheinen. Gerade darum ist es angebracht, vor voreili1 Nach einem Vortrag am 23.11.2002 beim 9. Frankfurter Psychiatrie-Symposium zum Thema Wahn.

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gen Pathologisierungen solcher weltanschaulichen Systeme und ihrer Träger zu warnen. Der britische Religionspsychologe Starbuck hat schon 1899 kritisch die Pathologisierungstendenz von Psychiatern (man nannte sie damals „alienists“, die mit den geistig einer gemeinsamen Weltverständigung Entfremdeten umgingen) angesprochen: „There are the alienists who are constantly on the lookout for some abnormal tendency, and, consequently, are sure to find it“ „The alienist thinks in terms of psychiatry. He casts his pathological net2, and anything sufficiently exaggerated above commonplaceness so that it cannot slip through the meshes he claims as his.“ Tatsächlich finden sich genügend Beispiele für die Vereinnahmung vieler Erlebnis- und Verhaltensweisen von prominenten Gestalten der Geschichte durch Autoren, die sich selbst Expertentum im Gebiet der Psychiatrie attribuierten (Scharfetter 2000). Die Pathologiezuschreibungen an Jesus sind ein makabres Beispiel, das Albert Schweitzer in seiner medizinischen Dissertation (1913) kritisch ausarbeitete. Die zahlreichen Pathologisierungen von Genialen, Hochbegabten, Künstlern sind in Lange-Eichbaum (1967) gesammelt. Die Tendenz zur oberflächlichen Gleichsetzung von ungewöhnlich und in diesem Sinn abnorm und – noch schlechter – von abnorm mit pathologisch ist weit verbreitet, leider auch bei „Experten“, die die Grenze klar ziehen zu können wähnen. So fand im 20. Jahrhundert die Öffnung der (zunächst USamerikanischen) Psychologie verschiedener Bewusstseinszustände und ihrer Inhalte, ob nun pharmakogen oder durch andere Techniken induziert oder spontan auftretend, auch wieder vielfach Grund, das „psychiatric symptom hunting“ (Ornstein 1976) kritisch anzumerken. Dabei waren die dimensionalen Übergänge von gesund (adaptiv) zu krank (maladaptiv, dysfunktionell, pathologisch) längst schon von tiefer blickenden Psychiatern des 19. Jahrhunderts anerkannt, zusammen mit der Einsicht, dass das Studium von Wahnsinnigen tiefe Einblicke in die Psyche von Gesunden ermöglicht, „wie mit dem Mikroskop“ (Ideler 1847).

2 Ob sich der Autor der impliziten Ironie in der Wahl des Adjektives „pathological“ zur Kennzeichnung des Suchmusters (net) nach Psychopathologie bewusst war?

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Hagen (1870) schrieb: „Auch die kranke Seele kann so wenig wie die gesunde etwas ganz Neues schaffen“. Die Werkstatt des Wahns, genauer der vielen verschiedenen Wahngestaltungen, ist die menschliche Psyche, das Bewusstsein, das sich ein Bild, eine Deutung von Selbst und Welt und der Beziehung des Menschen zu seiner Welt erschafft: Konstruktivismus in der Epistemologie, Mythopoiese in der Kulturgeschichte sind die Stichworte dazu (Scharfetter 2003). Da gilt es zu bestimmen, wann Wahn als Metapher gebraucht wird (z.B. Nietzsche: „Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel“, 156), wann als abschätziges Urteil über Andersdenkende, und wann der restriktive Gebrauch als psychopathologischer Terminus berechtigt ist: Nur ein bestimmtes Wähnen, das den Träger dysfunktionell und infirm werden lässt, in der Bewährung in seinem soziokulturellen Kontext versagen lässt, darf als psychopathologisches Symptom genommen werden.

2. Weltanschauungen und Mythen Weltanschauung – der Ausdruck bezeichnet die Gesamtheit der lebenswirksamen (nicht nur der verbal bekannten, gar predigend verkündeten) expliziten und impliziten, ausgeformten oder auch amorph-unbestimmt bleibenden Vorstellungen von der Welt (das ist immer Menschen-Welt) und dem Menschen in ihr. Soweit Weltanschauung explizit wird, präsentiert sie sich als Mythos (mit bestimmten Topoi [Kernen, Themenkomplexen], die Mythologeme genannt werden), als Konfession, Doktrin eines Glaubenssystems oder als „Philosophem“, philosophisches Lehrstück. Es mag manchen erstaunen, Weltanschauung und Mythik so nah in Verbindung zu bringen. Weltanschauung geht „aufs Ganze“. Das kann Wissenschaft nie. Wissenschaft steht immer nur in bestimmten (oft recht engen) Perspektiven auf „die Welt“, Ausschnitte (oft recht künstliche) aus ihr; sie kann nie „alles“ erfassen, kommt auch nicht zu einem abschliessenden Wissen. Das Bekenntnis zur Rationalität ist noch keine Weltanschauung, sondern eine Einstellung, die das rational Erfassbare studiert und dabei selbstbescheiden der Grenzen eingedenk bleibt. Wo Rationalität und Wissenschaft in Selbstverblendung „die Wahrheit, das Wesen u.ä.“ zu erfassen wähnen, sind ihre Träger einer Illusion erlegen. Ihre Weltbilder sind dann als „negative Mythik“ zu kennzeichnen (es gibt nur Energie, Materie, Wel-

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len – und aus diesen ist im big bang die Welt und die evolutionär gedeutete Lebenskette und schliesslich „Geist“, Bewusstsein entstanden). Echte Rationalität wird gerade auf das Transrationale aufmerksam und damit offen sein für Spiritualität, ohne sie konkretistisch vereinnahmen zu wollen (wie das „Geistheiler“ tun). Der Ausdruck Mythos ist (im Gegensatz zum populären Gebrauch) nicht abwertend! Der Mensch ist „von Hause aus“ Mythopoet: er ist darauf angewiesen, sich bildhafte Geschichten von sich und seiner Welt zu schaffen. Diese können sehr unterschiedlich ausgestaltet sein zwischen grosser, tiefer, weiter Schau in philosophisch-religiöser Gestalt und dürftigem Fabulieren. Weltanschauungen – da geht es inhaltlich um „die Welt“, den Kosmos, ihre Entstehung, die Zeit (mit Entwicklung, Verlauf, Ende, vielleicht Zeit nach dem Ende eines Weltzeitalters), die Wesen (Objekte) in ihr und um den Menschen, seinen Ursprung, seine Bestimmung, sein Ziel, seine Aufgabe. Sinn-Stiftung, die Herstellung von bedeutungsvoller Kohärenz, ist eine Hauptaufgabe von Weltanschauungen. Über all diese Topoi der Weltanschauung können explizite Wissenssysteme ausgestaltet werden: Kosmogonie3, Theogonie4, Kosmologie5, Anthropologie6, Soteriologie7, Eschatologie8. Solche Wissenssysteme enthalten Bilder, Gleichnisse, Wissenselemente, Philosopheme, Spekulationen, Zukunftsvisionen u.v.a. – also hinsichtlich Wissen – Meinen – Irren – Wähnen (Scharfetter 2003) sehr heterogene Elemente. Die präsentierte Gestalt von Weltanschauungen kann explizit ausgestaltet, gar systematisiert sein als Bekenntnis, Katechismus, Lehrgebäude, Dogma, Ideologie. Dann sind sie als Texte gegeben: Texte als narrativ konstituierte Gewebe (s. Tantra, Lehrtexte). Solche Texte sind zusammengewoben von der Sehnsucht (passio) nach Überblick und Zusammenschau (Synopsis) zu einem lebenstragenden Sinngebilde. Die mythopoetische Spekulation webt und stickt, strickt und häkelt mittels der Sprache als Konstituens der Narration Symbole, Metaphern, Imaginationen, Phantasien, Gleichnis, Allegorie, Legende und Fabel, Traum und Tagtraum aus verschiedenen Bewusstseinsfeldern zu einem zauberhaften und bezaubernden (d.h. bewusstseins-

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Weltentstehung Erscheinen der Götter/Gottes Vorstellungen vom Kosmos Herkunft, Sinn, Ziel, Schicksal, Bestimmung des Menschen Heilswege Vorstellung vom Weltende und dem Menschenschicksal

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bannenden) Teppich, der das Unsagbare Eine verhüllt wie der Schleier den Altar von Sais. Vieles an Weltanschauung bleibt aber implizit für den Träger selbst und den Beobachter, bleibt dann auch amöboid-germinativ als Mixtur von Wissen, Meinen, Glauben, Vermuten, Deuten, Verstehen, Erklären. Damit ist ein Grossteil von lebenswirksamer Weltanschauung kognitiv schlecht oder nicht fassbar, kaum zugänglich für argumentativen Diskurs9. Weltanschauung entspricht also epistemologisch eher einer Gnosis, einer unter Umständen nebulös-variierenden Schau aus einem Gewissheitserleben, ist jedenfalls nicht Episteme im Sinne eines empirisch prüfbaren, der Konfirmation durch Wiederholung und Konsensus zugänglichen, argumentativ transparenten Wissens. In Weltanschauungen können explizite epistemische Elemente enthalten sein. Aber als Mythen sind sie ausserhalb von strikter Begrifflichkeit, Logik, Widerspruchsfreiheit, Kausalität, Kohärenzdruck, linearer Zeitvorstellung. Der Mythos bietet Sinnzusammenhänge an, bedarf aber selbst als mythopoietische Kreation keiner Begründung. Er sucht, fragt nicht tastend nach Antworten und er lässt sich nicht in Frage stellen10, weder nach dem Autor und seiner Autorisation (eventuell durch Eingebung, Schau, Offenbarung) noch nach der „rationalen“ Stringenz. Sie gehören also zum sogenannt primär-prozesshaften Denken. Der Mythos entspringt dem „wilden Denken“11 (Lévi-Strauss 1968), ist aber doch in einer impliziten eigenen Logik strukturiert, die allerdings nicht reflektiert ist und sich nicht einer argumentationszugänglichen Rationalität stellt (wie man es von der Philosophie und der Wissenschaft erwartete). Statt dessen sind die Bauelemente der Mythen Bilder, Gleichnisse, Symbole, mittels derer das unfassbare Ganze des Universums und des Menschendaseins im Sinne einer Orientierung (Wer bin ich? Wo bin ich in Bezug auf die Welt und andere Menschen? Wohin geht die Entwicklung? Was kommt nach dem Tod?), Sinnstiftung (Wozu bin ich, sind andere, ist überhaupt etwas?), Selbstbedeutung und -wert (Was habe ich, haben andere für eine Aufgabe hier?) eine Gestalt erhalten soll12. In diesem Sinne schrieb Jaspers

9 Das entspricht dem Prärationalen nach Wilber (1980) 10 Oberhammer (1988,18) sprach von der „befremdlichen Fraglosigkeit“ des Mythos; befremd-

lich nur für den Repräsentanten „aufgeklärter“ Rationalität. 11 Das kann Rationalisten zu spitzzüngigen Formulierungen reizen: Stolz (1988, 101) schrieb

vom „obskurantistischen Wildwuchs“ der New Age Spiritualität. 12 Weit ausholende psychologische Deutung von Mythen in Bischof 1994

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(1925,6) in seiner Psychologie der Weltanschauungen, in ihnen geschehe „ein Abschreiten der Grenzen unseres Seelenlebens“. Die Gestalt der Weltanschauung ist der Mythos. In dessen Kern, Keim, steckt das Mythologem. Ein ausgeformter Mythos kann mehrere Mythologeme enthalten. Zum Beispiel die Welt als Schöpfung Gottes, die Vorstellung von Göttern, Gott, Geistern, der Ursprung des Menschen, sein Sinn im Dasein, sein Heil, seine Nachtodexistenz (mit Karma, Reinkarnation, Zwischenwelt der Verstorbenen) u.v.a. Die Griechen trafen die wichtige Unterscheidung von einem Mýthos alethéis, der auf eine nicht anders als in Bild und Gleichnis ausdrückbare Wahrheit (Aletheia) verweist und der in anonymer Autorschaft im Volk entsteht und tradiert wird, und einem Mýthos plasteis, einer „gemachten“, zweckgerichtet intentional geschaffenen Geschichte. In Begriffskontaminationen und gleitenden kognitiven Zuordnungen zwischen symbolisch-metaphorischer Bedeutung und Konkretismus, die der Mythos erlaubt, in Konfluenz verschiedener ontologischer Rangordnung und overinclusiveness kann Gott, die Gottheit („the divine“) gleich Geist, Seele, Bewusstsein, gleich Energie gelten (z.B. Chi, Kundalini). Das kann sich mit einer mythologischen Meta-Anatomie und -Physiologie verbinden: Kanäle, Chakras, Meridiane, etc. All das sind Mythologeme, thematische Ballungen (Topoi) in Bildern, die häufig konkretistisch reifiziert wie eine physikalische Realität genommen werden und zur Basis von magischer Einflussnahme dienen. Mythen sind Geschichten, Narrationen aus Vorgefundenem13, Bestauntem, Befragtem, Rätselhaftem, Namenlosem (s. Märchen vom Rumpelstilzchen), aus Ahnungen, Meinungen, Vorstellungen, aus Erinnerungsspuren, Deutungen und Erlebnissen (oft vor der Unterscheidung von aussen und innen), also auch gefühlshaften Anmutungen. Kulturen sind kohärent durch gemeinsame, kulturelle Mythen. Subkulturen tradieren ihre subkulturellen Mythen als gemeinsames Glaubensgut, z.B. die in der Spätantike formierte hermetische Weltanschauung der Esoterik. 13 Im Kleinen illustriert das Jägerlatein im weitesten Sinn die telephrenen (zweckgerichteten)

transformativen Kräfte in der Produktion von Geschichten, Legenden: die Ich-Erhöhung in der Steigerung des Ereignisses oder Erlebnisses, die Heroisierung, Idealisierung, die Attribution von Religion, Spiritualität an Geschehnisse (vgl. Stenger 1993, Kontextualisierung). Die Geschichten von Pseudologen entstehen aus einer ähnlichen Dynamik Eskapismus aus einer Situation oder aus einer Ich-Konstellation. Die Lateiner (fama crescit eundo) wussten um die Eigendynamik im Wachsen und Verwandeln der Geschichten.

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Diese hat sich vom 19. Jahrhundert an in Theosophie, Anthroposophie, Spiritismus, im 20. Jahrhundert in der Verschmelzung von Psychologie (C.G. Jung, humanistische Psychologie), Therapie, Ökologie und Elementen aus verschiedenen Religionen als New Age Kultur geformt: eine Gegenbewegung gegen die rational-technische, destruktive Ausbeutungskultur ohne verbindliche und haltgebende Werte, ohne tragenden Sinn, ohne Liebe, ohne Geborgenheit im Kosmos.

3. Mythik – Mystik Das Verhältnis von Mythik und Mystik ist je nach dem gesetzten Begriffsinhalt und -umfang verschieden. Im weiten Sinn von Mystik als abgeschlossenem (hermetischem, nur erwählten Eingeweihten zugänglichem), gar geheim gehaltenem „Wissen“ von Verborgenem (Okkultem) wird jeder Ausdruck, jede „Materialisation“ in Audition, Vision, ergreifender Begegnung mit dem Numinosen und jede denkerische systematische Ausarbeitung esoterisch-hermetischer Weltbilder in der Sprache der Mythen Gestalt annehmen. Naturmythik erzählt die Kunde von geheimnisvoll Inhärentem, der Immanenz der Transzendenz, des Göttlichen, des Geistes, jenseits des perzeptiv Vermittelten der Naturerscheinungen. Soweit dieses „Wissen“ schon Mystik genannt wird (meist eine duale Begegnungs-Mystik), findet solche Naturmystik in Naturmythik ihre Sprache. Das heisst: eine so weite Fassung des Begriffs Mystik fliesst ineins mit Mythik. Fasst man Mystik aber schärfer als Einswerdungserlebnis, als Einung, als unio mystica des Selbst mit Gott, der Gottheit, dem Kosmos, der Natur, als Aufhebung der Dualität, der Getrenntheit in Subjekt und Objekt – so ist das Erlebnis jenseits der Sprache, die ja an die Subjekt-Objekt-Trennung gebunden ist. Dennoch drängt das Erlebnis nach Sprachwerdung: in Andeutung, Bild, Gleichnis, in Geschichten (Mythen) teilt mystisches Erlebnis sich mit – denkerisch im Paradox (Paralogik) doppelter Verneinung (im Indischen neti-neti: es kann weder gesagt werden, es sei, noch es sei nicht). Auch die vegetativ-affektiv-zoenaesthetisch (d.h. das Leiberleben betreffende), auch erotisch bewegte Liebes-Mystik (z.B. bei Teresa von Avila) sucht ihren Sprachausdruck und bedient sich dabei der Sprache der konkret „objektiven“ Welt des Körpers und der „Seele“.

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4. Esoterische Weltanschauungen des New Age Esoterik ist der Sammelname für eine alte okzidentale Sondertradition, in welcher ein „Insider-Wissen“ aus Elementen verschiedener Kulturen in Erkennen, Wissen und daraus abgeleitetem Handeln (Lehre, Predigt, Beratung, Heil-Behandlungen) gepflogen wird. Esoterik war bis zur Popularisierung in der Workshop-Kultur des New Age des 20. Jahrhunderts eine Überlieferung in Geheimkreisen mit bestimmten Ritualen (Mysterien) Eingeweihter (Mysten). Dieses spezielle, vom gewöhnlich Menschlichen abgeschirmte, dadurch geheimnisumwitterte, Wissen ist ein pararationales, nicht wissenschaftliches Wissen aus Erfahrung, aus intuitiver Schau (Gnosis), aus persönlicher Ergriffenheit von spiritueller Wesenheit (Mystik). Das corpus hermeticum des mythischen Autors Hermes Trismegistos (2./3. Jahrhundert nach Christus in Alexandrien) kompilierte schon viele Elemente aus dem alten Orient zwischen Indien, Mesopotamien, Ägypten, Levante. Es geht um Weltentstehung, -ziel, -ende, Heils- und Erlösungsvorstellungen und Begleitung der Seele auf dem Wege (Thanatopompos, Totenbücher), es geht um Naturmagie (Alchemie), Wahrsagen, Astrologie, magisches Heilen, Geistheilen. Durch die Jahrhunderte dehnte sich die Tradition aus: Elemente aus dem Schamanismus verschiedener Völker, aus indischen und tibetischen Mythologien, von Druiden, Kelten, Chinesen, Indianern werden verwoben mit Lehren vom Astralleib, von Energie in mythischer Anatomie (Meridiane, Kanäle, Chakras) und „Diagnosen“ der Energieflüsse mit Pendeln, Ruten und dergleichen, mit den Mythen von Karma und Reinkarnation, mit Spiritismus, Possession, Mediumismus, Channeling. So ist die Esoterik heute vielleicht mehr denn je eine Pluralität von heterogenen kulturellen Elementen14. So auch in der Praxis des Beratens und Heilens: Diät, Aquatherapie, Herbalismus, Homöopathie, Osteopathie, Kinesiologie, Aktivierung kosmischer Energien (Kundalini, Chi), apotropäischer Magie („Reinigung“ von bösen Kräften, Ableiten, „Austreiben“ von negativen Energien, Exorzismus des Teufels oder böser Geister), Rückführung in frühere Existenzen, Evokation besonderer Bewusstseinserfahrungen15 (psy14 Lit. s. Berrisch 1994, Bochinger 1994, Hakl 2001, Heelas 1996, Miller 1994, Runggaldier

1996, Schorsch 1988, Stenger 1993, Toegel 1991, Walach und Schuster 1992, Iversen 2000. Zur Reinkarnation Bergunder 1994, Zander 1999 15 Bei geeigneter Persönlichkeitsdisposition und/oder suggestiven Gruppensitzungen können halluzinogene Drogen ähnliche Erlebnisse induzieren wie non-pharmakologische. Es geht dabei um positive oder negative Ich-Veränderungen und perzeptive Umgebungsveränderungen (s. Dittrich 1996, Scharfetter 2002).

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chedelisch, holonom, Trance, Ekstase), spiritistische Sitzungen mit Hilfsgeistern, energetisch-geistige Harmonisierung, Liebesübertragung mit HerzChakra-Öffnung und tantrischen Übungen. Es ist eine Polyphonie religiöser und profaner Mythen, eine Polypragmasie von Heilangeboten, die in ihrer Gesamtheit als Produkte eines verzweifelten Ringens des Menschen imponieren, seine kognitive und pragmatische Begrenztheit, Ohnmacht, Gefährdung und Vergänglichkeit zu überwinden. In der Bewegung schwimmen auch viele mit, die aus der Partizipation eine narzisstische Erhöhung in Leihidentität, prestigeträchtiger Rolle als Künder, Menschheitslehrer, Heiler – und auch ökonomische Vorteile gewinnen. Esoterik ist im Selbstverständnis ein spezielles, tieferes, eigentliches, „wahres“, auf persönliche Erfahrung sich berufendes „Wissen“, abgehoben vom gängigen Wissen, besonders dem wissenschaftlichen Wissen einer Kultur: Es ist ein Glaube, verkündetes, manchmal auch gelebtes, Glaubensbekenntnis. Die Schlüsselerlebnisse, die einen Menschen in diese Karriere führen, sind nicht immer deutlich. Abgesehen von familiären Traditionen sind es offenbar leidvolle Krisen, die den Weg in diese Weltanschauung bereiten – also ähnlich dem Schamanismus. Sie werden retrospektiv als Intitiationen, Führungen, Eingebungen, Ruf gedeutet. Für die Persönlichkeit und die Entwicklungslaufbahn des Esoterikers scheint nicht so sehr die spezielle Selektion von Inhalten entscheidend, sondern das, was ein Mensch (der vielleicht eine parapsychologische Begabung hat) daraus macht, für sich selbst, seine eigene Entwicklung, und für andere: Die Spanne zwischen regressiv, narzisstisch, egozentrisch, egoman in Sonderposition, Rolle, Macht und Bescheidenheit, Güte, Toleranz, prosozialem Handeln ist weit. Der Praktiker der Esoterik braucht seine Anschauungswelt nicht kritisch zu klären und zu strukturieren. Ihm/ihr genügt das Erschauen der Anderwelten und das Erlebnis des Wirksamseins darin. Theorien über Konstruktivismus, Selbstmodelle, Psychodynamik seiner Motivationen will er/sie nicht. Er/sie stützt sich auf Wirklichkeitserfahrungen (mit Gewissheit und Stimmigkeit) und setzt sie gleich der intersubjektiven Konsensus findenden Erfahrung der Realität (s. Stenger 1993, 81,95). Die imaginäre, mythische, meta-physische Welt wird in einem Kategoriensprung gehandhabt wie die physikalische Welt. Deshalb sprach Tögel (1991) von spirituellem Materialismus. Der Para-, gar Antirationalismus er-

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öffnet die Freiräume des Imaginären. Diese Anderwelten auszumalen kann als Lebensziel beherrschen, gar zur Sucht werden mit der Gefahr, die Alltagsaufgaben zu versäumen (s. dazu auch Baumeister 1991 über Eskapismus vom Selbst). Die Persönlichkeiten von Menschen mit Erweckungserfahrungen, die sie für die Anderwelt öffnen, erinnern an die „encounter prone personality“ (s.c. encounter with alternate realities), wie sie z.B. im Omega Project von Kenneth Ring in Kalifornien studiert wurden (Ring u. Rosing 1990). Auch da ist in der Vorgeschichte oft ein Trauma physischer, sexueller oder psychologischer Art, auch Neglect, berichtet. Sie mögen Wegbereiter für die Disposition zum Dissoziieren sein (s. auch Guiley 1991, 183). Unter der Last ihrer Situation lernen sie im Bewusstsein wegzutreten in ein Eigenreich von Phantasie und Imagination. Dissoziationsbereitschaft wird damit ein wichtiges Interpretationsstichwort (Scharfetter 1999)16. C.G. Jung war seit seiner Dissertation über okkulte Phänomene bei seiner Verwandten und aus eigenen Erfahrungen fasziniert von der imaginären Welt (s. dazu Hakl 2001). Sein mythopoietisches Werk spiegelt seine Gnosis, reich an imaginären Gestalten, die wie personalisiert seine Metageographie des Unbewussten durchgeistern (Animus, Anima, Komplexe, Archetypen, Teile der Psyche u.v.a.). Er gab sie als Empirie und Wissenschaft aus. In der von ihm entwickelten „aktiven Imagination“ werde wie in der Meditation „eine andere Wirklichkeit geschaffen“ (460). Imaginäre Welten können spontan in Phantasie, Traum, Erscheinungen (Visionen, Auditionen) auftauchen oder induziert (in aktiver Imagination eigentätig, in der Hypnose fremdbestimmt). In der vielfältigen und „teilbaren“ Psyche können sich gewisse Teile relativ verselbständigen und kaum eine oder gar keine Verbindung (Assoziation) mit dem Ich eingehen. Das gibt in der Deutung Jungs „autonome Komplexe“; die des persönlich Unbewussten seien „die Seelen“, die des kollektiv Unbewussten „die Geister der Primitiven“ (orig. 1919). So schuf sich Jung seine Bilder von „den psychologischen Grundlagen des Geisterglaubens“ (orig. 1919)17,18.

16 s. dazu auch die Überlegungen zur Persönlichkeit mit Neigung zu „magical ideation“

(Chapmann, s. Scharfetter 1998) 17 Wilber 1992, 211f. zeigt Jungs „grundlegende“ Irrtümer in der Religionspsychologie auf,

welche „zum grössten Hindernis für die Transpersonale Psychologie wurden“ (212), vor allem die Gleichsetzung von Mythen und Mystik. 18 Freud bekannte in seinem Schreiben an Einstein 1932 die Mythologieähnlichkeit seiner Psychologie: „unsere Theorien seien eine Art von Mythologie“ (40), „von unserer mythologischen Trieblehre“ (41, gemeint sind Eros und Thanatos).

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Parapsychologische Erlebnisse können offenbar z.T. induziert werden (in Eigen- und Fremdsuggestion) und können gebahnt werden, sodass sie sich „durch Versenkung“ schneller und deutlicher einstellen. Sogenannte parapsychologische „Übertragungen“ können geübt werden: Ein Empfänger versucht Eindrücke, Bilder, Farben, Gefühle aufzunehmen, die von einem Sender (Übungspartner) übermittelt werden.

5. Die Topographie der esoterischen Welt Zur Übersicht der „Welt-Karten“ (Scharfetter 1995) bietet sich die in vielen Bereichen bewährte Dreiteilung an. Beispiele sind: die dreifaltigen Götter Shiva – Vishnu – Brahma, die christliche Trinität von Gott Vater – Sohn – Heiliger Geist, die Räume Erde – Himmel – Hölle, Menschenwelt – Oberwelt der Götter – Unterwelt der Toten, Körper – Psyche – Geist, – von diesen gängigen Dreierschemata reicht das Spektrum bis zu Wilbers Konzept von präpersonal, prärational – personal, rational – transpersonal, transrational. Solche Schemata können mit dem Auf-, Abstiegsmodell von Plotin und den Platonisten verbunden werden. Dann ist eine Werthierarchie impliziert, ein Entwicklungsziel für den Weg des Menschen zwischen Geburt und Tod. Im Blick auf die esoterische Welt lassen sich die Bereiche der Bewusstseinsfelder, d.h. hier Welten, so skizzieren: Alltagswirklichkeit ordinary reality

Profane empirische Realität

Anderwelt non-ord. reality imaginäre, visionäre Welt animistisch spiritistisch schamanistisch mythisch gestaltet Esoterik Okkultismus Magie numinos

Geist, Gottheit All-Eines Brahman nirguna Tao Gestaltlos (=leer)

Spiritualität Mystik s.str.

sakral

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Diese drei Bewusstseinswelten sind Meta-Geographie. Bildhaft übersetzt, liegt die non-ordinary reality „hinter“ der Alltagsrealität. Und im Bild eines Prozesses der Bewusstseinswelten auf das All-Eine hin liegt sie zwischen, also als eine zu durchschreitende, der Alltagswelt und dem Absoluten AllEinen Sein. Die Alltagsrealität des Mesokosmos ist gegenüber den anderen Welten dadurch ausgezeichnet, dass sie die unausweichlich gegenständliche, Grenzen setzende, widerständige, bodengebende, die gebärende und wieder zurücknehmende „Erde“ ist. Diese Alltagsrealität erscheint (!) uns fest, sicher. Aber das ist sie nur im makroskopischen Bereich. Sie ist es nicht auf der mikroskopischen, gar atomar-subatomaren Ebene und sie löst sich auf im teleskopischen Weltallbereich. Die Alltagsrealität – zu ihr gehört auch der Leib – bleibt die verbindlichste zwischen Geburt und Tod. Die esoterische Welt mag Genugtuung für das Selbstgefühl, Einbindung, gar Beheimatung in einem vermeintlich durchschauten grossen Weltgeschehen verleihen. In der Not des Daseins und der Existenz mag sie eine Bewährungsprobe erfahren – ob sie hält, was sie verspricht19. Die Ausrichtung der Existenz auf das All-Eine kann vieles in der Alltagsrealität, das Leid bringt, in die rechten Proportionen einzuordnen erlauben. Es scheint, dass ein personaler Gottes-Bezug eher Halt zu geben vermag als das unheimlich entfernte, kalte (weil ohne Gefühle), transästhetische, gestaltlose Absolute. Über die Alltagswirklichkeit haben wir ein lebenspraktisches Wissen und können wir wissenschaftlich-empirisches Wissen erarbeiten. Das ist der nüchtern-profane Bereich. Aber diese Alltagswirklichkeit kann manchen bloss wie ein Mantel über einer tieferen, personalisierten Natur-Wirklichkeit erscheinen: Die Naturmythik erfährt den Stein, den Fluss, die Wolke als Sprecher – und zwar direkt und konkret in menschlicher Sprache Weisheiten vermittelnd20.

19 Eindrücklich dazu Wilber K. 1992, Mut und Gnade, verzweifelt um Halt und Bestand zu ringen angesichts des Verlustes seiner Partnerin an ihrem Krebsleiden. Ein apersonales Absolutes gewährt schwer Trost, Geborgenheit, Demut, Loslassen, Annehmen, solange das Ego noch haftet, wünscht, leidet. 20 Wenn der Naturmythiker Sprachrohr der empfangenen Botschaft wird, ist die Beziehung zum Mediumismus und Channeling gegeben.

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6. Naturmythik: Chiffren des allverbindenden Geistes Der Naturmythik21 sind alle Erscheinungen der Natur Mitteilungen. Novalis (1772-1801) soll hier diese Weltanschauung kennzeichnen: Alles, was wir erfahren, ist eine Mitteilung. So ist die Welt in der Tat eine Mitteilung – Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren (2). Die Gestalten der Natur sind dem Naturmythiker Zeichen einer Allverbundenheit in einem (Gott, Geist): Figuren, die zu jener grossen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, ... in Wolken... im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, ... im Inneren und Äusseren der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, ... erblickt... Zu ihnen ahndet [=ahnt] man den Schlüssel dieser Wunderschrift... (23). Nun fand er überall Bekanntes wieder... und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame Dinge. Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein (24). Die der Naturmythik offene Zeit war reicher und sollte wieder hergestellt werden: Ehemals war alles Geist-erscheinung. Jetzt sehen wir nichts als tote Wiederholung, die wir nicht verstehen. Die Bedeutung der Hieroglyphen fehlt. Wir leben noch von der Frucht besserer Zeiten. Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert...

21 Jaspers (1925,160) setzt sie neben Naturmechanik (der Organismus als Maschine) und Naturgeschichte (mit Historismus und Psychologismus). Der Naturmythiker lese die Natur wie ein „beziehungsreiches Märchen“ (161), vermenge verschiedene Realitätsauffassungen und setze heterogene Sphären in eins (162). „Es ist evident, dass nichts gegenständlich Greifbares hierbei jemals eine Aufklärung geben kann. Aber ebenso evident bleibt die Echtheit unseres Erlebens, dessen Deutung und Wirkung vom Ganzen der Weltanschauung abhängt.“ (162). „Unbegreiflich ist auch das magische Wirken des Naturmythikers“ (166)

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Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. (24/5) Die goldene, verklärte Zeit des unbegreiflichen Einverständnisses unendlich verschiedener Wesen (23) wird ersehnt: Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit dem Menschen gesprochen hätten... (115). Dem für Naturmythik Begabten werden solche „Offenbarungen“ zuteil: Der Mensch vermag in jedem Augenblicke ein übersinnliches Wesen zu sein... Freilich ist die Besonnenheit, Selbstfindung, in diesem Zustande sehr schwer... Es ist kein Schauen, Hören, Fühlen; es ist aus allen dreien zusammengesetzt, mehr als alles Dreie: eine Empfindung unmittelbarer Gewissheit... Gewisse Stimmungen sind vorzüglich solchen Offenbarungen günstig... Hier ist viel Unterschied zwischen den Menschen. Einer hat mehr Offenbarungsfähigkeit als der andere... (31). Ein Beispiel gegenwärtiger Naturmythik ist Roads (1987). Er fühlt sich geführt, gar „befohlen“ (48) zum Fluss. Nach dem Bad im Fluss bedankt er sich bei diesem und er vernimmt die Lehre des Flusses22. Wasser... Luft... durch die Vorstellung, es handle sich um unterschiedliche Bewegungen, hat man die beiden voneinander getrennt. Sie, die Einheit des Lebens... Das Leben wandelt sich in einem riesigen Kontinuum von einer Gestalt in die andere... Fliesse im Strom dieser Bewegungen... Geh über deine Grenzen hinaus und erkenne in der Natur das wahre Wesen deines eigenen Seins... (48) Der Mensch ist unendlich, nicht im physischen Sinne, sondern im Geistigen. Die Wahrheit ist unendlich. Der Mensch ist mit einem Geist versehen, der – sobald man ihn gemeistert hat – die Unendlichkeit durchschauen kann, um seine eigene Wahrheit zu erkennen (49).

22 Die Stelle erinnert an den Fährmann am Fluss in Hermann Hesses Sidharta.

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Der Wasserfall spricht: Im Sinne der Ganzheit lassen wir unsere Identität und die Verhaftung an die physische Form hinter uns, um zu dem einen Bewusstsein zu verschmelzen (83). Die Blume spricht die protopathische Epistemologie dieser Mythik aus: Du brauchst nicht zu erfassen... Belasse die Ideen in ihrer Verschwommenheit, so dass sie noch eine Verschiebung durchlaufen können, weiter eindringen und ihre eigene Energie zum Ausdruck bringen, bis sie – genau zum richtigen Zeitpunkt – eine höhere Wahrheit präsentieren. Du musst dich auf eine andere Welt einstimmen. Lass das Herz eine Wahrheit erkennen, die der Verstand noch nicht zu fassen vermag... Vertraue dem Selbst (114). Der Autor hört die Stimme des Bewusstseins im Felsen (77). Die Fülle seiner Erfahrungen bringt ihn von den Aufgaben der Welt, der Beziehung zur Familie ab. Er wird in eine Krise der Desorientierung und des Zweifels gezogen, aus der er wieder heraustaucht in Freude, Ausdehnung, Allverbindung, Liebe (120-125), geführt von der Jade-Pflanze: Du bist im Begriffe, jene Schritte zu tun, die dich zum Meister deines Schicksals machen... In allen Menschen wohnt etwas, das weiss. Dein Herz weiss es... Glaube... was auch immer du glaubst – ist so (124/5). Die Heilung ist wie eine Erleuchtung: Ich spüre eine innere Lebendigkeit, ein Gewahrsein, so scharf und klar wie nie zuvor (125). Meine Liebe umfängt euch (128). Die Anderwelt, der mundus imaginalis von Corbin (1964), die imaginäre, visionäre Welt, ist voller Gestalten, voller Sensorik (Licht, Farben, Strahlen, Auditionen, Elevationen, sogar Geschmack und Geruch), voller Geistwesen, die zwar unsichtbar sind, sich aber doch „parasensorisch“ bemerkbar machen. Was erlaubt dem bewusstseinsklaren und achtsam aufmerkenden Menschen, die Erfahrungen verschiedener Bewusstseinsbereiche auseinander zu halten, Alltagsrealität und imaginative Anderwelt als zwei verschiedene Erfahrungsbereiche zu unterscheiden? Es ist die Funktion „Erfahrungsbewusstsein“ des Wachbewusstseins (s. Scharfetter 2002): mit jeder Erfahrung ist das Wissen um den Modus der Erfahrung mitgegeben, vermittelt

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(Bewusstsein = Beiwissen, conscientia). Das heisst: hörend weiss ich: ich vernehme hörend, also in der akustischen Erlebnisqualität. Das ist zu unterscheiden vom inneren Lautwerden z.B. von Auditionen, Einfällen. Sehend weiss ich, dass ich eine optische Perzeption erlebe – und kann sie unterscheiden von der lebhaften und anschaulichen Vorstellung, von der eidetischen Gestaltung, von der aktiv-intentionalen oder spontanen Imagination, von der Vision. Die Schulung des Erfahrungsbewusstseins wird in der buddhistischen Achtsamkeitsübung (Satipatthana, Nyanaponika 1970) als Vorbereitung medidativer Geisteskultur gepflogen. In bescheidenerem Umfang ist diese Differenzierungsübung sehr hilfreich für akustisch halluzinierende Patienten23: Sie lernen wirkliches Hören von Phonemen zu unterscheiden (kognitive Therapie). Das gelingt vielen in der therapeutischen Beziehung, aber nicht immer, wenn sie allein sind. Dann überkommt sie „das Chaos der Nichtunterscheidbarkeit“: spricht nun die Strohpuppe oder wird in mir angesichts der Strohpuppe etwas täuschend Sprachähnliches geweckt, auf das ich nicht so reagieren muss wie auf „echtes“ Angesprochenwerden in der Alltagsrealität. So kann ein Mensch zu unterscheiden lernen, in welchem Modus er etwas erfährt. In luziden Träumen kann der Träumer wissen (conscious sein): jetzt ist ein Traum im Gang. Für die parapsychologisch begabten Menschen scheint es im Allgemeinen keine Schwierigkeit, zu wissen, von welchem Erfahrungsbereich sie reden, auch dann, wenn sie die Erfahrungen in einer scheinbar Alltagswirklichkeit spiegelnden Sprache mitteilen. Da liegt bereits eine Verführung zur Kontamination der Bewusstseinsbereiche und damit zum (unbemerkten?) Kategoriensprung. Viele Traditionen berichten von dieser Fülle sensorischer Erfahrungen – und der Gefahr, an dieser mayahaften illusionären Erfahrungswelt, an makyo (japanisch), den vorgegaukelten Bewusstseinsgestaltungen, dem Blendwerk (gar dem Teufel zugeschrieben) wie an Verführungs-Fallen hängenzubleiben, wie wenn diese Erfahrungswelt die „wahre Wirklichkeit“ wiederspiegle, statt sie als Trugwelt (maya) zu durchschauen. Daher gehört auch der markante Zen-Spruch: „Triffst du Buddha unterwegs – schlag ihn tot“. Der Schamane ist der Meister dieser Bewusstseinswelten, der in der Trance diese Geistwesen beherrschen kann (herbeiholen, vertreiben). Er ist der ur23 Es sei hier betont, dass Halluzinationen nicht schlechthin Krankheitszeichen sind.

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sprüngliche Mythopoet, der von den Gestalten und Geschehnissen dieser Anderwelt erzählt, d.h. diese Welt als eine erwählten, eingeweihten Menschen mit besonderer Sehbegabung (drittes Auge, sechster Sinn) zugänglich vermittelt und der in diesen Welten handelnd wirkt. Die tibetische Mythologie dieser Anderwelt ist überaus reich entfaltet. Sie schlägt heute viele „Westler“ in ihren Bann, die sich in rituellen Einweihungen in diese Welt aufgenommen fühlen. Dabei ist die Essenz der buddhistischen Lehre sogar vom Dalai Lama schlicht wie der Urbuddhismus und Nagarjunas Philosophie der Leere. Das heisst, diese Auslegungen verweisen schon auf die – in diesem Schema – dritte Welt. Es ist der Bereich des gestaltlosen (darum leer genannten) Einen, Tao, brahman nirguna (gestaltloses Brahman), der Gottheit, des Geistes i.S. der Spiritualität im strikten Sinne (der romanischen Tradition, s. Scharfetter 2000). Hierher gehört der Vedanta, die Alleinheitslehre der Upanishaden. Hierher gehört die Philosophie der Leere von Nagarjuna, hier ist der Ort der negativen Theologie (Gott als der unfassbare, unbeschreibbare, jenseits der Vorstellung von Gott als Person nach dem Bild des Menschen). In der New Age Literatur des späteren 20. Jahrhunderts ist die strikte (romanische) Tradition von Spiritualität als Ausrichtung des ganzen Lebens auf dieses unfassbare All-Eine, die Bezogenheit auf das Umgreifende (Jaspers 1932), mit der Möglichkeit einer Verschmelzung des Einzelnen mit dem All-Einen in apersonaler mystischer Union, verlassen. Ausgehend vom englischen Gebrauch von spirituality als auf persönliche Erfahrung und Glaubensüberzeugung eher als auf kirchliche Doktrin ausgerichtete Einstellung, übernahm die (zunächst ja englisch-sprachliche) New Age-Literatur den weiten Begriff von Spiritualität, und in der Nachfolge auch von Mystik, für alles der Tendenz des Suchens und der Erfahrung nach über die profane Alltags-wirklichkeit hinaus Gehende. Da ist dann Mythik und Mystik, Esoterik und Spiritualität, Spiritistisch-animistisches und Spirituelles nicht mehr unterschieden – und erlaubt so viel eher das selbstwerterhöhende Gefühl, in den präsäkularisierten Zustand der Welt vor der Spaltung in profan – sakral zurückzukehren, in kosmischer Allverbundenheit eingebettet zu sein, in einer Art Neo-Pantheismus oder Panentheismus die Immanenz der Transzendenz zu erfahren, in der Energie-Mythologie von Kundalini, Chakras, Chi, Meridianen und Kanälen mittels des sechsten Sinnes, dem dritten Auge und Ohr Störfelder, Krankheitsherde entdecken und gar durch Manipulation „geistiger Kräfte“ heilen zu können (Geistheilen).

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„Evidenz und Intensität, Gewissheit und Lebendigkeit [der Erfahrungen] verschmelzen zu einer Erfahrung des existentiellen Mangelausgleichs“ (Stenger 1993, 147). Erfahrungen mögen alltäglich oder ungewöhnlich, ausserordentlich, überraschend, unerklärlich sein. Sie ereignen sich – und werden interpretativ in das jeweilige, persönliche oder kollektive, explizite oder implizite, strukturierte oder fragmentarische Weltbild eingeordnet. Erst durch diese spezielle sinngebende Einbettung der Esoterik und des Okkultismus werden diese Erfahrungen „esoterisiert, okkultisiert“, zu esoterisch-okkulten gemacht (Kontextualisierung Stenger 1993,115). Dabei wird der wichtige Unterschied nicht beachtet: Die lebenswirkliche und ergreifende Erfahrung eines Menschen ist kein Beweis für die person-, bewusstseinsunabhängige Existenz (ontologischer Status) des Erfahrenen. In Kurzform: Die Realität der Erfahrung erlaubt nicht den Schluss auf die Realität des Erfahrenen24. Im Gefolge dieser New Age Tradition steht auch die Transpersonale Psychologie, die sich für den mittleren und (meist ungeschieden) den rechten Bereich für zuständig hält (z.B. Grof 1990). Wilber (1995) strebt eine grosse Synopse, eine Kosmologie an und setzt sich damit aus der Bewegung heraus. Diese Dreiteilung ist ein Ordnungsbehelf zum Nachdenken über menschenmögliche Bewusstseinswelten. Das Numinose ist nicht an diese Topographie gebunden – es kann als ahnungsvoll-ergreifendes, bange faszinierendes Atmosphärisches alle drei Bereiche betreffen. Sakral hingegen ist der Bereich von der positiven, bejahenden, kataphatischen Theologie (Gott als namentragende und mit Eigenschaften ausgestattete Person) bis zur apophatischen, negativen Theologie (Gottheit über alle menschliche Attribuierung hinaus). (Da überschneidet sich auch sakral und numinos.) Der indischen Lehre von der eigentlichen wahren Wirklichkeit, brahma nirguna, dem eigenschaftslosen Absoluten entstammt die Lehre von Maya, der illusionären Trugwelt (brahma saguna, gestalthaftes Brahma), die ordinary und non-ordinary reality umfasst. Ihr entspricht im Mahayana-Buddhismus die Philosophie der Leere, nach der die eigentliche Wirklichkeit die einzige und allgemeinsame Buddhanatur aller Dinge ist.

24 s. Stenger 1993, 81,95

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Weltanschauungen – und dazu gehören auch die Religionen – haben zu allen drei Bereichen ihre Lehre zu bieten. Eine solche topographische Skizze der drei Bereiche mag für manche Fragen – wo hält sich der Mensch auf? woraufhin bewegt er sich? was ist sein Sinn, seine Aufgabe? welche Verfehlungen dieses Sinn-Weges gibt es? – hilfreich sein. Sobald aber Religionen als sozio-politische Weltanschauungssysteme ausgearbeitet sind (von einzelnen Wegbereitern, von der Kirche, vom historischen Prozess der Religionsformung, etc.), besteht auch die Gefahr der kontrastierenden Setzung: Gott gegen Teufel, Gott gegen Mensch, etc. Das sprach der damals 91-jährige Daisetz Teitaro Suzuki 1953 auf der Eranostagung in Ascona an (wie Hakl 2001, S. 296, der die Esoteriktradition der Eranosbewegung kenntnisreich nachzeichnet, erzählt): Natur gegen Gott Gott gegen Natur Natur gegen Mensch Mensch gegen Natur Mensch gegen Gott Gott gegen Mensch: sehr eigenartige Religion. Suzukis Worte werfen Licht auf die westliche Kultur (und indirekt auf seine eigene). Tatsächlich ist die einengende Fixation auf bestimmte Welten in Ideologien (materialistisch, esoterisch, idealistisch) ein Problem: der Reduktionismus. Wer ohne Ahnung von anderen Bewusstseinsmöglichkeiten nur in der Alltags-Realität als mundus communis zuhause zu sein meint, gerät in einen materialistisch-physikalistischen Reduktionismus. Den sehen wir in diesen Dezennien der Neurowissenschaften in der Ableitung des Bewusstseins, des Psychischen überhaupt, aus Hirnanatomie und -physiologie. Dabei wird die Frage, was denn dem Organismus lebendig zu sein und sich zu entwickeln ermögliche (Vitalismus ist von der Hauptströmung von Wissenschaft und Philosophie verpönt), was das Hirn Hirn sein und als solches funktionieren lasse, mit dem Hinweis auf die Evolution vom Anorganischen zum immer differenzierteren Organischen beantwortet. In der Medizin ist die Erweiterung zu somato-psycho-sozialen Gesichtspunkten zu begrüssen, sie greift aber insofern zu kurz, als diese drei Dimensionen der empirisch zugänglichen Alltagswirklichkeit zugehören. Da mag manchen doch der Blick in die Tiefe/Weite fehlen, der Dasein in der

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Ausrichtung auf das Umgreifende zur Existenz erhebt (Jaspers 1932), heute der transpersonale Bewusstseinsbereich genannt (Scharfetter 2000). Das Übergewicht mythopoietisch-narrativer Ausgestaltung der imaginären Anderwelt und die naive Übertragung des Realitätsverständnisses von der Alltagswirklichkeit auf die mythisch-esoterische Welt führt in den spirituellen Materialismus (Tögel 1991). Dabei werden die Unterschiede der drei skizzierten Bereiche verwischt, nicht nur konzeptionell, sondern im alltagspraktischen Handeln25. Da ist die megalomane Selbstinflation als befähigt zur Handhabung spirituell-kosmischer Energien nahe, ihrer Bahnung, Öffnung, Zu- und Ableitung in hydraulischen Modellen, zur Geist-Verfügung (Geistheilen, oft mit Gleichsetzung von animistischen Geistern und Geist im spirituellen Sinn). Jung wusste aus eigener Krisenzeit von der Gefahr der Ichaufblähung (Inflation), des folgenden Kontaktverlustes mit der Erde und den Absturz. Walach (2000) hat das Thema narzisstischer Masslosigkeit zwischen den Polen Überhöhung und Selbsterniedrigung wieder aufgegriffen. Die Sehnsucht ruft den Menschen, der sein Dasein in duhkha26 austrägt, getrennt vom Einen, Ganzen, Unfassbaren, unvollständig, fehlerbehaftet, unerlöst, sündhaft im Sinne von abgesondert, aus der Verbindung (Yoga) gefallen (vgl. Paradiesmythos), zu Überwindungsversuchen, zur Befreiung (Liberation) und Erlösung (Salvation) – und er gerät leicht in die Illusion, in konkret verwirklichter Ganzheit eingebettet, gar geborgen, aufgehoben zu sein – von der Heimatlosigkeit in die bleibende, unverlierbare Heimat gelangt zu sein. In der Psychologie ist dies der Weg vom falschen Selbst entliehener Identität zum wahren Selbst (Winnicott 1965) im Sinne echten physiognomisch-individuellen, authentischen Selbstseins. Das öffnet sich allenfalls zur Realisation des überindividuell-göttlichen Keimes jeden Selbstseins (spirituelles, transpersonales Selbst, indisch Atman). Da lauern viele Abirrmöglichkeiten (z.B. in der Grof’schen Variante der Transpersonalen Psychologie, die die imaginäre Mythenwelt mit ihren sogenannt transpersonalen Erfahrungen mit dem spirituellen konfundiert27). Es scheint für den Menschen schwer, auf konkretistisches Fürwahrnehmen seiner imaginär-mythischen Bewusstseinswelten zu verzichten. Das wäre eigentliche geistige Askese: die Übung der Enthaltsamkeit, das Tao als das 25 vgl. „Das Wirkliche ist wie das Wunderbare“ (Rilke, die Zaren, 1/185) 26 Sanskrit: Leiden 27 Zur falschen Gleichsetzung des holographischen Weltbildes mit Mystik s. Wilber 1986 (150,253). Zur Vermengung von prä- und transrational, -personal s. Wilber 1980.

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Unfassbare bestehen zu lassen, das Unsagbare nicht in Bilder und Worte zu fassen (Wittgenstein 1921), das Umgreifende als Ahnungshorizont ungestaltet und ungewusst zu belassen (Jaspers 1932), das Seyn selbst nicht in einer (religionsähnlichen) Fundamentalontologie (Heidegger 1927) in die Hut des kleinen Menschen und in das Haus der Sprache zu ziehen. Es ist ein spätes Reifestadium des reflektierenden Menschen, dessen Dasein zur Existenz erwacht ist, d.h. der sich auf ein unfassbares hervorbringendes und zurücknehmendes All-Eines bezieht, sich selbst mit seiner temporären Bewusstseinskonstellation Ich als winziges Boot auf einem nach Weite und Tiefe unabsehbaren Ozean des leben- und damit erlebenschaffenden Bewusstseins einordnend zu relativieren – und bei diesem existentialistischen Bild der Ausgesetztheit nicht stehen zu bleiben. Das Ich-Boot ist ein vergängliches Partikel, eingebettet in ein individuumübergreifendes Lebensgeschehen, und nötiges Vehikel zum Bestehen des Lebensweges. Als solches ist es kostbar in all seiner Fragilität und Partikularität. In dieser Einsicht liegt ein trostvoll-gelassenes Hingeben an das Lebensgeschehen von Geburt, Wandel, Tod als Transformationen, als Metamorphosen des einen Lebendigen. Zwischen Kommen und Abtreten sind wir mit den anderen Lebewesen im koinós kósmos, der gemeinsamen Alltagsrealität – und haben hier Aufgabe und Sinn: „tu ein verlässliches Tagwerk“ (Rilke, 3. Duineser Elegie). Da ist vieles loszulassen, Stufe für Stufe ein Abschiednehmen von Dingen, Gestalten, Idealen, ja auch den Fahrzeugen zur Überquerung des Stromes (s. die Stromeintreter im Buddhismus), bis schliesslich am „anderen Ufer“ auch das Floss der Lehre zurückgelassen werden kann. Das Tibetische Buch der Sterbens- und Todbegleitung lehrt eindrücklich: alle Schrecknisse, alles Furchtbare, Beängstigende auf dem Übergang (Metabasis) – erkenne, dass das Alles Gestaltungen deines Bewusstseins sind, bleibe nicht haften an schön und schrecklich Erscheinendem, lass los, lass dich selbst los, gehe weiter im Prozess der Befreiung: der Union mit der universalen Buddhanatur, der vollen Leere, der leeren Fülle. Alle Buddhas und Bodhisattvas sind Gestaltungen des Bewusstseins, sie dienen als Weghelfer, treten dann zurück und geben den Blick frei für die Essenz der Sunyata (Leere). Hemingways Erzählung „Der Alte Mann und das Meer“ – dürfen wir sie als Bild des Menschenweges lesen: der alte Fischer, allein, fängt einen wunderbar grossen und schönen Fisch, den er zum Markt bringen, d.h. den Menschen zeigen will. Aber auf dem Rückweg an Land geht er an seinem Fang fast zugrunde und verliert alles Schöne der Gestalt, „des Fleisches“

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durch Raubfische. Die ganze Wunderwelt der Gestalten muss zurück gelassen werden, der Mann kann nichts bewahrend festhalten: Durchhalten und Loslassen sind die Leitmotive seines Weges. Die Wunderwelt kann er nicht mitbringen. Erschöpft bringt er nur noch das Skelett zurück, Knochen, die mit der Ebbe wieder ins Meer zurück getragen werden. Bald wird auch der Alte Mann den Weg der Knochen gehen. Rilke wusste wohl um diese geistige Askese, den reifen Verzicht, das ahnungsvoll Anmutende in der Weite des Bewusstseins als das „Wehende“ (1. Duineser Elegie) bestehen zu lassen. Nicht dass du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet 1. Duineser Elegie

Der Mensch als homo hermeneuticus schafft sich Bilder und „vergisst“ die Natur dieser Gestaltungen, Deutungen, Sinngebungen. Wieder Rilke: „Und die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu haus sind in der gedeuteten Welt“ 1. Duineser Elegie

Dieser deutenden Ausgestaltung der Welt(en) geht das Erschrecken voraus, in der Welt keine verlässlich-geborgene Heimat zu finden. Wer ist denn da? „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ 1. Duineser Elegie

Es braucht Mut und Kraft, die Existenz auszutragen ohne definitive tragende Gewissheiten – ein Wagnis. Gross ist nicht die grandiose gnostische Mythopoiese esoterischer Welten (mit der Gewissheit der Erfahrungen) und die Elaboration einer kataphatischen Theologie, sondern Lao tse in seinem achtungsvollen Verzicht, über das Tao auszusagen, Buddha mit seiner Enthaltsamkeit, über die in seiner Zeit bestehenden Mythologien (Götter, Geister, Wiedergeburt, Karma, Unterwelt...) zu disputieren (statt die geistige Anstrengung auf die Selbstbefreiung in der Bewusstseinsentwicklung in den Mittelpunkt zu stellen), Sokrates mit seiner bescheidenen Einsicht in die Begrenztheit seines Wissens.

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Gottfried Benn, der bitter-nüchterne existentialistische Dichter, dessen Seele in Trunkenheit (s. Trunkene Flut) und Schwermut schwimmt, spricht vom „gezeichneten Ich“ (in der Not existentieller Ausgesetztheit sich selbst in Frage stellendem Ich) und schrieb in teutonischer Härte: „Ich bin sehr für Heidentum und Physiologie, aber im Zentrum steht noch etwas anderes. Und wer das nicht sieht, soll die Schnautze halten“28. Aber für viele Menschen wäre die Zumutung zu solcher geistiger Enthaltsamkeit zu gross. Sie bedürfen der Bilder und Geschichten, der Gestalten, an die sie sich in ihrer Not wenden können – und sie bedürfen der Mittler zwischen ihnen und der Anderwelt, Schamanen, Priester, Lamas, Heiler. Die Religionsgeschichte z.B. der Entwicklung vom Urbuddhismus, der die Selbsterlösung anmahnt, zum Mahayana, bes. dem Vajrayana im Tibet, führt vor Augen, was das religiöse Bedürfnis der Vielen fordert: Bilder und Geschichten, Erlösergestalten und Mittler (Bodhisattva), vielschichtige Kosmologie, versprechende Soteriologie und die Erhöhung des Buddha zu einer Gottheit. Ähnlich liesse sich an der Geschichte des Christentums die kirchliche Ausgestaltung des christlichen Mythos in Doktrin und Ritual zeigen. Der Mensch bedarf des Haltes und sein Bewusstsein schafft ihm solche Stützen, Wegzeichen, Pfade, Refugien in der Fremde der Welt, der Natur, die ungütig ist, der die Menschen „wie strohene Opferhunde“ gelten (Lao tse).

7. Kollektive und private Mythen Ausser den kulturellen und subkulturellen Mythen mit ihren Komponenten, den verschiedenen Mythologemen, gibt es auch private Mythen, u.U. mit ganz speziellen idiosynkratischen Mythologemen. Ihre Träger können dabei in ihrer Sozietät adaptiert und integriert bleiben, ihr Privatmythos – oft ein Kompositum von Mythologemen aus ganz verschiedenen Weltanschauungen – kann ohne Dysfunktionsfolge gelebt werden – in der Gruppe oder isoliert. Nur dort, wo Privatmythologeme und die Art, wie sie ausgetragen werden, den Träger infirm, dysfunktionell werden lassen, darf man von Wahn im Sinne der Psychopathologie sprechen.

28 in Gottfried Benn Brevier S. 145/6.

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8. Die Werkstatt der Mythopoiese Wir bilden uns über die Mythopoiese nur Vorstellungen – und kleiden die dann wieder in Mythen ein. Der Prozess beginnt mit einem – vielleicht noch dumpfen – Gewahrwerden, einer protopathischen Anmutung, einer kognitiv noch nicht differenzierten und noch nicht in Sprache gefassten Erfahrung, einem Erleben. Das kann als Empfangenes, Rezipiertes interior oder exterior lokalisiert werden. Interne Erfahrungen, Gefühle, Bilder, Einfälle des Einzelnen angesichts des(r) Anderen und externe Ereignisse, z.B. Begegnungen, Anfragen, Bitten, regen den mythopoietischen Prozess der narrativen Ausgestaltung, Sinnverknüpfung, Kontextualisierung (Stenger 1993) unter Verbindung von Bausteinen, Themen, Leitworten der kulturell oder subkulturell tradierten Deutungsmuster an. Mythopoiesis ist Herstellen eines Bedeutungs-Verweisungs-Sinn-Zusammenhanges. Die Konsumtion von Elementen aus ganz verschiedenen Traditionen, im New Age von indigenen Kulturen, christlichen, indischen, buddhistischen, chinesischen Elementen, von Schamanentum, Heilern, Priestern, Zauberern und Hexen (schwarze, weisse, graue Magie), angereichert mit Wissensstücken aus Ethnologie, Ethnobotanik, Ethnomedizin verschiedenen Ursprungs (Ayurveda, traditionelle chinesische Medizin, u.v.a.), vermischt mit (oft unverstandener) „neuer“ Physik und physikalistischen Metaphern – dieses Amalgam von eklektischem Omnivorentum kann nicht verdecken, dass die hauptsächlichen Elemente solcher esoterisch-hermetisch-okkulter Weltanschauungen um die drei grossen Ideen kreisen: höhere Wirklichkeit, Ganzheit, Bewusstseinsentwicklung. Sie konstituieren das „okkulte Axiom“ (Stenger 1993). Diese Elemente werden im psychologischen Blickfeld als Suche nach Bewusstseinserweiterung, Selbstverwirklichung, nach dem eigentlichen, wahren, spirituellen Selbst artikuliert, in mehr spiritueller Sprachgestalt vom IchTod als Vorbereitung für die Liberation und Salvation. In einer animistischspiritistischen Perspektive steht die Naturmythik, der Umgang mit, die Kommunikation mit Geistern von Tieren, Pflanzen, Steinen, Fluss, Meer oder von Verstorbenen im Zentrum. In esoterischer Deutung der GeistEnergie wird der Mythos von Chi oder Kundalini als göttlicher Energie im eigenen Körper, der vergänglichen Inkarnationsstätte des Unsterblichen, tradiert.

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Wo die Themen des Woher, Wohin, Warum des Lebens und Was nachher nach Antwort drängen, dort gibt der Mythos von Reinkarnation und Karma Erklärungen. Im Wiedergeburtsglauben ist der Tod zu einem passageren Ereignis relativiert, gar selbststeuerbar im Gehen und Wiederkommen: also eigentlich eine mentale Überwindung des Todes, der endgültigen, unausweichlichen Vergänglichkeit. In dieser höheren, d.h. Gottheit = Geist = Energie bedeutenden Wirklichkeit ist alles mit allem verbunden (systemisch vernetzt), hat alles seinen Sinn, ist nichts zufällig und ist alles (Belebtes und Unbelebtes) beseelt und anthropomorph personalisiert. Nur die Eingeweihten, die Meister, Lehrer, die Medien sind (nach Selbstund/oder Fremdattribution) befähigt, die Botschaft der höheren Wirklichkeit zu empfangen, zu entschlüsseln, zu lesen und mit dieser Wirklichkeit handelnd umzugehen als Schamanen, Medien, Wahrsager, Berater, Heiler. Welche Kräfte für das Selbstgefühl, den Selbstwert, die Identität eine Initiation, eine Einweihung in die Stufen der Wissenden und Befähigten da am Werke sind in der lebensgeschichtlichen Selbstrettung und narrativen Selbstgestaltung, das kann man etwa ahnen. Da ist die Kleinheit, die Ohnmacht, das Ausgesetztsein an einen kalten, liebeleeren Kosmos überwunden, ja sogar die Unwiderruflichkeit des Todes. Das wirkt Mythopoiesis vom „Wissen“, der Gnosis des Eingeweihten bis zur Praxis des Heilers. Da ahnen wir etwas von der verführerischen Einflussgrösse auf diesen noopoietischen (sinnstiftenden) Prozess, der das ganze Leben, ja den ganzen Kosmos einbeziehenden Sinnvernetzung. Der Komposition von Subsystemen zu Systemen folgt die des Supersystems: Idee und Ideal des Ganzen (Scharfetter 1998). Die Griechen nannten die Sehnsucht und Suche nach Sinn im geordneten Kosmos Zétesis. Persönliche Bedürfnisse, die ungeheure Winzigkeit des Individuums in einem undurchschaubaren Kosmos zu überwinden, der Erwartungsdruck an sich selbst mag sich da paaren mit dem von anderen: So vielversprechend mag der Gewinn an Erkenntnis und gar magischer Handlungsfähigkeit sein. Rilke sprach diese Sehnsuchts-Nöte an: Und du wartest, erwartest das Eine, das dein Leben unendlich vermehrt; das Mächtige, Ungemeine, das Erwachen der Steine, Tiefen, dir zugekehrt. Erinnerung. Das Buch der Bilder 1./2.T., S.155

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Der Druck, Sinn zu finden, bedeutet subjektiv eine Not: Lücken des Wissens und Verstehens nicht bestehen lassen zu können, die Ohnmacht nicht zu ertragen. In der Not tauchen Selbstrettungskräfte („Schutzengel“) auf: „Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin). Der Selbstwertgewinn als Eingeweihter, Heiler, Medium ist gross: Im Besitze von, begabt für höhere, tiefere, weiter reichende Einsichten, ich begnüge mich nicht mit profanen, banalen Erklärungen, kann Zufall entlarven als nicht-kontingente Sinnkonstellation – die Selbsterhöhung kann auch unter der Maske der Selbstbescheidenheit verdeckt sein, „nur Medium, Werkzeug“ zu sein; auch da ist das Erwähltsein, das Exzeptionelle, von dem das Ego Gewinn zieht – eine heimliche Deifizierung des Selbst zum Allwissenden. Solche Verführungsgefahr ruft zur Vorsicht. Der Wert des Einzelnen vor sich selbst und in seiner Sozietät steigt mit der Attribution der besonderen, übernormalen (supernaturalen, superhumanen) Begabung: „Ich weiss, erkenne, durchschaue, was ihr gewöhnlichen Menschen nicht könnt“ oder in der bescheideneren Variante: „Ich bin Medium höherer Mächte, Sprachrohr suprahumaner, kosmischer, extraterrestrischer Botschaften“. Gottfried Benn mahnt zur Bescheidenheit: „Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“ Bei Heidegger lesen wir die schlichten Worte: „Geh und trage, Fehl und Frage deinen einen Pfad entlang.“ Was im Mythos Gestalt gewinnt – in Bildern, Gleichnissen, Geschichten, Fabeln – da wird ein intrapsychisches Geschehen so erzählt wie Ereignisse in der realen (common sense) Aussenwelt. Kierkegaard (1844, s. 255): „Der Mythos lässt im Äusseren geschehen, was innerlich ist.“ Die hermeneutische Verführung – so könnte man den Drang nennen, das Unaussprechliche in mythische Sprachgestalt zu kleiden, das stumme Stroh zur sprechenden Puppe zu personalisieren, das transhumane, gar extraterrestische Geschehen in menschliche Sprachen einzubinden. Manchmal erscheint diese Sprache zeit-angepasst auch im Gewande scheinbar so presti-

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ge-gewichtiger „Wissenschaft“. „Verstandesmythen“ nannte Kierkgaard solche „modernen“ Mythen (1844). Seine ironischen Anmerkungen sind auch im 21. Jahrhundert gültig: ... indem wir uns daran erinnern, dass keine Zeit so behände gewesen ist, Verstandesmythen hervorzubringen, wie die unsere, welche selbst Mythen hervorbringt, indessen sie alle Mythen ausrotten will (224). In dieser Hinsicht ist unsere Zeit unermüdlich gewesen, ein jedes Ding dahin zu bringen, dass es alles bedeutet. Wie flink und unverdrossen sieht man nicht zuweilen den einen oder anderen Mystagogen eine ganze Mythologie prostituieren, um durch seinen Falkenblick jede einzige Mythe dahin zu bringen, dass sie eine Schnurre werde auf seiner Maultrommel (258/9)? Das Halten vor dem Unfassbaren der Transzendenz, des Umgreifenden (Jaspers 1932), vor dem Unsagbaren (Wittgenstein 1921), der Verzicht auf mythopoietische Ausgestaltung in „Sophien“ (Theo-, Anthropo- bis hin zu Wilbers Kosmologie) – ist diese Enthaltsamkeit geistiger Askese, solcher Verzicht auf die mythopoietische Konstruktion eines „mundus imaginalis“ (Corbin 1964) nicht kostbarer als alle Illusion von Wissen und Bewirken? Lao tse lehrte schon: Das Tao, welches offenbar wird, ist nicht das Tao. Das Tao, von dem man reden kann, ist nicht das Tao. Rilke war offen für diese Dimensionen des Bewusstseins – als ahnungsvolle Berührung, als Sehnsucht nach dem verborgenen Gott, als Offenheit für das Geheimnis. Aber dieser Sprachmächtige verzichtete auf eine Gestaltgebung „des Wehenden“ (s. S. 22). Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Es winkt zu Fühlung Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden, in welchen meine Sinne sich vertiefen; Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe Das Buch vom mönchischen Leben

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So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten, voller Erscheinung, aus der Ferne an – und wandelt uns, auch wenn wir’s nicht erreichen, in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind. Spaziergang

Die Achtung vor der Sensibilität, dem Gespür der „paranormal“ Begabten, denen ihre Fähigkeiten das alltägliche Leben ja nicht leichter machen, führt zur respektvollen Besinnung, diese Sensitivität und Transparenz für Empathie in Sympathie sei erst durch Verkümmerung der Sinne im Verlaufe der kulturellen Evolution verloren gegangen – hin zum robusten Normenmenschen. Rilke sprach davon (1904, Brief an einen jungen Dichter, 44): Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Dass die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man „Erscheinungen“ nennt, die ganze sogenannte „Geisterwelt“, der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, dass die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar nicht zu reden. Der Gestaltgebungsdrang ist gross. Gestalte dich, Stille. Gestalte die Dinge Vom mönchischen Leben / 1,56

Auch Gott wird gestaltet eingebunden: Alle, welche dich suchen, versuchen dich. Und die, so dich finden, binden dich an Bild und Gebärde. Buch der Pilgerschaft / 1,75

Gottfried Benn wusste von der germinativen Bewusstseinsflut (135): Wer allein ist, ist auch im Geheimnis. Immer steht er in der Bilder Flut, ihrer Zeugung, ihrer Keimnis. Selbst die Schatten tragen ihre Glut.

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9. Naturmythik am Beispiel der Tierkommunikation Die Bewegung der Animal Communication ist ein illustratives Beispiel für die New Age Weltanschauung. Zwar gab es immer schon Begabte, die sich mit Tieren besonders gut verstanden. Aber es gehört zur „modernen“ Workshop-Kultur, dass daraus gerade eine Schule geschaffen wird – bei „Pferdeflüsterern“ nicht anders als in der Animal Communication. Penelope Smith (1995,1998) in den USA ist eine Initiatorin der Bewegung, die nun auch in Europa Verbreitung findet. Myers (2000) hat viele Interviews mit solchen Tier-Kommunikatorinnen zusammen getragen. Es sind meist Frauen, viele mit schwerem Schicksal schon in der Kindheit: Alkoholismus der Eltern (P.S.), Missbrauch, Gewalt, Rohheit des Gemüts, extreme Isolation auf abgelegenen Farmen oder Ranches. Da taucht das Rettende wie ein Schutzengel auf: die Beziehung zu Tieren und auf dem Weg dieser sozialen Funktion (Beraterin, Heilerin) eine Aufwertung des Selbst. Spontan oder in Kursen gelernt werden die Botschaften der Tiere, die Kommunikation in Fragen des Menschen, Antworten der Tiere immer deutlicher erlebt: als sprachliche Mitteilungen (die Tiere reden Englisch, Deutsch, Schwedisch), als Diktat von Tieren (Lind 2001), als Bilder, als Gefühle, die als „gesendet“ gedeutet werden. Das gelingt vielen auch über geographische Distanzen in telephonischen Beratungen, bei denen der Tierbesitzer (Klient) als Fragesteller Auskünfte gibt, als eigentlicher Informant aber das Tier selbst erlebt wird. Ich nenne hier einige Beispiele, die die Weltanschauung der Tier-Kommunikatorinnen zeigen: Delphine lehren die Menschen Liebe, Rücksichtnahme und Harmonie PS29 1998, 238

Elefanten und Wale singen und weben zusammen einen Klangteppich über die Erde, der unseren Planeten in der Waage hält My30 243/4

29 PS = Penelope Smith 30 My = Myers

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Steine sind am tiefsten mit der magnetischen Erdenergie verbunden und haben das ausgedehnteste kosmische Bewusstsein PS 1998, 473

Die Hündin Fara lief selbst in ein Auto, wollte ihren Tod PS 1995, 279

Viele Tiere entscheiden bewusst selbst, wann, wie und wo sie sterben PS 1995, 278

Die Stute ist traurig, weil sie in ihrem früheren Leben (als Mensch) im KZ war31 PS 1998, 360

Die Invasion der Kakerlaken: sie sind von der wunderbaren Energie in unserem Haus angezogen PS 1998, 127

Die Afghanen-Hunde kamen mit einem Raumschiff von einem anderen Planeten nach Aegypten, um den Menschen spirituell zu helfen PS 1998, 416

Dazu einige Kommentare von Kommunikatorinnen über ihre Erfahrungen (akustisch, optisch, Stimmungen): Stimmen...keine fremden Stimmen...es war meine Stimme in meinem Kopf My 2000, 119

Identifikation mit dem Tier/Baum… „Der Übende sieht die Dinge wie das Tier.“ My 122

31 Penelope Smith fabuliert Reinkarnationen in üppiger Fülle. Sie sei früher ausser als Mensch auch als Frosch auf der Erde gewesen und als Tiger. Sie habe als Tiger in Indien einen Knaben gefressen. Dieser Knabe sei später, als sie Menschenfrau war, ihr erster Ehemann gewesen. Dieser habe eine Katzenallergie gehabt (1993, 377).

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„Tiere sind Spiegelungen unseres Selbst.“ My 124

Personalisierung der Objekte „Der Stein schenkte der Frau Freude“. Die Antworten der Tier-Kommunikatorinnen können meines Erachtens in 4 Kategorien gruppiert werden: − Banal-alltägliche Antworten, die unverbindlich mehr oder weniger immer irgendwie als zutreffend erachtet werden können. Z.B. fragt eine Klientin, ob ihr Pferd gerne auf eine Weide in eine Herde kommen möchte. Das Pferd bejaht das. Manche dieser Antworten erinnern an die Formulierungen von Wahrsagern, Astrologen, Chiromanten, – tangential treffen sie etwas, was manchmal so beeindruckt, dass der Rest unkritisch belassen bleibt. Solche Aussagen übermitteln auch Botschaften, sogar Grüsse, der Liebe und postmortalen Präsenz, oder versprechen Wiederkunft in anderer Gestalt und sind trostvoll und daher willkommen. − Viele zutreffende Antworten, oft solche für den naiven Klienten recht verblüffende, enthalten Elemente aus subliminal (unter der Schwelle reflektierter Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, „zwischen den Zeilen“, Worten) übermittelten Informationen des Klienten. Z.B. fragt eine Klientin, warum ihr bisher so stubenreiner Kater seit einiger Zeit in ihr Bett uriniert. Die Kommunikatorin findet „aus dem Gespräch mit dem Kater“ heraus, dass dieser eifersüchtig ist, weil seine Besitzerin seit einiger Zeit einen Freund bei sich hat. Daher seine Protestverhalten. Oder: Ein sichtlich sterbenswilliger, lebensmüder Hund gibt sein Einverständnis, dass er eingeschläfert werde. − Die dritte Gruppe umfasst exquisit esoterische Erklärungs-Mythen jenseits jeder Prüfbarkeit. Z.B.: Die Stute ist traurig, weil sie in einem früheren Leben als Mensch im KZ war. Der Hund, der im Strassenverkehr getötet wurde, sprang selbst hinein, weil er sterben wollte, um in einer anderen Inkarnation als Wolf in der freien Wildnis wiedergeboren zu werden. Die Afghanen-Hunde kamen mit einem Raumschiff von extraterresti-

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schen Gestirnen nach Ägypten, um mit ihrer Liebe und ihrem Adel die Menschen zu erfreuen. − Dort, wo am ehesten eine Überprüfung der Aussagen der Tier-Kommunikatorin an der Alltagsrealität möglich wäre, nämlich am Auffinden von verlorenen Tieren, ist es für die Tier-Kommunikatorinnen so schwierig, dass viele solche Aufträge gar nicht annehmen (Myers). Die Trefferquote ist so gering, dass Zweifel an der Kompetenz der Tier-Kommunikatorinnen aufkommen könnten.

10. Die Kommunikation mit dem Tier Diese Botschaften, die das Bewusstsein der Tier-Kommunikatorin „empfängt“, werden induziert von dem unmittelbaren oder telepathischen Kontakt mit dem Tier (telepathisch Penelope Smith, leiblich-konkreter Tierkontakt Carola Lind). Das Wort Synaesthesie im Sinne von Mitempfinden (nicht im gängigeren Wortgebrauch von Ineinanderfliessen von Sinnesempfindungen, bes. Farben und Tönen) bietet sich an – ein Zusammenfühlen, – wahrnehmen von Mensch und Tier, deshalb auch Sympathie, compassion. Die empfangenen Antworten erscheinen in menschlich fassbarer Form als Worte, Sätze, Bilder, induzierte Gefühle, Ahnungen. Diese tragen Charakteristika des Fragestellers, also des Senders der Anfragen an das Tier, und des Empfängers der Antworten – es ist ja ein und dieselbe Person der TierKommunikatorin.

11. Ein heuristischer Entwurf zur Psychologie der Tierkommunikation Was geschieht da? In der „intuitiven“ (d.h. „leer wie in Meditation“, „offen“ wie ohne Ich-Grenze) Ausrichtung auf das Tier und die informationssuchende Tierbesitzerin (die bei der Konsultation viele Informationen gibt, z.T. „zwischen den Zeilen“, ohne es zu merken) entstehen, erscheinen, werden wahrnehmbar im Bewusstsein der Tier-Kommunikatorin Bilder und/oder Worte32. Diese werden vom Observer-Ego der Tier-Kommunikatorin als nicht eigen, nicht selbst-gemacht, nicht ihrer Autorschaft entstam-

32 Die Parallelen zu Übertragungseinfällen sind da, aber sie sind keine Erklärung.

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mend, nicht aus dem egoifizierten Eigenbereich kommend eingeordnet, verortet. Das heisst, sie werden als ankommende Botschaft, als afferentes Ereignis gedeutet. Die empfangene Intuition wird als non-egoifiziert und als afferent – statt als egoifiziert und efferent „erlebt“, gedeutet. (Parallelen zur projektiven Identifikation liegen nahe). Die „empfangenen“ Bilder, Worte, Gefühlsbotschaften werden von der mythopoietischen Phantasie ausgestaltet und in einer Narration präsentiert: „Das Tier sagt mir... sendet mir Bilder... erweckt das Gefühl in mir...“ Der in der Interaktion der Tierkommunikatorin mit der anfragenden Klientin, rsp. deren Tier – als bewusst intentioniertem Adressaten und Informanten – konstellierte besondere Bewusstseinszustand erlaubt eine Trennung von ichhafter Anfrage („ich frage“, ...) und ichhaft erlebter Rezeption der Antworten („ich empfange“). Die Produktion der Antworten und ihre anthropomorphe Gestaltung wird dem Tier attribuiert, wird also ausdrücklich nicht egoifiziert, d.h. dem eigenen Ich-Bereich zugeschrieben. Die Antwort wird verarbeitet („erlebt“) als zukommend, gegeben („es erscheint mir, es wird mir gesendet“). Ein Vergleich mit dem Traum bietet sich an: er wird als aus einem non-egoBereich des Mentalen kommend erlebt (in früheren Zeiten als von Gott, Ahnen etc. kommend gedeutet): „es träumte mir“. So sind Träume als „Eingebungen“ erlebt, deren Quelle kulturgeschichtlich früher extern lokalisiert wurde, heute in der okzidentalen Kultur als internen Ursprungs gedeutet wird (aus dem „Unbewussten“). Die reflexive Einordnung von Erlebnissen in das (weltanschaulich implizit oder explizit gegebene) Bewusstseinsfeld und im Besonderen der Grad der Selbstattribution, d.h. der Zuschreibung zum eigenen Ich („ich bin Autor meiner Erfahrungen, Erlebnisse und daraus resultierenden Handlungen) ist bedeutsam für die Verantwortungsübernahme. So wie die Wüstenväter „sündhafte“ Wünsche, Vorstellungen, Handlungen der externen Instanz Teufel zuschreiben konnten, kann der Träumer „unschickliche“ Traumhandlungen als ausserhalb seiner zu verantwortenden Zuständigkeit einordnen. So kann auch die imaginativ-mythopoietisch Begabte die Erfahrungen als ihr gegeben, nicht von ihrem eigenen Bewusstsein in der Interaktions-konstellation geschaffen deuten. Das mag vielleicht auch im Falle belastender oder verfehlter Mitteilungen an die Klientin entlastend sein für die Tierkommunikatorin.

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Der besondere Bewusstseinszustand (ein discrete state of mind im Sinne von Tart) während der Tierkommunikation kann als ein dissoziierter aufgefasst werden (ähnlich wie beim Schamanen in der Séance): Es ist einerseits durchaus Umgebungsbezug, Selbstlokalisation in der Situation der Konsultation, Bezug zum menschlichen Fragesteller (Klient) gegeben. Es ist andererseits „daneben“, ein „auf Empfang“ gestelltes Bewusstsein besonderer Art da, in welchem dieser non-egoifizierte (intuitive) Empfang produziert, aber ohne Selbstbewusstsein der eigenen Autorschaft als ankommend, afferent erlebt, gedeutet wird. Man könnte die aus der Interaktion der Tierkommunikatorin mit der Klientin entnommene Information als Funktion unbewusster, subliminaler Kognition deuten – im Sinne des „kognitiv Unbewussten“ von Kihlstrom (1987). In diesen dissoziierten Bewusstseinszustand zu treten, ihn „einzuschalten“ (das kann gelernt, geübt, gebahnt werden) bedeutet also, dass 1. die IchGrenze (Ich – Tier) aufgelockert wird33, dass 2. die Zuschreibung Ich/NichtIch, efferent/afferent, Geben/Empfangen nicht „im üblichen Sinn“ abläuft. Man darf also heuristisch ein Selbstmodell solcherart begabter Menschen (sogenannt Sensitiver, paranormal Begabter) entwerfen: Die Ich-Struktur, die Selbstkohärenz ist aufgelockert mit einer relativen Separation (Dissoziation) einzelner Funktionsbereiche im Bewusstseinsfeld.

Animal communicator

Tier

Observer – Ego repräsentiert vom Klienten

Ego fragt das Tier efferenter Vorgang Ego „empfängt“ Antworten Rezeption, afferenter Vorgang im egoifizierten Bewusstsein Frager und Empfänger

33 Auch dies ein mythisches Bild

Sender

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Die heuristische Vorstellung vom Selbst solcher paranormal begabter Menschen führt zur Vermutung einer wenig kohärenten Ich/Selbst-Struktur mit einer (gegenüber den relativ unsensiblen, unbegabten Durchschnittsmenschen) höheren Durchlässigkeit der Ich-Grenzen. Dies gestattet Diffusion bis Konfusion Ich – Anderer (Nicht-Ich), partizipative Identifikation in erhöhter Empathie, Mitempfinden im Eigenen, was im Anderen vorgeht (vergleichbar der Appersonierung). Im positiven Sinn heisst das: paranormale Begabung, Sensitivität (zunächst für den Empfang, das Spüren, nicht unbedingt auch schon für das heilende Handeln, das aber oft schon bald angestrebt wird). Die Begabung für solche „magical ideation“ (Meehl 1962) hat ihren Preis: viele solcher Menschen leben, jedenfalls vor der „Geburt“ der neuen Identität als zu Besonderem befähigter Mensch und oft auch dann noch, belastet von Leid und Beschwer, sich selbst und ihre Beziehungen in Balance zu halten, mit psychischem und körperlichem Ausdruck des labilen Gleichgewichts (Meehl 1962, Ekblad und Chapman 1983). Im negativen Sinn kann (muss es aber nicht!) diese Charakterart bedeuten: Identitätsunsicherheit, Leihidentität als Adept einer idealisierten Meisterin, Selbstüberhöhung als übermenschlich begabt (oft verdeckt in der Gegenreaktion: „das können eigentlich alle, es ist nur in unserer Kultur verkümmert“ oder „ich bin nur Medium, Werkzeug höherer geistiger Mächte“). Es kommen Schwierigkeiten der Abgrenzung vom Klienten und seinem Tier vor und Überengagement (in einer Art Helfersyndrom) mit folgender energetischer Erschöpfung. Deshalb ist für solche Menschen das Erlernen des adäquaten psycho-hygienischen Umgangs mit der eigenen Begabung wichtig (unter Umständen eine Aufgabe psychotherapeutischer Begleitung). Viele der Tier-Kommunikatorinnen berichten von einer leidvollen Kindheit und Jugend, vieles erinnert an (nicht nur sexuelle) Missbrauchsopfer (Myers, 2000). Viele leiden an einer emotionalen und vegetativen Labilität mit psychosomatischen Regulationsstörungen (Gewicht, Kreislauf, Migräne). Im Zusammenhang mit gefährdetem Selbstbewusstsein, verkümmertem Selbstschutz, schlechter Abgrenzung und Nähe-Distanz-Relation sind Beziehungsschwierigkeiten zu sehen. Die leidvoll erlebte Einsamkeit und Selbstwertproblematik wird kompensiert in der aufwertenden Inanspruchnahme als Diagnostikerin, Heilerin, Lehrerin. Dazu kommt die stark perso-

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nalisierte Beziehung zu Tieren, die als „spirituelle Weise“ idealisiert werden (Penelope Smith)34.

12. Die esoterischen Mythen – kein Wahn Die in der Literatur angebotenen Kriterien zur Kennzeichnung von Wahn taugen angesichts des weiten Spektrums von Selbst- und Weltbildern inund ausserhalb der Psychopathologie nicht recht, jedenfalls nicht als generell brauchbare Definition. Solche Kriterien sind meist viel zu sehr von Vormeinungen der Autoren über richtig/falsch, rational/irrational, verständlich und einfühlbar/unverständlich, befremdend, Denken/Vorstellung/Urteilen, über den Krankheitsbegriff, Selbst- und Objektrepräsentanz, Subjekt und Objekt und ihre Beziehung, bestimmt. Deshalb versagen diese Kriterien bei Kindern, bei Repräsentanten anderer Kulturen, Religionen, Glaubensgemeinschaften (Glaube, Aberglaube, Sekte, etc.) und überall dort, wo der angegebene Inhalt einer Weltanschauung jenseits jeder Prüfbarkeit liegt: durch Objektivierung, Repetition in standardisierten Bedingungen, Prüfung durch verschiedene Sinneskanäle und im intersubjektiven Konsens. Einige Definitionsversuche schliessen „pathologisch“, „krankhaft entstanden“ ein, setzen also die Diagnose „krank“ voraus. Auch die Einteilung in echten (sog. unableitbaren) Wahn und unechten stammt von voreingenommenen Setzungen, was verstehbar, erklärbar sei oder nicht. Zu diesen, wegen der impliziten Vorannahmen untauglichen, Kriterien der Abgrenzung von Wahn gegenüber besonderen Weltanschauungen gehören: Wahn drücke eine Unmöglichkeit des Inhaltes (Jaspers), Abwegigkeit (Blankenburg) aus. Wahn sei •

eine Art des Irrtums



eine Denkstörung



ein pathologisch verfälschtes Urteil



ein falsches Urteil



ein Irrsinn der Intelligenz

34 Wem die Welt voller Geister ist (wer in konkretistischer Allkommunikation steht), der/die ist nie allein.

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eine unrichtige Vorstellung



eine gestörte Einbildungskraft



eine Beziehungsetzung ohne Anlass



eine abnorme Bedeutungs- und Beziehungssetzung



eine fehlerhafte Eigenbeziehung



eine falsche Ich-Beziehung



eine Störung der Sympathiegefühle



eine Störung des primären Bedeutungsbewusstseins



eine veränderte Weltkonstitution



eine falsche Art des Glaubens



eine unvergleichliche subjektive Gewissheit



eine irrige Gewissheit



eine unkorrigierbare Gewissheit

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Alle diese Kriterien können zur Ausgliederung von Weltanschauungen, die nicht der gängigen kulturellen Norm entsprechen, die dieser Macht der Normalen also nicht genehm sind, missbraucht werden. Und sie wurden es auch oftmals. Ein krasses Beispiel ist die Psychiatrisierung von Menschen mit non-konformen politischen Anschauungen in der USSR. Aber das war nichts Einmaliges, in kleinerem Rahmen geschieht dies als Ausgliederung und Diskriminierung Andersdenkender auf politischer und institutioneller Ebene. Und manche Psychiater tun da als Normenexperten mit (wie seinerzeit im Nazi-Regime und in der USSR). Der scheinbar so rational-technischen, reduktionistischen Normenwelt der Aufklärung steht gleichsam komplementär gegenüber eine Gegenkultur der esoterischen Varianten der Transpersonalen Psychologie35, die in ihrer Opposition gegen das herrschende Wissenschaftsverständnis auch noch das Handwerkszeug klarer Kognitionen und sauberer Begrifflichkeit für unnötig hält, weil die Gewissheit ja als rieselnder Schauer im Leib, bes. im Bauch, gespürt wird. Die subkulturelle Mythik und die idiosynkratischen privaten und privativen (d.h. der Gemeinschaft beraubenden) Überzeugungen von sich und der

35 und mancher Alternativmedizin (z.B. Geistheilen)

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Welt, die wir Wahn nennen, weisen gewisse Ähnlichkeiten auf. Darum ist eine besondere Wachsamkeit der Unterscheidung zu fordern. Ähnlich ist: Das besondere, vom gewöhnlich-menschlichen abgehobene „Wissen“ jenseits des sensorisch repetitiv und intersubjektiv prüfbaren Wissens einer „objektiven“ Realität. Inhalte und Gestaltung der narrativ wiedergegebenen Botschaften sind so, dass meist keine Überprüfung möglich ist. Sie sind jenseits von wahr/falsch. Solcher Unterscheidung stellen sie sich nicht. Sie schalten den Zufall aus und finden immer einen Sinn36. Die Narrationen gelten dem Schöpfer als fraglos gewiss, evident, keines Beweises bedürftig, keiner Argumente zugänglich, erhaben über Fragen der Kausalität, Chronologie, Logik. Die Komponenten für die Konstruktion sowohl okkulter Wirklichkeit (s. Stenger, 1993) wie wahnhafter Welt- und Selbstdeutung sind heterogen – aus Alltagselementen, Traditionsgut verschiedener Kulturen oder Subkulturen (eklektisches Omnivorentum, postkoloniale kulturelle Ausbeutung), verknüpft mit idiosynkratischen Bildern, Symbolen, Bedeutungen. Mythen und Privatmythologeme können zu einem System zusammengebaut werden, aber auch vielfach in unfertiger, lockerer Kohäsion verbleiben – sie sind dann flexibler. Es sind manche Gemeinsamkeiten der Psychodynamik in diesen Prozessen anzunehmen: der Gewinn für das Ich, den Selbstwert, die Identität, „Erklärung“ des Geschehens in der Welt, Sinnfindung, Verstehen. Aber: Diese esoterischen Mythen sind kein Wahn: Die Aussagen (Geschichten) sind nicht nur idiosynkratisch, autistischdereell, sondern sie entstammen, nähren sich aus und sind eingebettet in eine nun schon alte Subkultur: in die gnostisch-hermetische Tradition. Diese wird angeeignet, mit „modernen“ Elementen ausgestattet und in rezenter Sprache, die die pluralistisch-multikulturelle kreolisierte Kultur (Bibeau 1997) wiederspiegelt, präsentiert. Die Anschauungen und die dazu gehörigen Verhaltensweisen sind (mehr oder weniger) in die Persönlichkeit integriert.

36 von Baeyer 1979: Zwang zur Sinnentnahme

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Die Tradition ist subkulturell gegeben, also in einem psychosozialen Kontext – nicht nur privat und privativ (isolierend). Und zum Schluss das wichtigste Kriterium zur Unterscheidung dieser esoterisch-okkulten Weltanschauungen vom Wahn im psychopathologischen Sinn (Scharfetter 2002): Diese Mythen lassen ihre Träger nicht dysfunktionell, infirm, krank werden. Viele leben in ihren ökologischen Nischen in einer „doppelten Buchführung“ von rational-technischem Beruf und der privaten Anderwelt. Manche bestreiten als Heilerinnen ihren Lebensunterhalt. Andere vermitteln ihre Weltbilder und das daraus abgeleitete Handeln als Lehrerinnen in workshops – und ernten Ruhm und Geld. So gewinnen die Menschen auf verschiedene Weise aus ihren Weltbildern Selbstwert und Weltbezug, soziale Einbettung, ökonomisches Auskommen, Erfolg und Glück: salus, „irdisches“ Heil37.

13. Die Ernte Es gibt keine verlässlichen auf Inhalt und Form abstellenden Kriterien, um Mythologeme, Philosopheme, Ideologien klar von Wahn im psychopathologischen Sinn zu trennen. Das mag je nach Einstellung einigen Genugtuung geben, anderen ein Ärgernis sein. Schmerzlich wird vielen die Einsicht sein, dass wir uns nicht schlicht und naiv auf das Urteil der (personund zeitgeistabhängigen) Vernunft und der Gewissheit (Überzeugung) verlassen können38. Vielleicht lernen wir daraus, zu überlegen, ob wir nicht das Wort „ist“ (Gott ist, das Sein ist, Existenz ist...) selbsteinsichtig und bescheiden ersetzen sollten durch: ich sehe, genauer ich meine zu sehen..., ich deute das so..., in meinem Bewusstsein zeigt sich diese Sicht, Gestalt, vernehme ich diese Vision... Audition... für meinen Entwicklungsstand ergibt sich mir für die Fragen nach woher, wohin, woraus, wozu folgendes Bild (Schau)...

37 In dieser Perspektive ist eher problematisch, wenn jemand infolge seiner Ich-Krankheit, Selbstpathologie kein einigermassen tragfähiges Weltbild und Wertgebäude in Mythos, Glaube, Philosophie, Wissenschaft gestalten oder wenigstens übernehmen kann, einschliesslich der Verantwortung dafür. 38 Vernünftigkeit und Überzeugung berufen sich scheinbar selbstsicher gerne auf den „gesunden Menschenverstand“, der aber meist nur die Normenperspektive des eigenen Ego widerspiegelt. Ob es ausserhalb der schlichten Überlebensstrategien „gesunden Menschenverstand“ überhaupt gibt? Jedenfalls überborden die Gründe, an seiner Funktion zu zweifeln oder über seine Absenz zu verzweifeln.

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Für die Psychiatrie als Praxis steht aber ein einfaches gewichtiges Kriterium zur Verfügung: nur dort dürfen wir von Wahn sprechen, wo der Träger solcher privaten und privativen (der Gemeinschaft entfremdend) Überzeugung durch die lebenspraktische Auswirkung dieser seinen Lebensaufgaben im alltagspraktischen Sinn von Adaptation, Coping, Überleben-können nicht mehr nachkommen kann: Dysfunktionalität, Infirmität. Nur dort „ist“ (=erscheint mir) diagnostisches und therapeutisches Handeln gerechtfertigt.

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STAVROS MENTZOS

Warum ist der Wahnkranke sehr oft fast „wahnsüchtig“? 1. Der „Kampf“ des Patienten um die Bestätigung seines Wahns Vor einigen Jahren besuchte ich die Universitätsklinik in Bern anläßlich einer wissenschaftlichen Veranstaltung. Als ich das Tor zum weitläufigen Gelände vor dem Hauptgebäude betrat, lief mir ein etwa 40-jähriger Mann, offensichtlich ein Patient, entgegen, der ohne Einleitung begann, mir den Inhalt seines Verfolgungswahns zu schildern und sehr heftig und leidenschaftlich die Richtigkeit seiner Behauptung zu begründen. Er ließ mich nicht los, bis wir am Hauptgebäude ankamen. Diese Szene erinnerte mich an eine fast identische Begebenheit, als ich ein paar Jahre davor von der Städtischen Nervenanstalt in Athen eingeladen war und ein Patient mich ebenfalls schon am Eingangstor abgefangen hat und mit großer Vehemenz, noch stärker als der Berner Patient gestikulierend – diesmal in griechischer Sprache – ebenfalls von der Richtigkeit seines Wahns mich zu überzeugen versuchte. Jeder Psychiater hätte keine Schwierigkeit, eine große Anzahl ähnlicher Szenen aus seiner psychiatrischen Erfahrung aufzuzählen. Vielleicht nur noch eine: Als ganz junger Assistent, Anfang der 60er Jahre debattierte ich als diensthabender und aufnehmender Arzt mitten in der Nacht mit einem Patienten bei seiner Aufnahme 2 - 3 Stunden lang über die Richtigkeit seines Wahns, bis endlich die Pfleger mit einem Morphium-ScopolaminSpritze (es gab damals noch keine Neuroleptika) in der Hand erschienen und sagten: „Herr Doktor, jetzt ist es so weit!“ Aber auch affektiv psychotische Patienten und nicht nur Schizophrene, verhalten sich in dieser Hinsicht nicht viel anders. So kann ich mich erinnern, an eine junge Griechin der zweiten Generation in Deutschland, die ausgezeichnetes Deutsch sprach, ihr deutsches Abitur mit Eins-Plus machte und mich stundenlang (während ihrer Schulddepression) zu überzeugen versuchte, dass sie diese „Eins“ nicht verdient habe, sie hätte geschummelt und gemogelt, die Lehrer hätten es nicht gemerkt, dass sie eine Null sei usw.

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Kleinheitswahn kann also nicht nur unkorrigierbar sein, sondern auch mit großer Vehemenz vom Patienten, sogar von einem sonst depressiven und angeblich antriebsarmen Patienten verteidigt werden! Alle diese Patienten verhalten sich so, dass man den Eindruck gewinnt, sie seien von ihrem Wahn regelrecht abhängig, sie erinnern in gewisser Hinsicht an Drogenabhängige. Sie verhalten sich nicht bloß so wie jeder psychisch oder körperlich Kranke, der das Bedürfnis spürt, sein Leid den Mitmenschen und den Ärzten mitzuteilen. Man gewinnt den Eindruck, dass sie darüber hinaus eine Festigung ihres Wahns durch die erkämpfte Bestätigung von außen dringend brauchen.

2. Überwertige Ideen und katathymer Wahn Warum der Patient an seinem Wahn hängt, ist nicht einheitlich zu beantworten, weil es sich bei verschiedenen Wahnformen und auch bei den verschiedenen konkreten individuellen Konstellationen, um eine jeweils anders geartete Psychodynamik handelt. Bei nicht regelrechten Wahnideen, sondern wahnartigen Phänomenen, wie überwertigen Ideen oder sonstigen katathymen, also dem herrschenden Affekt thematisch entsprechenden Wahninhalten (z.B. bei querulatorischen Zuständen, bei Weltverbesseren oder Erfindern usw.) kann die Erklärung leicht normalpsychologisch erfolgen, obwohl auch bei ihnen die Unkorrigierbarkeit nicht unterschätzt werden darf. Ich kann mich z.B. erinnern, wie zu meiner Studentenzeit, zu Beginn des Studiums im Fach Physik, der damalige Ordinarius in Athen, der seine sehr lebendige Vorlesung auch mit psychosozial relevanten Aspekten zu schmücken pflegte, uns vor einer in seinem Gebiet offenbar häufig auftretende überwertige Idee mit den Worten warnte: „Sollte jemand unter Ihnen die Vorstellung haben, er hätte das Mobilie perpetuum entdeckt, so soll er um Gotteswillen rechtzeitig zu mir kommen. Ich habe Menschen gesehen, die ein ganzes Leben lang von dieser Idee besetzt waren und sich damit ruinierten“! Dass alle solche überwertigen Ideen, Querulanzen und sonstige unkorrigierbare Überzeugungen außerhalb des eigentlich psychotischen Spektrums, diese Hartnäckigkeit und Unkorrigierbarkeit besitzen können, beruht darauf, dass sie ebenfalls wie der regelrechte Wahn eine wichtige Funktion bei der Stabilisierung des Selbst der Betreffenden ausüben. Dasselbe gilt aber um so mehr für Wahnformen im Bereich von megalomanen Ideen oder diffusen Verschmelzungen oder beim Liebeswahn, also bei allen For-

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men des Wahns, bei denen die Wunscherfüllungsfunktion bzw. die wahnhafte Verwirklichung von unerfüllter Sehnsucht leicht durchschaubar ist. Die psychologische Ableitung aller dieser positiv besetzten und herbei gewünschten Wahninhalte fällt uns also nicht schwer. Wie ist aber dieses unkorrigierbare und leidenschafftliche Beharren, diese vehemente, engagierte Verteidigung des Wahninhaltes zu verstehen, dort wo die wahnhafte Verzerrung der Realitätswahrnehmung nicht nur keiner Wunscherfüllung entspricht, sondern, umgekehrt, potentiell negative, ja schmerzliche oder sogar lebensbedrohliche Folgen für den Betreffenden impliziert? Wie ist also dieses Festhalten an einer Umdeutung der Realität, welche geradezu gegen das Lust-Unlust-Prinzip zu erklären?

3. Der Verfolgungswahn So wird wohl kein Patient mit einem Verfolgungswahn angeben, dass er diese Verfolgung gern hätte; im Gegenteil er wird seine Besorgnis und seine Angst und seine Wut ob dieser Verfolgung in den Vordergrund stellen. Er wird aber trotzdem sich so verhalten, wie wenn er diese Vorstellung, dass er verfolgt werde, auf keinen Fall aufgeben möchte. Wie wenn sie für ihn sehr wichtig, ja für sein psychisches Überleben unentbehrlich wäre. Im folgenden konzentriere ich mich auf die Psychodynamik des Verfolgungswahns, weil ich glaube, dass wenn es uns gelingen würde zu verstehen, warum der Patient an dieser für ihn so negativen, ja subjektiv lebensbedrohlichen Überzeugung festhält, es ein Leichtes wäre, ein Verständnis auch für andere, nicht so unangenehme Wahninhalte zu gewinnen. Der Verfolgungswahn ist ein zu allen Zeiten und Orten anzutreffendes Phänomen. Er stellt ein so charakteristisches Erlebens- und Verhaltensmuster dar, dass er lange, bevor die wissenschaftliche Psychiatrie ihn beschreiben konnte, in jeder Sprache einen Namen bekam und in vielen literarischen Texten im Detail geschildert wurde. Während die meisten Psychiater in den letzten 200 Jahren der Meinung von Karl Jaspers waren, dass gerade dieser Wahn zu jenen, eben nicht weiter psychologisch ableitbaren psychischen Inhalten gehört, gab es doch einige wenige unter ihnen (wie z.B. Bleuler), die eine psychologische Ableitung als möglich betrachteten und dann freilich eine große Anzahl von Psychoanalytikern, die den „Sinn“, die Funktion dieses pathologischen Phänomens darin sahen, unerwünschte, unerträgliche, insbesondere aggressive Impulse und Gefühle nach außen,

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also in andere Objekte zu projizieren. Nun wäre es aber nicht richtig zu behaupten, dass auch Freud den Verfolgungswahn nur als Resultat einer solchen Projektion verstehe. Freud sprach von einer Umkehr und eine erst danach folgende Projektion. Das ursprüngliche „ich liebe ihn“ wird zu einem „ich hasse ihn“ umgekehrt, um dann in einem zweiten Schritt den Haß zu projizieren“. „Nicht ich hasse ihn, sondern er haßt mich“. Freud versuchte dabei zu zeigen, dass der Verfolgungswahn des Patienten der Abwehr homosexueller Impulse diene. Diese spezielle Homosexualitätshypothese dürfte freilich heute in dieser Formulierung als überholt gelten. Trotzdem scheint es mir, dass Freud etwas wesentliches dabei erfaßt hat, dass nämlich das ursprüngliche Problem hier nicht eine vorgegebene destruktive Aggressivität, sondern eine nicht erlaubte oder anders für das Selbst gefährliche Liebe ist! Freud hat somit hier die viel später, bei Psychotherapeuten gewonnene, Einsicht in die distanzierende Funktion des Wahns (Distanzierung vom gefährlichen Objekt) vorweg genommen. Auch die zweite Konzeption Freuds über den Wahn, dass nämlich der Wahn die notwendige Rekonstruktion der Welt sei („der Paranoiker baue die Welt wieder auf, nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, dass er wieder mit ihr leben kann“ – Freud, GW VIII, S. 307) läßt sich relativ gut mit unseren heutigen Auffassungen über die Funktion (Selbst-Abgrenzung und -Stabilisierung) des Wahns vereinbaren. Somit läßt sich zunächst feststellen: Auch dort, wo der Wahninhalt auf den ersten Blick etwas für den Betroffenen Unangenehmes, Bedrohliches, Gefährliches impliziert, steht er nicht im Gegensatz zum Lust-Unlust-Prinzip, weil er ein noch größeres Leid, eine noch größere Gefahr abwehrt – deswegen wird er auch hartnäckig beibehalten. Ich will im folgenden diese „Funktionen“ des Wahns etwas näher schildern. Davor sei aber kurz daran erinnert, dass auch andere Psychoanalytiker sich bemüht haben, solche aktiven Abwehrkomponenten oder sogar positive Aspekte des Wahns heraus zu arbeiten, so etwa Benedetti, der zeigen konnte, dass der Wahn teilweise ja sogar schöpferische Anteile besitzt.

4. Die dilemmatische Struktur der schizophrenen Psychodynamik Mir imponiert der Verfolgungswahn gleichsam als ein Kompromiß zur Regelung des psychotischen Dilemmas. Dies muß für diejenigen Leser, die

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dieses psychodynamische Konzept der dilemmatischen Struktur der Psychose nicht kennen, kurz erläutert werden: Eine Fülle von klinischen Beobachtungen deutet darauf hin, dass der psychotische Mensch nicht so sehr durch die implizierten deutlichen IchFunktions-Störungen, sondern durch eine zentrale intrapsychische Gegensätzlichkeit (Unverträglichkeit zwischen entgegengesetzter Tendenzen) charakterisiert wird. Da er aufgrund bestimmter psychogenetisch psychodynamischen und bestimmter biologischen Gegebenheiten nicht in der Lage ist, ohne weiteres die bei allen Menschen vorgegebenen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen (also Autonomie-Bedürfnisse einerseits und Bindungs- und Vereinigungssehnsüchten mit dem Objekt andererseits) zu integrieren, gerät er in eine ausweglose Situation, in ein Dilemma, welches eine unerträgliche intrapsychische Spannung hervorruft. Er versucht sich dagegen zu schützen, entweder durch einen totalen Rückzug zum Autismus – was aber den Objektverlust bedeutet – oder umgekehrt durch die ebenfalls totale Fusion und Verschmelzung mit dem Objekt (z.B. ekstatische Psychose) – was den Selbstverlust impliziert. Häufiger kommt es aber zu dazwischen liegenden, sozusagen Kompromißlösungen, z.B. Externalisierung (d. h. Verlagerung nach außen) eines der beiden Komponenten des Dilemmas. So wird etwa die eigene Objektabhängigkeit in den „Stimmen“, die von „außen kommen“ oder das eigene Interesse für das Objekt in den Anderen (Beziehungswahn) projiziert. Unter vielen solcher „Lösungen“ stellt nun der Verfolgungswahn die häufigste psychotische Kompromißlösung dar: Die Beziehung zum Objekt wird in ihm nicht wie beim Autismus endgültig und total aufgegeben, das Objekt wird lediglich zu einem feindlichen und verfolgenden verwandelt. Diese „eingebaute“ Feindseligkeit sorgt für die erforderliche Distanz. Gleichzeitig findet eine Verschiebung des eminent wichtigen aber gleichzeitig auch eminent problematischen PrimärObjekts auf eine andere Person, Institution, Situation usw. statt, so dass im Endresultat, auf der phänomenalen Ebene, der Patient sich von Agenten, von der CIA, von ihm unbekannten oder auch bekannten, aber ihm fern stehende Personen verfolgt, bespitzelt, beeinträchtigt fühlt. Ich kann hier nicht das klinische Material vorführen, was mich auf diese Hypothese gebracht hat. Ich stelle jedoch in den letzten Jahren fest, dass psychodynamisch arbeitende Therapeuten auf der ganzen Welt zu ähnlichen Konzepten gekommen sind, wenn auch sie diese jeweils mit etwas unterschiedlichen Termini benennen und beschreiben. Ich meine nun, dass der Verfolgungswahn deswegen so verbreitet ist, weil er in Bezug auf dieses zentrale (in Zusammenhang mit bestimmten psycho-

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dynamischen und biologischen Voraussetzungen krank machende) Dilemma ein regelrechtes Antidot (in der Medizin: ein spezifisches Gegenmittel bei Vergiftungen) im übertragenen Sinne ist. Der Patient befindet sich in einem Zustand, wo er zwischen einer absoluten Objektlosigkeit und dem Verlust seiner Selbstidentität wählen muß. Die schreckliche diffuse Angst, mit der ein noch nicht behandelter akut-psychotischer Patient in die Klinik aufgenommen wird, entspricht offensichtlich seiner begründeten Befürchtung angesichts der Ausweglosigkeit dieser Situation. Eines der am meisten probaten Mittel gegen diese Angst und gegen diese Gefahren für das Selbst scheint der Verfolgungswahn zu sein. Ich hatte die Gelegenheit zu einer Zeit, als die modernen Psychopharmaka noch nicht entdeckt waren, 300 akut psychotisch gewordene Patienten in den ersten Stunden und Tagen ihrer Psychose zu beobachten und zu begleiten und mußte das feststellen, was viele Psychiater auch schon früher gewußt haben: In dem Maße, in dem diese Patienten, welche zunächst keine Wahnsymptomatik hatten, einen Wahn, vorwiegend einen Verfolgungswahn entwickelten, bildete sich die diffuse Angst zurück! Ihr Selbst bekam wieder Konturen, sie wußten jetzt besser, wo Selbst und wo Nicht-Selbst ist. Die Ich-Grenzen wurden wieder hergestellt. Allerdings der Preis war hoch, die Realitätsprüfung wurde innerhalb eines großen Bereichs aufgegeben. Ich erkläre mir diese Zurückbildung der diffusen psychotischen Angst beim Entstehen des Verfolgungswahns mit der oben erläuterten Annahme einer spezifischen Wirkung dieses Antidots, also durch die „Milderung“ der durch das Dilemma bedingten intrapsychischen Spannung bzw. den dadurch möglich werdenden Kompromiß – die eingebaute Feindseligkeit reduziert die Angst vor der Fusion (= Selbstverlust) bei Beibehaltung einer Beziehung (die Verfolger – Verfolgter – Beziehung). Außerdem wirken diese neu entstehenden Feindbilder – per Kontrast und durch die Abgrenzung – stabilisierend, in Bezug auf die Kohärenz des Selbst bzw. die IchGrenzen. Die übliche, ältere, für mein Gefühl oberflächliche und inadäquate Erklärung innerhalb der Psychiatrie war (und ist), dass der Wahninhalt die Angst bindet, konkretisiert (lieber eine konkrete Furcht, als eine diffuse undefinierbare Angst). Diese Erklärung befriedigt mich aber nicht. Sie mag Gültigkeit haben für die organischen Psychosen (die „weißen Mäuse“ und sonstige Schreckgespenster im Alkoholdelir haben tatsächlich diese notdürftige Strukturierungsfunktion). Bei der Schizophrenie, überhaupt bei den früher „endogen“ genannten Psychosen dagegen ist es doch auffällig, dass nicht irgendwelche schrecklichen Ideen oder Szenen wahnhaft gedacht oder hal-

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luziniert werden. Es geht um andere Personen oder Mächte (hinter denen Personen stehen), es geht um Beziehungen. Es handelt sich nicht um die beliebige Konkretisierung einer beliebigen Selbstgefährdung, sondern um eine aus der Beziehung zum Primärobjekt (und späteren Replikationen) hervorgehende Gefährdung. Deswegen spreche ich auch von einem spezifischen Antidot!

5. Wie entsteht Wahn? Nun kann man sich fragen, auf welche Weise die Menschen auf dieses so verbreitete „Antidot“ kommen? Ich meine, dass man diese Frage folgendermaßen beantworten kann: Wie bei fast allen neurotischen, psychosomatischen und psychotischen Symptomen, so gilt es auch hier, dass die Abwehrmechanismen (durch die ja die Symptome entstehen) keineswegs aus dem Nichts hervorgehen, sondern durch Modifikation und Intensivierung vorhandener Ich-Funktionen zustande kommen. Das teilweise schon beim Tier beobachtbare Verhaltensmuster einer mißtrauisch wirkenden intensiven Suche nach potentiellen äußeren Gefahren an Orten und Zeiten, die tatsächlich eine risikoreiche Konstellation darstellen, ist sicher ein „sinnvolles“ und in der Evolution aus verständlichen Gründen ausselektiertes Reaktionsmuster. Die Mobilisierung dieses Reaktionsmusters beinhaltet neben seiner genannten sinnvollen Funktion (der Identifizierung und Lokalisierung der Gefahr in risikoreichen Konstellationen) nunmehr auch die Aktivierung einer entsprechenden Handlungsbereitschaft (zur Verteidigung oder zum Angriff), welche von einer vermehrten Konzentration, Straffung der inneren Konzentration und Kohäsion begleitet wird. Beim Menschen und in seinem Erleben wird dies als eine Straffung der Ich-Kräfte, als eine bessere Konturierung des Ichs und eine scharfe Abgrenzung von der Umwelt erlebt. Nun könnte man hypothetisch annehmen, dass dieses Reaktionsmuster dieses potentiell gleichsam paranoide Verhaltens- und Erlebensmuster aufgrund eben dieser seiner „Parafunktion“ (Ich-Abgrenzung etc.) sehr gut geeignet ist, um im Sinne des oben genannten „Antidots“ benutzt zu werden. Es findet sozusagen eine Art Funktionswandel statt. Das mißtrauische und dann recht paranoide Reaktionsmuster schützt jetzt nicht vor äußeren Gefahren, sondern in Wirklichkeit vor der inneren Gefahr der Diffusität, des Verlustes der Ich-Grenzen, schließlich auch der Objektlosigkeit (und des durch sie ebenfalls drohenden Selbstverlustes).

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Übrigens ist uns diese, das Selbst stabilisierende Wirkung der paranoid produzierten Feindbildern auf der kollektiven Ebene sehr gut bekannt. Sie sind das wirksamste Antidot gegen soziale Desorientierung, intragruppale Zwistigkeiten etc. Es gibt sicher auch andere relativ harmlosere (wenn auch weiterhin pathologische) Mechanismen zur Stabilisierung des Selbst, als den Wahn, also als die gravierende psychotische Verzerrung der Realität. Das klassische Beispiel dafür ist der Zwang. Ich habe an anderer Stelle Beispiele des Syndromwechsels (Mentzos, 1992), also des Wechselns von einem defensiven Modus zu einem anderen gerade auch bei solchen Patienten beschrieben, bei denen schwere zwangsneurotische Syndrome mit einem psychotischen Syndrom sich abwechseln. Reicht das zwangsneurotische „Korsett“ zur Abwehr der drohenden Diffusität und des Auseinanderfallens des Selbst nicht aus, so stellt sich automatisch ein psychotischer Mechanismus, in diesem Fall hier der Verfolgungswahn, ein. Ich kannte eine Patientin, bei der diese Sequenz sehr oft zu beobachten war. In einigen Situationen konnte man in diesem Fall auch verstehen, welches der Grund für die Intensivierung der Gefahr und somit auch für den Wechsel der defensiven „Taktik“ von einer neurotischen zu einer psychotischen war. 5.1 Zwischenbemerkung zur Bedeutung der cerebralen Voraussetzungen des Wahns Die geschilderte psychologisch-psychodynamische Ableitung des Wahns ist ohne weiteres kompatibel mit der Annahme, dass wenigstens für bestimmte, zumal akute psychotische Wahnformen gewisse cerebrale Voraussetzungen eine maßgebende Rolle spielen. Wie es allerdings genau zu dieser Ermöglichung und Förderung von Wahn durch primäre oder sekundäre cerebrale Prozesse kommt, ist nicht mit Sicherheit bekannt. Es gibt lediglich mehr oder weniger gut begründete Hypothesen dazu. So hat z.B. Manfred Spitzer (1996) ein Erklärungsmodell angeboten, bei dem die in der akuten Psychose tatsächlich vorhandene überschießende dopaminerge Aktivität das Signal-Rausch-Verhältnis beeinflußt. Dadurch können gewisse Signale subjektiv als zu bedeutungsvolle Ereignisse erlebt und – was noch wichtiger ist – alternative, korrektive Deutungen der Signale bzw. der Wahrnehmungen blockiert werden (S. 312). Dieses biologische Modell erfaßt einige, aber keineswegs alle wichtigen Bedingungen bei der Wahnentstehung. Es läßt sich m. E. sehr gut durch das oben dargestellte psychodynamische Modell ergänzen. Erst dadurch gelingt

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es zu erklären, warum die von M. Spitzer gemeinten „Signale“ nicht zufällig in eine beliebige Richtung gedeutet und fixiert werden. Die genaue Beobachtung zeigt, dass die Verzerrung der Realität im Wahn nicht beliebig in irgend einer Richtung geschieht – was ja der Fall wäre, wenn hier nur der von Spitzer erwähnte cerebrale Prozess wirken würde. Trotzdem ist freilich die Aufdeckung der Einzelheiten dieses cerebralen Prozesses sehr wichtig. Erst dadurch wird die Wirkung der Neuroleptika beim akuten Wahn verständlich (die Reduzierung der Überregung normalisiert das Signal-Rausch-Verhältnis und – was noch wichtiger ist: die Dämpfung der Angst reduziert ihre einengende Wirkung bzw. der Wirkung des Adrenalins auf die normale Möglichkeit und Offenheit zu anderen alternativen Deutungen der Wahnehmung, so dass eine Korrektur eher möglich wird). Auch für den wahrscheinlichen Fall also, dass diese oder ähnliche Hypothesen zum cerebralen „Beitrag“ bei der Entstehung und Festigung von Wahnideen der Realität entsprechen würden, verliert die psychodynamische Erklärung in Bezug auf Richtung bzw. den Inhalt dieser Prozesse nicht ihren Wert. Umso mehr gilt dies für paranoide Phänomene, bei denen wir keinen Grund zur Annahme einer cerebralen Beteiligung haben (also außerhalb des eindeutig psychotischen Bereichs).

6. Warum hängt der Patient gleichsam „süchtig“ an seinem Wahn Diese Frage können wir dahingehend beantworten, dass der Wahnkranke deswegen so leidenschaftlich interessiert ist, die Richtigkeit seiner Überzeugung, er werde verfolgt, bestätigt zu bekommen, weil für ihn diese Überzeugung für sein psychisches Überleben unerläßlich ist. Sie ist das probate Mittel gegen die geschilderten Gefahren für das Selbst, also sowohl Objektlosigkeit beim Autismus, als auch gegen den Selbstverlust in der Fusion. Könnte man nun damit zufrieden sein? Reicht dieser selbstpsychologische Aspekt um die „Süchtigkeit“ des Patienten in Bezug auf seinen Wahn zu erklären? Nein! Eine solche Antwort wäre unvollständig. Je näher man den Wahnkranken kennenlernt und erlebt, desto mehr wird es einem deutlich, dass es ihm nicht nur um die Sicherheit, nicht nur um die Absicherung vor dem drohenden Selbstverlust geht, sondern gleichzeitig auch um eine, wenn

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auch sehr verzerrte und indirekte Quasi-„Befriedigung“, um eine Erfüllung der Sehnsucht nach dem Objekt! Anders ausgedrückt: Neben dem bis jetzt ausführlich dargestellten selbstpsychologischen Aspekt (Stabilisierung des Selbst) müssen wir also jetzt den objektbeziehungstheoretischen und zum Teil auch den triebtheoretischen Aspekt berücksichtigen. Ich will dies kurz im folgenden erläutern. Zunächst ein Beispiel: Eine Patientin, die mich als 55-Jährige konsultierte, litt seit mehreren Jahren an einer chronischen paranoiden Psychose, die allen möglichen psychopharmakologischen Behandlungsversuchen standgehalten hat. Jede Nacht erlebte sie, wie fremde, „böse“ Männer nicht nur in ihre Wohnung und ihr Schlafzimmer eindrangen, sondern auch in ihren Körper; sie wühlten in ihrem Leib, besonders in ihren Unterleib herum, riefen schreckliche Schmerzen und Kreislaufstörungen hervor und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Die Schilderungen dieser nächtlichen Besuche waren sehr eindrucksvoll, detailliert und farbig. Man könnte im Sinne der alten Psychiater vom deskriptiven Gesichtspunkt aus von einer Paranoia phantastica sprechen. Diese Frau wurde als Kind von ihrer Mutter nicht nur systematisch geschlagen, sondern auch sonst ungewöhnlich hart, ja sadistisch behandelt. Sie ging deswegen mit 16 oder 17 Jahren aus dem Haus, heiratete nach kurzer Zeit einen Mann, der sich aber bald als Alkoholiker erwies. Sie wurde auch von ihm öfters geschlagen. Daraufhin ließ sie sich scheiden. Einige Jahre später heiratete sie wieder. Auch diesmal zeigte sich bald, dass dieser Mann ebenfalls ein Alkoholiker war, der angefangen hat, sie zu schlagen. Daraufhin ließ sie sich wiederum scheiden, begann ein Studium und wollte ihr Leben jetzt anders organisieren und zunächst allein leben. Sie wurde jedoch nach einem Jahr psychotisch und zwar mit der oben geschilderten Symptomatik. Es ist stark zu vermuten, dass diese Wiederholungen des selben Schicksals mit einer unbewussten Tendenz der Patientin selbst zur Reinszenierung ihrer schrecklichen Kindheit zusammenhängt. Ich meine dies nicht im Sinne einer sinnlosen, mechanischen, quasi konditionierten Wiederholung. Ich verstehe den Wiederholungszwang dieses von Freud erkannten häufigen Phänomens etwas anders als er. Ich erkläre ihn nicht mit dem Todestrieb, sondern ich sehe ihn als den verzweifelten Versuch durch die Herstellung derselben ungünstigen Bedingungen wie damals, den Vorgang zwar zu wiederholen, wenn auch jetzt in der Hoffnung, dass der Ausgang diesmal ein anderer wäre. Die Konstruktion ist allerdings eine solche, dass der Misserfolg des Experiments sozusagen vorprogrammiert ist. Dennoch wollte ich nicht auf die Einzelheiten dieses Mechanismus fokussieren, sondern auf

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die Tatsache, dass diese Frau aufgrund ihrer Kindheitserlebnisse an diese Art der Beziehung, wie sie mit ihrer sadistischen Mutter erlebt hat, festgefahren war. Sie kannte keine andere Beziehung oder besser gesagt, sie würde nicht eine andere Beziehung ohne weiteres wagen. Als sie merkte (sie ist eine sehr intelligente Frau), dass es in ihrem Leben mit den Beziehungen so weiter laufen würde, beschloß sie, keine andere Beziehung mehr einzugehen. Die Sehnsucht nach dem „Objekt“ bestand aber weiter und tauchte in dieser völlig verzerrten verschobenen psychotischen Form der nächtlichen Besucher auf, die die schlechte Behandlung durch die Mutter sozusagen fortsetzte. Lieber eine solche, als keine Beziehung. Ähnliches, wenn auch nicht in einer so ausgeprägten Form trifft man praktisch bei vielen anderen Wahnkranken. Es geht ihnen nicht nur um die Sicherung der Selbstautonomie, sondern gleichzeitig auch um die, indirekte, verzerrte „Befriedigung“ der Sehnsucht nach dem Objekt. Deswegen sprechen wir ja auch von einem Kompromiß. Es geht um eine teilweise Befriedigung sowohl des Autonomiebedürfnisses als auch der objektalen Bindungs- und Vereinigungstendenz. Beides zusammen, verpackt im Wahn, als Antidot gegen den Selbstverlust und als versteckter verzerrter Ersatz für eine glückliche Bindung, verleihen der „Droge Wahn“ eine solche Attraktivität und Verführungskraft, dass man sehr gut versteht, warum der ältere Psychiater Kuhlenkampf in den 60er Jahren mal in Abänderung des Titels eines Romans von Fallada den Aphorismus prägte: „Wer einmal aus dem Blechnapf des Wahns frißt, wird immer wieder auf ihn zurück kommen“. Ich bin freilich nicht so pessimistisch wie Kuhlenkampf, zumal sogar auch richtig (drogen-)süchtige Menschen erfolgreich behandelt werden können. Ich möchte nur auf gewisse Schwierigkeiten und (ihre Ursachen) in unserem Verständnis des Wahnkranken aufmerksam machen. Die daraus entstehenden therapeutischen Konsequenzen bedürften freilich einer weiteren breiten Diskussion.

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PETER HARTWICH

Wahn – Sinn und Antikohäsion Wir sprechen vom Wahn-Sinn wenn eine Aussage, Idee, Überzeugung, Haltung oder ein Denkgebäude nicht mit den Kriterien unserer Vernunft und Einfühlbarkeit in Einklang zu bringen sind sondern, psychopathologische Ausmaße angenommen haben. Genauere Definitionsbemühungen des Wahns, wie sie beispielsweise von JASPERS, SCHARFETTER, BERNER etc. vorgelegt wurden, sind in den Beiträgen von MUSALEK sowie von BAROCKA in diesem Buch dargestellt. Somit wird auf die definitorische Erörterung des Phänomens auf die dortigen Ausführungen hingewiesen. Wir werden uns an dieser Stelle mit der Frage befassen, wann und unter welchen Umständen der Wahn einen Sinn haben kann: Ob es Wahnbildungen gibt, die intraindividuell als sinnhaft interpretiert werden können zum Zwecke des Erhaltungsversuchs des individuellen psychischen Gleichgewichts, der Existenzerhaltung oder des Grandiositätserlebens des Patienten? Oder ob eine solche Sinngebung gar der Stabilisierung und Befriedigung des Therapeuten dient, um mit den unverständlichen Phänomenen des psychopathologischen Gegenübers besser zurecht zu kommen?

1. Aussagen zum Umgang mit Wahn In der Geschichte der Psychiatrie der letzten Jahrzehnte, zu der auch die Antipsychiatrie der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gehört, gibt es zum Sinn des Wahns eine Vielzahl von Aussagen, von denen hier zwei als charakteristisch für Entpathologisierungshaltungen aufgeführt werden sollen: 1. Der Wahn ist Ausdruck des Versuchs, einer unerträglichen Wirklichkeit zu entgehen. 2. Der Wahn ist eine gelungene Kompensation im Sinne einer Selbstheilung. Als Belege werden eine Reihe von Beobachtungen angeführt, zu denen der bekannte „Begnadigungswahn“ von Menschen gehört, die zu lebenslanger Haft verurteilt sind. Auch der Liebeswahn wird als eine Überkompensation nicht realisierbarer Beziehungswünsche angesehen.

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Populärwissenschaftliche und populärpsychiatrische Äußerungen suggerieren dabei eine Möglichkeit, sich willentlich in ein wahnhaftes Welterleben zurückziehen zu können. Betrachten wir aber nicht Ausnahmen, sondern die psychiatrischen Patienten unserer Pflichtversorgung, so fällt bei einer derartigen psychodynamische Simplifizierungen des Wahnproblems auf, dass das Krankhafte und vor allem auch der persönliche Leidensaspekt nicht entsprechend berücksichtigt werden. Es gibt einige Argumente, die dafür sprechen, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass man sich bewußt und willkürlich in einen Wahn begibt: Wenn dem so wäre, müsste man auch genauso willkürlich wieder aussteigen können. Gerade das geht bekanntlich nicht. Auch gibt es gelegentlich Behandlungssituationen – z.B. mit Hilfe von Neuroleptika – in denen die Vorraussetzung zur Distanzierung von der Wahnsymptomatik gegeben ist; aber gleichzeitig hat der Wahnkranke Gründe, in seinem Wahn zu verharren oder einer Relativierung seines pathologischen Welterlebens zu wenig von den eigenen wieder gesunden Anteilen entgegenzusetzen. Als weiteres ist anzuführen, daß viele Wahnthemen – zu nennen ist beispielhaft nur der Verfolgungswahn – so destruktiv ängstigend und gefährlich sein können, dass es nicht angemessen ist, lediglich von einer projektiven Abwehr der unerträglichen Realität in ein positives Welterleben hinein zu sprechen, wenn beispielsweise der Vernichtungscharakter des Wahninhalts existentiell zu bedrohlich ist. Somit ist Wahn als „aus der Realität gehen“ oder als „schützende projektive Abwehr“ zu interpretieren zu wenig überzeugend, um darin den gesamten Sinn einer Wahnsymptomatik festlegen zu können. Wahn ist nicht einfach nur Glaube oder Irrtum.

2. Welcher Sinn besteht dann? Sehen wir uns die Wegstrecke in der menschlichen Psychologie und gegebenenfalls Psychopathologie an, in der Wahnbildungen entstehen können. Ob es der sensitive Beziehungswahn ist, der Eifersuchtswahn (OthelloSyndrom ) oder der klassische Verfolgungswahn des Schizophrenen, fast immer sehen wir am Beginn oder oft schon eine Weile vorher Labilisierungen der Ich-Strukturen des Betreffenden. Diese resultieren aus dem Wechselspiel der unterschiedlichen Gewichtung zwischen genetischer Disposition, Umweltfaktoren und individueller Erlebnisverarbeitungsgeschichte.

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Diese „Erschütterung des Ichs“ in seinen Grundfesten führt zur Desintegration des somato-psychischen Integrals, welches aus dem Wechselwirkungsgefüge unseres Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Erinnerns, der Psychomotorik etc. besteht. Das somatopsychische Integral kann bedroht sein, partiell kollabieren und schlimmstenfalls auseinanderreißen. Voraussetzungen zur Wahnbildung •

Labilisierung der Ich-Strukturen (Erschütterungen des Ichs)



Desintegration des somato-psychischen Integrals



Auseinanderreißen der psychischen Funktionen, in denen Wahrnehmen, Fühlen und Denken im Einklang stehen.

Unsere Betrachtung erfolgte zunächst auf der Dimension einer mehr deskriptiven Sichtweise. Aus der mehr subjektiv, von seiten des Betroffenen erlebten Dimension führt die eben genannte Erschütterung des Ichs zu einer Ich-Fragmentierung (BENEDETTI) oder zu Ich-Kohärenz- und IchKonsistenzverlust (SCHARFETTER). Droht die Kohäsion unseres Selbsts verloren zu gehen, können in diesem Augenblick, allerdings wie überall in der Natur, Gegenregulationsmechanismen auftreten. Analog zum somatischen Bereich, wo bei einer blutenden Verletzung Thrombozyten agglutinieren und damit das tödliche Verbluten verhindern. Oder analog zum Tierreich, wo es bei einigen Tierarten bei höchster lebensbedrohlichen Gefahr zu einem Totstellreflex kommt. Somit lassen sich eine Fülle von Mechanismen aufreihen, die gelegentlich abstrus und „verrückt“ wirken, nur um Leben zu erhalten. Dieses grundlegende Prinzip gilt genauso für unsere Psyche. So formulierte schon IDELER im Jahre 1847 die Ansicht, dass der Wahnsinn etwas sei, mit dem sich der Betroffene gegen die Desorganisation seines Bewußtseins wehre. Der Wahn ist damit nicht primär die Störung selbst oder deren unmittelbarer Ausdruck, sondern „der Wahnsinn ist ein angestrengtes Arbeiten an der Reorganisation des Bewußtseins“ (IDELER). FREUD hat sich dieser Tradition angeschlossen und formulierte den Wahn Paul Schrebers als einen Heilungsversuch, eine Rekonstruktion, um der inneren Katastrophe zu entgehen. E. BLEULER spricht in diesem Zusammenhang von sekundären Störungen, als mehr oder weniger missglückten oder auch geglückten Anpassungsversuchen, SCHARFETTER von autotherapeutischen Anstrengungen gegenüber tieferen Ich-Störungen, beispielsweise dem Verlust der Ich-Demarkation, der Ich-Konsistenz und der Ich-Vitalität, BENEDETTI von Rekompensationsversuchen gegenüber Kohärenzverlust,

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MENTZOS von Schutz- und Kompensationsmechanismen und wir (HARTWICH, 1997, HARTWICH, GRUBE 2003) von Parakonstruktion. Gegenregulationsmechanismen •

IDELER: Reorganisation des Bewußtseins



BLEULER: sekundäre Störungen



SCHARFETTER: autotherapeutische Anstrengungen



BENEDETTI: Rekompensationsversuche



MENTZOS: Schutz-, Kompensationsmechanismen



HARTWICH: Parakonstruktion, echte Kompensationen und Kohärenzen kommen nicht zustande, statt dessen Partialkohärenzen auf niederem psychotischen Strukturniveau.

Die Schutz-, Rekompensations-, Selbstrettungs- und Rekonstruktionsversuche, die der Psychosekranke aufgrund seiner Desintegration und der erlebten Auflösungsgefahr des Selbst unternimmt, sind in den meisten Fällen keine gelungenen realitätsgerechten Rekonstruktionen. Die Gegenregulation entstammt der kreativen Kraft, die Leben und Psyche erhalten und zusammenhalten will; sie strengt sich an, die Kohärenz wieder zu erreichen, um aus der Desintegration wieder in eine Integration zu kommen. Da das nicht vollständig gelingt, kommt es nur zu Partialkohärenzen auf dem Organisationsniveau der Parakonstruktion. Erst viel später bei Wiedererlangung von wesentlich stabileren Strukturen auf höherem Niveau der Ichfestigkeit kann dann von Abwehr gesprochen werden. Das Ganze in ein Bild gemalt: Ein Mensch, der auf schwankendem Boden steht, welcher zusammenbricht; die Person wird mitgerissen und droht in die Tiefe zu rutschen. Sicherlich wird sie sich an allem festhalten, was Halt zu bieten scheint. So klammert sie sich an einen stehengebliebenen Teil der Konstruktion, die sie auszubauen und zu festigen versucht, eine „Parakonstruktion“.

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3. Vom Sinn der Parakonstruktionen 3.1 Sinn für den Patienten Es geht um das psychische Überleben auf einem niedrigeren, brüchigen Strukturniveau des Ichs, auf dem sich Parakonstruktionen und unmittelbare Defizienzsyndrome, wie Aufmerksamkeitsstörungen, mischen. 3.2 Sinn für den Therapeuten Es geht um das Erkennen und Miterleben der Fragmentierungsgefahr des Selbstsubjekts. Hierbei ist von Bedeutung, dass die hinter den Symptomen gelegene Absturzgefahr des Patienten im Sinne einer weitergehenden Fragmentierung wahrgenommen und möglichst miterlebt wird. Darüber hinaus kann der Wahn auch den Sinn haben, eine Objektbeziehung herzustellen. MENTZOS wandelt das „cogito ergo sum“ von Descartes um in: „Ich werde verfolgt, also bin ich“. Dieses steht im Gegensatz zum NichtIch-Sein. Wesentlich ist, dass der Therapeut erkennt, warum der Patient die Parakonstruktion braucht und daran auch so eisern festhalten muss. 3.3 Therapeutische Konsequenzen Welche therapeutische Konsequenz haben diese Betrachtungsperspektiven gegenüber der bisherigen Sichtweise in der deskriptiven Psychopathologie? Die Bedeutung liegt darin, dass wir nicht mehr gegen das Symptom anrennen, sondern es respektieren, dass wir es gegenwärtig einmal – auch wenn wir das eigentlich nicht möchten – belassen müssen. Stattdessen ist erforderlich, genau, und manchmal auch gemeinsam mit dem Patienten, zu schauen, was „unter oder hinter“ dem Symptom liegt, d. h. welche Bedingungen dazu geführt haben, dass das Symptom nötig wurde. Wie sieht das Desintegrationsgeschenen unterhalb oder hinter der Parakonstruktion aus, was müssen wir an Selbstfragmentierung, Konsistenzverlust des Ichs, Auseinanderdriften der Kohäsion, Lockerung der Ich-Konsistenz usw. therapeutisch wieder zusammenbringen. Als Kitt oder Leim – bildlich gesprochen – dienen zunächst einmal die Neuroleptika, hinzu kommen Psychotherapie und Soziotherapie individuell oder in der Gruppe.

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Paradigmenwechsel •

Respektieren und gegenwärtiges Belassen der Symptome



Wie sieht das darunter liegende Desintegrationsgeschehen aus?



Zusammenbringen der Fragmente

1. Beispiel Ein 31-jähriger Patient wird zum dritten Mal stationär wegen akuter Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis aufgenommen. Seine wesentlichen Symptome sind: sensitive und paranoide Umdeutungen, telepathische Fähigkeiten, ferner ist er denkzerfahren, parathym und wähnt, der Kopf explodiere und das Rückenmark spalte sich. Im Laufe des stationären Aufenthalts kommt es zu anfallsähnlichen Zuständen: wo er gerade geht und steht, auf dem Stationsflur oder bei der Außenaktivität, kommt es immer mal wieder für wenige Minuten zu katatonen Erstarrungen des gesamten Körpers. Fragt man ihn später, nachdem er wieder locker ist, was dem Zustand vorausgegangen war, so berichtet er von einem Gefühl des Auseinanderfließens. Alles in ihm zerfalle, er löse sich auf, alles fließe aus ihm heraus. Wir interpretieren seine katanoniformen Einsprengsel als eine psychomotorische Gegenregulation als Schutz vor Zerfall und Auflösung. Das Auseinanderfließen wird in eine gesamtkörperliche Erstarrung eingebunden. Wenn man so will, können Analogien zu einer neuroprotektiven Ebene oder zum Totstellreflex hergestellt werden. Beim Vorgang einer drohenden oder manifesten Desintegration wird das Selbst der extremen Vernichtung, einer Explosion, einem Erdbeben oder gelegentlich einer Implosion vergleichbar ausgesetzt. Bedrohungsangst und andere Faktoren können zum Motor für Schutzanstrengungen werden, die sich in Partialkohärenzen manifestieren, in psychotischen Organisationen auf dem Niveau von Parakonstruktionen, die gegenüber der Fragmentierung einen reparativen Versuch darstellen. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es sich bei vielen Symptomen der Psychose nicht etwa um echte Rekonstruktionen handelt, das gilt auch für den Wahn, sondern um Verrückungen, die, wie schon beschrieben, das Niveau einer echten Selbstrettung nicht erreichen können. Infolgedessen nennen wir diese Konstruktionen Parakonstruktionen. Nicht alle Symptome sind Parakonstruktionen, viele Aufmerksamkeits- und andere kognitive Störungen sind eher unmittelbarer Ausdruck der Desintegration anzusehen.

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2. Beispiel Eine 24-jährige Patientin wird mit einem zweiten schweren schizophrenen Schub stationär aufgenommen. Kurz vorher hatte sie ihre erste große Liebe erlebt. Der Freund konnte jedoch die psychotische Veränderung der Geliebten nicht aushalten, rief nach einigen Tagen die inzwischen durch Neuroleptika teilrekompensierte Patientin auf der Station an, um ihr mitzuteilen, dass er sich von ihr trennen werde. Die Patientin beging daraufhin in ihrem Schock unmittelbar einen Suizidversuch, bei dem sie schwere Verletzungen erlitt und nach entsprechenden Operationen wochenlang im Bett verbleiben mußte. Postoperativ entwickelte sie einen Schwangerschaftswahn. Die Symptomatik hielt sich hartnäckig und reagierte nicht auf hochdosierte neuroleptische Therapien, die mehrfach variiert wurde. Erst nach einer Weile waren wir in der Lage, die Symptomatik des Schwangerschaftswahns als eine Parakonstruktion zu sehen, die den Sinn hat, den Objektverlust zu ersetzen, um nicht in weitere Fragmentierungen zu geraten. Stattdessen wurde im Schwangerschaftswahnerleben die Verbindung mit dem Freund durch ein gemeinsames Kind zementiert. Die psychodynamische Bearbeitung des Objektverlustes (Selbstobjekt KOHUT) wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Erkrankung noch viel zu früh gewesen. Erst nach einigen Monaten wurde es möglich, eine intensive psychotherapeutische Bearbeitung von Verlust und Trauer durchzuführen. Danach war die Patientin in der Lage, telefonisch Kontakt zum Ex-Freund aufnehmen und sich von ihm zu verabschieden. Von der Schwangerschaftsparakonstruktion konnte sie nun allmählich loslassen. Welche Bedeutung für unsere Therapie hat es, hier von einer Parakonstruktion zu sprechen, also zu sagen, dass ihr Wahn einen Sinn hat. Die Auffassung des Symptoms als eine für die Patientin gegenwärtige notwendige Parakonstruktion leitet einen entscheidenden Paradigmenwechsel des Therapeuten ein. Er respektiert die gegenwärtige Notwendigkeit des Symptoms, er bekämpft es nicht mehr und bekämpft damit auch nicht die Patientin. Er setzt sich mit ihr „ins selbe Boot“. Sie fühlt sich nicht mehr abgelehnt, sondern besser angenommen und vielleicht sogar teilweise verstanden. Damit wurde die Grundlage für eine Neugestaltung des therapeutischen Miteinanders, eine neue gemeinsame Ebene der therapeutischen Beziehung gegeben, was sich positiv auf die Therapie auswirkte.

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3. Beispiel Eine 60-jährige Patientin lebt im Liebeswahn zu einem Dirigenten. Wenn sie das Radio anmacht, hört sie ihn, er gibt ihr Nachricht, er spielt für sie und geht auf ihre Wünsche ein. In dieser Parakonstruktion erlebt die Patientin mehr Sinn in ihrem Leben, es wird reichhaltig, anderenfalls wären ihr Leere und Einsamkeit beschieden. Manche Parakonstruktion hat so viel Schöpferisches, dass sie mit reichhaltigem inneren Erleben besetzt wird. Daher wird auch teilweise die Kraft des Festhaltens an mancher Überzeugung erklärt und die Sicherheit, die die Unbeirrbarkeit liefert. Bei dieser Liebeswahn-Parakonstruktion sollte die Frage gestellt werden, ob es angemessen ist, hier weiter neuroleptisch gegen diese Symptomatik angehen zu wollen. Es kann durchaus als Respekt vor der Patientin gelten, wenn man sie in ihrer schöpferischen Parakonstruktion beläßt, sie begleitet und die äußeren Einflüsse fernzuhalten versucht, die das Sosein in ihrer Privatwelt beeinträchtigen. 4. Beispiel Eine 31-jährige Patientin kommt drei Monate nach der Entbindung ihres ersten Kindes in die Orthopädische Klinik mit dem drängenden Wunsch, man möge ihre Halswirbelsäule operativ versteifen und ihr ein Korsett anfertigen. Sie ist der Überzeugung, dass alle ihre Wirbel durcheinander geraten seien. Immer wieder versucht in ihrer Vorstellung, die Wirbelsäule neu zu ordnen. Wenn sie dabei von unten her an der Halswirbelsäule ankommt, droht der Kopf herabzufallen. In diesem Moment schreit sie, gerät außer sich, verliert den Kontakt zur Umwelt, legt sich auf den Boden und nimmt erst nach einer Weile wieder Kommunikation mit den Menschen, die ihr helfen wollen, auf. Dann verlangt sie die erwähnten orthopädischen Maßnahmen einschließlich der chirurgischen Intervention. Wir sehen hierin eine coenästhetische Parakonstruktion, die sie gewissermaßen „vor“ das inneren Auflösungserlebens zu stellen versucht. Ihre konkretistische Symbolbildung verlangt nach einem ebenso konkreten Stabilisierungsversuch, wenn er auch noch so skurril wirkt. Zur Behandlungstechnik: In der psychiatrischen Konsiliaruntersuchung gehen wir auf die Parakonstruktion ein. Sie gegenwärtig als notwendig respektierend, erklären wir der Patientin, dass wir nicht die Operation für eine angemessene Maßnahme halten, sondern eine medikamentöse Stabilisierung ihres Rückgrats empfehlen. Sie lässt sich darauf ein, geht mit in die Psychia-

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trische Klinik und läßt sich Neuroleptika applizieren. Eine psychodynamische Interpretation des Symptoms gegenüber der Patientin wäre hier nicht zweck- und zeitgemäß gewesen. Wie könne wir von therapeutischer Seite her zunächst einmal die Psychodynamik verstehen? Einen intensiveren Zugang zu diesem Geschehen bekommen wir, wenn wir uns das psychomotorische Selbst und die katatonen Symptome ansehen. KOHUT (1973) sprach vom Körperselbst. Er sah in der natürlichen Entwicklungsphase des Kindes die Entwicklung der Kohärenz des Selbsterlebens, gefestigt in den einzelnen Teilen des Körpers, deren Fähigkeiten und den dazugehörigen psychischen Aktivitäten. Damit beschrieb er die Wahrnehmung des Selbst als das Erleben einer körperlichen und geistigen Einheit, die räumlich zusammenhängt und zeitlich fortdauert. Bei schizophrenen Patienten haben wir häufig den Eindruck, dass das Körperselbst fragmentieren kann, infolgedessen möchten wir diesen Aspekt noch ein wenig erweitern und in Ergänzung zu KOHUTS Körperselbst von einem psychomotorischen Selbst sprechen. In unser psychomotorisches Selbst gehen alle unwillkürlichen und willkürlichen motorischen Abläufe ein, teilweise im Sinne von „motorischen Schablonen“ (KRETSCHMER); das sind genormte Bewegungsabläufe, die sich selbstständig betrachten lassen. Es handelt sich dabei um die vielen „automatischen Bewegungen“ (KLAGES), die so ablaufen, dass „nur noch der Einsatzbefehl seitens der Willkürmotorik nötig wird, um ganz selbsttätig abzulaufen“ (LORENZ, LEYHAUSEN). Die hirnmorphologische Zuordnung und ihre neuronale Verankerung fußt auf dem Körperschema (SCHILDER), das in unserem psychomotorischen Selbst überwiegend unbewusst repräsentiert ist im Sinne einer psychischen Repräsentanz des Körperschemas, welches auch als Leiberleben bezeichnet wird. Körperschema-Selbst •

Körperselbst (KOHUT)



psychomotorisches Selbst



psychische Repräsentanz des Körperschemas

Hierzu führt KLAGES aus: „Der Körper lebt in seiner Gesamtheit nur ganz diffus und verschwommen im Bewusstsein als ein unbetonter Mosaikstein des ganzen Ich-Gefüges. Unsere Körperempfindungen wie Lage- und

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Gleichgewichtsempfindungen sowie vielerlei Vital-, Organ- und Allgemeinempfindungen gehen in unserem Ich mit unter, ohne nun einzeln besonders hervorzukommen und den Spiegel des Bewusstseins zu erreichen. Erst unter besonderen Umständen kommt es zu Körpermissempfindungen.“ Somit besteht ein Teil unserer Selbstrepräsentanz aus der Körperschemarepräsentanz und den Bewegungsmusterrepräsentanzen. Diese ordnen wir dem Teilgebiet des psychomotorischen Selbst zu. In dem Begriff Repräsentanz sind die psychischen Erlebenskorrelate enthalten. Wir denken, dass in dem Dargelegten eine Erweiterung des KOHUTschen Körperselbst gesehen werden kann. Für das Verständnis der Psychodynamik schizophrener Störungen haben die Begriffe Selbstfragmentierung und Kohäsionsverlust des Selbst eine zentrale Bedeutung. Die meisten Autoren, die sich um eine psychodynamische Herangehensweise an schizophrene Symptome und Erlebnisweisen bemühen, beschreiben das Fragmentierungsproblem in den Bereichen Denken, optische und akustische Wahrnehmungen, Erinnerungen, Zeit- und Raumwahrnehmung. Damit stehen vor allem Wahnbildungen und paranoid-halluzinatorische Störungen im Vordergrund des Forschungsund Behandlungsinteresses. Aus der klinischen Erfahrung halten wir es für wichtig hervorzuheben, dass es eine Reihe von schizophren Erkrankten gibt, bei denen die Auflösung der Kohäsion des Selbst wesentlich weiter geht, noch schwerwiegender ist und in Tiefen hineinreicht, die auch das psychomotorische Selbst betreffen. Wird der Bereich des psychomotorischen Selbst und mit ihm das Körperschemaselbst labilisiert, kommt es zu mitunter skurrilen coenästhetischen Symptomen (die rechte Körperhälfte wird vergrößert gegenüber der linken erlebt, die beiden Körperhälften bewegen sich gegenläufig, die Wirbelsäule ist verdreht, der Magen nur noch ein Loch, durch den die Speise hindurchfällt etc.). Bei einer solchen Symptomatik bekommen die einzelnen Fragmente des Körperschemaselbst ihre überwertige Bedeutung und erhalten parakonstruktiven Charakter als Versuch oder Ersatz einer Kohäsionsbemühung, wodurch die hartnäckige Persistenz coenästhetischer Symptome erklärbar wird. Sind weitere Bereiche des psychomotorischen Selbst in ihrer Kohärenz gefährdet oder aufgelöst, so gehen die Störungen sehr tief in Körper- und Bewegungserfahrungen hinein, was dann zu einem Gegenregulationsversuch auf psychomotorischer Ebene führt. Katatonieforme Einsprengsel oder länger dauernde katatone Erstarrung des Körpers werden aus dieser Sicht verständlich als Parakonstruktion mit dem Sinn den Zerfall des psychomotorischen Selbst aufzuhalten.

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Entscheidend ist, dass es sich nicht mehr um passiv erlittene Störungen handelt, sondern um aktive Versuche der Psyche, Schutz, Stabilität und Gleichgewicht zurückzugewinnen; diese Versuche sind oftmals skurril und ver-rückt und das angestrebte Ziel wird nur unvollkommen oder nicht erreicht.

4. Kohäsion und Antikohäsion Parakonstruktionen können in Aufbau, Gestaltung und Strukturierung unterschiedlich sein. Die Individualität der Parakonstruktion ist allerdings vom Niveau der gegenwärtigen psychischen Funktionen abhängig. So können wir eine paranoid-halluzinatorische, eine rein paranoide, eine megalomane, eine depressive, eine katatoniforme etc. Parakonstruktion beschreiben. Im Bereich der Psychomotorik bzw. des psychomotorischen Selbst kommt es zu coenästhetischen Parakonstruktionen. Bei Zugrundelegung der Perspektive der Fragmentierungsgefahr bei schizophrenen Psychosen im Sinne des Kohärenzverlustes der Selbst- und Objektrepräsentanzen werden in psychodynamischen Betrachtungen seit KOHUT ausschließlich der Verlust und die Auflösung der Kohäsion in den Mittelpunkt gestellt, mit der anschließenden Frage: Wie geht die Psyche mit den Fragmenten um? Bei der coenästhetischen Symptomatik, die durch ihre starke Körperorientierung eine besondere somatische Nähe durchscheinen lässt, gibt es neben den oben angedeuteten Symptomen auch solche, die in einem Gegensatzverhältnis stehen. Hierzu zwei Beispiele: Ein Patient, der Physiker ist, erlebt seine beiden Hirnhälften als sich gegenläufig nach vorn und hinten bewegend. Er kann sie nicht zum Stillstand bringen, sodass sie miteinander eins sind, sondern sie bewegen sich wie ein Kolbenmotor und verursachen damit Schmerzen. Ein anderer Patient, ein Bauingenieur, erlebt die Funktionen von Herz und Atmung als gegeneinander gerichtet. Wenn er auf den Atem achtet, bleibt das Herz stehen, bemerkt er den Herzschlag, setzt die Atmung aus. Die basalen Funktionen seines Lebendigseins können nur in alternativer Gegensätzlichkeit zum Einsatz kommen. Unter der Betrachtung der Hirn-, Herz- und Atmungsrepräsentanz im Körperschemaselbst sehen wir in der Symptomatik der beiden Patienten eine Variante im Umgang mit dem Kohärenzverlust, die wir als Antikohäsion bezeichnen möchten. Damit ist nicht eine Nicht-Kohäsion

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gemeint, sondern eine spezielle Konstellation der Fragmente in paradoxer Beziehung, nämlich der Antikohäsion, die dem Verlust der Kohäsion entgegenwirkt, ein Zusammenhang, der zumindest dialektisch ist. Antikohäsion •

nicht Nicht-Kohäsion



Konstellation der Fragmente in paradoxer Beziehung



wirkt dem Verlust der Kohäsion entgegen



dialektischer Zusammenhang

Finden wir die Antikohäsion auch in anderen Bereichen, jenseits des Körperschemas? Karl JASPERS sprach von Gleichzeitigkeit von Gefühlen und Kontrastgefühlen: „Eine Kranke, die bei strömendem Regen in den Garten trat, sagte, die Sonne sticht und strahlt.“ Manche Patienten tun das Gegenteil von dem, wozu man sie auffordert, was BLEULER (1911) den konträren Negativismus nennt. Wir sind diesem Phänomen (HARTWICH 1980) experimentell nachgegangen: In Reiz-Reaktion-Versuchen an Paranoiden und Nonparanoiden gegenüber Kontrollpersonen wurden jeweils tachystoskopisch zwei Bilder gleichzeitig angeboten, die erkannt und genannt werden sollten. Eines der beiden Bilder wurde jeweils akustisch vorgebahnt, und zwar in unterschiedlicher Intensität (Vogel/Fisch, akustische Vorbahnung: Vogelgezwitscher, Hund/Maus, Vorbahnung: Hundegebell, Auto/Kinderroller, akustische Vorbahnung: Hupton). Im Gegensatz zu den Nonparanoiden und den Kontrollpersonen zeigte die paranoide Gruppe der Schizophrenen eine Umlenkung der Aufmerksamkeit auf das nicht gebahnte Bild im Sinne einer Gegenteilassoziation. Es könnte sich hier um eine Hemmung des assoziativ Nächstliegenden oder um eine Intensivierung der „Assoziation des Gegensatzes“ (BLEULER 1904) handeln. Im Sinne unserer Abwandlung des selbstpsychologischen Konzepts von KOHUT sprechen wir von Antikohäsion, die gegenüber anderen kognitiven Störungen, welche mit einem Aufmerksamkeitsdefizit einhergehen, eine aktive Leistung darstellt, die auch im Experiment keine Zeitverzögerung mit sich bringt. Bei paranoid Schizophrenen halten wir die Antikohäsion, die sich in der Gegenteilassoziation oder Gegenteilhandlung im Wahn manifestiert, für ein Kernstück des pathologischen Strukturelementes der Wahnpsychopathologie.

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Klinische Probleme bei Wahnkranken

FRITZ POUSTKA

Wahnerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen 1. Wahn und intensive Wahrnehmungen bei Kindern Halluzinationen und Wahn sind in der Kindheit ungewöhnlich und eine ausgesprochene Rarität. Erst im Jugendalter kommen sowohl schizophrene und affektive Psychosen häufiger vor. Verschiedene Phänomene können in der Kindheit mitunter mit einem Wahn und Halluzinationen verwechselt werden, obwohl sie meist kürzer sind, nicht frequent und zu keinen Dysfunktionen im täglichen Leben oder bei der Bewältigung von besonderen Aufgaben (Schule) führen: Hypnagoge Halluzinationen (Halluzinationen mit lebendigen Inhalten beim Einschlafen oder Aufwachen im Bett; sie sollten nicht mit krankhaften Zuständen verwechselt werden, wenn sie nur im Bett vorkommen; auch dann nicht, wenn das Kind meint, nicht im Einschlafen oder Aufwachen gewesen zu sein und das Gefühl eines sehr lebendigen Eindrucks anzeigt) Vorstellungen eidetischer Art (lebendige Erinnerungen, vor allem visuelle), eingebildete Begleiter, gesteigerte Fantasien, Illusionäre Verkennungen und Pareidolien (spezifische Bilder aus zweideutigen Reizen „Wolkenbilder“ oder einprägsame, mitunter bewegliche Eindrücke). Organisch hervorgerufene Phänomene (bei toxischen Enzephalopathien), drogeninduziert, bei epileptischen Anfällen (temporalen Anfällen). Déjà vu, jamais vu sind ebenfalls Erlebnisse, die in jedem Alter vorkommen können, ebenso wie Depersonalisations- und Derealisationsphänomene, die aber auch schizophrenen Psychosen oder bipolaren Erkrankungen sowie LSD- oder Cannabisgebrauch begleiten können. Vorahnungen vor Lebensereignisse werden von normalen Personen öfter angegeben; ihnen kommt nur dann eine pathologische Bedeutung zu, wenn sie außergewöhnlich sind, lang anhalten und auch aus einem passenden subkulturellen Rahmen fallen.

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1.1 Vorstellungen Eine besondere Schwierigkeit stellen (häufig bildhafte) Vorstellungen in ihrer Abgrenzung zum Wahn vor. Sie sind meist nicht von absoluter Überzeugung gekennzeichnet und vor allem synton zur Grundstimmung. Sie kommen aber in jedem Lebensalter vor und begleiten eine Reihe von Erkrankungen wie •

Soziale Phobien – hier im inhaltlichen Zusammenhang mit frühen negativen, als Belastung empfundenen Erinnerungen. Die Belastung ist meist objektiv nicht außergewöhnlich und wird eher im Kontext der Ängste subjektiv als solche wahrgenommen (Hackman et al. 2000).



Zwangsstörungen – diese betreffen häufig Kinder und Jugendliche und sie sind mitunter von Wahnideen schwierig unterscheidbar (O’Dwyer & Marks, 2000)

Dazu zwei Fallbeispiele: So hatte ein 9-jähriger Junge seine Mutter täglich stundenlang in Gespräche verwickelt und diese Gespräche auch vehement eingefordert. Er setzte ihr auseinander, dass ihn fremde Mächte aus dem All besetzen, beherrschen und in ihn eingehen. Er könne sich dagegen nicht wehren, sei von ihnen ständig bedroht und ihren Kräften ausgesetzt. Er sehe sie zwar nicht, spüre aber ihre Gegenwart. Gleichzeitig hatte er eine Reihe von Wasch- und Kontrollzwängen, die ihn im Alltag, auch in der Schulund Lernsituation ernstlich behinderten. Diese Überzeugung ließ allerdings bald nach, nachdem er und seine erheblich depressive Mutter über die Natur seiner Zwangserkrankung eingehend und kindgemäß aufgeklärt worden war. Es gelang ihm dabei eine Art von Beobachter-Status gegenüber seinen eigenen Symptomen einzunehmen und er akzeptierte relativ schnell eine zielführende Medikation (SSRI). Danach traten dies Überzeugungen und Vorstellungen nicht wieder auf. Ein 15-jähriger hatte eine dreijährige Vorgeschichte mit Zwangssymptomen. Als sein Vater an einem zerebralen Insult erkrankt war, hatte er sich in die Bibel (Altes Testament) versenkt und alle Themen über Bestrafung und Tod nachgelesen, zwanghaft zu beten begonnen und Kontrollzwänge entwikkelt. Danach entstand in ihm die Überzeugung unheilbar an einem Seminom erkrankt zu sein (wie ein Fall im Bekanntenkreis). Er sah unter anderem dauernd rote Punkte an seinen Genitalien, die sich schließlich auch am Badezimmerboden fanden und die er dort oft stundenlang suchte als Beweis für seine Erkrankung. Nach einiger Zeit halfen ihm auch seine Eltern dabei, da sie sich seinen angstvollen Bitten nicht verschließen konnten. Hier gelang es mit einer kognitiven Verhaltensmodifikation und einfachen

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Verstärkern (Dress der Fußballklubs) die Angst- und Zwangsproblematik zu beherrschen, danach traten diese Überzeugungen nicht mehr auf; es entwickelte sich allerdings zeitweise eine Aidsphobie, die aber bei minimalem Behandlungseinsatz keine so umfassende Stellung mehr einnahm. Vorstellungen ähnlicher Art kommen aber auch bei Psychosen vor (Morrison et al., 2002) und sind häufig mit Erinnerungsbildern verbunden, die ähnlich ausgestattet sind wie bei sozialen Phobien, aber auch bei Posttraumatischen Belastungsstörungen (s.u.) und anderen Angsterkrankungen (Escher et al. 2002). Sie treten offenbar nicht spezifisch in einem bestimmten Alter auf, kommen aber bei Jugendlichen vor. Johns und van Os (2001) stellen in ähnlichem Zusammenhang eine dimensionale Kontinuität psychotischer Symptome ohne negative Symptome dar, mit normalen Erlebnissen und einer Fokussierung auf Halluzinationen und Wahn. 1.2 Wahn und Halluzinationen ohne Psychosen Wahnideen und Stimmenhören kommen bei Kindern und Jugendlichen ohne psychotische Symptomatik vor und sind offenbar eher dimensional klassifizierbar und nicht in Form einer kategorialen Abgrenzung wie eine Felduntersuchung mit einer Nachuntersuchung nach drei Jahren zeigt (Escher et al. 2002). Kinder, die sich durch Stimmen kontrolliert fühlten, hatten eine schlechtere Prognose und benötigten eher eine Behandlung. Etwa die Hälfte der Kinder zeigten aber keine sonstigen Symptome. Das Persistieren der Wahnideen, die Wahnausgestaltung und der Halluzinationen von Stimmen korrelierte mit der „Unfreundlichkeit“ des Tonfalls der Stimme, den negativen Begleitemotionen und der Art und Schwere von auslösenden Ereignissen. Bei Erwachsenen ist eine stärkere Neigung zu Fantasiebildungen ein Prädiktor für Fähigkeit zu Halluzinationen bei Normalpersonen (van de Ven & Merckelbach, 2003) Eine Reihe von weiteren Störungen ist mit dem Auftreten von Wahn und Halluzinationen vergesellschaftet: Halluzinationen, Wahnsymptome und bildhafte Vorstellungen werden bei Missbrauch und Misshandlungen in der Kindheit bis in das bzw. im Erwachsenenalter berichtet (Read et al. 2003). Geistig behinderte Kinder sind besonders suggestiv durch negative Ereignisse beeindruckbar und können Wahn- und halluzinatorische Symptome entwickeln ohne psychotische Störungen. Der Inhalt ist oft bizarr und un-

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zusammenhängend. Weiter neigen sie mitunter zu intensiven Selbstgesprächen mit imaginierten Freunden (Hurley 1996). Beim Autismus kommt in der Regel keine Halluzinationen oder Wahn vor. Allerdings können einige bizarre, an überwertige Ideen erinnernde Zustände differentialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten, besonders auch dann, wenn sie mit Fantasiefreunden (als Ersatz für die durch die krankheitsimmanenten Kontaktprobleme und Vereinsamung) in Zusammenhang stehen. In der Literatur finden sich vereinzelte Darstellungen, die dies deutlich machen (Kobayashi, 1999); die Wahrscheinlichkeit für eine derartige Kombination ist aber gering. Induzierter Wahn (Folie á deux) wurde bei Kindern öfter beschrieben (Zillessen et al. 1996, Kasiwase & Kato, 1997; Wehmeier et al. 2003). Die häufigste Kombination ist dabei die von Mutter auf Tochter (gefolgt von Partnern und Vater-Kind), dabei leidet meist die Mutter an einer schizophrenen Psychose und das Kind an einer paranoiden, wahnhaften Reaktion, die mitunter Jahre dauern kann, bis – als wirksamste Form der Behandlung – eine Trennung durchgesetzt werden kann. Wahnideen sind ferner bei schwer depressiven präpubertären Kindern beschrieben worden (Chambers et al. 1982), wenn auch seltener als Halluzinationen (4 von 58 Kindern hatten Wahnideen; mehr als ein Drittel Halluzinationen). Bipolare Erkrankungen zeigen häufiger Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Dazu ebenfalles zwei Fallbeispiele: Eine 15-jährige liegt mit ihrem Freund im Bett nach reichlich Cannabisgebrauch. Sie wacht in der Nacht auf und hört ein Viepen im Ohr. Sie ist überzeugt, dass ein Vampir bei ihr liegt und weckt ihren Freund. Sie sieht seine Augen merkwürdig verändert und ist überzeugt, dass er der Vampir ist. Sie ist nicht zu beruhigen und wird notfallsmässig in der Klinik aufgenommen. Dort hält das Viepen über Wochen, auch bei völliger Cannabisabstinenz. Erst sehr viel später erzählt sie, dass sie seit Monaten an einen Tinnitus leidet und auf Cannabisgebrauch zunehmend ängstlich reagiert hätte. Anamnestisch und in der weiteren Folge sind drei deutlich abgrenzbare Depressionen z.T. mit erhöhter Umtriebigkeit in Form von Mischzuständen deutlich. Eine 16-jährige kommt ebenfalls nach einer durch Cannabis ausgelösten, sehr entzügelten, psychotischen Symptomatik zur Aufnahme. In den folgenden Wochen ist sie auch durch hohe Dosen verschiedener Neuroleptika nicht zu beruhigen und berichtet durchwegs von akustischen Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Schliesslich beruhigt sie sich zunehmend,

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zeigt keinen Wahn mehr, fühlt sich aber beobachtet, negativ kommentiert und hört dazu syntone Stimmen, die über 8 Monate therapieresistent sind. Erst nach einigen Umstellungen und in Kombination mit Antidepressiva (SSRI) wird sie symptomfrei und absolviert in der Folge das Abitur. Das Fehlen von Negativsymptomen und die deutlich episodenhaften Rückfälle mit depressiven und manischen Radikalen führen zur Änderung der Diagnose in eine bipolare Störung. Die differentialdiagnostische Schwierigkeit bei Jugendlichen mit einer bipolaren Störung, die wegen ihrer besonders akuten „dynamisch entzügelten“ Symptomatik (Janzarik) oft nicht einzuordnen sind und fast immer zunächst als schizophrene Psychose diagnostiziert werden, ist seit langem bekannt (Poustka & Lehmkuhl, 1982, 1983).

2. Schizophrene Psychosen bei Kinder- und Jugendlichen Jugendliche und Schizophrenie (F20-F29) Die Ausgestaltung von formalen und inhaltlichen Wahnproduktionen ist bei früh beginnenden schizophrenen Psychosen deutlich geringer als im Erwachsenealter. Das mag an vielen Besonderheiten des frühen Beginns einer schizophrenen Psychosen liegen. Exkurs: Besonderheiten Es ist unklar, warum Wahn und Halluzinationen bei nichtpsychotischen Störungen nicht so selten bei Kindern vorkommen, hingegen bei schizophrenen Psychosen in diesem Alter keine derartige Bedeutung zukommt wie im Erwachsenenalter. Fasst man einige Daten der Schizophrenieforschung zusammen, ergeben sich einige Gründe, weshalb dies so sein mag. Oft dominiert eine hebephrene Ausprägung, die eher schleichend, chronisch und mit wenig produktiver Symptomatik im Erscheinungsbild einhergeht. Dabei unterscheidet sich die psychopharmakologische und die Verhaltenstherapie, ferner die Art der Familienintervention nicht wesentlich von denen der Erwachsenen. Aufklärung der Umgebung, sorgfältige Strukturierung der Lernprozesse, die besondere Verletzlichkeit wegen der Ausbildungssituation und der sozialen Situation während der Entwicklung bilden allerdings Besonderheiten. Die Schizophrenie beginnt häufig in der Adoleszenz (selten davor). Die Prognose ist deutlich schlechter als im Erwachsenenalter. Defizitsymptome gehen der Erkrankung oft jahrelange voraus: Konzentrationsstörung, Abstumpfung des Affekts, Isolation, depressive, ängstliche Verstimmung, arg-

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wöhnische Haltung u. a. Sie sind für die Prognose wesentlich und besonders schwierig zu behandeln. (Hollis 1995, 2000) Extrem selten kommt eine schizophrene Psychose vor dem 10. Lebensjahr vor; sie zeigt eine hohe Kontinuität bei Beginn in der Kindheit. In der Adoleszenz ist die Psychopathologie meist wie im Erwachsenenalter. Früher Beginn zeigt aber einen höheren Schwergrad und eine höhere genetische Wahrscheinlichkeit. Die Prognose bei Beginn im Kindes-/Jugendalter ist durch die Desorganisation und negative Symptome eher gekennzeichnet als durch eine produktive Symptomatik. Positive Symptome haben keine prognostische Bedeutung, hingegen sind negative Symptome mit Beeinträchtigung der prämorbider Entwicklung (also vor Auftreten der produktiven Symptome) verbunden. Negative Symptome und kognitive Defizite haben offenbar fundamentale Bedeutung i. S. Bleulers: Hohe familiäre Belastung führt zur Schizophrenie mit frühem Beginn. Subtile Symptome und neurobiologische Auffälligkeiten kommen nicht selten unter Verwandten vor: Negative Symptome, Defizite in Form von exekutiven Dysfunktionen (Schwierigkeiten im Planen, strategischen Vorausschauen bei Problemstellungen), zerebrale strukturelle Abweichungen, eye tracking) kommt bei ca. 20-50% der erstgradigen Verwandten vor. Die prämorbide Beeinträchtigung ist bei frühbeginnenden Psychosen hoch: So kommen Sprachstörung (20 %), Lesestörung (30 %), Störung der Blasenkontrolle (36 %), Entwicklungsverzögerung der Sprache oder Motorik (20 % - 50 % bei Beginn vor dem 12. Lj./10 % bei Beginn im Erwachsenenalter) vor. Ferner ist eine soziale Isolation bei einem Drittel dieser Patienten deutlich. Gravierend ist die niedrigere intellektuelle Leistungsfähigkeit prämorbid im Vergleich zur Normalbevölkerung und zwar bei frühem Beginn um 10-15 Pkt. (Arsanow et al. 1994, Hollis 2003) Weiter sind „Theory of mind“ – Defizite nachweisbar und durchaus ähnlich wie beim Autismus (Bölte et al. 2002); d. h. Schwierigkeiten beim Erkennen der allgemein Kognitionen, die es einer Person ermöglichen, fremdes und eigenes Verhalten und Erleben (z.B. Absichten, Vorstellungen, Ideen, Gefühle, Gedanken, Wünsche) zu erkennen, zu verstehen, zu erklären, vorherzusagen und zu kommunizieren. Prodromi bei frühem Beginn: Schleichender Beginn ist typisch mit sozialem Rückzug, Lernprobleme, uncharakteristischem ungewöhnlichen Verhalten, ungewöhnliche Gedanken, exzentrisches Verhalten, wechselnden Affekt, bizarre Wahrnehmungen (Häfner & Nowotny 1995).

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Klinik: Hebephrene Verläufe beginnen am häufigsten in der Adoleszenz. Je früher der Beginn ist, desto desorganisierter ist das Erscheinungsbild mit Negativsymptomen. Dabei kommt wesentlich seltener ein paranoider, wenig systematisierter Wahn vor. Im Kurzzeit-Verlauf der MaudsleyVerlaufsstudie (Hollis 2003) waren 12 % bei Entlassung voll remittiert. Zur vollen Remission kam es dabei meist in den ersten 3 Monaten. Wenn nach 6 Monaten keine Remission zu erkennen war, bedeutete dies eine spätere Remission nur in 15 % der Fälle. Das weist auf denVerlauf in den ersten 6 Monaten als besten prognostischen Indikator hin. Die Diagnose allein ist dabei kein guter Prognosefaktor. Im Langzeit-Verlauf zeigten ca. 1/5 keine und 1/3 eine deutliche Beeinträchtigung. Keine Verschlechterung war mehr nach wenigen Jahren zu erkennen, stabil blieben die Patienten nach 10-15 Jahren. Wenn man Anzeichen für eine ungünstige Prognose zusammenfasst, so ist sie abhängig von der Stärke der prämorbiden sozialen und kognitiven Beeinträchtigung, einer prolongierten ersten Episode, einer langen Dauer einer unbehandelten psychotischen Störung und den negativen Symptome: Kurz gesagt bedeutsame prämorbide und deutliche negative Symptome zusammen ergeben eine negative Prognose. Sie ist auch deswegen ernst zu nehmen, weil damit auch eine geringere Lebenserwartung einhergeht – die Mortalität ist höher als bei Ersterkrankung im Erwachsenenalter und ca. 12fach höher als der Erwartungswert und betrifft vor allem männliche Todesfälle. Epidemiologie: 41 % aller Psychosen werden als Schizophrenie diagnostiziert. Mit 13 Lebensjahren ist die Vorkommenshäufigkeit: 0,9/10.000, mit 18 Lebensjahren: 17,6/10.000 (Gillberg et al. 1986). Die meisten Studien geben ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis bei frühem Beginn an. Als ätiologische Risikofaktoren gelten Komplikationen während der Schwangerschaft und perinatal. Sie sind stärker ausgeprägt bei den sehr früh beginnenden Schizophrenien (vor der Pubertät) und vielleicht doppelt so häufig bei den früh beginnenden (ab der Pubertät) im Vergleich zu normalen Kontrollen. Differentialdiagnostisch müssen Affektive Psychosen, Schizoaffektive Störung, Atypische Psychosen, tiefgreifende Entwicklungsstörung (Autismus Spektrum Störung), ferner Sprachentwicklungsstörung, schizotype Störung, organisch bedingte Störung, Drogen (Amphetamin, Ecstasie, LSD), temporale Epilepsie organische Psychosen (z.B. bei M. Wilson, Metachromatische Leukodystrophie) in Erwägung gezogen werden.

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Neuropathologie: In post-mortem Studien wurde keine Gliose, aber eine Reduktion von Dendritendornen und Synapsen, eine höhere Neuronenzelldichte, reduziertes Hirnvolumen im dorsolateralen, präfrontalen Kortex gefunden (Schicht 3 Pyramidenzellen; Reduktion kortikaler thalamischer exzitatorischer Impulse zum dorsolateralem, präfrontalem Kortex). In bildgebenden Verfahren werden eine Verkleinerung des Gehirns als ganzes und speziell des frontalen und temporalen Kortex beschrieben. Auch Hippokampus und Amygdala erscheinen beidseits verkleinert. Die präfrontale graue Substanz ist ca. um 10% verkleinert, der 3. und Seitenventrikel vergrössert. Damit sind die negative Symptome korreliert. Die Basalganglien sind nach konventiellen Antipsychotikagaben vergrössert. (Reduktion nach Gabe von Clozapin, Kumra et al. 2000). Es zeigen sich weiter progressive Veränderungen im MRT vor und nach Ausbruch der Psychose bei Hochrisiko-Probanden (Copolov et al. 2000): eine Volumenverminderung im Längsschnitt der medialen temporalen Region (Hippocampus, entorhinal, Gyrus fusiforme), eine Vergrösserung des Liquorraumes, eine Vergrößerung des Hippocampus bei jugendlichen Patienten gegenüber Erwachsenen und einer normalen Vergleichsgruppe in eigener Stichprobe (Härtling et al. 2002). In weiter bildgebenden Verfahren (PET) finden sich Hinweise für Verbindungsdefizite des dorsolateraler prefrontaler Kortex (DLPFC) (aktiviert) zum superiorer temporaler Gyrus (reziprok deaktiviert) links. Im Magnetresonanz-Spektroskopie: Reduktion der N-acetyl-aspartat (NAA) im Hippokampus und DLPFC und in der frontalen grauen Substanz (ähnlich bei früh beginnender Psychose ab der Pubertät). Dies ergäbe einen Hinweis für exzessive Verluste von Synapsen, Auswirkung auf die exekutiven Funktionen (ähnlich Befunde erscheinen auch beim Autismus). Viele Auffälligkeiten und Besonderheiten sind möglicherweise für die geringere Frequenz produktiven Symptome verantwortlich wie die prämorbiden Probleme mit früh beginnender Abstumpfung des Affektes, der Desorganisation und der negative Symptome, den Lernstörungen, der niedrigeren intellektuellen Leistungsfähigkeit und einer deutlich veränderten Neurobiologie. Eine klare Pathologie wie in der folgenden Tabelle ergibt sich damit noch nicht, aber der Schlüssel, warum Wahn und Halluzinationen bei jüngeren Kindern seltener und bei älteren Jugendlichen häufiger sind, lässt sich möglicherweise einmal daraus ableiten, wenn unsere funktionellen Untersuchungen (neuropsychologischer und neurophysiologischer Art) eindeutige

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Zuordungen erkennen lassen, wie es in der folgenden Tabelle schematisiert dargestellt ist: Symptombereiche und cerebrale Dysfunktion Symptombereich

Dysfunktion

„positive“ Symptome“ (Halluzination, Wahn)

Schläfenlappen

„negative“ Symptome (Affektabstumpfung, Mo- Frontalhirn tivationsmangel, Interessenlosigkeit, Alogie) „Desorganisation“ (formale Denkstörung, bizarres Verhalten)

Ventraler präfrontaler Kortex, vorderes Zingulum

Die Forschungen der letzten Jahre haben unser Wissen dramatisch erweitert. Kinder und Adoleszente mit Psychose sind nicht grundsätzlich anders als Erwachsene, aber neurobiologische Erkenntnisse zeigen einige Eigenheiten der „early onset“ psychoses (EO) und bei einem „very early onset“ (Beginn vor dem 12. Lebensjahr): so Hinweise auf eine reduzierte synaptische Dichte (präfrontal) und einer progressive Reduktion des Hirnvolumens. VEO bzw. EO ist eine schwerwiegendere Variante schizophrener Psychosen wegen der höheren prämorbiden Belastung, dem höheren familiären Risiko, dem schwierigen Verlauf, der schlechtere Prognose, und auch wegen der oft schwierigen Diagnostik zu Beginn der Erkrankung. Die psychopharmakologische und die Verhaltenstherapie, ferner die Art der Familienintervention unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der Erwachsenen. Aufklärung der Umgebung, sorgfältige Strukturierung der Lernprozesse, die besondere Verletzlichkeit wegen der Ausbildungssituation und der sozialen Situation während der Entwicklung sind weitere Besonderheiten.

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KONRAD MAURER

Wahn im Alter Einführung Wahn, speziell Wahn im Alter ist schwierig zu definieren. Die klassische Definition für einen Wahn von Kurt Schneider kann aber als allgemein akzeptiert angesehen werden: „Ein Wahn ist eine a priori feststehende Überzeugung, an der festgehalten wird, obwohl sie einer Überprüfung nicht standhält.“ Die Kriterien für eine organisch-wahnhafte oder schizophreniforme Störung nach ICD-10 können für paranoide Störungen im höheren Lebensalter dann übernommen werden, wenn Kriterien für eine psychische Störung auf Grund einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns erfüllt sind (Tabelle 1). Tabelle 1: Kriterien für eine organische wahnhafte oder schizophreniforme Störung (nach ICD-10) •

Die allgemeinen Kriterien für eine psychische Störung auf Grund einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsschädigung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung, einschließlich Hormonstörungen, müssen vollständig oder teilweise erfüllt sein;



das klinische Bild wird durch Wahnideen bestimmt (Verfolgungswahn, Wahn körperlicher Veränderung, Krankheits-, Todes- und Eifersuchtswahn), die einen unterschiedlichen Grad an Systematisierung aufweisen;



das Bewusstsein ist klar und das Gedächtnis intakt.

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MAURER

Folgende zusätzliche Symptome können vorhanden sein: • Halluzinationen, • schizophrene Denkstörungen, • isolierte katatone Symptome, • Stereotypien, • Negativismus, • Impulshandlungen. Wahn im Alter ist wegen seiner vielfältigen Symptomatik, der oft nachweisbaren Urteilsschwäche und dem gestörten Realitätsbezug den meisten Psychiatern bekannt. Die Patienten klagen häufig darüber, verfolgt, bestrahlt oder vergiftet zu werden. Oft hören sie Stimmen, die sie beleidigen oder beschimpfen. An zusätzlichen Symptomen neben den Wahnideen können Halluzinationen bestehen, sowie abnormes Bedeutungserleben, abnorme Eigenbeziehungen und Derealisations- und Depersonalisationsphänomene. Ältere Patienten mit Wahn sind häufig schwierig im Umgang, distanziert und misstrauisch. Die Bereitschaft der Patienten sich untersuchen und behandeln zu lassen ist oft gering ausgeprägt. Das Misstrauen und die geringe Auskunftsfreudigkeit der Betroffenen erschwert zudem die Erforschung des Krankheitsbildes. Mitunter finden sich Ich-Störungen in Form von Erlebnissen der Gedankeneingebung, des Gedankenentzugs und der Gedankenausbreitung. Das klinische Bild der wahnhaften (paranoiden) Störungen im höheren Lebensalter, also jenseits des 5. Lebensjahrzehntes, stellt sich oft anders dar als bei Erkrankungsbeginn im jüngeren Lebensalter. Die Wahnideen sind eher alltagsnah und beziehen sich auf Beeinträchtigungen oder Bedrohungen aus der unmittelbaren Umgebung. Neben Verfolgungs- und Beziehungswahn beobachtet man wahnhafte Hypochondrie auf der Grundlage bereits prämorbid bekannter Somatisierungstendenzen und häufig Eifersucht. HERBERT und JACOBSON (1967) führten den Begriff der „partition delusions “ ein für wahnhafte Vorstellungen, dass eigenartige Vorkommnisse auf der Rückseite einer Wand, unter dem Boden oder über der Decke geschehen und auf Patienten einwirken und oft Strahlungen oder Gerüchen entsprechen.

WAHN IM ALTER

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Im Unterschied zu jüngeren Patienten wird bei wahnhaften Störungen im Alter von gehäuftem Vorkommen von nicht-akustischen Halluzinationen aus dem optischen, olfaktorischen und taktilen Bereich berichtet. Die Affektivität ist bei Patienten mit Wahnsymptomen im Alter oft recht gut erhalten, wobei bei ausgeprägter depressiver Symptomatik etwa ein Viertel der älteren Patienten an einem paranoiden Syndrom leidet. Besondere Wahnformen, die oft ausgestanzt im Alter auftreten, sind zum Beispiel der Dermatozoenwahn. Darunter versteht man ein seltenes Krankheitsbild mit einer taktilen Halluzinose, wobei die Patienten wahnhaft davon überzeugt sind, von Parasiten besiedelt und infiziert zu sein. Die Kranken sind überzeugt davon, an einer schweren Hautkrankheit zu leiden, waschen sich häufig, kratzen unentwegt an den betroffenen Haupartien und nehmen die dadurch auftretenden Hautreizungen als Beweis für die Richtigkeit ihrer Annahme. Sie sind durch nichts von der Unheilbarkeit ihrer Annahme zu überzeugen. Außerhalb dieses Wahnthemas besteht klares und geordnetes Denken. Das Krankheitsbild ist recht selten, betrifft mehr Frauen als Männer und geht häufig mit einer sozialen Isolation einher. Der nihilistische Wahn (Cotard-Syndrom) geht mit einer ausgeprägten depressiven Verstimmung einher. Die Patienten verneinen auf unterschiedlichste Art und Weise, nicht zu existieren, schon tot zu sein, zu mumifizieren oder zu verfaulen und sind oft wahnhaft davon überzeugt, begraben werden zu müssen. Wahnbildungen, die als Capgras-Syndrom oder als Frégoli-Syndrom bezeichnet werden können, sind im Zusammenhang mit Fehlidentifikationen anderer Menschen zu sehen. Diese Fehlidentifikationen können Familienangehörige oder Freunde betreffen, mitunter auch das eigene Spiegelbild, also Situationen, in denen der Patient sich im Spiegel betrachtet. Beim Capgras-Syndrom werden vertraute Personen wahnhaft durch identisch aussehende Stellvertreter ersetzt, während beim Frégoli-Syndrom, das in vieler Hinsicht das Gegenteil zum Capgras-Syndrom darstellt, die betroffenen Patienten der Überzeugung sind, dass verschiedene Personen, die ihnen begegnen, eigentlich immer dieselben Personen sind, die ihnen bestens bekannt sind. Diese Personen hätten sich allerdings maskiert und verkleidet. Wahnhafte Störungen im Alter treten, was die Häufigkeit anbelangt, seltener auf als die beiden großen psychischen Alterserkrankungen, Depression und Demenz. Nach ADLER (2001) liegt die Prävalenz wahnhafter Störun-

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gen bei den über 60-Jährigen bei 1 bis 5 %, der Anteil an gerontopsychiatrischen stationären Aufnahmen bei 5 bis 10 %. Die vergleichsweise geringe Häufigkeit im Gegensatz zur Depression und Demenz mag auch der Grund dafür sein, dass bislang wenig über den Wahn im Alter geforscht wurde. Bei älteren Menschen, insbesondere bei Patienten mit einem dementiellen Abbau finden sich gehäuft Wahnsymptome, wobei für solche Fälle die ICD10-Diagnose „Demenz mit Wahn“ vorsieht. Wahninhalte bei Dementen sind wesentlich genauer untersucht worden. Bei Demenzen, insbesondere häufig bei der Alzheimer-Demenz beobachtet man oft einen Wahn, bestohlen oder hintergangen zu werden; recht häufig sind auch Verfolgungswahn und Eifersuchtswahn. Oft treten dabei neben dem Wahn weitere relevante psychopathologische Symptome auf wie psychomotorische Unruhe, erhöhte Reizbarkeit, Misstrauen bis hin zur Feindseligkeit und aggressives Verhalten. Eine wahnhafte Störung im Alter ist zudem bei einer großen Anzahl von weiteren Krankheiten, Medikamenten und Intoxikationen nach Medikamenteneinnahme bekannt (Tabelle 2 und 3). Tabelle 2 (nach Wetterling 2001): Erkrankungen, bei denen eine wahnhafte oder schizophreniforme Symptomatik auftreten kann

Degenerative Erkrankungen Chorea Huntington Demenz vom Alzheimer Typ Parkinson-Syndrom vaskuläre Demenz Entzündliche/immunologische Erkrankungen Enzephalitiden Lupus erythematodes multiple Sklerose Neuroborreliose Stoffwechselerkrankungen metachromatische Leukodystrophie Morbus Wilson (hepatolentikuläre Degeneration) Porphyrie

- 50 % 22 - 84 % 6 - 36,5 % 33 - 40 %

4% 7%

53 %

WAHN IM ALTER

Andere Epilepsie (v.a. bei komplex-fokalem Anfallstyp und Temporallappenepilepsie) Hirntumoren Thyreotoxykose (Hyperthyreose) Myxödem (Hypothyreose) Migräne ?

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1-3% 9% 2% 2% 1%

Tabelle 3 (nach Wetterling 2001): Medikamente, die eine wahnhafte oder schizophreniforme Störung induzieren können

dopaminerge Antiparkinsonmittel +++ (20 - 30 %) z.B. L-DOPA, Bromocriptin, Lisurid) trizyklische Antidepressiva (+) (z.B, Amitryptylin, Clomipramin etc.) Anticholinergika (Antiparkinsonmittel) + (z.B. Biperiden) kurzwirksame Benzodiazepine + (z.B. Triazolam) Antiepileptika (Diphenylhydantoin, Topiramat, Vigabatrin) (+) Betablocker (+) Cimetidin (+) Digitalispräparate (+) Gyrasehemmer, bes. Ofloxacin (+) Ketamine + Kortikosteroide (+) Alkohol, Drogen Alkohol (Eifersuchtswahn) Amphetamine Cannabis Khat Kokain, „Crack“ LSD, Psilocybin etc. Phencyclidin (PCP) Intoxikationen Schwermetalle (Arsen, Mangan, Thallium, Quecksilber) Pilze

(+)

(+) ++

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Bei Parkinson-Patienten mit wahnhafter Störung ist die psychotische Symptomatik fast immer medikamentös induziert. Als ätiologisch relevante Faktoren wahnhafter Störungen im Alter sind nach ADLER zu nennen: •

soziale Isolation



paranoide oder schizoide prämorbide Persönlichkeit



Depressivität



Vulnerabilität für Schizophrenie



sensorische Beeinträchtigung und



hirnorganische Veränderungen

Was die soziale Isolation anbelangt, werden im Rahmen der paranoiden Störungen oft Nachbarn und andere nahe stehende Personen mit einbezogen und können auf diese Weise zu einer Zunahme der Vereinsamung beitragen. Der Status des Immigranten scheint dabei mit einem erhöhten Risiko für paranoide Entgleisungen verbunden zu sein. Ein Sonderfall stellt eine Wahnentwicklung dar, die unter den Bedingungen sprachlicher Isolation zu sehen ist und als „Verfolgungswahn in sprachfremder Umgebung“ auftritt. Patienten, die Wahn im Alter entwickeln, weisen fast immer akzentuierte prämorbide Persönlichkeitszüge auf, wobei Misstrauen, Feindseligkeit, emotionelle Kühle, Arroganz, Egozentrizität und Einzelgängertum beschrieben wurden. Depressive Verstimmungen können die Bereitschaft zu zusätzlichen paranoiden Symptomen fördern. Es ist bekannt, dass bei 20 bis 45 % der stationär aufgenommenen geriatrischen Patienten mit einer Depression Wahnsymptome auftreten. Wahnideen und Halluzinationen sind dann typischerweise stimmungskongruent und haben häufig verdiente Bestrafung, Krankheit oder Schuld zum Inhalt. Eine Untergruppe von Patienten mit wahnhaften Störungen im Alter stellen schizophrene Patienten mit spätem Erkrankungsbeginn dar. Bei den schizophrenen Ersterkrankungen jenseits des 35. Lebensjahres kommt es dabei zu einem stetigen Anstieg des Anteils an Frauen, so dass bei schizophrenen Patienten mit spätem Krankheitsbeginn Frauen deutlich überwiegen. Der Verfolgungswahn von Schwerhörigen wurde bereits 1913 von KRAEPELIN beschrieben und wurde einem langjährig bestehenden Hörverlust zugeordnet. Fehlinterpretationen des Verhaltens, der Gestik und Mimik der

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Mitmenschen begünstigen dabei das Auftreten von Eigenbeziehungen. Ohrgeräusche liefern dabei das Substrat für illusionäre Verkennungen. Unter dem Charles-Bonnet-Syndrom versteht man das Auftreten bewegter und bunter optischer Wahrnehmungen bei klarem Bewusstsein und unbeeinträchtigter geistiger Leistungsfähigkeit. Der Trugcharakter der Wahrnehmungen ist den Betroffenen klar, so dass es sich mehr um Pseudohalluzinationen handelt. Selten sieht man musikalische Halluzinationen, die bei älteren Patienten durch stereotype Wiederholung von Melodien charakterisiert sind. Ist das Alter mit einer Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit verbunden, kann sich durch die Schwäche des Urteilsvermögens und des Realitätsbezuges ein vermehrtes Auftreten von Wahnideen einstellen. Besonders ausgeprägt ist dies bei den Demenzformen (Demenz vom Alzheimer-Typ und vaskuläre Demenz). Durch bildgebende Verfahren finden sich sowohl in der Computertomographie als auch mittels Kernspintomographie eine Erweiterung der inneren und äußeren Liquorräume und im EEG eine Verlangsamung des AlphaGrundrhythmus. Das Auftreten eines Wahns erlaubt keine psychopathologische Unterscheidung zwischen den verschiedenen Demenzformen, insbesondere nicht zwischen einer Multiinfarkt-Demenz, einer gemischten Demenz und einer Demenz vom Alzheimer-Typ. Auf eine Demenz vom Levi-Body-Typ weißt allerdings das Auftreten von Halluzinationen hin. Differentialdiagnostisch ist eine sichere Unterscheidung zwischen Halluzinose, wahnhafter Störung und Delir in vielen Fällen im Alter nicht sicher zu treffen (siehe Tabelle 4). Die Bedeutung der Therapie wahnhafter Störungen im Alter fusst vor allem auf einer tragfähigen Beziehung zwischen Arzt und Patient. Eine sehr große Bedeutung bei der Behandlung von älteren paranoiden Patienten kommt dabei der medizinischen Behandlung von körperlichen Begleiterkrankungen und sensorischen Defiziten zu. So gilt es als bewiesen, dass die Anpassung einer Hörhilfe bei älteren schwerhörigen Patienten und auch Verbesserungen der Sehfähigkeit die psychopathologische Symptomatik günstig beeinflussen kann.

MAURER

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Tabelle 4 (nach Wetterling 2001): Differenzierung Halluzinose – Wahnsyndrom – Delir Halluzinose

Wahnsyndrom

Delir

Beginn

häufig schleichend

häufig schleichend

plötzlich

Bewusstsein

klar

klar

getrübt

Affektivität Angst depressive

häufig meist keine

häufig meist keine

häufig meist keine Stimmung

Aufmerksamkeit

normal Æ reduziert

normal Æ reduziert

deutlich reduziert

Auffassung

normal Æ

normal Æ reduziert

reduziert reduziert

Orientierung

normal

normal

gestört, v.a. zeitlich

Gedächtnis

normal

normal

gestört

Halluzinationen

obligat

sehr häufig

häufig, optisch u. akustisch

Wahn

kein

obligat

häufig

sonstige psychopathologische Symptome

häufig Misstrauen

ausgeprägtes Misstrauen

Schlaf-WachUmkehr-

Psychomotorik

normal

normal

verringert/ gesteigert (stark wechselnd)

Sprache

unauffällig

unauffällig

inkohärent

körperliche Symptome

keine

keine

häufig: Tremor Schwitzen Tachykardie

Æ in späteren Krankheitsphasen bzw. bei schwerer Ausprägung

Für die medikamentöse Therapie stehen eine Vielzahl von Substanzen zur Verfügung. Zunächst sind Neuroleptika zu nennen. Wegen der geringeren Nebenwirkungen, insbesondere des sehr geringeren Risikos von extrapyramidalen Bewegungsstörungen werden atypische Antipsychotika empfohlen, wie z.B. Amisulprid (Solian), Clozapin (Leponex), Olanzapin (Zyprexa), Quetiapin (Seroquel), Risperidon (Risperdal) und Ziprasidon (Zeldox).

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Bei akut auftretender Symptomatik sind allerdings klassische Neuroleptika wie z.B. Haloperidol nicht immer zu umgehen. Bei älteren Patienten sollte hier die Dosis angepasst werden (< 4 mg/d), wobei möglichst einschleichend vorgegangen werden sollte. Bei psychomotorischer Unruhe sind Pipamperon (Dipiperon) aber auch Melperon (z.B. Eunerpan) zu dosieren. Bei Auftreten von extrapyramidalen Störungen bei Gabe von atypischen Neuroleptika oder in niedrigen Dosierungen bei klassischen Neuroleptika ist eine differentialdiagnostische Abgrenzung zur Levi-Body-Erkrankung erforderlich. Bei einer durch Medikamente induzierten wahnhaften Störung im Alter ist zunächst ein Absetzen oder eine Reduktion des infrage kommenden Medikamentes zu empfehlen. Tritt bei Parkinsonpatienten durch L-Dopa oder eine andere dopaminerge Substanz eine induzierte wahnhafte oder schizophreniforme Störung auf, wird diese, wenn eine Dosisreduktion keine Besserung bewirkt, mit dem atypischen Neuroleptikum Clozapin (Leponex) behandelt. Häufig ist bei älteren Patienten mit Wahn die zusätzliche medikamentöse Behandlung der depressiven Stimmung erforderlich. Trizyklische Antidepressiva sind dabei nicht mehr die Mittel der ersten Wahl. Die Substanzen weisen zum Teil erhebliche kardiale Nebenwirkungen auf, wobei Reizleitungsstörungen und Blutdruckdysregulationen zu erwähnen sind. An zweiter Stelle sind anticholinerge Nebenwirkungen zu erwähnen, die gelegentlich zu medikamententoxischen Verwirrtheitszuständen führen können, abgesehen von Symptomen wie Mundtrockenheit, Verstopfung, Blasenentleerungsstörungen und Auslösung von Glaukom-Anfällen. Gegenüber trizyklischen Antidepressiva haben sich deshalb neuere Antidepressiva bewährt, da es dabei zu keiner wesentlichen Sedierung, Kardiotoxizität oder zu anticholinergen Nebenwirkungen kommt. Häufige Nebenwirkungen sind dabei allerdings Übelkeit, Brechreiz, Kopfschmerzen und Schlafstörungen (Eine Aufstellung neuer Antidepressiva findet sich in Tab. 5).

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Tabelle 5 (aus Fasshauer et al. 2000)

Neuere Antidepressiva – geriatrische Dosierung Substanz(klassen)

Geriatrische Dosierung

Selektive SerotinWiederaufnahmehemmer (SSRI) Citalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin

(z.B. Cipramil) 10 - 30 mg (z.B. Fluctin) 20 mg (z.B. Fevarin) 50 - 150 mg (z.B. Tagonis) 20 - 40 mg (z.B. Gladem) 25 - 100 mg

Noradrenalin-Serotonin spezifische Antidepressiva (NaSSA) Mirtazapin (Remergil)

15 - 45 mg

Duale Antidepressiva (DUAL) Venlafaxin

(Trevilor)

150 - 300 mg

Duales serotonerges Antidepressivum (DSA) Nefazodon

(Nefadar)

100 - 300 mg

NoradrenalinWiederaufnahmehemmer Reboxetin

(Edronax)

4 - 6 mg

Reversible spezifische Hemmer der Monoaminoxidase (RIMA) Moclobemid

(Aurorix)

150 - 600 mg

Johanniskrautextrakt

LI-160

600 - 900 mg

Sind ausgeprägte kognitive Beeinträchtigungen vorhanden, so dass Merkmale einer Demenz mit paranoidem Erscheinungsbild vorliegen, ist zusätzlich eine antidementive Therapie angebracht. Es kommen dabei in erster Linie Acetylcholinesterase-Hemmer für leichte und mittelgradige Demenzformen und für mittelschwere bis schwere Manifestationen Memantine infrage (Eine Aufstellung gängiger Antidementiva findet sich in Tab. 6).

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Tabelle 6 (aus Fasshauer et al. 2000)

Antidementiva Arzneistoff ältere Antidemntiva Dihydroergotoxin (z.B. Hydergin) Gingko bilopa Extrakt (stand.) (z.B. Tebonin) Memantin (Akatinol)

Tagesdosis 4 - 8 mg 120 - 240 mg 5 - 30 mg

Nicergolin 15 -30 mg (z.B. Sermion) Nimodipin (Nimotop) 90 mg Piracetam 2,4 - 4,8 mg (z.B. Nootrop) Pyritinol 600 - 800 mg (z.B.Encephabol) Acetylcholinesterasehemmer

Wichtige UAW’s Hypotonie (!), Schwindel sehr selten: Magenbeschwerden, Kopfschmerzen Hautreaktionen Unruhe, Schwindel, Übelkeit Schwindel, Hypotonie, Sedation Hypotonie (!) Unruhe, Aggresivität Appetitlosigkeit, Übelkeit

Hepatotoxizität, Schwindel, Dyspepsie, Tacrin (Cognex) 40 - 160 mg Bauchschmerzen, Übelkeit Erbrechen, Diarrhoe, Anorexie, Myalgie Durchfall, Übelkeit, Erbrechen, MuskelDonepezil (Aricept) 5 - 10 mg krämpfe, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Schwindel Acetylcholinesterasehemmer plus Nikotinrezeptormodulator Galantamin Übelkeit, Erbrechen 16 - 24 mg (Reminyl) Durchfall, Schwindel Eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit geht dabei häufig auch mit einer Rückbildung psychotischer Symptome einher.

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MAURER

Zusammenfassend ist bei älteren Menschen, bei denen gehäuft wahnhafte Störungen auftreten, die diagnostische Zuordnung nicht immer einfach zu treffen. Oft besteht Multimorbidität und die wahnhafte Symptomatik ist als Vorläufer eines dementiellen Abbaus anzusehen. Deshalb ist besonders bei älteren Menschen und einem neu aufgetretenen Wahn nach einer körperlichen/hirnorganischen Grunderkrankung zu suchen.

Literatur Adler G (2001): Paranoide Störungen im höheren Lebensalter, Schattauer-Verlag, Stuttgart Fasshauer K, Gutzmann H, Haupt M, Hübner G, Maurer K: Diagnostic und Therapie der Demenz in differentialdiagnostischer Abgrenzung zur Depression, JanssenCILAG 2000 Schneider K (1973): Klinische Psychopathologie, 13. Auflage, Thieme, Stuttgart Wetterling T (2001): Organische psychische Störungen, Steinkopf, Darmstadt

MICHAEL MUSALEK

Parasitophobie und Parasitenwahn (zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Phobie- und Wahndiagnostik) Schon seit Beginn der wissenschaftlichen Bearbeitung von psychischen Störungen mit dem Parasitenthema sind die entsprechenden Fachdiskussionen von terminologischer Unsicherheit hinsichtlich der Begriffe Parasitophobie und Parasitenwahn geprägt. So sind zum Beispiel die ersten wissenschaftlichen Publikationen zum Parasitenwahn als Abhandlung zur Phobie betitelt: Thiebierge (1894) veröffentlichte im Jahre 1894 unter dem Titel „Les Acarophobes“ Patienten, die davon unkorrigierbar überzeugt waren, dass sie an durch Parasiten verursachten Hautkrankheiten litten, ohne dass aus medizinischer Sicht eine solche Verursachung nachzuweisen gewesen wäre. Zwei Jahre später stellte Perrin (1896) drei Fälle mit dem typischen klinischen Zustandsbild eines Parasitenwahns unter dem Titel „Des névrodermies parasitophobiques“ der wissenschaftliche Öffentlichkeit vor. In diesem Zusammenhang darf aber natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass der Begriff Phobie Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich weiter gefasst war als heutzutage und ihm keineswegs nur Angststörungen mit Vermeidungsverhalten im engeren Sinn zugeordnet wurden. Darüber hinaus ist auch darauf zu verweisen, dass die begriffliche Unsicherheit bei vermeintlichen Parasitenbefallsstörungen keineswegs nur auf die Problematik Phobie und Wahn beschränkt blieb. Die unverrückbare Gewissheit von Parasiten befallen zu sein, fand unter den verschiedensten Bezeichnungen Eingang in die Fachliteratur, wie z.B. Dermatozoenwahn (Ekbom 1938), wahnhafter Ungezieferbefall bzw. Ungezieferbefallswahn (Busch 1960, Kutzer 1965, Wilhelmi 1935), Parasitenwahn (Tullet 1965, Waldron 1962), taktile Halluzinose (Conrad 1955), Coenaesthopathie (Dupre & Camus 1907, Mallet & Male 1930), „Obsession hallucinatoire zoopathique“ (Borel & Ey 1932), Entomophobia (Olkowski & Olkowski 1976) Pseudoparasitismus (Hase 1938), Ekbom-Syndrom (Pethö & Szilagyi 1970) zirkumskripte Hypochondrie (Schwarz 1959), monosymptomatische Hypochondrie (Reilly & Beard 1976,) bzw. monosymptomatisch hypochondrische Psychose (Munro 1983, Koo & Gamba 1996) etc.

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MUSALEK

Die unterschiedlichen Bezeichnungen stehen dabei durchaus auch für unterschiedliche Konzeptualisierungen: von manchen wurde und wird der Parasitenwahn noch immer als hypochondrischer Wahn gesehen, andere hoben demgegenüber das paranoide Moment hervor und ordneten ihn daher der Gruppe der Verfolgungswahnformen zu; manche verneinten eine besondere Nähe zu Zwangsstörungen ausmachen zu können; demgegenüber sahen wieder andere eine halluzinatorische Symptomatik als zentrale Störung der Parasitenbefallsgewissheit (Musalek 1991). Besonders erwähnenswert erscheint nach Durchsicht der psychiatrischen, dermatologischen und parasitologischen Fachliteratur der Umstand, dass sich in den der Parasitenproblematik gewidmeten Publikationen nahezu keine Beschreibungen von phobischen Zustandsbildern im engeren Sinne finden (auf mögliche Gründe dafür wird noch einzugehen sein); praktisch alle Veröffentlichungen beschäftigen sich vorzugsweise mit Wahnstörungen im engeren Sinn, wobei jedoch in der Regel auf eine genaue Grenzziehung zu phobischen Zustandsbildern verzichtet wird. Schon allein aufgrund dieser Umstände erscheint es wert, sich mit den Problemkreisen Parasitophobie und Parasitenwahn im Folgenden nochmals näher auseinanderzusetzen. Darüber hinaus eröffnen aber diese in ihrer Phänomenologie so höchst einförmigen Zustandsbilder auch in besonderer Weise die Möglichkeit, sich dem Problemkreis der Abgrenzung zwischen Phobien und Wahn im allgemeinen zu stellen. Eine Beschäftigung mit den Unterschieden und möglichen Übergängen zwischen Phobien und Wahnstörungen erscheint schon allein auch deshalb notwendig als gerade in den letzten Jahren die Diskussion um die Definition von Wahnstörungen neu entflammte und damit auch eine ganze Reihe von (heute noch weitgehend unbeantworteten) differentialdiagnostischen Fragen aufgeworfen wurde (Musalek 2003b). Dadurch bekam auch die mehrfach geäußerte Vermutung wieder zusätzlichen Nährboden, dass es sich bei Phobien und Wahnbildungen nur um unterschiedliche Ausprägungsgrade einer auf dem selben Kontinuum liegenden Störung handle. Diese Anschauung wurde auch durch Einzelfallbeobachtungen von Übergängen zwischen Phobie und Wahn bei ein und demselben Patienten unterstützt. Nicht zuletzt sei in diesem Zusammenhang aber auch darauf verwiesen, dass sich heute (nach einem in den letzten fünfzehn Jahren erreichten Kulminationspunkt klassifikatorischen Erfindungsreichtums) auch eine zunehmende klassifikatorische Ermüdung zeigt, die für immer mehr Psychopathologen darin mündet, sich von klassischen kategoriellen Diagnoseschemata zu distanzieren und sich dimensionalen Diagnoseansätzen zuzuwenden, um sie auf ihre Tauglich-

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keit in der täglichen klinischen Praxis zu prüfen (Musalek et al. 2000, Musalek 2001). Die Hauptaufgaben dieses Beitrages werden demnach in der Beantwortung der Fragen zu finden sein: Worin finden sich die Gemeinsamkeiten bzw. die Unterschiede zwischen Wahn und Phobie? – oder besser: Macht es Sinn diese beiden Zustände als (weitgehend) unabhängige Entitäten zu trennen, und wenn ja warum, mit welchen Zweck und – wo sollen dann die Trennungslinien verlaufen? Die in ihrer Phänomenologie und thematischen Ausgestaltung so höchst uniformen Zustandsbilder der Parasitophobie und des Parasitenwahns mögen dabei als Prototypen für Wahnstörungen und Phobien im allgemeinen dazu dienen, die Konturen der Übergänge und Grenzen zwischen Wahn und Phobie im Konkreten sichtbarer zu machen. Im Zusammenhang mit der Diskussion der herkömmlichen Phobie- und Wahndefinitionen und deren Gegenüberstellung soll auch der Versuch unternommen werden, mittels Aufzeigen alternativer dimensionaldiagnostischer Vorgangsweisen, die mehr der Psychodynamik des Geschehens Rechnung tragen als die heute gebräuchlichen, klassischen kategoriellen Diagnosesysteme, das die psychiatrische Praxis leider noch immer beherrschende (und auch so einengende) „diagnostische Schubladendenken“ (Musalek 2001) zu überwinden.

1. Definition Phobie Der Terminus Phobie ist vom griechischen Wort „phobeo“ herzuleiten, was soviel wie „in die Flucht jagen, vertreiben, erschrecken, ängstigen“ heißt (Peters 2000). Dementsprechend wird das Wort auch im wesentlichen in zwei Bedeutungsgebungen verwendet: nämlich zum einen als synonym für Angst im allgemeinen (vgl. z.B. Dysmorphophobie) und zum anderen für unvernünftige, unwillkürliche, inadäquate Angst vor bestimmten Gegenständen und Situationen (Ayd 2000). Scharfetter (1991) reiht die Phobien gemeinsam mit den Zwängen in eine Gruppe und streicht damit besonders den zwanghaften Charakter der Phobien heraus. Er definiert die Phobien als „zwanghafte Befürchtungen, die sich angesichts bestimmter Situationen oder Objekte aufdrängen, obwohl diese solche Ängste nicht selbstverständlich und für jedermann rechtfertigen. Phobien unterscheiden sich von den gewöhnlichen Angstsymptomen dadurch, dass bei ihnen (was eben ihre Zugehörigkeit zu den Zwangssymptomen begründet) die zwingende Übermacht der Befürchtung kombiniert ist mit der (völligen, teilweisen oder

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zeitweiligen) intellektuellen Einsicht in ihre Unbegründetheit (vom Gegenstand her) und mit der Erfahrung eines inneren Widerstandes dagegen. Die Phobien drängen zu bestimmten Handlungen, die z.T. eigens benannt werden (z.B. Waschzwang) oder zu sogenannten Zwangsunterlassungen (-vermeidungen).“ Gerade bei der Parasitophobie wird der zwanghafte Charakter der Störung in besonderem Maße sichtbar. Schon allein die Vorstellung von Parasiten möglicherweise befallen zu sein bzw. befallen zu werden, führen zu einer starken, die Betroffenen völlig ausfüllenden Angst; auch entsprechende Beruhigungsversuche durch die Umgebung bleiben in der Regel weitgehend wirkungslos. Die Betroffenen können sich von ihren Befürchtungen nicht lösen. Zwanghaft beschäftigen sie sich mit der Gefahr eines Parasitenbefalls, zwanghaft unternehmen sie auch alles, um einem solchen Parasitenbefall vorzubeugen. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Je nach entomologischem bzw. hygienischem Grundwissen werden zwanghafte Waschhandlungen, das Verwenden von verschiedenen Lösungsmitteln, Tinkturen, Schädlingsbekämpfungsmittel, etc. bis hin zum Verbrennen und Ausräuchern von Gegenständen oder Räumen eingesetzt, um einen Ungezieferbefall zu verhindern. Viele dieser Patienten sind sich der Nutzlosigkeit ihrer Handlungen durchaus bewusst, dennoch können sie davon nicht lassen. Trotz mannigfacher Vermeidungsverhalten bleiben sie in ihren Befürchtungen gefangen; das Vermeiden von vermeintlichen Ansteckungsmöglichkeiten führt nur zu kurzer Entlastung, um dann neuen zwanghaften Befallsbefürchtungen wieder Raum zu geben. Von vielen werden die Phobien nicht der Gruppe der Zwangstörungen, sondern den Angststörungen zugeordnet (Faust 1995, Tölle 1999, Musalek & Hobl 2002b). Phobien werden dann einfach als objekt- und situationsbezogene Ängste aufgefasst, die „angesichts einer tatsächlich geringen oder fehlenden Gefährdung durch diese Bedingungen unangemessen, übermäßig und irrational“ sind, wobei die Betroffenen „sich über diese Diskrepanz zwischen Bedrohung und provozierter Angst im klaren (sind); (sie) ... die Angst aber nur durch Meidung dieser Bedingung verhindern (können)“ (Strian 1995). Lange Tradition hat die Zuordnung von Phobien zu den Neurosen, womit nicht zuletzt auch dem Umstand besondere Bedeutung beigemessen wird, dass es sich hierbei um eine Erkrankung bzw. Störung handelt, die auf lebensgeschichtliche Ereignisse zurückzuführen ist (RhodeDachser 1999). Das pathologische Moment liegt in all diesen Diagnoseansätzen im Ausprägungsgrad der Angst, nämlich in der „abnorm starken Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen..., die üblicherweise keine solche Furcht hervorrufen“ (C. Rhode-Dachser 1999). Damit sehen wir

PARASITOPHOBIE UND PARASITENWAHN

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uns auch hier (wie übrigens auch bei allen anderen psychopathologischen Phänomenen) mit der Problematik der Unterscheidung zwischen „normalpsychologischen“ und „psychopathologischen Erscheinungsformen“ konfrontiert, einem der größten (und bis heute von manchen immer noch negierten) Probleme in der Psychopathologie. Die Schwierigkeit zwischen psychopathologischen und nicht-pathologischen Phänomenen zu unterscheiden liegt vor allem in dem Umstand begründet, dass wir über keine qualitativen Unterscheidungsmerkmale zwischen „gesund“ und „krank“ verfügen: alle psychopathologischen Symptome können auch bei Gesunden ohne jedweden Krankheitswert in Erscheinung treten: Angst ist zum einen ein normal-psychologisches (und mehr noch: auch lebenserhaltendes) Phänomen, zum anderen kann sie als Krankheitszeichen zu massiven Beeinträchtigungen im Leben des Betroffen führen. Gleiches gilt natürlich auch für alle Formen von Stimmungs-, Antriebs- und Affektstörungen – oder: wer hat im Zustand von großer Müdigkeit bzw. im Rahmen von Affektwallungen nicht bereits verschiedene Leistungsbereiche betreffende kognitive Beeinträchtigungen erlebt, ohne dass diesen Krankheitswert beizumessen gewesen wäre. Aufgrund des Fehlens qualitativer Unterscheidungsmerkmale sind wir also gezwungen das pathologische Moment eines Phänomens in anderen Bereichen wie z.B. der Intensität, der Dauer, der dadurch bewirkten Behinderung bzw. Beeinträchtigung und vor allem auch im Kontext seines Auftretens zu suchen. Die heute noch immer in der Psychiatrie weit verbreitete Methode der Unterscheidung zwischen „nachvollziehbaren (verstehbaren)“ bzw. „nicht nachvollziehbaren (nicht verstehbaren)“ Phänomenen ist insofern als höchst problematisch zu vermeiden, als dieses Unterscheidungskriterium – vielmehr noch als alle anderen Unterscheidungsmöglichkeiten – nicht so sehr vom Zustand des Betroffenen, sondern vielmehr von der Beurteilung des Beobachters (in unserem Fall des Diagnostikers) abhängt. Ob ein psychiatrisches Zustandsbild und sein Zustandekommen als nachvollziehbar bzw. nicht vollziehbar angesehen wird, also verstanden wird im eigentlichen Sinn (Jaspers 1913, 1973) bzw. nicht verstanden wird, hängt natürlich vor allem von den Verständnismöglichkeiten (also nicht zuletzt auch von der Weltoffenheit) des Diagnostikers ab. Darüber hinaus wissen wir aus der alltäglichen Ausbildungserfahrung, dass das psychopathologische Verständnis, also die Fähigkeit komplexe psychische Gegebenheiten zu erfassen, zu verstehen und nachzuvollziehen mit der Dauer (und auch der Qualität) der Ausbildung zum Psychiater zunimmt. Das würde aber bedeuten, dass, zieht man die Nachvollziehbarkeit als wesentliches Entscheidungskriterium her-

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an, mit zunehmendem Ausbildungsgrad des Beobachters das pathologische Moment der Kranken abnähme – was zumindest in der täglichen klinischen Praxis als wenig zielführend erscheint; die Idee, ob eine solche Vorgangsweise in der Zukunft gesamtgesellschaftlich nutzbringend werden könnte, sollte jedoch nicht in gleichem Maße verworfen werden: durch mehr Verständnis in der Bevölkerung zu einer Entpathologisierung und damit auch Entstigmatisierung beizutragen, erscheint bei all der hier gebotenen Vorsicht – Krankheit bedeutet auch Schutz des Kranken! – durchaus überlegenswert. Phobien, als zielgerichtete Angst, über den (unpassenden) kontextuellen Zusammenhang ihres Auftretens und/oder über ihre Intensität bzw. Dauer zu definieren ist weitverbreitete Praxis. So heißt es z.B. in den ICD-10 (1993): „In dieser Gruppe von Störungen (Phobien) wird Angst ausschließlich oder überwiegend durch eindeutig definierte, im allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte – außerhalb des Patienten – hervorgerufen. Diese Situationen oder Objekte werden charakteristischerweise gemieden oder voller Angst ertragen“. Bei Parasitophobien stößt man aber bei einer solchen diagnostischen Vorgangsweise auf nahezu unüberwindbare Probleme: Wie stark darf unsere Angst vor Parasiten sein? Ist Ungeziefer ein „im allgemeinen ungefährliches Objekt“? Stellt ein Parasitenbefall eine „im allgemeinen ungefährliche Situation“ dar? Wie lange darf die Angst vor Parasiten bestehen, wie oft darf sie auftreten, ohne dass ihr schon pathologisches Gewicht verliehen wird? In welchem Kontext ist Angst vor einem Parasitenbefall passend? Haben wir nicht alle schon davor Angst gehabt von Wanzen, Läusen, Milben oder anderem Ungeziefer befallen gewesen zu sein? Wie erklärt man sich die ungeheure Menge an verwendeten Schädlingsbekämpfungsmittel in den Vereinigten Staaten? Ist es nicht eher als pathologisch anzusehen, wenn wir nicht mehr fähig sind, Angst vor einem Parasitenbefall zu haben, wo wir doch von Ungeziefer ubiquitär umgeben und betroffen sind? Eine Reklame einer Schädlingsbekämpfungsfirma, die mit dem Slogan wirbt: „Sie schlafen nie alleine“ (auf der nebenstehenden Abbildung finden sich einerseits ein frisch aufgemachtes Bett und andererseits einige Milben), spricht hier für sich. Wir alle wissen, dass Ungeziefer auch Krankheiten hervorrufen kann. Ist nun die Angst vor Parasiten, Ungeziefer, kleinen Tierchen, Milben, Mikroben, etc. eine begründete? – oder anders ausgedrückt: Ist es möglicherweise völlig unbegründet, dass viele von uns keine Angst vor solchen Parasiten haben? Angst davor haben manche von uns ja nur deshalb nicht, weil sie einen solchen möglichen Befall einfach aus ihrem Leben aussparen, ihn (bzw. die Möglichkeit eines Auftre-

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tens) also einfach negieren. Soll und kann das aber bedeuten, dass derjenige der sein „Parasiten-Neglect-Syndrom“ aufgibt zum pathologischen Fall wird? Der den Problemen der Welt Zugewandte, die Probleme der Welt Wahrnehmende und auf sie Reagierende wird dann zum psychisch Kranken, während der „indolente Nebbochant“, der unwissende oder nichtwissen-wollende Mensch, der die um ihn herum bestehenden offensichtlichen Probleme nicht wahrnimmt oder wahrnehmen will, den die ihn umgebende Welt nicht mehr be- und anrührt, zum gesunden Individuum in einer in vielen Bereichen selbst- und fremdgefährlichen Gesellschaft erklärt wird. Keine Angst zu haben wird üblicherweise nicht als psychische Störung angesehen; ein sowohl aus theoretischer wie auch praktischer Perspektive wenig nachvollziehbarer Umstand. Das Nicht-Angst-Haben führt nicht selten zu massiven Beeinträchtigungen: denken wir nur an die fehlende Angst vor Umweltverschmutzung vieler unserer Mitmenschen, oder fehlender Angst vor Autounfällen und entsprechend rücksichtslose Verhaltensweisen, die gar nicht selten in massiver Selbst- bzw. Fremdgefährdung enden. So kann ein Nicht-wahrhaben(-wollen) einer ansteckenden parasitären Erkrankung zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht nur des Betroffenen selbst sondern auch seiner Umgebung führen. Dennoch kämen wir nicht auf die Idee einen Menschen mit einem „Angst-DefizienzSyndrom“ in eine psychiatrische Klinik aufzunehmen, auch dann nicht wenn dies zu einer erheblichen Selbstgefährdung führte, während wir umgekehrt einen Patienten mit übermäßiger Angst, überhaupt dann, wenn noch eine Selbstgefährdung hinzu tritt, natürlich als „behandlungswürdig“ ansehen. Diese Anmerkungen sollen nicht so verstanden werden, dass der Autor alle diese selbst- bzw. fremdgefährlichen Individuen mit „AngstNeglect-Syndrom“ bzw. „Angst-Defizienz-Syndrom“ einer stationären Behandlung in einer psychiatrischen Klinik zuführen möchte, sondern nur auf die Problematik aufmerksam machen, wie wenig konsequent wir mit den Kriterien der „Behandlungswürdigkeit“ und „Behandlungsnotwendigkeit“ umgehen und wie schwierig es (im Einzelfall) ist, zwischen gesund und krank zu unterscheiden, wie inkonsequent und vorurteilsgeleitet wir mit diesen Fragen gewohnt sind umzugehen. Die hier nur kurz skizzierbare Problematik einer im wesentlichen „kontext-abhängigen“ Diagnostik mag auch eine der Erklärungen dafür sein, dass wir in der entsprechenden Fachliteratur Parasitophobien im engeren Sinn kaum thematisiert finden. Möglicherweise werden viele Fälle von Angst vor Parasiten sowohl von den Betroffenen selbst wie auch von Ärzten einfach deshalb nicht als Parasitopho-

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bien im pathologischen Sinn aufgefasst, weil der Kontext ihres Auftretens in weiten Bereichen so gut nachvollziehbar bleibt. Bleiben die Ursachen von Ängsten aber weitgehend nicht nachvollziehbar, dann werden sie, selbst dann, wenn sie hinsichtlich der Intensität bzw. Dauer den Parasitenängsten entsprechen, von den Betroffenen eher als pathologisch bewertet. Eine andere Möglichkeit zwischen „gesunder“ und „pathologischer Angst“ zu unterscheiden liegt in der Bewertung der durch die Angst verursachten Behinderung bzw. Beeinträchtigung im täglichen Leben. Dabei kann zum einen die Beeinträchtigung im sozialen Bereich (wie z.B. am Arbeitsplatz, in der Familie, im Freundeskreis) bzw. andererseits der vom Individuum selbst erlebte Verlust an Freiheitsgraden zur Schweregradsbewertung herangezogen werden. Ohne Zweifel erscheint die Methode, das pathologische Moment im Ausmaß der Beeinträchtigung bzw. Behinderung zu suchen, wesentlich zielführender als die vorher angesprochenen Diagnoseansätze. Allerdings ist man auch hier mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert, denen nur sehr schwer beizukommen ist. Definiert man z.B. die Phobie über die durch sie hervorgerufenen Probleme am Arbeitsplatz, dann darf natürlich nicht außer acht gelassen werden, dass das Ausmaß der Behinderung des Betroffenen keineswegs nur durch die psychische Störung allein, sondern nicht zuletzt auch durch die Reaktionen bzw. Reaktionsmöglichkeiten des sozialen Umfeldes am Arbeitsplatz, ja in machen Fällen sogar durch den Arbeitsplatz selbst bestimmt wird. Das Auftreten einer Akrophobie (Höhenangst) wird bei einem Dachdecker ohne Zweifel eine höher Behinderung im Berufsleben hervorrufen als bei einem Straßenkehrer; das Auftreten einer Acarophobie (Parasitenphobie) wird einen Tierarzt wesentlich mehr in der Berufsausübung beeinträchtigen als einen Röntgenologen in der Humanmedizin; der geäußerten Angst möglicherweise von Parasiten befallen zu sein, wird in einer Großküche ohne Zweifel mehr Bedeutung geschenkt werden als in einer Umgebung, wo Hygienevorschriften einen nicht so hohen Stellenwert besitzen, um nur einige wenige Beispiele zur Illustration der Abhängigkeit der Behinderung von vom Betroffenen weitgehend unabhängigen Außenfaktoren zu nennen. Ganz ähnliche Probleme bereitet auch eine Diagnostik, die sich an den durch die psychische Störung bedingten Beeinträchtigungen im unmittelbaren zwischenmenschlichen Bereich orientiert. Eine solche Diagnostik kann nur in weiten Bereichen von der Toleranz der Mitmenschen des Betroffenen abhängig sein: Je nachdem welches Verständnis bzw. Unverständnis einer psychischen Störung im allgemeinen und einer Phobie im besonderen beigemessen wird, bestimmt dann den Grad der sozialen Beeinträchtigung.

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Je toleranter die Mitmenschen desto geringer der Rückzug vom Betroffenen, je geringer die Toleranz gegenüber dem Störungsmuster bzw. -inhalt desto größer die Zurückweisung des Betroffen und dem gemäß – vor allem dann wenn Störungen über einen längeren Zeitraum bestehen – desto größer die soziale Behinderung, und desto größer die pathologische Wertigkeit. Eine weit bessere Methode erscheint eine Beurteilung des pathologischen Moments anhand des Verlustes von Freiheitsgraden. Wir alle besitzen ein gewisses Maß an Freiheitsgraden – selbst dann, wenn wir sie nicht alle immer nützen. Im Rahmen von psychischen Störungen im allgemeinen und von Phobien im besonderen kann die Anzahl der Freiheitsgrade reduziert werden. Dabei gilt: je stärker die Störung desto geringer der Freiraum des Betroffenen. So kann sich z.B. ein leichtgradig depressiver Mensch durchaus noch aussuchen, welchen Aktivitäten er (wenn auch eingeschränkt) nachkommen möchte, oder nicht; er kann sich z.B. noch entscheiden, ob er den Nachbarn, den Freund, den Familienagehörigen besuchen möchte, er ins Theater oder ins Kino gehen möchte, etc. Mit zunehmender Depression werden diese seine Handlungsmöglichkeiten immer mehr vom psychischen Zustand, vom reduzierten Antrieb und Negativismus bestimmt. Der Betroffene kann sich dann nicht mehr aussuchen, ob er lieber dies oder jenes machen möchte, sein Zustandsbild beraubt ihn zusehends seiner Handlungsfreiheiten. Bei hochgradiger Depression können die Freiheitsgrade dann so weitgehend eingeschränkt sein, dass auch die Entscheidung zu essen oder zu trinken nicht mehr möglich wird. Gleiches gilt auch für Phobien: manche Betroffene berichten nur ihre Furcht, sie leiden auch bis zu einem gewissen Grad darunter, sie sind aber in ihren Entscheidungen (und damit auch in ihren Handlungen) noch nicht bzw. noch kaum beeinträchtigt. Je stärker die Angst vor dem jeweiligen Objekt bzw. vor der jeweiligen Situation desto stärker das Unvermögen sich von der Angst zu lösen. Die Furcht vor dem Objekt, vor der Situation wird lebensbestimmend, im Extremfall wird dann das gesamte Leben auf die Angst zentriert; den Betroffenen bleibt kein Freiraum mehr, sich für andere Lebensbereiche zu entscheiden. Eine solche „Freiheitsgraddiagnostik“ hat den Vorteil, dass der Verlust an Freiheitsgraden nahezu ausschließlich vom Zustand des Betroffenen abhängig ist. Natürlich geht der Verlust von Freiheitsgraden oft mit sozialen Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen im zwischenmenschlichen Bereich, also vom sozialem Umfeld mitbestimmten Störungen einher. Im Vergleich zur klassischen Behinderungsdiagnostik und natürlich auch im Vergleich zur herkömmlichen globalen Intensitätssbeurteilung durch den Beobachter

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bietet die „Freiheitsgraddiagnostik“ aber eine wesentlich bessere (von Außenbedingungen wesentlich weniger beeinflusste) Beurteilungsmöglichkeit des Schweregrades einer psychischen Störung. Eine Parasitophobie ist bei Anwendung einer solchen Freiheitsgraddiagnostik nur dann als pathologisch anzusehen, wenn aufgrund der vorhandenen Befürchtungen die Betroffenen in ihren Freiheitsgraden (= Entscheidungsmöglichkeiten bzw. -vielfalt im Alltag) in erheblichem Ausmaß reduziert sind. Mit anderen Worten: befürchtet der Betroffene zwar einen Parasitenbefall, ohne aber dadurch in seinen Alltagsentscheidungen davon geleitet zu werden bzw. in seinen Handlungsfeldern in erheblichem Ausmaß reduziert zu sein, dann wäre in diesem Fall der Furcht vor Parasiten kein Krankheitswert beizumessen; selbst dann nicht, wenn sie über längere Zeit weitgehend unbeeinflussbar Bestand hätte. Wenn aber der Betroffene z.B. keine (bzw. kaum) Möglichkeit mehr sieht, sich unabhängig von seine Parasitenbefürchtungen für oder gegen ein Treffen mit Freunden zu entscheiden oder öffentliche Plätze aufzusuchen, ins Theater oder Konzert zu gehen, einkaufen zu gehen oder er überhaupt sich nicht mehr aussuchen kann, die Wohnung verlassen, wenn er also in seinen prinzipiellen Entscheidungsmöglichkeiten in erheblichem Ausmaß behindert ist, dann erst wäre eine solche Befürchtung als Krankheit zu bewerten. Ängsten mit ähnlicher Dauer und Intensität, die aber zu keinem erheblichen Freiheitsgradverlust führten, wäre kein Krankheitswert beizumessen. Damit stellt sich aber als zentrale Frage: was bedeutet „in erheblichem Ausmaß“? Auch im Rahmen der Freiheitsgraddiagnostik begegnet uns natürlich die Kontinuumproblematik und damit sehen wir uns auch hier mit der (sowohl theoretischen wie auch praktischen) Unmöglichkeit einer exakten Grenzziehung zwischen gesund und krank konfrontiert. Wir leben nicht in einer Welt der Gegensätze (wie von manchen noch immer fernab der beobachtbaren Realität behauptet wird), sondern wir leben in einer Welt der Kontinua. Die (vermeintlichen) Gegensätze stellen dabei nur Endpunkte (Extremvarianten) auf einem dazwischen liegenden Kontinuum dar. Die Schwierigkeit der Krankheitsdiagnostik liegt demnach nicht zuletzt in dem Umstand begründet, dass „gesund“ und „krank“ auch keine Gegensatzpaare darstellen, sondern als Extremvarianten auf dem Kontinuum „völlig gesund“ und „völlig krank“ angesehen werden müssen. Damit wird aber auch jede exakte Grenzziehung im Prinzip unmöglich bzw. wenn wir auf eine Grenzziehung nicht verzichten wollen, dann bleibt uns nur die Möglichkeit des Setzens eines mehr oder weniger willkürlichen Artefakts. Das heißt aber mit anderen Worten: dass wir – unabhängig davon, ob wir Krankheit

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über Intensität, Dauer, Verstehbarkeit, soziale Behinderung oder Einschränkung der Freiheitsgrade festlegen – immer nur von mehr oder weniger gesund bzw. mehr oder weniger krank sprechen können. Je näher wir der Extremvariante „völlig krank“ kommen, desto sicherer können wir davon ausgehen, dass es sich beim vorgegebenen Zustandsbild um einen Krankheitszustand handelt; je näher wir der völligen Gesundheit kommen desto sicherer können wir uns sein, dass dem jeweiligen Zustand kein bzw. nur ein vernachlässigbar geringer Krankheitswert beizumessen ist; auf alle Fälle bleibt aber zwischen „gesund“ und „krank“ immer eine gewisse Rest(grenz)zone zurück, in der eine zielführende Beurteilung, ob jemand gesund bzw. krank ist, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit möglich ist. Eine sich an den Freiheitsgraden orientierende Diagnostik („Freiheitsgraddiagnostik“) erlaubt es aber auch, nicht nur mehr oder weniger willkürlich künstliche Grenzen zwischen gesund und krank zu ziehen, sondern sie auch zielorientiert dort zu setzen, wo sie für den Betroffenen besondere Wertigkeit erlangen sollen. So kann ein Bereich von Freiheitsgradverlusten festgesetzt werden, bei dem eine Behandlung in jedem Fall (selbst dann, wenn der Betroffene nicht willens dazu ist) notwendig wird, nämlich dann, wenn der Freiheitsgradverlust auch vitale Funktionen betrifft (z.B. der Kranke aufgrund der Störung nicht mehr fähig ist, sich zwischen Essen und Nicht-Essen, Trinken bzw. Nicht-Trinken zu entscheiden). Davon kann ein Bereich an Freiheitsgradeinschränkung abgetrennt werden, bei dem eine Behandlung (medikamentös bzw. psychotherapeutisch) zwar sinnvoll aber nicht unabdingbar ist bzw. ein weiterer Bereich, bei dem die Lebensqualität des Betroffenen soweit beeinträchtigt ist, dass sich zumindest eine entsprechende Beratung zum Verhindern einer Verschlechterung des Zustandes anbietet. Konkret am Beispiel der Parasitophobie heißt das: wenn der Betroffene auf seine Ängste und Befürchtungen soweit fixiert und zentriert ist, dass es ihm nicht mehr möglich ist, seinen Alltagsentscheidungen und -handlungen nachzukommen, dann wird eine Behandlung notwendig. Bei nur geringer Verminderung der Freiheitsgrade, dort also, wo er noch unbeeinflusst von der Phobie Entscheidungen in für ihn wesentlichen Lebensbereichen treffen kann, genügen entsprechende Beratungen im Sinne von prophylaktischen Maßnahmen, zur Verhinderung einer Intensivierung der phobischen Störung mit nachfolgendem massiven Freiheitsgradverlust. Dort aber, wo er in für ihn wichtigen Lebensbereichen bereits eine von der Parasitenfurcht abhängige, signifikante Abnahme an Freiheitsgraden zeigt, die

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wesentliche Einschränkungen in seiner prinzipiellen Handlungsvielfalt nach sich ziehen, wird der Parasitophobie Krankheitswertigkeit zuteil. Der Vorteil einer solchen Freiheitsgraddiagnostik liegt (z.B. im Vergleich zu einer sich nur an der sozialen Behinderung orientierenden Diagnostik) auch in dem Umstand, dass die Pathologie-Skala nach beiden Seiten hin auf dem Kontinuum offen bleiben kann: eine massive Freiheitsgradbeschränkung kann hier also ebenso als pathologisch bewertet werden wie ein völliges Unbeeinflusstbleiben im Entscheidungsbereich durch Befürchtungen (z.B. bei Angst-Neglect-Syndrom). Als „gesund“ kann hier bewertet werden, wenn Ängste und Befürchtungen bis zu einem gewissen Grad die Entscheidungen und Entscheidungsmöglichkeiten beeinflussen, im Sinne eines diskreten Freiheitsgradverlustes (Mittelbereich des Kontinuums); im Falle einer massiven Einschränkung (Extremvariante 1) genauso wie im Fall eines völligen Fehlens von Einschränkungen (Extremvariante 2) ist dann von „Krankheit“ zu sprechen – „keine Angst“ und „massive Angst“ sind dann keine Gegensatzpaare mehr, sondern Extremvarianten auf einem dazwischen liegenden Kontinuum der Freiheitsgrade eines Individuums in dessen Mittelbereich die „angemessene (gesunde) Angst“ eingeordnet ist. Schon allein dieser kurze Überblick macht die Vielfalt der Probleme in der Phobiediagnostik deutlich. Mit vielen der hier skizzierten Probleme ist man natürlich auch in der Wahndiagnostik konfrontiert. Die Diagnoseproblematik stellt sich aber bei Wahnstörungen noch ungleich komplexer dar. Das beginnt schon damit, dass bis heute in der Fachwelt keine Einigkeit darüber zu erzielen war, was als Wahnstörung zu bezeichnen wäre bzw. was man überhaupt unter einem Wahn zu verstehen habe. Aber nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs sondern auch bei Verwendung des Wortes Wahn in der Alltagssprache herrscht Verwirrung stiftende Bedeutungsvielfalt. Bevor daher auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Phobien und Wahn näher eingegangen werden kann, müssen noch einige Facetten der Wahndefinition und Bedeutung des Wahns als psychopathologisches Phänomen beleuchtet werden.

2. Definition Wahn Was versteht man heute nun unter einem Wahn? Oft finden wir diesen Begriff im täglichen Leben gleichgesetzt mit dem Abstrusen, dem Fremden, dem Nicht-Nachvollziehbaren, dem Unverständlichen – aber wir treffen diesen Begriff heute auch als Synonym für Verrücktsein, für Wahnsinn, also

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als Inbegriff psychischer Krankheit an. Noch deutlicher wird die Vielfalt der Bedeutungen von Wahn und Wahnsinn im Alltagsleben unter dem Blickwinkel ihrer etymologischen Herkunft. Nach Scharfetter (1991) sind die beiden Begriffe „Wahn“ und „Wahnsinn“ unterschiedlichen Ursprungs: Wahnsinn wäre auf die Sprachwurzel „wan“ zurückzuführen. „Wan“ bedeutete im Alt- u. Mittelhochdeutsch „leer“. Dieser Stamm wäre verwandt mit dem gotischen Wort „vans“ und dem lateinischen Wort „vanus, vastus“, die ebenfalls für „leer“ stehen. Wahnsinn bzw. wahnsinnig hieße übersetzt daher soviel wie „leer von Sinnen“ oder „verstandesleer“. Demgegenüber leite sich unser Begriff „Wahn“ von der indogermanischen Wurzel „wen" her, was soviel wie „nach etwas suchen, trachten, wünschen, verlangen, erhoffen, begehren, erwarten, vermuten“ bedeutete. Dazu gehört auch das germanische, mittel- und althochdeutsche „wan“ – „Erwartung, Vermutung, Meinung, Verdacht“. Derselbe Stamm findet sich auch in den Begriffen „win“ (engl. gewinnen), „wunsch“ bzw. „wine“ (german. Freude), venus (lat. Liebe), vanas (altind. Verlangen, Lust). Die Gebrüder Grimm führen dazu an: „Als die ursprüngliche Bedeutung darf die von ‚Erwartung’ angesehen werden ... allerdings wäre es auch möglich, aus der im mittelhochdeutschen vorwiegenden Bedeutung ‚unsichere Meinung’ die verschiedenen Bedeutungen des Wortes abzuleiten, wie das gewöhnlich geschieht; da aber die Bedeutung ‚Erwartung’ im altgermanischen überwiegt, im gotischen und nordischen sogar allein vorliegt, und die verwandten Sprachen eher auf diese Bedeutung als auf die von ‚Meinung’ hinweisen, dürfte es richtiger sein, hier kein Mittelglied anzunehmen. Die Bedeutung ‚Erwartung’ hat sich bis ins neuhochdeutsche hinein in Resten erhalten und der Übergang zu ‚unsichere Meinung’ u.s.w. ist ein ganz allmählicher.“ (J. & W. Grimm 1922). Eng verbunden mit dem Begriff Wahn ist der Terminus Paranoia, womit der gestörte Realitätsbezug der wahnhaften Überzeugungen hervorgehoben wird (Musalek & Hobl 2001). Das griechische Wort „Noos“ kann mit Sinn, Einsicht, Erkenntnis übersetzt werden und Paranoia bedeutet dementsprechend Nebensinn bzw. Nebeneinsicht – also eine Erkenntnis und Sinngebung, die an der allgemein mitmenschlich mitgeteilten, gemeinsamen Erfahrung der Welt vorbei geht. Im Französischen heißt Wahn "le délire" und im Italienischen „il delirio“. Diese Begriffe lassen sich vom lateinischen „de lira ire“ („aus der (Acker-) Furche geraten) herleiten, womit in besonderer Weise, das „aus der mitmenschlich gemeinsamen Welt herausgerückt sein“ (Scharfetter 1991), das eigentliche Verrücktsein zum Ausdruck gebracht wird. Im englischen wird der Wahn als "delusion" (lat.: deludere - vorspie-

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len, vorgaukeln) bezeichnet. Zentrales Moment des Wahns wird hier das Vorgaukeln einer vom Standpunkt der Mitmenschen des Wahnkranken aus irrealen Welt. Wenn wir der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes Wahn in unserer Gesellschaft im einzelnen nachgehen, so finden wir dort all diese Bedeutungsschattierungen und noch einige mehr. Was versteht man aber in der psychiatrischen Forschung, in der klinischen Psychiatrie unter Wahn? Wie bereits oben erwähnt, sind wir heute von einer allgemein verbindlichen Wahndefinition weit entfernt (Kisker & Wulff 1999). Weitgehend unbestritten ist nur die Aussage, dass man als Wahn ein mehr oder weniger komplexes Gedankengebäude bezeichnet, in dem Wahnideen mit nicht wahnhaften Ideen verknüpft sind. Folgt man dieser allgemeinen Definition von Berner (1982), dann stellt sich natürlich die Frage, worin sich nun Wahnideen von nicht wahnhaften Ideen unterscheiden. Eine Antwort darauf findet man in der schon längst überwunden geglaubten Definition (die allerdings heute wieder Eingang in Lehrbücher der Psychiatrie findet): Wahnideen sind „falsche Überzeugungen“ (Gastpar et al. 1996). Diese Wahndefinition ist allerdings in mehrfacher Sicht höchst problematisch. Definiert man nämlich Wahnideen auf diese Weise, dann muss es natürlich die Aufgabe des Diagnostikers sein, die „Richtigkeit“ bzw. „Falschheit“ der Überzeugung festzustellen. Ein Unterfangen, das unweigerlich in einer Überforderung des diagnostizierenden Arztes enden muss – welcher Psychiater ist schon darin ausgebildet, den Wahrheitsgehalt von Aussagen festzustellen? Auf den Verfolgungswahn angewandt würde eine solche Wahndefinition bedeuten, dass es die Aufgabe der Psychiater wäre nachzuweisen, ob der Betroffene nun wirklich verfolgt werden würde oder nicht. Noch deutlicher wird die Problematik beim Eifersuchtswahn: dem Psychiater wäre hier die Aufgabe gestellt, herauszufinden, ob der Betroffene nun vom Ehepartner betrogen würde oder nicht. Das hieße aber auch, dass das Feststellen der Diagnose Wahn nicht mehr von den medizinisch-psychiatrischen Kenntnissen des Diagnostikers abhinge, sondern von dessen kriminalistischen Fähigkeiten bzw. wahrscheinlich richtiger: von dessen kriminalistischen Unfähigkeiten. Darüber hinaus erscheint die Vorgangsweise, den Wahn als falsche Überzeugung zu definieren, auch schon allein deshalb als höchst fragwürdig, als das Herausfinden der „Richtigkeit“ einer Überzeugung, die Diagnose Wahn unmöglich machte: bei jemanden der verfolgt wird, könnte kein Verfolgungswahn mehr diagnostiziert werden, ein in seiner Partnerbeziehung Betrogener, könnte keinen Eifersuchtswahn entwickeln, ein Kranker könnte keinen hypochondrischen Wahn haben, für einen Patienten mit einer para-

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sitären Erkrankung wäre das Auftreten eines Parasitenwahns unmöglich gemacht (Musalek 1991). Mit anderen Worten, man wäre durch „reale“ Verfolgung, Krankheit, Ehebruch, Parasitenbefall in der Lage, sich vor den entsprechenden Wahnformen zu schützen. Oder umgekehrt (und noch abwegiger): man könnte dann den Schluss ziehen, dass das Vorliegen eines Wahnes reale Gegebenheiten unmöglich machte: ein Parasitenwahn würde dann einen weiteren „realen“ Parasitenbefall ausschließen bzw. eben aufhören, wenn ein realer Parasitenbefall auftritt. Zusätzlich würde mit einer solchen diagnostischen Vorgangsweise gerade dem überzufällig häufigen Auftreten von Verfolgungswahn in der Gruppe real Verfolgter keineswegs Rechnung getragen werden. Auch das durchaus nicht seltene Vorkommen von sogenanntem sekundären Dermatozoenwahn (primäre Störung ist hier der reale Parasitenbefall, sekundär entwickelt sich in Verbindung damit dann ein Parasitenwahn – Musalek 1991) wäre damit in vielen Fällen in Frage gestellt. Schon allein diese wenigen Beispiele zeigen die Unhaltbarkeit der Anschauung auf, den Wahn anhand der „Falschheit der Überzeugung“ zu definieren. Solche und ähnliche Überlegungen führten bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts dazu, diese Definition zu verlassen und alternative Diagnosekriterien zu entwickeln. Der am nachhaltigsten wirksame Definitionsvorschlag wurde wohl von Karl Jaspers (1913) vorgestellt. Er rückte die unvergleichlich hohe subjektive Gewissheit und ihre Unkorrigierbarkeit in den diagnostischen Mittelpunkt. Zwar findet sich auch bei ihm noch ein Relikt der alten Definition der falschen Überzeugung. Er spricht aber nicht mehr von der Richtigkeit bzw. Falschheit sondern von der „Unmöglichkeit“ des Inhaltes. Durch die Veränderung des Richtigkeitskriteriums zum Möglichkeitskriterium wird es dem kriminalistisch Unkundigen leichter gemacht, eine entsprechende Bewertung, der ihm vorgelegten Fakten vorzunehmen (Musalek 2003b). Diese Schwachstelle in der Jasper’schen Wahndiagnostik veranlasste dann spätere Autoren dazu, dem Merkmal der Unmöglichkeit des Inhaltes nur mehr den Rang eines akzessorischen Diagnosekriteriums zuzusprechen. Im Falle des Nachweises einer Unmöglichkeit des Inhaltes wird dadurch die Wahndiagnostik (im Sinne einer Erhöhung der diagnostischen Sicherheit) unterstützt. Gelingt es nicht eine inhaltliche Unmöglichkeit aufzuzeigen, bleibt dies aber ohne Wirkung auf die Wahndiagnostik. Das heißt, dass das Vorliegen einer unvergleichlich hohen und unkorrigierbaren Gewissheit schon allein (unabhängig von der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Inhaltlichen) genügt, um die Diagnose eines Wahns zu stellen (siehe auch: Berner 1982, Berner und Musalek 1989). Unkorrigierbarkeit

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im Jasper’schen Sinne bedeutet dabei Ablehnung von jeglichen alternativen Erklärungsmöglichkeiten. Die Kunst des Diagnostikers liegt demnach ganz wesentlich im Auffinden von alternativen Erklärungen für das vom Patienten Gewähnte. Können solche nicht aufgefunden werden, muss die Frage offen bleiben, ob der zu Untersuchende an einem Wahn erkrankt ist oder nicht. Solche unkorrigierbaren subjektiven Gewissheiten treten aber auch regelhaft in Zuständen von Affektwallungen bzw. -einengungen auf, die wir heute keineswegs als pathologisch ansehen wollen. Im Rahmen akuter Verliebtheit zum Beispiel sind wir nicht selten völlig davon überzeugt, dass der von uns so geliebte Mensch, der intelligenteste, schönste, wertvollste, treueste, etc. ist. Werden wir von unserer Umgebung darauf hingewiesen, dass es möglicherweise richtig ist, dass es sich dabei um einen intelligenten, guten und treuen Menschen handelt, der aber leider nicht wirklich gut aussieht, dann bleiben wir trotzdem in der Regel völlig unkorrigierbar in unseren Überzeugungen haften – selbst dann wenn sich das Kriterium der Unmöglichkeit des Inhaltes hier als zutreffend erweisen sollte . Auch in anderen Zuständen von Affektwallung, wie z.B. Zorn, Hass, tiefer Trauer können von völliger Unkorrigierbarkeit geprägte Überzeugungen auftreten. Schon Jaspers war sich des Problems in einer klinisch wenig Sinn machenden Ausweitung des Wahnbegriffes bewusst, wenn er betonte, dass es sich bei seinen Wahnkriterien um deskriptive Kriterien handelt, die nur dann zur Anwendung gelangen dürfen, wenn der Diagnostiker, nachdem er versuchte sich mittels phänomenologischer Intuition in die (Wahn)Erlebniswelt des Betroffenen einzuleben, auf einen ihm letztlich unerklärlichen und damit radikal fremd bleibenden Rest stößt (Jaspers 1973). Dieses radikal fremde Erleben ist zumindest in den meisten Fällen von Zuständen akuter Verliebtheit, Zornwallung bzw. sonstiger Affekteinengungen nicht gegeben. Allerdings wird durch diese Einschränkung von Karl Jaspers das bereits oben bei der Diskussion der Phobiediagnostik sich als höchst problematisch erweisende Kriterium der Nicht-Nachvollziehbarkeit auch hier in die Wahndiagnostik eingeführt, womit auch wieder die Diagnostik nicht so sehr vom Zustand des Betroffenen, sondern von der Verständnisfähigkeit des Diagnostikers abhängig wird – ja mehr noch: der Diagnostiker muss zur phänomenologischen Intuition, dem über empathisches Einfühlen hinausreichenden Sich-Hineinversetzen und Einleben in die Erlebniswelt und damit erreichbaren Verstehen der Welt der Interpretationen des Betroffenen, fähig sein (Jaspers 1973).

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Eine andere – klinisch weiter verbreitete – Methode, eine ebenso unnötige wie unheilvolle Ausweitung des Wahnbegriffs auf alle Zustände unkorrigierbarer Überzeugungen zu vermeiden, bietet die Einführung eines Ausschlusskriteriums: so forderte Berner (1982) nur jene unkorrigierbaren Gewissheiten als Wahngewissheiten anzuerkennen, die nicht im Rahmen von Affekteinengungen bzw. Affektwallungen auftreten; wodurch sich allerdings weitere diagnostische Schwierigkeiten bzw. Unsicherheiten ergeben. Vor allem bei jenen durchaus häufigen Fällen von Wahngewissheiten, die im Rahmen von affektiven Erkrankungen auftreten, ist eine Abgrenzung von Affekteinengungen und Stimmungsverschiebungen oft nur unsicher, manchmal sogar überhaupt nicht möglich. Auch ein Ausschluss all jener unkorrigierbaren Überzeugungen, die auf der Basis von depressiven, euphorischen bzw. gereizt-missgestimmten Zuständen im Rahmen von affektiven Psychosen in Erscheinung treten, erscheint nicht zuletzt auch deshalb nicht als zielführend, als gerade nach neuen Forschungsergebnissen dem Affekt im Zusammenhang mit der Pathogenese von allen Wahnsyndromen (auch von jenen, die von manchen auch heute noch als schizophrener Wahn benannt werden), eine außerordentliche Bedeutung beizumessen ist (Musalek & Hobl 2002a). Wahn ist heute keineswegs nur mehr als eine vorzugsweise kognitive Störung zu bewerten (Natmessnig 1999). Affekte können sowohl in der Entstehung der Wahngewissheit wie auch beim Erhalt von Wahnideen eine wesentliche Rolle übernehmen (Musalek 2003c). Darüber hinaus können durch die Wahnideen und die sich daraus ergebenden Probleme für die Betroffenen und ihr soziales Umfeld Affekte und Emotionen losgelöst werden, die als Folgeerscheinung des Wahns diesen dann wieder mitgestalten und erhalten können. Es sind nicht die Inhalte, es sind die mit diesen Inhalten verbundenen Emotionen, die die Welt des Wahnkranken bewegen (Musalek 2003a,b). Aber auch wenn man alle stark ausgeprägten Affektzustände als Ausschlusskriterium zuließe, wäre das Problem der Unterscheidung zwischen “pathologischen“ Wahnüberzeugungen und „gesunden“, nicht-wahnhaften Überzeugungen keineswegs gelöst. Auch bei nicht-wahnhaften aber starken religiösen oder politischen Überzeugungen handelt es sich um hohe subjektive Gewissheiten, die manchmal sogar so vehement verteidigt werden, dass alternative Möglichkeiten völlig ausgeschlossen werden, ohne aber unbedingt von affektiver Einengung bzw. Affektwallung geprägt zu sein. Eine Möglichkeit der Unterscheidung bietet die oben schon angeführte Forderung von Jaspers (1974) nach phänomenologischer Intuition als Basis für das Feststellen einer nachvollziehbaren bzw. nicht nachvollziehbaren

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Überzeugung. Auf das damit verbundene Problem der Abhängigkeit der Wahndiagnostik von den prinzipiellen Möglichkeiten des Untersuchers, ihm nicht unmittelbar Geläufiges als doch noch nachvollziehbar zu bezeichnen oder aber bereits als nicht nachvollziehbar und damit als wahnhaft zu bewerten, wurde bereits hingewiesen. Eine solche Wahndiagnostik würde auch ganz wesentlich von der Toleranz (bzw. Intoleranz) des Untersuchers abhängen – eine diagnostische Vorgangweise, die nicht zuletzt auch wegen der ungemein leidvollen Erfahrungen von Menschen abzulehnen ist, die in von Intoleranz geprägten Gesellschaftsformen leben mussten und müssen und mit deren unheilvollen Folgen für die Psychiatrie und für psychisch Kranke konfrontiert waren – und leider mancherorts noch immer werden (Musalek 2003a). Andere Möglichkeiten das Pathologische im Wahn zu fassen, bieten der Vergleich mit der Mehrheitsmeinung bzw. das Miteinbeziehen des Aspektes der Behinderung. So betont z.B. Scharfetter (1991): “Krankhaft darf man das (die wahnhafte Gewissheit) erst nennen, wenn es (sie) die Lebensführung behindert. Damit ist auf die kulturelle und soziale Relativität hingewiesen... An der besonderen, eigenen Überzeugung des Wahns wird festgehalten, auch wenn der Wahn im Widerspruch zur mitmenschlich kommunikablen Wirklichkeit (Realität), zur eigenen Vorerfahrung und zur Erfahrung geistesgesunder Menschen sowie zu ihrem kollektiven Glauben und Meinen steht“. Demnach wird in der Scharfetter’schen Wahndiagnostik zum einen das Abweichen von der durch die jeweilige Sozietät vorgegebenen Norm als Entscheidungsmerkmal angesehen. Entspricht eine unkorrigierbare Überzeugung den üblichen Anschauungen, ist von nachvollziehbarem und verständlichem Glauben oder Überzeugung zu sprechen, weicht die Gewissheit von den in einer bestimmten Gesellschaft bzw. Kultur üblichen Überzeugungen ab, dann liegt eine Wahngewissheit vor. Damit wird aber neuerlich ein zusätzliches Problem geschaffen. Macht man nämlich die Wahndiagnostik von der jeweiligen Kultur bzw. von gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig, so liegt das Problem Wahn auch nicht mehr allein im Bereich des Einzelnen, sondern wird zum Problem der gesamten Gesellschaft: nicht der Einzelne erkrankt, die Gesellschaft bestimmt das Kranksein des dann als Kranken Bezeichneten (Musalek & Hobl 2001). Zum anderen wird die aus den Überzeugungen resultierende Behinderung der Lebensführung – hier wohl vor allem als soziale Beeinträchtigung z.B. in Beruf und Familie oder ganz allgemein gesellschaftlich gemeint – als wesentliches pathologischen Moment verstanden. Auf die Problematik einer „Behinderungsdiagnostik“ wurde oben schon eingegangen.

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Zusätzlich birgt aber eine solche Sichtweise, nämlich den Wahn nicht mehr als individuelles Geschehen sondern vielmehr in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension zu bewerten, die Gefahr in sich, die Hauptaufgabe von Behandlungsmaßnahmen vorzugsweise darin zu suchen, den „vom rechten Weg abgekommen“ Patienten (vgl. „le delire“) wieder an die Gesellschaft (-snormen) anzupassen – eine Vorgangsweise, auf die (auch im Lichte grauenvoller Folgen für psychisch Kranke in totalitären Gesellschaften) als in höchstem Maße gefährlich weitgehend verzichtet werden sollte. Ein weitgehender Verzicht auf die gesellschaftliche Dimension in der Wahndiagnostik kann und soll natürlich in keiner Weise die wichtige Rolle sozialer Faktoren im Rahmen der Genese von Wahnstörungen vergessen machen (Musalek et al. 1989, Musalek & Hobl 2001). Andererseits bedeutet ein Vermeiden des Einbeziehens von Gesellschaftsnormen in die Wahndiagnostik aber auch keineswegs, dass damit der Anspruch, zwischen gesunden und pathologischen Überzeugungen zu unterscheiden, aufgegeben werden müsste. Wir verfügen auch über weitgehend vom sozialen Umfeld unabhängige Unterscheidungsmerkmale. Einige davon beziehen sich auf die prinzipiellen Wahlmöglichkeiten der Betroffenen bzw. auf diesbezügliche Einschränkungen. Der politische bzw. religiöse Glaube kann auch als Ausdruck eines aktiven Hin- bzw. Zuwendungsprozesses angesehen werden. Der Überzeugte wählt (zumindest bis zu einem gewissen Maße) seine Überzeugung, er definiert sich als gläubiger, als glaubender Mensch. Er ist es, der sich aktiv seiner Glaubensüberzeugung zuwendet, er möchte eine gläubiger Mensch sein, er möchte seinen Glauben vertreten. Im Gegensatz dazu entscheidet sich der Verfolgungswahnkranke nicht aktiv dazu verfolgt zu werden, er wird verfolgt. Ohne Zweifel ist es der Wahnkranke selbst, der seine Wahnideen entwickelt, jedoch nicht im Sinne einer aktiven Hinwendung zum Wahninhalt. Beim Wahn handelt es sich um ein letztlich gegebenes Wissen und nicht um einen im wesentlichen im Vertrauen angesiedelten Glauben (Musalek 2003b). Dieses ihm gegebene (und dem Diagnostiker als unkorrigierbare Gewissheit imponierende) Wissen um bestimmte Sachverhalte und Zusammenhänge kann dann zu einer Reihe von Behinderungen und Beeinträchtigungen führen. Diese Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen müssen aber nicht zwangsläufig nur unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Wirkungen gesehen werden. Sie können auch als ein auf das jeweilige Individuum beschränkt bleibender Verlust von Freiheitsgraden betrachtet werden. Solche Verluste von Freiheitsgraden, wie sie schon oben im Rahmen der Phobien abgehandelt wurden, sind auch bei den Wahnstörungen als das we-

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sentliche pathologische Moment anzusehen. Wir unterscheiden hier je nach Anzahl der eingebüßten Freiheitsgrade zwischen sogenanntem „polarisierten Wahn“ und „Wahn in Juxtaposition“ (Berner 1982). Polarisierter Wahn bedeutet, dass die Wahnideen im Zentrum des Lebens und Erlebens stehen. Für den an einem polarisierten Wahn Erkrankten zählt nur mehr die Wahnüberzeugung; er ist so von ihr eingenommen, dass er sich um andere Lebensbereiche nicht mehr kümmern kann. So teilt z.B. der Verfolgungswahnkranke die Welt nur mehr in Verfolger und Nicht-Verfolger ein. Auch der an polarisiertem Parasitenwahn Leidende ist durch das Wahngeschehen in seinen Freiheitsgraden soweit eingeschränkt, dass er anderen wichtigen Erfordernissen des Lebens nicht mehr entsprechen kann; nur mehr der Parasitenbefall und die sich daraus ergebenden Folgen bzw. Abwehrmaßnahmen spielen eine Rolle in seinem Leben und Erleben; allen anderen Tätigkeiten, die für ihn wesentlichen wären, kann er nicht mehr in gewohnter Weise nachkommen. Demgegenüber kennen wir aber auch Überzeugungen, die nicht in dem Maße, wie für den polarisierten Wahn eben angeführt, die Freiheitsrade des Wähnenden beeinträchtigen: der Betroffene ist dann zwar weiterhin unkorrigierbar überzeugt, die Gewissheit beeinträchtigt ihn aber nicht mehr sosehr in seinem täglichen Leben. Der Wahnkranke (sofern eine Desaktualisierung seiner Wahnüberzeugungen gelingt) gewinnt wieder so viele Freiheitsgrade, dass es ihm möglich wird, den Anforderungen seines über den Wahn hinausreichenden Lebens gerecht zu werden. Patienten mit einem Parasitenwahn „in Juxtaposition“ sind zwar weiterhin davon unkorrigierbar überzeugt von Parasiten befallen zu sein; diese ihre Überzeugung bestimmt aber nicht mehr allein ihr Denken und Handeln, sie finden sich mit dem Befall ab und damit in ihrem Leben wieder besser zurecht. Sie verlieren mit der Zunahme an Freiheitsgraden ihre persönlichen Beeinträchtigungen und damit auch ihre sozialen Behinderungen. Wenn Wahnkranke dann auch noch lernen über ihre Überzeugungen nur mehr mit ihrem Therapeuten bzw. sonstigen ihnen sehr nahestehenden und verständnisvollen Mitmenschen zu sprechen, verlieren sie auch ihre gesellschaftliche Auffälligkeit. Der Wahn bleibt damit, trotz Fortbestehens der unkorrigierbaren Überzeugung, ohne wesentliche beeinträchtigende Folgen. Er zieht kein Leiden mehr nach sich. Solche wahnhaften Überzeugungen weiterhin als Ausdruck einer Krankheit anzusehen erscheint dann aber höchst fragwürdig; wesentlich zielführender erscheint es je nach Polarisierungsgrad (=Freiheitsgradverlust) zwischen unkorrigierbaren Überzeugungen („wahnhaften Ideen“)

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und krankhaften unkorrigierbaren Gewissheiten („Wahnideen“) zu unterscheiden, wobei ersteren kein Krankheitswert beizumessen ist.

3. Phobie und Wahn im Vergleich Auf der Basis der bisherigen Diskussion der Phobie- und Wahndiagnostik im einzelnen soll nun im Folgenden ein Vergleich zwischen den beiden psychopathologischen Erscheinungsformen versucht werden. Dabei stellt sich zum ersten die Frage: Was trennt Phobie und Wahn, worin unterscheiden sie sich? Schon bei vordergründiger Betrachtung beider Zustandsbilder zeigen sich ganz deutliche Unterschiede. Trotz aller definitorischer Vielfalt herrscht heute Einigkeit darüber, dass die zentrale Beschwerde des an einer Phobie erkrankten Patienten seine gerichtete Angst vor etwas ist. Eine spezielle Situation bzw. ein bestimmtes Objekt bereitet Angst oder ist zumindest angstbesetzt. Am Beispiel der Parasitophobie heißt das: die Betroffenen haben Angst davor, von Parasiten befallen zu werden. Demgegenüber spielt beim Wahnkranken die Angst (falls überhaupt vorhanden) eine untergeordnete Rolle. Parasitenwahnpatienten brauchen keine Angst mehr vor einem Parasitenbefall zu haben, denn sie „wissen“, dass sie bereits befallen sind. So stellen schon allein die zielgerichtete Angst einerseits und die unverrückbare Gewissheit andererseits wesentliche phänomenologische Trennlinien zwischen den beiden Zuständen dar. Ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen Wahn und Phobien liegt aber auch in der unterschiedlichen Dynamik der beiden psychopathologischen Geschehen: der Wahn ist ein Seinszustand, während es sich bei der Phobie um ein Habensverhältnis handelt. Es würde den Rahmen dieses Beitrages bei weitem sprengen, nun in einen ausführlichen Diskurs über das „Sein“ und „Haben“ bei psychischen Störungen einzutreten; im Zusammenhang mit der Diskussion um Unterschiede und Entsprechungen von Wahn und Phobie sei hier nur so weit ausgeführt, dass gerade die Aspekte des Seins und Habens in bezug auf psychisches Kranksein ganz wesentliche Unterscheidungsmerkmale zwischen Phobien und Wahnstörungen ausmachen können. Psychische Störungen können vom Patienten „gehabt“ werden; oder sie „sind“, sie werden Teil der von ihnen Betroffenen (Donovan 1974). Dabei ist auch die oftmals sehr unterschiedliche Betrachtungsweise von Kranken und Behandelnden in Rechnung zu stellen. Als Diagnostiker sagen wir: der Patient hat eine Depression, er hat eine Angststörung, Phobie, einen Wahn, etc. Damit wird auch die vom Untersucher geschaffene Distanz

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zwischen dem Individuum und der Störung deutlich; etwas zu haben heißt, dass das etwas zwar mit uns in (mehr oder weniger enger) Beziehung steht, es ist aber nicht Teil von uns. Die Sichtweise und Benennungen des Betroffenen ist dem oft diametral entgegengesetzt: die Patienten selbst berichten, dass sie z.B., depressiv sind; euphorisch, missmutig, angsterfüllt sind; damit wird auch deutlich, dass sie keinen Raum zwischen sich und die Störung mehr legen können, sie erleben die Störung unmittelbar als einen Teil ihrer selbst. Sie sind in bzw. mit der Störung, während der Beobachter davon ausgeht, dass sie die Störung haben – ein Umstand der übrigens nicht selten Basis für fundamentales Unverständnis bzw. zahlreiche Missverständnisse zwischen Therapeut und Klient im Rahmen von Psychotherapie werden kann. Der Therapeut möchte dem Behandelten helfen seine Störung loszuwerden, was aber in nicht seltenen Fällen für den Behandelten bedeutet, einen (wesentlichen) Teil von sich selbst abzutrennen, zu verlieren, – was letzterer dann nicht zulassen kann und womit (nicht selten massive) Kräfte zur Abwehr der therapeutischen Intentionen entwickelt werden. Vor allem in der Wahnbehandlung ist man mit diesem Problem häufig konfrontiert: der Wahnkranke wird verfolgt, er wird betrogen, er ist von Parasiten befallen. Die Gewissheit ist ein Teil von ihm selbst; daher kann er sich auch nicht von ihr trennen. Er möchte das was er ist, nicht verlieren. An einem Seinszustand leidend kann er keine Distanz zu seinen Überzeugungen herstellen und muss daher an ihnen unkorrigierbar festhalten. Im Gegensatz dazu der Phobiker: er hat Angst vor Entstellung (Dysmorphopobie), vor engen Räumen bzw. Eingeschlossensein (Klaustrophobie), vor unheilbarer Krebskrankheit (Cancerophobie), er hat Höhenangst (Akrophobie), er hat Angst vor einem Ungezieferbefall (Acarophobie) etc. Gar nicht selten ist diese Furcht auch kombiniert, wie Scharfetter so treffend ausführte, „mit der (völligen, teilweisen oder zeitweiligen) intellektuellen Einsicht in ihre Unbegründetheit (vom Gegenstand her) und mit der Erfahrung eines inneren Widerstandes dagegen...“. Der an Phobie Erkrankte möchte daher diese Furcht loswerden. Er möchte das, was er hat (und das er nicht mag) verlieren. An einem Habensverhältnis leidend hat er mehr oder weniger große Distanz zu seinem Krankheitsbild und kann daher sein Leiden weit besser als der Wahnkranke reflektieren. Damit bleibt aber auch eine Unterscheidung von Phobie und Wahn und deren zugrunde liegender Dynamik nicht auf theoretisches Interesse beschränkt, sondern gewinnt große praktisch therapeutische Relevanz: ohne Zweifel muss vor allem auch in der Psychotherapie diesem Unterschied Rechnung getragen werden. Im einen Fall wird eine erste Hauptaufgabe der therapeutischen Interventionen in der

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(schrittweisen) Umwandlung von Seinszustand in ein Habensverhältnis liegen müssen, während im anderen Fall die therapeutische Arbeit bei der Reflexion des Habensverhältnisses und einer nachfolgenden Vergrößerung der Distanz zwischen Gehabtem und Habenden ihren Beginn nehmen kann. Eng verbunden mit der Sein-und-Haben-Problematik ist auch die des Realitätsbezuges der beiden psychopathologischen Erscheinungsformen. Eigenes, einen unmittelbar Betreffendes, dem eigenen Sein Zuzuordnendes wird natürlich eher als real angesehen als Fremdes, nicht zu einem Gehöriges, das nur allzu leicht als irreal erlebt werden kann. Für Wahnpatienten ist ihre Wahnwelt unmittelbare Realität, sie wird von ihnen als ihnen eigen erlebt, selbst dann, wenn sie (z.B. von Ärzten, Angehörigen, etc.) darauf aufmerksam gemacht werden, dass diese ihre Welt, diese ihre Überzeugungen nicht der beobachtbaren Realität entsprechen. Wahnkranke können den vom Beobachter festgestellten „Realitätsverlust“ nicht (an)erkennen, sie lehnen ihn als sie nicht betreffend (bzw. sie nicht betreffen könnend) ab. Demgegenüber berichten viele Phobiepatienten Angst vor einem solchen „Realitätsverlust“. Sie haben Angst „den Kopf zu verlieren, verrückt zu werden, sich nicht mehr steuern zu können. Darüber hinaus ist vielen von ihnen die Realitätsferne ihrer Ängste durchaus bewusst; gar nicht selten werden sie von ihnen als fremd, als nicht zu ihnen gehörig – obwohl sie sie haben – erlebt. Der Wahnkranke erlebt seine Überzeugungen, selbst dann wenn sie mit Befürchtungen verbunden sind, nicht als fremd. Seine Überzeugungen sind als Seinzustand Teil seiner selbst. Lange Tradition hat die Anschauung, dass sowohl Phobien wie auch Wahnsyndrome als Reaktionsbildungen aufgefasst werden (Berner 1982). In beiden Fällen handelt es sich unter diesem Blickwinkel um (letztlich inadäquate) Versuche des Betroffenen, die ihn in seiner Persönlichkeit destabilisierenden Gegebenheiten, wie z.B. Stimmungsverschiebungen, Affektsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen, etc., zu kompensieren; trotzdem bestehen zwischen den beiden Reaktionsbildungen nicht nur hinsichtlich der Reaktionsweise selbst, sondern vor allem auch bezüglich der Wirkungen auf die Persönlichkeit markante Unterschiede. Der Wahn ist dabei die schwerere, in die Persönlichkeit tiefer eingreifende und sie daher auch weit stärker destabilisierende Störung als die Phobie. Die Phobie kann als Reaktion auf den ihr zugrundeliegenden Krankheitsprozess die Person nicht so weit destabilisieren, dass das Zugeben der Erkrankung bzw. Störung schon zum Zusammenbruch der Integrität des Betroffenen führt. Demgegenüber wird der Wahnkranke als Person durch seine Grundstörung(en) und die Reaktionsbildung schon so massiv beeinträchtigt, dass jede zusätzliche Verun-

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sicherung und Destabilisierung mit allen Mittel verhindert werden muss, was natürlich zu einer weiteren Fixierung der unkorrigierbaren Gewissheiten als Hort der (vermeintlichen) Sicherheit und damit zu einer Vertiefung des Wahngeschehens einerseits und zu einer spiralförmigen Verschlechterung des psychopathologischen Gesamtzustandes andererseits führt. Viele Wahnkranke wirken daher auf den erste Blick auch unzugänglich und rechthaberisch, was aber auch als Stabilisierungsversuch eines in seinem verminderten Selbstwertgefühl massiv verunsicherten Menschen verstanden werden kann. Ein Umstand dem übrigens im Rahmen der Psychotherapie von Wahnkranken besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Der Phobiepatient ist hingegen in seiner Persönlichkeit in der Regel noch so weit stabil, dass er die mit seinen Ängsten und Befürchtungen in Verbindung stehende Unsicherheit noch soweit zulassen kann, dass er mit Mitmenschen sein Leiden als psychische Störung kommunizieren kann. Er kann prinzipiell akzeptieren, dass er krank ist, während das dem Wahnkranken nicht mehr möglich ist. Ein Zugeben der Krankheit kann den Wahnkranken in manchen Fällen sogar so weitreichend derangieren, dass der damit einhergehenden Destabilisierung der Person dann nur mehr in der völligen Selbstaufgabe, im Suizid begegnet werden kann. Das kann auch als eine Erklärung dafür gelten, dass gerade dann, wenn der Wahnkranke beginnt, seine Überzeugungen als Wahnideen anzuerkennen, also im medizinischen Sinne eigentlich eine „Besserung des Zustandes“ eintritt, dieser (vermeintliche) „Heilungsprozess“ mit einem Selbstmord(versuch) beantwortet wird. Der Betroffene erlebt sich dann in die Ausweglosigkeit seines Daseins zurückgeworfen und trachtet der nicht zuletzt aufgrund seiner tiefgreifenden persönlichen Destabilisierung für ihn unerträglich gewordenen Welt mittels Auslöschung zu entkommen. Ein weiterer Unterschied zwischen Phobie und Wahn ist auch hinsichtlich der (noch) vorhandenen bzw. (bereits) fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten und damit auch in bezug auf ihre Auswirkung auf das soziale Umfeld der Betroffenen festzumachen. Schon allein der Umstand, dass wahnhafte Überzeugungen im Regelfall als fremd und unverständlich von der Umgebung angesehen werden, kann ganz unmittelbar zu weitgehender Ablehnung durch die Umgebung des Wahnkranken führen. Diese wird noch stärker, wenn die Überzeugungen von den Mitmenschen vorerst sogar noch als möglicher Tatbestand anerkannt wurden, die mit dem Wahnkranken Lebenden aber dann erkennen müssen, dass sie sich von den Überzeugungen des Wahnpatienten (der zu diesem Zeitpunkt noch nicht als solcher identifiziert werden konnte) täuschen haben lassen. Die auf diese Weise

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erfahrene Enttäuschung der Angehörigen richtet sich dann als ablehnendes Verhalten gegen den für die Täuschung verantwortlich gemachten, nämlich den Wahnkranken. Letzterer erlebt diese Ablehnung gar nicht selten als für sie völlig ungerechtfertigte Abwertung ihrer Anschauungen, in manchen Fällen überhaupt ihrer gesamten Person, womit ein unheilvoller Verstärkerprozess in Gang gebracht wird, der sich schon bald als Weg in die soziale Isolation entpuppt. In anderen Fällen genügt schon das Fremde am Seinszustand der Überzeugung, von dem sich der Wahnkranke nicht distanzieren kann, um eine Ablehnung durch die Umgebung und damit einen (äußerlich sichtbaren oder innerlich vollzogenen) Rückzug der Menschen, die mit dem Wahnkranken zusammenleben, zu induzieren. Das Resultat ist auch hier wieder die soziale Isolation des an Wahnideen Leidenden (Janzarik 1973). Demgegenüber erfahren viele Phobiker oft weit mehr Verständnis von ihrer Umgebung (zumindest am Beginn des Werdegangs ihrer Krankheit). Sie sind sich ihrer Störung bewusst, womit ihr Leiden als solches auch für die Außenstehenden besser nachvollziehbar wird, selbst dann, wenn sie den Ängsten selbst weitgehend verständnislos gegenüberstehen. Das Leiden wird in der Regel sowohl vom Betroffenen selbst wie auch von seinen Angehörigen früh als Krankheit erkannt. Die Ablehnung des Phobiekranken erfolgt in der Regel erst weit später, nämlich dann, wenn die Umgebung durch die Dauer der Störung ausgehöhlt, sich ihrer Machtlosigkeit, zielführend zu helfen, bewusst wird. Das eigene Unvermögen wird dann nicht selten dem Phobiekranken angelastet, womit auch hier Kommunikationsstörungen und nachfolgender sozialer Isoliertheit Tür und Tor geöffnet ist. Auch wenn, wie eben ausgeführt, auch bei an Phobie Erkrankten die Symptomatik letztlich zu sozialer Isolation führen kann, so ist die soziale Problematik bei Wahnkranken von ungleich höherer Brisanz: sie kann (z.B. im sog. „autistischen Wahn“) soweit gehen, dass Wahnkranke in totaler Sprachlosigkeit völlig auf sich zurückgeworfen, in ihrem Alleinsein gefangen bleiben. In vielen Fällen zeigt sich bei an Wahn Leidenden auch ein weitgehender (wenn auch letztlich meist ungewollter) Verzicht auf Zuwendung, wohingegen an Phobie Leidende sich als Kranke darstellen, die sich auf ständiger Suche nach Zuwendung befinden. Nicht zuletzt sei noch erwähnt, dass zwischen den beiden psychopathologischen Erscheinungsformen auch aus der Perspektive der Zeitlichkeit Unterscheidungen zu treffen sind, die für das Verständnis der jeweiligen Störung und damit vor allem auch für zielführendes psychotherapeutisches Intervenieren wertvoll werden. Der Wahn ist im Gegensatz zur Phobie ein

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gegenwarts- bzw. vergangenheitsorientiertes psychopathologisches Zustandsbild: etwas ist geschehen; etwas besteht bereits; es wird am Bestehenden festgehalten – wenn man therapeutisch versucht, es zu entkräften oder zum Verschwinden zu bringen, wird um das Weiterbestehen gekämpft. Der Verfolgungswahnkranke wird verfolgt, die Verfolgung ist für ihn bestehende Realität. Der Parasitenwahnkranke wähnt sich im Jetzt von Parasiten befallen. Der Befall begann irgendwann, irgendwo, aufgrund irgendwelcher Umstände in der Vergangenheit und hat jetzt bestand. Im Unterschied dazu ist die Phobie zukunftsorientiert – die Befürchtungen sind auf etwas gerichtet, das passieren wird, aber nicht passieren soll. Die Angst bezieht sich auf einen Prozess, der nach mehr oder weniger langer Zeitspanne im Zukünftigen beginnt, in jedem Fall aber wieder aufhören soll oder besser noch: gar nie geschehen soll. Wenn man therapeutisch versucht, die Befürchtung des Betroffenen zu entkräften oder zum Verschwinden zu bringen, wird nicht um ihren Fortbestand unmittelbar gekämpft; in jedem Fall stellt eine solche Vorgangsweise eine unmittelbare Entlastung des Betroffenen dar, auch wenn diese oft nur von kurzer Dauer ist (siehe z.B., Cancerophobie, Parasitophobie); Korrektur bedeutet Stabilisierung; das „Rechthaben“ ist kein zentrales dynamisches (phobieerhaltendes) Moment, auch wenn manche Phobiker durchaus auch rechthaberisch sein können. Ganz anders beim Wahnkranken: Korrektur ist hier immer auch mit Destabilisierung verbunden; sie bedeutet in jedem Fall eine unmittelbare Belastung des Betroffenen. Das „Rechthaben“ wird hier zum zentralen dynamischen (wahnerhaltenden) Moment: das Rechtbehaltenwollen um jeden Preis ist dann nicht mehr als negatives Persönlichkeitsmerkmal abzuwerten, sondern stellt den (meist ungenügenden) Versuch des Selbstwertgeminderten dar, einer weiteren Destabilisierung seiner Person entgegenzuwirken, um die eigene Integrität aufrechtzuerhalten, womit aber wieder ganz unmittelbar von ihm selbst der Fortbestand des psychopathologischen Geschehens betrieben wird. Neben den genannten Unterschieden, deren Aufzählung im Rahmen dieses Beitrages unvollständig bleiben muss, sind auch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten von Wahn und Phobie zu orten, von denen einige wenige im Folgenden noch Erwähnung finden sollen. Wenn wir uns nochmals der eingangs angeführten Scharfetter’schen Definition der Phobie zuwenden, wo wir hervorgehoben finden, dass Phobien „zwanghafte Befürchtungen, die sich angesichts bestimmter Situationen oder Objekte aufdrängen, obwohl diese solche Ängste nicht selbstverständlich und für jedermann rechtfertigen“ (Scharfetter 1991) sind, wird klar, warum Scharfetter die Phobien

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durchaus mit Recht in die Gruppe der Zwangsstörungen einreiht. Auch im Wahn ist nicht selten Zwanghaftes zu entdecken. Auch der Wahn kann ebenso wie Phobien regelhafte Auswirkungen auf das Handeln im Sinne von zwanghaften Handlungen haben. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Parasitophobie und des Parasitenwahns. Beide können oft sogar das Krankheitsbild ganz wesentlich mitbestimmende zwanghafte Handlungen nach sich ziehen. Solche Beobachtungen veranlassten auch mehrere Forschergruppen dazu, den Parasitenwahn den anankastischen Persönlichkeitsstörungen zuzurechnen bzw. ihn zumindest in deren unmittelbare Nähe zu positionieren (Hopkinson 1973, Reilly & Beard 1976, Skott 1978, Bishop 1980). Die Anschauung den Parasitenwahn in einen engen Zusammenhang mit phobisch-anankastischen Symptomenkomplexen zu stellen, wird „zusätzlich auch von den klinischen Beobachtungen des peinlich genauen Achtens der Patienten auf Sauberkeit und die mannigfachen Bemühungen diese zu erhalten, unterstützt“ (Musalek 1991). Verständlicherweise unternehmen Parasitenwahnpatienten in ihrer Gewissheit von Ungeziefer befallen zu sein alles, um diese wieder los zu werden. Da aber (wahnhafte) Ideen nicht mit Seifen, Putzmitteln, Insektenvertilgungsmitteln etc. verändert werden können, bleiben diese Maßnahmen natürlich weitgehend unwirksam, was in der Regel wieder zu einer Intensivierung der Reinlichkeitsbemühungen führt. Die hohe Frequenz und oft außerordentliche Genauigkeit der entsprechenden „Hygienemaßnahmen“ (Musalek & Kutzer 1989) legt dann in gut nachvollziehbarer Weise den Schluss nahe, dass hier auch Zwangsmechanismen eine Rolle spielen könnten. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass wir bei einer vor einigen Jahren durchgeführten psychometrischen Untersuchung keine typischen anakastischen Merkmale bei Parasitenwahnpatienten feststellen konnten (Musalek et al 1988). Auch konnten wir in einer weiteren klinisch-psychopathologischen Untersuchung kein gehäuftes Auftreten von sonstigen Phobien bzw. Anankasmen bei Parasitenwahnpatienten im Vergleich zu einer entsprechenden Kontrollgruppe feststellen (Musalek 1991). Besonders auffällig war in dieser Studie auch, dass die überwiegende Mehrzahl der untersuchten Parasitenwahnpatienten angab, keine Angst vor Ungeziefer, kleinen Tierchen, wie Läusen oder Flöhen etc., zu haben. Zuletzt muss auch noch darauf hingewiesen werden, dass sich Parasitenwahnkranke mit hoher Waschfrequenz von Zwangspatienten, wie z.B. Patienten mit Waschzwang vor allem noch in zwei Bereichen unterscheiden: zum einen führt die Waschhandlung bei den Wahnpatienten üblicherweise nicht zu einer unmittelbaren Spannungslösung (wie dies, wenn

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auch nur kurzdauernd wirksam, charakteristisch für Zwangspatienten ist) und zum anderen finden sich bei Wahnkranken keine typischen „Waschrituale“, es wird hier – im Gegensatz zu Zwangspatienten, wo auch der Ablauf der Reinigungshandlung in hohem Maße festgelegt ist – nur einfach oft, viel und genau geputzt. Zwischen Parasitophobiepatienten und Parasitenwahnpatienten finden sich aber zumindest hinsichtlich der Waschgewohnheiten keine wesentlichen Unterschiede. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Parasitophobien nur in ganz seltenen Fällen in Parasitenwahn übergehen und praktisch nie miteinander gemeinsam in Erscheinung treten (Musalek 1991). Das spricht doch sehr für den Umstand, dass es sich dabei sowohl hinsichtlich ihrer Psychodynamik wie auch des Schweregrades der zugrundeliegenden Störungen bzw. Beeinträchtigungen um sehr unterschiedliche Reaktionsbildungen handelt (siehe auch oben). Die einzige Ausnahme macht vielleicht die Sozialphobie, die (überhaupt dann wenn wir den Begriff – wie in der klinischen Praxis häufig anzutreffen – unscharf verwenden) gar nicht selten gemeinsam mit Wahnbildungen in Erscheinung tritt. Es darf hier aber nicht übersehen werden, dass ein sozialer Rückzug, ein Vermeiden des Kontakts mit Mitmenschen noch nicht mit einer Sozialphobie im engeren Sinne gleichzusetzen ist. Viele der sogenannten „Sozialphobiker“ haben Angst vor den Folgen des Sozialkontaktes und nicht so sehr wegen des Sozialkontaktes selbst. Der Klaustrophobiker hat z.B. ganz unmittelbar Angst vor engen Räumen, nicht aber gleich auch vor den Auswirkungen dieser Räume; der an Parasitophobie Leidende befürchtet ganz unmittelbar einen Parasitenbefall, aber nicht in gleichem Maße dessen Folgen. Erst in einem zweiten Schritt wird dann versucht, die Angst hinsichtlich etwaiger Folgen zu „rationalisieren“. Es stellt sich daher hier auch die Frage, ob es nicht zielführender wäre, nur dann von Sozialphobie zu sprechen, wenn das Vermeidungsverhalten unmittelbar auf den Sozialkontakt selbst bezogen wird, um den Begriff nicht unkritisch auf alle Fälle auszuweiten, wo Befürchtungen wegen sozialer Folgen (wie z.B. bei Verfolgungswahnkranken) zu einem Vermeiden von Kontaktaufnahmen führen. In diesen Fällen fehlt ja auch das von Scharfetter geforderte Moment des zwanghaften Charakters der Befürchtungen bei (zumindest gewissem) Einsehen der Unzweckmäßigkeit der Handlungen. Ob solche Fälle von Sozialphobie im engeren Sinn dann auch noch gehäuft bei Wahnpatienten festzustellen sind, bliebt weiteren psychopathologischen Kohortenuntersuchungen zu klären vorbehalten.

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4. Schlussbemerkungen und Ausblick Wenn nun gerade die Besonderheit der Psychodynamik sowie auch der Schweregrad der zugrundeliegenden Störungen bzw. Beeinträchtigungen als wesentliche Unterscheidungsmerkmale zwischen Wahn und Phobien im allgemeinen und Parasitenphobie und Parasitenwahn im besonderen genannt wurden, dann soll und kann das aber nicht heißen, dass die beiden Krankheitsbilder bei allen phänomenologischen und psychodynamischen Unterschieden nicht zu ähnlich massiven Beeinträchtigungen im Leben der Betroffenen führen können. Beide Störungsmuster, mit all ihrem Gemeinsamen und Trennenden, können zur lebensbestimmenden Kraft werden; beide können einen so hohen Polarisationsgrad erreichen, dass die Freiheitsgrade des Betroffen so weitreichend vermindert werden, dass nur noch die Störung – im einen Fall die Angst vor, im andern Fall die Gewissheit um ein Geschehen – völlig übermächtig im Zentrum des Lebens und Erlebens steht. Betrachtet man die Phobie- und Wahndiagnostik unter dem Aspekt des Verlustes der Freiheitsgrade, dann muss aber, wie oben ausgeführt, der von vielen noch immer geforderte Anspruch einer genauen Trennlinie zwischen „gesund“ und „krank“ aufgegeben werden. Ob nun wahnhafte Ideen oder aber Wahnideen im Sinne einer Wahnkrankheit vorliegen, ob nun „berechtigte“ oder aber „pathologische“ Ängste vor etwas bestehen, ist dann nicht mehr in jedem Einzelfall eindeutig zu beantworten. Der Zustand der „(völligen) Gesundheit“ und der Zustand des „(ganz) Krankseins“ werden zu Extrempolen auf dem Gesund-Krank-Kontinuum. Dadurch wird aber auch eine differenziertere Betrachtung des einzelnen Krankheitsfalles möglich: es gibt dann nicht mehr nur Gesundsein oder Kranksein, sondern auch ein mehr oder weniger Gesundsein und ein mehr oder weniger Kranksein, je nachdem wie viele und vor allem auch welche Freiheitsgrade eingeschränkt bzw. verloren sind (Musalek 2003a). An einem Wahn bzw. Phobie erkranken heißt dann nicht den Quantensprung von der gewünschten Gesundheit in die disaströse Krankheit, sondern bedeutet einen Weg, der über den zunehmenden Verlust an Freiheitsgraden bis hin zum nicht mehr bewältigbaren Leiden verläuft (Musalek 2003b). Grundlage für das Beschreiten des Weges sind in unserem Fall einmal die Furcht vor etwas und zum anderen die Überzeugung von etwas. Gesunden heißt dann aber auch nicht mehr Verlust der Krankheit (= Auflösung bzw. Auslöschung der Phobie oder des Wahns) und Gewinn von („völliger“) Gesundheit, was immer man auch darunter verstehen mag; Gesundung ist der Weg des Individuums in Richtung größtmöglicher Entscheidungsfreiheit auf

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der Basis eines Höchstmaßes an zur Verfügung stehenden Alternativmöglichkeiten. Im Gegensatz zur einfachen (heute noch immer weithin üblichen) kategoriellen Diagnostik kann man sich in einer solchen „dimensionalen Diagnostik“ nicht mehr darauf beschränken, allein schon bei Vorliegen einer unkorrigierbaren Gewissheit eine Wahnstörung, bei Vorliegen einer starken Furcht vor etwas, eine Phobie zu diagnostizieren und entsprechende Behandlungsmaßnahmen einzuleiten. In einer dimensionalen Diagnostik werden neben einer sorgfältigen phänomenologischen Unterscheidung der jeweiligen psychopathologischen Zustandsbilder der Verlust der Freiheitsgrade des einzelnen Individuums sowie seiner Bedingungskonstellationen zu zentralen differentialdiagnostischen Fragen. In welche vorgefertigte „diagnostische Schublade“ (vgl. z.B. vorgegebene Krankheitskategorien in den ICD-10) die jeweilige Störung nun einzureihen ist, verliert damit an diagnostischer Bedeutung (Musalek 2001); demgegenüber wird das Erfassen und Verstehen eines bestimmten Einzelphänomens sowie die Beurteilung von dessen pathologischer Wertigkeit im Einzelfall zur vordringlichen Aufgabe des Diagnostikers, wobei als entscheidendes pathologisches Moment der individuelle Freiheitsgradverlust anzusehen ist. Einschränkungen der Freiheitsgrade des Einzelnen sind jedoch keine statische Größen (ein Individuum ist nicht mit einer bestimmten Anzahl von Freiheitsgraden ausgestattet), sondern sie stellen nicht zuletzt auch im Rahmen der Dynamik des Phobie- bzw. des Wahngeschehens veränderliche Werte dar. Vor allem durch zielführende psychopharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen kann es heute gelingen, den Grad der Polarisierung deutlich zu vermindern und damit die Anzahl der Freiheitsgrade entscheidend zu erhöhen. So kann z.B. durch die Gabe eines potenten Neuroleptikums in der überwiegenden Mehrzahl der Fällen eine so weitreichende Distanzierung von den Wahnideen erreicht werden, dass der Betroffene – obwohl noch unkorrigierbare Gewissheiten aufweisend – wieder so viele Freiheitsgrade zur Verfügung hat, um sein Leben in seinem Sinne zu gestalten. Ähnliches kann auch bei Phobien durch Anxiolytika bewirkt werden, wobei aber hier in jedem Fall das keineswegs zu vernachlässigende Abhängigkeitsrisiko zu beachten ist. Bei jenen (gar nicht selten anzutreffenden) Kranken, deren Phobie bzw. Wahngeschehen auf depressiven Störungen basiert, kann eine Zunahme der Freiheitsgrade natürlich weit zielführender durch Verabreichung eines Antidepressivums erreicht werden. In jedem Fall wird aber psychotherapeutischen Interventionen eine ganz besondere Rolle im Rahmen der Desaktualisierung des pathologi-

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schen Geschehens zuteil (Mundt 1996, Musalek 1996). Dabei ist das Erkennen und Verstehen der unterschiedlichen Psychodynamik von Phobie und Wahn unabdingbare Vorraussetzung für zielführendes psychotherapeutisches Intervenieren. Nur durch einen differenzierten, sowohl psychopharmakologische, psychotherapeutische und soziotherapeutische Maßnahmen umfassenden, sich an den jeweiligen Bedürfnissen des Einzelindividuums orientierenden und auf einer dimensionalen Diagnostik basierenden Therapieplan wird das erste Ziel jeder Behandlung von an Phobie und Wahn Erkrankten erreichbar, nämlich das Leiden am psychopathologischen Geschehen durch den Zugewinn von Freiheitsgraden soweit zu reduzieren, dass die Betroffenen auf diese Weise wieder die Möglichkeit zu souveräner Lebensführung erlangen.

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FELIX PFEFFER UND MICHAEL GRUBE

Pharmakotherapie des Wahns Einleitung Ein Kapitel „Pharmakotherapie des Wahns“ findet sich in Lehrbüchern der Psychiatrie üblicherweise nicht. Dies ist gut nachvollziehbar, denn bei dem Phänomen Wahn handelt es sich nicht um eine Krankheit oder nosologische Entität, sondern um ein Symptom, das bei verschiedenen psychiatrischen Krankheiten vorkommen kann. Wohl am stärksten mit Wahnsymptomatik ist die Diagnose einer Schizophrenie assoziiert, durchaus häufig kommen Wahnphänomene jedoch auch bei körperlich begründbaren psychischen Störungen vor. Während im 19. Jahrhundert die progressive Paralyse als Form der Spätsyphilis hier eine besondere Rolle spielte und in bestimmten Stadien den Schizophrenien recht ähnliche Symptome bieten konnte, so stehen heute bei den Wahn-bildenden körperlich begründbaren psychischen Störungen dementielle Prozesse im Vordergrund, nicht selten sind auch die Wahnbildungen bei Entzugsdelirien oder im Rahmen von drogeninduzierten Psychosen. Eher selten, aber diffentialdiagnostisch und differentialtherapeutisch überaus relevant sind wahnhafte Störungen, die sich nicht in die Diagnosegruppen organische oder schizophrene bzw. schizoaffektive Psychosen einordnen lassen und auch nicht lediglich als Epiphänomene affektiver Psychosen zu verstehen sind. Früher fand sich hierfür der Begriff „Paranoia“ (KRAEPELIN), bei ausreichender Dauer findet sich in den modernen Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV der Begriff (anhaltende) wahnhafte Störung. Kurz erwähnt seien auch Anklänge wahnhaften Verhaltens bei Persönlichkeitsstörungen, hier ist der Realitätsbezug jedoch in der Regel nicht erheblich beeinträchtigt. So gut der Wahn als Erscheinungsbild und auf der Ebene des Erlebens bekannt ist (JASPERS) und so gut man auch über sein Vorkommen bei den genannten Diagnosen Bescheid weiß, über das Wesen des Wahns selbst und über seine konkrete Verursachung gibt es nur wenig gesichertes und allgemein anerkanntes Wissen. Somatisch-biologische Theorien sehen eine deutliche Beziehung zu somatopathologischen Geschehnissen, wobei auf das gehäufte Vorkommen bei faßbaren zerebralen Prozessen hingewiesen wird (SCHNEIDER) und auch die in der Regel gute pharmakotherapeutische Be-

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PFEFFER  GRUBE

einflußbarkeit angeführt wird (HUBER). Zu Letzterem gibt es derzeit vor allem Neurorezeptortheorien. Es gibt jedoch nach wie vor keine Möglichkeit, das Wahnerleben selbst aus biologischen Vorgängen eindeutig abzuleiten. Eine psychologische Erklärung des Wahnerlebens ist häufig versucht worden, insbesondere von psychoanalytischen Autoren. Es konnten viele Einsichten zur Wahndynamik gewonnen werden, ein umfassendes und allgemein anerkanntes psychologisches Konzept zum Wahnverständnis ist jedoch bisher nicht gelungen. Wahnerleben ist ein sehr heterogenes Phänomen, über dessen genaue Verursachung kaum gesicherte Erkenntnisse bestehen. Die Relevanz sowohl somatischer als auch psychodynamischer Faktoren ist eindeutig, doch erscheint es schon aus dem Vorkommen des Wahns bei so verschiedenen Diagnosen naheliegend, daß den somatischen und psychodynamischen Faktoren im individuellen Fall jeweils unterschiedliches Gewicht zukommt. Diese Voraussetzungen sind bei einer differenzierten Pharmakotherapie zu berücksichtigen.

1. Grundlagen zur Pharmakotherapie des Wahns Pharmakotherapie als Somatotherapie Durch Modulation bestimmter Neurotransmittersysteme wirken Psychopharmaka auf Hirnstrukturen ein, die am Wahnerleben beteiligt sind. Die Art der Neurorezeptorbeeinflussung ist dabei für verschiedene Psychopharmaka recht unterschiedlich. Antidopaminerge Effekte sind von besonderer Bedeutung. Das klassische Neuroleptikum Haloperidol zum Beispiel wirkt in erster Linie auf Dopamin-Rezeptoren; dies gilt auch für das atypische Neuroleptikum Amisulprid, wobei hier ein spezifischerer Effekt auf bestimmte Subtypen (D2- und D3-Rezeptor) und auch Hirnareale (insbesondere limbisches System) festgestellt wurde. Clozapin und Olanzapin wirken auf unterschiedliche Transmittersysteme, nicht nur auf verschiedene Dopaminrezeptoren, sondern auch auf serotonerge, adrenerge, cholinerge und histaminerge Rezeptoren. Andere Neuroleptika haben wieder andere Rezeptorwirkungsprofile, meist jedoch im dopaminergen und serotonergen Bereich (NABER et al.). Die Zuordnung der jeweiligen Neurotransmittersysteme zu bestimmten psychischen Funktionen kann derzeit nur recht grob erfolgen. Die Kenntnis, auf welche Neurotransmittersysteme die jeweiligen Psychopharmaka wirken, ist zwar für die Ableitung von Nebenwir-

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kungen von großer Bedeutung, für die Ermittlung der spezifischen psychotropen Wirkung ist sie jedoch weniger aufschlußreich. Menschliches Erleben und damit auch Wahnerleben ist ein außerordentlich komplexes Geschehen, das sich noch nicht (und vielleicht auch niemals) umfassend auf bestimmte Neurotransmittervorgänge zurückführen läßt. Für den klinisch tätigen Psychiater ist jedoch evident, daß Wahnsymptomatik in den meisten Fällen durch Psychopharmaka beeinflußt, oft sogar beseitigt werden kann.

2. Kontrollierte Studien und die Rolle praktischer Erfahrung Kontrollierte Studien bezüglich Wahnerleben beziehen sich meist auf eine produktive Symptomatik bei Schizophrenien. Zu anderen Wahnformen gibt es sehr viel weniger kontrollierte Studien. Zu den wahnhaften Störungen (ICD 10-Gruppe F22 oder „reine Paranoia“) scheinen im Grunde nur Zusammenstellungen von Einzelerfahrungen vorzuliegen. Die Wirksamkeit von konventionellen und atypischen Neuroleptika bei wahnhafter Symptomatik im Rahmen von Schizophrenien ist wissenschaftlich durch kontrollierte Studien gut belegt. Statistisch wurden meist größere Kollektive auf eine bestimmte Substanz hin (gegen Plazebo oder gegen eine andere gut bekannte wirksame Substanz) untersucht und somit die Wirksamkeit bewiesen. Für die Differentialindikation der einzelnen Neuroleptika bei individuellen Fällen geben die Studien jedoch nicht mehr so viel Aufschluß. Um hier möglichst richtige Entscheidungen zu treffen, ist der klinisch tätige Psychiater wesentlich auf den Erfahrungschatz von sich und anderen Kollegen angewiesen. Er wird bei der Auswahl eines bestimmten Neuroleptikums eine Reihe von Faktoren prüfen müssen: Wie wichtig ist ein schneller Wirkungseintritt? – Ist er von großer Bedeutung, wird er in erster Linie an ein bewährtes konventionelles Präparat (z.B. Haloperidol) denken. Besteht eine erhebliche Angespanntheit, eventuell mit der Gefahr aggressiver Übergriffe? – Ist dies der Fall, sollte die Medikation gut sedieren, dies kann durch Gabe eines primär sedierenden und gut antipsychotischen Präparates wie Zuclopentixol oder durch kombinierte Gabe von hoch- und niederpotenten Neuroleptika (z.B. Haloperidol plus Levomepromazin) erreicht werden.

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Sind Empfindlichkeiten bezüglich extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen bekannt oder könnte die Compliance des Patienten durch solche Nebenwirkungen empfindlich gefährdet werden? – Dann sind atypische Neuroleptika mit geringem EPS-Potential zu bevorzugen, z.B. Olanzapin, Quetiapin oder Clozapin (letzteres scheint bezüglich EPS am günstigsten, weist aber andere problematische Nebenwirkungen auf, insbesondere das Risiko einer Agranulozytose). Sollten Sedierung und Konzentrationsstörungen z.B. bei Patienten, die weiter einer Berufstätigkeit nachgehen, möglichst vermieden werden? – In diesem Fall wären Amisulprid und Ziprasidon relativ vorteilhaft. Sind bei der Auswahl des Präparates andere gesundheitliche Problembereiche besonders relevant, z.B. Gewichtsproblematik, sexuelle Dysfunktionen, Glaukom und vieles anderes? – Hier ist dem Nebenwirkungsprofil der jeweiligen Substanzen in besonderer Weise Rechnung zu tragen. Ist die Symptomatik sehr schwerwiegend und konnten mehrere Medikationsversuche noch keinen befriedigenden Erfolg aufweisen? – Hier ist insbesondere ein Behandlungsversuch mit Clozapin zu erwägen. Bei den genannten sechs Punkten können allenfalls in mancher Hinsicht kontrollierte Studien als Beleg angeführt werden. Rezeptorbindungsmodelle für die jeweiligen Substanzen können nur für einige genannten Effekte als suffiziente Erklärung dienen. Erfolgreiche Pharmakotherapie bei schizophrener Wahnbildung erfordert nicht nur eine differenzierte Auswahl zu Beginn der Behandlung, sondern auch eine sorgfältige Beobachtung der erzielten Effekte und Nebenwirkungen im Verlauf, was häufig Modifikationen der verwendeten Dosis und der Art der Präparate erforderlich macht. Die richtige medikamentöse Einstellung findet sich oft erst nach längerem Probieren und Suchen.

3. Das Ausmaß der Nähe zum „(hirn)organischen Pol“ Bei den Schizophrenien finden sich Formen mit multiplen und rasch wechselnden Wahnbildungen und Formen mit einer relativ stabilen und systematisierten Wahnbildung (BURCHARD). Im letzteren Fall ist das Verhalten insgesamt eher weniger desorganisiert, und formale Denkstörungen sind eher weniger ausgeprägt, dafür scheint jedoch die neuroleptische Behandlung häufig weniger erfolgreich, zumindest braucht sie zur Beseitigung der Wahnbildung häufig länger. Schizophrenien mit systematisierter Wahnbil-

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dung sind den reinen wahnhaften Störungen (ICD 10-Gruppe F22 bzw. „Paranoia“) auch deutlich näherstehend als die zuerst genannte Gruppe mit multiplen und rasch wechselnden Wahnbildungen, die ihrerseits deutlichere Ähnlichkeiten mit den organischen Psychosen bei fassbaren Hirnprozessen aufweist. Schizophrenien als Form der endogenen Psychosen weisen unzweifelhaft biologische Determinanten auf, die jedoch die schizophrenen Krankheitsbilder keinesfalls erschöpfend erklären können. Diese biologischen Determinanten scheinen bei den Formen mit multiplen und rasch wechselnden Wahnbildungen eine noch gewichtigere Rolle zu spielen, womit zusammenhängen könnte, daß Pharmakotherapie als Somatotherapie auch hier ein ganz besonderes Gewicht hat. Bei den Formen mit systematisierter Wahnbildung dagegen scheint psychodynamischen Prozessen ein stärkeres Gewicht zuzukommen. Es wird häufiger der entlastende Effekt solcher Wahnbildungen für den Patienten erwähnt; im Begriff der Parakonstruktion (HARTWICH, GRUBE 1999, 2003) kristallisieren sich in die Wahnbildung eingehende Schutzversuche des Patienten heraus, die hier mehr oder weniger stark mit primär pathologischen Vorgängen amalgamiert sind. Und bei den Schizophrenien mit systematisierter Wahnbildung nehmen offensichtlich solche Schutzversuche einen gewichtigeren Raum ein. Dieser Aspekt spielt für die Pharmakotherapie eine große Rolle. Schließlich geht es nicht einfach um die Beseitigung von Symptomen, sondern um die Behandlung eines ganzen Menschen. Wird bei einem Patienten die Schutzfunktion einer Wahnbildung deutlich, so wird die Pharmakotherapie tendenziell vorsichtiger und auf jeden Fall sehr gut abgestimmt mit psycho- und soziotherapeutischen Maßnahmen erfolgen müssen. Ist eine Schutzfunktion in der Wahnbildung jedoch nicht oder kaum erkennbar und dominieren dagegen in der Wahnbildung z.B. ängstigende und bedrohliche Momente, so wird die Psychopharmakotherapie sehr viel offensiver erfolgen, also tendenziell mit stärkeren Präparaten und höheren Dosierungen. Was die Dosisfrage anbetrifft, so erscheint es in der klinischen Praxis evident, daß höhere Dosierungen schneller wirksam sind, niedrigere Dosierungen aber häufig ebenfalls wirksam sind, jedoch erst nach längerer Zeit. Es sei in diesem Zusammenhang auch erwähnt, daß ein direkter bzw. unmittelbarer Einfluß von antipsychotischen Medikamenten auf die Wahnsymptomatik unwahrscheinlich ist. Psychopharmaka wirken eher auf basalere Prozesse ein, die der Wahnbildung zugrunde liegen. So könnte man ihre Wirkung (im Idealfall) z.B. als ordnend, festigend oder ausgleichend beschreiben; die Möglichkeit einer Distanzierung von krankhaftem Erleben

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über sedierende Effekte scheint in vielen Fällen eine besondere Rolle zu spielen. Sogenannte wahnhafte Störungen (ICD 10-Gruppe F22 oder „Paranoia“), die nicht der Gruppe der schizophrenen (plus schizoaffektiven) oder organischen Psychosen zugeordnet werden können, sind pharmakotherapeutisch nicht leicht angehbar, oft bleibt die Psychopharmakotherapie bezüglich der Auflösung der Wahnsymptomatik relativ wirkungslos (8). Psychopharmaka können hier vor allem eine Reduzierung der affektiven Besetzung von Wahninhalten bewirken. Da die betroffenen Patienten bei sonst relativ gutem Funktionsniveau auch eher keine Behandlungsbedürftigkeit sehen, ist hier das Erzielen einer medikamentösen Compliance besonders schwierig. Patienten mit solchen Störungen scheinen durch Psychopharmakotherapie auch eher selten Erleichterung zu erfahren (im Unterschied zu Patienten mit schizophrenen oder organischen Psychosen).

4. Einige konkrete Hinweise zur Pharmakotherapie des Wahns Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich, daß die Diagnose einer Wahnsymptomatik allein noch nicht ausreicht, um konkrete Behandlungsempfehlungen geben zu können. Eine umfassendere psychiatrische Untersuchung ist hierfür erforderlich. Dabei sind die nosologische Zuordnung der Wahnsymptomatik, körperliche Besonderheiten des Patienten, Erfahrungen mit früherer Medikation, die soziale Situation des Patienten und psychodynamische Faktoren zu erfassen; bezüglich der psychodynamischen Faktoren ist insbesondere wichtig, ob und welche Schutzfunktionen durch die Wahnsymptomatik für den Patienten gegeben sind. Es wird deutlich, daß eine umfassende und detaillierte Darstellung der jeweiligen Behandlungsmöglichkeiten in diesem Rahmen nicht erfolgen kann. Einige wesentliche Behandlungsrichtlinien seien jedoch kurz erwähnt. 4.1 Nosologische Gesichtspunkte Wahnbildung ist besonders häufig bei Schizophrenien. Hier möchten wir auf die gängigen Lehrbücher zur Pharmakotherapie produktiver schizophrener Symptomatik verweisen (EBERT, BENKERT, HIPPIUS). Die oben genannten sechs Punkte zur Auswahl eines bestimmten Neuroleptikums sind in erster Linie auf schizophrene Wahnbildung anwendbar. Schizo-

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phrene Wahnbildung wird vorwiegend mit Neuroleptika therapiert, allenfalls eine ängstliche, agitierte, angespannte oder aggressive Begleitsymptomatik kann auch vorübergehend adjuvant mit Benzodiazepinen behandelt werden. Bei hoch florider produktiver schizophrener Symptomatik erscheint die Therapie mit konventionellen Neuroleptika im klinischen Alltag häufig zuverlässiger und sicherer, bei weniger akuten Fällen mit noch ausreichender Sozialkompetenz haben atypische Neuroleptika viele Vorteile und sind bevorzugt anzuwenden. Bei Wahnbildung im Rahmen von organischen Psychosen ist die Kenntnis der Grundkrankheit für die Psychopharmakotherapie von elementarer Bedeutung. In vielen Fällen gilt, daß die Empfindlichkeit gegenüber Nebenwirkungen sehr viel größer ist, was bedeutet, daß niedrigere Dosierungen und nebenwirkungsarme Präparate anzuwenden sind, z.B. Risperidon, Amisulprid oder Olanzapin. Im Alkoholentzugsdelir ist Clomethiazol antipsychotisch wirksam, vermutlich durch Dämpfung der Erregung, und bei manchen Epilepsien oder zerebralen Abbauprozessen zeigen auch Benzodiazepine eine antipsychotische Wirksamkeit. Die Anwendung von Benzodiazepinen bei organischen Psychosen ist aber auch kritisch zu sehen schon aufgrund der erhöhten Sturzgefahr, des Risikos paradoxer Effekte und der Gefahr der Gewöhnung und sollte Einzelfällen vorbehalten bleiben. Die (reinen) wahnhaften Störungen (ICD 10-Gruppe F22 oder „Paranoia“) sprechen, wie bereits ausgeführt, tendenziell weniger gut auf eine antipsychotische Pharmakotherapie an. Zur medikamentösen Therapie des Wahnes scheint in der Regel eine vorsichtig dosierte Gabe eines atypischen Neuroleptikums am sinnvollsten zu sein. Wahnbildungen bei affektiven Psychosen erfordern manchmal vorübergehend eine spezielle neuroleptische Therapie (in Kombination mit einem Antidepressivum – „Zweizügeltherapie“), gute Erfahrungen haben wir hier mit Amisulprid, Olanzapin und Haloperidol gemacht. Bei klar als synthym zuzuordnendem Wahnerleben bei psychotischen („endogenen“) Depressionen kann – bei entsprechender Dosierung – mittels eines trizyklischen Antidepressivums wie Amitriptylin oder Clomipramin auch ohne Neuroleptikazugabe in einigen Fällen eine gute Remission erzielt werden. Bei hartnäckigem synthymem depressivem Wahn mit suizidaler Gefährdung kann darüber hinausgehend Schlafentzugs- oder Elektrokrampftherapie notwendig werden. Auch bei paranoiden Einsprengseln bei Persönlichkeitsstörungen stellt sich manchmal die Frage einer Pharmakotherapie. Falls diese für erforderlich

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gehalten wird, erscheint die kurzfristige und niedrig dosierte Gabe eines möglichst nebenwirkungsarmen Neuroptikums mit einer gewissen sedierenden Potenz am günstigsten (z.B. Zotepin, Olanzapin). 4.2 Psychodynamische Gesichtspunkte Das Beachten einer möglichen Schutzfunktion des Wahnes ist bereits erwähnt worden. Weiterhin ist es von elementarer Bedeutung, den Patienten selbst zu einer wenigsten einigermaßen positiven Einstellung gegenüber der Pharmakotherapie bringen zu können. Hierfür ist wichtig, daß er die Wirkung der Pharmaka als erleichternd erleben kann. Das kann z.B. darüber erfolgen, daß sie ihm starke Ängste nehmen und daß sie ihm ein besseres psychisches und soziales Funktiosniveau ermöglichen. Führt die Pharmakotherapie jedoch dazu, daß zwar die Wahnbildung aufgelöst wurde, aber an seine Stelle eine unangenehme Leere getreten ist, die zudem noch mit medikamentöser Dämpfung und extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen verbunden ist, dann wird der Patient den Erfolg der Pharmakotherapie subjektiv häufig nicht positiv beurteilen. Und dies wird sich rasch negativ auf seine Compliance auswirken. Nun kann auch eine gute Pharmakotherapie die Ausbildung eines postremissiven Erschöpfungssyndromes oft nicht verhindern. Ein solches Erschöpfungssyndrom kann zwar in der Regel mit einer oft modifizierten Pharmakotherapie erfolgreich angegangen werden, mindestens genauso wichtig ist aber eine psycho- und soziotherapeutische Begleitung des Patienten, nicht so selten mit dem besonderen Ziel, ihm einen adequaten Ersatz für seine frühere Wahnwelt zu schaffen.

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Literatur (1) Kraepelin E: Über paranoide Erkrankungen. Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 11: 617-638, 1912 (2) Jaspers K: Allgemeine Psychopathologie. 9.Auflage. Springer, Berlin-Heidelberg-New York, 1973 (3) Schneider K: Klinische Psychopathologie. 14. Auflage. Thieme, Stuttgart-New York, 1992 (4) Huber G: Psychiatrie Systematischer Lehrtext für Studenten und Ärzte. 4. Auflage. Schattauer, Stuttgart-New York, 1987 (5) Naber D, Lambert M et al.: Atypische Neuroleptika in der Behandlung schizophrener Psychosen. 2. Auflage. Uni-Med-Verlag, Bremen, 2000 (6) Burchard J: Lehrbuch der systematischen Psychopathologie Band II. UTB-Verlag für Wissenschaft, Stuttgart-New York, 1980 (7) Hartwich P, Grube M: Psychosen-Psychotherapie. Steinkopff, Darmstadt, 1999 (8) Hartwich P, Grube M: Psychosen-Psychotherapie. 2. Aufl., Steinkopff, Darmstadt, 2003 (9) Ebert D: Psychiatrie systematisch. 3.Auflage. Uni-Med-Verlag, Bremen, 1999 (10) Benkert O und Hippius H: Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 2. Auflage. Springer, Berlin-Heidelberg, 2000

Glaube und Wahn

BURKHARD PFLUG

Wahn und Religiosität Psychisch kranke Menschen befinden sich in Grenzsituationen menschlicher Existenz, die häufig durch Ängste, Schuld- und Verlassenheitsgefühle, Sinnkrisen und Fremdbeeinflussung bedroht erlebt wird. So wie allgemeine und spezielle Verhaltensweisen eines Menschen sich bei Ausbruch und im Rahmen psychischer Erkrankungen verändern, die dann als Symptome und Syndrome imponieren, ist auch religiöses Leben davon betroffen. Dabei kann religiöses Verhalten eine protektive Funktion vor und in der Erkrankung entfalten, als Schutz vor Angst, Verzweiflung, Abgleiten in den Suizid etc. Diese protektive Funktion wird als Halt und Trost erfahren. Hier setzt auch die Bedeutung des Rituals als Methode geistiger Hygiene oder besser als Verteidigungsmittel gegen ein schweres Risiko ein, wie C.G. Jung es ausdrückt in „Psychologie und Religion“ (1940). Religiöse Phänomene können auch als etwas Neues hereinbrechen und Ausdruck psychopathologischer Abwandlung sein, als Zeichen des Verlustes der Beziehung zur Realität, sei es unter dem Diktat des Affektes, des Konfliktes oder dem Diktat des drohenden Ich-Zerfalls. Vor allem kommt in den Psychosen eine destruktive Seite religiöser Grenzerfahrungen zum Tragen. Ein anderer Aspekt ist die Erklärung von unfaßbarem Erleben sowie der Versuch, durch Strukturierung einer chaotischen Situation zu entrinnen (Kompensation). Für uns als Psychiater erlaubt eine Differenzierung religiöser Phänomene als psychopathologische Erscheinung die in jedem Fall notwendige Einbeziehung aller übrigen Symptome (körperlich und psychisch) sowie des Verlaufes einschließlich der situativen Gegebenheiten und vor allem der gesamten Lebensgeschichte eines Menschen. Ein 39-jähriger Mann aus Montenegro war in seinem 12. Lebensjahr mit seiner Familie nach Deutschland gekommen. Hier ging er in die Schule und war anschließend als Koch tätig. 1994 kehrte er nach Ex-Jugoslawien zurück, arbeitete dort im Restaurant der Familie und mußte sehr unter Repressalien seitens der Serben leiden. Er kehrte dann 1996 wieder nach Deutschland zurück, ging keiner Arbeit nach und veränderte sich auffallend in seinem Verhalten. Vor allem zog er sich sehr zurück und verbrachte die meiste Zeit zu Hause bei seiner Ehe-

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frau. Er wurde von der Polizei nachts in die Klinik gebracht, weil er zunehmend aggressiv geworden sei, seine Frau schlug und seinen Halbbruder mit dem Messer bedrohte. Er behauptete Gott zu sein, sich umbringen zu wollen, um in den Himmel zu fahren. Der Patient hatte sich in der Woche zuvor für Jesus gehalten, obwohl er eigentlich Mohammedaner sei. Er sei in eine Kirche gegangen und habe dort Menschen angesprochen um ihnen mitzuteilen, daß er Jesus sei. In der Folgezeit habe er dann sich für Gott selbst gehalten und berichtete, wie er 10 Menschen verschiedener religiöser Glaubensrichtungen im vierten Stockwerk des Hauses, in dem er wohnt, über sich habe sprechen hören. Auch habe er alle möglichen Nebensächlichkeiten auf sich bezogen. So habe er z.B. einen älteren Blutbefund, bei dem neben der GOT ein Stern ausgedruckt war, dergestalt verstanden, daß der damalige Arzt gewußt habe, daß er Gott sei. Die einzige Person, die ihm glaube sei seine verstorbene Mutter, deren Seele in seiner Ehefrau weiterleben würde. Bei der stationären Aufnahme war er sehr aggressiv dem Arzt und dem Pflegepersonal gegenüber, sodass er für eine kurze Zeit fixiert werden mußte. Später berichtete er, dass er die Fixierung als Kreuzigung wie Jesus erfahren habe. In einer vertieften Exploration schilderte er, als Kind schon unter starken Ängsten gelitten zu haben: Angst vor der Dunkelheit, Angst anders zu sein als Andere, Angst vor dem Tod. Er habe mit 12 Jahren in seiner Heimat Jugoslawien ein für ihn sehr bedrohliches Erlebnis gehabt: Er habe im Fenster des Nachbarhauses ein Frauenskelett gesehen und sei darüber zu Tode erschrocken, er habe sich mehrmals vergewissert, aber es sei wirklich dagewesen. Seine Eltern und Geschwister hätten ihm nicht geglaubt und ihm gesagt, er solle diesen Unsinn nur ja keinem erzählen. Seit diesem Erlebnis habe er sich innerlich zurückgezogen, sei sehr verunsichert und ängstlich geworden, habe Angst vor einer erneuten Erscheinung gehabt. Weil er sich niemandem habe anvertrauen können, habe er sich sehr einsam gefühlt und das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihm nicht stimme. Der Weggang aus seiner Heimat in seinem 12. Lebensjahr sei sehr plötzlich gekommen und er habe sich innerlich nicht richtig darauf einstellen können. Die erste Station in Deutschland sei Göttingen gewesen, wo er ganz gut Fuß gefasst habe und von den Schülern auch gut akzeptiert worden sei. Nach einem Jahr sei die Familie nach Frankfurt gezogen weil sein Stiefvater (katholisch) dort eine bessere Arbeit gefunden habe. Hier habe er große Schwierigkeiten gehabt sich einzuleben. Mit dem Umzug nach Frankfurt hätten auch seine Ängste zugenommen, insbesondere eine Angst vor Leuten, die nicht existierten. Er habe versucht

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seine Ängste mit Alkohol zu betäuben, auch mit Haschisch und auch mit Heroin, dadurch seinen seine Probleme jedoch nur größer geworden. Seit seiner Erleuchtung und seinem Wissen darum, dass er Gottes Sohn sei, habe er keine Ängste mehr. Er fühle sich seither sicherer. Vor dieser Erleuchtung habe es auch schon außersinnliche Erfahrungen gegeben: Mit 33 Jahren habe er zum ersten Mal das Erlebnis gehabt, dasser aus seinem Körper herausgetreten sei und durch schöne Landschaften über Flüsse, Felder und Berge geflogen sei; er habe sich auch dabei angstfrei und befreit gefühlt. Als Vorzeichen seiner jetzigen Erleuchtung wertete er auch einen Lottogewinn: Er habe 46.000 DM gewonnen und diese Summe habe genau mit der damaligen Höhe der Schulden seiner Mutter übereingestimmt. Seine Mutter habe in seinem Leben immer eine zentrale Rolle gespielt, er habe immer versucht, ihr ein guter Sohn zu sein. Seine Mutter sei mit 59 Jahren an einem Hirnschlag gestorben und ihr Tod habe ihn in eine tiefe Krise gestüzt. Im Verlauf der Behandlung zeigt sich die Dynamik des Herausgeratens aus der Psychose. Es kam nach dem aggressiven Stadium zu einer depressiven Symptomatik. Er konnte sich nur zögernd von seiner Gewissheit Gott zu sein lösen, hielt sich dann für einen Gesandten Gottes und schließlich für Jesus. Als Beweis zeigte er unter anderem ein Bild, das eine Jesusgestalt darstellte. Dieses Bild sehe ihm sehr ähnlich, es könne sich doch eigentlich nur um ihn handeln. Er habe aber gelernt, daß er mit seinen Aggressionen umgehen müsse. Er nimmt auch Kontakt zu einem der Klinikpfarrer auf, die Gespräche mit ihm täten ihm gut. Er erhält dann zunächst einige Stunden, dann auch längeren Ausgang in Begleitung seiner Familie. Vor Weihnachten wird von der Familie berichtet, daß diese Ausgänge sehr anstrengend seien. Er würde in sämtliche Kirchen gehen, würde immer wieder beten und möchte getauft werden. Dem Pfarrer gegenüber äußert er, er sei in einem großen Konflikt. Er habe den Sendungsauftrag, solle die auslöschen, die er nicht erretten könne. Er wisse aber, dass er niemandem etwas antun dürfe, er würde also seine Aufgabe nicht erfüllen können. Über ein ängstliches Stadium in dem er fürchtet, daß seine Familie ihn verlassen wolle, kommt es zu einer Beruhigung und einer teilweisen Distanzierung von seinen Überzeugungen. Er berichtet, daß er sich nicht mehr für Jesus halte, aber weiterhin wisse, daß er eine Aufgabe habe und es würde ihm niemand diese Aufgabe abnehmen. Er wisse, dass ihm Teile nicht geglaubt werden, er könne jedoch damit umgehen, sehe auch ein, daß er weiterhin Medikamente nehmen wolle.

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In diesem Beispiel sind alle Kriterien eines Wahns als psychopathologisches Phänomen, welches als Urteilsstörung imponiert, enthalten. Bestimmte inhaltliche und formale Denkstörungen weisen im Wahn auf eine tiefgreifende Abwandlung und Veränderung im subjektiven Aufbau von Realität hin. Der Wahn als eine Extremform psychischen Erlebens spiegelt in seinem Inhalt auch den soziokulturellen Hintergrund und das aktuelle Wertsystem wider. Im vorangegangenen Beispiel zeigen sich die Kriterien des Wahns die Jaspers 1910 aufgestellt hat: •

Die unvergleichliche subjektive Gewissheit



Die Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und zwingende Schlüsse



Die Unmöglichkeit des Inhalts

Bei den schizophrenen Psychosen ist der Ausgangspunkt von Wahnvorstellungen die Bedrohung der Sicherheit im Sinne der Bedrohung der Integrität der Persönlichkeit, des Ichs, wie dieses hypothetische Konstrukt tiefenpsychologisch bezeichnet wird. Hier hat der Wahn eine bestimmte Bedeutung: Er gilt vielfach als Kompensationsversuch, also als eine aktive Maßnahme, um das Zerbrechen eines Individuums zu verhindern, um dem Auseinanderfallen des Ichs Einhalt zu gebieten und Sinn zu vermitteln. Er hat also eine restitutive Funktion. Der Patient entweicht aus einer nicht zu ertragenden Realität in eine eigene Wirklichkeit, die durch den Wahninhalt erklärt wird. Diese Eigenwirklichkeit gilt nur für ihn selber, der Patient ist nicht mehr erreichbar und er erreicht auch nicht die Umwelt. Der Wahn ist also im Selbsterleben protektiv, im kommunikativen Bereich destruktiv. Bei den schizophrenen Psychosen sind religiöse Inhalte häufig anzutreffen, in etwa 20-25% (Hofmann 2002). In ihnen spiegeln sich vielfach Opfermotive (de Boer 1949), kosmische Erlebnisse, Katastrophen, Omnipotenzzustände und Ich-Mythisierungstendenzen wieder. Die Ich-Mythisierung ist eine Abwehrmaßnahme des Ich, welche nach Winkler (1959) sich von der Abwehrmaßnahme einer Verdrängung unterscheidet. Bei einer Verdrängung verschwindet der psychische Inhalt vollständig aus dem Bewusstsein während bei der Ich-Mythisierung sich das Ich in ein anderes Ich verwandelt, wobei eine Überhöhung des Daseins erreicht wird. „Das Ich, welches verängstigt und bedroht war, erstarkt mit dem Auftreten des Wahneinfalls. Das Ich entrückt aus der persönlichen Existenz in eine kollektivmythische Existenz, die häufig mit einer psychodramatischen Darstellung einherzugehen pflegt. Die Ich-Mythisierung stellt wohl die totalste Form der Schuldent-

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lastung dar, die sich überhaupt denken lässt, da das Ich im Fall der Identifikation mit Gott oder mit Jesus zu einem absolut reinen Wesen wird, welches das stets irgendwie mit Schuld und Angst behaftete menschliche Dasein weit hinter sich läßt“. (Winkler) Das Beispiel der Ich-Mythisierung stellt den Tatbestand einer Grenzüberschreitung dar aus einem nicht mehr zu bewältigenden ängstlichen Alltag in die Transzendenz des Kollektiv-Mythischen. Sie ist also ein religiöser Akt der freilich mißlingt weil es zu einem Tabubruch kommt und das Erleben nicht in die Realität integriert werden kann. Allgemein stellt Religiosität eine Haltung und ein Verhalten dar, welches nicht an bestimmte Religionen gebunden ist, sondern übergeordnet vielen Religionen gemeinsam ist. Insbesondere die Philosophie im 18. und 19. Jahrhundert hat sich damit auseinandergesetzt. Nach Fichte (1804) ist es „das undeutliche Gefühl ..., das Ringen und Streben“ nach dem Übersinnlichen, nach dem Sinn für das Ewige. Die Religiosität empfängt ihre Eigenart und Richtung vom jeweiligen Charakter, dem Temperament und der Empfindungsweise des Menschen. Für Herder ist Religiosität „das Mark der Gesinnungen eines Menschen“ (1798), unabhängig von Lehrmeinungen. Das Wesen der Religiosität ist nach Schleiermacher (1799) das je individuell geprägte und eigentümlich sich darstellende „Anschauung und Gefühl“, „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Schlegel (1890) weist auf die Tätigkeit eines jeden Menschen angebotenen Triebs zur „Erweiterung seiner Erkenntnis“ hin, der religiöser Natur sei, wenn er auf das Ewige und Unvergängliche gerichtet ist. Religiosität hat eine besondere Richtung, die zu der Vernunft und den Forderungen einer reinen Ethik nicht im Widerspruch stehen und sich nicht gegen „den Weltlauf aufspreizen (Hegel)“ darf. Nach Glock (1962) geht es in dem Begriff Religiosität um wie auch immer religiös motivierte Aktivitäten und Einstellungen im Alltag; den Zusammenhang auch zwischen diesem und psychischem Wohlbefinden (A. Hahn 1974). Religiosität bietet eine Form der Orientierung an der Zukunft mit dem „Wunsch GANZ zu sein“ und dem Bedürfnis nach einem „unzerstückten Leben“ (Sölle 1976 in Riedel, Hrsg). Damit kommen wir der Problematik psychopathologischer Abwandlungen, hier insbesondere des Wahns und der Bedeutung von Religiosität im Kontext von Erleben und Verhalten eines Menschen näher.

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Zur Religiosität gehört eine bestimmte Perspektive, die etwas über einen intentionalen Akt aussagt. Dieser verwandelt beispielsweise den offenen Charakter der Hoffnung in einen absoluten, in die Gewissheit (Stephenson 1995). Der Mensch richtet seinen Alltag auf diese Gewissheit hin aus, er reagiert dabei als Ganzheit in der Ausrichtung auf eine andere Wirklichkeit hin (Vergote 1970). Diese Wirklichkeit wird durch die Suche nach einem übergeordneten Sinn geprägt, der Annahme einer Instanz, die hinter, über oder in den Dingen steckt, also jenseits der Erfahrung und des Gegenständlichen liegt und deren Grenzen überschreitet, der Transzendenz. Die Entfaltung religiösen Lebens geschieht durch vorgeformte Modelle, repräsentiert in konkreten Religionen mit einem sozialen Gefüge und Traditionskontinuitäten in denen ihre Mitglieder auf ihre Fragen Antworten oder Hoffnungen finden, sodass sie – wie Ohlig (2002) es ausdrückt – „ in völliger oder partieller oder auch – in Krisenzeiten einer Religion – konfliktreicher Identität mit ihnen ihr religiöses Leben entfalten können“. Dabei geht es um die soteriologische Frage (soteria, griech.: Heil, Erlösung). Ohlig weist darauf hin, daß der Mensch durch den zunehmenden Verlust seiner trieb- und instinktmäßigen Bestimmung in Geschichte und Kultur seine Identität zu finden trachtet, „er ist ein religiöses Lebewesen geworden, das um seine Kontingenz und Ohnmacht weiß und sich auf ein übermächtiges „PLUS“ – in Angst und Hoffnung verwiesen sieht“. Dieses PLUS liegt jenseits einer bestimmten Grenze, in einem ganz anderen ontologischen Bereich und der Kontakt mit ihm bedeutet das Durchbrechen einer ontologischen Ebene, „Rupture de niveau ontologique“ (Eliade 1954). Ohlig erweitert diesen Begriff von Eliade zur Umschreibung der Mechanismen des Tabus in frühen Religionsformen in den Bereich der Sinnfrage im Alltag, in dem der Mensch dieser Rupture in der Sinnfrage konfrontiert wird und er eine „letzte Ohnmacht- und eine ebenso strukturierte Ganzheitserfahrung macht. Hierbei steht er als „Ganzer“ zur Debatte, er transzendiert in Angst und Existenzbejahung, in Leib und in Glück, die je konkrete Situation auf „Totalität“ hin“ (Ohlig). Religiöse Wahnbildungen sind individuell auf die Spitze getriebene Antworten auf eine „Rupture de niveau ontologique“. Dies entspricht dem Tabubruch als Ausdruck missglückter Kompensation. Die Ursache solcher im religiösen Kontext sich entwickelnder Wahnphänomene ist einmal das Erleben dieser „Rupture de niveau“, jedoch auf dem Hintergrund psychotischer Zusammenbrüche, verbunden mit extremer existentiell empfundener Not, eben in der radikal empfundenen Infragestellung der Sicherheit, Ver-

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trautheit und gewisser Berechenbarkeit des Alltags mit seinen Sicherheit und Strukturierung gebenden und die Erwartung erfüllenden Elementen. Der Wahnkranke kann sein Erleben nicht in die Realität integrieren, es ist dysfunktional, sein Erleben entwickelt sich solipsistisch. Im Wahn kommt es zu einer ambivalenten „Rupture de niveau ontologique“ – sie ist für den Betreffenden selbst konstitutiv, für die Beziehung, den intersubjektiven kommunikativen Bezug destruktiv. Der Bruch des Tabus (bei allen Religionen) hat Konsequenzen. In vielen psychotischen Zuständen ist der Tabubruch Grundlage des Entfernens aus einer mitmenschlichen Kommunikation und der Konstruktion solipsistischer Realitätsumdeutung. Einen wichtigen Platz im Leben der Religionen nimmt die Bekehrung (Wandlung) ein. Ihr geht gewöhnlich eine Periode innerer Unsicherheit voraus, die bisweilen durch erhöhte Aktivität sich zu kompensieren sucht, aber auch bis zur Verzweiflung führen kann. Mit der Bekehrung tritt ein Zustand der inneren Ruhe und Gewißheit ein und beginnt häufig eine evangelistische Aktivität (Heiler 1961). Es geht also um eine Änderung des Menschen, die – häufig in Krisensituationen – zu einer Umorientierung der Emotionalität und Wertwelt führt, jedoch in das alltägliche Leben integriert werden kann. Auch im psychotischen Erleben kommt es zu einer „Wandlung“, ist der Patient einem Prozeß ausgesetzt, der die bisherige Erlebniswelt zusammenbrechen läßt. Vergleichbar mit der Periode innerer Unsicherheit vor der Bekehrung ist der Zustand des Tremas (Conrad) am Beginn des schizophrenen Wahns. Damit wird ein eigentümlicher Spannungszustand beschrieben, Unruhe, auch Angst mit dem unbestimmten Gefühl, es ändert sich etwas. Eine Differenzierung zwischen normal religiösen und pathologisch bedingten Bekehrungsphänomenen ist daher notwendig. Hierzu gibt es Arbeiten von Heimann (1961), der darauf hinweist, daß im pathologischen Bekehrungserleben die Proportionen der Einzelerlebnisse zum Ganzen der geistigen Wandlung zerfallen und sich der Schwerpunkt des Geschehens dauernd verlagere. Es komme dies zum Ausdruck an dem Nebeneinander von Erhabenem und Banalem oder Lächerlichem, das eine geistige Wandlung gar nicht erkennen und den Betrachter von vorneherein an eine Störung im psychophysischen Bereich denken lasse (s.a. Erichsen, 1974).

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Zunehmend stellt sich heraus, dass eine Integration in das alltägliche Leben und Allgemeine nicht mehr möglich wird. Dies kann auch an der Heftigkeit und Radikalität dieser Phänomene liegen, dem Charakter des Erdrückenden oder häufig auch Zwanghaftem. Ideler (1848) schreibt in seinem Buch „Versuche einer Theorie des religiösen Wahnsinns“: „Wir werden nun in der Folge zu betrachten haben, inwiefern beide ursprüngliche Regungen des religiösen Bewusstseins, die Liebe und die Ehrfurcht vor Gott durch leidenschaftliche Steigerung ausarten, immer weiter von ihrer ursprünglichen Bestimmung sich entfernen, und in völlig wahnwitzige Verirrungen geraten können, um dem Menschen die ernste Lehre zu predigen, daß er selbst im Heiligsten Maß halten soll“. Dieses Maßhalten gelingt in unterschiedlicher Ausprägung nicht mehr, was einem Kontrollverlust gleichkommt. Bei Dilthey (1867) ist dieser Kontrollverlust das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Schaffens (der Noesis, als intentionaler Akt) zwischen z.B. einem Künstler und einem Kranken: Der Künstler behält die Kontrolle über den Vorgang, beim psychotischen Menschen ist der wirklichkeitsrepräsentierende „Zusammenhang des Seelenlebens“ hingegen gehemmt oder ausgeschaltet, so daß die Trennung zwischen Wirklichkeit und Schein nicht mehr gelingt und das Fiktive sich als eine eigene, das Subjekt entmächtigende Wirklichkeit entfaltet. Wahnaussagen sind Wirklichkeitsaussagen, in denen das Fiktive als Realität gesetzt wird und in denen kein fiktionaler Erzählmodus wie beim literarischen Kunstwerk stattfindet (SchmidtDegenhard 1995). In ähnlicher Weise lässt R. Schernus einen Patienten zu Wort kommen, der sich mit dem Unterschied zwischen mystisch-religiösen und psychotischen Erfahrungen beschäftigte und äußerte: „Ein Mystiker kann in dem Meer seiner Erfahrungen schwimmen, der Schizophrene ertrinkt darin“. Wenn wir die Religiosität im Zusammenhang mit dem Wahn betrachten, finden wir drei Varianten: 1. Die religiöse Haltung und Einstellung wandelt sich im Verlauf einer schizophrenen Erkrankung: Zunächst hat sie eine protektive Funktion, sie entlastet, dann treten destruktives Erleben und Verhalten in den Vordergrund, abhängig vom Fortschreiten der Grunderkrankung. 2. Es kommt zu einem sekundären Einbau von Wahn in primär religiöses Erleben, damit zu einem Erklärungsmodus für das psychopatholo-

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gische Erleben einhergehend mit Stabilisierung und Integration in die allgemeine Realität, oft als doppelte Buchführung. 3. Ein primärer Einbau von Religiosität in einen destruktiven pathologischen Zustand als Erklärung für den Einbruch und die Konfrontation (und den Umgang) mit dem Numinosen (Ordnungsversuch aus der Situation eines Tremas) heraus. Dabei spielen Ich-Mythisierungsvorgänge, Opfermotive oder Berufungen, die in die Katastrophe führen, eine Rolle.

Literatur Conrad K: Die beginnende Schizophrenie. Stuttgart: Thieme, 1971 De Boer W: Das Opfermotiv in der Psychose. Nervenarzt 20, 385-392, 1949 Dilthey W: Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinns (1867). In: Gesammelte Schriften, Bd. 15, Göttingen: Vandenhock und Ruprecht, 1970 Eliade M: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. S. 41-43, Frankfurt/Main: Insel Tb 2187, 1998 Erichsen F: Bemerkungen über das sogenannte „religiöse“ Erleben des Schizophrenen. Nervenarzt 45, 191-199, 1974 Fichte J G: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1804). Sämtl. Werke hg. Fichte (1845/46) 7. 230 f. Akad.-A. 1/1 (1964) Glock Ch Y: On the study of religious commitment. Res. Suppl. Religious Education 57 (1962) 98-110 Hahn A: Religiosität und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft (1974) Heiler F: Erscheinungsformen und Wesen der Religion. Stuttgart: Kohlhammer, 1961 Heimann H: Religion und Psychiatrie. In: H.W. Grull u.a. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart III. Berlin-Heidelberg: Springer, 471-493, 1961 Harder H G: Von Religiosität, Lehrmeinungen und Gebräuchen (1798). Hg. B. Suphan 20 (1880) 141 Hegel G W F: Vorles. Über die Philophie der Geschichte. Jub. Ausg. hg. H. Glockner 11 (1949) 50 Hofmann R: Religiöses Erleben im schizophrenen Formenkreis. Inaugural Dissertation Frankfurt/Main, 2002 Ideler A W: Versuche einer Theorie des religiösen Wahnsinns, S. 52 Halle: 1848

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PFLUG

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FLORIAN LANGEGGER

(Aber)Glaube, Wahn, Normalität Warum Glaube so viel attraktiver ist als Wissen Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, dass jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. Immanuel Kant

Das Element des Wunderbaren liegt niemals im Phänomen selbst, sondern im Beobachter des Phänomens. Ernst Mach

Ich bin immer wieder erstaunt, was Menschen alles glauben, und zwar glauben, obwohl man heute bei einer durchschnittlichen Vertrautheit mit den Medien über ein besseres Wissen verfügen könnte. Ich komme von der Psychiatrie her und bin einigermassen gewöhnt, mit aussergewöhnlichen Ansichten konfrontiert zu werden. Zum Teil faszinieren mich diese auch, weil sie zur Vielfalt und Buntheit unserer Welt beitragen. Zum Teil erfüllen sie mich aber mit Sorge. Mit Glaubens- und Aberglaubensäusserungen meine ich nicht in erster Linie Wahnideen von Psychotikern, sondern Glaubensüberzeugungen von sogenannt Gesunden. Solche spielen ja im Alltag, in den Welt- und Selbstbildern der Menschen, für ihr Selbstvertrauen und ihr Beheimatetsein in der Welt eine grosse Rolle. Merkwürdigerweise wird die Frage, wie damit therapeutisch umzugehen sei, im Fachunterricht kaum je behandelt. Vielleicht deshalb, weil sie nicht explizit als krank definiert sind. Glaube und Aberglaube wurden schon immer kritischen Betrachtungen unterzogen, vermutlich seit geglaubt und abergeglaubt wird. In vermehrtem

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Mass natürlich seit der Aufklärung, und doch wird – und das ist vielleicht das Erstaunliche – weiterhin inbrünstig geglaubt. Es macht den Anschein, als ob Glaubenskritik gar nicht greifen würde. Die Leichtgläubigkeit soll heutzutage sogar zunehmen, wie sich an der Fülle von Veröffentlichungen aus dem Bereich „Esoterik“ zeigt (Tabelle 1). Tabelle 1: Buchtitel aus dem Bereich „Esoterik“ (Neue Zürcher Zeitung 19./20.4.2003, Nr.91, S.59)

Der Astro Farbtest“

„Das Mondlexikon vom richtigen Zeitpunkt“

„Schwarze Sonne“

„Denke nicht wie ein Mensch“

„Wer pendelt, weiss mehr“

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“

„Der Stadtschamane“

„Die Biomagnet Hausapotheke“

„Wotans Jünger“

„Zauberschule der Neuen Hexen“

„Menschenfrauen fliegen wieder

„Die Lebenszahl als Lebensweg“

„Die 7 Körper des Menschen“

„Die Reisen der Seele“

„Sprechfunk mit Verstorbenen“

„Die Aussendung des Astralkörpers“

„Heilende Runen“

„Zahlenmagie der Steine“

„Edelsteine, die heilen“

„Erdstrahlen als Krankheits- und Krebserreger“

„Zen an der Börse“

„Menschenkenntnis durch das Enneagramm“

„Numerologie und Schicksal“

„Reinkarnationstherapie mit Kindern“

„Esoterik im Kinderzimmer“

„Zurück in frühere Leben“

„Berichte aus dem Jenseits“

„Grenzenlos leben auf einem begrenzten Planeten“

„Wiederkehr der Kelten“

„Offenbarungen eines Unsterblichen“

„Astrologik“

„Alles über die gefallenen Engel“

„Sieben Engel hat der Mensch“

„Der Code der Pharaonen“

„Mein paranormales Fahrrad“

„Der esoterische Christ Paracelsus“

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„Wenn Tote wieder leben“

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„Satsang – Das Handbuch zu neuem Erwachen – Übergang in die vierte Dimension“

„Satanspriesterin – Meine Erlebnisse „Heimliches Wissen – Unheimliche bei der schwarzen Sekte“ Macht“ „Die Frequenz der Ekstase“

„Irdische Schritte – Himmlische Schätze“

„Dreistufenweg zum Gral“

„Aus der Zukunft in die Gegenwart“

„Die Weisheit der Eulen“

„Wenn Himmel und Erde sich vereinen. Esoterik und Astrologie in der Wirtschaft“

„Zoence – Die Wiederentdeckung der Tempelwissenschaft“ Viele Leute haben mittlerweile gelernt, dass es keinen guten Eindruck macht, sich öffentlich als abergläubisch zu bekennen, und wenn man sie darauf anspricht, sagen sie sofort, sie wüssten wohl, das sei alles nur Aberglaube, und heimlich studieren sie ihr Horoskop, konsultieren eine Wahrsagerin, bringen in ihrem Auto einen Christophorus an und hüten sich vor Freitag dem dreizehnten (Nayha 2002). Diese Entscheidung für den Glauben und gegen die Vernunft ist es, die mich besonders fasziniert. (Der lateinische Kirchenschriftsteller Tertullian hat sie bereits um 200 n.Chr. auf die Kurzformel gebracht: Credo quia absurdum – Ich glaube etwas, weil es absurd ist.) – Warum haben Glaubensüberzeugungen für so viele Menschen eine viel grössere Attraktivität als Wissen? Diese Frage, die gleichermassen von psychiatrischem wie von allgemeinpsychologischem Interesse ist, möchte ich ins Zentrum meiner folgenden Ausführungen stellen. Ich werde mich über Aberglaube und Glaube äussern. Ich werde mich bemühen, dabei respektvoll und vorsichtig zu formulieren. Es geht um Themen, die Menschen heilig sind, die sie nicht in Frage gestellt und auch nicht mit Vernunftargumenten erklärt haben wollen. Aber gerade das soll das Thema meines Beitrags sein und damit habe ich mich selbst in eine Zwickmühle gebracht. Ich werde also versuchen, möglichst behutsam vorzugehen. Zugleich möchte ich die Themen, um die es mir geht, ohne Umschweife und Ausflüchte möglichst klar beim Namen nennen. Ich hoffe, dass mir dieser Spagat gelingt.

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Im Internet habe ich unter „Aberglaube“, „moderner Aberglaube“, „Superstition“, „magisches Denken“... tausende Links gefunden. Man könnte in der Datenflut ertrinken. Ein erster Eindruck: Abergläubige bezeichnen andere Abergläubige abschätzig als „abergläubig“. Das hat mich an die Wahnkranken in der psychiatrischen Klinik erinnert, die bei anderen ohne weiteres das Vorhandensein eines Wahns feststellen können, ihren eigenen Wahn aber weiterhin nicht als solchen erkennen. Als Definition: kann angeführt werden (Handwörterbuch des dt. Aberglaubens: ‚Unglaube’, ‚Widerglaube’ ,Gegenglaube’, ‚Nebenglaube’): „Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind“ (Berchthold-Stäubli 1927-42). Ich denke, das kann man so stehen lassen. Ich möchte aber die Einschränkung im Nachsatz, „soweit diese nicht in der Religionslehre selbst begründet sind“, nicht einfach hinnehmen, weil der Umstand, dass Etwas von vielen Menschen geglaubt wird, keine Garantie für dessen Wahrheitsgehalt ist. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679), hat schon im 17.Jh. gesagt: „Religion ist der staatlich erlaubte Glaube. Aberglaube ist der staatlich verbotene Glaube“. Wir haben natürlich den rechten Glauben, abergläubisch sind die anderen. Grosse Glaubensgemeinschaften nennt man Religionen, kleine Sekten (Offiziell „religiöse Sondergemeinschaften“). Das Glaubensgut, das weit verbreitet ist, ist definitionsgemäss dasjenige, das vielen Menschen glaubwürdig erscheint, während kleine Glaubensgemeinschaften an etwas glauben, das nicht so viele Menschen glauben wollen und können. Die Mechanismen, nach denen Glaubensinhalte entstehen, sind bei grossen und kleinen Gruppen von Gläubigen durchaus ähnlich. Grosse Glaubensgemeinschaften ziehen aber andere Typen von Menschen an als kleine. – Die Religionsgeschichte zeigt, wie sehr Glaubensinhalte von der geistig-seelischen Befindlichkeit der jeweiligen Gläubigen abhängen. Es ist eine Frage der Zeit, bis Glaubensinhalte revidiert und relativiert werden. Huxley (1953) schrieb: „Selbst die mächtigsten Götter sterben mit dem letzten, der an sie glaubt“. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist nicht meine Absicht, Religiosität oder Spiritualität in Frage zu stellen, auch nicht die Bedeutung des Glaubens für den Einzelnenden und die Gesellschaft. Mein Thema sind die Glaubensinhalte. Betrachtet man Glaube und Aberglaube unter dem Gesichtspunkt der Psychopathologie, so findet man besonders bei den fanatischen Formen die

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klassischen Wahnkriterien erfüllt, die da sind: irreal, überwertig, kritiklos und unkorrigierbar. – Im Einzelnen: Die Realitätsprobe ist nicht so einfach zu erbringen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die sogenannten Glaubensbeweise haben es an sich, dass sie Gläubige zwar zu überzeugen vermögen, distanzierte Beurteiler aber nicht. Glaubensinhalte sind oft derart, dass sie sich weder verifizieren noch falsifizieren lassen. Zum Kriterium „überwertig“: Beim religiösen Glauben handelt es sich definitionsgemäss um höchste Werte. Dem Rechtgläubigen ziemt es, sein Leben gänzlich den Glaubensinhalten unterzuordnen. – Zu den Kriterien „unkorrigierbar“ und „einer Kritik nicht zugänglich“: Bezeichnend ist die „Sicherheit“ im Glauben. Wenn jemand sagt, „Ich glaube“, dann ist das eigentlich ein Synonym für „ich bin überzeugt“. Die Kirchen erwarten von ihren Gläubigen auch und wünschen ihnen einen „festen Glauben“, der unzweifelhaft und unangreifbar ist. Eine Nähe der „Glaubensgewissheit“ zur „Wahngewissheit“ ist da sicherlich gegeben. Das Handwörterbuch d dt. Aberglaubens (Bd.I, p.66, Berchthold-Stäubli 1927-42) zieht die beiden Begriffe zusammen und spricht von „Wahnglaube“. Der Glaube, der vom Zweifel angenagt ist, ist schon kein rechter mehr. – Betrachtet man die Glaubensinhalte möglichst unvoreingenommen, so zeigt sich: Gläubige sind überzeugt von der Existenz unsichtbarer, überirdischer/ausserirdischer allmächtiger, allwissender, allgegenwärtiger und ewiger Wesen, mit denen sie in persönlichem Kontakt stehen, von denen sie sich dauernd beobachtet fühlen, Anordnungen erhalten und die sie mit ihren Gebeten auch beeinflussen können (Tab. 2). Die Gebete der Gläubigen haben auch Auswirkungen in dieser Welt. Die ichpsychologischen Kriterien Fremdbeeinflussung, Gedankeneingebung und Gedankenausbreitung scheinen dabei erfüllt. – Einzig das Wahnkriterium, die eigene Überzeugung müsse im Kontrast zum Erleben der Mitmenschen stehen, scheint zunächst nicht erfüllt, weil es meist genügend grosse Gemeinschaften von Gleichgläubigen gibt, die einen in der eigenen Meinung bestätigen. Legt man aber einen breiteren geographischen und historischen Massstab an, ist auch dieses Kriterium erfüllt. Zum Beispiel: Wahrscheinlich glaubt heute kaum noch jemand an die Götter der alten Griechen. Wir sagen sofort, das waren die Vorstellungen der damaligen Menschen. Umgekehrt ist natürlich zu vermuten, ein „alter Grieche“ würde unseren Glauben auch als irrig ablehnen. – Ich bin nicht der Ansicht, man dürfe nur dann von „Irrglaube“ oder von „Wahn“ sprechen, wenn ein Mensch dysfunktionell und infirm wird und in seinem soziokulturellen Kontext versagt. Wahnsinnige sind im Leben oft erschreckend tüchtig und erfolgreich. Nicht so selten gehen ganze Völker und Kulturen in die Irre und hängen pathologischen Überzeugungen an. Das soll man beim Namen nennen! Ein allge-

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meiner Konsens mag im Moment zwar als Legitimierung erscheinen, mit etwas Abstand aber durchaus als irrig zu erkennen sein. Ein weiterer Grund, warum ich den Glauben grosser Gruppen nicht ausklammern möchte, ist, dass religiös motivierte Gewaltbereitschaft sich auszubreiten scheint (Neue Zürcher Zeitung 19./20.4.2003, Nr.91, S.59). Man schreibt religiösen Glauben wieder auf die Kriegsfahnen und behauptet, Gott auf seiner Seite zu haben. Gegner werden dämonisiert und damit die eigenen Feindseligkeiten legitimiert. Es wird wieder für den eigenen Glauben gestorben und getötet. Und man fühlt sich in dieser Haltung gerechtfertigt, als hätte es nie eine Aufklärung gegeben. Es scheint mir wichtig, Licht auch auf diese Glaubensformen zu werfen. Mit Sorge stehe ich den Glaubensüberzeugungen noch aus einem anderen Grund gegenüber, und dies auch in Analogie zu den Wahnvorstellungen, von denen wir wissen, dass sie zunächst zwar eine psychisch stabilisierende Funktion haben, in einem zweiten Schritt aber Schaden verursachen, weil sie unkorrekte Voraussetzungen darstellen für künftiges Wahrnehmen, und damit das weitere Denken und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen verzerren. Ein Gebäude, das auf unkorrekten Fundamenten steht, ist vom Einsturz mindestens bedroht. Und nicht so selten stiften Menschen, die von falschen Ideen geleitet sind, auch bei anderen Verwirrung und Unheil.

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Tabelle 2: Einteilung, Formen von (Aber)Glaube

1. Glaube an aussernatürliche/übernatürliche Kräfte: allmächtig (alles ist möglich, ohne Rücksicht auf Naturgesetze, zum Heil wie zum Verderben), allwissend, allgegenwärtig, ewig, gerecht; „sinnvolles“, „absichtsvolles“ (nicht bloss zufälliges) Zusammentreffen von Ereignissen. 2. Glaube, an Lebewesen (Götter, Feen, Zauberer, Hexen, Heilige, Seher, bzw. alle Menschen in irgendeiner Form („es ist bloss verkümmert“), Tiere, Pflanzen) oder unbelebte Objekte (heilige Gegenstände, Zaubermittel, Talismane, Amulette; auch Naturereignisse [Erdbeben, Kometen, Unwetter]), die über übernatürlichen Kräfte verfügen, uns Menschen geschaffen haben, etwas mit uns im Sinn haben, im Guten oder im Bösen, von daher unserem Leben auch Sinn, Richtung und Werte geben. 3. Praktische Verwertung übernatürlicher Kräfte zur Erforschung und Verkündung von Unbekanntem (in Raum und Zeit) und zum Herbeiführen oder Verhindern von Heil oder Unheil (Glück, Unglück; Gesundheit, Krankheit, Zaubermittel, Amulette, Talismane) Tabelle 3: Grenzgebiete, in denen sich Glaubensvorstellungen bevorzugt einnisten

1. Alternative Formen von Materie und Energie „Funktionieren nach anderen Gesetzen“. Existenzweisen, die die Wissenschaft nicht kennt: Aufhebung von Raum, Zeit, Lichtgeschwindigkeit, Schwerkraft, Sichtbarkeit; Beseeltheit von Materie, Animismus, „Feinstoffliches“, „Erdstrahlen“, „Aura“, „Astralkörper“, Amulette, Talismane. Zauberkräfte. Fernwirkung von Gebeten, Opfern, guten oder bösen Wünschen. – Aufhebung von physiologischen Bedürfnissen: Atemluft, Durst, Hunger, Schlaf. 2. „Weltgesetze“, (unüberprüfbare) Grosse Theorien über Welt, Mensch, Gesellschaft, Bestimmung, Schicksal, Philosophien, Sinnfrage, Fügung, Karma, Schuld, Verdienst, Erlösung, Gottes Wille, „höhere“ Ziele und Absichten. – Können wir unser Leben selbst steuern oder sind wir gesteuert? Wie weit sind wir mächtig und eigenverantwortlich, wie weit sind wir hilflos ausgeliefert, ohnmächtig? „Die Welt ist gut / böse“. „Die Natur weiss, was gut für uns ist“... 3. weit weg: Orte: Jenseitsvorstellungen, Paradies, Hölle, Fernwirkung der Gestirne;

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4. Wesen: Götter, Engel, Ausserirdische, UFOs 5. vor langer Zeit Weltentstehungsmythen, Entstehung des Lebens, Sagen, Märchen, „es war einmal“ 6. vor der Geburt, nach dem Tod (Reinkarnation), in ferner Zukunft Prophezeiungen, Erlösungsfantasien, ewiges Leben, Utopien, Perpetuum mobile... 7. Zukünftige Auswirkungen von Neuem, noch nicht Erprobtem: „Das Fahrrad um 1900 als Welterlöser und Weltzerstörer“. Atomenergie, Genetik, Umweltfragen, Drogen, HIV, Raumfahrt, moderne Technik, Computer... 8. Seelisches: psychologische Theorien, bevorzugt über die Psyche von Kindern, von Ungeborenen, Seelenleben von noch nicht Gezeugten, von schon Verstorbenen... 9. Dämonisierung: „vergöttern“, „verteufeln“, Glorifizierung, „Liebe“, Liebeswahn, Feindbilder (= ein Glaube contra naturam insofern, als Menschen keine Engel oder Teufel sind). 10. Ganz Persönliches, Individuelles, Einmaliges, das einer Überprüfung nicht zugänglich ist: Visionen, Körperempfindungen, Wahrnehmungen, Botschaften, Eindrücke, religiöse Erlebnisse, Evidenzerlebnisse. 11. Falsche Interpretation von Koinzidenzen, denen eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Abergläubige unterschätzen die Häufigkeit von Zufällen (Brugger) 12. Falsche Analogien nach der Sprache, nach dem Klang, nach scheinbaren Ähnlichkeiten... Werden durch die Zunahme des gesicherten Wissens die Bereiche, in denen magische Vorstellungen angesiedelt werden können, kleiner oder weniger? Einerseits mag das so scheinen. Gleichzeitig hat man den Eindruck, dass mit dem Zuwachs an Erkenntnis auch die Unbekannten und damit der Raum für neue Spekulationen zunehmen. – Das Verhältnis von Glaube und Wissen gleicht dem zweier gegnerischer Parteien im Geländekampf: Den Wissenschaften gelingen ständig Geländegewinne. Der Glaube muss sich aus diesen Gebieten zurückziehen und zugleich begibt er sich in neue, bislang noch unerschlossene Regionen, zu denen die Wissenschaft mindestens vorerst keinen Zugang hat (Tab. 3).

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Warum Glaube so viel attraktiver ist als Wissen Wie kommen Glaubensvorstellungen zustande? Es gibt zwei Wege, um zu Glaubensvorstellungen zu kommen. Der eine führt über die Überlieferung: Wir können nicht alle Annahmen selbst ausdenken. Wahrscheinlich das meiste Glaubensgut übernehmen wir in der Art eines „blinden Gehorsams“ unhinterfragt von unseren Eltern, Lehrern und der Gesellschaft, in der wir aufwachsen. Solche gemeinsame Annahmen sind wichtig für die Kommunikation und den Zusammenhalt einer Gruppe. Und selbst wenn alle das Falsche glauben, fällt das vielleicht für lange Zeit nicht weiter auf. – (Nota: Der Wahnkranke isoliert sich, der Gläubige verbündet sich mit anderen). – Diese Einigkeit macht bekanntlich stark und ist wahrscheinlich in der Evolution ein Selektionsvorteil: Die Gruppe stellt einen grösseren Genpool dar, der resistenter gegen Krankheiten ist, die Gruppe ist auch effizienter bei der Arbeitsteilung, bei der Verteidigung gegen Feinde... – Hingegen: Etwas zu denken, das unsere vertrauten Vorstellungen in Frage stellt, ist unbequem, macht eventuell Angst. Dem höchsten Wert der Eltern, der Familie, der eigenen Kultur eine Absage zu erteilen, ist riskant, braucht Mut, macht einsam und fällt dementsprechend nicht leicht. Als Alleinstehender ist man auch exponierter und gefährdeter als ein Mitglied einer Gruppe. Anders liegen die Verhältnisse, wenn jemand Glaube nicht einfach übernimmt, sondern selbst zu einer neuen und eigenen Glaubensüberzeugung gelangt. Glaube, Vermutungen, Spekulation und Fantasie sind Assoziationsleistungen des Gehirns. Unser Gehirn hat eine Tendenz, zwischen bereits vorhandenen Informationen Verknüpfungen herzustellen, es sucht nach Bindegliedern, nach Regeln und Gesetzmässigkeiten und macht Brückenschläge. Möglicherweise war solches Spekulieren im Lauf der Evolution überlebenswichtig und brachte einen Selektionsvorteil. Wissen buchstäblich als Macht. Glaube als Bewältigungsversuch im Überlebenskampf. Wer die besseren Schlüsse zieht, hat die besseren Überlebenschancen... Die Bereitschaft verschiedener Menschen zu solchen assoziativen Schlussfolgerungen ist von Natur aus sehr unterschiedlich (zu testen mit der Magical Ideation Scale; Eckblad & Chapman 1983). Das Spektrum reicht von den Leichtgläubigen, die überall Bezüge herstellen, wo keine existieren, bis zu den Kritikern und Zweiflern, die selbst offensichtliche Zusammenhänge nicht anerkennen (Bem & Honorton 1994). Die Funktion des medialen

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Temporallappens scheint dabei eine entscheidende Rolle zu spielen (Brugger et al. 1994). Glaubensbildung resultiert also aus dem Versuch, über das Gewusste und Wissbare suchend und spekulativ hinauszugehen, mit dem Ziel, das eigene Weltbild zu erweitern, das Leben besser zu bewältigen und sich damit einen Vorsprung und Sicherheit zu verschaffen. Man könnte auch sagen, es handle sich um eine Art „Testlauf“, vergleichbar der Hypothesenbildung in den Wissenschaften. Solange man nichts Besseres weiss, muss man sich mit einer Vermutung begnügen. In diesem Sinn ist vermutender Glaube immer ein „Wagnis“ und bekanntlich oft der Vorläufer von Wissen. Solche Glaubensvermutungen werden einerseits aus Notwendigkeit geboren, um sich in einem Gebiet mit Unbekannten besser orientieren, besser schützen, um besser entscheiden und überleben zu können. – Vor allem in Notlagen, bei Krankheiten und Existenzbedrohung, sind neue Antworten dringend notwendig. Da kann es lebensrettend sein, dass man sich „etwas einfallen lässt“ und in der Lage ist, sich „etwas auszudenken“. – In Analogie dazu spricht Scharfetter in seiner Psychopathologie von „Wahn bei unerträglicher Selbstkränkung“ (S.186), „Wahn als Ersatzwirklichkeit für armselige Realität“ (S.196) und „Selbstrettung im Wahn“ (S.195) (Scharfetter 1985). Glaube wie Wahn als Hilfsmittel. Und oft wird dabei zu schnell eine Antwort gegeben, wo noch keine zur Verfügung ist, und wo die geistige Disziplin verlangen würde innezuhalten und zuzugeben, dass man nicht weiss. – Ähnlich hat man sich in Prüfungssituationen in der Schulzeit verhalten, wo man auch dachte, es sei besser irgendeine Antwort zu geben als gar keine, was natürlich oft ins Auge ging. Die Not, auf die wir mit dem Glauben an das Übernatürliche antworten, resultiert vor allem aus unseren Ängsten. (Hölderlin, „Patmos“: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.): Ängsten vor Unglück, Krankheit und Tod; Angst, dass es keine Gerechtigkeit gibt, dass der Zufall blind ist, dass man im Leben einfach Pech haben kann und niemand uns zur Seite steht; dass wir vielleicht nicht stärker, nicht besser, einer „Erlösung“ nicht würdiger sind als unser Nachbar; Angst schliesslich, dass es eine zweite Lebenschance nicht geben wird...) Und in dem Mass, in dem wir Ängste bannen, erfüllen wir uns mit solchen Vermutungen auch Hoffnungen: dass wir mit Hilfe übernatürlicher Kräfte und eines allmächtigen Helfers, den wir durch Opfer und einen tugendhaften Lebenswandel für uns zu gewinnen suchen, unsere Begrenztheit, Ohnmacht, Gefährdung und Vergänglichkeit zu überwinden vermöchten. – Man kann das eine „Flucht in den Glauben“ nennen. Eugen Bleuler sagt (p.104), „im Glauben erfüllen wir uns Herzens-

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bedürfnisse“ (Bleuler 1919). Wir schaffen uns ein Gefühl von Sicherheit, von Schutz vor Existenzbedrohung, von Sinn, von Halt und Geborgenheit im Kosmos. Ich möchte an diesem Punkt kurz auf die Etymologie von Wahn eingehen: indogermanische Wurzel wen, engl. win verwandt mit neuhochdeutsch Gewinn. Von vielen psychotischen Wahnideen wissen wir, dass sie nicht primäre Krankheitssymptome sind, sondern sekundäre Bewältigungsstrategien, indem sie den Kranken helfen, ihre bedrohten Selbst- und Objektbilder hochzuhalten. Ähnliches könnte man von den Glaubensinhalten sagen: Dass sie Hilfen sind angesichts der Erfahrung, wie bedroht unser Leben ist. Wenn wir an diesem Punkt die Frage stellen, warum die Bereitschaft zu glauben sich bis heute so standhaft hält, so mag einer der Gründe dafür sein, dass gläubig zu sein einen Selektionsvorteil darstellt: Wie wir gesehen haben, tröstet der Glaube, er unterstützt das Selbstwertgefühl, macht mutig, hilft gegen Resignation und wirkt antidepressiv. Er stärkt auf allen diese Weisen die Immunabwehr. Denken Sie bitte an die positive Wirkung des Placeboeffekts! Es existieren mittlerweile zahlreiche Untersuchungen aus verschiedensten Gebieten der Medizin, die zeigen, dass religiös Gläubige eine bessere Prognose haben als Ungläubige (Strawbridge et al. 2000, Strawbridge et al. 2001, Oman & Reed 1998, Neeleman 1998, Levin 1996, Kark et al. 1996). Es scheint also, dass Menschen, die von einem Glauben getragen sind, eher überleben, als die Ungläubigen, die alles relativieren und anzweifeln. Und das mag im Lauf der Zeiten dazu geführt haben, dass vor allem Menschen, die zum Glauben neigen, übrig geblieben sind. – Unsere Fantasie wird aber nicht nur durch Not angeregt, sie hat auch etwas eigenständig Spielerisches, etwas von einem „schönen Luxus“. Der schöpferischen Fantasie verdanken wir die Kunstwerke, viele weiterführende Einfälle in den Wissenschaften und viele Annehmlichkeiten im Alltag, die nicht unbedingt aus Notwendigkeit, sondern einfach so, aus Lust am Fantasieren entstanden sind. Eine Eigenheit der Fantasie ist ihre Leichtigkeit, sich buchstäblich „alles Mögliche“ auszudenken. Diese „Leichtfüssigkeit“ führt zu einem Missverhältnis mit der vergleichsweise schwerfälligen Realität, die da nicht mithalten kann. (Schiller, Wallensteins Tod, 2,2 : „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stossen sich die Sachen“. Th.Mann „Enttäuschung“: „Die Sprache... ist überschwänglich reich im Vergleich mit der Dürftigkeit und Begrenztheit des Lebens... Das menschliche Mitteilungsbedürfnis...hat sich Laute erfunden, die über diese Grenzen hinweglügen“).

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Diese Diskrepanz lässt uns unser Beheimatetsein in dieser Welt mitunter als ein Gefangensein erleben. Gefangene haben bekanntlich nichts anderes im Sinn als Flucht. Der Gedanke, dass die von den Naturgesetzen festgelegten Grenzen aufgehoben werden könnten, dass Raum, Zeit, Schwerfälligkeit, Dummheit, Bosheit... überwunden werden könnten, dass es etwas Allmächtiges gebe, das stärker ist als alle Hindernisse, etwas Allwissendes, Allgegenwärtiges, Allheilsames, Gerechtes, Ewiges... ist zu verlockend, als dass man sich verbieten möchte, ihn zu denken. Das Ende unserer Mühen scheint da verführerisch nahe. Und wenn die Realität zu schmerzlich, zu unerträglich ist und/oder die Fantasie zu lebhaft: dann wird die Grenze zwischen Realität und Fantasie durchlässig, es wird nicht mehr sorgfältig zwischen beiden unterschieden und die Frage, ob diese Art Erlösungsvorstellungen nicht einer realen Grundlage entbehren, wird ausgeblendet. Mit der Zeit können die tröstenden, scheinbar schützenden, rettenden Ideen zu einer lieben Gewohnheit werden, die das seelische Gleichgewicht stabilisiert. Und je nachdem, wie notwendig die Glaubensinhalte für das Wohlbefinden sind und wie ungewiss man gleichzeitig über ihren Wahrheitsgehalt ist, desto fanatischer und intoleranter wird an ihnen festgehalten und werden sie verteidigt.

Warum ist Wissen verhältnismässig unattraktiv? Wissenschaft ist eine strenge Disziplin. Als „Wissen“ darf nur gelten, was überprüft ist. Vom sorgfältigen Forscher verlangt man, dass er seinen eigenen Standpunkt und seine eigene Ausrichtung hinterfragt. Um wie viel einfacher sind dagegen die „Wahrheiten“ von Glaube und Aberglaube zu haben, die wir uns, je nach unseren emotionalen Bedürfnissen, sozusagen nach Mass schneidern. Die Gegebenheiten der Welt sind für unsere Sinne nur zu einem kleinen Teil direkt erfahrbar. Unsere geistig, sinnliche Ausstattung ist evolutionsbiologisch nicht sehr alt. Sie reicht für ein Überleben auf diesem Planeten so einigermassen knapp aus. Unsere Wahrnehmung, unser Gedächtnis und unsere Logik sind, wie man auf Schritt und Tritt erfahren kann, recht fehlerhaft und spielen uns häufig Streiche (Stoffels & Ernst 2002). Und für viele Gegebenheiten haben wir überhaupt keine Sinnesorgane. Viele Tatsachen können wir nur mit aufwendigen Apparaturen indirekt erschliessen. Das alleine macht den Zugang zu Wissen kompliziert und unerfreulich. Und

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damit wird es auch immer schwieriger, sich über Sachfragen korrekt zu informieren. Kommt dazu, dass Wissen ständig im Fluss ist. Bekanntes Wissen wird durch neue Erkenntnisse ständig relativiert und überholt. Das rastlose Weiterschreiten in den Wissenschaften beschert uns nicht nur eine gewaltige, einschüchternde Menge an Wissen, es stört uns auch insofern, als wir gerne ewige Werte hätten, als Heilmittel gegen das Gefühl der Unsicherheit und Fragwürdigkeit unserer Existenz. Gerade in einer so schnelllebigen Zeit wie der unsrigen, wären wir auf dauerhafte Werte besonders angewiesen. Ein weiterer Grund, warum die Ergebnisse der Wissenschaften nicht unbedingt willkommen sind, ist, dass Natur kein Wesen ist, das in menschlicher Weise auf irgendetwas Rücksicht nimmt. Naturgesetze gab es schon lange, bevor es Menschen mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten gab. Die Fakten kümmern sich nicht darum, welche Welt uns gefallen würde. Sie sind einfach, wie sie sind. Das ist auch der Grund, warum Wissenschaft von vielen Menschen als „kalt und unmenschlich“ abgelehnt wird, die Produkte unserer Fantasie hingegen als „menschlicher“, gefühlswärmer und die Herzen mehr anrührend empfunden werden (Hell 2003). Eine gute Vorstellung davon, warum Glaubensvorstellungen für viele Menschen attraktiver sind als Wissen, bekommt man, wenn man sich vor Augen führt, wie sich die Welt unter der Optik der Wissenschaft und entkleidet von Glaubensinhalten darstellt: Das ist eine Welt, in der es „nur“ die Naturgesetze gibt, keine „non ordinary reality“, (wie sie die New-Age-Bewegung postuliert), keine „alternative“ Physik, auch in der Not keine Ausnahmen, keine Extrawürste, keine Tricks. Nichts „Höheres“, „Suprahumanes“, nur Natur pur: ohne irgendeine Absicht oder einen Sinn und ohne Interesse an uns Menschen. Als Folge von Mutation und Selektion ist zufällig menschliches Leben entstanden, das sich bis heute halten und vielleicht sogar ein bisschen weiterentwickeln konnte. Das individuelle Leben, dasjenige, das wir als „ich“ erleben, ist begrenzt von Zeugung und Tod. Niemand kann sich die Umstände, in die er hineingeboren wird, aussuchen, auch nicht die eigenen Eigenschaften, mit denen er sich im Leben besser oder schlechter zu behaupten vermag. Niemand wird gefragt, ob er das, was er später „mein Leben“ nennen wird, überhaupt haben will. Wenn wir uns nicht umbringen, sind wir Gefangene dieses Lebens, für das wir als Erwachsene dann auch noch Verantwortung übernehmen sollen.

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Gefühle wie Liebe, Fürsorge, Treue, Hass, Neid, Verachtung... sind weitgehend Ausdruck von Überlebensstrategien, die sich als Überlebenshilfen im Lauf der Evolution notwendend bewährt haben. Und es gibt niemanden „über“ uns, der von den Naturgesetzen ausgenommen wäre, der mehr weiss und mehr kann; der etwas mit uns im Sinn hätte, dem wir etwas bedeuten, der für Gerechtigkeit besorgt wäre und uns zuletzt erlöst oder verdammt. Und kein Volk ist ein „auserwähltes“ und kein Land kann für sich beanspruchen „God’s own country“ zu sein. – Ein solches Welt- und Menschenbild – wie es sich aus dem heutigen Wissensstand in etwa ableiten lässt – widerspricht so sehr allen überlieferten Vorstellungen und genügt den emotionellen Bedürfnissen so wenig, dass es nicht schwer fällt zu erklären, wieso es bisher nicht allgemeiner akzeptiert wird.

Normalität Nach allem bisher Gesagten drängt sich die Frage auf, können Menschen überhaupt ohne Vermutungen, ohne unbewiesene Annahmen, ohne Glaubensvorstellungen auskommen? Legen wir jenseits der Grenzen unseres Wissens nicht immer einen fantastischen und zauberhaften Glaubensgarten an? Und über wie viel Wissen verfügen wir tatsächlich, wenn wir meinen zu wissen? Vor einigen Wochen ging durch die Presse die Nachricht („Mut zur Lücke“, Neue Zürcher Zeitung 12.2.2003, S. 57), unter Kosmologen habe sich ein neues Weltbild durchgesetzt, gemäss dem wir in einem Universum leben, das nur zu 4% aus gewöhnlicher Materie bestehe und zu 96% aus „dunkler Materie“ und „dunkler Energie“, auf deren Existenz man zwar durch Messungen und Berechnungen schliessen könne, von denen aber niemand wisse, worum es sich handelt. – Eine andere, auch recht beeindruckende Nachricht besagt, dass sich bei Vaterschaftsuntersuchungen in 20% der angebliche Vater nicht als der biologische Vater herausstellt. – Was wissen wir also wirklich über uns selbst und über die Welt? Wenn Freud (1927) in „Die Zukunft einer Illusion“ (S.135) noch schreiben konnte: „Die Unwissenheit ist die Unwissenheit; kein Recht, etwas zu glauben, leitet sich aus ihr ab“, so wäre das nun dahingehend zu ergänzen, dass es wohl unmöglich ist, Überzeugungen nur auf gesichertes Wissen abzustützen, und dass es ein weit verbreitetes Bedürfnis gibt, darüber hinaus

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zu spekulieren, zu fabulieren und zu glauben. Die Verfassungen der meisten Länder tragen diesem Umstand auch Rechnung mit dem „Recht auf Glaubensfreiheit und Glaubensausübung“. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass selbst ausgewiesene Naturwissenschaftler oft nicht ohne Glaubensüberzeugungen auskommen. Einsteins Ausspruch „Gott würfelt nicht!“, ist schon zu einem geflügelten Wort geworden. Nicht weniger erstaunlich ist ein Zitat von Heisenberg, der sagte: „Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott“. Sehen wir uns in unserem eigenen Berufsfeld Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie etwas um, so stossen wir auch sehr schnell auf unbewiesene Annahmen, die wir bei der eigenen Tätigkeit und der eigenen Fachrichtung vielleicht nicht sehen, aber dafür umso klarer bei KollegInnen anderer Schulrichtungen. Bei einem Blick in die Geschichte unseres Fachgebiets staunt man, was alles im Lauf der Zeiten zum Teil mit grosser Überzeugung geglaubt und praktiziert und dann doch wieder verworfen wurde und in Vergessenheit geriet. Scharfetter (2002) hat kürzlich formuliert: „Der Mensch ist ,von Hause aus’ Mythopoet, er ist darauf angewiesen, sich bildhafte Geschichten von sich und seiner Welt zu schaffen.“, und in seiner Psychopathologie schreibt er (Scharfetter 1985, S.169): „Der Mensch ist grundsätzlich wahnfähig ... Wir erleben immer bedeutunggebend, interpretativ, sinngebend“. – Wenn das so ist, welche Möglichkeiten haben wir, um zu entscheiden, ob Glaubensinhalte bedeutende Ideen sind, die uns weiterbringen, oder nur arbiträre und ephemere Füllsel oder Wahnideen? – Nur Distanz kann da helfen. Manchmal gelingt es einem selbst sich zu distanzieren, manchmal leistet einem diesen Dienst eine Therapeutin oder ein Therapeut, eine gute Freundin oder ein guter Freund. Bei kollektiven Glaubensinhalten sind es entweder die geographische Entfernung oder der zeitliche Abstand, die den Blick frei machen.

Wie soll, wie kann man mit Glaubensvorstellungen therapeutisch umgehen? Glaubensinhalte haben immer den Stellenwert eines Therapeutikums. Mir kommt dazu die Empfehlung aus dem Markus-Evangelium in den Sinn, die meist so recht schnoddrig hingeworfen wird, „wer’s glaubt, wird selig!“, (abgeändert nach Markus 16,16), und ich möchte dafür plädieren sie nicht

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nur, wie es meist geschieht, abschätzig zu verstehen, sondern in ihrem tatsächlichen Wortsinn: Im Glauben bescheren wir uns Seligkeit. Wie gesagt, gläubige Patienten haben eine bessere Prognose. Selbst Freud (1927), der alte Skeptiker, spricht in seiner antireligiösen Brandschrift „Die Zukunft einer Illusion“ (S.122) von einem „Schatz von (Glaubens)Vorstellungen“ und (S.145) von einem „Schatz der religiösen Vorstellungen“. Natürlich läuft man, wenn man im Glauben nur ein kostbares Gut sieht, Gefahr, einem Unsinn, einer Täuschung oder einem Wahnsinn aufzusitzen. Aber, wie heisst es schon in Sebastian Brants „Narrenschiff“ von 1494: „Die Welt will betrogen sein“ (Lemmer & Niemeyer 1962). – Selbstverständlich habe ich noch den Satz aus der Bibel im Ohr, „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8,23), und nicht vergessen kann ich auch Ingeborg Bachmanns Ausspruch, „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“. Und ich muss gestehen, diese Sätze bedeuten mir viel und ich lasse mich immer wieder gerne durch sie leiten. Zugleich denke ich, dass sie Idealforderungen sind, und ob es nicht realistischer ist anzunehmen, dass wir immer ein Stück weit Getäuschte sind, zu unserem Wohl oder zu unserem Schaden. Darum will ich kein Hehl daraus machen, dass ich am Ende dieser meiner Expedition auf der Suche nach Wahrheit geneigt bin, es mit Ibsen (1907) zu halten, der in der „Wildente“ sagt, „Die Lebenslüge ist ein stimulierendes Prinzip“, und, „Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge nehmen, nehmen Sie ihm sein Glück“. Wenn man als Therapeutin / als Therapeut mit Überzeugungen konfrontiert ist, von denen man vermutet, sie seien irreal oder wahnhaft, kann es hilfreich sein, sich folgende Fragen zu stellen: Wieso benötigt jemand eine bestimmte Glaubens- oder Wahnüberzeugung? Welchen Dienst erweist sie ihm in seinem Seelenhaushalt? In welcher Lage würde ein Mensch zurückbleiben, wenn dieser Glaube oder dieser Wahn wegfiele? Welche Auswirkungen haben seine Glaubensüberzeugungen auf Andere? Wenn man sich diese Fragen vor Augen hält, bekommt man in der Regel auch die nötigen Hinweise, wie man sich gegenüber Glaubens- und Wahnvorstellungen therapeutisch verhalten kann.

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Literatur Bachmann I.: Rede anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1958, Bonn, 17.3.1959 Berchtold-Stäubli H.: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. 10 Bde. W. de Gruyter, Berlin 1927-42 Bem D.J., Honorton C.: Does psi exist? Replicable evidence for an anomalous process of information transfer. Psychological Bulletin 115, 1994, 4-18 Bleuler E.: Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin und seine Überwindung (1919). 4. Neudruck der 5. Auflage, Springer, Berlin...1976 Brant S.: Das Narrenschiff (Stultifera Navis 1494). Hrg. v. M. Lemmer. M. Niemeyer, Tübingen 1962 Brugger P., Dowdy M.A., Graves R.E.: From superstitious behaviour to delusional thinking: the role of the hippocampus in misattributions of causality. Medical Hypotheses 43, 1994, 397-402 Brugger P., Graves R.E.: Testing vs. Believing Hypotheses: Magical Ideation in the Judgment of Contingencies. Cognitive Neuropsychiatry 2 (4), 1997, 251-72 Freud S.: Die Zukunft einer Illusion (1927). Fischer-Taschenbuch 10452, Frankfurt/Main 2000, Ss.107-158 Hell D.: Seelenhunger – Der fühlende Mensch und die Wissenschaft vom Leben. H.Huber, Bern 2003 Huxley A.: Geblendet in Gaza. Piper, München 1953 Ibsen H.: Sämtliche Werke in fünf Bänden. S. Fischer, Berlin 1907 Kant I.: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift 1784 Kark JD, Shemi G, Friedlander Y, Martin O, Manor O, Blondheim SH.: Does religious observance promote health? mortality in secular vs religious kibbutzim in Israel. Am J Public Health 1996 Mar;86(3):341-6 Langegger F.: Das Fahrrad um 1900 als Weltzerstörer und Welterlöser (Über Ängste und Hoffnungen am untauglichen Objekt). Vortrag, Schweiz. Ges. f. praktische Psychologie, Zürich, 23.3.1983 Levin JS.: How religion influences morbidity and health: reflections on natural history, salutogenesis and host resistance. Soc Sci Med 1996 Sep;43(5):849-64 McCullough ME, Larson DB.: Religion and depression: a review of the literature. Twin Res 1999 Jun;2(2):126-36 Nayha S.: Traffic deaths and superstition on Friday the 13th. Am J Psychiatry 2002, 159, 2110-1 Neeleman J.: Regional suicide rates in the Netherlands: does religion still play a role? Int J Epidemiol 1998 Jun;27(3):466-72

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Oman D, Reed D.: Religion and mortality among the community-dwelling elderly. Am J Public Health 1998; 88, 1469-75 Scharfetter Chr.: Allgemeine Psychopathologie. G. Thieme, Stuttgart ²1985 Scharfetter Chr.: Weltbilder und Wahn. Vortrag, 9. Frankfurter Psychiatrie-Symposium, 23.11.2002 Stoffels H., Ernst C.: Erinnerung und Pseudoerinnerung. Nervenarzt 2002,73,445-451 Strawbridge WJ, Cohen RD, Shema SJ.: Comparative strength of association between religious attendance and survival. Int J Psychiatry Med 2000;30(4):299-308 Strawbridge WJ, Shema SJ, Cohen RD, Kaplan GA.: Religious attendance increases survival by improving and maintaining good health behaviors, mental health, and social relationships. Ann Behav Med 2001 Winter;23(1):68-74

Workshopbericht

MICHAEL GRUBE

Psychodynamische Behandlungsansätze bei Wahnkranken Um neben den zahlreichen nomothetischen Betrachtungsweisen auch einem ideographischen Ansatz gerecht zu werden, wurde im Rahmen des 9. Frankfurter Psychiatriesymposions ein Workshop zu psychodynamischen Behandlungsansätzen Wahnkranker angeboten. In diesem sollte – ähnlich einem kasuistisch-technischen Seminar – die Arbeit am Einzelfall im Mittelpunkt stehen. Es bestand das Ziel, durch die Gruppenarbeit am konkreten Beispiel zu einer Gewichtung einzelner für das Verständnis und die Therapie relevanter Faktoren zu gelangen und die Komplexität der Interaktionen solcher Variablen transparenter werden zu lassen.

1. Erster Fall Die Resonanz war hoch, nach einer kurzen Einstimmung präsentierte eine Teilnehmerin einen ersten Fall: Sie berichtete von einer 50-jährigen Frau, die seit ihrem 25. Lebensjahr an einer manisch-depressiven Erkrankung leide. Sie sei auf Lithium eingestellt. Jetzt berichte die Patientin, dass sie einen Druck im Unterleib verspüre, der auf eine Schwangerschaft zurückzuführen sei. Sie sei davon überzeugt, dass die Geburt im Gange sei, das Kind jedoch stecken bleibe. Von dieser Überzeugung sei sie nicht abzubringen gewesen. Biographisch ließ sich herausarbeiten, dass die Mutter der Pat. sich zunehmend verändere. Sie würde „merkwürdig“. Es sei inzwischen eine Alzheimersche Demenz bei der Mutter diagnostiziert worden. Die Konkretisierung der Diagnose der Mutter sowie der Beginn der Überzeugung schwanger zu sein bei der Patientin würden gut zeitlich übereinstimmen. Besonders problematisch beurteile die Patientin die Tatsache, dass der Schmerz sehr unangenehm sei und „die Geburt stecken bleibe“. Mehrere Mitglieder der Arbeitsgruppe hatten verschiedene Nachfragen. Eine davon bezog sich auf die Beziehung zwischen Patientin und Mutter. Von Seiten der Kollegin wurde geäußert, dass es zeitlebens eine schwierige Beziehung gewesen sei. Die Mutter sei streng und dirigistisch gewesen, so dass die Patientin sie zeitlebens als Hassobjekt erlebt habe. Daraufhin assoziier-

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te ein anderer Gruppenteilnehmer, dass die Pat. möglicherweise die Mutter nicht loslassen könne. Eine weitere Assoziation war: Das Bild des Geburtsvorganges habe etwas Prospektives. Es weise auf etwas hin, was sich noch entwickeln könne. Die Patientin müsse sich möglicherweise auf die Situation einer kranken Mutter, die es ihr abverlange, selbständig und ohne Projektionsziel ihre Aggressionen zu leben, noch einstellen. An dieser Stelle hervorgehoben wurde die Wirkung des Erlebens der Patientin als möglicher Schutz („Parakonstruktion“; Hartwich, Grube 1999; Hartwich, Grube 2003): Die mit dem forcierten Ablöseprozess von der Mutter „freigesetzten“ Aggressionen könnten eine Psychosedekompensation nach sich ziehen. Durch das konkretistische Erleben eines „protrahierten Geburtsverlaufes“ würde zum Ausdruck gebracht, dass auch die seelische Dynamik protrahiert ablaufen müsse, um die mit der Veränderung einhergehenden Energien ohne Rückfall aushalten zu können. An diesem Punkt trat ein Entlassungseffekt bei der berichtenden Kollegin ein: Es sei ihr möglich, nunmehr das „festhalten müssen“ an den psychotischen Symptomen gelassener zu sehen, da die Symptombildung einen Schutz darstellen würde. Sie kam zu der Einschätzung, dass die Bearbeitung der sich verselbständigen wollenden Anteile der Patientin, die behutsam gefördert werden könnten, der Wahnbildung den Boden entziehen würden. Auch sei ihr klar geworden, dass die aggressive Mutter-Patientin-Problematik weiter bearbeitet werden müsse, um die Parakonstruktion „unnötig“ werden zu lassen. Wichtig hierbei erschien einem Workshop-Teilnehmer noch die Anregung, die stärker affektpsychotisch orientierte Psychopharmakatherapie vorübergehend neuroleptisch zu unterstützen.

2. Zweiter Fall Ein anderer Gruppenteilnehmer stellte einen weiteren eigenen Fall vor: Es handelte sich um einen jungen Mann, der nach einer schizophren-psychotischen Entgleisung gut rekompensiert werden konnte. Nach seiner Entlassung wollte er sich aufmachen, „seinen eigenen Weg zu finden“. Innerhalb kurzer Zeit nach der Entlassung kam es zu einer schweren psychotischen Desorganisation mit starken regressiven und aggressiven Anteilen. Hierüber war der berichtende Therapeut in großer Sorge und er machte sich viele Gedanken über den Patienten. Er suchte ihn mehrfach täglich auf der Station auf, der Patient erwies sich aber als unzugänglich. Nach drei Tagen nahm der Therapeut ihn mit in sein Dienstzimmer und sagte ihm eindrücklich, dass er ihm jetzt zuhören müsse und sich auch wieder „normaler“

PSYCHODYNAMISCHE BEHANDLUNGSANSÄTZE BEI WAHNKRANKEN

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verhalten müsse, dann könne er den Weg „sich selber zu finden“ weiter fortsetzen. Bemerkenswerterweise habe sich daraufhin eine deutliche Verbesserung im Verhalten des Patienten eingestellt. Auch die medikamentöse Compliance sei wieder besser geworden. Er habe der Einnahme einer neuroleptischen Medikation zustimmen können. Bei diesem eindrucksvollen Verlauf stellte sich den Workshop-Teilnehmern die Frage, welche Faktoren haben dazu beigetragen können? Ein Teilnehmer brachte zum Ausdruck, dass sich der Therapeut wie ein großer Bruder oder Vater verhalten habe und fragte, ob dies der Qualität der Beziehung entspreche? Dies wurde durch den Kollegen bejaht. Eine weitere Frage an den Therapeuten machte deutlich, dass der Patient ohne Vater aufgewachsen war. Somit war die Hypothese im Raum, dass der Therapeut sich hiermit unbewusst im Sinne einer Vaterübertragung verhalten habe, was zur Restrukturierung des Patienten beigetragen habe. Offensichtlich habe der Therapeut mit einer angemessenen Mischung von Sorge und „Strenge“ reagiert, die der Patient annehmen und positiv beantworten konnte. Resümierend wurde an diesem Fallbeispiel deutlich, dass es nicht nur wichtig ist, was gesagt wird, sondern auch wer es sagt. Die Bedeutung der Beziehung in der Therapie Psychosekranker wurde erneut unterstrichen.

3. Dritter Fall Ein weiterer Kollege berichtete noch einen anderen eigenen Fall: Es handelte sich um eine 74-jährige Frau, die 1994 mit einem starken auch sexuell geprägtem Beeinflussungserleben sowie akustischen Halluzinationen erstmals zur Aufnahme kam. Ab 1995 habe sie einen Abstammungswahn entwickelt, den sie mit Vorlegen von Dokumenten, die ihre adelige Herkunft belegen sollten, auch beweisen wollte. Aus der Familien- und Sozialanamnese sei deutlich geworden, dass sie aus einfachen Verhältnissen stamme und ein entbehrungsreiches Leben geführt habe. Bekannt sei weiterhin ein Herzinfarkt sowie ein Schlaganfall mit guter Rückbildung. In der Kernspintomographie sei eine vaskuläre Leukenzephalopathie mit mäßiger kortikaler Regression beschrieben worden. Erstmals sei die Patientin dekompensiert, nachdem sie vom Tod einer Schwester erfahren und ihr Lebensgefährte sie plötzlich verlassen habe. Ansonsten habe sie wenig Unterhaltung und „lebe vom Fernsehen“. Ein Gruppenteilnehmer assoziiert zu dieser Falldarstellung, dass der Abstammungswahn der Patientin ein Gefühl von Macht und Bedeutung verleihe. Ein anderer Gruppenteilnehmer berichtet, dass der Systematisiertheitsgrad dieses Wahnes so hoch sei, dass die im Wahn gelege-

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ne Festigkeit vor dem Zerfall in polysymptomatisch-desorganisierte psychotische Zustände schütze. Diese Gefahr sei hier besonders hoch, da eine bestehende schizophrene und zusätzlich auch hirnorganische Dekompensationsgefahr durch einen Kontaktmangel verstärkt werde. Ein weiterer Workshop-Teilnehmer machte deutlich, dass er trotz der hirnorganischen Anteile in der elaborierten Wahnkonstruktion – ähnlich dem ersten Fall – eine Schutzfunktion sehen könne. Es stelle sich ihm die Frage, inwieweit die ältere Pat. davon „loslassen“ könne, da mit fortschreitendem Alter hier eher eine Verschlechterung der hirnorganischen Funktionen und damit einhergehend eine höhere Dekompensationsgefahr zu befürchten sei. Auch bei dieser Besprechung wurde ein Perspektivenwechsel beim berichtenden Kollegen deutlich: Die Persistenz des schwer zu behandelnden chronifizierten Abstammungswahns wurde nicht mehr als so „bedrohlich“ und frustrierend erlebt, da es in der Psychodynamik der Betroffenen „einen Sinn“ mache. Auch könne er nun die notwendige neuroleptische Behandlung in einer besseren Form in ihrer Bedeutung gewichten und würde nicht mehr so schnell zu einem „Aktionismus“ verleitet. Mit der dritten Falldarstellung war die zur Verfügung stehende Zeit um; für den Berichterstatter war es eindrucksvoll mitzuerleben, wie intensiv in einer Gruppe, die über 30 Teilnehmer erfasste, das wesentliche der jeweiligen Dynamik herausgearbeitet werden konnte, ganz im Sinne der eingangs formulierten Zielvorstellungen. Die Gruppenteilnehmer zögerten nicht, eigene Beispiele und Assoziationen zu berichten, so dass den berichtenden Kollegen Orientierungshilfen sowie emotional Entlastendes nahegebracht wurde. Insbesondere die Erkenntnis, dass Wahnbildungen Schutzfunktionen haben können („Parakonstruktionen“), führte zu einem Perspektivenwechsel und zu der Einsicht, dass es effektiver sein kann, „mit dem Wahn“ zu arbeiten als gegen ihn. Mit einer solchen Haltung können Patienten sich besser verstanden fühlen und selbst beim Wahnkranken kann sich eine tragfähige Beziehung entwickeln.

Literatur Hartwich P, Grube M (1999) Psychosen-Psychotherapie – Tiefenpsychologisch fundiertes psychotherapeutisches Handeln in Klinik und Praxis. Steinkopff Verlag, Darmstadt Hartwich P, Grube M (2003) Psychosen-Psychotherapie – Psychodynamisches Handeln in Klinik und Praxis. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, Steinkopff Verlag, Darmstadt