Depression und Manie: Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen 9783666457753, 9783525457757, 9783647457758

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Depression und Manie: Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen
 9783666457753, 9783525457757, 9783647457758

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Stavros M e n t z o s

Depression und Manie Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen M i t 5 Abbildungen u n d 3 Tabellen

5. Auflage

Vandenhoeck & R u p r e c h t i n Göttingen

© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8

Bibliografische I n f o r m a t i o n der Deutschen Nationalbibliothek D i e Deutsche N a t i o n a l b i b l i o t h e k verzeichnet diese P u b l i k a t i o n i n der Deutschen N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; detaillierte bibliografische Daten sind i m Internet über abrufbar. I S B N 978-3-525-45775-7 I S B N 978-3-647-45775-8 ( E - B o o k ) © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht G m b H & C o . K G , Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht L L C , Oakville, C T , U.S.A. www.v-r.de A l l e Rechte vorbehalten. Das W e r k u n d seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede V e r w e r t u n g i n anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen E i n w i l l i g u n g des Verlages. H i n w e i s z u § 52a U r h G : Weder das W e r k n o c h seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche E i n w i l l i g u n g des Verlages öffentlich zugänglich gemacht w e r d e n . Das gilt auch bei der entsprechenden N u t z u n g für L e h r - u n d Unterrichtszwecke. P r i n t e d i n Germany. Gesamtherstellung: H u b e r t & Co., Göttingen. G e d r u c k t auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort Einleitung

9 13 /. Psychodynamik

der

Depression

Die psychoanalytischen Depressionstheorien

19

Depression und narzißtisches Gleichgewicht Herabsetzung des Selbstwertgefühls oder Objektverlust? Die zwei intrapsychischen »Bankkonten« Das Dreisäulenmodell Differentialpsychodynamik depressiver Zustände

32 32 36 38 43

Depressiver Affekt, intrapsychischer Stillstand und drei Circuli vitiosi Der depressive Affekt Drei psychische Circuli vitiosi Somatische Circuli vitiosi

50 50 53 56

Depressiver K o n f l i k t und die Problematik der Aggressionshemmungs-Hypothese K o n f l i k t und Depression Aggressionshemmung und Depression

59 59 62

Der sogenannte Masochismus Die Theorie des primären Masochismus

65 66

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Das klinische Bild des sogenannten »moralischen Masochismus« Der erogene Masochismus Der sogenannte Masochismus als »Strategie« und Schutzmechanismus Masochismus und Depression Psychodynamik der Manie

IL

67 73 74 78 82

Therapie

Drei Behandlungsberichte

91

Ziele und therapeutische Technik einer psychoanalytisch orientierten Psychotherapie psychotischer Depressionen und Manien - der Stellenwert der Psychopharmaka Veränderte therapeutische Technik Drei Behandlungs-Settings Komplikationen Auszug aus der Behandlung von Frieda P. Ist »Einsicht« der therapeutisch hauptsächlich wirksame Faktor? Z u r Psychotherapie der Manie Antriebsarme »leere« Depression Die Anwendung von Antidepressiva sowie Psychopharmaka i m allgemeinen Kurzer Vergleich m i t anderen psychotherapeutischen Verfahren bei affektiven Psychosen Zusätzliche Bemerkungen zur therapeutischen Technik

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120 121 123 125 127 131 133 135 138 141 146

777. Klassifikatorische

und ätiologische

Aspekte

Versuch einer psychodynamischen Klassifikation psychischer Störungen Die Polarität zwischen Selbst- und Objektbezogenheit K o n f l i k t , Modus der Verarbeitung und der sogenannte Defekt Ich und sekundärer Prozeß versus Es und primärer Prozeß K o n f l i k t und Bipolarität der M o d i Psychotische, neurotische, reaktive Depressionen und das somatische Äquivalent - Narzißtische Krisen Psychodynamische Präzisierung einer traditionellen Klassifikation Narzißtische Krisen und Depression Somato- und Psychogenese - »Endogene« Psychosen als somato-psychosomatische Erkrankungen (Psychosomatosen des Gehirns) Das Problem und die Notwendigkeit einer Integration Das psychosomatische Paradigma Ein v o m psychosomatischen Paradigma inspiriertes M o d e l l Theoretische und praktische Vorteile des Modells

153 154 158 161 163 169 169 175

177 177 180 184 189

Zusammenfassung

194

Literatur

198

Sachregister

202

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Vorwort

Die große Fülle von empirischen Befunden, die eindeutig für eine Somatogenese - für die körperliche Verursachung - der psychotischen Depression und Manien sprechen, ebenso wie der unbestreitbare (wenn auch relative) therapeutische oder sogar prophylaktische Erfolg der antidepressiv wirkenden Psychopharmaka, könnten den Untertitel dieses Buches, wenn nicht absurd, so doch reichlich überzogen erscheinen lassen. Kann man überhaupt i n sinnvoller Weise von Psychodynam i k , geschweige denn von Psychogenese und Psychotherapie bei Störungen sprechen, deren Auftreten von chronobiologischen und erbgenetischen Faktoren mitbedingt, deren erneutes Auftreten i n einem großen Prozentsatz durch L i t h i u m verhindert oder gemildert, deren manifeste Symptomatik m i t Hilfe der Antidepressiva oft erfolgreich bekämpft w i r d und die schließlich auch ohne jegliche Therapie nach einigen Wochen oder Monaten spontan abklingen und i n das sogenannte »freie Intervall« übergehen? Bemerkenswerterweise werden heute auch von Vertretern der biologischen Psychiatrie diese Fragen selten gestellt. M a n liest i m Gegenteil i n vielen wissenschaftlichen Abhandlungen von der Notwendigkeit einer auch psychotherapeutischen Begleitung des depressiven Patienten, und es werden viele Therapieprogramme für Patienten i n psychiatrischen Kliniken vorgestellt, die v o m Bewältigungstraining über die kognitive Verhaltenstherapie bis h i n zu der interpersonellen Therapie

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reichen. Ich meine nicht, daß es sich dabei nur u m bloße Lippenbekenntnisse und eine (im Hinblick auf den neuen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) berufspolitisch motivierte Anpassung handelt. Ich kenne viele klinische Psychiater, die m i t großem Engagement u m eine auch psychotherapeutische Begleitung ihrer depressiven Patienten bemüht sind. Darunter gibt es einige, die nicht nur psychodynamische Konzepte i n der Behandlung psychotisch affektiver Störungen anwenden (wie zum Beispiel K R Ö B E R 1992), sondern die auch theoretisch übergreifend eine Integration der biologischen, der soziologischen und der psychologischen Dimensionen anstreben. Dazu gehört beispielsweise D A N I E L H E L L , der sich i n seinem integrativen Ansatz fragt, welchen Sinn die Depression »mache« (1992). Diese Tendenz, dieser »Wille« zur Integration scheint i m Hinblick auf die gleichermaßen relevanten biologischen, psychosozialen und psychodynamischen Gegebenheiten ständig zu wachsen. Dennoch reicht der »Wille« allein noch nicht aus! Denn w i r stehen zwar (hoffentlich) vor keinem unlösbaren Problem, aber doch immerhin vor einem großen Rätsel: Wie k o m m t es, daß solche persönlichen, komplizierten, auch existentiell hoch signifikanten, psychischen Prozesse wie Sinnentleerung, Lebensüberdruß oder Versündigungswahn durch chemische Substanzen günstig beeinflußt werden können? U n d wie ist es auf der anderen Seite möglich, daß intensive körpernahe Symptome und Syndrome wie depressiver Stupor, Niedergeschlagenheit oder manische Erregung auch psychotherapeutisch beeinflußbar sind? Wie k o m m t es, daß der gleiche Prozeß sowohl deterministisch erklärbar und manchmal sogar - etwa beim Absetzen bestimmter M e d i k a mente - voraussagbar ist und daß er auf der anderen Seite auch finalistisch, vom funktionalen Ziel der Abwehr, der defensiven Verarbeitung eines Konfliktes oder der sinnvollen Kompensation eines Mangels her genauso gut verstehbar ist? Ist Depression eine Krankheit, deren Verursachung es aufzudecken und zu beheben gilt? Oder stellt sie eine Lebenskri-

- 10 © 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8

se dar, die erst durch das Verständnis der dahinter liegenden Sinnzusammenhänge zu überwinden ist? Von der herrschenden Tendenz und dem steigenden »Willen zur Integration« stark motiviert, würde ich selbst spontan antworten: Beides! Eine solche Behauptung ist jedoch leichter gesagt, als i m Detail glaubwürdig gemacht, geschweige denn bewiesen. Das vorliegende Buch ist ein Beitrag zu diesem Versuch, die gewünschte und von den therapeutischen Zielsetzungen geforderte Integration i m Detail voranzutreiben und zwar m i t Hilfe eines zwar psychoanalytisch inspirierten, aber ebenso intensiv an der psychiatrisch-klinischen Erfahrung orientierten Modells und auch aufgrund von Erfahrungen bei langfristigen psychotherapeutischen Behandlungen v o n Patienten mit affektiven Psychosen unter verschiedenen Settings. Meinen Dank möchte ich auch diesmal an erster Stelle an Frau Dr. med. E V E M A R I E S I E B E C K E - G I E S E für ihre große Hilfe aussprechen, nicht nur für ihre zahlreichen sprachlichen Korrekturen, sondern auch für ihr heilsames, ständiges Hinterfragen meiner Thesen und Formulierungen. Bei Frau I S A B E L L A F R E U N D , Frau A N N E L I E S E K E L L E R S u n d

Frau JUTTA L O V Ä S Z bedanke ich mich für die mühevollen Schreibarbeiten sowie bei Frau G R U D R U N V Ö L K E R für die wiederholten Korrekturen. STAVROS M E N T Z O S

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I I

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Einleitung

Die Termini »Depression« und »depressiv« werden sehr oft zur Bezeichnung von recht unterschiedlichen psychischen Z u ständen verwendet. Die entstandene begriffliche Unsicherheit und Verwirrung beruht jedoch nicht so sehr auf diesem fast inflationären Gebrauch (und Mißbrauch) der Termini als vielmehr auf der Tatsache, daß einige grundsätzliche Fragen, welche die Depression betreffen, bis heute nicht klar beantwortet wurden. Ich erwähne zunächst nur drei der hier relevanten Fragenkomplexe: a. M a n muß sich zunächst einmal fragen, w a r u m der Terminus Depression dazu benutzt w i r d , u m so unterschiedliche psychische Befindlichkeiten und Zustände wie folgende zu benennen: - Schuldbeladene Zurückgezogenheit und Deprimiertheit voller Selbstvorwürfe und Selbsterniedrigung, »Schulddepression« also. - Deprimiertheit, die von Agitiertheit und nach außen gerichtetem V o r w u r f sowie von einer hartnäckig verlangenden und kritisierenden Haltung begleitet w i r d , »agitierte und fordernde Depression« also. - Resignative Hoffnungs- und Hilflosigkeit m i t extremer A n hänglichkeit - eine »anaklitische Depression«. - Massive, direkte oder »verfeinerte«, indirekte Autodestruktivität, also eine selbstzerstörerische Depression.

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- Innere »Leere« m i t dem »Gefühl der Gefühllosigkeit«, das heißt m i t der Blockade aller Affekte oder m i t der Unfähigkeit zu jeglicher Gefühlsregung, eine »leere Depression« also. b . Vom Gesichtspunkt der Ätiologie, von der Verursachung her betrachtet, muß man zweitens fragen, wie es k o m m t , daß Depression auf so unterschiedliche Umstände und kausale Bedingungen zurückgeführt w i r d , wie es i n den vielfältigen, i m klinischen Alltag üblichen diagnostischen Etikettierungen deutlich w i r d : D o r t spricht man nämlich von puberalen, k l i makterischen, postklimakterischen, postpartalen, involutiven Depressionen oder man diagnostiziert somatogene (durch Gehirntumor, Cortison oder andere Hormongaben, Alterungsprozesse etc. hervorgerufene) versus psychogene (reaktive, neurotische) oder endogen-psychotische Depressionen. c. Ein dritter Fragenkomplex schließlich bezieht sich auf die bei der Depression doch ungeklärten psychosomatischen und somatopsychischen Zusammenhänge: Ist das depressive Erleben ein somatopsychisches Phänomen? Ist es also die Folge eines primär körperlichen Vorganges? U n d sind i n diesem Fall die depressiven »Inhalte«, wie zum Beispiel die Selbstvorwürfe und die Versündigungsideen, bloße sekundäre Inhaltsbesetzungen unter dem Einfluß der herrschenden depressiven Stimmungs- und Antriebslage? Oder sind es umgekehrt bestimmte negative Erlebnisse, bestimmte aus ungelösten Konflikten hervorgehende intrapsychische Spannungen und Bedrückungen, welche den Betreffenden depressiv machen? I n diesem Fall entstünde also der depressive Affekt als verständliche Reaktion auf maßgebende Verluste, Trennungen, Kränkungen, Enttäuschungen und Erniedrigungen sowie andere konflikthafte Konstellationen, u m sich dann zu einer generalisierten depressiven Stimmung auszubreiten und schließlich zu den regelrechten depressiven Syndromen zu führen.

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Diese immer noch offene Frage erweist sich i n den letzten 15 bis 20 Jahren noch komplexer und schwieriger zu beantworten als früher, weil die Mehrheit der »Somatogenetiker«, also jener klinischen Psychiater, welche die erste Auffassung vertreten (die biologisch bedingte Stimmungslage erzeuge sekundär die depressiven psychischen Inhalte), gleichzeitig bereit waren und sind, auch die kognitive Therapie der Depression zu favorisieren. Letztere aber geht doch gerade davon aus, daß es bestimmte psychische kognitive Grundkonzepte (basic concepts) seien, welche die depressiven Patienten depressiv machen. Dies entspräche nicht einem biologisch, sondern einem psychogenetisch orientierten Depressionsmodell, wenn auch i m Sinne einer anderen Psychogenität, als die Psychoanalyse meint. Z u diesem letzten Problemkomplex gehört auch folgende Frage: Wenn die antidepressiv wirkenden Psychopharmaka »endogene« depressive Zustände dadurch günstig beeinflussen (und sie t u n es bestimmt), daß sie die ihnen vermeintlich zugrundeliegenden Verschiebungen von Neurotransmittern etc. korrigieren, wie erklärt es sich dann, daß die gleichen M e dikamente eine gewisse W i r k u n g auch bei anderen, nicht »endogenen«, sondern reaktiven oder neurotischen Depressionen haben? Das läßt sich zwar erklären, aber nur wenn man die Spezifität der Antidepressiva erheblich relativiert. Das vorliegende Buch versucht eine A n t w o r t auf solche und ähnliche Fragen zu geben und zwar m i t Hilfe eines psychodynamischen Modells, das zwar die bisherigen analytischen Theorien der Depression teilweise berücksichtigt, aber auch neue Konzeptualisierungen zu ihrer Psychodynamik enthält. Dabei werde ich auch versuchen, die Ergebnisse der biologischen Psychiatrie einschließlich der Psychopharmakologie m i t der psychodynamischen Sicht zu integrieren. Einen weiteren Schwerpunkt des Buches stellen die psychotherapeutischen Bemühungen um depressive Patienten dar. Ich w i l l am Beispiel einiger längerfristiger Behandlungen zeigen, auf welche Weise eine psychodynamisch orientierte

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psychotherapeutische Behandlung auch bei den »endogenen« Depressionen und Manien von Nutzen sein kann. Schließlich nehme ich diese systematische Beschäftigung m i t psychotischen affektiven Störungen zum Anlaß, u m mich erstens kritisch m i t dem Konzept des sogenannten »Masochismus« ausführlicher auseinanderzusetzen und zweitens den Entwurf einer umfassenden psychodynamischen Klassifikation psychotischer (nicht nur depressiver) Störungen vorzustellen, der auch von klinischer Relevanz sein kann.

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I Psychodynamik

der

Depression

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Die psychoanalytischen Depressionstheorien

Die hier zugrunde liegende Theorie der Psychodynamik und Therapie der manisch-depressiven Psychosen sowie auch anderer Depressionsformen stammt teilweise aus der Integration von schon vorhandenen psychoanalytischen Theorien und Konzepten. Daher ist ein kurzer historischer Überblick über die bisherigen Bemühungen der Psychoanalyse auf diesem Gebiet unerläßlich (ausführliche Darstellungen über die Entwicklungen der letzten 80 Jahre findet man bei M E N D E L S O H N 1982 und B E M P O R A D 1983). - Die Tabelle 1 (s. S. 20f) enthält eine Zusammenfassung. 1 . S I G M U N D F R E U D wies i n seiner epochemachenden Arbeit über »Trauer und Melancholie« (1917) auf die Bedeutung des »Objektverlustes« hin, das heißt des Verlustes einer realen Bezugsperson oder der Trennung von einer wichtigen Person, Idee, Vorstellung, Utopie. Weiter machte er auf die Bedeutung der lntrojektion (In-sich-Aufnehmen eines »Objekts«) bei der Depression aufmerksam, so wie darauf, daß trotz der vielen Ähnlichkeiten zwischen Trauer und Depression, wie schmerzliche Verstimmung, Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, Verlust der Liebesfähigkeit, Hemmung etc., beide sich i n einem Punkt grundsätzlich voneinander unterscheiden: Bei Selbstwertgefühls. der Trauer gibt es keine Störung des Alle drei FREUDschen Befunde - Objektverlust, lntrojektion, Selbstwertgefühlsminderung - haben auch innerhalb der heutigen Theorien ihre zentrale Bedeutung behalten, aller-

-19© 2011, 1995, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45775-7 — ISBN E-Book: 978-3-647-45775-8

Tabelle 1: Depressionstheorien - historischer Überblick

1.

F R E U D , S. (1917)

Objektverlust, Introjektion, Selbstgefühlsminderung

2.

A B R A H A M , K . (1911)

3.

R A D O , S. (1928)

Aggressionshemmung, Wendung nach innen, Manie Internalisierung der Sequenz: Schuld, Buße (durch ein Übermaß an Leistung), Verzeihung. Melancholie als Reparationsprozeß

4.

B I B R I N G , E . (1953)

5.

SANDLER, J . und

J O F F E , W.G. (1965)

Selbstwertgefühlsverlust nicht nur durch Frustration bzw. Objektverlust, sondern auch Enttäuschung narzißtischer Bedürfnisse (anale, phallische) Verlust der narzißtischen Integrität, des »well-being«. Fundamentale psychobiologische depressive Reaktion unterscheidet sich von der k l i n i schen Depression. Depressive Reaktion kann sich auch als nützlich erweisen.

6.

G U T , E. (1989)

Produktive und unproduktive Depression

7.

J A C O B S O N , E.

Selbstwertgefühlsverlust erklärt sich durch bestimmte Energieverteilungs- und insbesondere strukturelle Störun-

(1953/1971)

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gen der Selbstrepräsentanz bzw. des Über-Ich (archaisch) und Ich-Ideals (zu hoch). Depressive Position (als universales Stadium bzw. Z u stand). Melancholie: keine gelungene Internalisation des guten Objekts. Aggressionshemmung (Angst, das gute Objekt zu verlieren).

8.

KLEIN, M .

9.

BECK,A.

kognitive, pessimistische Grundkonzepte, depressiver Affekt sekundär, Therapie durch kognitive Korrektur

10.

SELIGMAN, M .

erlernte Hilflosigkeit

11. K O H U T , H .

Mangelhafte Spiegelung, keine bejahende freudige Reaktion auf die Existenz des Kindes = »leere« Depression. Mangelhafte Teilhabe an Ruhe und Sicherheit eines idealisierten Erwachsenen = Schulddepression

12.

BENEDETTI, B.

13.

TELLENBACH, H .

Über-Ich-Depression, Es-Depression, Ideal-Ich-Depression Typus Melancholicus Depression als biosozialer Schutzmechanismus

14. H E L L , D . (1992)

15. Andere Autoren

M A T U S S E K , R; S C H W A R Z , F.; W I L D L Ö C H E R , D . ;

G R E E N , A. (»tote Mutter«), B O W L B Y , J.

u.a.

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dings m i t gewissen Akzentverschiebungen und Korrekturen. Die Störung der Selbstwertgefühlsregulation rückte i n den letzten Jahren zunehmend i n das Zentrum des Interesses. Die Folgen der introjektiven Prozesse werden etwas anders als bei F R E U D konzipiert.

2. K A R L A B R A H A M hat schon 1911 auf die zentrale Bedeutung der Unterdrückung der Aggression aufmerksam gemacht, die i n Zusammenhang m i t einer unerträglichen Enttäuschung durch das Liebesobjekt entsteht sowie auf die Wendung sadistischer Rachsucht nach innen. Weiter zeigt er, daß i n der Symptomatik der Manie gerade das enthüllt w i r d , was i n der Depression nur versteckt und unsichtbar enthalten ist. Sein M o d e l l ist zwar seiner Zeit entsprechend einseitig trieborientiert, die genannten Gesichtspunkte behalten jedoch auch i n den neueren Theorien ihren Wert. 3. R A D O gelang es 1928 auf dem Hintergrund der inzwischen entwickelten Strukturtheorie F R E U D S die zentrale Bedeutung des Selbstwertgefühls und der leistungsbezogenen narzißtischen Zufuhr i n der Dynamik der Melancholie aufzuzeigen. Er vergleicht den Depressiven m i t einem kleinen K i n d , dessen Selbstwertgefühl i n extremen Maße von der Akzeptanz seiner Leistungen durch die Eltern sowie von ihrer Liebe abhängig ist. Weiter stellt er folgende, kliniknahe und einleuchtende Hypothese auf: Wenn alle anderen Bemühungen des verbitterten und aggressiven Kindes versagen, greift es zu der letzten Waffe. Es internalisiert seine spezifischen Erfahrungen mit den strafenden Eltern. Gemeint ist die sich wiederholende Erfahrung, daß die Eltern jeweils nach der Bestrafung des Kindes einigermaßen zufrieden und umgestimmt erscheinen. Das K i n d organisiert - so R A D O - nunmehr selbst diesen Vorgang. Durch ständige Schuldgefühle und Selbstbestrafungen sichert sich das K i n d so, wenn auch sehr mühsam und schmerzlich, die Zuwendung und Zufriedenheit seiner Eltern und später i m Erwachsenenalter seines Über-Ich. Die Sequenz Schuld-Buße-Verzeihung werde eminent wichtig. Der Objektverlust dagegen spielt bei R A D O eine geringere Rolle. Dieser

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Verlust ist sozusagen nur ein auslösendes Geschehen, das gelegentlich sogar fast erfunden werden muß, u m die Deprimiertheit zu erklären. Depression könne sich durch jedes Geschehen entwickeln, das Schuld- und Angstgefühle wachrufe und den Menschen i n die regressive Abhängigkeit und i n jenen pathologischen Reparationsprozeß, den w i r Melancholie nennen, treibe. Einen Teil dieses Modells erläutert R A D O i n einer viel späteren Veröffentlichung aus dem Jahre 1951: Das Dilemma des Melancholikers bestehe darin, daß er h i n - und hergerissen werde zwischen seiner W u t , die ihn dazu treibe, das Liebesobjekt unter Druck zu setzen, und seiner Furcht, die ihn dem Liebesobjekt gegenüber so unterwürfig mache. Ersetzt man i n diesem Text von R A D O »Furcht« durch Liebe oder Abhängigkeit, so erhält man die Definition des später auch von vielen anderen Autoren beschriebenen zentralen »depressiven K o n flikts«. Dieser beinhaltet jene Konstellation, bei der i m extremen Fall ein starker Impuls (und dadurch auch die Angst davor) aufkommt, gerade den zu ermorden, den man liebt und von dem man abhängig ist. 4. B I B R I N G (1953) ging wie R A D O von der Zentralität der Selbstwertgefühlsherabsetzung i n der Depression aus. Er meinte aber, daß keineswegs alle Depressionen solche Reparationsversuche, solche verzweifelten Bemühungen u m die bitter notwendigen narzißtischen Zufuhren durch Zuwendung der äußeren Objekte oder durch die Versöhnung des Über-Ich zeigen. Vielmehr meinte er, daß zwar eine »orale« Fixierung (s.u.) i n der Prädisposition für viele Depressionen von Bedeutung sein möge, die klinische Erfahrung jedoch dafür spreche, daß eine Herabsetzung des Selbstwertgefühls auch über andere Wege und nicht nur über die Frustration der Zuwendungs- und Liebesbedürfnissen zustande komme. Es gebe auch andere und nicht nur diese - i n der früheren psychoanalytischen Terminologie - »oralen« Bedürfnisse, deren Frustration denselben Effekt hätten. So zum Beispiel solche »analen« Ursprungs (also den Wunsch »gut«, nicht aggressiv,

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nicht schmutzig zu sein) oder auch phallische Bedürfnisse, wie den Wunsch, stark, potent, überlegen, groß, sicher zu sein. Die Frustrierung aller dieser Wünsche und Bedürfnisse könne das Gefühl der Hilflosigkeit hervorrufen und zur Herabsetzung des Selbstwertgefühls führen. B I B R I N G S Fazit: Die Depression sei letztlich der emotionale Ausdruck eines Zustandes der Hilf- und Machtlosigkeit des Ich, und zwar unabhängig von der Frage danach, was den Z u sammenbruch der Mechanismen verursacht hatte, die normalerweise die Selbstachtung des Menschen sichern. Diesen Gedanken B I B R I N G S könnte man noch m i t der Feststellung ergänzen: Sie ist auch unabhängig davon, welche sekundären (zum Beispiel »masochistischen«) Kompensationen mobilisiert wurden. 5. S A N D L E R und J O F F E (1965) sehen, wie B I B R I N G , die De-

pression als einen fundamentalen Grundaffekt, welcher der Angst vergleichbar sei und der dann mobilisiert und empfunden werde, wenn der Mensch etwas verloren zu haben glaubt, was für sein Wohlergehen von höchster Wichtigkeit war, und er sich nicht imstande sieht, diesen Verlust zu beheben. Es gehe u m den Verlust des Gefühls einer narzißtischen Integrität und nicht u m den Verlust irgendeines spezifischen konkreten Objektes. S A N D L E R und J O F F E vermeiden jedoch die Bezeichnung »Selbstachtung«, weil sie davon ausgehen, daß dieser Begriff etwas i n der Entwicklung Späteres, Reiferes, Komplexeres bezeichnet und nicht jenes elementare »well being«, dessen Existenz man bereits bei Kleinkindern m i t guten Gründen annehmen kann. Bei der Depression handelt es sich w o h l u m eine Reaktion aus dem Gefühl heraus, einem Idealzustand entrückt zu sein, dessen M e d i u m häufig, wenn auch nicht i m mer, die Beziehung zu einem anderen Menschen gewesen ist ( B E M P O R A D 1983, S. 57). Es gebe eine fundamentale psychobiologische Reaktion, die man »depressiv« nennen könne und davon müsse man eigentlich die klinische Depression unterscheiden. Letztere sei die weitere Ausformung oder abnorme langlebige Variante der ursprünglichen Reaktion.

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S A N D L E R und J O F F E können der Hypothese nicht zustimmen, daß Depression ein gegen das Selbst gerichteter Z o r n sei. Sie stehen den psychoanalytischen Theorien, welche die A g gression bei der Erklärung der Depression i n den M i t t e l p u n k t stellen, eher ablehnend gegenüber. Der Objektverlust erzeuge zwar natürlicherweise Z o r n oder W u t , diese Feindseligkeit werde jedoch nicht, wie oft behauptet, gegen das Selbst gerichtet. Der Depressive sei vielmehr der Träger einer blockierten Aggression und dies impliziere nicht notwendigerweise die Annahme der FREUDschen Introjektionstheorie, nach welcher der Mensch den »bösen« Anteil des Objektes i n sich aufnehme und sich m i t ihm identifiziere. Das bei der Depression oft im Vordergrund stehende Autoaggressive sei auch anders zu erklären. Schließlich meinen S A N D L E R

und J O F F E

(wie

BIBRING

auch), daß die anfängliche psychobiologisch-depressive Reaktion auch Abwehrkräfte mobilisiere und keineswegs immer i n die Krise der Depression münde. Sie könne sich damit auch als heilsam erweisen und zwar i n einer Weise, die an das erinnere, was F R E U D - analog - in bezug auf die Funktion der Signalangst verarbeitet hat. 6. Diese Tendenz der modernen psychoanalytischen Theorie, auch gewisse positive Aspekte der depressiven Reaktion hervorzuheben, entspricht i n etwa auch der Linie von E M M Y G U T ( 1 9 8 9 ) i n ihrer Monographie m i t dem Titel »Produktive und unproduktive Depression«: Die psychobiologische Reaktion könne den Anreiz zu einer positiven Entwicklung geben, die den Betreffenden aus dem depressiv machenden Dilemma herausführe. M a n wisse nicht, i n welchem Ausmaß und m i t welcher Häufigkeit eine solche positive Wendung realisiert werde. A u f jeden Fall, so ihre Theorie, komme es i n allen Fällen, i n denen eine solche produktive Wendung nicht möglich geworden ist, zu Komplizierungen, die dann unaufhaltsam zur Manifestation einer klinischen Depression führen. 7. E D I T H J A C O B S O N ( 1 9 7 1 ) stellt wiederum die Herabset-

zung des Selbstwertgefühls ins Zentrum ihrer Betrachtung der

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Psychodynamik der Depression. Gravierende Enttäuschungen innerhalb der frühen Objektbeziehungen sind auch nach ihrer Meinung der Hauptgrund für diese Störung des Selbstwertgefühls. Den Weg zu der manifesten depressiven Erkrankung und die dabei involvierten Mechanismen beschreibt sie jedoch (etwas abweichend von der Linie der zuletzt genannten A u t o ren) m i t Hilfe einer triebtheoretischen Metapsychologie (Depression als Problem der Energie Verteilung) und darüber hinaus durch die Annahme struktureller Störungen i m Sinne einer pathologischen Entwicklung der Selbstrepräsentanz, des Über-Ich und des Ich-Ideals. Insbesondere bleibe, nach J A C O B S O N , das Über-Ich bei der Depression undifferenziert, das heißt mehr an konkrete Personen gebunden. Auch das IchIdeal sei unrealistisch grandios, so daß die übertriebenen Erwartungen zwangsläufig zu Mißerfolgen, Enttäuschungen und somit Selbstwertgefühlsherabsetzung führen. Während die konkrete klinische Arbeit E D I T H J A C O B S O N S fast von allen Seiten anerkannt w i r d , sind ihre zuletzt genannten theoretischen Konstruktionen wegen der überaus k o m plizierten metapsychologischen Annahmen und der gewagten triebtheoretischen Hypothesen vielfach kritisiert worden. Das gilt zum Beispiel für ihre Annahme, die aggressive Besetzung des Selbst führe zu der Selbstwertgefühlsherabsetzung. Ihre Kritiker (zum Beispiel G E D O 1979) meinen, daß sie sich nicht i n der Lage sähen, J A C O B S O N i n den theoretischen Spekulationen über das Konzept der psychischen Energie zu f o l gen. Die Auffassung JACOBSONS, daß die Selbstrepräsentanz in der Depression m i t aggressiver Energie besetzt sei, ergebe nichts neues, meint M E N D E L S O H N . Sie sei letztlich tautologisch, sie besage nämlich nur, daß das Selbstwertgefühl herabgesetzt sei. 8. Für M E L A N I E K L E I N ist die Depression zwar auch - wie bei B I B R I N G und S A N D L E R - ein universaler fundamentaler

Zustand. Sie versteht ihn aber mehr als eine sozusagen obligatorische Entwicklungsstufe, sowie als eine auch später auftretende spezielle psychische Konstellation (die depressive Positi-2.6-

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ort), die jeder Mensch, sei es i n abnormer oder i n normaler Weise, durchzustehen habe. Der depressiven Position entspreche der depressive Konflikt, der sich zum ersten M a l schon i m 4. bis 5. M o n a t (!) herauskristallisiere. Es handle sich dabei um die allmählich dämmernde »Einsicht«, daß das primäre Objekt sowohl Schmerz als auch Lust bereite und daß zweitens die durch den Schmerz und die Enttäuschung angefachte Aggression das gute Objekt zerstören könnte, zumal hier das »Böse« nicht mehr von dem »Guten« getrennt und nach außen projiziert werde wie i n der (der depressiven vorangehenden) schizoiden Position. Dieser depressive Konflikt, so M . K L E I N , liege nicht nur der klinischen Depression, sondern auch den meisten neurotischen Störungen zugrunde. W I N N I C O T T hat die depressive Position sogar als eigene Leistung i n der individuellen Entwicklung betrachtet, weil der Mensch damit die Verantwortung für seine W u t akzeptiere und Ambivalenz zu ertragen lerne. Eine Verbindung zwischen dieser allgemeinen Theorie der depressiven Position mit der spezifischen klinischen Depression stellte M E L A N I E K L E I N 1940 her: Die Prädisposition zur Melancholie entstehe dort, w o es dem Kleinkind nicht gelinge, sein geliebtes »gutes Objekt« i m Ich zu etablieren. Dagegen bestehe die günstige Entwicklung, die normale Überwindung der depressiven Position, darin, daß das K i n d erkennen kann: Seine Handlungen oder Wünsche haben zwar möglicherweise vorübergehend zum Verlust der guten Objekte geführt, diese können jedoch wieder »gefunden« und i m Inneren des Kindes wieder hergestellt werden. D o r t , w o diese günstige Entwicklung nicht stattfindet, fühle es sich als Versager. Dies dann erkläre das lebenslänglich anhaltende Gefühl der Schlechtigkeit, ein negatives Gefühl, das nicht wie bei einer paranoiden Verarbeitung nach außen projiziert, sondern in das Selbstbild hineingenommen werde. A n M E L A N I E K L E I N wurde kritisiert, daß sie dem Säugling alle möglichen subtilen Fähigkeiten zuschreibe und dabei die Umgebung des Patienten vollständig außer acht lasse, u m sich

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nur auf die innere Entfaltung triebgebundener Prozesse (später nur auf den inneren Kampf zwischen den internalisierten »guten« und »bösen« Objekten) zu konzentrieren. Allerdings haben ihre Nachfolger F A I R B A I R N , W I N N I C O T T und G U N T R I P

zunehmend die Bedeutung der Umgebung aufgewertet und i n den Vordergrund gestellt, »so daß der Ausdruck Objektbeziehungen sich bei ihnen sowohl auf äußere wie auf innere Objekte bezieht« ( B E M P O R A D 1983, S. 62). Die beiden Punkte M . K L E I N S Theorie, die eine breite positive Aufnahme fanden, waren einmal die durch Gefahr und Angst vor dem Verlust des dringend benötigten Objektes hervorgerufene Hemmung und zweitens das Konzept der nicht zur rechten Zeit erfolgten Inkorporation des guten Objektes. Letzteres meint das Mißlingen des schon erwähnten integrativen Prozesses, durch den trotz Frustration, Aggression und W u t es dann doch möglich w i r d , das Objekt als vorwiegend »gut« zu empfinden und als solches zu internalisieren. 9. B E C K (1967, 1976) hat i n seiner kognitiven Theorie der Depression (die später auch partiell die Grundlage der kognitiven Behandlung geworden ist) auf die w o h l unbestrittene Tatsache hingewiesen, daß depressive Patienten häufig eine pessimistische Sichtweise und Haltung an den Tag legen und daß ihr Erleben, ihr Denken und ihr Handeln durch bestimmte kognitive »basic concepts« maßgebend determiniert werden. Beck geht also davon aus, daß die depressiven Gefühle sich aus solchen kognitiven Grundkonzepten heraus entwikkeln. N u n ist die umfangreiche klinische und experimentelle Arbeit B E C K S sicher beachtenswert, dennoch hat er meines Erachtens seine Aufmerksamkeit zu einseitig auf die bewußten kognitiven Phänomene gerichtet und sie als das Ursprüngliche angesehen. D a m i t konnte er aber nicht zu den zugrundeliegenden, meist unbewußten, Konflikten, Konstellationen und Muster vordringen, die gerade für die Depression von fundamentaler Bedeutung sind. Die depressiven kognitiven Grundmuster, die B E C K intensiv

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beschäftigen, kommen nicht aus dem Nichts, sie »fallen nicht vom Himmel«, sondern sie stellen defensive Konstellationen dar. Sie dienen zum Beispiel der Vermeidung einer Wiederholung schwerer Enttäuschungen - als vorwegnehmende Einstellung auf das Negative. Dies entspricht i n etwa dem, was einer meiner depressiven Patienten formulierte: »Wenn ich mich ganz unten, tief in den Niederungen der Depression aufhalte, dann kann es mir nicht mehr passieren, daß ich runterfalle«. D o r t w o diese, bei Depressiven anzutreffenden, kognitiven Muster sekundärer defensiver Natur sind, ist kaum zu erwarten, daß die kognitive Korrektur, die Umerziehung, das Um- und Verlernen dieser Kognitionen, zur Heilung und zur Aufhebung der Depression führen würden. Die von B E C K und überhaupt von der kognitiven Therapie trotzdem zu erzielenden Erfolge sind wahrscheinlich bei Depressionen anzutreffen, die weniger auf einem Konflikt beruhen und bei denen die negativen kognitiven Inhalte keine defensive »Funktion« haben. Bei anderen Fällen wiederum ist zu vermuten, daß die Besserung nicht auf das Verlernen der depressiven »basic concepts« als solches, sondern auf die engagierte therapeutische Haltung innerhalb der Patient-Therapeut-Beziehung und der dabei möglich werdenden neuen Erfahrungen des Patienten zurückzuführen ist. Hier handelt es sich meines Erachtens u m ein emotionales Umlernen in bezug auf die Qualitäten des Objekts. Z u einem kleinen Teil schließlich könnte man sich besonders bei chronifizierten, nunmehr automatisch laufenden Mustern, bei denen die ursprünglich dahinter gestandene Dynamik erloschen ist, auch jenes Umlernen und Verlernen der Grundkonzepte als spezifisch therapeutisch wirksamen Faktor vorstellen (zumal bei der Unterbrechung der noch zu beschreibenden Circuli vitiosi). 10. S E L I G M A N versuchte die Depression als erlernte H i l f l o sigkeit zu verstehen, wie sie uns zunächst aus Tierexperimenten und Beobachtungen bekannt ist. Der Depressive könne nicht mehr jene Anpassungstechniken heranziehen, die es i h m ermöglichen würden, m i t schmerzlichen Situationen fertig zu

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werden. Er habe statt dessen Hilflosigkeit »erlernt«, ähnlich den Hunden, die i n entsprechend konstruierten Experimenten schmerzliche Reize auch dann nicht vermieden, als ihnen i m Verlauf des Experiments wieder eine Möglichkeit zum Ausweichen gegeben wurde. Offensichtlich hatten sie aufgegeben und gelernt, die schmerzlichen Schläge hilflos zu ertragen (1975). Die Übertragung solcher Beobachtungen auf den M e n schen kann zwar insofern gerechtfertigt sein, als Menschen oft tatsächlich von einem gewissen Zeitpunkt an »aufgeben« und systematisch das Risiko eines erneuten Versuchs und somit auch einer erneuten Enttäuschung zu vermeiden trachten. M i r scheint dies jedoch ein Nebenaspekt zu sein, der vielleicht im psychoanalytischen Konzept des sogenannten »Masochismus« (s. S. 65ff) auch bei Depressiven teilweise Geltung hat. Das Wesentliche der Depression und ihrer verschiedenen Ausformungen läßt sich jedoch m i t Hilfe des Konzepts von S E L I G MAN auf keinen Fall befriedigend erfassen. 11. H E I N Z K O H U T hat sich nicht nur m i t den depressiven Aspekten der nicht-psychotischen narzißtischen Störungen i m engeren Sinne (was sein Hauptgebiet war), sondern auch m i t den depressiven Psychosen beschäftigt. Seine Grundannahmen zum Thema lassen sich so zusammenfassen: Gewisse (unbekannte) biologische Faktoren i n ihrer Wechselwirkung m i t einem ausgeprägten Mangel an »Spiegelung«, also an freudigen Reaktionen der wichtigen primären Bezugspersonen auf die Existenz des Kindes sowie auf seinen Selbstbehauptungswillen, führen zu einer massiven Entleerung von Selbstwertgefühl und Vitalität und somit zu dem klinischen Bild der »leeren« Depression. Die Schulddepression wiederum resultiere aus der fehlenden Gelegenheit zur identifikatorischen Teilhabe an der Ruhe und der Sicherheit des idealisierten Objekts. Die Manie sei schließlich der Versuch, diese zur Depression führende Konstellation abzuwehren und zu verleugnen. 12. B E N E D E T T I hat sich intensiv m i t der Psychodynamik

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und Psychotherapie der Depressiven beschäftigt. Er w i r d uns ausführlicher i m zweiten Teil des Buches beschäftigen. 13. T E L L E N B A C H und v. Z E R S S E N haben Grundsätzliches

zur Deskription und empirischen Fundierung der primären Persönlichkeit des Depressiven und manischen Patienten beigetragen - sie werden noch später i m Zusammenhang referiert werden. 14. Dasselbe gilt auch für M A T U S S E K und S C H W A R Z . Neben vielen anderen sind schließlich G R Ü N B E R G E R , W I L D L Ö C H E R , A . G R E E N (Konzept der »toten Mutter«) zu erwähnen, die viel zur Entwicklung der Depressions-Theorie beigetragen haben.

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Depression und narzißtisches Gleichgewicht

Herabsetzung

des Selbstwertgefühls Objektverlust?

oder

In allen hier kurz geschilderten Theorien zur Psychodynamik der Depression nimmt die Herabsetzung des Selbstwertgefühls eine zentrale Stellung ein, bei einigen besonders akzentuiert (wie bei B I B R I N G ) , bei anderen i n etwas geringeren Ausmaß. Ist nun tatsächlich die Minderung des Selbstwertgefühls die zentrale Achse der depressiven Psychodynamik, sei es auch i n der von S A N D L E R und J O F F E angenommenen elementaren Form der Minderung oder Verlustes des »well being«, des Verlustes also des als Ideal phantasierten Zustandes des Selbst? Oder ist der Objektverlust (s. F R E U D 1917) das Wichtigste und Primäre? Berücksichtigt man das Gesamtspektrum der klinischen Erfahrung, so vermag man diese Frage weder m i t einem »Ja« noch m i t einem »Nein« zu beantworten. Es gibt nämlich k l i nische Fälle, die für das eine, wie auch solche, die für das Gegenteil sprechen. Aufschlußreicher erscheinen m i r indessen solche Fälle, die uns vermuten lassen, daß die oben gestellte Frage keine wirkliche Alternative aufzeigt - zum Beispiel der von mir schon früher veröffentlichte Fall eines ehrgeizigen höheren Angestellten, der aufgrund seiner Fähigkeiten einen D i -

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rektorenstuhl nach dem anderen erklomm und dabei jeweils und zwar i n engem zeitlichen Zusammenhang - i n eine unerklärliche Depression geriet. Das letzte M a l kam es sogar nach der Feier anläßlich seiner neuen Beförderung zu einem sehr schweren Suizidversuch. Während der nachfolgenden analytisch orientierten Psychotherapie wurde unter anderem deutlich: Die Anerkennung und Bestätigung gewisser »Größenphantasien« dieses Mannes durch seine realen Erfolge und Beförderungen und die damit zusammenhängende Stärkung seines Selbstwertgefühls reichte nicht aus, u m jenen tieferen Schmerz über die fehlende Zuwendung des Primärobjekts zu kompensieren und den unstillbaren Hunger nach (aktiver und passiver) Liebe zu stillen. Hinzu kamen halbbewußte Schuldgefühle, weil er eigentlich nicht besser als sein Vater sein sollte und wollte, aber auch deswegen, weil er sich selbst für die Ambivalenz zum Primärobjekt verantwortlich machte. Ein Anhänger von M E L A N I E K L E I N würde dies vielleicht so formulieren: Der Patient konnte trotz seiner Erfolge jenes Grundgefühl der eigenen »Schlechtigkeit« ob der gescheiterten Überwindung der »depressiven Position« nicht ausgleichen. Oder: Dieser M a n n konnte den seelischen Schmerz über das Mißlingen einer Überwindung der Ambivalenz zu seinem von i h m auch geliebten Vater trotz seines triumphalen Erfolges nicht verkraften. M a n sieht: Es wäre falsch, hier anzunehmen, daß dieser Patient primär »nur« an einem Selbstwertgefühlsiie/zz/f gelitten habe, das er durch sein ehrgeiziges, leistungsbezogenes und erfolgreiches Verhalten zu kompensieren versucht hätte. Z w a r wurde das Versagen seiner Bemühungen, die Liebe der Eltern zu gewinnen, sowie die Vergeblichkeit seiner Versuche, durch Unterwerfung das Primärobjekt zurück zu gewinnen (in der A r t wie durch R A D O geschildert), selbstverständlich von einer Minderung des Selbstwertgefühls begleitet. Letztere scheint aber hier nicht das primäre sondern das sekundäre Resultat einer mißlungenen beziehungsweise verweigerten Objektbeziehung gewesen zu sein.

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Der zweite Grund für mein »Jein«, für mein Zögern i n bezug also auf eine primäre Bedeutung des erniedrigten Selbstwertgefühls für die Depression ist folgender: Es ist bemerkenswert, m i t welcher Vehemenz Patienten, die an einer Schulddepression leiden, ihre angebliche Minderwertigkeit, ihre angebliche Unfähigkeit, Impotenz, Schlechtigkeit etc. regelrecht verteidigen. Sie t u n es fast m i t der gleichen Hartnäkkigkeit, m i t der der Wahnkranke seinen Wahn unter enormem Energieaufwand und enormer Denkarbeit aufrecht erhält, u m unkorrigierbar an ihm festhalten zu können. Es scheint, daß der depressive Patient diese seine fast feierlich immer wieder erklärte Unfähigkeit und Minderwertigkeit i n irgendeiner Hinsicht »brauche« und sie deswegen »tapfer« gegen analytische Deutungen und auch gegen kognitive-therapeutische Versuche verteidigt. So kann ich mich lebhaft an eine 18jähri¬ ge, i n Deutschland geborene und aufgewachsene intelligente Griechin der zweiten Emigrantengeneration erinnern, die das deutsche Abitur m i t Notendurchschnitt 1 bestanden hatte, mich jedoch i n ihrer »endogenen« Depression systematisch, hartnäckig und unkorrigierbar davon überzeugen wollte, daß sie d u m m , naiv, unerfahren, unfähig und insbesondere ein schlechter Mensch sei. Sie habe alle diese Erfolge irgendwie doch erschwindelt. Meine Erwiderung und die Konfrontation m i t der Tatsache, daß sie i n der Schule eine der Besten war und daß sie auch sonst vielfach sehr positiv von ihren M i t menschen beurteilt werde, tat sie m i t der Bemerkung ab, sie habe eben »Schwein« gehabt. Sie besitze vielleicht die Fähigkeit, dieses und jenes vorzutäuschen oder die Lehrer hinters Licht zu führen, was ja aber nur zusätzlich beweise, wie schlecht sie sei, und so weiter. Hält man sich diese beiden klinischen Beispiele vor Augen, so läßt sich zunächst einmal feststellen, daß paradoxerweise erfreuliche Ereignisse und Erlebnisse, die für den Betreffenden eine deutlich positive narzißtische Zufuhr bedeuten könnten, zum Auslöser von Depressionen werden können. Weiter werden w i r m i t der Tatsache konfrontiert, daß die Minderwertig-

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keitsgefühle i n vielen Fällen offenbar nicht der Realität entsprechen. Die postulierte Minderwertigkeit w i r d unkorrigierbar und hartnäckig i m Stil einer lebensnotwendigen »Haltung« verteidigt. Die i m Vordergrund stehende Herabsetzung des Selbstwertgefühls scheint nicht primär depressionsauslö¬ send zu sein, sondern ist wahrscheinlich nur ein defensiver Mechanismus. A u f der anderen Seite gibt es aber eine Reihe von Fällen, bei denen eindeutig feststeht, daß hier eine narzißtische Kränkung, ein beruflicher oder sonstiger Mißerfolg den Hauptauslöser einer depressiven Dekompensation darstellt. Berücksichtigt man dazu dann die große Mehrheit von Fällen, bei denen ein äußerer oder innerer Objektverlust oder ein seelischer Schmerz den Ausbruch einer Depression unzweifelhaft primär bedingt hat, und fügt man dieser bunten Sammlung von »Verursachungen« auch noch diejenigen Fälle hinzu, bei denen somatisch-organische Faktoren (Tumoren, H o r m o n behandlungen, Erschöpfungssyndrom nach schweren Erkrankungen, Alterungsprozesse usw.) die Ursachen für die Depression abgeben, so w i r d man von der Komplexität und Vielfältigkeit der hier infrage kommenden pathogenetischen K o n stellationen regelrecht erdrückt und verwirrt. Wie läßt sich dies alles, also die Minderung des Selbstwertgefühls, der Trennungsschmerz, der Objektverlust, die H i l f l o sigkeit, das Schuldigsein einerseits, und die depressive Leere, die somatischen Korrelate, die Wirksamkeit der Antidepressiva andererseits miteinander verbinden? Es empfiehlt sich zunächst, die Regulation des Selbstwertgefühls genauer zu untersuchen. Ich beschreibe i m folgenden ein M o d e l l , das ich der Anschaulichkeit halber das »Dreifuß-« oder »Dreisäulenmodell« genannt und auch graphischräumlich darzustellen versucht habe. In i h m steht zwar die Selbstwertgefühlsregulation i m Zentrum der Betrachtung. Es werden jedoch einige weitere Aspekte der Struktur und Dynamik des Selbst-Systems demonstriert und insbesondere die Bedeutung der vielfältigen Interaktionen innerhalb der Bezie-

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hung zu dem äußeren und dem internalisierten Objekt deutlich. Zuvor stelle ich aber einen Vorläufer dieses Modells vor, nämlich das »Zwei-Konten-Konzept«.

Die zwei intrapsychischen

»Bankkonten«

U m die komplizierte Dynamik der Selbstwertgefühlsregulation zu veranschaulichen, benutzte ich früher, bevor ich auf das »Drei-Säulen-Modell« kam, eine Metapher aus dem W i r t schaftsleben, genauer aus dem Bankwesen: Jeder Mensch hat zwei seelische Bankkonten, ein normales Giro-Konto und ein Grundkapitalkonto. A u f dem ersten Konto sammeln sich die Erträge aus der Entlohnung für Arbeit, andere Leistungen sowie die Entschädigungen für Erlittenes. Aus dem gleichen Konto werden aber auch alle Lebenskosten, die vielfachen Verpflichtungen und Entschädigungen an andere bezahlt, die Strafzettel sozusagen. Es ist das K o n t o , bei dem Fleiß, Pflichterfüllung, Ordentlichkeit, Kreativität, richtiges Kalkül, Pünktlichkeit bestimmen, ob w i r schwarze oder rote Zahlen schreiben. Das Damoklesschwert der roten Zahlen hängt einem ständig über dem Kopf. Es ist das Über¬ Ich-Konto. Anders bei dem zweiten Grundkapitalkonto - sofern man Glück hatte, und sowohl am Anfang als auch später immer wieder beschenkt wurde durch die Großzügigkeit der Eltern, der Götter, des Schicksals. Dadurch verfügt man auf diesem Konto über einen Fundus von selbstverständlich vorhandener Sicherheit, Selbstvertrauen, Urvertrauen, gesundem Narzißmus. Das Ursprungskapital w i r d durch narzißtische Z u f u h r und zusätzlich durch Einnahmen aus dem ersten K o n t o sowie durch Zinsen und Zinseszinsen vermehrt. Wenn die »Decke« auf dem K o n t o dick ist, dann kann einem i m Leben wenig passieren. M a n ist dann auch i n der Lage, m i t dem anderen, dem Über-Ich-Konto »locker« umzugehen. Sobald dort vor-36-

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übergehend Defizite auftauchen, kann man jederzeit auf das Wohlwollen, die Toleranz und die Größe der Verfügungskredite der Bank rechnen: Die Decke des zweiten, des Grundkapital-Kontos sorgt für die notwendigen »Sicherheiten«. H a t man dagegen nur ein »dünnes« oder überhaupt kein Grundkapitalkonto, dann ist man wie ein armer Mensch, der i m Schweiße seines Angesichts von Tag zu Tag ängstlich und hart arbeiten und aufpassen muß, daß er nicht i n die rote Zahlen und somit i n die Ungnade der Bank gerät. Ein reiches, Sicherheit bietendes Grundkapitalkonto besitzen nicht zwangsläufig diejenigen Menschen, die materiell reich geboren wurden. Ein gutes »Polster« haben an erster Stelle meistens diejenigen, die das Glück hatten, adäquat und ausreichend »gespiegelt« ( K O H U T ) , also bestätigt worden zu sein, sowie alle diejenigen, die ausreichende Kontingenzerfahrungen als Säuglinge hatten, wie auch diejenigen, die schließlich auch von ihren konstitutionellen körperlichen und psychischen Voraussetzungen her reichlich beschenkt wurden. Die Sicherheit, die aus dem reichen Grundkapital resultiert, w i r k t sehr günstig auch auf das erste, auf das Über-Ich-Konto: Weil man sich i n dessen Geschäftsbereich »locker«, gelassen, manchmal auch riskant bewegen kann, erzielt man ständig Überschüsse, die dann aus diesem Girokonto abgezogen werden und dem Grundkapitalkonto zufließen. In einer »Rezession«, i n Zeiten von Lebenskrisen, großen Kränkungen, Enttäuschungen, Verlusten, Trennungen etc. ist man freilich vorwiegend auf das Grundkapitalkonto angewiesen. Erscheinen hier die ersten roten Zahlen, so muß man schnell und rechtzeitig reagieren u m eine größere Katastrophe zu vermeiden. Dies geschieht entweder durch vermehrte A n strengungen i m Bereich des anderen, des Über-Ich-Konto (mehr Arbeit, mehr Leistung, mehr Anpassung, mehr Konformismus, mehr Unterwerfung der »Bank« gegenüber) oder i m extremen Fällen m i t einem Betrug, m i t einer künstlichen, scheinbaren Aufblähung des Grundkapitalkontos durch hypomanische und manische Selbstdefinitionen, Ignorierung der

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Gefahrensignale aus dem Ich und Über-Ich-Konto (»das ÜberIch w i r d über Bord geworfen«, S. F R E U D ) , ja schließlich durch Mobilisierung des Größen-Selbst, der Megalomanie. Es war offenbar nicht zufällig, daß mir bei dieser Metaphorik die Begrifflichkeit des Bankwesens eingefallen ist: Z u lange habe ich als Arzt i n geschlossenen psychiatrischen Abteilungen i m Umgang m i t schwer melancholischen und schwer manischen Patienten von diesen gehört, daß sie angeblich entweder total verarmt und bankrott oder umgekehrt überreich, Milliardäre seien! N u n wurde ich aber später immer wieder m i t Fällen von depressiven und manischen Patienten konfrontiert, bei denen das M o d e l l m i t den zwei Konten nicht ganz ausreichte. So habe ich i n der langfristigen Behandlung von manisch-depressiven Patienten erlebt, daß sie vor einer drohenden Dekompensation nicht nur m i t einer vermehrten Leistung und Angepaßtheit und nicht nur m i t einer künstlichen Aufblähung des Grundkapitalkontos (Manie), sondern oft auch m i t einer regressiven, symbiotischen Abhängigkeit und/oder einer Identifikation m i t dem idealisierten Objekt sich zu helfen wußten. Darüber hinaus bedienten sie sich nicht nur individueller, sondern auch symbiotischer Größenphantasien ( K H A N S Konzept der symbiotischen Omnipotenz, »wir beide sind großartig«). Dafür wußte ich aber keine entsprechende Analogie i m W i r t schaftsleben (die gibt es wahrscheinlich doch, aber meine Kenntnisse auf diesem Gebiet reichten nicht dazu aus).

Das

Dreisäulenmodell

D a r u m bin ich dann zu dem Tripous, den Dreifuß, das DreiSäulen-Modell übergegangen (Abb. 1 , S. 39). Hier entspricht eine stabile und tragfähige Sitzfläche des Dreifußes (die Plattf o r m , welche von den drei Säulen getragen wird) der guten, -38-

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Abbildung 2: Das Selbstwertgefühl w i r d v o m äußeren, realen, aber auch v o m internalisierten Objekt reguliert

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Regressive Aktivierung der Basis von 1. Säule III = »Schulddepression« 2. Säule II = Abhängigkeits-Depression 3. Säule I = Manie Erschöpfung oder defensive Blockierung aller Säule = »leere« Depression Abbildung

3: Pathologische Selbstwertgefühl-Regulation bei verschiedenen klinischen Bildern

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gesunden narzißtischen Homöostase, der sicheren Selbstwertgefühlskonstellation und Regulation. Die erste Säule (rechts vorne) entspricht dem »Grundkapitalkonto« des alten Modells. I n ihrer Basis präsentiert sich das Größen-Selbst, etwas höher darüber die bei allen Menschen mehr oder weniger lebenslang vorhandenen halbbewußten Größenphantasien und schließlich, zur Spitze h i n , das reife Ideal-Selbst (die realistisch korrigierte, positive Vorstellung von sich selbst, die uns auch trotz Fehlern, Mißerfolgen, negativer K r i t i k etc. ein gewisses M a ß an unerschütterlichem Selbstvertrauen und einen Puffer - i m alten M o d e l l ein ausreichendes »Polster« - garantiert). Die Voraussetzung für eine solche günstige Entwicklung und ein daraus resultierendes selbständiges Funktionieren dieser Säule habe ich schon oben geschildert, als ich das Grundkapital-Konto beschrieb. Allerdings ist ein gewisses Ausmaß von zusätzlicher lebenslanger narzißtischer Zufuhr, Anerkennung und positiver Zuwendung von außen immer erforderlich. Normale Funktionalität des Systems bedeutet nämlich nicht völlige Unabhängigkeit von außen; sie setzt lediglich voraus, daß man über eine genügende eigene »Substanz«, über ein eigenes Polster verfügt und nicht ständig von einer äußeren Zufuhr abhängig ist oder sogar süchtig danach w i r d . Die zweite Säule, die keine Entsprechung i m BankkontoM o d e l l besitzt, symbolisiert i n der Basis die symbiotische Abhängigkeit, dann i n ihrem mittleren Teil die anfänglichen, idealisierten Elternimagines. I n ihrem oberen Abschnitt stellt sie das reife (assimilierte und nicht nur introjizierte) Idealobjekt dar. Hier spielen zunächst symbiotische und später identifikatorische Prozesse die Hauptrolle. Die gesunde narzißtische Stärkung erfolgt i m Kreislauf der normalen Internalisierungen und Externalisierungen. Durch sie w i r d auch eine zunehmend differenzierte, kritische und realistische Selbsteinschätzung möglich. Die dritte Säule schließlich entspricht dem Girokonto des alten Modells, dem Über-Ich-Konto. Sie w i r d gestärkt durch

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Leistung, Pflichterfüllung und dadurch erreichte Anerkennung. A n der Basis der Säule w i r d das archaische unreife Über-Ich, i n den Mittelabschnitten das ödipale Über-Ich, i n dem oberen Drittel das nunmehr reife Gewissen repräsentiert.

Differentialpsycbodynamik Zustände 1. Die Rolle des realen

depressiver

Objekts

Eine Beeinträchtigung und eine Erschütterung des Selbstwertregulationssystems kann durch Labilisierung oder Schwächung der »Statik« und der dynamischen Funktionalität i n einer, i n zweien oder i n allen drei Säulen hervorgerufen werden. Dies hängt zunächst v o m realen Objekt ab. Z u einer solchen Störung und negativer Veränderung der Balance k o m m t es erstens (Säule I ) , wenn die v o m realen Objekt stammende narzißtische Zufuhr verringert w i r d oder völlig ausfällt: Die erwartete Anerkennung und Bewunderung bleibt aus, statt dessen erfolgt Verachtung, Geringschätzung oder Gleichgültigkeit seitens des Objektes. Bei der zweiten Säule k o m m t es meistens aufgrund eines Objektverlustes, einer Trennung oder einer Enttäuschung über das idealisierte Objekt zur Störung; oder auch durch eine Verweigerung der »Wir-Bildung« durch das Objekt. Schließlich handelt es sich i m Fall einer Störung der Säule I I I u m eine Verunsicherung durch K r i t i k - Verurteilung - Strafe wegen nicht erbrachter Leistungen oder wegen »sündhaften« Verhaltens (häufiger läuft allerdings die Störung der I I I . Säule über das internalisierte Objekt = Über-Ich, siehe weiter unten). Wie k o m m t es nun zur Depression? Eine Verringerung der narzißtischen Z u f u h r oder K r i t i k und Verurteilung führen noch nicht zur Depression, sofern normale Selbstsicherheits»Reserven«, sofern der normalerweise vorhandene Puffer existiert.

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Ein realer Objektverlust hat bei einer robusten und gut funktionierenden Selbstwertgefühlsregulation keine ernsthafte nachteilige W i r k u n g auf das System. Er mobilisiert zwar normalerweise eine Trauerreaktion, führt aber nicht zu einer Depression.

Diese t r i t t dann auf, wenn Schwächen und M ä n -

gel präexistieren.

2. Die Bedeutung

des internalisierten

Objekts

Häufig t r i t t allerdings die Störung des Selbstwertregulationssystems (und die darauf folgende depressive Reaktion) spontan auf, ohne jeglichen äußeren Anlaß, ohne Objektverlust, ohne Enttäuschung, ohne Verminderung der narzißtischen Z u f u h r , ohne Verachtung, ohne Verurteilung durch das

Ob-

jekt. Hier muß man vermuten, daß die Störung innerhalb der Beziehung zum »internalisierten (Abb. 2, S. *

Objekt«*

zu lokalisieren ist

40).

Dieser Terminus und die damit gemeinte Begrifflichkeit ist in der

Schule von M . K L E I N entstanden, wurde dann von FAIRBAIRN erheblich modifiziert und in den Vordergrund gestellt, um schließlich nach gewissen weiteren Umformulierungen, Korrekturen und Präzisierungen zu einem weit gebräuchlicheren Konzept der - heute alle psychoanalytischen

Richtungen beeinflussenden -

Objektbezie-

hungstheorie zu werden. »Internalisiertes Objekt« meint nicht nur das allgemeine innere Bild vom Objekt schlechthin, also nicht nur die Objektrepräsentanz (KERNBERG), sondern auch die dazugehörigen »Erfahrungsniederschläge« aus den realen Beziehungen zu signifikanten frühen Bezugspersonen (vgl. KERNBERG 1988). Überwiegen dabei die positiven Erfahrungen, so entsteht schließlich ein benignes »internalisiertes Objekt«, was von dem Betreffenden als eine Art beruhigende, tröstende, stärkende, allenfalls wohlmeinend kritische, aber auch dann empathische, tragende, ermutigende »innere Stimme«, als ein innerer Zuspruch erlebt wird. Mit zunehemder Assimilation nimmt er immer mehr den Charakter der eigenen inneren Überzeugung mit allen diesen positiven Qualitäten an. Die Bedeutung dieses assimilierten, guten Objekts für das

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Denn auch von i h m geht normalerweise eine ständige narzißtische Z u f u h r aus. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Störung i n diesem Fall ist u m so größer, je mehr dieses internalisierte Objekt den Charakter des nicht-assimilierten, des »Bösen« oder auf jeden Fall des stark ambivalenten Introjekts annimmt oder beibehält. Dagegen garantiert ein relativ assimiliertes, vorwiegend benignes »internalisiertes« Objekt eine weitgehende Unabhängigkeit von »Importen« (d.h. von Zufuhr durch die realen Bezugspersoexterner narzißtischer nen i m erwachsenen Alter) und somit auch eine gute Stabilität.

3. Der biologische und der

Triebaspekt

Bei alldem darf man nicht das biologische Fundament und die »Triebe« vergessen. Zunächst einmal w i r d ja das ganze System, energetisch gesehen, durch Selbsterhaltungs- und l i bidinöse, kontaktfördernde Triebe getragen. Z u m zweiten führen Verdrängungen und Blockierungen der Triebbefriedigung oder Frustrationen der (ebenfalls auch biologisch begründeten) Bedürfnisse nach Bindung, Sinnlichkeit, Expansi»well beeing«, für das Sicherheitsgefühl und für die narzißtische Homöostase des Menschen kann nicht überschätzt werden. Umgekehrt sind die Wirkungen des aufgrund negativer Erfahrungen mit den realen Bezugspersonen vorwiegend malignen und nicht assimilierbaren Introjekts verheerend. Sein negativer Einfluß macht sich in einer Schwächung und Beeinträchtigung aller drei Säulen bemerkbar: Im Bereich der I. Säule geht es um Selbstverachtung und Selbsthaß - die allerdings unter Umständen durch großmäuliges, hypomanisches Verhalten kaschiert werden. Innerhalb der Funktion der II. Säule geht es um Verlassenheit und Enttäuschungserlebnisse, die durch verzweifelte, symbiotische Anhänglichkeit überkompensiert werden. Bei der III. Säule schließlich kommt es zur Unterbewertung der eigenen Existenz sowie zu einer vorwegneh-

menden Unterwürfigkeit.

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on, Bewegung, überhaupt Lust, zur Beeinträchtigung aller drei Säulen. So können nicht nur Impotenz und Frigidität sondern auch durch körperliche Erkrankungen oder Alterung resultierende Defizite an Vitalität und gesundem Körpergefühl die Säule I erheblich schwächen (Involutions- und Altersdepressionen beruhen oft darauf). Umgekehrt wirken gute Sportleistungen und körperliche Funktionalität überhaupt stabilisierend, und zwar nicht nur durch die soziale Anerkennung der Leistung (was mehr zum Bereich der Säule I I I gehörte), sondern auch direkt durch das Erlebnis des gesunden kräftigen Körpergefühls, der Körperbeherrschung und K o n trolle ( I . Säule).

4. Die einzelnen depressiven

Syndrome

M a n muß hier immer zwischen der jeweiligen Störung des Systems selbst und der darauf folgenden depressiven Reaktion unterscheiden. Die Depression ist nicht die Störung, sondern die Reaktion darauf. Die Depression muß als ein zwar regressiver, aber eindeutig aktiv-defensiver Mechanismus begriffen werden. Der psychobiologische »Sinn« dieser Reaktion w i r d uns noch später beschäftigen. Zunächst aber zu dem Versuch einer differenziellen Psychodynamik m i t Hilfe des Modells: Je nachdem, welche Funktionen welcher Säule maßgebend beeinträchtigt werden, zeigt die darauf folgende depressive Reaktion eine jeweils andere Form. Zusätzlich changiert sie je nach dem gewählten Modus der Verarbeitung, Abwehr, K o m pensation der vorliegenden Störung. So k o m m t es zum Beispiel ersatzweise zu Überanstrengungen, zu vikariierenden Hypertrophien (Übernahme der Stabilisierung der Plattform durch eine andere Säule) oder zu einer Regression zur Basis der jeweiligen Säule h i n . Die Tabelle 3 (S. 41) erläutert die zu vermutende Dynamik bei einigen gut bekannten klinischen Bildern. So w i r d vermutlich i n der »Schulddepression« eine regressive kompensatorische Aktivierung der Basis von Säule -46-

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I I I erforderlich, also eine Verstärkung des strengen Über-Ich, um zum Beispiel die DeStabilisierung durch eine Enttäuschung i n Bereich I oder I I auszugleichen. Das dürfte i n etwa der Charakterstruktur eines zwanghaften, übergewissenhaften, leistungsorientierten Menschen außerhalb der akuten psychotischen Phase entsprechen. Eine »leere« Depression entspräche einer Erschöpfung respektive einer aktiven defensiven Blockierung aller Säulen. Eine Abhängigkeitsdepression, die ja oft auf einer Enttäuschung oder Frustration beruht, entsteht durch eine regressive Mobilisierung der »Basis« von I I (infantile Anhänglichkeit) ohne kompensatorische Aktivierung von I oder I I I - das heißt ohne Schuldgefühle, aber auch ohne manische Abwehr. Bei der Manie schließlich ist anzunehmen, daß es bei einem Verlust, einer Enttäuschung, Kränkung etc. zu einer regressiven Mobilisierung der Basis von I k o m m , das heißt zu einer Mobilisierung des »Größen-Selbst« bei gleichzeitiger Unterdrückung von I I I (das Über-Ich w i r d über Bord geworfen).

5. Psychosoziale

Anwendungen

des

Modells

Dekompensationen des Selbstwertgefühls werden bekanntlich sehr häufig, vielleicht sogar häufiger als auf die oben geschilderte Weise, auch durch Arrangements m i t dem realen Objekt, m i t den Beziehungspersonen kompensiert, hinausgeschoben oder vermindert. So kann ein strenger, »schwieriger«, strafender Partner als ein externalisiertes Über-Ich funktionieren und damit die »Arbeit« der Säule I I I entlasten. Oder, um bei der Thematik der Säule III zu bleiben: Die Leistungsgesellschaft m i t ihren Ansprüchen und Gratifikationen an den Einzelnen fördert eine notdürftige PseudoStabilisierung des narzißtischen Gleichgewichts mittels Überanstrengung der Funktion der I I I . Säule. I m Bereich der Säule I I wären die entsprechenden Stichwörter: »Wir-Bildungen« (primäre Gruppe, Schule, Dorf, Stadt,

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Land, Nation), Beziehung zwischen Führer und Anhängern (im Sinne der Massenpsychologie F R E U D S ) , Nationalismus als PseudoStabilisierung des individuellen und kollektiven Ich. Beispiele psychosozialer M o d i i m Bereich der Säule I schließlich wären Formen von sozial-kollektiver Unterstützung von Größenphantasien: Ahnenkult, Zugehörigkeit zu einem Adel, zum »außerwählten Volk«, einer »höherwertigen« Rasse, etc. I n den Bereich der Thematik der I . Säule gehören auch psychosoziale Phänomene wie die Pervertierung des (primär normalen) Bedürfnisses nach Macht zur Machtgier, zum süchtigen Verlangen nach Prestige. Geld kann sowohl als M i t tel zur Macht wie auch als »Besitz« dienen (gleichsam »Füllung« der innerlich »leeren« und deshalb brüchigen Säule I ) . Machtkämpfe und Krieg gehören auch hierzu, sofern es sich um die Psychopathologie der Kriegstreiber und Kriegsprofiteure handelt. Dagegen erscheint mir für die Vielen, für das Fußvolk i m Krieg, mehr die Thematik der Säule I I relevant zu sein: Idealisierung und Identifikation m i t dem Führer und dadurch erzielte antidepressive Stabilisierung (vgl. M E N T Z O S 1993). Auch für die Entscheidung von Persönlichkeitstypen und Anpassungsmustern könnte dieses Drei-Säulen-Modell von Nutzen sein. Eine gute, stabile und robuste Selbstwertgefühlsregulation beruht auf einer intakten und ausgeglichenen Struktur und Funktionalität aller drei Säulen. Es gibt aber Menschen, die hauptsächlich nur auf zwei oder sogar nur auf einer Säule stehen. Die von der alten Psychiatrie hyperthym genannten Persönlichkeiten zum Beispiel (die »hypomanic personality« der amerikanischen Literatur) stützen ihre gesamte narzißtische Homöostase vorwiegend auf eine hypertroph aufgeblähte Säule I : Sie sind arrogant, großmäulig, umtriebig, viel beschäftigt, sehr von sich selbst überzeugt. Sie kennen keine Über-Ich-bestimmten Hemmungen (atrophische Säule III) und keine Idealisierungen und leidenschaftlichen schwärmerischen Bindungen an andere Menschen (schwach ausgebildete -48-

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Säule II). Besitzen sie aber tatsächlich eine stabile Selbstwertgefühlsregulation? Der Schein trügt. Viele dieser Menschen suchen später i n ihrem Leben den Therapeuten i m Zustand einer narzißtischen Krise auf, i n einer depressiven Dekompensation. Bezeichnenderweise geschieht dies meistens nach dem 45. Lebensjahr, jener Lebensphase, i n der die natürliche, körperliche und für das Gleichgewicht unverzichtbare Vitalität nachzulassen beginnt. Dann kann die Plattform der narzißtischen Homöostase nicht mehr auf der inzwischen innerlich brüchig gewordenen einzigen Säule I stehen. Außerdem können diese Menschen die kompensatorischen Möglichkeiten der Säule I I und I I I nicht mobilisieren - sie hatten bis dahin nie die Gelegenheit gehabt, durch Über-Ich-orientierte Leistung und Anpassung und/oder durch die Anlehnung an eine idealisierte Figur wenigstens vorübergehend sich erholen zu können. Solche Erfahrungen machen sie zum ersten M a l i n ihrem Leben bei der Gelegenheit einer leicht positiv gefärbten idealisierenden Übertragung zum Therapeuten. Die positive Übertragung führt auch zunächst zu einer schnellen Überwindung der akuten Krise. Dieser Vorgang deutet übrigens bereits auf die Nützlichkeit des Drei-Säulen-Modells für das differentielle Verständnis der Therapie von Depressionen und Manien h i n . Darüber mehr i m zweiten Teil dieses Buches, der sich den therapeutischen Aspekten widmet.

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Depressiver Affekt, intrapsychischer Stillstand und drei Circuli vitiosi

Der depressive Affekt Was macht den Kern depressiver Syndrome aus? Gibt es einen gemeinsamen, elementaren psychischen Prozeß, der die Verwendung der Termini Depression und depressiv bei so vielen partiell unterschiedlichen Zuständen rechtfertigt? Deskriptiv-phänomenologisch bietet es sich an, den depressiven A f fekt als eine solche gemeinsame Klammer, als ein die depressiven Syndrome umfassendes Element zu betrachten. Was aber ist der depressive Affekt} Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf die grundsätzliche Diskussion über die aus der jüngeren Zeit stammende Affektpsychologie (vgl. K R A U S E 1983, 1988 sowie H E L L 1992, S. 144ff) einzugehen und ohne die Frage endgültig beantworten zu wollen, welche Affekte zu den p r i mären und schon biologisch vorgegebenen Reaktionsmustern gehören, könnten w i r davon ausgehen, daß sie, die Affekte, Indikatoren m i t einer informativen, kommunikativen und motivierenden Funktion darstellen. W u t , Freude, Scham, Verlustschmerz, Trauer etc. sind wichtige Indikatoren insofern, als sie, zunächst intrapsychisch individuell betrachtet, über den jeweiligen Ist-Zustand oder die bevorstehenden Z u standsveränderungen »emotional« informieren. »Emotional«

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heißt hier nicht nur (das wäre lediglich eine Tautologie): »per Affekt«, sondern bewertend, positiv oder negativ: für den hinderlich. psychophysischen Organismus förderlich oder Das ist die informative Funktion. Durch die begleitenden expressiven und auch psychovegetativen Bestandteile des jeweiligen affektiven Musters w i r d darüber hinaus auch Signalisierung nach außen, eine interpersonelle Kommunikation ermöglicht. Dies wäre die zweite, die kommunikative Funktion also. Schließlich w i r d durch den lustvollen oder unlustvollen, beruhigenden oder ängstigenden Charakter des Affekts, dieser selbst auch zu einem Motiv, das zu einer Reaktion oder Handlung führt. Das ist die dritte, die motivierende Funktion. A u f diesem Hintergrund möchte ich nun zunächst eine negative Definition des depressiven Affekts versuchen, indem ich behaupte, daß der depressive Affekt nicht identisch ist m i t Trauergefühl, Verlustschmerz, Schamgefühl, Schuldgefühl, Erniedrigungsgefühl, Kränkungsgefühl, weil sie alle etwas anders signalisieren - obwohl der depressive Affekt m i t allen diesen »emotionalen Indikatoren« i n funktionellem Zusammenhang steht. Speziell aber der depressive Affekt signalisiert (informative Funktion) den eingetretenen oder akut drohenden intrapsychischen Stillstand (»deadlock«, E. G U T ) , das Verschwinden von Zukunftsperspektiven, die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit, das verlangsamte oder stillstehende Zeiterleben (etwa i m Sinne von v. G E B S A T T E L ) oder das Eingeschlossenwerden i n Grenzen, die man nicht übersteigen kann ( T E L L E N B A C H 1983, S. 124). Der begleitende expressive und psychovegetative Aspekt besteht aus den bekannten, i n M i mik und Gestik deutlich werdenden Zeichen der psychomotorischen Hemmung, der Verlangsamung, des Verschwindens der sichtbaren Vitalitätszeichen an Körperoberfläche, M u s k u latur, Augen und Gesichtsausdruck usw. Dies alles »dient«, psychobiologisch betrachtet, der kommunikativen Funktion dieses Affekts, der ja auch nach außen das, was m i t dem Betroffenen geschieht oder geschehen ist, signalisiert, und somit also auch der interpersonellen Kommunikation dient. Die aus

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diesem Affekt hervorgehende Motivation führt zu Reaktionen und Handlungen, welche die Beendigung dieses höchst unangenehmen, unerträglichen Zustandes durch eine Veränderung irgendeiner A r t bewirken sollen, notfalls auch durch Suizid. Das ist auch das letzte M i t t e l , u m das Selbst von diesem Z u stand der Ausweglosigkeit, des Stillstandes zu befreien. Die Ursache dieser Verlangsamung (besser gesagt: dieser Blockierung) intrapsychischer Prozesse, die zum Stillstand, die zum »deadlock« neigt (und den depressiven Affekt mobilisiert), ist nicht einheitlich. Sie kann entstehen a. durch schweren realen Verlust oder Kränkung, die beide jeweils schon für sich allein ein Weiterleben sinnlos erscheinen lassen (oder auch durch andere Konstellationen der Sinnlosigkeit und/oder Sinnentleerung); b. durch »unlösbar« erscheinende Konflikte, die zu einer gegenseitigen Blockierung entgegengesetzter Tendenzen führen; c. durch psychophysische Erschöpfung, sei es durch langes Anhalten der Konfliktkonstellation und der Blockierung (siehe b.), sei es durch andere Überanstrengung, Überforderung und schließlich auch, ebenfalls häufig, rein biologisch, etwa durch Verminderung der Vitalität i n der Involution und i m Alter, nach langanhaltenden körperlichen Erkrankungen, schweren Operationen, mangelhafter Ernährung und ähnlichen Beeinträchtigungen; d. durch reale H i l f - und Ausweglosigkeit, so etwa bei der anaklitischen Depression i m Kleinstkindesalter, oder auch in entsprechenden Konstellationen i m Erwachsenenalter. Die Tatsache, daß man oft bei depressiven Patienten von einem »Gefühl der Gefühllosigkeit« und ähnlichem spricht, darf nicht als ein Anzeichen dafür bewertet werden, daß der depressive Affekt eigentlich kein Affekt sei. Solche Formulierungen versuchen lediglich die besonderen Charakteristika des geschilderten depressiven Affekts zu beschreiben (das »Leere-Gefühl« entspricht dem Stillstand).

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Der depressive Affekt ist noch nicht die klinische Depression, das ausgebildete depressive Syndrom. Unter bestimmten, günstigen Bedingungen kann der depressive Affekt sogar A n laß zu einer positiven, produktiven Änderung und Entwicklung werden (vgl. E. G U T ) . Wie häufig oder wie selten dies der Fall ist wissen w i r nicht. Es scheint dies aber der seltenere Verlauf zu sein. Bei etwas länger anhaltendem Bestehen der Konstellation, die den depressiven Affekt mobilisiert hat, entstehen nun die regelrechten klinischen Formen der Depression und zwar durch das Hinzutreten zusätzlicher, verkomplizierender M e chanismen, die meistens auch die Form von Circuli vitiosi annehmen. Diese »Verstärkerröhren«, Feedback-Schleifen, Rückkoppelungsmechanismen sind es, welche die Blockierung und den Stillstand samt dem erzeugten depressiven Affekt m i t seinen drei Funktionen zu einem rigiden, sich selbst verstärkenden, von außen kaum mehr beeinflußbaren, funktionslosen und sinnlos gleichförmig ablaufenden Prozeß, also zu einer ernsthaften Störung i m klinischen Sinn werden lassen. Die beteiligten Mechanismen können w i r zwar aus didaktischen Gründen i n psychische und somatische unterscheiden. I n Wirklichkeit aber hat selbstverständlich jeder psychische Z u stand seine körperliche Entsprechung, und so wäre diese U n terscheidung theoretisch hinfällig. I m Hinblick auf die therapeutische Pragmatik jedoch erweist sich diese Unterscheidung als nützlich.

Drei psychische Circuli vitiosi a. Der Prozeß des Rückzuges von der äußeren Welt, der Verlangsamung, der Selbstverkleinerung etc., welcher der Entwicklung des vollen klinischen depressiven Bildes vorausgeht, darf nicht nur als ein passiv erlittener Zustand begriffen werden, etwa durch die konfliktuöse Blockierung oder die psy-

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chobiologische Erschöpfung erzwungen, sondern muß auch teilweise als ein defensiver, adaptativer und wenn auch regressiver, so doch »gutgemeinter« Versuch gesehen werden, sich zu schützen. Diese Vorgänge kommen, wenn auch i n abgeschwächter Form und hier m i t eindeutig sinnvoller Funktion, bereits bei der normalen Trauerreaktion vor. Auch hier zieht man sich zurück, verlangsamt Tempo und Intensität der IchFunktionen, versucht dem Selbst für eine gewisse Zeit ein M o r a t o r i u m zu verschaffen. Dies alles ist aber bei der »werdenden« Depression stärker ausgeprägt und, was uns hier besonders interessiert: Aufgrund der - bei zur Depression disponierten Menschen - präexistierenden Labilität und Brüchigkeit des Selbstwertgefühls entwickelt sich diese »Schutzhaltung« zu einem verhängnisvollen Circuli vitiosus. Dieser regressive Rückzug, das Zurückziehen von der Realität, von den alltäglichen Tätigkeiten, die einen nicht nur belasten, sondern umgekehrt auch die konstante, alltäglich notwendige narzißtische Z u f u h r liefern, erweist sich für die Funktion aller drei Säulen (vgl. das Dreisäulenmodell S. 38), insbesondere für die Säule I , verheerend. Je weniger der Patient (auf Grund des Rückzugs) die Gelegenheit hat, sich narzißtisch zu stärken, sich aufzurichten, um so mehr w i r d er i n seiner Überzeugung bestätigt, daß er ein Versager, daß er schwach und unfähig sei. Das i n der Trauerreaktion so nützliche M o r a t o r i u m erweist sich hier also als ein Bumerang. b. Ich habe schon i n einem vorangegangenen Kapitel beschrieben, auf welche Weise Objektverlust und Trennung bei einem labilisierten, brüchigen Selbstwertregulationssystem den Anstoß zur Entwicklung einer Depression abgeben können. I n unserem Dreisäulenmodell läßt sich der Schwerpunkt dieser Störung auf der zweiten, also der mittleren Säule lokalisieren (obwohl auch die beiden anderen Säulen durch das Ausbleiben der gewohnten narzißtischen Zufuhr mitbetroffen sind). Die kompensatorische Bewegung i m Bereich dieser hauptbetroffenen mittleren Säule besteht, wie w i r schon seit F R E U D wissen, i n einer massiven Introjektion, i n einem I n -

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Sich-Aufnehmen des Objekts, u m den Verlust und seine K o n sequenzen wettzumachen. Dies ist uns schon als normale Antw o r t bei der Trauerreaktion bekannt, bei der wir uns zunächst durch partielle Identifikationen m i t Anteilen und Aspekten des verlorenen Objekts für den Verlust trösten, um danach allmählich und i m Laufe der Trauerarbeit durch endgültige Assimilation dieser Anteile oder durch »Umbesetzungen« (in der Sprache des alten triebenergetischen Modells) das ursprüngliche Gleichgewicht wiederzugewinnen. Anders i m Falle der Depression, besonders der konfliktbedingten Depression. Die Bedingungen sind bei ihr viel ungünstiger: Erstens: es handelt sich hier nicht um eine Identifikation, sondern u m eine Introjektion, also u m eine unreifere, globale, undifferenzierte Form der Internalisierung. Zweitens: Das I n trojizierte ist hier hochambivalent besetzt, so daß der zweifelhafte Gewinn (das vorläufige Stillen des »Hungers« nach dem Objekt) m i t dem gleichzeitig »importierten Konflikt«, m i t den importierten Widersprüchlichkeiten, sehr teuer erkauft w i r d . Auf diese Weise werden also das Konfliktpotential und die daraus entstehende Blockierung sowie die Entwicklung zum Depressiven h i n noch weiter verstärkt. Einen besonderen wenn auch keineswegs seltenen Spezialfall solcher pathologischen Introjektion i n der Entstehung der Depression beschrieb A N D R E G R E E N unter der Bezeichnung »die tote Mutter«. Darunter versteht er nicht den realen Tod der Mutter, sondern eine innerliche, für das K i n d , aufgrund ihrer Depression, abwesende Mutter. Das K i n d introjiziere diese mütterliche Imago ( G R E E N 1993, S. 205ff). c. Der dritte Circulus vitiosus betrifft den Bereich und die Thematik der dritten Säule i m Dreisäulenmodell: Es geht u m die Unterwerfung unter das »Objekt« beziehungsweise einen seiner wichtigsten Vertreter i n uns, nämlich das Über-Ich. Diese Unterwerfung impliziert unter anderem eine massive Hemmung der Frustrationsaggression. Diese w i r d nun entweder ersatzlos verdrängt oder i n Form der Autoaggression nach i n nen gewendet (um das Objekt zu schützen, zu schonen, zu

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versöhnen und auf jeden Fall eine aggressive Entladung oder Auseinandersetzung zu vermeiden). Sowohl die Frustrationsaggression als auch die Wendung nach innen, i n Form der Autoaggression, haben ihre ebenfalls, sozusagen normalen Entsprechungen innerhalb der Trauerreaktion, die sowohl aggressive Elemente (in früheren Zeiten haben Könige den Überbringer einer schlechten, traurigen Nachricht töten lassen) als auch autoaggressive Anteile (der v o m Unglück Getroffene rauft sich die Haare, zerreißt seine Kleider, schlägt sich auf die Brust) aufweisen. I m Rahmen des zur Depression führenden Prozesses aber bedingt diese blockierte Frustrationsaggression und Wendung der Aggression nach innen einen Circulus vitiosus i n dem Sinne, daß die wegen der Unterdrückung nun verstärkt auftretenden aggressiven Regungen zu immer größerer Unterwerfung und Selbstbestrafung Anlaß geben, bis hin zu den grausamen Selbstvorwürfen, Versündigungsideen oder sogar Selbstverstümmelungen des Melancholikers.

Somatische Circuli vitiosi A u f diesem Gebiet sind w i r trotz der großen Fortschritte der biologischen Psychiatrie auf Hypothesen angewiesen, die etwas ausführlicher i n einem anderen Abschnitt diskutiert werden sollen. Ich gehe zunächst davon aus, daß die geschilderten psychischen Prozesse, die zu Depressionen führen (also die konfliktuöse Blockierung, die hoffnungslose Hilflosigkeit oder schließlich die psychische Erschöpfung), wie alle psychischen Vorgänge, körperliche Korrelate besitzen beziehungsweise psychosomatische Zusammenhänge implizieren. Dadurch können unter bestimmten Bedingungen neuronale Systeme angestoßen werden, die von einem gewissen Punkt an auch eigengesetzlich schwingen und rückkoppelungsartig auf den Ablauf der psychischen Prozesse zurückwirken (somato-56-

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psychischer Zusammenhang). Chronobiologische Gesetzmäßigkeiten (vgl. P F L U G 1987, S. 248ff), hormonelle und andere Stoffwechseleinflüsse sowie konstitutionelle oder erbliche »Besonderheiten« (was sowohl Vulnerabilitäten als auch Sensibilitäten meinen kann) bestimmen offenbar m i t , ob es beim konkreten Individuum tatsächlich zu diesem, als Störung zu bezeichnenden, starken Mitschwingen der genannten neuronalen Systeme kommt. Von Circuli vitiosi spreche ich hier deswegen, weil diese sich nunmehr verselbständigten körperlichen Vorgänge (worunter man zum Beispiel Veränderungen i m Bereich der Erregungs-Ausbreitung, der Neurotransmitter usw. verstehen könnte), nunmehr i m Sinne des somatopsychischen Zusammenhanges, zur Verstärkung der die Depression konstituierenden psychischen Prozesse führen (durch neuronale Erregung bedingte generalisierte Veränderung der Grundstimmung, des Antriebes usw.), welche wiederum (psychosomatisch) von einer Verstärkung des somatischen Korrelats, der neuronalen Erregung, begleitet werden, und so weiter. Ein anderer, zusätzlicher Circulus vitiosus, der ebenfalls den zur Depression führenden Prozeß festigt, ist zu sehen: Die fortschreitende Hemmung, »Lähmung«, »Leere«, also alle Vorgänge, die ihren körperlichen Ausdruck i n der entsprechenden, erstarrten M i m i k , Gestik und Körperhaltung finden, können allmählich vom Patienten als die »gelungene« - weil zu seinem subjektiven Erleben »passende« - Ausdrucksgebung seines seelischen Zustandes empfunden und deswegen verstärkt und fixiert werden. Ein analoges Phänomen kennen w i r aus der Dynamik der Hyperventilationsstetanie: Hier führt zunächst, also vor dem ersten Anfall, die übermäßige Angst zu einer vermehrten (dem Betroffenen i n ihrer Intensität nicht richtig bewußten) Atmung, die ihrerseits durch eine vermehrte Ausscheidung von C 0 (Verlust von Säure) zu einer Alkalose und sodann zu tetanieformen Krämpfen, insbesondere der Hände (Pfötchenstellung), führt. Der Patient befindet sich plötzlich i n einer Verkrampfung und Erstarrung, die er 2

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zwar nicht verstehen kann, die aber i n gewisser Hinsicht ungewollt und unbeabsichtigt einen quasi »gelungenen« Ausdruck seines momentanen subjektiven Erlebens, seines inneren seelischen Zustandes (der Angst) darstellt. Es ist zu vermuten, daß diese »gelungene« Ausdrucksgebung zur Festigung und zu einem immer häufigeren Auftreten des Syndroms beiträgt. In analoger Weise könnte man sich also nun bei dem »erstarrten«, depressiven Patienten vorstellen, daß seine körperliche Erstarrung mittels einer Rückkoppelung durch die Wahrnehmung des eigenen Körpers zu einem Circulus vitiosus führt, der seinen Zustand noch mehr verstärkt. Das Beispiel der Hyperventilationstetanie eignet sich übrigens auch zu einer Darstellung der oben erwähnten somatischen Circuli vitiosi: Von einem gewissen Zeitpunkt an, wenn die Alkalose eingetreten ist, läuft der somatische Prozeß selbständig nach nicht psychischen, sondern rein somatischen Gesetzmäßigkeiten ab. Z w a r ist in diesem Stadium die Unterbrechung des Circuli auch m i t psychotherapeutischen M i t t e l n prinzipiell möglich; die praktischen Bedingungen und N o t wendigkeiten verlangen aber oft hier die Anwendung eines Tranquilizers, u m die Unterbrechung schneller herbeizuführen.

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Depressiver Konflikt und die Problematik der AggressionshemmungsHypothese

Konflikt und

Depression

Die Psychodynamik der Depression besteht häufig (aber nicht immer!) i n ihrem zentralen Bereich aus einem gravierenden Konflikt, den man besser auch als ein elementares Dilemma bezeichnen könnte. Es gibt nun viele klinische Depressionen, bei denen es sich anders verhält und bei denen der K o n f l i k t keine große Rolle spielt: Eine rein reaktive, unneurotische und unpsychotische Depression zum Beispiel nach einem schweren Verlust, oder ein medikamentös (etwa durch Cortisonbehandlung) induziertes depressives Syndrom, eine Erschöpfungsdepression i m Alter oder nach einer schweren körperlichen Erkrankung etc. haben i n bezug auf ihre Pathogenese wenig m i t einem K o n f l i k t zu tun. Allenfalls können sie sekundär zur Entstehung von Konflikten beitragen. Solche Zustände werden trotzdem zu Recht Depressionen genannt, weil auch bei ihnen der depressive Affekt, die Störung des Zeiterlebens, der innere Stillstand, die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit i m subjektiven Erleben vorherrschen, alles also, was w i r als den wesentlichen Kern, als die alle depressiven Syndrome verbindende Klammer, als den gemeinsamen Nenner ansehen. Bei einem großen, vielleicht dem größten Teil der klinisch rele-

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vanten Depressionen jedoch, und zwar nicht nur den neurotischen, sondern auch den psychotischen, erweist sich die Psychodynamik als eine konfliktuöse,

und dies unabhängig

von dem oft unzweifelhaft mitwirkenden somatischen Faktor. W o r i n dieser K o n f l i k t , w o r i n dieses zentrale Dilemma bei diesen Depressionen besteht, w i l l ich beispielhaft an einer K r a n kengeschichte zeigen.

Stefan

E.

Der Patient war bei Behandlungsbeginn ein 41 jähriger M a n n , der in den 10 Jahren davor mehrere längere depressive und relativ kürzere (6 bis 8 Wochen dauernde) manische Phasen durchgemacht hatte, wobei die Manien immer stationär behandelt werden mußten. Ich werde sein Behandlung näher i m zweiten, dem therapeutischen Teil des Buches darstellen. Hier skizziere ich nur seinen Konflikt,

so wie er für die Kindheit aufgrund des anamne-

stischen Materials zu rekonstruieren war, und so wie er sich innerhalb der Behandlung beziehungsweise i n der Übertragung zeigte. Seine Mutter war eine eher schwache, ängstliche und durch die vielen Kinder überbelastete Frau. Der Vater war von der, wie er meinte, Mittelmäßigkeit der Mutter und vermutlich auch von seinem Sohn (dem Patienten) enttäuscht. Er verlangte von ihm unablässig gute Leistungen. Der Patient fühlte sich auf der anderen Seite aber ständig vom Vater zurück- und zurechtgewiesen; es war ihm nicht möglich, den Vater zufriedenzustellen. Gute Leistungen des Sohnes wurden mit der Bemerkung quittiert: »Es hätte auch besser sein können.« Das Kind, und später der Junge, bemühte sich ständig um das Wohlwollen und die Zuwendung der Eltern aber insbesondere des unnahbaren und strengen Vaters. Analog dazu verhielt er sich auch in der Behandlung dem Therapeuten gegenüber. E r war sehr willig, überaus angepaßt. E r bemühte sich darum, ein »guter analytischer Patient« zu sein, äußerte

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nie Mißmut oder Verärgerung, war glücklich, wenn er glaubte, er habe den Therapeuten zufrieden gestellt. Sowohl gegenüber dem Vater wie auch gegenüber dem Therapeuten gab es aber indirekt eine dem Patienten kaum bewußte trotzige Opposition und einen passiven unbewußten Widerstand. Trotz seiner extremen bewußten Bemühungen und seiner gut entwickelten Intelligenz waren seine Leistungen in der Schule nur mittelmäßig oder sogar schlecht, so daß der Vater sich ärgern mußte. In der Behandlung war oft seine langsame, zögernde Art zu sprechen und überhaupt sein retentives und übervorsichtiges Verhalten auf die Dauer für den Therapeuten mühsam und ermüdend. Diese während der depressiven Phasen oder in den Intervallen nur angedeutete und nur sehr indirekte Opposition gab einen Hinweis für den inneren, den intrapsychischen Konflikt sowie für die halbbewußte (und dem bewußten unterwürfigen Verhalten entgegengesetzten) anderen Strebungen des Patienten. Deren Natur wurde jedoch besonders krass jeweils in den manischen Phasen deutlich: Er war dann nicht mehr zurückhaltend, »brav«, angepaßt und nicht mehr um gute Stimmung und um Zufriedenstellung des Vorgesetzten in seiner Arbeitsstelle bemüht, sondern er zeigte sich forsch und übertrieben selbstbewußt. Er machte sich wenig Gedanken um die Meinung der anderen und legte keinen besonderen Wert auf ihre Zuwendung und ihr Wohlwollen. Er warf das Über-Ich quasi über Bord, sein Selbstbild war aufgebläht.

Diese Strategie konnte er jedoch nur für einige Wochen durchhalten. Die Hochstimmung wurde bald von Depression abgelöst. Z u einem späteren Zeitpunkt der Behandlung sprachen w i r scherzhaft von diesen (nicht mehr auftretenden) manischen Zuständen als von den »paroxysmalen Autonomieanfällen«. Während dieser »Anfälle« habe er sich immer sehr glücklich und m i t sich einig gefühlt. Er konnte wenigstens anfangs das Gefühl genießen, das zu sein, was er tatsächlich ist. Trotzdem mußte er bald diese ihn »glücklich« machende Posit i o n verlassen. N i c h t nur weil sein Verhalten der Umgebung grob auffällig vorkam, sondern offenbar auch, weil i h m diese Dissonanz zu den tatsächlichen (oder von i h m angenomme-

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nen) Erwartungen der für ihn wichtigen Personen unerträglich wurde. Entweder gab es also i n seinem Leben eine gewisse Harmonie, dann und dafür mußte er aber sich und seinen eigenen Wert verleugnen, oder aber er war vor sich selbst etwas wert, dann mußte er die »Väter« ablehnen und verächtlich behandeln. Diesen zweiten Zustand, der ihn glücklich, aber auf Dauer noch unglücklicher machte, hatte er noch weniger als den ersten ertragen können. Deswegen verbrachte er den größten Teil der vier Jahrzehnte seines bisherigen Lebens i m ersten Zustand, i n dieser verzweifelten, ausgesprochen anstrengenden Bemühung u m eine Daseinsberechtigung. Um diese einigermaßen zu sichern, mußte er seine Wünsche, seine Träume, seine Sehnsüchte, oft auch seine Rechte verleugnen. Die kurzen Zeiten der Manie, die Zeiten also der Aufkündigung des Gehorsams, während derer die Anpassung und der Selbstverrat aufhörten, waren die einzigen leuchtenden Punkte i n seinem Leben - Perioden, für die er jedoch jeweils bitter büßen mußte. I m zweiten Teil des Buches werde ich zeigen, auf welche Weise es m i t Hilfe der Psychotherapie gelingen kann, aus diesem schrecklichen Dilemma, aus dieser grausamen Z w i c k mühle herauszufinden.

Aggressionshemmung

und

Depression

Der F R E U D - S c h ü l e r K A R L A B R A H A M hat schon 1911

auf die

Häufigkeit der Aggressionshemmung bei depressiven Patienten aufmerksam gemacht. Seitdem hat diese Beobachtung sich nicht nur unzählige Male bestätigt, sondern auch allmählich zu der Überzeugung der meisten Psychoanalytiker geführt, daß diese Blockierung, Unterdrückung und Verdrängung der Aggression zu den maßgebenden kausalen Bedingungen beim Entstehen der Depression gehöre. Diese theoretische Annahme hatte dann auch gravierende praktisch-therapeutische - 6 z -

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Konsequenzen: N i c h t nur M E L A N I E K L E I N und ihre Nachfolger (die den K o n f l i k t zwischen Libido und Aggressionstrieb ins Zentrum ihrer Depressionstheorie stellten), sondern auch die Mehrzahl aller Psychoanalytiker fokussieren bei der Behandlung der Depressionen ihre Aufmerksamkeit und ihre Interpretationen auf die Aggressionsproblematik und schätzen jede Minderung der Aggressionshemmung oder das Auftreten von offener Aggressivität beim depressiven Patienten i m Laufe der Behandlung als positives Zeichen ein. Ja, sogar außerhalb der Psychoanalyse scheint sich diese Annahme, daß Aggressionsunterdrückung Depression erzeuge, großer Beliebtheit zu erfreuen, so daß sogar oft i n höchst unpsychoanalytischer Weise die Entstehung v o m aggressiven Affekt durch den Therapeuten aktiv ermutigt oder sogar provoziert wird. Hier liegt meines Erachtens ein grobes Mißverständnis vor! Selbstverständlich enthält die Psychodynamik der meisten depressiven Syndrome - insbesondere jener, die auf einem intrapsychischen K o n f l i k t beruhen - eine unterdrückte oder gehemmte beziehungsweise verdrängte Aggression. Dennoch sind weder die Aggression noch ihre Blockierung der »Grund« für die Depression. Vielmehr stellt die hier zur Diskussion stehende Aggression die natürliche Folge der aus dem K o n f l i k t , aus dem Eingeklemmtsein-in-diesen-Konflikt hervorgehenden Frustration dar. Die Unterdrückung dieser A g gression wiederum ist ein konstitutiver Bestandteil der bei der Depression bevorzugten »Lösung« des Konflikts, also der Z u rückstellung der eigenen Selbst-Interessen zugunsten des O b jekts, u m das Objekt (bzw. seinen Vertreter i n uns, das ÜberIch) zu versöhnen. Das Primäre ist also diese Zurückstellung der eigenen Interessen, die sowohl aggressiv als auch später depressiv macht. Wenn es der aggressive Aufstau per se gewesen wäre, der einen depressiv macht, müßte eine irgendwie zustandegebrachte aggressive Entladung die Depression m i l dern. Jedoch nur wenn eine solche manifeste Aggression i n tegrativer Bestandteil einer nunmehr anderen Haltung, einer

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anderen, einer alternativen, einer auch die eigenen Interessen berücksichtigende Lösung des Konfliktes ist, nur dann k o m m t das bis dahin gehemmte Intrapsychische i n Bewegung und die Depression, das heißt die depressive Reaktion, beginnt überflüssig zu werden und nachzulassen. Eine x-beliebige, »sinnlose«, nur durch den mechanischen Überdruck entstehende aggressive Entladung hingegen bringt keine L i n derung der Depression. Das beste Beispiel dafür ist die agitierte Depression, bei der trotz ständiger aggressiver Entladung die Depression weiterhin fortbesteht.

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Der sogenannte Masochismus

I m letzten Kapitel habe ich versucht, die Rolle der Aggression in der Psychodynamik der Depression zu relativieren, indem ich mich kritisch m i t der Auffassung auseinandersetzte, Depression beruhe auf einer Aggressionshemmung. Jetzt gelangen w i r an eine noch schwierigere, kompliziertere Problematik und Einsicht. Es soll gezeigt werden, daß der sogenannte »Masochismus« kein Trieb, sondern eine gerade bei der Depression zentrale Abwehr- und Kompensations-»Strategie« ist. Wegen ihrer Bedeutung i n der Psychodynamik der Depression werde ich mich m i t ihr nun ausführlicher beschäftigen. Als der griechische Schriftsteller N I K O S K A Z A N T Z A K I S den großen Erfolg m i t seinem Roman »Alexis Sorbas« erreicht hatte, war er so glücklich, daß er sich entschloß, sich m i t dem verdienten Geld einen langen Urlaub i n Italien zu gönnen. Dam i t es i h m aber, so sagte er später, nicht »zu gut« gehe, und damit er sozusagen nicht die Götter erzürnte, nahm er sich vor, während dieser Zeit wenigstens vormittags Schuhe zu tragen, die eine Nummer zu klein waren. Diese selbstauferlegte Qual sollte ihn ständig zu Mäßigung und Demut ermahnen. Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist. K A Z A N T Z A K I S neigte immerhin zu phantasievollen und oft auch erfundenen Inszenierungen. Hier geht es jetzt aber u m das Prinzip: das Prinzip eines »Tauschgeschäftes« von Schmerz und Qual für die Entlastung eines tatsächlich oder scheinbar überbelasteten Über-Ich-Kontos. K A Z A N T Z A K I S konnte also seinen Erfolg -65-

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und seine Italienreise nur unter der Bedingung unbekümmert genießen, daß er die antizipierten Schuldgefühle m i t selbsterzeugtem Leid vorweg ausglich. Solches Tauschgeschäft läßt sich tatsächlich i n sehr vielen und sehr differenzierten Variationen i m Verhalten der M e n schen nachweisen. Ich möchte diese Gleichung als Grundstein eines Modells zum Verständnis des sogenannten »Masochismus« setzen - eines Modells, das zwar offensichtlich psychoanalytisch inspiriert und orientiert ist, das aber gleichzeitig auch versucht, auf die meines Erachtens unnötige Annahme eines spezifischen »masochistischen Triebes«, geschweige eines primären Masochismus zu verzichten.

Die Theorie des primären

Masochismus

F R E U D hat 1917 zunächst den Versuch unternommen, den Masochismus als einen gegen das Selbst gerichteten Sadismus zu verstehen. Es ging also u m die Wendung der Aggression nach innen. Die Aggression war i n dieser ersten Fassung der Theorie das Primäre. Von 1920 an aber führte er, u m das Versagen der Psychoanalysetechnik bei Masochismus zu erklären, den »Todestrieb« ein und damit auch den Begriff des »primären Masochismus«: Der primäre Trieb besteht nach dieser neuen Auffassung i n der Lust am Leiden. Diese sei die direkte Manifestation des Todestriebes. I n einem zweiten Schritt werde diese primäre destruktive Autoaggression nach außen gerichtet, woraus dann (sekundär) der Sadismus entstehe.

Dies war selbstverständlich eine recht eigenartige These, auf die aber F R E U D aufgrund eindrucksvoller Erfahrungen m i t schwer depressiven Patienten gekommen war. Bei diesen Patienten erwies sich tatsächlich der Drang zum Selbstdestruktiven nicht nur als sehr stark, unnachgiebig, unanalysierbar und therapieresistent, sondern es entstand der Ein-66-

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druck, als ob die Patienten dieses Leiden selbst herbeiführten. hat dabei, um sich ein Verständnis zu verschaffen, auch biologistisch spekulativ argumentiert. Doch damit brauchen w i r uns heute nicht mehr auseinanderzusetzen. Die Argumentation ist längst überholt. Hingegen ist aber seine auf klinischen Erfahrungen beruhende Argumentation ernst zu nehmen. Wer i n der alltäglichen klinischen Arbeit und bei längerfristigen Behandlungen erlebt hat, m i t welcher Intensität schwer depressive (aber auch andere) Patienten sich selbst seelisch und körperlich schädigen und an ihrem Leiden zu hängen scheinen, versteht gut, w a r u m F R E U D es nicht so abwegig fand, einen primär masochistischen Trieb zu postulieren, obw o h l die Problematik einer solchen Annahme i h m damals schon klar gewesen sein dürfte. FREUD

Das klinische Bild des sogenannten »moralischen Masochismus« Die Vielfalt der psychischen Prozesse, Erlebnisqualitäten und Verhaltensweisen, die »masochistisch« genannt werden, ist erstaunlich groß. Dabei prägte ursprünglich der Psychiater K R A F T - E B I N G den Terminus (nach dem Schriftsteller L E O P O L D V O N S A C H E R - M A S O C H [ 1 8 3 6 - 1 8 9 5 ] ) lediglich, u m eine bestimmte und scharf abgegrenzte Form von sexueller Perversion zu bezeichnen, i n der es u m die Erzeugung sexueller Lust durch Erleiden von physischem und psychischem Schmerz und durch Demütigung geht. Der Begriff wurde dann von F R E U D durch das Konzept des moralischen Masochismus erheblich erweitert. Hier spielt die sexuelle Lust überhaupt keine Rolle mehr. Es geht nach F R E U D lediglich u m das Bedürfnis nach Bestrafung durch eine als überlegen empfundene Person, um unbewußte Schuldgefühle auszugleichen. Später w i r d der Begriff noch weiter ausgedehnt, so daß fast alle autodestruktiven und viele depressiven Syndrome als eigentlich »masochistisch« verstanden werden.

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Ein wichtiges gemeinsames, wenn auch negatives M e r k m a l findet man bei allen diesen Erscheinungsformen des Masochistischen: Sie alle stellen wenigstens auf den ersten Blick das »Lust-Unlust-Prinzip« i n Frage, denn bei ihnen w i r d ein schmerzlicher, demütigender, beschämender Zustand nicht wie man es erwartet - als unlustvoll abgelehnt und vermieden, sondern umgekehrt akzeptiert oder sogar selbst herbeigeführt. D a r i n besteht nun das Rätsel des sogenannten Masochismus, dessen Lösung uns noch beschäftigen w i r d . Z u v o r aber werden kurz einige klinische Beispiele angeführt, die die Variationsbreite des Phänomens andeuten sollen. Ein 24jähriger Mann, der als Kind vom Vater oft geschlagen, von der Mutter emotional ausgenutzt und von beiden Eltern recht grausam »schwarz« erzogen wurde, war trotzdem in der Lage, wenigstens scheinbar sich mit Hilfe eines revolutionären Sich-Auflehnens während der Pubertät von der Elterngewalt und Abhängigkeit zu befreien und großen Erfolg in einem künstlerischen Beruf zu erreichen. Nach einer schweren Ehekrise und anschließender Scheidung und nach weiteren gravierenden Enttäuschungen durch Kollegen geriet er in einen jahrelang andauernden depressiven Zustand. Er wurde unfähig, schöpferisch tätig zu sein. Er wurde von Schlaflosigkeit und schrecklichen Träumen gequält, gelangte öfters an den Rand des Suizids; er unternahm einmal auch einen ernsthaften Suizidversuch und konnte erst mit Hilfe einer längeren psychotherapeutischen Behandlung sich langsam stabilisieren. Als er nach langer Zeit wieder in der Lage war zu arbeiten und sich sogar in seinem Beruf wieder künstlerisch schöpferisch und produktiv entfaltete, begann er wie »unbewußt absichtlich« alle ihm früher gut und freundlich gesonnenen Mäzene zu vergraulen und konnte schließlich seine Werke nicht mehr an die Öffentlichkeit bringen. Er verhielt sich im Effekt so, daß er systematisch alles Positive, das für ihn wieder erreichbar schien (oder zu werden »drohte«?), boykottierte und zerstörte. Dieses zunächst paradox erscheinende Verhalten wurde allmählich innerhalb der Psychotherapie von Patient und Therapeut so verstanden: Sehr wahrscheinlich hing er trotz aller negativer Erfahrungen noch an seinen Eltern: Es müsse ihm darum »schlecht« gehen, da-68-

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mit er von ihnen eine gewisse Zuneigung und Zuwendung bekäme (gemeint ist das innere, das internalisierte Objekt, siehe S. 44). Hinzu kam auch Folgendes: Daß die Welt böse, schlecht und feindlich sei, wisse er längst. Dies sei für ihn das gewohnte und bekannte Bild seit seiner Kindheit. Er zog es offenbar halbbewußt vor, in dieser ihm bekannten und deswegen auch »sicheren« Welt zu bleiben, und ging das Risiko einer freundlichen, guten Welt (die ihn vielleicht wieder enttäuschen könnte) gar nicht erst ein. N i c h t nur ich persönlich, sondern auch die meisten Analytiker würden diese Konstellation dem »moralischen« Masochismus zuordnen. Eine andere, eine verwandte, aber doch unterschiedliche K o n stellation, eine andere Variante des sogenannten moralischen Masochismus kann man m i t dem Fall eines 35jährigen Akademikers illustrieren: Er stehe, so seine Klage, nicht nur im Leben allgemein sondern auch innerhalb der Therapie, ständig unter der Angst, er werde »es nicht bringen«, er werde versagen, er werde den Analytiker nicht zufriedenstellen können. Tatsächlich beginnt er öfters leicht zu stottern, bringt oft keinen Satz richtig zu Ende und fühlt sich dadurch in seiner Befürchtung bestätigt. Erst nach längerer Zeit wurde deutlich, daß es sich bei diesem angeblichen Versagen um eine zum Teil selbst herbeigeführte Blokkierung handelte, die zwar aus einer Mischung aus unterwürfiger Haltung und hintergründigem Groll entstand, die aber dann auch die Funktion eines passiven Protestes übernahm. Beides kenne er sehr gut aus seiner Kindheit im Umgang und in der Beziehung zu seinem Vater, einem zurückgezogenen, empfindsamen, egozentrischen und meistens schweigenden aber auch zu Jähzorn neigendem Mann. Der Patient fürchtete ihn, erlebte ihn aber andererseits auch als extrem schwach und hilflos. Sein Verhalten während der Kindheit war deswegen sehr vorsichtig und tastend. Er würde es heute eine »Besänftigungsstrategie« nennen. Und genau dies sei auch das, was er gleichsam habituell auch heute noch, auch in der Beziehung mit dem Analytiker tue. Das sei aber eine Haltung, die ihn

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gleichzeitig zunehmend frustriere (wie damals beim Vater), verärgere und zornig mache. Er müsse den Zorn aber zurückdrängen, um den Vater (jetzt den Analytiker) zu schonen und ihn nicht in Jähzorn zu versetzen. Nur zögernd und indirekt kommt das Aggressive wenigstens in der Beziehung zum Analytiker heraus: Der Patient bestraft den Therapeuten damit, daß er in der Analyse keine richtigen Fortschritte macht, sondern im Gegenteil hilflos stotternd daliegt und »diffuses Zeug« produziert. Damit, daß es ihm, dem Patienten, schlechter geht, soll somit der Analytiker bestraft werden. Sobald er sich seiner eigenen passiven Aggressivität bewußt werde, würden wieder die Schuldgefühle überwiegen und er müsse diese mit Unterwerfung ausgleichen. Der sogenannte moralische Masochismus dieses Patienten hat also zwei Funktionen: Er stellt erstens eine Besänftigungsstrategie m i t Unterwürfigkeit dar, u m den empfindsamen, innerlich schwachen Vater nicht zu erregen und zu irritieren. Dies k o m m t zweitens einer Bestrafung des Vaters und Analytikers gleich, weil dadurch, daß es dem Patienten schlecht geht, die Bemühungen des Therapeuten ad absurdum geführt werden. Das erinnert an das trotzig hilflose Verhalten eines Kindes, das sich von den Eltern schlecht behandelt fühlt und sich aus Rache »die Hände erfrieren läßt«. Auch dieses K i n d bestraft die Eltern damit, daß es ihm schlecht geht. Diese Konstellation tritt i n anderen Fällen als kontinuierliches Lebensmuster auf, und zwar i n der Form dessen, was einige Autoren die »negative Identität« genannt haben. S A C K S T E D E R zum Beispiel schildert einen solchen Patienten, dessen »Masochismus« darin bestand, daß er sich selbst als Versager definierte. Das war eine Selbstdefinition, die zwar durch die programmierten Mißerfolge viel Leid m i t sich brachte, aber paradoxerweise auch eine »positive« Funktion hatte, indem sie Entstehung und Aufrechterhaltung eines separaten und autonomen Gefühls für das eigene Selbst ermöglichte. Das Beispiel von S A C K S T E D E R ist ein 25jähriger M a n n , der durch eine lange Reihe von selbst herbeigeführten Mißerfolgen immerhin den »Erfolg« erzielte, daß er dadurch seine Eltern ablehnen, be-

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kümmern und treffen konnte. Neben der Funktion der Selbstdefinition (durch den Kontrast zu dem, was die Eltern von ihm erwartet haben) kann man hier vielleicht auch die zweite Funktion, den »Tausch«, erkennen: »Ich darf aggressiv sein, wenn ich damit gleichzeitig mich selbst auch treffe«. Eine 43jährige Frau neigte dazu, ihre Partner (sowohl ihren Ehemann wie auch nach ihrer Scheidung ihre späteren Bekannten) so zu wählen, daß Enttäuschungen, Frustrationen oder auch regelrechte Katastrophen gleichsam vorprogrammiert waren. Man hatte den Eindruck, daß sie halbbewußt immer wieder »schwierige« Partner suchte, obwohl sie gerade auf Grund ihrer Erfahrungen die zu erwartenden Komplikationen im voraus hätte sehen müssen. Es ist zu vermuten, daß sie gerade bei solchen Partnern entweder die alten schlimmen Erfahrungen wiederholen wollte, oder, was m i r wahrscheinlicher erscheint, das Gegenteilige zu erleben hoffte. Etwas salopp formuliert: Es ging ihr u m eine Wiederholung des Experiments unter genau den ungünstigen Bedingungen wie i n der Kindheit. Denn nur auf diese Weise so glaubte sie - hätte sie endlich die bis dahin für sie geltende Universalität der Schlechtigkeit der Welt widerlegen können (also nur durch eine überraschend positive Erfahrung, trotz der wie damals ungünstigen Ausgangsbedingungen). In der Gruppentherapie, an der sie teilnahm, ist dieses Muster den anderen Mitgliedern klar geworden. Sie gerieten auch bald i n Z o r n und W u t über sie: Weil die Patientin i n der Gruppe nicht ohne weiteres die Möglichkeit fand, eindeutig »schwierige Partner« zu finden, neigte sie dazu, einige Gruppenmitglieder als solche »schwierigen Menschen« zu definieren indem sie sich über nichts bei ihnen zufrieden zeigte. Auch hier würden die meisten Analytiker von einem sogenannten moralischen Masochismus sprechen. Hier fand allerdings kein ausdrückliches »Tauschgeschäft« statt. Es ging vorwiegend darum, durch dieses starre Muster die durchgehende »Schlechtigkeit« der Welt beziehungsweise des »Objekts« zu bestätigen und sich somit vor dem Einlassen i n eine

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neue Beziehung, die eine Wiederholung der Enttäuschung und Traumatisierung hätte m i t sich bringen können, zu schützen. Bemerkenswert, und zu dem Gesagten passend, ist die Tatsache, daß diese Frau andere, unkomplizierte, gutmütige, nicht »schwierige« sondern vertrauenerweckende Personen uninteressant und somit für eine Beziehung ungeeignet fand. Wie vorsichtig man jedoch m i t der Etikettierung Masochismus und m i t solchen Annahmen halbbewußter selbstdestruktiver Tendenzen sein sollte, demonstriert die Mikroanalyse einer kleinen Episode innerhalb einer anderen Behandlung: Eine 40jährige depressive Patientin hatte schon mehrere therapeutische Behandlungen abgebrochen. Sie seien alle aus irgendwelchen Gründen schief gelaufen. Jetzt, nach einer ebenfalls frustrierenden Phase der Behandlung bei dem derzeitigen Therapeuten, hatte sie endlich guten Kontakt gewinnen können. Das stellte sie selbst ausdrücklich in einer Sitzung fest. Die nächste Sitzung eröffnete sie dann aber mit Anklagen gegen den Therapeuten, Vorwürfen über früheres falsches Verhalten von ihm und so weiter. Wollte sie damit die sich anbahnende gute Beziehung i n »masochistischer« Weise wieder zerstören? Diese Frage stellte die Patientin i n der zweiten Hälfte dieser aggressiv begonnenen Stunde selbst - sie war ja inzwischen i n bezug auf psychoanalytische Theorien durch ihre verschiedenen Behandlungen versiert. Es hat sich gezeigt, daß die konventionelle Hypothese wenigstens i n diesem Fall nicht zutraf. Die Patientin wollte auf keinen Fall die Beziehung wieder kaputt machen. Sie hatte i m Gegenteil große Angst, der positive Kontakt könnte wieder reißen. Sie habe sich nur absichern und zweitens das i n der guten Stunde Erreichte vertiefen wollen, indem sie auch weitere noch ungelöste »Klumpen i n ihrer Seele«, die durch tatsächliche oder angebliche negative Erfahrungen m i t dem Therapeuten i n der Vergangenheit entstanden waren, zur Sprache brachte. Denn erst jetzt nach Erreichen einer einigermaßen sicheren Plattform hatte sie den M u t sich m i t diesen »alten Rechnungen« zu befassen.

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Der erogene

Masochismus

Ich verlasse vorläufig das Gebiet des moralischen Masochismus, u m den »erogenen Masochismus« durch einige kurze Beispiele zu illustrieren. Darunter fallen zunächst Menschen mit einer manifesten Perversion. Diese suchen aber meistens nicht einen Therapeuten auf, denn sie sind gerade durch ihre Perversion soweit »stabilisiert«, daß sie nicht unter großem Leidensdruck stehen. N u r gelegentlich oder indirekt erfährt man Konkretes darüber. So suchte mich ein Paar auf m i t der Bitte u m eine Beratung. Die beiden, die einen eindeutig manifesten und ausgeprägten erogenen Sadomasochismus praktizierten, hätten sich i n der letzten Zeit nicht über die angemessene Anzahl der Peitschenhiebe einigen können, welche die Frau bei jeder sexuellen Begegnung m i t ihrem M a n n zu erhalten hatte. Ich gewann den Eindruck, daß hier das sadomasochistische Ritual, das sonst wie eine Absicherung, wie ein strukturierendes und somit beschützendes Korsett gegen Auswucherungen funktionierte, ins Schwanken geraten war. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, daß Frauen häufiger die masochistische Partie bei solchen sadomasochistischen Arrangements übernehmen. I m Gegenteil. Es verhält sich hier wie auch bei allen anderen ausgebildeten Perversionen so, daß die Männer eindeutig überwiegen (wenn auch nicht i n dem Ausmaß wie zum Beispiel beim Fetischismus oder Exhibitionismus). Dies scheint auch bei den i n der letzten Zeit, w o h l auch als Modeerscheinung, i n den Medien m i t Vorliebe vorgeführten Fällen von Sadomasochismus zuzutreffen. Über das Phänomen eines ausgeprägten erogenen Masochismus erfährt man aber fast ausschließlich nur indirekt etwas, weil diese Menschen, wie schon erwähnt, den Therapeuten kaum aufsuchen. Viel häufiger trifft man bei Patienten m i t depressiver Symptomatik (aber auch ohne Depression) eine Reihe von meist harmlosen alltäglichen Verhaltensweisen, die i n der Nähe des erogenen Masochismus liegen.

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So träumte zum Beispiel ein Patient, daß er in ein Gefängnis gebracht wurde. Er galt als Agent, Geheimnisse sollten aus ihm per Folterung abgefragt werden. Er lag auf einem harten Bett. Derjenige, der ihn vernahm, drückte gleichzeitig mit seinem Finger sehr intensiv auf die Stirn des Patienten, so daß er dadurch große Schmerzen erlitt. Schließlich, und eigenartigerweise, wurde er sexuell erregt und erwachte mit einer Pollution. Übrigens war der Zusammenhang mit der therapeutischen Situation in diesem Traum nicht zu verkennen: hartes Bett, Geheimnisse abfragen etc. Ein anderer Patient träumte, daß er in einem gefängnisähnlichen großen Keller gebückt herumlaufen mußte, obwohl die Decke nicht so niedrig zu sein schien. Der Grund war vielmehr der, daß eine dort anwesende weibliche hohe Person, etwas zwischen Priesterin und Königin, einen magischen, zwingenden Einfluß auf ihn ausübte. Er konnte sich nicht aufrichten. Der Patient gab sich große Mühe, diesen zwingenden Einfluß zu überwinden und wurde nach kurzer Zeit in sexueller Erregung wach. In der Vorgeschichte mancher Patientinnen erfährt man, daß sie ihre erste deutliche Erregung als Kinder oder i n der beginnenden Pubertät erlebt haben, als der Vater sie einmal strafend auf das Gesäß geschlagen habe. Auch hier scheint die für den sogenannten Masochismus typische Konstellation gegeben: Vorwegnehmende Bestrafung ermöglicht das Erleben von sexueller Lust trotz des Tabus und trotz der dadurch antizipierten Schuldgefühle.

Der sogenannte Masochismus als »Strategie« und Schutzmechanismus Es sind vorwiegend solche Beobachtungen wie die zuletzt erwähnten Beispiele des erogenen Masochismus, die zu der Auffassung einer primären Lust am Leiden oder zu der Annahme eines »masochistischen Triebes« geführt haben. Schon diese

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wenigen kurzen Beispiele konnten jedoch, sofern die Möglichkeit ihrer Analyse bestand, gleichzeitig deutlich zeigen, daß nicht das Leid und der Schmerz als solche die Lust erzeugen und etwa deswegen gesucht und provoziert werden. Vielmehr stellen Leid und Schmerz dadurch, daß sie (via Ausgleich) eine relative Schuld- und Angstfreiheit schaffen, die Voraussetzungen dafür, daß die Betreffenden Lust empfinden dürfen und können. Wenn dies für den erogenen Masochismus zutrifft, so Masochishat es u m so mehr Gültigkeit für den moralischen mus. Hier besteht allerdings der »Gewinn« - die Funktion dieser Strategie - nicht i n der Ermöglichung der Lust, sondern in der Befriedigung anderer, elementarer Bedürfnisse, wie zum Beispiel der Absicherung von Identität und Wertigkeit des Selbst. Letzteres gilt übrigens vielfach auch sogar für den erogenen Masochismus und Sadismus und besonders ihre schwereren Formen, die keineswegs nur der Sicherung der Lust dienen (vgl. M O R G E N T H A L E R S Theorie über die sexuelle Perversion als die »Plombe«, die den hohlen Z a h n , also das brüchige Ich, trägt oder zumindest notdürftig zusammenhält). Damit komme ich auf die zentrale Thematik zurück, auf die Beziehung des sogenannten Masochismus (und Sadismus, siehe weiter unten) zu den Psychosen und insbesondere zu der Depression. Meine These: Es ist nicht ein angeborener »primärer Masochismus«, der zu der depressiven Autodestruktion (Selbstverstümmelungen, Sich-Selbst-Zerschneiden, Suizid etc.) führt, sondern umgekehrt: Es ist die drohende Objektlosigkeit, Verlassenheit, Hoffnungslosigkeit und der durch das Eingeklemmtsein i n depressiven Konflikten erzeugte Stillstand, die unter anderem auch »masochistische« Strategien mobilisieren. Dabei geht es nur zum Teil um das oben mehrfach geschilderte »Tauschgeschäft« m i t dem Über-Ich, also jene Entlastung durch die Selbstbestrafung und das Leid. Dieses »Tauschgeschäft« k o m m t , wenn überhaupt, nur für jene Depressionen i n Frage, die auf einem Konflikt beruhen. Wie w i r jedoch wissen, gibt es auch viele andere Depressionen und de-

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pressive Syndrome, bei denen vorwiegend körperliche oder seelische Erschöpfung, Sinnlosigkeit, Entleerung, Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit und nicht ein K o n f l i k t oder ein Schuldgefühl i m Vordergrund stehen. Die klinische Erfahrung und die Beobachtungen bei analytisch orientierten Behandlungen zeigen n u n , daß oft auch bei solchen Depressionen sogenannte »masochistische« Muster mobilisiert werden. Sie haben hier offensichtlich eine andere, wenn auch ebenfalls antidepressive Funktion. Es gibt Menschen, die sich selbst bestrafen und sich selbst erniedrigen, nicht um das Über-Ich (die »Eltern«) zu versöhnen, sondern u m eine intensive zupackende Zuwendung und das Engagement des Partners, sei es auch des sadistischen Partners, hervorzurufen u n d zu erfahren. Oder es gibt andere, die sich m i t einer depressiven Bezugsperson identifizieren (z.B: Identifikation m i t einem leidenden Elternteil, vgl. G R E E N 1993), u m wenigstens auf diese Weise i n Kontakt m i t i h r zu bleiben, sie nicht total zu verlieren, sie nicht völlig aufzugeben. Diese Konstellation habe ich öfters bei schwersten Depressionen gefunden, so etwa bei einem m i t seinem depressiven Vater identifizierten Patienten, der mir i n einem späteren Stad i u m der Behandlung sagte: »Ich merke allmählich, daß ich mich so bedrückt, leblos und leer erlebe und mich auch entsprechend verhalte, nur weil mein Vater auch so war«. Es geht hier nicht nur u m eine einfache äußere Nachahmung, es geht nicht darum, daß er dies alles als Vorbild vorgelebt bekommen habe, und sozusagen »mechanisch« ein für allemal gelernt hätte, sich so und nicht anders zu verhalten. Es geht u m viel mehr. Er drückte es so auch aus: » Wenn ich auch das aufgebe, dann habe ich nichts mehr auf der Welt!« Des weiteren gibt es Menschen, die sich weh tun oder auch körperlich verletzen, sich i n die Haut schneiden oder m i t Z i garetten verbrennen, u m die eigenen Grenzen, die eigene Existenz zu erfahren und zu spüren (eine nach meiner Erfahrung bei präpsychotischen und psychotischen Patienten sehr häufige Konstellation). Es geht also sehr oft gar nicht darum, durch -76-

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die »masochistische« (unbewußte) Strategie sexuelle Lust schuldfrei erleben zu können. Vielmehr w i r d das masochistische Muster hier mobilisiert, um die Aufrechterhaltung einer auch nur notdürftigen Verbindung zum Objekt zu sichern, u m eine Stabilisierung der Ich-Grenzen und der Selbstkohäsion (vgl. auch C O O P E R 1 9 8 8 ) zu erreichen oder u m eine »Leere« zu füllen, einer antizipierten Objektlosigkeit oder auch einfach einem Mangel an Lebenssinn oder Stimulierung zuvorzukommen oder diesem Erleben vorzubeugen. Letzteres könnte auch die Attraktivität von Horrorgeschichten oder H o r r o r f i l men, von schwarzer Magie oder von m i t Schmerz und Leiden verbundenen »Happenings« verständlich machen - als Ersatz für fehlende Stimulation und Lebenssinn. Wenn w i r dies alles noch unter dem Begriff des sogenannten Masochismus subsumieren wollen, müßten w i r seinen psychodynamischen Kern erweitern: Es ginge dann nicht nur um ein »Tauschgeschäft« m i t dem Über-Ich i m engeren Sinne, sondern überhaupt um jene »Umwandlung von Unlust zu Lust« (L. W U R M S E R ) , u m einen Mechanismus, durch den Schmerzliches zum Lustvollen, Desintegrierendes zum Integrierenden, Leere zur Fülle, Negatives zum Positiven verwandelt w i r d . Versteht man das Masochistische i n diesem Sinne, so zeigt sich, daß es sich i n der Mehrheit der Fälle nicht so sehr u m sexuelle Lust handelt, sondern u m eine A r t narzißtische Lust, so etwa, wenn die Tragik des eigenen Leids i n ästhetisierender Weise als etwas Exklusives, Großartiges erlebt w i r d , oder wenn das Ausharren i m Leiden zu einem Beweis für die eigene Stärke, Authentizität oder »Tiefe« hochstilisiert w i r d . Ich hätte keine ernsthaften Einwände gegen eine solche Erweiterung des Begriffes des sogenannten »Masochistischen«, wenn man nur Sorge für die präzise Formulierung der jeweiligen Funktion dieses Modus trägt, also dieser masochi¬ stischen (unbewußten) Quasi-Strategie. Allerdings sollte man, auch nach einer solchen Erweiterung des Begriffs, keineswegs jedes selbstdestruktive Verhalten »masochistisch« nennen. Selbstdestruktives Verhalten kann

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nämlich auch auf einer ganz anderen Psychodynamik beruhen. Autoaggression wird sehr oft notwendig, um das Objekt zu schonen (Wendung der Aggression nach innen, u m eine aggressive Destruktion des Objektes zu vermeiden, das man auch liebt oder auf jeden Fall sehr nötig hat). Oder umgekehrt: Autoaggressives Verhalten entpuppt sich oft als passive Aggression, durch die man indirekt das Objekt trifft (indem man zum Beispiel bei dem Partner Schuldgefühle erzeugt). Es ist also ein großer Unterschied ob ich autoaggressiv werde, um das Objekt zu schonen, oder umgekehrt, u m es indirekt zu treffen, oder aber - das ist die dritte und für unsere Thematik besonders relevante Möglichkeit - u m es für mich zu gewinnen. Ich möchte vorschlagen, daß w i r nur i m letzteren, dem dritten Fall der Autoaggression von »Masochismus« sprechen, sofern w i r überhaupt diesen Terminus noch benutzen wollen.

Masochismus

und

Depression

Die langen Erörterungen zum Begriff des sogenannten Masochismus, zum masochistischen Modus und zu der unbewußten masochistischen »Strategie« haben einen wichtigen Bezug zu unserem Thema, zur Depression, jedoch einen anderen als üblicherweise angenommen. Landläufig geht man auch innerhalb der Psychoanalyse davon aus, daß Depression, insbesondere die Schulddepression, eine besondere Ausformung des moralischen Masochismus sei. Ich meine, daß es sich i n W i r k lichkeit gerade umgekehrt verhält: Der Masochismus ist nicht die Ursache der Depression, sondern stellt umgekehrt einen antidepressiven Mechanismus dar. Er ist eine unbewußte Strategie, durch die eine antizipierte oder schon eingetretene Verlassenheit, Hoffnungslosigkeit, Objektlosigkeit, Trennung oder ein Verlust, eine Herabsetzung der lebensnotwendigen Stimulation, Integration und Kohäsion sowie Aufrechterhal-

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tung der Ich-Grenzen vorbeugend bekämpft werden. Eine ähnliche antidepressive Funktion hat übrigens auch das Gegenteilige des Masochismus, nämlich der Sadismus. Der U n terschied besteht nur darin, daß der Sadismus zur Erreichung der narzißtischen Stabilisierung m i t Aggressivität (s. M E N T zos 1993, Kap. 5) arbeitet, während der Masochismus durch die oben geschilderte Umwandlung des Negativen i n das Positive zu seinem Ziel k o m m t . Dies alles ist nicht nur theoretisch interessant. Es ist auch für die praktische therapeutische Arbeit wichtig und notwendig, die Funktion und die innere Logik solcher Prozesse nach Möglichkeit präzise zu erfassen. N u r auf diese Weise befinden w i r uns ausreichend »nahe« an dem Erleben des Patienten, so daß w i r i h m diese bewußtseinsnahen Inhalte und Gefühle benennen können. Manchmal vermißt man diese A r t der Präzisierung solcher Prozesse, sogar auch bei sonst sehr wertvollen und auf systematischen Beobachtungen basierenden Überlegungen und Konzeptualisierungen zur Dynamik des Masochismus. Dies gilt zum Beispiel auch für die so ausgezeichnete Darstellung der Thematik durch L E O N W U R M S E R . W U R M S E R stellt zunächst (S. 293) fest, daß innerhalb der masochisti¬ schen Handlungssequenz eine Verzeihung erhofft und angestrebt werde, daß jedoch immer wieder nach diesem flüchtigen versöhnenden Einswerden die Bestrafung und Erniedrigung erneut auftritt. Die i n dieser Weise von W U R M S E R beschriebene Sequenz ist zwar tatsächlich häufig klinisch anzutreffen. M a n fragt sich nur: Wieso, w a r u m k o m m t es dann so oft zu dieser Wiederholung des Alten, zu diesem »Rückfall«. Die A n t w o r t ist eigentlich recht einfach und sie ist auch bereits i n den sonstigen Prämissen des WuRMSERschen Konzepts enthalten: Die Strenge des Über-Ich läßt diesen Zustand des Einswerdens und der Harmonie (die durch die Selbstbestrafung erreicht wurde) nicht bestehen. Es darf einem sozusagen nicht gut gehen, oder: Dieses durch Selbstbestrafung bitter erkämpfte Wohlbefinden darf nur kurzfristig sein.

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Konsequenterweise muß man nun weiter fragen: Warum ist aber dieses Über-Ich so streng? Meine A n t w o r t : Weil die Gesamtkonstruktion, weil die gesamte Selbstwertgefühlsregulat i o n bei solchen Menschen auf biographisch entstandenen oder erzwungenen »falschen« Verknüpfungen basiert. Aufgrund früherer Erfahrungen ist die gewünschte Stärke, K o n stanz und Stabilität des primären Objekts m i t seinem (des Objekts) Grausamsein als conditio sine qua non verknüpft. Diese Verknüpfung ist zwar »falsch«, aber eben aus der Perspektive des kleinen Kindes verständlich. Wenn nämlich auch diese Verknüpfung nicht »stimmen« sollte, dann hätte das K i n d sein Objekt völlig verloren. Wenn also die Zuverlässigkeit, Konstanz und Stärke, wenn die beschützende Funktion dem Kinde nur in dieser Verbindung, in der Verbindung mit Strenge und Strafe begegnet ist, das heißt nur i n der Beziehung m i t einem so konstruierten und definierten Objekt, dann muß dem K i n d (und später der erwachsenen Person) jeder gleich wie erreichte Zustand des Wohlbefindens, der Gelassenheit, der Harmonie gleichsam verdächtig (in Bezug auf Konstanz und Zuverlässigkeit des Objekts) erscheinen. Aus Sicherheitsgründen tendiert es dann dazu, erneut den anfänglichen Zustand, also jene zwar unlustvolle aber bekannte und leicht einsetzbare Grundkonstellation, anzustreben: Strenges Bestrafen durch das Über-Ich (oder Schicksal oder Partner) sowie sich unterwerfendes, sich demütigendes, versöhnungs¬ suchendes Verhalten. Die Geschlossenheit dieses Systems kann sehr schwer durchbrochen werden. Auch die ebenfalls von W U R M S E R ausgezeichnet und überzeugend dargestellte Verwandlung und Umdrehung des Unlustvollen zum Lustvollen, des Schmerzes und der Angst i n Lust, w i r d meines Erachtens nicht ganz zu Ende gedacht. Die analytische Überlegung zur Funktion, zum »Sinn« dieser U m wandlung müßte noch weiter geführt werden. Diese k r i t i schen Bemerkungen sind insofern etwas ungerecht, weil es Wurmser gelegentlich tatsächlich gelingt zu zeigen, daß hier eine v o m Objekt nicht angebotene, von der Situation nicht

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gewährleistete, v o m Über-Ich nicht erlaubte Befriedigung m i t Hilfe des masochistischen Mechanismus doch durch eine narzißtische Befriedigung ersetzt w i r d , wie zum Beispiel bei jenem zwar bitteren, aber für »Kenner« sehr geschätztem »Genuß« der schon erwähnten Ästbetisierung der Schläge des Schicksals. M a n erlebt sich als negativer Held. M a n k o m m t sich als etwas ganz Besonderes, Feines, Extraordinäres vor. Es ist nach meiner Einschätzung diese Mischung aus Leid und narzißtischer Befriedigung, die F R E U D und viele andere Analytiker offenbar an die Befriedigung eines angeblich p r i mären masochistischen Triebs denken läßt. W i r haben aber gesehen, daß dies eine unnötige und nicht hinreichend gestützte Annahme ist. Es wäre übrigens ebenfalls ein Mißverständnis, wenn man aus der Tatsache der eben erwähnten Mischung ein Argument für die Mischungs- und Entmischungstheorie F R E U D S ableiten wollte: Hier w i r d nicht Libido und Aggression gemischt, sondern es w i r d aus der Not eine Tugend gemacht. Aus der Notwendigkeit des Leidens w i r d eine Fähigkeit zum Leiden und daraus ein narzißtischer Gew i n n hervorgeholt. U n d gerade darauf basiert auch die de¬ pressionsabwehrende oder depressionsvorbeugende W i r k u n g der unbewußten masochistischen Strategie. Durch sie erreicht der Betreffende zweierlei: a) bleibt er, sei es auch auf sadomasochistischer Weise, i n Verbindung m i t dem Objekt und b) w i r k t er der Erniedrigung des Selbstwertgefühls entgegen (durch die narzißtische Überhöhung i m Leid). Beide W i r k u n gen können m i t Recht antidepressiv genannt werden.

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Psychodynamik der Manie

In der Psychoanalyse ist die Manie vorwiegend als antidepressiver Mechanismus angesehen worden. Durch Verleugnung der Realität (des Verlustes, der Trennung, der Herabminderung des Selbstwertgefühls, der Kränkung, der Scham, des Schuldgefühls usw.) bei gleichzeitiger regressiver Aufblähung des Ich oder Mobilisierung des Größen-Selbst (wobei das Über-Ich über Bord geworfen werde) resultiere nach S I G M U N D F R E U D ein klinisches Bild, das sich spiegelbildlich entgegengesetzt zum Depressiven verhält. A u f phänomenologisch deskriptiver Ebene stellen w i r fest: Anstelle der psychomotorischen Hemmung, des Zurückziehens von der äußeren Welt, der Entwicklung des depressiven Affektes, als Indikator für die Blockierung, die Erschöpfung, die Leere, die hoffnungslose Hilflosigkeit, begegnet uns hier, bei der Manie, eine Übermotilität, eine Logorrhoe, eine Ideenflucht und lockere Heiterkeit sowie die subjektive Gewißheit eigener Größe, Potenz und Macht. Dies w i r d nun psychodynamisch vorwiegend als antidepressiver Mechanismus verstanden, wobei m i t Hilfe der Verleugnung von Trennung, Objektverlust und Selbstwertgefühlsschwund sowie durch das Einsetzen zusätzlicher künstlich erzeugter Inhalte und Überzeugungen, zusammen m i t Betriebsamkeit und Aktionismus, der Entwicklung des depressiven Affektes und einer regelrechten Depression entgegengewirkt werde. Die manische Heiterkeit, die Unbeküm-

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mertheit, die Vernachlässigung sozialer N o r m e n , überhaupt »das Über-Bord-Werfen des Über-Ich« gehören zu dieser antidepressiven »Strategie«. Nicht eine biologisch fundierte und der depressiven entgegengesetzte Stimmungs- und Antriebslage sei der Grund für diese Veränderungen von Psychomotorik und Einschätzung von Selbst und Welt, sondern umgekehrt: Die Mobilisierung der genannten Verleugnungsmechanismen, die massive Positivierung aller Erlebnisse und die ebenfalls defensive regressive Aktivierung des Größen-Selbst seien der Grund für Hochstimmung und vermehrten Antrieb. Bestimmte klinische Beobachtungen unterstützen diese Auffassung der Manie als eines intrapsychischen, antidepressiven Abwehrmechanismus: Hell manische Patienten werden manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, von einer akut einsetzenden Depressivität erfaßt und sind dann auch akut suizidgefährdet. Oder: Pfleger von psychiatrischen geschlossenen Abteilungen berichten, daß manische Patienten gelegentlich, wenn sie sich allein, etwa i n der Toilette, befinden, unmotiviert zu weinen anfangen. Eine andere Beobachtung ist die, daß man einen manischen Patienten gelegentlich durch die plötzliche, scheinbar paradoxe Frage, w a r u m er denn eigentlich so unglücklich sei, für einige M i n u t e n umstimmen, oder sogar zum Weinen bringen kann. Eine vierte, wichtige Beobachtung ist, daß Manien durch schwerwiegende Verlustund Trennungserlebnisse ausgelöst werden können. Ich sah dies bei einem meiner manisch-depressiven Patienten fast regelmäßig. Manien traten bei ihm nach dem Tod einer sehr guten langjährigen Freundin, nach dem Auszug aus einer von ihm sehr stark libidinös besetzten Wohnung (in der er jahrelang gelebt hatte), nach einem beruflichen Rückschlag und ähnlichen Lebensereignissen ein. Bei einer detaillierten Anamneseerhebung konnte übrigens festgestellt werden, daß i n den meisten Fällen dieser manischen Phase eine sehr kurze, vielleicht nur ein paar Stunden dauernde Depressivität vorausgegangen war. Es gibt aber auch Beobachtungen, die gegen solch eine Auf-83-

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fassung der Manie als einem antidepressiven Mechanismus sprechen, so die uhrwerkartige Genauigkeit, m i t der epochal gebundene Manien beispielsweise immer i m Herbst(!) wiederzukehren pflegen, oder auch die strikte Periodizität jener Fälle m i t sehr kurzen manischen und depressiven Phasen, deren Phasenlänge sogar nur 48 Stunden betragen kann. Dies sind aber Beobachtungen und daraus abzuleitende Einwände, welche mehr die Kontroverse Somatogenese versus Psychogenese betreffen. Wie w i r noch sehen werden, können w i r m i t einem M o d e l l , das auch psychosomatische Zusammenhänge sowie biologisch getragene Circuli vitiosi berücksichtigt, solche Phänomene durchaus erklären. Dabei müssen w i r auf die H y p o these der Manie als einem antidepressiven Mechanismus nicht verzichten. M i r scheint aber, daß diese Hypothese - schon innerhalb des psychodynamischen Rahmens zwar richtig, aber nicht ausreichend ist. Sie impliziert meines Erachtens eine Unterschätzung des i n der Manie enthaltenen - auch Positiven. Etwas salopp ausgedrückt: Es bedeutet sozusagen eine Degradierung der Manie, wenn man sie nur als einen bloßen antidepressiven Mechanismus begreift. Die Manie ist mehr als das. Sie ist eine Alternativlösung für dasselbe Problem, denselben K o n f l i k t , dieselbe dilemmatische Konstellation, die auch zur Depression führt. Ich möchte also dafür plädieren, die Manie als eine gleichsam »gleichberechtigte« Pseudolösung des depressiven Konflikts zu betrachten. Bezeichnenderweise findet man sie, sofern sie abwechselnd m i t der Depression auftritt, bei den bipolaren, manisch-depressiven Psychosen nur dort, w o die dazugehörigen Depressionen m i t einem K o n f l i k t i n Zusammenhang stehen. Wie bereits dargestellt, gibt es auch andere, Erschöpfungs-, Devitalisierungs-, rein somatogene und noch weitere Depressionen, bei denen ein K o n f l i k t k a u m eine wichtige Rolle spielt. Bei diesen ist kein »antidepressiver«, manischer Mechanismus zu erwarten und auch kaum zu beobachten. Das bedeutet aber wiederum nicht, daß alle k o n fliktbezogenen Depressionen auch manisch pseudogelöst wer-

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den können. So gibt es keine manische Abwehrform bei den neurotischen Depressionen. Die Manie setzt offensichtlich auch einige andere Bedingungen, wahrscheinlich somatischer (aber auch psychischer) N a t u r voraus. Damit berühren w i r indessen die Thematik und die Problematik der Unterscheidung zwischen unipolaren und bipolaren affektiven Störungen, die ich hier nur kurz besprechen kann. Während die Frage einer erbgenetischen Unterscheidung, trotz der großen Anzahl von Untersuchungen, schon aus methodologischen Gründen umstritten ist ( A N G S T 1987, S. 12), bestehen kaum Zweifel daran, daß die Verläufe unipolarer und bipolarer Störungen sich grundlegend unterscheiden: bipolare Erkrankungen manifestieren sich früher und wiederholen sich rascher und häufiger ( A N G S T , S. 13). Was aber hier besonders interessiert: auch die prämorbiden Persönlichkeiten unterscheiden sich. Über die A r t des Unterschieds, sofern dieser testpsychologisch oder empirisch statistisch untersucht wurde, bestehen allerdings große Meinungsdifferenzen (vgl. die dichte, zusammenfassende Darstellung von v. Z E R S S E N 1988, S. 150-153). Aufgrund eigener Beobachtungen äußerte ich ( M E N T Z O S 1991, S. 91ff) die Vermutung, daß unipolar Depressive das mütterliche (archaische) Über-Ich internalisiert haben, während der bipolare Patient ein mehr v o m Vater stammendes Über-Ich hat, das er gelegentlich auch (in der Manie) abwerfen kann. Diese Hypothese scheint sich i n einer noch laufenden, groß angelegten Untersuchung meines Mitarbeiters B Ö K E R Z U bestätigen. Wichtig an dieser Stelle erscheint mir auch, das schon kurz erwähnte Positivum der Manie weiter zu erläutern. K R Ö B E R gehört zu den wenigen Autoren, die i n mehreren Aufsätzen die verstehbare »Aussage« des Manischen zu formulieren und ihren positiven Inhalt aufzuzeigen versucht hat. Ein intuitiver Kliniker, sagt er (1992, S. 172), lerne i n der Anschauung von drei Wochen manischer Verfassung mehr über die Nöte, Wünsche, Widersprüchlichkeiten, Hoffnungen, über das Wertgefüge des manischen Patienten, als - wenn man Pech habe -85-

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nach Remission i n einem Jahr Psychotherapie. »Ja, man könnte sogar sagen, daß man viele wesentlichen Wünsche, Ziele und Einblicke i n die Persönlichkeit dieses Menschen nur in dieser Zeit erfahren kann«. K R Ö B E R konzentriert sich besonders auf das Inhaltliche der manischen sprachlichen Prod u k t i o n und versucht zu zeigen, daß der manische Patient zwar logorrhoisch, aber nicht eigentlich ideenflüchtig sei, weil er ziemlich beständig auf bestimmte zentrale Themen konzentriert bleibe, wenn auch m i t unzähligen Variationen und Wiederholungen. Dabei gehe es u m Vergangenheitsbewältigung einerseits und Projektionen i n die Z u k u n f t andererseits. Sicher gehe es dabei sehr oft u m Verleugnung unangenehmer Realitäten oder Pseudolösung eines Konfliktes zwischen Wertversprechen und Wertwirklichkeit. K R Ö B E R bezieht sich ausdrücklich auf T E L L E N B A C H und B L A N K E N B U R G , die schon vor Jahrzehnten die Auslösungssituation bei manischen Psychosen sorgfältig offenlegten. Die Manie, sagt K R Ö B E R , ist die Aufkündigung des Kompromisses. Die manisch aktualisierten Werte müßten nunmehr rein, unvermengt, kompromißlos realisiert werden, und es sei anzunehmen, »daß die jetzige, vehemente Ablehnung des Kompromisses auf schlechte Erfahrungen m i t Kompromissen verweist«. M i r scheint darüber hinaus, daß es sich hier u m ein Aufkündigen des blinden Gehorsams dem strengen Über-Ich gegenüber handelt. Aber nicht nur diesem, sondern auch dem vernünftigen, der Realität und Logik sich anpassendem Ich gegenüber. Dieses Verständnis für den gewollten spielerischen Umgang m i t Logik und Realität hat m i r übrigens nachträglich zu verstehen geholfen, w a r u m ich mich so gut m i t jenen manischen Patienten verständigen konnte, bei denen ich, zunächst rein intuitiv, dieses Spiel mitgemacht hatte. Chancen und Risiken eines solchen therapeutischen Vorgehens in der akuten manischen Phase werde ich noch i m Therapieteil besprechen. Hier scheint es mir notwendig hervorzuheben, daß die Aufkündigung der Über-Ich-Abhängigkeit, die i m manischen Erleben und Verhalten enthalten ist, nicht nur i n den trotz Varia-86-

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tionen sich wiederholenden Inhalten deutlich w i r d , sondern auch formal i n dem Stil des gesamten Umgangs m i t Realität, Logik, Angepaßtheit und so weiter. Das ist auch der Grund, w a r u m manchmal die manische Heiterkeit, Unbekümmertheit und Verrücktheit ansteckend wirken, obwohl sie extrem traurigen Ursprungs sind und von einer großen N o t zeugen. Betrachtet man die Manie nur als einen bloßen Abwehrmechanismus (wie die Verdrängung oder die Projektion) zur Bekämpfung des depressiven Affektes, so verkennt man die i n ihr enthaltenen positiven Anteile, den deutlichen, wenn auch hilflosen Versuch, sich von dem verhängnisvollen Würgegriff des Über-Ich zu befreien. Dies hat gewisse Konsequenzen auch für die Gegenübertragung und für den therapeutischen Umgang m i t dem Patienten. I m Hinblick also auf die Wiederherstellung und Stärkung der narzißtischen Homöostase - i n Termini des Drei-SäulenModells betrachtet - stellt die Manie den fast heroischen Versuch dar, die narzißtische Homöostase nur auf eine künstlich aufgeblähte erste Säule, unter Vernachlässigung der zweiten und dritten Säule zu begründen. Das bedeutet: unter Verzicht auf eine Anhänglichkeit von »starken« Objekten oder aber unter Verzicht auf die konformistische Unterwerfung unter das Über-Ich beziehungsweise unter die soziale N o r m . Diese Heroik hält zwar nur drei bis sechs Wochen an und endet m i t einem u m so schmerzlicheren und peinlicheren Zusammenbruch. Es ist aber nützlich, an diese Heroik zu denken. Das hilft bei der Überwindung einer Gegenübertragung, die uns den manischen Patienten nur als einen arroganten, großmäuligen, oberflächlichen oder, i m günstigsten Fall, als einen nur »kranken« Menschen sehen läßt. Wer bipolare Patienten i n den sogenannten »freien« I n tervallen innerhalb intensiver Behandlung kennengelernt hat, der weiß, daß sich hinter der äußeren Unauffälligkeit, Leistungsorientiertheit und soziale Angepaßtheit erhebliche Kontrollbedürfnisse, Skrupelhaftigkeit und niedriges Selbstwertgefühl verstecken (wie schon 1 9 5 4 C O H E N und F R O M M -87-

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R E I C H M A N N festgestellt haben). Es handelt sich also oft u m

Menschen, die vielleicht nicht so weit v o m TELLENBACHschen Typus Melancholicus stehen und die auf jeden Fall i m Schweiße ihres Angesichts durch vermehrte anstrengende, mühsame, übertriebene Leistung ein M i n i m u m an »Lebensberechtigung« (tatsächlich der Ausdruck eines meiner Patienten) erarbeiten. Wer diese Menschen also i n dieser Verfassung tiefer kennengelernt hat, der versteht sehr gut den Aufschwung zur heroischen Aufkündigung des Gehorsams, wobei die oft anzutreffenden akuten Auslöser i n Form von Verlusten, Erniedrigungen, Mißerfolgen sozusagen der letzte Tropfen sind, der das Faß zum Überlaufen bringt. Daß hier die Familie des Betroffenen, seine behandelnden Ärzte, die institutionalisierte Psychiatrie, die Gesellschaft eine Gefahr für den Patienten und für die Mitmenschen sehen, ist freilich berechtigt. I n meiner Erfahrung hat sich aber gezeigt, daß die gleichzeitige Berücksichtigung der manischen »Aussage« ( K R Ö B E R ) , überhaupt des Sinnes dieser »paroxysmalen Autonomieanfälle«, zu einer Korrektur der Gegenübertragung und einer positiven Veränderung des therapeutischen Klimas führt, was die Behandlung auch von akuten Manien - und trotz der Unverzichtbarkeit von Medikamenten - bedeutend leichter und einfacher macht. Darüber mehr i m Kapitel über die Therapie.

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II Therapie

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Drei Behandlungsberichte

Katharina C: Die therapeutische Verwandlung eines depressiven Stupors zu einem »Meer von Tränen« Ein Internist überwies mir eines Tages eine 30jährige Frau, die früher bei i h m wegen relativ harmloser körperlicher Erkrankungen i n Behandlung war. I n letzter Zeit jedoch entwickelte sie eine massive Schilddrüsenunterfunktion als Folge einer L i thium-Behandlung wegen einer bei ihr seit langem bestehenden manisch-depressiven Erkrankung. Solche lithiumbedingten Hypothyreosen sind bekannt. Die Patientin wurde aus diesem Grunde von dem gleichzeitig behandelnden Psychiater auf ein anderes Psychopharmakon (Tegretal) umgestellt, weil er es, i m Hinblick auf das langjährige Bestehen der affektiven Psychose, verständlicherweise nicht verantworten konnte, die Patientin ohne medikamentösen Schutz zu lassen. Sie hatte seit ihrem 18. Lebensjahr wiederholt depressive und manische Phasen durchgemacht. Die seit Jahren durchgeführte »Lithium-Prophylaxe« hatte lediglich eine Abschwächung der depressiven und manischen Phasen bewirkt, so daß stationäre Behandlungen vermieden werden konnten. I m übrigen war jedoch der Zustand der Patientin recht unbefriedigend: I n den Intervallen war sie entweder leicht hypomanisch und kaum konzentrationsfähig, oder depressiv, antriebslos, gelegentlich auch suizidal. Ihr Germanistikstudium hatte sie schon längst, kurz vor der Abschlußprüfung, praktisch aufge-

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geben. Schließlich hatte diese medikamentöse »Prophylaxe« nicht verhindert, daß die Patientin i n Zusammenhang m i t ihrer Scheidung vor einem Jahr ein schweres, diesmal auch ängstlich gefärbtes depressives Syndrom (zwischendurch ein manisches Bild) entwickelte. Z u m Zeitpunkt meiner ersten Begegnung m i t ihr befand sie sich i n einem leicht hypomanischen Zustand. Sie lachte viel und oft und neigte zur Bagatellisierung ihres Zustandes. Weil ich zum damaligen Zeitpunkt nur spärliche objektive Angaben zur Anamnese hatte, war für mich die Schwere der Erkrankung insgesamt nicht abzuschätzen. Erst allmählich erfuhr ich von der Patientin selbst mehr über ihre »Erstarrungszustände«, die i n den vielen Jahren i m mer wieder aufgetreten waren und bei denen es sich jeweils offensichtlich u m einen schweren depressiven Stupor gehandelt hatte. Diese Zustände, sagte sie, kenne sie inzwischen sehr gut. So ein Zustand komme relativ schnell, innerhalb von Stunden und manifestiere sich i n einer A r t »Lähmung« i n den Beinen, eine Lähmung, die nach oben wandere und praktisch den gesamten Körper erfasse. Schließlich werde sie erstarrt, sei kaum i n der Lage sich zu bewegen oder zu sprechen. Sie sei nicht einmal zum Selbstmord fähig. Sie könne überhaupt nichts. Sie könne sich nicht freuen, sie könne nicht trauern, sie sei eben wie psychisch tot. U n d weil sie wisse, wie schnell sich das Ganze entwickele, ziehe sie sich rechtzeitig ins Bett zurück. A u f diese Weise sei es ihr immerhin seit Jahren gelungen, solche relativ schweren depressiven Phasen i n eigener Regie, wenn auch freilich immer m i t Hilfe ihres Freundes und m i t Hilfe von Medikamenten, die sie zusätzlich dann v o m Nervenarzt bekomme, zu kupieren. N u r einmal mußte sie dann doch i n der K l i n i k aufgenommen werden. I m Laufe der psychotherapeutischen Behandlung (einmal wöchentlich) hatte ich i m ersten Jahr zweimal die Gelegenheit gehabt, Zustände zu beobachten, die beinahe zum Eintreten eines solchen »Erstarrungszustandes«, also eines depressiven Stupors, geführt hätten. Es war möglich, durch intensives Besprechen i n zu-

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sätzlichen Terminen und »positivierende« Darstellung und Benennung dieser Erstarrung (als eines Schutzmechanismus »gegen Gefahren und immens schmerzliche Gefühle die w i r noch nicht kennen und die w i r noch suchen müssen«), die Entfaltung des vollen psychotischen Bildes zu verhindern. Ein drittes M a l kam es aber dann doch i n Zusammenhang m i t einer längeren Abwesenheit von mir zum voll entwickelten stuporösen Syndrom (wie sie es von früher kannte). Die Anlässe zu solchen »Erstarrungszuständen« waren übrigens oft Enttäuschungen durch den Freund, oder auch andere, kleinere Anlässe, wie zum Beispiel die Tatsache, daß ein Kollege, der i n der gleichen Firma arbeitete und m i t dem sie sich i n gewisser Hinsicht wegen eines ähnlichen Lebensschicksals solidarisch fühlte, ihr mitteilte, daß er ins Ausland gehen werde. Die Patientin nahm zuerst die dadurch sich ergebende Trennung gar nicht bewußt wahr. Sie reagierte dann jedoch nach einer gewissen Latenz - am nächsten Tag, m i t einem tiefen Sturz i n die Depression. Ähnliches hatte sie auch früher i n anderen Situationen wiederholt erlebt. Ich gewann den Eindruck, daß es sich dabei oft nur u m symbolische Trennungen und Enttäuschungen handelte, die aufgrund der Vorgeschichte dieser Frau eine besondere Virulenz besaßen. Ein viertes M a l aber (während der Behandlung) erlitt die Patientin bei einem ähnlichen Erlebnis einen ganz anderen Einsturz i n die »Tiefe«, den man klinisch betrachtet überhaupt nicht mehr stuporös, vielleicht auch nicht einmal depressiv bezeichnen kann (trotz des erheblichen Leids): Sie kam weinend i n die Stunde (dazwischen lachte sie auch kurz ungewollt) und konnte sich schließlich nicht mehr beherrschen. Sie weinte und weinte und versuchte zwischendurch m i t einem gequälten Lächeln voller Tränen zu berichten, daß sie jetzt seit 24 Stunden ununterbrochen weine. I n ihrer üblichen A r t versuchte sie das Traurige durch das forcierte Hypomanische zu durchbrechen, diesmal jedoch ohne Erfolg. Erst gegen Ende der Stunde konnte sie sich allmählich fassen. Viel haben w i r i n dieser Stunde nicht besprechen, geschweige denn klären kön-

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nen. Ich habe nur versucht, ihr meine mehr intuitiv begründete Überzeugung zu vermitteln, daß dieses Weinen, auch wenn es so schmerzlich sei, bestimmt etwas »Gutes« beinhalte. I n der nächsten Stunde hat sich das Ganze noch einmal wiederholt. Diesmal wurde es jedoch in der zweiten Hälfte der Stunde möglich, darüber zu sprechen und festzustellen, daß es sich bei dem sehr quälenden Zustand doch u m etwas Neues handelte. U m etwas, das vielleicht einen Fortschritt bedeute i n dem Sinn, daß sie jetzt weder eine Zuflucht i n die Manie noch einen Rückzug i n den depressiven Stupor suchte, sondern einen großen Teil des seit Jahren angesammelten und verborgenen seelischen Schmerzes endlich bewußt erleben konnte. Worin dieser Schmerz bestand, wurde erst i m Lauf der weiteren Behandlung deutlich: Diese Frau ist das einzige K i n d aus der ersten Ehe ihres Vaters. Diese Ehe wurde schon während der Kindheit der Patientin geschieden. Sowohl die Mutter als auch der Vater haben wieder geheiratet. Die Patientin blieb aber zunächst bei ihrer Mutter. Sie bezeichnete diese, v o m heutigen Standpunkt aus, als eine ängstliche, schwache, labile, i n kindischer Weise überfürsorgliche Mutter. N o c h heute rufe die Mutter die Patientin fast täglich an, angeblich u m zu erfahren, wie es der Tochter gehe, in Wirklichkeit jedoch u m von der Patientin gestützt und getröstet zu werden wegen ihrer verschiedenen Krankheiten, Ängste und so weiter. Diese i n Wirklichkeit schwache und ängstliche Frau hatte allerdings die Patientin als K i n d geschlagen. Der Vater sei ein egozentrischer, aggressiver, expansiver, dem A l k o h o l zugeneigter aber auch intelligenter und sehr erfolgreicher Großunternehmer. Er hatte i n der Kindheit der Patientin diese zunächst i m Sinne einer Delegation (sie sollte der erfolgreiche »Sohn« werden, der seine Geschäfte übernimmt) zu hervorragenden Leistungen zu zwingen versucht. Offensichtlich als Reaktion auf die Tatsache, daß das kleine Mädchen i h n zwar zum Teil liebte und bewunderte, i m Hinblick jedoch auf die »Delegation« obstinat und widerspenstig wur-

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de, hat er sie dann verächtlich, demütigend und abschätzig behandelt und auch öfter geschlagen. Die Patientin hatte i h ren Vater sehr ambivalent besetzt. Sie hat sich von seinem regelrecht sadistischen Verhalten gequält aber auch an ihn gebunden gefühlt (vgl. »Die Fesseln der Liebe« von J E S S I C A B E N J A M I N ) . Der Mutter gegenüber spürte sie eigentlich nur M i t l e i d . Die Patientin hat wahrscheinlich früher versucht, die M u t t e r vor dem brutalen Vater zu schützen, zumal sie, wenigstens i n der ersten Zeit, bei dem Vater die »besseren Karten« hatte. Die Eltern ließen sich, wie gesagt, scheiden. Das Leben mit der Mutter und ihrem neuen Ehemann, einem i m Gegensatz zu dem großbürgerlichen Vater mehr kleinbürgerlichen, peniblen und für die Patientin bedeutungslosen M a n n , gestaltete sich zunehmend für sie unerträglich, zumal die Mutter sie öfter schlug. Eine besondere Szene aus dieser Zeit ist ihr erst nach dem Einbruch des »großen Weinens« während der Therapie erinnerlich geworden: Z u einem gewissen Zeitpunkt i n ihrem Leben, sie müsse 10 oder 11 Jahre alt gewesen sein, habe sie sich entschlossen, nicht mehr zu weinen, wenn sie von der M u t t e r geschlagen wurde. Warum und wie es dazu gekommen war, wisse sie nicht mehr. Sie konnte sich jedoch jetzt wieder genau daran erinnern, wie die Mutter, als sie einmal wieder ihre Tochter geschlagen hatte und sie nicht m i t Weinen reagierte, zu ihrem M a n n verwundert sagte: »Komisch, das K i n d weint ja nicht mehr!« Die Patientin glaubt heute, daß zu diesem Zeitpunkt i n ihrem Leben sich etwas grundlegend geändert habe. Sie habe sich innerlich verändert, vielleicht sei damals etwas kaputt gegangen, etwas sei gebrochen worden, es sei etwas auch Somatisches, Körperliches gewesen, so ein Gefühl habe sie gehabt. Seitdem habe sie tatsächlich auch nicht mehr geweint, so sei vielleicht auch das »Meer von Tränen« jetzt zu erklären. In der Pubertät wurde die Situation für die Patientin noch unerträglicher, so daß sie m i t dem 16. Lebensjahr zu ihrem Vater überwechselte. Dabei kam sie jedoch v o m Regen i n die

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Traufe. Sie wurde von ihrem Vater erneut unter großen Leistungsdruck gesetzt. Er behandelte sie recht uneinfühlsam, demütigend und beleidigend. Bald darauf manifestierte sich ihre erste psychotische depressive Phase. Bei der nächsten Phase unternahm sie einen ernsthaften Suizidversuch m i t Tabletten und war drei Tage lang bewußtlos. Sie heiratete später einen, wie sich herausstellte, »schwierigen Mann« aus einer Familie, der mehrere Manisch-Depressive und Alkoholiker angehörten, und ließ sich dann, ungefähr zwei Jahre vor Beginn der Behandlung, scheiden. Der Vater hatte die Patientin kurz nach der ersten Manifestation ihrer psychischen Erkrankung - nunmehr total von ihr »enttäuscht« - links liegen gelassen. Er hat sie so gut wie nicht mehr finanziell unterstützt, hat sich kaum je nach ihrem Z u stand erkundigt (wenn sie i n ihrer depressiven oder manischen Phase war) und versuchte offenbar sich damit abzufinden, daß seine Tochter eine »Chaotin« und ein Versager sei. Die Patientin blieb auch nach ihrer Scheidung weit weg v o m Vater. Sie zog sich i n ein bescheidenes Leben zurück, verdiente ihr Geld selbst durch eine halbtägige Hilfstätigkeit, stand unter Lithiummedikation und konnte sich m i t Hilfe eines gutmütigen (aber eben zum A l k o h o l neigenden) Freundes und insbesondere auch m i t Hilfe ihres Hundes wenigstens zeitweise von einer psychotischen floriden Symptomatik frei halten. Äußerlich imponierte oft ein chronifiziertes hypomanisches Bild, sie geriet jedoch immer wieder bei geringsten Anlässen i n die geschilderten depressiven Zustände. Während der Behandlung herrschte am Anfang eine leicht positive Übertragung. Die Patientin eröffnete jeweils die Stunde eher hypomanisch, wenigstens i n Bezug auf M o t o r i k und Gesichtsausdruck, während sie inhaltlich Negatives oder Pessimistisches mitzuteilen hatte. Gegen Ende der Stunde wurde sie jedoch ruhiger, nachdenklicher, manchmal auch etwas traurig. Sie wirkte dann auch echter. Meine Haltung war gewährend, zugewandt, interessiert, aber nicht ausdrücklich stützend. Meine Interventionen waren sehr wenig interpreta-96-

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tiv. Die wenigen Zusammenhangsdeutungen kamen von der Patientin selbst, die gelegentlich sogar auch genetische Rekonstruktionen versuchte. Ich griff meistens nur fragend und ergänzend ein, so daß w i r gelegentlich dann doch - zusammen zu gemeinsamen Formulierungen kamen. Erst allmählich, und wahrscheinlich vorwiegend unter dem Einfluß der für sie neuen Erfahrungen i n der Atmosphäre der oben skizzierten Beziehung und therapeutischen Haltung, konnten von der Patientin selbst und von m i r bestimmte H y pothesen aufgestellt werden, die durch die Anhäufung weiterer »Belege« zu überzeugenden Interpretationen verdichtet wurden: Der depressive Stupor dieser Patientin hatte die Funktion, sie vor dem Erleben eines unerträglichen seelischen Schmerzes über das Erlittene, über die verpaßten Lebenschancen, über die Tatsache, daß ihr Leben und ihre Eltern und ihre Beziehungen so waren, wie sie waren, zu schützen. Nachdem sie es in der therapeutischen Beziehung wagte, sich an diese Verletzungen, Demütigungen, Enttäuschungen und Zurückweisungen nicht nur kognitiv zu erinnern, sondern sie auch emotional wieder zu beleben (gelegentlich sogar innerhalb der nicht nur positiven! - Übertragung), war es ihr möglich, die Zuflucht i n den depressiven Stupor durch eine intensive Trauerreaktion und Unmengen von Tränen zu ersetzen. Nachdem sie dann i m weiteren Verlauf ihre große Angst vor dem seelischen Schmerz noch mehr überwand, wurde sie auch zunehmend selbstbewußter und konnte auch andere der i m Laufe der Jahre zur zweiten Natur gewordenen Mechanismen und Verhaltensweisen verstehen und zum Teil ablegen oder modifizieren. Dazu gehörte ihre übertrieben altruistische Samariterhaltung (ihrer Mutter, ihrem geschiedenen M a n n , ihrem jetzigen Freund gegenüber) und ihre widersprüchliche, entweder unproduktiv trotzige, ablehnende und kontaktabbrechende oder wiederum ängstlich unterwürfige Haltung dem Vater gegenüber. In dieser Beziehung war es der Patientin nach ungefähr zwei Jahren der Behandlung gelungen, eine heftige,

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aber auch produktive Konfrontation m i t dem Vater herbeizuführen, die früher erstens auf Grund ihrer Angst und ihrer Aversion, zweitens aber auch wegen seiner Tendenz zum Bagatellisieren und zum Ausweichen nicht denkbar gewesen wäre. Während eines ihrer seltenen Besuche beim Vater (sie hatte sich doch entschlossen, ihn um finanzielle Hilfe zu bitten, damit sie ihr abgebrochenes Studium zu Ende führen könne) lud er sie zu einem Essen i n einem Luxusrestaurant ein. Sie hatte sich vorgenommen, vielleicht zum ersten M a l i n ihrem Leben und trotz oder wegen ihrer Bitte u m Geld, i h m gleichzeitig offen Bescheid über das Gewesene zu sagen. Einige Stunden davor war sie unter dem Eindruck der antizipierten Streitsituation beinahe i n einen depressiven Stupor hineingeraten - den ersten nach längerer Zeit. Es gelang ihr jedoch, zu der Verabredung zu gehen und während des Essens m i t dem Erzählen zu beginnen, was sie i n diesen 20 Jahren durchgemacht habe. Der Vater versuchte am Anfang abzuwinken. Er sah jedoch bald ein, daß dies nicht mehr möglich war. Die Patientin erzählte und schluchzte und weinte und erzählte weiter, und das Ganze war so auffällig, daß die anderen Gäste an den Nebentischen offensichtlich aufmerkten und betont i n eine andere Richtung schauten. Eine solche Situation hätte die sonst sehr ängstliche und vorsichtige Patientin früher nicht i m Traum gewagt. Jetzt aber setzte sie ihre Konfrontation und »Klärung« fort. Der Vater hat (zum ersten M a l und gegen seiner sonstigen A r t ) vorwiegend geschwiegen. Die Atmosphäre war aber danach sehr entspannt und positiv. Z w e i oder drei ähnlich mutige und erfolgreiche Auftritte auch bei anderen Bezugspersonen waren für sie selbst der Hinweis und später der Beweis, daß sie nunmehr endlich nach so vielen Jahren i n der Lage war, die resignierende oder »masochistische« oder eben machtlos wütende Haltung zu vermeiden, die Unterwerfung dem Über-Ich gegenüber aufzukündigen ohne in die Manie zu geraten, was früher der übliche Modus war. Es wurde ihr zunehmend möglich, ihre eigenen Interessen zu vertreten, sich i n dieser Hinsicht eindeutig abzugrenzen und dabei die

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Fähigkeit beizubehalten zur sachlichen Beurteilung und Berücksichtigung der Interessen auch der anderen. Sie war jetzt in der Lage, die Pathologie i m Hause ihres Vaters und ihrer M u t t e r zu überblicken, so daß sie auch ihrer M u t t e r gegenüber angemessen auftreten konnte und auch ihre Halbgeschwister (aus der Ehe ihres Vaters) stützen konnte. Diese spürten offensichtlich intuitiv, daß sie die einzige Person i n der Familie war, welcher der Ausbruch aus dem pathologischen Familiennetz gelang, und haben sich prompt an ihr orientiert und an sie angelehnt. Nach einer Studiumsunterbrechung von 5 oder 6 Jahren (!) konnte sie jetzt ihre Vorbereitung auf eine Prüfung wieder aufnehmen, vor der sie früher eine ungeheure Angst gehabt hatte und die sie jetzt i n ihren Chancen und Risiken realistisch einzuschätzen weiß und dabei auch bereit ist, sie notfalls zu wiederholen. Die zur Dauerprophylaxe m i t Tegretal zusätzlich verabreichten Antidepressiva (oder i n manischen Phasen Neuroleptika) konnten längst abgesetzt werden. Auch der größere Teil der früher fast konstanten hypomanischen Allüren, das übertrieben laute Sprechen sowie das etwas hemmungslose »Reinplumpsen« gehören ebenfalls der Vergangenheit an. I m Hinblick auf die 15jährige Dauer der manifesten Symptomatik dürfte w o h l diese eklatante Veränderung und Besserung nicht ernsthaft als ein zufälliges oder von der psychotherapeutischen Behandlung unabhängiges Abklingen der Erkrankung betrachtet werden. Nichtsdestoweniger bestätigt auch dieser Fall die Bedeutung und den Anteil des somatischen Faktors der Depression, und zwar i n bezug sowohl auf die somatopsychischen als auch auf die psychosomatischen Zusammenhänge. Einige Beobachtungen erscheinen mir i n dieser Hinsicht relevant: 1 . Als der die Patientin behandelnde Internist die extreme Schilddrüsenunterfunktion (und den kausalen Zusammenhang m i t der Lithiumbehandlung) entdeckte, war er über »die Psychiater« so verärgert, daß er die Medikamente abrupt absetzte. Die Patientin wurde aber daraufhin nach 24 - 36 Stun-

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den ängstlich, unruhig und stürzte i n die Depression, i n den beschriebenen depressiv-stuporösen Zustand. M i t Hilfe des dann an Stelle des Lithiums verabreichten Tegretal war i m merhin der zuvor bestehende Zustand i n psychischer Hinsicht wieder zu erreichen - also jene nur relative Besserung und Stabilisierung m i t dem ständigen Wechseln der leicht depressiven und leicht hypomanischen Symptomatik, der Unfähigkeit zur Konzentration und M o t i v a t i o n zur Vorbereitung auf die Prüfung sowie m i t dem gelegentlichen kurzdauernden »Eintauchen' i n den substuporösen Zustand. 2. Meine Eindrücke aus der direkten Beobachtung und die dazu passenden wiederholten und sehr differenzierten Schilderungen der Patientin über den jeweiligen »Eintritt« i n den stuporösen Zustand sprechen für die Annahme, daß hier neben der geschilderten Psychodynamik ein somatischer Prozeß w i r d . Die Beine seien wie »gelähmt«, die Lähangestoßen mung schreite von unten nach oben. Von einem gewissen Zeitpunkt an laufe der Vorgang unerbittlich und unumkehrbar voran, es gibt sozusagen einen »point of no return«. 3. Eines Tages erschien die Patientin m i t einem leichten urticariellen (nesselsuchtartigen) Hautausschlag, der von einem sehr intensiven und unangenehmen Juckreiz begleitet wurde. Sie sagte. »Das kenne ich von früher, es ist eine A r t Kälteallergie, wie m i r die Hautärzte sagten, die jedoch nach meiner Beobachtung vorwiegend dann auftritt, wenn ich enttäuscht, verärgert, wütend bin und wenn ich keinen Ausweg sehe. Diesmal ging es sogar u m eine Anhäufung solcher Umstände wie die inkonsequente, uneinfühlsame Haltung meines Vaters und eine erneute Enttäuschung durch meinen Freund. Ich weiß aber auch, daß ich das Exanthem sehr leicht m i t ein oder zwei Tabletten des Antidepressivums, das ich früher nahm, wegbekomme (sie meinte ein Amitryptilinpräparat). Es hilft viel besser als Antiallergika oder andere Beruhigungsmittel wie Valium.« Diese Beobachtung der Patientin erscheint m i r von sehr großer Bedeutung für das Verständnis der psychosomatischen - 100

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Zusammenhänge, die uns noch i m dritten Teil des Buches beschäftigen werden. 4. Andererseits: O b w o h l der Circulus vitiosus, der früher jeweils zum Stupor führte, offensichtlich aus einer auch somatischen »Strecke« besteht, gelang es der Patientin schließlich mit Hilfe der Psychotherapie, den Stupor (als eine pathologische Reaktion) durch eine normale, wenn auch extrem ausgeprägte, Trauerreaktion zu ersetzen. Es zeigt sich also, daß neue Erfahrungen während der Psychotherapie und dadurch in Gang gesetzte psychische Veränderungen i n der Lage sind, sogar teilweise somatische Prozesse zu beeinflussen. Dies ist aber eine Tatsache, die uns nicht wundern darf, seit w i r durch die Molekularbiologie, insbesondere die biologische Gehirnforschung der letzten Zeit, wissen, daß tatsächlich psychische Zustände und Prozesse, also neue Erfahrungen, i n der Lage sind, neuronale Strukturen zu verändern. Hier haben w i r es also m i t einem (positiven) psychosomatischen Zusammenhang zu t u n , der übrigens (interessanterweise) von einer massiven körperlichen Ausscheidung, einer Exkorporation (ein »Meer von Tränen«), begleitet w i r d - ein körperlicher, aber symbolträchtiger Vorgang. Die »Periode des Weinens« i n der Behandlung dauerte einige Wochen an. Während dieser Zeit habe ich immer wieder versucht, dieses Weinen durch meine Äußerungen zu positivieren: »Die Erstarrung während der Depression, der Stupor«, sagte ich, »ist sicher i n gewisser Hinsicht ein sinnvoller Schutzmechanismus gewesen, u m das Schlimmste zu vermeiden. Er ist aber leider ein Mechanismus m i t vielen Nachteilen und erweist sich schließlich als Teufelskreis.« Wenn i n anderen Stunden die Patientin sich wegen ihres unaufhörlichen Weinens schämte: »Sie sprechen von einer >SchwächeWelle< quasi überrollt, in einer erneuten Depression landeten?«

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Der Patient unterbrach mich: »Ja, das stimmt genau. Das ist jetzt dasselbe, aber in sehr abgeschwächter Form, in Mikrographie, und zum Glück auch so, daß ich jetzt diese Wendung in mir rechtzeitig bemerke und auch dagegen arbeite. Dieser negative Umschwung fing ja immer damit an, daß ich während der Manie anfing zu glauben, nicht nur Gott, sondern abwechselnd auch Teufel zu sein; und dann ein schlechter Mensch, Sünder und Versager.« Der Unterschied, der große Unterschied zu früher bestand also darin, daß er jetzt weder i n eine Manie noch i n eine Depression geriet, sondern i n nur abgeschwächter Weise nach beiden Richtungen pendelte, dabei aber sehr differenziert seine Gefühle registrieren, beschreiben und auf sie reagieren konnte. Dadurch vermochte er jene abrupten Umschwünge v o m »selbstbezogenen« zum »objektbezogenen« Pol, von der manischen Aufkündigung des Gehorsam zum völligen Sich¬ Unterwerfen unter das internalisierte Objekt i n der Depression, zu vermeiden. I m Hinblick auf die mögliche Bedeutung eines chronobiologischen Faktors ist die Tatsache von Bedeutung, daß dieser reifere und gesündere Zustand eines starken Selbstbewußtseins, der nur sehr entfernt an die Manie erinnerte, i n den späten Herbst fiel (die Zeit also, i n der er früher seine Manien bekam), während die eben i n der skizzierten Stunde deutlich werdende leichte Tendenz zur Selbstanschuldigung und zu Schuldgefühlen zeitlich i n etwa dem damaligen Dezember-Januar-Umschwung i n die regelmäßigen Depressionen entsprach! Diesen Befund kann man selbstverständlich recht unterschiedlich deuten. Darauf komme ich i m Abschnitt über Somato- und Psychogenese zurück. Eine weitere interessante Beobachtung bei dieser erfolgreichen Behandlung war folgende: Während ich schon nach dem zweiten Jahr der Behandlung froh und optimistisch war, weil keine psychotischen Phasen mehr auftraten, erschienen dem Patienten selbst nicht diese psychiatrischen, symptomatologischen Kriterien das Wichtigste. Er begann erst dann von einer

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Besserung, v o n einer Befreiung und einem neuen Beginn zu sprechen, als er den inneren Z w a n g , sich der (von i h m angenommenen) Erwartung eines anderen anzupassen, ablegen und seine eigenen Interessen angemessen und selbstbewußt ohne die Hilfe der Manie wahrnehmen konnte. Erst das w a r für ihn die »Heilung«, und damit hatte er selbstverständlich recht. Ein weiteres Zeichen dieser echten inneren, positiven Entwicklung u n d Änderung war auch die deutliche Verminderung der früher durchgehend vorhandenen zwangsneurotischen Züge. So war es regelrecht auffällig, daß der Patient i m Vergleich zu früher jetzt eindeutig schneller, unverkrampfter sprach, dabei mehr Adjektiva benutzte, und zwar i n einer lokkeren und spontanen Weise und nicht erst nach langem Z ö gern und Abwägen. Früher hatte man den Eindruck, daß er seine ohnehin kurzen Sätze lange vorbereitete und mehrmals i m K o p f durchspielte. Das Resultat waren trockene und meistens durch ihre Allgemeingültigkeit nicht besonders interessante Formulierungen. Sie wirkten oft langatmig, langweilig und erzeugten eine entsprechende Gegenübertragung. Nebenbei bemerkt: Negative Gegenübertragungen, die i n solchen und ähnlichen Konstellationen entstehen, werden von analytischen Schulen und einzelnen Therapeuten, die i m aggressiven K o n f l i k t den Kern der depressiven Dynamik sehen, als ein zusätzlicher Beweis für die ständig vorhandene »latente Aggression« des Patienten gewertet (die eine Gegenübertragungsgereiztheit und Aggression des Therapeuten erzeuge). Ich glaube, daß diese Schlußfolgerung falsch ist. Die Z w a n g haftigkeit, das enorme Kontrollbedürfnis, das hartnäckige und langweilige Abtasten mag als Nebeneffekt Mißmut und Gereiztheit beim Therapeuten bewirken. Das ist aber nicht primär die Funktion des Zwanghaften, das ist sozusagen nicht seine »Absicht«"', genauso wie es auch nicht die »Absicht« * Zur Funktion der Zwanghaftigkeit im sogenannten »freien Intervall« beziehungsweise in der Primärpersönlichkeit vgl. v. Z E R S S E N

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des Patienten ist, den Therapeuten zu ärgern, obwohl es sekundär gelegentlich zu einer solchen Umfunktionierung k o m men kann. Die primäre, lebenswichtige und lebensnotwendige H a u p t f u n k t i o n des Zwanghaften besteht i n Gründung und Aufbau von Struktur, Kontur, Konstanz, Widerstandsfähigkeit, Absicherung gegen mögliche Gefahren und der Vermeidung erneuter Traumatisierungen. Dies alles brauche ich nicht i m einzelnen zu belegen. Ich möchte nur kurz auf eine zusätzliche, meistens übersehene Hauptfunktion des Anankastischen, der Wiederholungen, des Zwanghaften überhaupt als einer kompensierenden und befriedigenden Tätigkeit hinweisen. Sie w i r k t dadurch beruhigend, tröstend und stabilisierend, daß sie (in der A r t einer narzißtischen Befriedigung) zum Ersatz für eine versagte Objektbeziehung w i r d . Dafür hat m i r gerade dieser Patient einen einleuchtenden und eklatant dichten Beleg geliefert: In einem fortgeschrittenen Stadium seiner Behandlung erinnerte er sich plötzlich an eine kleine Begebenheit aus seinem 4. oder 5. Lebensjahr. Eigentlich ging es dabei nicht u m ein Einzelereignis, sondern um einen Ablauf, der sich i n jener Zeit mehrmals i n Abständen wiederholte. Er bezog sich auf die uns längst bekannte Tatsache, daß der Patient seinen Vater (weniger seine Mutter) als recht distanziert, abweisend, fordernd und nie gewährend, zugewandt oder bestätigend empfunden hatte. Er konnte sich jetzt erinnern, daß er, sobald i h m aufgrund bestimmter Äußerungen und Verhaltensweisen seines Vaters dessen negative Haltung i n zugespitzter Form bewußt wurde, schweigend das Haus verließ zu einem Rundgang ums

1 9 8 0 (»eine charakterneurotische Form, die dann in der Erkrankung zusammenbricht«. S. 1 7 4 ) , oder M A T U S S E K ( 1 9 8 0 , S. 5 4 8 ) : die Zwangsstruktur gebe dem Depressiven »Stütze und Halt«, sie wirke stabilisierend. Unser Patient bietet übrigens eine zusätzliche Bestätigung des (für mich keineswegs unerwarteten) statistischen Befundes, daß der Persönlichkeitsfaktor »Ordnungs- und Autoritätsgläubigkeit« bei bipolaren Depressiven stärker ausgeprägt ist.

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Quadrat. Dabei zählte er aber seine Schritte bis vier. Die vier betonte er »innerlich« lauter. Alsdann fing er erneut zu zählen an. Sobald er seinen Rundgang ums Quadrat auf diese Weise erledigt hatte, fühlte er sich ruhiger, gefaßter und dachte nicht mehr an das, was er beim Vater erlebt hatte. Ich glaube, daß man hier nicht viel zu kommentieren hat. Der 4jährige Junge hatte die stabilisierende und beruhigende W i r k u n g des Zwangs entdeckt. Übrigens: Die umständlichen Rituale bei Begrüßung und Abschiednehmen i n der ersten Zeit der Therapie hatten offenbar die prophylaktische Funktion, den Patienten vor einem eventuell unempathischen Verhalten des Therapeuten zu schützen. Die Tatsache, daß diese langatmigen Verhaltensweisen mich etwas enervierten, war keineswegs ein Beleg dafür, daß sie w i r k l i c h unbewußt die »Absicht« verfolgten, mich zu irritieren. N u r i n bestimmten Situationen und Zeiten, i n denen eine unausgesprochene Spannung zwischen uns bestand, hatte ich den Eindruck, daß diese Rituale zu einem passivaggressiven M i t t e l des Protestes und der Bestrafung (von mir) umfunktioniert wurden. Doch auch bei diesen Gelegenheiten ist zu vermuten, daß der Patient nicht so sehr mich bestrafen, sondern vielmehr prüfen wollte. M i t seinem übertriebenen Kontrollzwang prüfte er die Tragfähigkeit unserer Beziehung, die Konstanz meiner insgesamt positiven Zuwendung unter verschärften Bedingungen. Dabei hegte er wahrscheinlich den tiefen Wunsch, daß es trotz allem weiterhin zwischen uns gutgehen möge. Eine lange psychoanalytische Behandlung - auch eine, die nicht nach der Standardtechnik durchgeführt w i r d - ist ein komplizierter und vielfältiger Prozeß. N u r fragmentarisch kann man deswegen auf der einen oder der anderen Dimension, und meistens nur unzulänglich, den laufenden Prozeß schriftlich erfassen. Ich wollte deshalb nur beispielhaft einen gewissen Eindruck von der Gesamtatmosphäre dieser Behandlung vermitteln und noch einmal hervorheben, daß es nicht so sehr die »klugen« Deutungen sind, die wirksam wer-

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den, sondern eine bestimmte therapeutische Haltung insgesamt. Diese besteht zu einem großen Teil i n der sachgerechten Überwindung der beschriebenen Gegenübertragungen. Dies wiederum setzt das richtige Verständnis von der vorhandenen individuellen und interaktioneilen Dynamik voraus. M a n kann allgemeiner sagen: Dort, w o ich meine negative Übertragung nur »über-ich-haft«, also aus Pflichtbewußtsein oder, was schon etwas besser ist, aus Nächstenliebe und weil ich »ein guter Mensch sei« (also idealselbstgerecht) zu überwinden versuche, w i r d mir dies, wenn überhaupt, nur i n einer für den therapeutischen Prozeß ungünstigen Weise gelingen. Der Patient w i r d intuitiv davon etwas merken, die Spannung w i r d weiterhin bestehen, und gerade der depressive Patient w i r d es noch schwerer haben, seine »subjektive Schlechtigkeit« abzulegen. Ganz anders sieht der Erfolg aus, wenn ich meine Gegenübertragung aus dem Verständnis für die Dynamik des Gesamtgeschehens überwinde. Dann gelingt es mir, ruhig, sachlich, freundlich und verständnisvoll oder manchmal auch (wenn berechtigt) gereizt zu erscheinen. Wie bei den anderen geschilderten Behandlungen ist es auch hier w o h l völlig unwahrscheinlich, die 15 Jahre nach Beginn der Erkrankung eingetretene Besserung oder sogar Heilung (die auch von einer gewissen strukturellen Veränderung begleitet war) als einen zufälligen, spontanen Umschwung des Krankheitsverlaufes zu betrachten, der auch ohne Behandlung eingetreten wäre. M a n darf auch nicht einwenden, daß bei manisch-depressiven Erkrankungen ja die Remission beziehungsweise die freien Intervalle doch die Regel seien. Sofern darunter verstanden w i r d , daß der Patient i n den sogenannten freien Intervallen ein gesunder, freier und glücklicher Mensch sei, handelt es sich w o h l u m einen M y t h o s . Ich habe bis jetzt keinen Manisch-Depressiven gesehen, der innerhalb eines solchen »freien« Intervalls nicht oft depressiv war und unter der mühseligen Qual und Tyrannei seines Über-Ich m i t viel Leistung und vielen Opfern eine minimale »Lebensberechtigung« zu erreichen bemüht war, oder umgekehrt, nicht

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in einer subchronischen oder chronisch-hypomanischen H a l tung seinen seelischen Schmerz, seine Verlassenheit und insbesondere auch sein brüchiges Selbstwertgefühl zu kompensieren suchte. Die hier dargestellte Behandlung ist nicht nur deswegen als erfolgreich zu bezeichnen, weil der Patient von der früher häufigen Manie und den langen Depressionen frei wurde (das wäre nur eine grobsymptomatische* Heilung), sondern weil er i n seiner intrapsychischen und interpersonellen K o m m u n i kation, i n seiner Freiheit, sich selbst realistisch zu verwirklichen bei gleichzeitiger Respektierung der anderen, erhebliche Fortschritte machte und eine schöpferische Entfaltung i n einem i h m früher nie bekannten Ausmaß erreichen konnte. Ein solches positives Ergebnis ist freilich auch v o n vielen günstigen Voraussetzungen abhängig. Eine davon hat der Patient i n einem seiner, gerade durch die geschilderte Veränderung möglich gewordenen, humorigen Aphorismen f o r m u liert: »Heute morgen sprach ich m i t einem Kollegen über Depressionen und ähnliches. U n d zum Schluß sagte ich i h m * Bekanntlich werden auch solche symptomatischen psychotherapeutischen Erfolge von vielen mit statistischen Argumenten angezweifelt. Eine kurze Schilderung der diesbezüglichen Debatte findet man bei H O L E (1992, S. 432). So äußerte A N G S T , der in seiner U n tersuchung (1980) gefunden hatte, daß bei 44% der unipolaren Depressiven eine Rückfallfreiheit von 5 Jahren oder länger zu beobachten ist, seine Skepsis über die therapeutische Wirksamkeit der Psychotherapie: da bei unipolaren Erkrankungen im Zeitraum von 18 Jahren der Median bei 4 Phasen liege, sei der Krankheitsprozeß mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit »bereits spontan zur Ruhe gekommen, wenn man dem Patienten nach 3 - 4 Phasen in Behandlung nehme« (bei H E I M A N N 1980, S. 272). Die Gegenargumentation von B R Ä U T I G A M (ebenda, S. 273) brauche ich aber in diesem Fall der Behandlung von Stefan E . nicht zu Hilfe zu nehmen: Letzterer gehört ja zu den bipolaren Depressiven, bei denen A N G S T selbst eine Rückfallsfreiheitsquote von nur 17% festgestellt hat.

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dann: >Weißt du, ich glaube, Depressionen sind keine hard¬ ware, sondern Software; die Frage ist nur, wie hart inzwischen die Software geworden ist. mir nichts dir nichts

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