Wahlen in Deutschland [1 ed.] 9783428496167, 9783428096169

Eine klassische Definition für »Demokratie« lautet in Übereinstimmung mit Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes: »Alle Staats

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Wahlen in Deutschland [1 ed.]
 9783428496167, 9783428096169

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Wahlen in Deutschland

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 60

Wahlen in Deutschland

Herausgegeben von

Eckhard Jesse und Konrad Löw

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wahlen in Deutschland / hrsg. von Eckhard Jesse und Konrad Löw. Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 60) ISBN 3-428-09616-9

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09616-9

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

INHALTSVERZEICHNI S Einleitung ........................................................................................................... 7 Eckhard Jesse Maßstäbe zu Bestimmung demokratischer Wahlen ......................................... 11 Wemer Kaltefleiter Die Wirkungsweise von Wahlsystemen ........................................................... 37 Dieter Nohlen Wahlsysteme im Vergleich .............................................................................. 51 Otmar Jung Wahlen und Abstimmungen in Dritten Reich 1933-1938 ................................ 69 Konrad Löw Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR ................................ 99 Hans Michael Kloth Die letzte DDR-Wahlrechtsreform von 1988/89 ........................................... 117 Hans-Jörg Bücking Der Streit um Grundmandatsklausel und Überhangmandate ......................... 141 Johannes Singhammer Das allgemeine Wahlrecht in der Diskussion ................................................ 217 Jürgen W. Falter Das Wahlverhalten in den alten und den neuen Bundesländern bei der Bundestagswahl 1994 .................................................................................... 223 Auswahlbibliographie .................................................................................... 237 Verfasser und Herausgeber ............................................................................ 247

EINLEITUNG Eine klassische Definition für "Demokratie" lautet in Übereinstimmung mit Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen [... ] ausgeübt." Das eine Wort "Wahlen" läßt vielfältige, im Ergebnis höchst unterschiedliche Ausgestaltungen des Wahlrechts zu, angefangen mit der relativen Mehrheitswahl bis hin zur reinen Verhältniswahl. Die Möglichkeiten dazwischen sind Legion. Die deutsche Verfassungsgeschichte veranschaulicht das Gesagte ganz konkret. Jede der großen Zäsuren hatte ein anderes Wahlrecht zur Folge. Galt im Kaiserreich die absolute Mehrheitswahl, so in der Weimarer Republik die (fast) reine Verhältniswahl. Das jetzt geltende Wahlrecht wird personalisierte Verhältniswahl mit Fünfprozenthürde genannt. Die deutschen Diktaturen wollten nicht auf den demokratischen Anstrich verzichten und inszenierten Veranstaltungen, die die Bezeichnung" Wahlen" trugen. Ob es korrekt ist, auf die Anführungszeichen zu verzichten, darüber sind die Meinungen geteilt, je nachdem, ob ein technischer Wahlbegriff akzeptiert wird. Konsens besteht jedoch darin, und das ist entscheidend, daß es sich nicht um demokratische Wahlen gehandelt hat. Das Grundgesetz hat sich zwar auf kein bestimmtes Wahlverfahren festgelegt, doch müssen die Wahlen demokratisch sein. Eckhard Jesse erörtert die Kriterien für demokratische Wahlen. Sie gelten als der entscheidende Legitimationsakt des demokratischen Verfassungsstaates. Zur "Freiheit der Wahl", seinem Hauptkriterium, gehören die Freiheit der Auswahl, die Freiheit im Angebot, die Freiheit zur möglichen Revision des Wählervotums. Die Wahlrechtsgrundsätze seien wohl für eine demokratische Wahl notwendig, jedoch nicht hinreichend. In der Bundesrepublik Deutschland, die auf der Konkurrenztheorie der Demokratie fußt, werde den Prinzipien demokratischer Wahlen ungeachtet vielfältiger Kritik Rechnung getragen. Die Beiträge von Werner Kaltefleiter und Dieter Nohlen beziehen sich auf die Wahlsystemfrage. Kaltetleiter skizziert vorab den etwa IOOjährigen Streit um das "richtige Wahlrecht". Er weist nach, daß ein quasi-ideologischer Streit über das richtige Wahlrecht keinen Sinn mache. Zunächst sei die Frage zu beantworten, welchen Stellenwert Regierungsfähigkeit, Regierungskontrolle und Minderheitenschutz einnehmen. Das Wahlrecht sei eines der wichtigsten Instrumente, diese Ziele zu erreichen. Die Festlegung eines funktionsgerechten Wahlrechts stelle eine fast technokratische Aufgabe dar. Nohlens Beitrag über die Wahlsysteme setzt die Akzente etwas anders. Er liefert ein Plädoyer zugun-

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sten des personalisierten Verhältniswahlrechts der Bundesrepublik Deutschland. Nach Auflistung und Erläuterung der Bewertungsmaßstäbe fUr einen Wahlsystemvergleich werden verschiedene Wahlsystemtypen daraufhin untersucht, inwieweit sie den Funktionsanforderungen genügen, wobei das bundesdeutsche System besonders gut abschneidet. Die drei folgenden Aufsätze suchen Antwort auf historische Fragen und betrachten die Wahlen (oder "Wahlen") in den deutschen Diktaturen. Otmar Jung bezieht sich auf das Dritte Reich. Auch wenn bei derlei Veranstaltungen jeglicher Widerspruch unterdrückt oder geahndet wird, die Prozeduren im Detail, die Mischung von VerfUhrung und Gewalt, die Relation zwischen den tatsächlichen und den amtlichen Ergebnissen, die Entwicklung der Ergebnisse, dies alles verdient Beachtung und läßt Rückschlüsse zu. Konrad Löw, der die "Wahlen" und Abstimmungen in der SBZ und in der späteren DDR beleuchtet, den amtlichen und den tatsächlichen Funktionen dieser Veranstaltungen nachspürt, zieht Vergleiche mit der NS-Zeit und betont die Gemeinsamkeiten der Noch-Wahlen in der SBZ vom Herbst 1946 und im NS-Staat vom 5. März 1933. Besonders frappierend erscheinen die Gemeinsamkeiten der Volksbefragungen der Jahre 1938 und 1949. Beide Regime wollten die "Wahl"-Ergebnisse durch die Koppelung mit einer Abstimmung aufbessern, wobei die eine Stimme, die den Berechtigten fUr beide Akte zugleich zustand, optisch in den Ja-Kreis gesteuert wurde. Ausschließlich mit der letzten DDR-Wahlrechtsreform vor der friedlichen Revolution befaßt sich Hans-Michael Kloth. Er sieht in ihr den Versuch zur Mobilisierung letzter system immanenter Legitimationsreserven, und zwar durch Ausweitung des Vorschlagsrechts, durch Intensivierung der Kandidatenauswahl, durch Verkleinerung der Wahlkreise und schließlich durch die EinfUhrung des kommunalen Ausländerwahlrechts. Die Erwartungen zielten demnach nicht primär auf die eigene Bevölkerung; vielmehr waren sie von außenpolitischem Prestigedenken und dem Versuch geprägt, sich einerseits von der Sowjetunion und andererseits von der Bundesrepublik Deutschland abzuheben. Daß der Versuch, durch derlei Augenwischereien das System zu stabilisieren, mißlang, ist allseits bekannt. Speziell mit Blick auf die bundesdeutschen Gegebenheiten sind die Abhandlungen von Hans-Jörg Bücking und Johannes Singhammer und Jürgen W. Falter verfaßt. Der besonders umfangreiche Beitrag Bückings analysiert Grundmandatsklausel und Überhangmandate. Sie sind gerade wegen ihrer aktuellen Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages heiß debattierte Streitpunkte, zu denen sich auch das Bundesverfassungsgericht schon mehrmals geäußert hat, zuletzt 1997. Beide umstrittenen Regelungen wurden als verfassungsgemäß angesehen - nach Meinung des Autors zu Un-

Einleitung

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recht. Mit Blick auf dieses oberste Verfassungsorgan kommt Bücking zu einem wenig schmeichelhaften Urteil: Es neige dazu, mit geradezu bombastischem Aufwand Postulate zu formulieren, die letztlich politisch gewünschte Ergebnisse ermöglichten. Mit Singhammer, MdB, kommt der Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages (1. Mai 1995-30. April 1996) zu Wort. Er schildert die demographische Entwicklung in Deutschland und drängt vor diesem Hintergrund auf eine gründliche und seriöse Diskussion der Frage, ob nicht das Wahlrecht auf alle Deutschen, die Kinder eingeschlossen, auszudehnen sei. Wie auch sonst im Rechtsleben üblich, hätten die gesetzlichen Vertreter, also in der Regel die Eltern, als Treuhänder am Wahltag zu fungieren. Die bisher vorgebrachten grundsätzlichen wie praktischen-technischen Einwände seien nicht überzeugend. Falters Beitrag ist wahlsoziologisch orientiert. Am Beispiel der Bundestagwahl 1994 schildert er Übereinstimmungen und Unterschiede im Wahlverhalten zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Er gliedert nach dem Alter, der Konfession, dem Beruf und der Bildung. Sensationell mutet der geringe Anteil Arbeiter unter den Wählern der PDS an. "Rund 14 % der Arbeiter haben im Osten rur diese Partei gestimmt, aber 45 % rur die CDU und 32 % rur die SPD." Die Beiträge dieses Bandes sind die meist überarbeiteten Vorträge des neunten Symposiums der Fachgruppe Politik der Gesellschaft rur Deutschlandforschung, abgehalten am 8. und 9. November 1996 im Roten Rathaus, Berlin. Eine Auswahlbibliograpie mag dem interessierten Leser weitere Anregungen geben. Bayreuth/Chemnitz, im Februar 1998

Die Herausgeber

Eckhard Jesse MASSSTÄBE ZUR BESTIMMUNG DEMOKRATI SCHER WAHLEN J. Einleitung

Der Unterschied zwischen demokratischen Verfassungsstaaten und Diktaturen ist fundamental. In den einen sind die Regierenden demokratisch legitimiert, in den anderen nicht. In den einen können sie friedlich, nach allgemein anerkannten Regeln abgelöst werden, in den anderen nicht. Die demokratische Legitimität der Regierenden wie die Möglichkeit ihrer Ablösung von der Macht hängt wesentlich vom Modus der Wahlen ab. Gleichwohl finden in beiden Systemen Wahlen statt. Doch ist die Differenz grundlegend. In dem einen Fall erfiillen Wahlen die beiden genannten Punkte, in dem anderen nicht ("election without choice")l. "In der Art und Weise, wie [00'] die Wahlen selbst gehandhabt werden, liegt einer der entscheidenden Unterschiede zwischen dem autokratischen und dem konstitutionellen politischen System."2 Die verbreitete Annahme, nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Staatensystems in Europa habe sich angesichts des nahezu weltweiten "wind of change" ein grundlegender Wandel vollzogen, ist nur zum Teil richtig, wie ein Blick auf die Befunde der Menschenorganisation "Freedom House" zeigt. Die Organisation teilt die Staaten der Welt in die drei Kategorien "frei", "teilweise frei" und "unfrei" ein (gemessen an politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten). Dafilr spielt die jeweilige Art der Wahlen eine wesentliche Rolle. "Freedom House" kam zum Ergebnis, daß im Jahre 1986 36,27 Prozent der Bevölkerung in freien Staaten lebten, 23,29 Prozent in teilweise freien und 40,43 Prozent in unfreien. Vergleicht man diese Ergebnisse mit denen für 1996, so ist der Befund überraschend. Danach sind 19,55 Prozent der Menschen in freien, 41,49 Prozent in halbfreien und 38,96 Prozent in unfreien Staaten beheimatet. 3 Gemäß diesen Zahlen wäre also im letzten Jahrzehnt keine weltweite

Vgl. Guy HennetIRichard Rose/Alain Rouquie (Hrsg.), Elections without Choice, LondonIBasingstoke 1978. So Karl Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl., TUbingen 1975, S. 275. Vgl. Roger Kaplan (Hrsg.), Freedom in the World. The Annual Survey ofPolitical Rights & Civil Liberties 1995-1996, New York 1996, S. 4.

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Demokratisierungswelle4 ausgebrochen. Sie täuschen allerdings insofern, als auf die Bevölkerung insgesamt abgestellt wird. (Indien, gerne als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet, wurde nur noch als "teilweise frei" eingeordnet). Berücksichtigt man die Zahl der Staaten, so ergibt sich ein anderes Bild: Im Jahre 1986 galten jeweils 56 Staaten als frei und halbfrei, 55 als unfrei; zehn Jahre später firmierten 76 Länder als frei, 62 als halbfrei und 53 als unfrei. 5 Diese Auflistung macht gleichwohl deutlich, daß die freien Staaten mit demokratischen Wahlen nach wie vor in der Minderheit sind. Der folgende Beitrag befaßt sich mit der Frage, wodurch sich eigentlich demokratische Wahlen auszeichnen. Was sind die Maßstäbe demokratischer Wahlen? Zur Beantwortung dieser Frage erscheint eine umfassende Perspektive nötig. Zunächst sind die Merkmale demokratischer Legitimität beschrieben (Kapitel 2). Danach wird am Beispiel zweier Demokratiemodelle - der Konkurrenztheorie und der Identitätstheorie - das unterschiedliche Demokratieverständnis auch mit Blick auf Wahlen herausgearbeitet (Kapitel 3). Die "Freiheit der Wahl" ist das Hauptkriterium einer demokratischen Wahl (Kapitel 4). Sie bedarf der Ergänzung durch die sogenannten klassischen Wahlrechtsgrundsätze (Kapitel 5). Die Beispiele, mit denen bestimmte Sachverhalte untermauert werden sollen, beziehen sich vornehmlich auf die Bundesrepublik Deutschland. 2. Merkmale demokratischer Legitimität

Erst demokratische Wahlen legitimieren Herrschaft: "Die Parlamentswahl ist in einer Demokratie mit parlamentarischem Regierungssystem der grundlegende Legitimationsakt für die Träger der Staatsgewalt."6 Der Begriff der Legitimität hat im Laufe der Zeit einen extremen Bedeutungswandel erfahren. 7 Galt etwa in der Restaurationsperiode der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die "Heilige Vgl. Sarnuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, NormanlLondon 1991. Für Huntington beginnt die dritte Welle der Demokratisierung in den siebziger Jahren mit dem Zusammenbruch der autoritären Diktaturen in Portugal und Spanien. Vgl. Kaplan (Anm. 3), S. 8. 14.

So statt vieler Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, Frankfurt a.M. 1973, S.

Vgl. hierzu Thomas Württemberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, BerIin/Münster 1973. Wichtig aus politikwissenschaftlicher Sicht: Peter Graf Kielmansegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: Politische Vierteljahresschrift 12 (1971), S. 367-401. AusfUhrlicher ders., Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977; siehe auch ders./Ulrich Matz (Hrsg.), Die Rechtfertigung politischer Herrschaft, FreiburgIMünchen 1978. Zur systemtheoretischen Richtung, nach der Legitimität vor allem durch die Einhaltung von Verfassungsregeln entsteht: Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied/Berlin 1969.

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Allianz" ausschließlich die Herrschaft von "Gottes Gnaden" als legitim, so kann derzeit "nur noch das Prinzip der Wahl verläßliche Legitimität, das heißt nicht angemaßte Macht verleihen."8 Ein Indiz dafilr, daß nahezu jedes System "deems elections necessary seems to pay tribute to the immense strength of the tradition that elections confer legitimacy"9. Allerdings gibt es weltweit keinen Konsens über das angemessene Verständnis von "Demokratie". Offenbar ist der Siegeszug des demokratischen Verfassungsstaates keineswegs unaufhaltsam 10, jedoch der des (Passe-Partout-)Wortes "Demokratie", nimmt doch inzwischen nahezu jeder Staat für sich in Anspruch, demokratisch legitimiert zu sein: "Der Mißbrauch des demokratischen Legitimationsprinzips ist eine Begleiterscheinung seines Triumphes." I I Der Versuch, aufgrund der Terminologie Unterscheidungen vorzunehmen, bleibt wegen der inflationären Verwendung des Begriffs "demokratisch" bar jeder sinnvollen Erkenntnis. Welche Kriterien können für die demokratische Legitimität einer politischen Ordnungsform herangezogen werden? Sie ist erst dann gegeben, wenn folgende Voraussetzungen - und zwar kumulativ - vorliegen: 1) Die Herrschaftsausübung durch die Regierenden hat ihren Ausgangspunkt beim Volk. 2) Die Regierten müssen von der Anerkennungswürdigkeit ihrer Ordnung überzeugt sein. 3) Es bedarf eines Minimalkonsensus in Form der Unantastbarkeit von Grundund Menschenrechten. Im folgenden sollen diese Kriterien anhand von Beispielen veranschaulicht werden. Alle drei Merkmale sind filr die demokratische Legitimität unerläßlich, auch wenn zwischen dem ersten und vornehmlich dem dritten Kriterium ein gewisses Spannungsverhältnis besteht, wie plausibel zu machen ist. Das erste Kriterium ("Volkssouveränität") fehlte, wenn keine Wahlen stattfänden oder diese nur Akklamationsfunktion besäßen, die Regierenden sich Erwin Faul, Die Vergewaltigung der Zukunft, in: Der Wähler 4 (1954), S. 67 (Hervorhebung im Original). So William J.M. Mackenzie, Art. "The functions of elections", in: David L. Sils (Hrsg.), International Encyclopedia of Social Sciences, Bd. 5, New York 1968, S. 5. 10

Vgl. dazu einerseits Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; andererseits Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, MünchenlWien 1996. 11

Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modemen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 49/69, S. 9.

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nicht durch Wahlen ablösen ließen. Von Demokratie zu sprechen, ist dann nicht mehr angemessen, obgleich es politische Systeme gibt, die zumindest zeitweilig die Anerkennung ihrer Bevölkerung besitzen, ohne daß sie die Volkssouveränität gewährleisten. So hätte das nationalsozialistische Regime Mitte der dreißiger Jahre aufgrund der Besserung der wirtschaftlichen Situation, der außenpolitischen Erfolge und des internationalen Ansehens vermutlich die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung gefunden. Die Auffassung von John H. Herz muß daher als unzureichend zurückgewiesen werden: ,,[ ... ] Herrschaft [ist] legitim, wenn die Gesamtheit der Einheit, oder doch die große Mehrheit, davon überzeugt ist, daß 'das Volk' über sein Geschick bestimmt und die Regierung zu seinem Wohl, und nicht zu dem einer Minderheit, Elite etc., wirkt" 12. Die Notwendigkeit des zweiten Kriteriums ("Anerkennungswürdigkeit") kann ex negativo am Beispiel der Weimarer Republik demonstriert werden. In der ersten deutschen Demokratie gab es zunehmend Kräfte, die "das System" wie es verächtlich genannt wurde, ablehnten und bekämpften. Bei den beiden Reichstagswahlen im Jahre 1932 erreichten die Flügelparteien NSDAP und KPD, die aus ihrer Negierung des demokratischen Verfassungsstaates keinen Hehl machten, zusammen eine ("negative") Mehrheit. Wenn das Ende der Weimarer Republik damit auch keineswegs zwangsläufig war, so lag doch auf der Hand, daß eine "Demokratie ohne Demokraten" 13 auf Dauer nicht bestehen konnte. Zur Sicherung der Demokratie genügt eben nicht Volkssouveränität. Beim dritten Kriterium ("Bejahung von Grund- und Menschenrechten") geht es nicht nur um die Notwendigkeit eines Basiskonsensus. Denn schließlich kannte auch der Nationalsozialismus einen "Minimalkonsensus", der nicht bestritten werden durfte (z.B. unbedingte Feindschaft gegenüber dem "Weltjudentum" und dem "Weltkommunismus"). Vielmehr ist hier ein für jede demokratische Gesellschaft verbindlicher Wertekanon gemeint, der dem Staat vorgegebene Menschenrechte umfaßt. "Die normative Frage, was in einer Gesellschaft Konsensus sein sollte, kann nur jeweils in bezug auf die in einer konkreten Gesellschaft gegebenen Alternativen, Wertvorstellungen und Perspektiven beantwortet werden" 14. Basiert diese These - wenn auch nicht expressis verbis auf der Relativierung von Werten, so wird hier die gegenteilige Auffassung von 12

lohn H. Herz, Gedanken über Legitimität, Gewalt und die Zukunft des Staates, in: Christian FennerlBemhard Blanke (Hrsg.), Systemwandel und Demokratisierung. Festschrift fIlr Ossip K. Flechtheim, Frankfurt a.M. 1975, S. 37 f. Il

Dieser Tenninus ist treffender als der in der Weimarer Republik gebrauchte: "Republik ohne Republikaner". Denn die Fronten verliefen keineswegs zwischen den "Republikanern" und den "Monarchisten", sondern zwischen den Anhängern des demokratischen Verfassungsstaates und ihren Gegnern, mag es auch Überlappungen gegeben haben. 14

Hans Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, Leverkusen 1977, S. 456.

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der Universalität der Menschenrechte vertreten.1 5 Es gibt bestimmte Grundwerte, die "überzeitlich" und "gesellschaftsunabhängig" sind, folglich nicht zur Disposition stehen dürfen. Als Beispiel daftlr kann die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer "Ewigkeitsklausel" (Art. 79, 3 GG) gelten. Zu ihr gehören die Grundsätze von Artikel I (Unantastbarkeit der Menschenwürde) und Artikel 20 (Staatsstrukturprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaat). Zwischen dem ersten und vor allem dem dritten Kriterium besteht ein unaufhebbares Spannungsverhältnis. Ein Absolutsetzen der Volkssouveränität könnte zur Aufhebung von Grund- und Menschenrechten (wie etwa des Minderheitenschutzes) ftlhren, die erst das demokratische Legitimitätsprinzip konstituieren. Schon der Liberale John Stuart Mill hat in seinem Werk "On Liberty" - zu einem Zeitpunkt übrigens, als sich die Volkssouveränität noch gar nicht durchgesetzt hatte - auf die Möglichkeit der "Tyrannei der Mehrheit" aufmerksam gemacht l6 , und Karl R. Popper kennzeichnet diesen Sachverhalt in seiner Studie über "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" als "Paradox der Demokratie"17. Gerade um die Volkssouveränität dauerhaft zu sichern, kann ihre Begrenzung notwendig sein. Gerhard Leibholz hat gefragt: "Wie wäre es z.B. zu beurteilen, wenn in einer freien Wahl auf der Grundlage des uns geläufigen allgemeinen und gleichen Wahlrechts die Mehrheit eines Volkes sich zu Gunsten eines totalitären Regimes entscheidet, d.h. eines Regimes, das den Eigenwert und den Subjektcharakter des Individuums aufhebt und dieses als Werkzeug und Objekt zur Disposition der jeweiligen Befehls- und Machtträger stellt?"18 Wer die hier zugrundegelegten Kriterien konsequent anwendet, muß zum Ergebnis kommen, daß diese Wahlen keine demokratische Legitimität beanspruchen dürfen, weil "es Grenzen gibt, die kein menschlicher Gesetzgeber - auch nicht die Mehrheit des Volkes - verletzen und überschreiten darf, wenn nicht das Regime den Charakter einer Gewaltherrschaft und einer Tyrannei annehmen soll" 19. Allerdings trüge eine Ausweitung des als unveränderbar geltenden Wertekatalogs zu einer Einschränkung der Wahlmöglichkeiten bei. So wird namentlich von Kritikern der "streitbaren Demokratie" die Auffassung vertreten, daß die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung die VolkssouveräniIS

Vgl. zur Begründung u.a. Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, München 1987. 16

Vgl. John Stuart MiII, Über Freiheit (1859), Frankfurt a.M. 1969, insbes. S. 9-13.

17

Vgl. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1944/45), Band 1,3. Aufl., BernlMünchen 1970, S. 360 (Anm. 7 zu Kapitel 7). 18

Gerhard Leibholz, Zum Begriff und Wesen der Demokratie (1956), in: Ders., Strukturprobleme der modemen Demokratie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1974, S. 153. 19

Ebd., S. 154.

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tät, die sich in repräsentativen Demokratien vor allem in Wahlen manifestiert, unzulässig beschränken. Es sei eine über dem Grundgesetz stehende und zu einer Art "Superlegalität"20 hochstilisierte Wertordnung geschaffen worden. So höhle die "streitbare Demokratie" die verfassungsrechtliche Legalität aus. Im Gegensatz zu Legitimität bedeutet Legalität lediglich die Übereinstimmung der staatlichen Maßnahmen mit dem Gesetz. Da aber Legalität im Grundgesetzverständnis nicht einfach ein "bloß formales" Prinzip darstellt - das Bundesverfassungsgericht erklärt nämlich Gesetze fUr nichtig, die nicht mit dem Buchstaben und dem Geist der Verfassung übereinstimmen -, ist ein gegenseitiges Ausspielen von Legalität und Legitimität unangebracht. Wohl ist eine antidemokratische "Bewegung" bei Wahlen in der Regel nicht in der Lage, eine Mehrheit zu erlangen. Trotzdem bleibt das Dilemma bestehen, dem sich jeder Staat ausgesetzt sieht, der die demokratische Legitimität zu verwirklichen sucht: Völlige Freiheit kann zu ihrer Beseitigung ruhren, ihre Begrenzung hingegen in unfreiheitliehe Verhältnisse umschlagen. 3. Identitätstheorie und Konkurrenztheorie der Demokratie

"Die wissenschaftliche Theorie der Wahl hat ihren letzten, wohl entscheidenden Anstoß durch Josef Schumpeter 1942 erhalten."2! Diese These Philipp Herder-Domeichs mag übertrieben klingen - schließlich haben sich sehr viele politische Theoretiker schon früher (wenngleich nicht systematisch) mit der Theorie von Wahlen befaßt -, sie ist jedoch prinzipiell richtig, weil Schumpeter geradezu eine, so die bevorzugte Wendung Herder-Domeichs, "kopernikanische Wende in der Theorie des Wählens"22 vollzog - insofern nämlich, als er nicht mehr voraussetzte, das Volk habe "eine feststehende und rationale Ansicht über jede einzelne Frage", und die Ansicht verwarf, es gehöre zur Aufgabe der Demokratie, "daß es 'Vertreter' wählt, die dafUr sorgen, daß diese Ansicht ausgefUhrt wird"23. In diesem Verständnis von Demokratie, das Schumpeter mißverständlich als "klassische Theorie" charakterisierte, nahm der feststehende 20

So die neo-marxistische Kritik von Ulrich K. Preuß, Gesellschaftliche Bedingungen der Legalität, in: Ders., Legalität und Pluralismus, Frankfurt a.M. 1973, insbes. S. 17-30. 21

Philipp Herder-Domeich, Wahl und Wahl mechanismus, in: Franz Geiß/Philipp HerderDomeichlWilhelm Weber (Hrsg.), Der Mensch im sozio-ökonomischen Prozeß, Berlin 1969, S. 61. Die folgenden Überlegungen zu den beiden Demokratiemodellen lehnen sich eng an die Ausruhrungen des Verfassers in dem folgenden Werk an: Wahlen. Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Berlin 1988, S. 18-22. 22 23

Herder-Domeich (Anm. 21), S. 61.

Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1942), 3. Aufl., München 1972, S. 427.

Maßstäbe zur Bestimmung demokratischer Wahlen

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"Wählerwille" einen überragenden Platz ein, während die Wahl der Repräsentanten lediglich ein technisches Mittel zum Zweck - der Ausführung des Volkswillens - bildete. Schumpeter kehrte dagegen das Verhältnis und die Bedeutung dieser beiden Faktoren um. "Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben".24 Dies ist Schumpeters berühmte Definition der Konkurrenztheorie der Demokratie. Damit steht sie in einem fundamentalen Gegensatz zur Identitätstheorie der Demokratie, als deren "klassischer" Verfechter lean lacques Rousseau gilt. Sie hat Schumpeter zusammenfassend folgendermaßen formuliert: "Die demokratische Methode ist jene institutionelle Ordnung zur Erzielung politischer Entscheide, die das Gemeinwohl dadurch verwirklicht, daß sie das Volk selbst die Streitfragen entscheiden läßt, und zwar durch die Wahl von Personen, die zusammenzutreten haben, um seinen Willen auszuführen".25 Da diese zwei unterschiedlichen Demokratiemodelle für die jeweilige Funktion von Wahlen eine entscheidende Rolle spielen, soll eine bewertende Gegenüberstellung vorgenommen werden. Dabei geht es weniger darum, Schumpeters Theorie und die Rousseaus authentisch zu erfassen, als vielmehr um eine Herausarbeitung der beiden konträren Grundpositionen. 26 Diese sind nach wie vor von Relevanz, mögen auch andere Probleme (wie etwa das der Demokratisierung) an Bedeutung gewonnen haben. Die vielfach für überholt erklärte Unterscheidung zwischen den beiden Demokratiemodellen hat die politikwissenschaftliche Diskussion in der Bundesrepublik jahrelang geprägt und auch befruchtet. 27 Die Identitätstheorie der Demokratie, genannt auch Identitätstheorie oder Identitätsdemokratie, basiert, wie schon der Name sagt, auf einer Identität zwischen den Regierenden und den Regierten. Rousseaus Theorie negiert das Repräsentationsprinzip. Der allgemeine Wille könne nicht vertreten werden, und jedes Gesetz bedürfe der Bestätigung des Volkes: "Der Gedanke der Stellvertretung gehört der neueren Zeit an [ ... ]. In den alten Republiken, ja sogar in den

2~

25

Ebd., S. 428. Ebd., S. 397.

26

Dabei muß der Vergleich auf derselben Ebene erfolgen (Theorie versus Theorie; Praxis versus Praxis). Nicht ganz konsequent ist der im übrigen aufschlußreiche Vergleich von Hans Kremendahl (Anm. 14 ), S. 40-44, S. 99-105. 27

Hier ist - stellvertretend rur viele - auf die Arbeiten von Ernst Fracnkel zu verweisen.

2 Jesse I Löw

Eckhard Jesse

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Monarchien hatte das Volk nie Vertreter"28. Für die Identitätstheorie läßt sich Repräsentation demnach nur mit der Größe des Staatswesens begründen - als eine Art "technisches Hilfsmittel", als Ersatz rur eine "wahre Demokratie". Dabei müssen die Entscheidungen der Repräsentanten immer an den Willen der Bevölkerung gekoppelt sein. Auf diesem Axiom etwa beruht auch das Ende der sechziger Jahre von Teilen der "Neuen Linken" verfochtene Modell der Rätedemokratie. Wahlen dienen gemäß der Konzeption der Identitätstheorie nur zur Umsetzung des "Volkswillens". Dieser aber wird von Verfechtern der Identitätstheorie als homogen betrachtet. Rousseau geht gar so weit, den Gemeinwillen ("volonte generale"), der auf das Gemeinwohl zielt und "beständig der richtige ist"29, nicht mit der Summe der Einzelwillen der Bürger ("volonte de tous") zusammenfallen zu lassen. Daher bedürfe es eines Gesetzgebers ("legislateur"), dessen "höhere Einsicht [... ] sich über den Gesichtskreis der persönlichen Menschen erhebt"30. In diesem Verständnis bleibt rur Wahlen im Sinne von Auswahl kein Platz. Für viele Pluralismustheoretiker ist Rousseau damit nicht der Ahnherr der Demokratie, sondern der Stammvater des Totalitarismus - so etwa bei Jacov L. Talmon,31 Und bei Gerhard A. Ritter heißt es angesichts der Parallelen zu Diktaturen über den göttlich inspirierten "Gesetzgeber", eine Art "deus ex machina": "Die Konzeption nimmt in manchem die später verwirklichte Rolle des 'Führers' bzw. der 'Avantgarde des Proletariats' vorweg",32 Nicht nur die Rechtfertigungen der Herrschaft in diktatorischen Staaten, sondern auch die theoretischen Ausgangsüberlegungen sind bei "linken" und "rechten" Theoretikern ähnlich. Beispielsweise interpretieren earl Schmitt und Johannes Agnoli Demokratie als "Identität von Regierenden und Regierten"33. Je nachdem, ob stärkeres Gewicht auf die Einheit von Regierenden und Regierten gelegt oder

21

Jean Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechts (1762), Stuttgart 1971, S. 107 (4. Buch, 4. Kapitel). 29 30

Ebd., S. 32 (2. Buch, 3. Kapitel). Ebd., S. 48 (2. Buch, 7. Kapitel).

31

Vgl. Jacob L. Talmon, Die UrsprUnge der totalitären Demokratie, KölnlOpaden 1961; ders., Politischer Messianismus. Die romantische Phase, KölnlOpladen 1963; ders., The Myth ofNation and the Vision of Revolution. The origins of Totalitarian Polarisation in the Twentieth Century, London 1981. 32

So Gerhard A. Ritter, "Direkte Demokratie" und Rätewesen in Geschichte und Theorie, in: Erwin K. Scheuch (Hrsg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, 2. Aufl., Köln 1968, S. 217. Im Tenor ähnlich Kremendahl (Anm. 14), S. 104. 33

Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtIiche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923 und 1926),4. Aufl., Berlin 1969, S. 20; Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt a.M. 1968, S. 70 und öfter.

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die "Geschlossenheit" des Volkswillens betont wird, läßt sich von Identitätstheorie oder Homogenitätstheorie sprechen. Die Konkurrenztheorie der Demokratie, genannt auch Konkurrenztheorie oder Konkurrenzdemokratie, als deren "eigentlicher" Exponent Joseph A. Schumpeter gilt34 , hält es dagegen rur unerläßlich, daß das Volk eine Regierung wählt. Die Repräsentanten, während ihrer Amtszeit nicht an Aufträge gebunden, stellen sich nach Ablauf der Legislaturperiode dem Votum der Wählerschaft. Damit bedeutet Demokratie in diesem Verständnis nicht Herrschaft des Volkes, sondern Herrschaft mit Zustimmung des Volkes. Insofern ist die Konkurrenztheorie am Repräsentationsgedanken ausgerichtet. Dem Wahlakt zur "Inthronisierung" der Vertreter kommt entscheidende Bedeutung zu. Für die Konkurrenztheorie gibt es kein "eindeutig bestimmtes Gemeinwohl, Ober das sich das ganze Volk kraft rationaler Argumente einig wäre oder zur Einigkeit gebracht werden könnte."35 Als Konsequenz hieraus ergibt sich, mittels der Wahl dem Volk die Entscheidung darüber zu belassen, wem die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten obliegt. Schumpeter hat seine Theorie vorwiegend als "Methode" verstanden. Unabhängig davon, ob die gängige Auffassung, es handle sich dabei um eine "formalistische Demokratieauffassung", um ein "sozusagen 'wertfreies' Demokratiebild"36 zutreffend ist, hat die Pluralismustheorie - hier ist etwa an Ernst Fraenkel zu denken - sie als Grundlage genommen und sie stärker mit normativen Elementen angereichert. So gehört etwa die Akzeptierung eines demokratischen Minimalkonsensus ebenso zu den Bestandteilen der Pluralismustheorie (jedenfalls in der deutschen Version) wie die Betonung partizipatorischer Gesichtspunkte. Bezogen auf die Wahl, hat dies rur Fraenkel folgende Konsequenzen: "Die Konkurrenztheorie der Demokratie wird den an sie zu stellenden Erfordernissen nicht gerecht, wenn sie in den Wahlen zum Parlament nichts anderes erblickt als ein Personalplebiszit zwischen zwei Persönlichkeiten, die sich um das Amt des Regierungschefs reißen",37 Die Personalalternative bedarf der Ergänzung durch eine Sachalternative.

3.

Allerdings dürfen Vorläufer nicht geleugnet werden. Schließlich hat "auch die Konkurrenztheorie 'klassische' Wurzeln" (so Kremendahl [Anm. 14], S. 41. Völlig zu Recht sind daher bei Heinz Laufer unter dem Oberbegriff "Klassische Theoretiker der Demokratie" sowohl Rousseau als auch - neben anderen - die Verfasser der "Federalist Papers" berücksichtigt. Vgl. ders., Die demokratische Ordnung, Stuttgart u.a. 1966, S. 20-28. JS 36

Schumpeter (Anm. 23), S. 399. So Kremendahl (Anm. 14), S. 41 f.,42.

n Ernst Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung (1964); in: Ders.,

Deutschland und die westliche Demokratien, 7. Auf1., Stuttgart u.a. 1979, S. 65.

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Eckhard Jesse

Die Identitätstheorie verwirft Repräsentation und sieht den Volkswillen als "homogen" und "objektiv erkennbar" an. Für die Wahl bedeutet das (allenfalls) eine Akzeptierung der Verhältniswahl, bei der sich der "Volkswille" im Parlament getreulich widerspiegele - wenn überhaupt eine Wahl mit Alternativen filr nötig erachtet wird, stehe doch der "Volkswille" ohnehin fest. Die Konkurrenztheorie dagegen lehnt das Identitäts- und Homogenitätsprinzip ab, bekennt sich vielmehr zur Auffassung, daß die Demokratie der politischen Führung bedarf. Die Hervorbringung einer Regierung wird geradezu als eine der Hauptfunktionen der Wahl angesehen,38 Für das Wahlverfahren hat dies die Konsequenz einer prinzipiellen Bevorzugung der MehrheitswahI.39 Deswegen muß die Bejahung der Konkurrenzdemokratie aber nicht notwendigerweise mit einem Plädoyer filr die Mehrheitswahl verbunden sein. Hier kommt es wohl stärker auf die spezifische Konstellation (des Parteiengefilges, der politischen Kultur, der historischen Entwicklung etc.) in einem Land an und auf die jeweiligen Wertprämissen des Betrachters. Kann die Konkurrenztheorie durchaus mit der Verhältniswahl verbunden sein, gilt dies (angesichts der unbedingten Ausrichtung am "Volkswillen") nicht filr die Identitätstheorie und die Mehrheitswahl. Nur die Konkurrenztheorie der Demokratie (in Verbindung mit der Pluralismustheorie) entspricht den rur die demokratische Legitimität einer politischen Ordnungsform als notwendig angesehenen Anforderungen. Die Wahl trägt dem Merkmal der Volkssouveränität Rechnung (Kriterium 1); die gewählte Regierung ist jedoch keineswegs verpflichtet, sich an den "Volkswillen" zu halten, so daß die Volkssouveränität nicht verabsolutiert wird (Kriterium 3). Für die Identitätstheorie dagegen liegt schon dann eine demokratische Legitimität vor, wenn der Staat den Anspruch erhebt, den (wahren) Volkswillen in die Wirklichkeit umzusetzen - unabhängig davon, ob dieser sich auf den empirisch feststellbaren Willen aller Bevölkerungsgruppen stützt (Kriterium 1), und unabhängig auch davon, inwieweit er bestimmte Grund- und Menschenrechte tangiert (Kriterium 3). 4. "Freiheit der Wahl" als Hauptkriterium einer demokratischen Wahl

"Technisch gesehen ist die Wahl ein Mittel zur Bildung von Körperschaften oder zur Bestellung einer Person in ein Amt".40 Diese Definition berücksichtigt also lediglich den Bestellungsmodus. Die Wahl unterscheidet sich damit von 3a

Vgl. Schumpeter (Anm. 23), S. 432.

39

Vgl. ebd., S. 433.

40

Bernhard VogellDieter NohlenlRainer-Olaf Schultze, Wahlen in Deutschland, BerlinINew York 1971, S. I (Hervorhebung im Original).

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anderen Fonnen der Herrschaftsbestellung, die vor allem in der Vergangenheit häufig Anwendung gefunden haben. Abgesehen von gewaltsamen Fonnen der Machtübernahme ist etwa an das Losverfahren oder die Erbfolge zu denken. Da der Losentscheid auf Zufall basiert, findet er kaum noch Anwendung. Nur in AusnahmeflUlen (z.B. bei Stimmengleichheit) wird auf ihn zurUckgegriffen. 41 Die Erbfolge kann erst recht keine demokratische Legitimität fUr sich beanspruchen. Eine gewisse Rolle spielen auch in der Gegenwart die Kooptation (die Selbstergänzung einer politischen Körperschaft) und die ex officio-Bestellung ("automatische" Aufnahme in eine Körper:schaft aufgrund des hohen Amtes).42 Heutzutage fUhren nahezu alle Staaten Wahlen durch. "Only eight of 136 member-states of the United Nations have not held anational election in the past decade"43. Zwanzig Jahre später sind es noch weniger Staaten geworden, die ganz auf Wahlen verzichten. Mit Dieter Nohlen44 kann man zwischen "kompetitiven", "sem i-kompetitiven" und "nicht-kompetitiven" Wahlen unterscheiden: •

Kompetitive Wahlen sind dann vorhanden, wenn der Wähler tatsächlich Einfluß auf den Ausgang der Wahl nehmen kann. Sie finden in den demokratischen Verfassungsstaaten statt.



Nicht-kompetitive Wahlen liegen vor, wenn der Bürger keine Möglichkeit hat, seiner Meinung durch die Wahl Ausdruck zu verleihen. Zu ihnen zählten und zählen u.a. Wahlen in den kommunistischen Ländern.



Sem i-kompetitive Wahlen passen - wie der Ausdruck schon sagt - weder in die Kategorie "kompetitiv" noch in die Rubrik "nicht-kompetitiv". Für viele Entwicklungsländer trifft diese Charakterisierung am ehesten zu.

Diese Klassifizierung entspricht mehr oder weniger der konventionellen Unterscheidung in demokratische, totalitäre und autoritäre Staaten, wenngleich dies durch Nohlens in Anlehnung an angelsächsische Autoren entwickelte Begrifflichkeit verdeckt wird. Auch die bereits erörterte Differenzierung zwischen freien, halbfreien und nicht-freien Staaten liegt auf dieser Linie. Hier werden lediglich die Wahlen der ersten Kategorie näher untersucht, weil nur sie die genannten Kriterien der demokratischen Legitimität erfUllen und "die kardina-

41

42 43

44

Vgl. etwa § 5 BWahIG. Vgl. hierzu Karl Loewenstein, Kooptation und Zuwahl, Frankfurt a.M. 1973. So Guy HerrnetlRichard Rose/Alain Rouquit, Preface, in: Dies. (Anm. I), S. VII.

Vgl. Dieter Nohlen, Wahlsysteme der Welt - Daten und Analysen. Ein Handbuch, München 1978, insbes. S. 18-22.

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len Unterschiede"45 etwa zu Wahlen in kommunistischen Ländern offenkundig sind. Vor der Charakterisierung einiger wesentlicher Merkmale der demokratischen Wahl scheint der Hinweis geboten zu sein, daß Wahl in einem umfassenden Sinn verstanden werden muß. Dem eigentlichen Wahlakt ist die Kandidatenpräsentation46 vor- und die Stimmverwertung nachgeschaltet47. Die Kriterien müssen rur alle drei Bereiche gelten. So liegt eine Sinnentleerung der demokratischen Wahl vor, wenn der Kandidatenvorschlag das Wahlvolk - z.B. durch "Einheitskandidaten" - entmachtet oder die Stimmverwertung die Entscheidung der Wähler - Z.B. durch Bevorzugung bestimmter Gruppen - nachträglich revidiert. Im Zentrum des demokratischen Wahlbegriffs steht die Freiheit der Wahl. "Freiheit der Wahl" muß dabei weitgefaßt werden, um die Strukturprinzipien und Wesensmerkmale der Demokratie nicht auszublenden48 . Wer Freiheit der Wahl in dem Sinne interpretiert, "daß jeder Wahlberechtigte sein Wahlrecht ohne (physischen) Zwang oder (psychischen) Druck oder sonstige unzulässige direkte oder indirekte Einflußnahme auf die Entschließungsfreiheit [... ] soll ausüben können und daß während des Wahlaktes und danach keine wie auch immer geartete Kontrolle des Inhalts der einzelnen Stimmabgabe erfolgen darf'49, macht sich eine verkürzte Sichtweise zu eigen. Im Grunde kommt Wolfgang Schreiber, von dem dieses Zitat stammt, nicht über eine Umschreibung des Wahlrechtsgrundsatzes "geheim" hinaus. Ähnliches gilt rur die Definition von Eckart Schiffer: "Freiheit der Wahl ist die Gewähr der Freiheit der Entschließung rur alle Wahlbeteiligten: Wähler, aber auch Wahlbewerber und Wahlvorschlagsträger, vor Einflußnahme durch die öffentliche Hand, Parteien oder Private mittels Druck oder Kontrolle, sich an der Wahl zu beteiligen oder

., So Hennann-Otto Leng, Die allgemeine Wahl im bolschewistischen Staat, Meisenheim am

Glan 1973, S. 8. 46

Nicht immer muß der Wahl ein Mandatsvorschlag vorausgehen: Alle im Konklave versammelten Kardinäle können zum Papst gewählt werden. Vgl. dazu Dolf Stemberger, Vorschlag und Wahl, in: Ders., Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, Stuttgart u.a. 1971, insbes. S. 112127 . •7

Vgl. Leng (Anm. 45), S. 37-40; siehe auch schon Heribert Westerath, Die Wahlverfahren und ihre Vereinbarkeit mit den demokratischen Anforderungen an das Wahlrecht, Berlin 1955, S. 68 .

.

Vgl. etwa VogellNohleniSchultze (Anm. 40), insbes. S. 16-25; Amulf von Heyl, Wahlfreiheit und Wahlprüfung, Berlin 1975 . •9

Wolfgang Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag. Bd. I: Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 3. Aufl., Köln u.a. 1986, S. 64.

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auch nicht zu beteiligen, unbeschadet der Zulässigkeit wahltechnisch notwendiger Einschränkungen."50 Demgegenüber macht Ernst Fraenkel zu Recht geltend: "Freiheit der Wahl vermag nur dann als geeignetes Kriterium fUr den unterschiedlichen Charakter des demokratischen Regimes der BRD und des scheindemokratischen Regimes der DDR zu dienen, wenn die DurchfUhrung der einzelnen Wahlen nicht als isolierter Vorgang, sondern als ein Teilausschnitt aus einem kontinuierlichen Prozeß begriffen wird. Freiheit der Wahl bedeutet mehr als Ordnungsmäßigkeit der Wahl; sie bedeutet Übereinstimmung mit den Wertvorstellungen, die untrennbar mit dem Begriff 'Freiheit' verbunden sind. Deshalb reicht es nicht aus, sieh auf die Analyse der mehr rechtstechnischen Bestimmungen der Wahlgesetze zu beschränken"51. In diesem Sinne soll "Freiheit der Wahl" bedeuten: (1) Freiheit der Auswahl (Wahl zwischen mehreren Vorschlägen) - (2) Freiheit im Angebot 52 (Konkurrenz) - (3) Freiheit zur möglichen Revision des Wählervotums (Entscheidung auf Zeit). Eine Verabsolutierung der Kriterien trägt der "Freiheit der Wahl" nicht Rechnung. Die Freiheit der Auswahl darf nicht so verstanden werden, daß jedermann sich zur Wahl stellt. Dieser (konstruierte) Sachverhalt fUhrte das Prinzip der "Freiheit der Wahl" ad absurdum. 1) Freiheit der Auswahl

Der Bürger hat seine Entscheidung zwischen mehreren (mindestens zwei) Wahlvorschlägen zu treffen. Wahl bedeutet immer Auswahl. Damit der Wähler eine ausreichende Informationsbasis fUr sein Votum besitzt, sind Presse- und Informationsfreiheit zu gewährleisten. Ferner muß Parteigründungsfreiheit ebenso gegeben sein wie eine prinzipiell gleiche Wettbewerbschance tur die Parteien 53. Allerdings können Gruppierungen, die die demokratische Wahl, nachdem sie an die Macht gelangt sind, abschaffen wollen, entsprechend dem Prinzip der streitbaren Demokratie aus dem politischen Willensbildungsprozeß eliminiert werden. Ist die Freiheit der Auswahl nach dieser Richtung hin unter Umständen begrenzt ("parteiliche" Komponente), so wird sie es in jedem Fall durch die Kandidatenaufstellung, an der die meisten Wähler nieht beteiligt sind ("personelle" Komponente). Kritikwürdig ist fUr viele, daß die Wähler in der ~

Eckart Schiffer, Wahlrecht, in: Ernst Benda/Werner MaihoferlHans-Jochen Vogel, unter Mitwirkung von Konrad Hesse (Hrsg.), BerlinlNew York 1983, S. 303 (Hervorhebung im Original). SI S2

S3

SO Fraenkel (Anm. 11), S. 4. Vgl. Vogel/NohlenlSchultze (Anm. 40), S. 3.

Vgl. Hanns-Rudolf Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, Berlin 1976.

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Bundesrepublik Deutschland angesichts der starren Landeslisten bei den Bundestasgwahlen und den meisten Landtagswahlen keinen Einfluß darauf haben, welche Kandidaten in das Parlament einziehen. 2) Freiheit im Angebot Die Freiheit auszuwählen, verliert jedoch ihren Sinn, wenn das Angebot, das zur Wahl steht, keine wirklichen Alternativen bietet. Fehlt die Konkurrenz, "liegt auch kein Wahlakt [ ... ] vor"54. Die Alternativen dürfen sich prinzipiell nicht bloß auf unterschiedliche Personen beschränken, wie die Schumpetersche Auffassung "Wähler entscheiden keine Streitfragen"55 nahe legt. "Die richtig verstandene Konkurrenztheorie der Demokratie besagt vielmehr, daß durch die Wahlen nicht nur der künftige Regierungschef bestimmt, sondern auch eine Entscheidung über Alternativlösungen getroffen werden soll, ein Verdikt über die Politik, die die Mehrheitspartei befolgt, und zugleich ein Verdikt über die Politik, die die Minderheitspartei berurwortet hat"56. Wahl ist "Richtungswahl"57. Gleichwohl kann "Freiheit im Angebot" nicht so interpretiert werden, als müßten die Parteien zu allen Problemen gegensätzliche Positionen einnehmen. 3) Freiheit zur möglichen Revision des Wählervotums Die Freiheit der Auswahl und die Freiheit im Angebot werden hinfällig, verstünde man die Wahl nicht als Entscheidung auf Zeit. Nur wenn in regelmäßigen, im voraus bestimmbaren Abständen die Volksvertreter sich dem Urteil des 54

Helmut UnkelbachlRudolf WildenmannlWemer Kaltefleiter, Wahlen, Parteien, Parlamente, Frankfurt a.M.lBonn 1965, S. 9. 55

So Schumpeter (Anm. 23), S. 449. Auch fIlr Wilhelm Hennis genügt offenbar schon die Personalaltemative. Vgl. ders., Die mißverstandene Demokratie, FreiburgIBrsg. 1973, S. 25 f.: Man vertraut Personen, nicht aber ihrer Ideologie, die weder regieren noch verwalten, noch Gesetze machen kann." Ähnlich Dolf Sternberger, Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt a.M. 1962, S. 79: Die Wahl sei ein "Akt des Zutrauens und Anvertrauens" zu Personen. Positiv hervorhebenswert ist die gerade fIlr einen demokratischen Verfassungsstaat unerläßliche - und häufig unterschätzte - Bedeutung der Kategorie des Vertrauens. "Selbst ein mit Bürgerversammlungen und Volksentscheiden wohlversorgtes Land wie die Schweiz [... ] ist nur regierbar, weil es auf allen Ebenen eine Fülle solcher Vertrauensübertragungen gibt." So Hartmut Jäckel, Über das Vertrauen als politische Kategorie, in: Friedrich J. Kroneckffhomas Oppermann (Hrsg.), Im Dienste Deutschlands und des Rechtes, Baden-Baden 1981, S. 151. Siehe zutreffend ebd., S. 146: "Wo aber der Test der freien Wahl gescheut wird, hat Vertrauen ohnehin keine legitimierende Kraft." 56 57

Fraenkel (Anm. 37), S. 65.

Hans Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: JoseflsenseelPaul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 11, Heidelberg 1987, S. 252

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Wählers unterwerfen, ist die Möglichkeit des Mißbrauchs der Regierenden eingeschränkt und die der Einflußnahme des Wählers gesichert. Wahl auf Lebenszeit vereinbart sich nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Ordnung, die sich eben durch das Prinzip "Herrschaftsauftrag auf Zeit" legitimiert. Der Wähler muß die Gelegenheit zur Revision seiner Stimm abgabe erhalten. Mit den Worten von Dolf Stemberger: "Jeder Mißbrauch des anvertrauten Amtes im Sinn einer Etablierung auf Dauer führt daher einen Verlust an Legitimität herbei"58. Die Wahlen dürfen nicht zu dicht hintereinander folgen (zur Sicherung der Kontinuität), aber auch nicht zu weit auseinander liegen (wegen der "Verkrustung" der Herrschaftsverhältnisse). In den demokratischen Verfassungsstaaten ist eine Wahlperiode von vier oder fünf Jahren die Regel. 59 Der Verlierer einer Wahl hat die Niederlage anzuerkennen und die (befristete) Herrschaft des Siegers zu akzeptieren. Wer sich im Bestreben zur Wahl stellt, diese abzuschaffen, will auch den demokratischen Verfassungsstaat aus den Angeln heben. Wenn die in einem umfassenden Sinne verstandene "Freiheit der Wahl" nicht oder nur sehr beschränkt besteht, ist die demokratische Wahl ihres Wertes beraubt. Für die demokratische Legitimität der Wahl stellen diese Kriterien eine conditio sine qua non dar. Fehlen die hier beschriebenen Grundlagen einer demokratischen Wahl, bleibt eine noch so perfekte Ausgestaltung des Wahlverfahrens eine Farce. "Wer ein politisches System beurteilen will, muß mit in erster Linie nach der tatsächlichen Bedeutung der in diesem System praktizierten Wahlen fragen"60. Auch der amerikanische Politikwissenschaftler Robert A. Dahl hält es rur sinnvoll, die Staaten danach zu klassifizieren - er unterscheidet als Extreme "geschlossene Hegemonien" und "umfassende Polyarchien" sowie verschiedene Zwischenstufen 61 -, in welchem Ausmaß Wahlen Einfluß auf die Regierungspolitik haben. Wer sich an der "Freiheit der Wahl" orientiert, kann diese Sichtweise teilen.

58

Dolf Sternberger, Herrschaft und Vereinbarung, in: Ders., 'Ich wünschte ein Bürger zu sein'!, Frankfurt a.M. 1967, S. 67. 59

In einigen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland ist die Legislaturperiode von vier auf runf Jahre verlängert worden, zuletzt 1998 in Bayern. 60 61

Heiner Flohr, Rationalität und Politik, Bd. 2, NeuwiedlBerlin 1975, S. 61. Vgl. Robert A. Dahl, Die politische Analyse (1963), München 1973, S. 106 f.

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5. Wahlrechtsgrundsätze

In einem jahrhundertelangen Prozeß haben sich bestimmte Wahlrechtsgrundsätze herausgebildet und gewandelt62 . Zu ihnen gehören die allgemeine, unmittelbare, gleiche und geheime Wahl. Es ist im folgenden zu verdeutlichen, weswegen diese Prinzipien für eine Wahl, die das Adjektiv "demokratisch" beansprucht, unabdingbar gelten müssen - unabhängig davon, für welches Wahlverfahren sich der Gesetzgeber entscheidet. Dabei wird auch die Position derer illustriert, welche die Wahlrechtsgrundsätze - von unterschiedlichen Richtungen her - in Frage stellen oder höchst eigenwillig interpretieren. (1) "Allgemein" ist ein Wahlrecht, das allen Staatsbürgern zusteht. Der Gesetzgeber besitzt nicht das Recht, "bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen"63. Allerdings müssen gewisse sachliche Erfordernisse erfüllt sein, z.B. Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte, Mindestalter, deutsche Staatsangehörigkeit. In der Vergangenheit wurde das Wahlrecht häufig vom Besitz, der Bildung, der Steuer, dem Geschlecht oder der Konfession abhängig gemacht. Heute dagegen wäre ein solches gegen die Volkssouveränität verstoßendes Wahlrecht "ohne legitimierende Wirkung, weil der Stand des politischen Bewußtseins eine entsprechende Differenzierung der Bürger nicht anerkennen wilrde"64 . Das allgemeine Wahlrecht "hat von Hause aus einen dynamischen Charakter."65 Um diesen Befund nur am Beispiel der Bundesrepublik zu demonstrieren: Die Briefwahl wurde 1957 eingeführt, die Senkung des Wahlalters 1970 von 21 Jahren auf 18 Jahre beschlossen66, die Wahl für Auslandsdeutsche 1985 ins Wahlgesetz aufgenommen (mit einigen Modifizierungen). Zwei andere Vorschläge zur Erweiterung des Wahlrechts sind bisher nicht in die Wirklichkeit umgesetzt worden - zum einen das Wahlrecht für in der Bun62

Vgl. u.a. die Ausfilhrungen bei Nohlen (Anm. 44), S. 36-41; Hans Meyer, Wahl grundsätze und Wahlverfahren, in: IsenseelKirchhof (Anm. 57), S. 269-311; Schiffer (Anm. 50), S. 295-315. (In der zweiten Auflage des "Handbuchs des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland" von 1995 ist leider kein Beitrag mehr über das Wahlrecht enthalten). 63 M 6S 66

BVerfGE 12, 142. Meyer (Anm. 6), S. 15. So ders. (Anm. 62), S. 270.

Mittlerweile haben Niedersachsen (1995) und Schleswig-Holstein (1997) das aktive Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre gesenkt. Manche fordern eine weitere Herabsetzung auf 14 oder 12 Jahre. Zur Diskussion vgl. Ursula Hoffinann-Lange/Johann de Rijke, 16jährige Wähler - erwachsen genug? Die empirischen Befunde, in: Zeitschrift filr Parlamentsfragen 27 (1996), S. 572-585.

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desrepublik Deutschland lebende Ausländer, zum anderen das Familienwahlrecht. 67 Um nur den letzten Vorschlag zu erörtern: Bereits 1974 hatte der Bayreuther Politikwissenschaftler Konrad Löw das Wahlrecht rur Kinder gefordert. 68 Seit einigen Jahren findet die Reformbestrebung auch in Teilen der Politik Unterstützung. 69 Danach sollte den Kindern das Wahlrecht, nicht jedoch das "Wahlausübungsrecht" zustehen. Als gesetzlichen Vertretern der Kinder gebühre dieses den Eltern. Somit müßten die Parteien stärker die Interessen der Familien mit mehreren Kindern berücksichtigen. Manche Begründung ist abwegig: Hans-Joachim Schoeps möchte Eltern nicht wahlfähiger Kinder mehr Stimmen geben, "weil sie schließlich im Schnitt verantwortlicher sind als Ledige und Kinderlose. Wenn ihnen die Stimmen der Kinder übertragen werden, würde das Wahlrecht auch auf die Babys ausgedehnt sein, denn in der perfekten Demokratie soll ja das ganze Volk - also auch Kinder und Jugendliche - eine Vertretung finden"70. Schoeps macht nicht deutlich, welchen Maßstab er an die "Verantwortlichkeit" anlegt. Es ist kein überzeugender Grund ersichtlich, weshalb "Ledige und Kinderlose" weniger verantwortlich sein sollen. Auch die in jeder Hinsicht unausgegorenen Pläne des Reichskanzlers von Papen und seines Innenministers Freiherr von Gayl (auf sie bezieht sich Schoeps ausdrücklich) sahen im Jahre 1932 Zusatzstimmen rur Familienväter vor - im Prinzip mit derselben Argumentation. Gewiß ist dieser Umstand noch kein triftiger Einwand gegen ein solches Wahlrecht. Es kollidiert nach Meinung des Verfassers mit dem "one man-one vote"-Prinzip.71 Ein solches "Familienwahlrecht" tatstet die Gleichheit des Wahlrechts an. (2) "Unmittelbar" bedeutet: Die Wahlberechtigten wählen ihre Vertreter direkt72 . Das Wahlergebnis soll allein vom Wahlakt der Bürger abhängen. Mit Beginn der Stimmabgabe endet auch der Einfluß der Partei auf die Auswahl der Kandidaten 73. Es verstößt daher gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit, 67

Vgl. Christoph Knödler, Wahlrecht fUr Minderjährige - eine gute Wahl?, in: Zeitschrift fUr Parlamentsfragen 27 (1996), S. 553-571. 68

Vgl. Konrad Löw, Das Selbstverständnis des Grundgesetzes und wirklich allgemeine Wahlen, in: Politische Studien 25 (1974), Heft 213, S. 19-29. 6.

Vgl. u.a. den Beitrag von Joseph Singhammer in diesem Band.

7(J

Hans-Joachim Schoeps, Das Pluralwahlrecht, in: Zeitschrift fUr Religions- und Geistesgeschichte 23 (1971), S. 128 (Hervorhebung im Original). 71

Vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht und Mündigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.Juni 1997. 72

Vgl. u.a. Hans-Justus Rinck, Der Grundsatz der unmittelbaren Wahl im Parteienstaat, in: Juristenzeitung 13 (1958), S. 193-198. 73

Allerdings kann der gewählte Kandidat nachträglich das errungene Mandat ablehnen. Das ist kein Verstoß gegen den Grundsatz der unmittelbaren Wahl.

Eckhard lesse

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wenn die Partei, nachdem die Landesliste erschöpft ist, Ersatzmänner bestimmt oder die Reihenfolge der Liste nach der Wahl ändert74 . Eine mittelbare Wahl liegt vor, wenn der Bürger eine Zwischeninstanz wählt, die ihrerseits die Repräsentanten beruft. Sie wäre verfassungswidrig. "Nur wenn die Wähler das letzte Wort haben, haben sie das entscheidende Wort"75. Eine Bevormundung des Wählers soll auf jeden Fall vermieden werden. "Die Unmittelbarkeit der Wahl dient der politischen Legitimation der Gewählten, die Ableitung ihrer Mandate durch Zustimmungsakte der Regierten ist unmittelbar erkennbar"76. Wie fest verankert das unmittelbare Wahlrecht ist, belegt der Sachverhalt, daß dem Verfasser keine Stellungnahmen nach 1945 bekannt sind, die es prinzipiell in Zweifel ziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder die Vereinbarkeit der starren Liste mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl betont77 Als kritikwürdig gilt, daß beim Nachrücken auf der Liste jene Kandidaten übergangen werden, die inzwischen die Partei gewechselt haben 78. Schließlich verliert auch nicht derjenige Abgeordnete das Mandat, der seine Partei verläßt. (3) Der Wahlrechtsgrundsatz "gleich" besagt nicht nur, daß jedermann über die gleiche Anzahl von Stimmen verfUgt. Er schließt auch ein unterschiedliches Stimmengewicht aus. Es handelt sich um einen "Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes"79. Dieses Wahlrechtsprinzip - "heute der politisch brisanteste Wahlgrundsatz"80 nicht zuletzt deshalb, weil er sich wesentlich auch auf das Verhältnis zwischen Stimmen und Mandaten bezieht - soll den gleichen Einfluß jeden Wählers auf das Ergebnis verbürgen. Seine Durchbrechung bedarf nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts einer besonderen Rechtfertigung 81 . So erfährt die Erfolgswertgleichheit eine gewisse Einschränkung durch Sperrklauseln. Bedeutet "gleich" bei der Verhältniswahl, zumindest nach der "herrschenden Lehre" in der Bundesrepublik, gleicher Zähl- und Erfolgswert, gilt tUr die Mehrheitswahl - dies die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - lediglich die Zählwertgleichheit. Allerdings verwickelt sich das Bundesverfassungsgericht wegen des fließenden Übergangs von Verhältnisund Mehrheitswahl (Zehnprozentklausel; Wahl in Mehrmannwahlkreisen) dabei

74 7S 76

77

78 79

111

81

Vgl. BVerfGE 3,51. BVerfGE 3, 49 f. So UnkelbachIWildenmannIKaltefleiter (Anm. 54), S. 44. Vgl. BVerfGE 47,281. Vgl. Meyer (Anm. 62), S. 276. BVerfGE 1,237. Meyer (Anm. 62), S. 281. Statt vieler Belege z.B. BVerfGE 11,272.

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in heillose Widersprüche 82 . Der Vorschlag - aus venneintlich fortschrittlicher Sicht - von Theo Schiller, demjenigen Bürger eine zweite Stimme zu geben, "der einen bestimmten Grad der Infonniertheit über einige Grundsätze der Verfassung und der Demokratie vorweisen kann", damit "ein Anfang vom Ende der manipulativen Herrschaft"83 gemacht wird, wäre tatsächlich ein Anfang vom Ende der demokratischen Legitimität des Wahlrechts. "Von der Perspektive des demokratischen Menschenbildes her läßt sich schlechterdings keine Begründung tUr die Ungleichheit im Recht der Mitwirkung des einzelnen Bürgers an der Gestaltung der öffentlichen Dinge fmden"84. Daß hinter der Argumentation von Schoeps, das Wahlrecht auch auf Kinder auszuweiten, keineswegs ein "Demokratisierungsprogramm" steckt, wird insbesondere im Zusammenhang mit der Erörterung dieses Wahlrechtsgrundsatzes deutlich. Schoeps engagierte sich nämlich tUr ein Pluralwahlrecht: Zusatzstimmen will er neben alten Leuten und Eltern noch nicht wahlfähiger Kinder auch jenen Personen zuerkennen, die entweder politische Ehrenämter übernommen haben oder im Wirtschaftsprozeß an verantwortlicher Stelle stehen. Eine solche Person wird "mehr politische Urteilsfähigkeit haben [... ] als - sagen wir - eine Waschfrau, die auch trotz Funk und Fernsehen nicht über ihre vier Wände hinaussieht" 85 . Der Autor hat sich des öfteren als Herold des Pluralwahlrechts hervorgetan86 , ohne daß dadurch eine ernsthafte Kontroverse ausgelöst worden wäre. Schoeps argumentiert mit dem "überfragten Wähler, der durch seinen Stimmzettel Entscheidungen über Fragen treffen soll, die häufig so kompliziert sind, daß tUr ihre sachgerechte Beurteilung etwa 90 % der Wähler die Kompetenz abgeht"87.

12

Vgl. beispielsweise den Beitrag von Hans-Jörg Bücking in diesem Band. Siehe ferner Christofer Lenz, Die Wahlrechtsgleichheit und das Bundesverfassungsgericht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1986), S. 237-258; Eckhard Jesse, Alternativklausel und Überhangmandate. Zwei wahlrechtliehe Eigentümlichkeiten in der Diskussion, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1994, Opladen 1998 (LE.). 83

So Theo Schiller, Ein Wahlrecht filr den Ein-Parteistaat?, in: Blätter filr deutsche und internationale Politik 13 (1968), S. 299. u

Waldemar BessonlGotthard Jasper, Das Leitbild der modemen Demokratie, 5. Aufl., München u.a. 1973, S. 26. IS

Schoeps (Anm. 70), S. 127.

116

Vgl. ders., Mehrstimmenwahlrecht und Elitebildung, in: Tradition und Leben 8 (1956), Heft 92, S. 12-15. 17

Vgl. ders. (Anm. 70), S. 126.

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30

Dabei bedient er sich jedoch einer vulgär-demokratischen Argumentation 88 . Schließlich basiert die Repräsentativdemokratie nicht auf der Annahme, jeder Wähler sei zu einer "sachgerechten Beurteilung" der jeweils anstehenden Probleme in der Lage. Auf diese Weise ließe sich - z.B. mittels Meinungsumfragen - das demokratische Gebot der Gleichheit sehr leicht in Frage stellen. Tatsächlich ist für ein Repräsentativsystem der Grundsatz maßgebend, daß die Gewählten nicht an ein wie auch immer zu interpretierendes "imperatives Mandat" (sei es der Parteien, sei es der Bevölkerung) gebunden sind. Der Einwand, die Mehrheit der Bevölkerung könne doch gar nicht die Vielschichtigkeit der zur Entscheidung anstehenden Probleme treffen, wäre nur in einem ausschließlich plebiszitär ausgerichteten Staatswesen schlüssig. (4) "Geheim" ist eine Wahl, bei der niemand erfahrt, für wen der Wähler votiert hat. Dieser muß die Gewißheit haben, seine Stimme unbeobachtet und frei von möglichen Sanktionen abgeben zu können 89 . Die geheime Wahl "ist nicht nur ein Recht des Wählers, sondern auch ein objektives Prinzip der Wahl und insofern eine Pflicht des Wählers. Sie verlangt, daß die Stimm abgabe des Wählers weder bei der Wahlhandlung erkennbar noch auch später eindeutig rekonstruierbar und also individuell zurechenbar ist90 . Davon unberührt bleibt das Engagement des Wählers für eine Partei, z.B. in Wählerinitiativen. Der Grundsatz der geheimen Wahl bezieht sich auch auf die Wahlvorbereitungen. Dabei erfährt er jedoch eine gewisse Einschränkung: Wahlvorschläge für eine Partei, die im Bundestag oder einem Landtag nicht mindestens flinf Abgeordnete stellt, erfordern eine gewisse Anzahl von Unterschriften91, um die Ernsthaftigkeit der Kandidatur zu gewährleisten92 . Gemeinhin gilt diese Prozedur nicht als ein Verstoß gegen das Prinzip der geheimen Wahl. Bei der Briefwahl ist seine Einhaltung unüberprütbar. Es besteht offenkundig ein Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien der allgemeinen und der geheimen Wahl. Im Bestreben, möglichst vielen Bürgern die Beteiligung an der Wahl zu ermöglichen, kann der Grundsatz der geheimen Wahl gefährdet sein. Die geheime Wahl wird von unterschiedlichen Positionen her in Zweifel gezogen bzw. so interpretiert, daß von ihrem Wesenskern nicht viel übrig bleibt. Zu nennen sind u.a. Jean-Jacques Rousseau, earl Schmitt und Marxisten-

..

Sie findet sich auch bei Winfried Martini. Vgl. ders., Das Ende aller Sicherheit, Stuttgart 1954; ders., Freiheit auf Abruf, Köln u.a. 1960. 19

Die in der Welt einzigartige repräsentative Wahlstatitik, die die Wahlbeteiligung und die Stimmabgabe nach dem Alter und dem Geschlecht exakt ermittelt, gefllhrdet nicht das Wahlgeheimnis. Ansonsten wäre sie unzulässig. 90

91 92

Meyer (Anm. 61), S. 277. Vgl. BWahlG § 20 und § 27. Begründet u.a. durch BVerfDE 3, 32 und 12, 137.

Maßstäbe zur Bestimmung demokratischer Wahlen

31

Leninisten. Dabei lassen sich die (keineswegs zufälligen) Übereinstimmungen u.a. auch auf die Identitätstheorie der Demokratie zurückführen. Rousseau rühmt die (alten) Römer, bei denen jedennann "seine Stimme laut" abgegeben habe. "Diese Sitte war gut, solange noch Redlichkeit unter den Staatsbürgern herrschte und jeder sich schämte, öffentlich für eine ungerechte Sache oder einen ungerechten Menschen zu stimmen; als das Volk jedoch verdorben war und man die Stimmen kaufte, zog man geheime Abstimmungen vor, um die Käufer in Mißtrauen zu halten und den Betrügern zu ennöglichen, nicht als Verräter zu erscheinen"93. Von der Demokratievorstellung Rousseaus ist sein Plädoyer für die "Öffentlichkeit" nur zu verständlich. Er geht davon aus, jedennann werde sich für "das Gute" einsetzen, zieht aber Interessenvielfalt und bestehende Abhängigkeiten überhaupt nicht in Erwägung. Tatsächlich lassen sich die meisten Abstimmungen nicht nach "gut" oder "schlecht", "wahr" oder "unwahr" kategorisieren. Rousseau kann die Offenheit des Wahlprozesses nur deshalb fordern, weil er von der Vorstellung eines vorgegebenen Gemeinwohls beseelt ist, dem jedermann Rechnung zu tragen habe und eine Interessenhomogenität als verwirklicht ansieht, so daß die Ausübung von Druck auf den Abstimmenden entfällt. In der Tat: Wenn gewußt wird, was gerecht und was ungerecht ist, läßt sich eine geheime Wahl nicht rechtfertigen und muß als Zeichen der "Verderbtheit" gelten, weil sie "Mißtrauen" und "Verrat" begünstigt. Ist der "Gemeinwille" ohnehin schon bekannt und erkannt, erscheint freilich eine (offene) Abstimmung gänzlich unnötig. Auch diese Ausführungen Rousseaus belegen, daß die Funktion der Wahl nicht so sehr darin liegt, den unverfälschten Willen der Bürger zu erfahren, als vielmehr darin, möglichst viel Zustimmung für eine "gerechte Sache" oder einen "gerechten Menschen" zu erzielen. Denn es wird explizit hervorgehoben, daß die Offenheit des Wahlaktes die Stimm abgabe der Bürger beeinflußt. Gerade dieser Umstand ist aber ein Kemargument für das geheime Wahlrecht. Rousseau will also nicht die Entscheidungsfreiheit des Bürgers fördern, sondern die "gerechte Sache". Unter Berufung auch auf Rousseau hat earl Schmitt mit entwaffnender Offenheit das Prinzip der geheimen Wahl verworfen, da die aus dem Liberalismus her stammende Vorstellung, das Volk könne seinen Willen nur "in tiefstem Geheimnis und völliger Isoliertheit" zum Ausdruck bringen, irrig sei: "Ganz elementare Wahrheiten sind dadurch in Vergessenheit geraten und der heutigen Staatslehre anscheinend unbekannt. Volk ist ein Begriff des öffentlichen Rechts. Volk existiert nur in der Sphäre der Publizität. Die einstimmige Meinung von 100 Millionen Privatleuten ist weder Wille des Volkes, noch öffentliche Mei93

Rousseau (Anm. 28), S. 135 f. (4. Buch, 4. Kapitel).

Eckhard

32

Jesse

nung. Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebenso gut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen. Vor einer, nicht nur im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und zäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Substanz und Kraft sein können."94 Dieses Zitat aus den zwanziger Jahren enthüllt höchst aufschlußreiche Denkfiguren von earl Schmitt. Demokratie und Diktatur bilden für ihn, wie aus dem Zitat hervorgeht, keine Gegensätze. Wer ernsthaft der Meinung ist, der Wille des Volkes komme durch "unwidersprochenes Dasein" besser zum Ausdruck als durch die geheime Wahl, kann als Gegner des demokratischen Verfassungsstaates eingestuft werden. Schmitts Kritik an der geheimen Wahl beruhte auf einem dezidierten Antiliberalismus, einer antidemokratischen Elitenvorstellung und einer plebiszitären Überhöhung des autoritären Staatsgedankens auf Kosten des Individuums. Von einer ideologisch ganz anderen Warte her kommt der MarxismusLeninismus zu einer Ablehnung oder doch zumindest zu einer Relativierung der geheimen Wahl. Wohl hat in den Verfassungen der kommunistischen Staaten der Wahlrechtsgrundsatz "geheim" Aufnahme gefunden, und bei der Wahl waren auch Wahlkabinen aufgestellt; doch suchte sie kaum jemand auf, weil ihre Benutzung unerwünscht war. "Die Tatsache, daß ein erheblicher Teil der Bürger auf Grund ihres Vertrauens und ihrer Zustimmung zu den Kandidaten der Nationalen Front keine Wahlkabinen benutzt, verstößt in keiner Weise gegen die Geheimheit der Wahl"95. Diese Rechtfertigung ist nicht überzeugend. Wenn Vertrauen und Zustimmung zu den Kandidaten eine offene Stimm abgabe rechtfertigen, bleibt nur die Schlußfolgerung, daß die Wähler, die die Wahlkabine benutzen, den Kandidaten kein Vertrauen und keine Zustimmung entgegenbringen. Um sich einem solchen Verdacht nicht auszusetzen und möglichen Repressalien zu entgehen, stimmten die Bürger in ihrer überwiegenden Mehrheit offen ab 96 . Die geheime Wahl hat insbesondere dort ihren hohen Wert, wo die offizielle Norm "abweichendes Verhalten" am wenigsten toleriert. Insofern 94

95

258 f. 96

Schmitt (Anm. 33), S. 22 f. (Hervorhebungen im Orginal). Herbert Graf/GUnther Seiler, Wahl und Wahlrecht im Klassenkampf, Berlin (Ost) 1971, S. Wahlflllschungen waren daher kaum nötig.

Maßstäbe zur Bestimmung demokratischer Wahlen

33

wurde von der westlichen Publizistik mit Recht der Parteitag in Polen vom Juni 1981 hervorgehoben: Zum ersten Mal in der Geschichte eines kommunistischen Landes war der Parteivorsitzende in geheimer Wahl gewählt worden. Zudem gab es einen Gegenkandidaten. Gewöhnlich kam der geheimen Wahl in den kommunistischen Staaten ohnehin nur begrenzte Bedeutung zu, weil der Wähler bei der Stimmabgabe keine andere Partei wählen konnte 97 . Dieser Gesichtspunkt kontrastiert zum hohen Aufmerksamkeitsgrad abweichenden Verhaltens in jenen Ländern. Bisher wurde noch nicht das Prinzip "frei" genannt. Es ist nur in den Verfassungen weniger Länder verankert. Ins Grundgesetz fand es wohl deshalb Aufnahme, um den Mißbrauch zu verdeutlichen, den die Machthaber mit Wahlen im nationalsozialistischen Reich und in der (damaligen) SBZ nach 1945 trieben98 . "Frei" gehört nicht zu den klassischen Wahlrechtsgrundsätzen: "Grundsätze tUr die technische Ausgestaltung im einzelnen lassen sich aus diesem Grundsatz nicht herleiten"99 - die anderen Wahlrechtsprinzipien sind hierfUr schon ausreichend. Könnte man den Terminus ,;frei" seiner Ideologieträchtigkeit entkleiden, ließen sich diejenigen Wahlen als "frei" bezeichnen, die keine Wahlpflicht kennen lOO . In diesem Sinne hätte "frei" dann auch eine technische Bedeutung. Die Verwendung des Begriffs "frei" als Wahlrechtsgrundsatz stiftet Verwirrung. Versteht man unter "frei" die "Freiheit der Auswahl" und die "Freiheit im Angebot", so wird verkannt, daß diese Bedingungen den demokratischen Wahlbegriff ohnehin konstituieren. "Frei" wäre dann ein Pleonasmus, ein "Epitheton ornans" 10 1. Reduziert man die Interpretation des Begriffs "frei" auf die Stimmabgabe ohne Zwang und Druck, fällt seine Bedeutung letztlich mit "geheim" zusammen. Im übrigen war mit der EinfUhrung des Wahlrechtsgrundsatzes

97

chen.

Immerhin wäre es bei einer geheimen Wahl möglich gewesen, seine Stimme ungültig zu ma-

91

In der Weimarer Reichsverfassung war bereits von der Garantie der "Wahlfreiheit" die Rede (Art. 125). Art. 22 sprach hingegen nur von der allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahl. 99

Gerhard LeibholzlHans-Justus Rinck, Grundgesetz-Kommentar an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 5. Aufl., Köln 1975, S. 646 f.; in diesem Sinne auch Nohlen (Anm. 44), S. 46. 100

Freilich müßte dann die Einschränkung gemacht werden, daß dieser Grundsatz nicht notwendigerweise zu einer demokratischen Wahl gehört. Denn ein Staat, der die Wahlpflicht praktiziert, ist deswegen keineswegs undemokratisch. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik hatte sich die DP rur eine Wahlpflicht stark gemacht. Angesichts des Sinkens der Wahlbeteiligungsquote sehen manche in der Wahlpflicht eine Möglichkeit, der Parteiverdrossenheit entgegenzuwirken. 101

Leng (Anm. 45), S. 19.

3 Jesse I Löw

Eckhard Jesse

34

"frei" insofern wenig gewonnen, als die DDR - und nicht nur sie - in ihre Verfassung eigens dieses Prinzip aufgenommen hatte. Ob man sich für eine weite oder enge Auslegung entschließt: Der Wahlrechtsgrundsatz "frei" ist in jedem Falle überflüssig 102 . Es mag überraschen, daß dieser so entschieden verworfen wird, obwohl der Verfasser in einem anderen Zusammenhang das Prinzip "Freiheit der Wahl" als Hauptcharakteristikum einer demokratischen Wahl hervorhebt. Ein höchst unklar interpretierbarer und auch entsprechend unterschiedlich interpretierter Grundsatz "frei" verwässert und entwertet die "Freiheit der Wahl". Die in Art. 38 GG verankerten Wahlrechtsgrundsätze sind wohl für eine demokratische Wahl notwendig, jedoch nicht hinreichend. Wer meint - "in diesem lapidaren Satz [der Autor bezieht sich auf die Verfassungsbestimmung über die Wahlrechtsgrundsätze] steckt - heute abgeschlossen und gesichert - die ganze Geschichte der Volkssouveränität und des Wahlrechts" 103, leistet einer verkürzten Sichtweise Vorschub. Der demokratische Wahlbegriff muß, wie gezeigt, weiter gefaßt werden. 6. Zusammenfassung

Was William J.M. Mackenzie vor vier Jahrzehnten geschrieben hat, gilt nach wie vor: "Tbe only consistent answer offered by the West to the problem of legitimate power is that government must be based on free elections."104 Der vorstehende Überblick hat den weitgehenden Konsens über den demokratischen Wahlbegriff verdeutlicht. Das Prinzip der demokratischen Legitimität gehört zu diesem ebenso wie die Orientierung an der Konkurrenztheorie der Demokratie. Jede demokratische Wahl, die diesen Terminus verdient, hat sowohl der "Freiheit der Wahl" (Freiheit der Auswahl, Freiheit im Angebot, Freiheit zur möglichen Revision Wählervotums) als auch den Wahlrechtsgrundsätzen (allgemein, unmittelbar, gleich, geheim) Rechnung zu tragen. Gleichwohl gibt es Dissens in Einzelfragen, wie etwa am Beispiel des Grundsatzes der allgemeinen Wahl gezeigt.

102

Vgl. ebd., S. 16-19; siehe ferner VogellNohlenlSchultze (Anm. 40), S. 25 f.

10)

So Joachim Raschke, Wahlen und Wahlrecht, Berlin 1965, S. 21. Diese Auffassung ist tatsächlich Ausfluß eines "formalen Demokratieverstllndnisses", gegen das Raschke spllter zu Felde gezogen ist. Vgl. ders., Mehrheitswahl - Mittel gegen Demokratisierung oder Formierung der Gesellschaft?, in: Winftied Steffani (Hrsg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, Opladen 1971, S. 210. 104

So William J.M. Mackenzie, Free Elections, London 1958, S. 11.

Maßstäbe zur Bestimmung demokratischer Wahlen

35

Dieser Konsens fehlt jedoch bei der Frage, welches Wahlverfahren am ehesten demokratischen Prinzipien entspricht. I05 Die Meinungen gehen zwischen den Anhängern der Mehrheits- und denen der Verhältniswahl, um nur diesen Unterschied in den Blick zu nehmen, weit auseinander, auch wenn sie demokratische Wahlprinzipien nicht in Frage stellen. Aber das ist ein anderes Thema, das gegenwärtig längst nicht mehr so die Gemüter erhitzt, wie dies etwa vor drei Jahrzehnten anläßlich der großen Wahlsystemkontroverse zur Zeit der Großen Koalition der Fall gewesen ist. Mag sein, daß die mögliche Bildung einer Großen Koalition nach den Bundestagswahlen 1998 erneut eine Wahlsystemdiskussion nach sich zieht. Eine grundsätzliche Erörterung der demokratischen Wahlprinzipien wäre damit nicht verbunden. Sie stehen keineswegs zur Disposition.

lOS

Vgl. u.a. den vom Verfasser aufgestellten Kritcrienkatalog: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der WahlrechtsInderungen in Deutschland 1949-1983, DUsseldorf 1985. 3"

Werner Kaltefleiter DIE WIRKUNGSWEISE VON WAHLSYSTEMEN 1. Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Wahlrechtsdiskussion

Der Streit um das richtige Wahlsystem ist inzwischen etwa 100 Jahre alt. l Es waren im wesentlichen Gründe der verwaltungstechnischen Einfachheit, aus denen heraus sich das Mehrheitswahlrecht entwickelt hat, d. h. in einem bestimmten Gebiet, Wahlkreis, wurde ein Repräsentant gewählt,2 wobei es den Unterschied zwischen Großbritannien und dem Kontinent gab: Im ersten Fall reichte die relative Mehrheit aus, im zweiten Fall wurde eine absolute Mehrheit verlangt, was dazu führte, daß in der Regel ein zweiter Wahlgang notwendig war. Es war aber nicht nur die verwaltungstechnische Einfachheit, die zu diesem Wahlsystem geführt hatte. Vielmehr war es auch in der Parallelität der Konfliktlinien begründet, die die Entstehung der politischen Parteien in Europa im 19. Jahrhundert geprägt haben: •

der Verfassungskonflikt, d. h. die Forderung nach konstitutioneller Regierungsweise, die der nach einem Fortbestand durch Verfassungsregeln nicht eingeschränkten Monarchie gegenüberstand,



die Forderung nach Trennung zwischen Staat und Kirche gegenüber der tradierten Einheit von Thron und Altar und schließlich



die ökonomische Frage: Freihandel oder Schutzzoll?

Bei allen drei cleavages standen sich Liberale und Konservative gegenüber, so daß schon die Konfliktstruktur ein dichotomisches Parteiensystem prägte, das dann durch die Mehrheitswahl verfestigt wurde. 3

DolfStemberger, VOIWOrt, in: DolfStemberger und Bemhard Vogel (Hrsg.), Die Wahl der Parlamente, Bd. I: Europa, Erster Halbband, Berlin 1969, S. 111 ff. 2

Franz Nuscheler, Großbritannien, in: Die Wahl der Parlamente, a.a.O., S. 605 f.

Seymour Martin Lipset, Stein Rokkan (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments: CrossNational Perspectives, New YorklLondon 1967.

38

Werner Kaltefleiter

Diese dichotom ische Konfliktstruktur wurde in Deutschland und in den N iederlanden sehr früh durch einen Konfessionskonflikt durchbrochen. Beide Länder sind die einzigen in Europa, die durch eine bikonfessionelle Struktur gekennzeichnet sind. Daraus ergab sich das besondere Problem der politischen Repräsentanz der katholischen Minderheit, was in Deutschland zur Entstehung des Zentrums filhrte. Noch wesentlicher filr das Aufbrechen der dichotom ischen Struktur war jedoch der Industriekonflikt, der zum Entstehen einer völlig neuen sozialen Schicht der Industriearbeiter filhrte, die dann ihre politische Repräsentation in- den sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien im letzten Dritteldes 19. Jahrhunderts fanden. 4 Während auf diese Auftacherung der bipolaren Konfliktstruktur in Großbritannien trotz erheblicher Diskussionen um das Mehrheitswahlrecht nicht reagiert wurde, was dann schließlich zu der Ablösung der Liberalen durch Labour in dem zweipoligen britischen Parteiensystem filhrte,5 gingen fast alle kontinentaleuropäischen Staaten den Weg des Übergangs zu einem Verhältniswahlrecht, um die differenziertere Konfliktstruktur im Parlament vertreten zu sehen. Dieser Prozeß vollzog sich in der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis nach dem Ersten Weltkrieg. 6 Der Streit um das Wahlrecht hat jedoch schon sehr früh eine grundsätzliche oder auch ideologische Komponente erhalten.7 Sehr bald standen sich zwei Schulen gegenüber: Die funktionale Schule, filr die die Regierungsflihigkeit eines Landes sowie die Chance eines Machtwechsels die höhere Priorität hatte, verlangte dementsprechend ein Mehrheitswahlrecht. Dies ist darin begründet, daß ein solches Wahlrecht - und das ist unstrittig - die Wahrscheinlichkeit regierungsflihiger Mehrheiten, in der Regel ein alternierendes Parteiensystem wie in Großbritannien, sehr stark begünstigt.8 Die andere Schule ging vom Prinzip der Gerechtigkeit aus und betonte, daß nur das Verhältniswahlrecht eine gerechte und d. h. proportionale Vertretung der verschiedenen politischen Gruppen in

Sigmund Neumann, Germany: Changing Patterns and Lasting Problems, in: Ders., Modem Political Parties, Chicagol Londonl Toronto 1956, S. 354 ff. Robert T. McKenzie, British Political Parties. Tbe Distribution of Power within the Conservative and Labour Parties, Melboumel Londonl Toronto 1955. Ferdinand A. Hermens, Demokratie oder Anarchie. Eine Untersuchung über die Verhältniswahl, 2. Aufl., KOlnlOpladen 1968, S. 120 ff. Diese ideologische Komponente ist stark von dem jeweiligen Demokratiebegriff geprägt. Vgl. Ferdinand A. Hermens, Verfassungslehre, Frankfurt! Bonn 1964, S. 27 ff. Am Beispiel der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland siehe dazu RudolfWildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik, Frankfurt! Bonn 1963, S. 48 ff.

Die Wirkungsweise von Wahlsystemen

39

den jeweiligen Parlamenten sicherstelle. 9 Bei dieser Argumentation gab es von Anfang an eine gewisse ideologische Inkonsistenz: Gerechtigkeit ist eine moralisch/ethische Kategorie, Proportionalität eine mathematische. In der Steuerpolitik wird die Progression als gerecht empfunden, und deshalb ist es schwer logisch ableitbar, warum in der Wahlrechtsdiskussion Proportionalität gerecht sein soll.l 0 Unabhängig von dieser logischen Inkonsistenz wurde die Diskussion fast ein Jahrhundert lang von den verschiedenen Grundsatzpositionen bestritten. Dabei wurde übersehen, daß jedes Wahlrecht aus der Kombination verschiedener Variablen besteht. II Das so einfache relative Mehrheitswahlrecht besteht z. B. aus den beiden Komponenten des Einerwahlkreises und der relativen Mehrheit. Mit der Weiterentwicklung der empirischen Sozialforschung, insbesondere mit der Anwendung von Simulationstechniken l2 , wurde dieser Tatbestand, daß letztlich jedes Wahlsystem ein kombiniertes ist, d. h. aus der Kombination verschiedener Elemente besteht, deutlich. 13 Daraus ergibt sich, daß der Gegensatz zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, der lange Zeit wie der Gegensatz zwischen Feuer und Wasser erschien, nicht mehr haltbar ist. Wenn man die verschiedenen Variablen, die ein Wahlrecht kennzeichnen, unterschiedlich kombiniert, ergibt sich fast ein Kontinuum, bei dem die relative Mehrheitswahl in britischer Form den einen Endpunkt und ein durch keinerlei Sperrklauseln gefiltertes Verhältniswahlsystem, wie z. B. das automatische System in der Weimarer Republik, das andere Extrem darstellt. Vgl. dazu die prägnante Gegenüberstellung durch earl J. Friedrich, Einftlhrung zu Ferdinand A. Herrnens (Anm. 6), Seite XIII ff. 10

Für die Herausbildung eines konkreten Wahlrechts sind darüber hinaus natürlich vielfllltige Variablen von Bedeutung, wobei innenpolitische Zweckmaßigkeiten häufig gegenüber grundsätzlichen Überlegungen in den Vordergrund treten. Für die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland siehe z.B. Erhard H.M. Lange, Wahlrecht und Innenpolitik. Entstehungsgeschichte und Analyse der Wahlgesetzgebung und Wahlrechtsdiskussion im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945-1956, Meisenheim 1975. 11

Darauf hat sehr fi1Ih Peter Felix Müller, Das Wahlsystem. Neue Wege der Grundlegung und Gestaltung, Zürich 1959 hingewiesen. Vgl. auch Rein Taagepera/ Matthew Soberg Shugart, Seats and Votes. Tbe Effects and Determinants ofElectoral Systems, New Havenl London 1989, S. 19 ( 12

So ersbnals Rudolf Wildenmannl Wemer Kalteßeiterl Uwe Schleth, Auswirkungen von Wahlsystemen auf das Parteien- und Regierungssystem der Bundesrcpublik, in: Erwin K. ScheuchlRudolf Wildenmann (Hrsg.), Zur Soziologie der Wahl, Sonderheft 9, 1965 der Kölner Zeitschrift ftlr Soziologie und Sozialpsychologie, S. 74 ff. Sowie Wemer Kalteßeiter, Vor einer neuen Wahlrcchtsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland? Erfahrungen mit der Anwendung von Simulationstechniken zur Analyse von Wahlverfahren, in: Jahrbuch ftIr Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Band 6, 1972, Teil 2, Köln u.a. 1972, S. 121-131. 13

Ferdinand A. Herrnens hat in seinem Buch Demokratie oder Anarchie, dessen erste englische Außage schon 1941 erschien, bereits dreihundert verschiedene Systeme gezahlt. Vgl. ders. (Anm. 6),

S.8.

Werner Kaltefleiter

40

Daß diese dichotomische Vorstellung nicht korrekt ist, kann man an einem einfachen Beispiel erläutern: Wenn man in einem Einerwahlkreis nach Verhältniswahl wählt, sind die Wirkungen identisch mit denen der relativen Mehrheitswahl. Die Beschäftigung mit den Wahlsystemen ist darüber hinaus rur die Politische Wissenschaft von grundsätzlicher wissenschaftstheoretischer Bedeutung. 14 Die abhängige Variable ist politisches Verhalten, und zwar in erster Linie von Wählern, aber auch von Parteien. Es gibt keinen Bereich der Politik, in dem dieses Verhalten in solcher massenhaften Form quantifiziert vorliegt wie beim Wählen. Darüber hinaus ist die Frage der Theoriebildung gestellt. 15 Wenn man akzeptiert, daß es in den Sozialwissenschaften keine allgemeinen Theorien gibt, stellt sich die Frage nach den auf Teilbereiche begrenzten theoretischen Aussagen, also Quasi-Theorien, wie es Hans Albert genannt hat. Die einzig sinnvolle Form zur Entwicklung solcher Quasi-Theorien ist die strukturelle Relativierung, also die Formulierung von Bedingungen, unter denen die Aussagen über das politische Verhalten gelten.1 6 Die wichtigste Bedingung, die im Bereich der Politischen Wissenschaft genannt werden kann, sind die Institutionen, die die Prozesse der politischen Willensbildung, Machtbildung, Machtausübung und -kontrolle tatsächlich und wirksam steuern. Das Wahlrecht ist sicher nicht die einzige, aber ohne Zweifel die wichtigste Institution, die das Wahlverhalten steuert. Ein Parteiensystem (PS) ist das Ergebnis der Umsetzung einer sozialen Konfliktstruktur (sK) durch die Institution Wahlrecht. Vereinfacht formuliert kann man also feststellen: PS = f(sK). Dabei ist die Funktion (f) selbst wiederum eine Variablenkombination, die das jeweilige Wahlrecht kennzeichnet.

14

Vgl. Werner Kaltefleiter, Politische Fonn, in: RudolfWildenmann (Hrsg.), Fonn und Erfahrung. Ein Leben fiIr die Demokratie, Berlin 1976, S. 173 ff. 15

Ein ähnliches Problem stellt sich in den Wirtschaftswissenschaften, vgl. dazu Werner Kaltefleiter, Politische Wissenschaft und Wirtschaftspolitik, in: Hartmut Jäckel (Hrsg.), Die neue Bundesrepublik. Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft fiIr Politikwissenschaft (DGtp) Band 11, Baden-Baden 1994, S. 53-56. 16

Siehe dazu Hans Albert, Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften, in: Schweizerische Zeitschrift fiIr Volkswirtschaft und Statistik, Bd. 93, 1957, wieder abgedruckt in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1972, S. 126-143. Albert präzisiert damit die allgemeinen Prinzipien des Kritischen Rationalismus, wie sie von Sir Karl R. Popper, Tbe Logic of Scientific Discovery, London 1959, fonnuliert worden sind.

Die Wirkungsweise von Wahlsystemen

41

2. Das Wahlrecht als eine Kombination von unabhängigen Variablen

Eine der wichtigsten Variablen ist z. B. die Zahl der pro Zähleinheit (Wahlkreise) vergebenen Mandate)7 Auch bei dem Verrechnungsmechanismus Verhältniswahl ergibt sich, daß je geringer die Zahl der Mandate pro Wahlkreis ist, desto größer ist die mehrheitsbildende Wirkung oder auch die Sperrwirkung eines Wahlsystems. Dementsprechend sind z. B. in der Wahlrechtsdiskussion der Großen Koalition 1966 bis 1969, die sich entsprechend der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger die Zielsetzung vorgegeben hatte, ein "mehrheitsbildendes" Wahlrecht einzufilhren 18, von der entsprechenden Sachverständigenkommission der SPD ein Dreierwahlkreissystem, von der der CDU ein Viererwahlkreissystem vorgeschlagen worden. 19 Die Wirkung eines solchen kombinierten Systems hängt natürlich von der Konfliktstruktur ab. Unter den Bedingungen der damaligen Bundesrepublik Deutschland hätte der Dreierwahlkreis einer Sperrklausel von ca. 20 %, der Viererwahlkreis von 17 % entsprochen. Das bedeutet, daß der damaligen Herausforderung des deutschen Parteiensystems durch die NPD durch beide Systeme erfolgreich entgegengewirkt worden wäre. Eine andere Variable, die von erheblicher Bedeutung ist, ist bei dem d'Hondt'schen System der erste Divisor und der Abstand zwischen den Divisoren: Je größer der erste Divisor und je größer die Abstände zwischen den Divisoren sind, desto höher ist die Sperrwirkung des Wahlsystems. Die Sperrwirkung bietet sich rur die Operationalisierung der Wirkungen eines Wahlrechts geradezu an. 20 Von allen Wirkungen eines Wahlrechtes ist sie am leichtesten zu quantifizieren. Hinzu kommt, daß sie auch als Indikator rur die Wirkungsweise der wesentlichen Elemente eines Wahlrechtes, nämlich Mehrheitsbildung und Chance des Machtwechsels besonders geeignet ist. Sie spiegelt zunächst die mehrheitsbildende Komponente wider. Dies ist nicht so sehr darin begründet, daß bei einer Sperrklausel der Anteil der Parteien, die

17

Vgl. Taageperal Soberg Shugart (Anm. 11), S. 112 f.

18

Vgl. Paul Lücke, Ist Bonn doch Weimar?, Frankfurt aM. 1968, S. 51 ff, sowie Ferdinand A. Hermens, Verfassungspolitischer Neubeginn?, in: Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1967, Teil 1, Köln! Opladen 1967, S. 1-22. 19

Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts, Bericht des vom Bundesminister des Inneren eingesetzten Beirates fIlr Fragen der Wahlrechtsreform, Bonn 1968. Für die Einzelheiten siehe auch Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der WahlrechtslInderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1983, Düsseldorf 1985, S. 169 ff. 20

Vgl. Rein Taagepera, Empirical Threshold ofRepresentation, in: Electoral Studies Vol. 8, 1989,

S. 105 f.

Wemer Kaltefleiter

42

diese Grenze nicht erreichen, nicht fUr die Mandatsverteilung wirksam ist. 21 Wesentlicher ist, daß solche Sperrwirkungen Lernprozesse bei Wählern wie Parteien auslösen. Die Wähler, die die Wirkung dieser Sperrgrenze gelernt haben, werden vor die Alternative gestellt, ihre Stimme entweder einer größeren Partei ihrer zweiten Präferenz zu geben oder zu riskieren, daß ihre Stimme nicht die beabsichtigte politische Wirkung erzielt: wenn sie ihre Stimme einer kleinen Partei ihrer ersten Präferenz geben, kann das dazufUhren, daß ihre Stimme nicht nur de facto verloren ist, sondern auch noch dazu beiträgt, daß eine der Großparteien, möglicherweise die von ihnen am wenigsten präferierte, eine absolute Mehrheit der Mandate gewinnen kann. 22 Diese Wirkung fUhrt tendenziell zu einer Konzentration des Parteiensystems. Abbildung I Sperrwirkungen unterschiedlicher Wahlsysteme Spenwlrkung hoch

1

3

3 niedrig

2 1

n

Mandate pro Wahlkreis

1: relative Mehrheitswahl 2: klassischer Proporz 3: alternative kombbderte Systeme

21

Das bedeutet z.B. bei der Fünfprozentklausel des deutschen Wahlrechts, daß regelmaßig zwischen vier und sechs Prozent der Stimmen rur Parteien abgegeben werden, die die Fünfprozentgrenze nicht erreichen. Die Folge ist, daß in solchen Fllllen eine Partei mit 47 oder 48% die Mehrheit der Mandate gewinnen kann. 22

Das deutsche Wahlrecht mit der Möglichkeit zwischen der Erst- und Zweitstimme zu unterscheiden, hebt diesen Effekt teilweise auf.

Die Wirkungsweise von Wahlsystemen

43

Dieser Prozeß wird durch das Verhalten der Parteien verstärkt. Auch die Parteien durchlaufen entsprechende Lernprozesse. Die Großparteien bemühen sich, die Wählerschaften der mit ihnen konkurrierenden Kleinparteien anzusprechen - programmatisch wie in der Auswahl ihres politischen Personals. Es ist offensichtlich, daß dieser doppelte Integrationseffekt bei Wählern wie bei Parteien umso nachhaltigere Wirkungen zeigt je höher die Sperrwirkung ist. Die Sperrwirkung hat in der Regel auch Rückwirkungen auf die Chance des Machtwechsels, wenn in einem Land nicht eine stark asymmetrische Konfliktstruktur besteht, fUhrt der doppelte Konzentrationsprozeß zu einem symmetrischen Parteien system, bei dem geringe Wählerbewegungen zwischen zwei Wahlen ausreichen, um den Regierungswechsel zu bewirken23 . Besteht dagegen eine stark asymmetrische Konfliktstruktur, ist das Wahlrecht von geringer Bedeutung fUr die Chance des Machtwechsels: An die Stelle einer dominierenden Mehrheitspartei bei einem mehrheitsbildenden Wahlrecht treten einseitige Koalitionsoptionen bei einem Wahlrecht mit geringen mehrheitsbildenden Faktoren. 24 3. Wahlrecht und Konfliktstrukturen

Wie die einfache Formel PS = f(sK) schon verdeutlicht, kann man die Wirkungsweise von Wahlsystemen nicht abstrakt, sondern nur im Hinblick auf die Konfliktstruktur eines Landes erörtern. Wenn man versucht, die Konfliktstruktur zu operationalisieren, sind zwangsläufig Vereinfachungen unvermeidbar. Es bietet sich an, die Dichotomisierung zwischen einer hohen und einer niedrigen Konfliktstruktur mit den entsprechenden Grauzonen vorzunehmen. Dabei ist jedoch eine Einschränkung zu formulieren: Es gibt einen fundamentalen Unterschied auch zwischen einer hohen und einer antagonistischen Konfliktstruktur. Eine erste einfache Definition von Demokratie lautet, daß sie das Regieren durch Mehrheiten ermöglicht. Diese Mehrheiten werden in periodisch abgehaltenen Wahlen zum Ausdruck gebracht, wobei die Periodizität der Wahlen die regelmäßige Chance der Opposition auf Regierungsübernahme eröffnet. In diesem Sinne ist Demokratie stets Regierungsauftrag auf Zeit. Es ist offensichtlich, daß in einer pluralistischen Großgesellschaft Mehrheitsbildung nur durch Kompromisse zustande kommen kann. Diese können entweder durch eine Partei 23

Dies ist der wesentliche Inhalt der sogenannten Kubusregel, nach der das Verhältnis der Stimmen der beiden A1temierungsparteien zueinander in der dritten Potenz in etwa dem Verhältnis ihrer Mandatsanteile zueinander entspricht. 2.

Dies war z.B. in Deutschland zwischen 1949 und Anfang der sechziger Jahre der Fall, als aus politisch programmatischen Gründen FDP und SPD Uber keine gemeinsame Koalitionsoption verftlgten. Seit Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag gilt dies in ähnlicher Form.

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Wemer Kaltefleiter

in Fonn von innerparteilicher Kompromißbildung vor den Wahlen oder durch eine Koalition von mehreren Parteien nach den Wahlen erfolgen. Daraus ergibt sich die zentrale Funktion politischer Parteien, die der Interessenaggregation. Während Wahlsysteme, die in ihrer Wirkungsweise dem klassischen Mehrheitswahlrecht nahekommen, die Interessenaggregation innerhalb einer Partei positiv sanktionieren, fördern Verhältniswahlsysteme Vielparteiensysteme, bei denen die Interessenaggregation durch Koalitionsbildungen nach der Wahl erfolgt. Antagonistische Konflikte sind dagegen dadurch gekennzeichnet, daß sie prinzipiell nicht kompromißfähig sind. Nordirland sowie der Libanon sind Beispiele tUr eine solche antagonistische Konfliktstruktur aus jüngster Zeit. Es gibt kein Wahlrecht, das in der Lage ist, bei einer derartigen Konfliktstruktur die demokratienotwendige Kompromißbildung anzuregen. Innerhalb dieser Eingrenzung führt das relative Mehrheitswahlrecht unabhängig von der Intensität der sozialen Konflikte in der Regel zu einem alternierenden Parteiensystem. Bei einer sehr hohen Konfliktstruktur sind auch bei diesem System bestimmte Ausfransungen möglich. Ein alternierendes Parteiensystem ist dabei definiert als ein Parteiensystem, in dem nonnalerweise eine Partei die Mehrheit der Mandate gewinnt und eine andere Partei eine reale Chance hat, bei den nächsten Wahlen einen Machtwechsel herbeizuführen. Dies ist nicht identisch mit einem Zweiparteiensystem. Insbesondere wenn es regionale Hochburgen von Minoritäten gibt, können diese auch bei einem Mehrheitswahlsystem in den Parlamenten vertreten sein. Entscheidend ist, daß sie nicht stark genug sind, um das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, also die Regierungsfähigkeit der einen Partei und die Chance des Machtwechsels für die andere Partei, zu stören. Die Wirkung von kombinierten Wahlsystemen, bei denen die Komponente des Verhältniswahlrechts überwiegt, ist dagegen abhängig von der Höhe der Konfliktstrukturen: je konfliktreicher eine Gesellschaft ist, desto vielfältiger ist die Struktur eines Parteiensystems. Die konkrete Wirkung der kombinierten Systeme ist am besten daran zu erkennen, in welcher Fonn sie die Pluralität der Konfliktstruktur ins Parteiensystem übertragen. Der reine Proporz führt dazu, daß die gesellschaftliche Vielfalt ungefiltert ins Parteiensystem übertragen wird. Bei einer niedrigen Konfliktstruktur, wie sie sich z. B. in Deutschland als Folge der weitgehenden sozialen Befriedung durch das sogenannte Wirtschaftswunder in den 50er Jahren ergeben hat, kann auch ein Verhältniswahlsystem mit einer geringen Sperrwirkung (z. B. die Fünfprozentklausel) zu einem zweipoligen Parteiensystem führen 25 . Je stärker die mehrheitsbildende Komponente eines Wahlrechtes ist, desto größer ist seine Fähigkeit, eine relativ hohe Konflikt25

Vgl. Werner Kaltefleiter, Wirtschaft und Politik in Deutschland, Konjunktur als Bestimmungsfaktordes Parteiensystems, 2. Aufl., KölnlOpladen 1968, S. 101 f.

Die Wirkungsweise von Wahlsystemen

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struktur so umzusetzen, daß das Parteiensystem eine gewisse Handlungsfähigkeit behält. Desto größer sind dann natürlich auch die Abweichungen von jener Proportionalität, die häufig ideologisch als ungerecht bezeichnet wird. 26 Das kombinierte System I in Abbildung 2 verdeutlicht die Möglichkeit, die Sperrwirkung entsprechend der Intensität der Konfliktstruktur so zu steigern, daß die Wirkung am Ende einer Mehrheitswahl nahekommt. Das kombinierte System 11 verdeutlicht die Möglichkeit eines gedämpften Verhältniswahlsystems.

Abbildung 2 Sperrwirkungen in Abhängigkeit von der Konfliktstruktur Konfliktstruktur

hoch

relative MW

kombiniertes System I

automatisches System

niedrig alternierendes Parteiensystem

Vielparteiensystem

Parteiensystem

Voraussetzung: Keine antagonistische Konflllctstruktur

Dabei ist jedoch auf eine Einschränkung hinzuweisen: Aus dem Prinzip der Repräsentation, das alle modemen Demokratien kennzeichnet, ergibt sich, daß die Zahl der Mitglieder eines Parlamentes immer nur ein kleiner Bruchteil des jeweiligen Wahlkörpers ist. Aus dieser Begrenzung ergibt sich immer eine ge26

Vgl. dazu Thomas von der Vring, Reform oder Manipulation? Zur Diskussion eines neuen Wahlrechts, Frankfurt a.M. 1968, S. 214 ff.

Werner Kaltefleiter

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wisse Sperrwirkung. Dies ist von besonderer Bedeutung bei Kommunal- und Landtagswahlen, in denen die Zahl der Mandatsträger relativ klein ist. Besteht ein Kommunalparlament z. B. nur aus 25 Mitgliedern, bedeutet das, daß für ein Mandat mindestens 4 % der Wählerstimmen notwendig sind. Wenn z. B. die Zahl der Mitglieder eines Parlamentes 100 beträgt, bedeutet dies eine automatische Sperrwirkung von 1 %, bei 500 Parlamentsmitgliedern entspricht diese Sperrwirkung immer noch 0,2 %. Dies bedeutet zugleich auch, daß das Prinzip der Proportionalität nie vollständig verwirklicht werden kann; dies ist allerdings bei nationalen Parlamenten, die in der Regel aus deutlich mehr als 100 Abgeordneten bestehen, ohne praktische Bedeutung. Lösen kann man das Grundsatzproblem nur, wenn man auf das Prinzip der Repräsentation verzichtet. Dies ist in modemen Großgesellschaften unmöglich, wird aber gelegentlich in sehr kleinen Gemeinden praktiziert27 . 4. Wahlsysteme als Verfassungstechnologie Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß das Wahlsystem eine Verfassungstechnologie darstellt. In Anlehnung an Popper kann man die Auswahl eines Wahlverfahrens als "constitutional engineering"28 bezeichnen. Dabei sind die Modifikationen so vielflUtig, daß man in der Verfassungswirklichkeit stets mit der Frage eines "piecemeal engineering"29 konfrontiert ist30 . Anders formuliert: Wenn die Konfliktstruktur bekannt ist und es eine normative Vorgabe für das Parteiensystem gibt, ist es möglich, ein Wahlrecht zu konstruieren, das dieses gewünschte Parteiensystem unter den Bedingungen der existierenden Konfliktstruktur verwirklicht. 31 Die normative Frage lautet also nicht wie in der klassischen Diskussion Mehrheitswahl oder Verhältniswahl, sondern welches Parteiensystem gewünscht ist. Das Wahlrecht ist ein Instrument, das zur Herausbildung eines bestimmten Parteiensystems wesentlich beiträgt. Es ist die erklärende oder auch 27

vor. 28

Das schleswig-holsteinische Kommunalwahlrecht sieht z. B. diese Möglichkeit ausdrücklich So wörtlich Giovanni Sartori, Comparative Constitutional Engineering, London 1994.

Karl Raimund Popper, Das Elend des Historizismus, TUbingen 1965. (Übersetzung nach der englischen 2. Buchauflage von Tbe Poverty ofHistoricism, London 1960.) 29

30

Dies kennzeichnet z. B. einen großen Teil der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949. Es gibt aber immer auch große SprUnge. Als die bekanntesten Beispiele gelten die Wechsel von der Dritten zur Vierten und zur Fünften Republik in Frankreich, wobei das klassische romanische Mehrheitswahlrecht zunächst ahgelöst und dann wieder eingeft1hrt wurde. 31

Arend Lijphart (Electoral Systems and Party Systems. A Study of Twenty-Seven Democracies 1945 - 1990, Oxford 1994, S. 139 ff.) spricht von "electoral engineering".

Die Wirkungsweise von Wahlsystemen

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bewirkende Variable, über die eine normative Diskussion zu fUhren wissenschaftlich nicht zulässig ist, es sei denn diese beziehe sich auf bestimmte Nebenwirkungen. Beispiele fiir solche Nebenwirkungen können sein: die mangelnde Transparenz fUr den Wähler, den Zusammenhang zwischen Stimmabgabe und Mandatsverteilung zu erkennen oder die Anforderung der Stimmabgabe zu verstehen32 . Solche Probleme gibt es allerdings nur bei komplizierten Systemen, die in der Regel mehr dem klassischen Typ der Verhältniswahl zuzuordnen sind (z. B. das Alternativstimmrecht). Über die Zielfunktion, d. h. die Gestaltung des Parteiensystems, kann normativ diskutiert werden, sinnvollerweise nicht über die Mittel, das Ziel zu erreichen. Die Erfahrung zeigt, daß Handlungstllhigkeit von Regierungen auf der Grundlage eines entsprechenden Parteiensystems fiir die Stabilität von Demokratie von hoher Bedeutung ist. Handlungstllhigkeit, d. h. die ErfUllung von Staatsaufgaben und deren Kontrolle, gehört zu den wichtigsten Anforderungen an eine Demokratie. Werden die von den Bürgern als relevant perzipierten Staatsaufgaben nicht erfUllt, so bedroht dies nicht nur die jeweilige Regierung in den nächsten Wahlen, sondern stellt auch die Legitimität des Systems insgesamt in Frage.3 3 Wichtige Demokratien wie z. B. die Weimarer Republik, Österreich und Italien, die nach dem Ersten Weltkrieg in Europa kollabiert sind, haben dieses Schicksal erlitten, weil extreme Formen des Verhältniswahlrechtes Regierungstllhigkeit nicht ermöglicht hatten34 . Aber auch in anderen Demokratien Westeuropas läßt sich nachweisen, daß die mangelnde Handlungstllhigkeit auf der Grundlage eines Vielparteiensystems zu einer Stabilitätskrise des Systems gefUhrt hat, auch wenn diese Krisis nicht in eine Diktatur mündete. Andererseits kann man auch auf den Transformationsprozeß in Südafrika verweisen.35 Wäre nach der Transformation vom Apartheidsystem zu dem Versuch einer ethnisch übergreifenden Demokratie das britische Wahlrecht angewendet worden, dann hätte mit großer Wahrscheinlichkeit der ANC eine noch dominierendere Position gewonnen; allein die Inkatha Freiheitspartei hätte aufgrund ihrer regionalen Hochburgen in KwaZululNatal und die Nationale Partei über ebensolche im Westkap einige Mandate gewonnen. Möglicherweise hätten beide Parteien auch die jeweilige Provinz gewonnen. Abgesehen davon wäre das Land politisch einfarbig geworden. Dies hätte das Risiko, daß der 32

Bis zu den Parlamentswahlen von 1996 war es z. B. in Albanien notwendig, die nicht gewünschten Kandidaten aus einer umfangreichen Liste zu streichen, statt die gewünschten anzukreuzen. 33

Vgl. Wemer Kaltefleiter, Die Grenzen der Demokratie, in: Hans Hattenhauerl Wemer Kaltefleiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, Heidelberg 1986, S. 137 f. 3. Siehe dazu die klassische Dokumentation bei Hermens (Anm. 6), S. 120 f. 33

Vgl. dazu Donald L. Horowitz, A Democratic South Africa? Constitutional Engineering in a Divided Society, Berkeleyl Los Angelest Oxford 1991, insbesondere S. 163 ff.

Werner Kaltefleiter

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friedlichen Revolution von 1994 die Transfonnation zu einem Einparteiensystem gefolgt wäre, vergrößert.3 6 Was aber filr die erste Wahl 1994 in Südafrika richtig gewesen sein mag, scheint schon fur die nächsten Wahlen fragwürdig zu sein: eine langfristige Kontrolle der dominierenden Position des ANC, eine wirksame Opposition und möglicherweise auch einmal ein demokratischer Regierungswechsel erscheint zur Zeit nur vorstellbar, wenn die Oppositonsparteien sich ethnisch übergreifend zusammenschließen. Dazu sind noch erhebliche Lernprozesse bei den beteiligten Parteien erforderlich. Um solche Prozesse zu fördern, kann ein anderes Wahlrecht ein geeignetes Instrument sein. Ein solches Wahlrecht könnte z. B. die französische Fonn des Mehrheitswahlrechts sein, die im ersten Wahlgang allen Parteien die Möglichkeit der Selbstdarstellung eröffnet und sie erst im zweiten Wahlgang zwingt, sich zu entsprechenden Koalitionen zusammenzuschließen.3 7 Die empirischen Erfahrungen zur Wirkungsweise von Wahlsystemen beruhen fast ausschließlich auf komparativen Beobachtungen und den entsprechenden Simulationen in modemen Industriegesellschaften. Das Beispiel Südafrikas zeigt, daß diese Erfahrungen grundsätzlich auch auf eine fragmentierte Gesellschaft anwendbar sind, in der z. B. die Gegensätze zwischen einer Industriegesellschaft und einer Entwicklungsgesellschaft mit vielfältigen ethnischen Konflikten kombiniert sind. Das Beispiel zeigt aber auch, daß gerade um den Bedürfnissen eines solchen Landes gerecht zu werden, es notwendig ist, die entsprechenden Variablen von Wahlsystemen funktionsgerecht zu kombinieren. Das Fazit der Überlegungen ist, daß ein quasi-ideologischer Streit über das richtige Wahlrecht keinen Sinn macht. Es gilt, die politischen Zielsetzungen zu defmieren. Dazu gehört zunächst, die Frage zu beantworten, welchen Stellenwert Regierungsfähigkeit, Regierungskontrolle und Minderheitenschutz einnehmen. Wenn diese Ziele definiert sind, gilt es, die Konfliktstruktur zu analysieren, damit die Frage beantwortet werden kann, mit welchen Verfassungsinstrumenten die Zielsetzungen in einer konkreten Situation erreicht werden können. Das Wahlrecht ist dabei eines der wichtigsten dieser Verfassungsinstrumente. Es gilt also, die nonnative Frage zu beantworten, welche Art von )6

Für Einzelheiten siehe Ulrike Schumacher (Hrsg.), Das Neue Südaftika Das Ende einer illusion? Frankfurt u. a. 1996, insb. S. 339 f. 31

Vgl. dies., Politische Formen filr fragmentierte Gesellschaften. Das Beispiel Südafrika, Berlin 1994, S. 209 fI.

Die Wirkungsweise von Wahlsystemen

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Parteiensystem und damit untrennbar verbunden von Demokratie und deren Stabilität gewollt ist. Wenn diese Frage beantwortet ist, dann ist die des funktionsgerechten Wahlrechts eine fast technokratische Aufgabe.

4 Jease ILöw

Dieler Nohlen WAHLSYSTEME IM VERGLEICH Im folgenden geht es um einen internationalen und historischen Vergleich von Wahlsystemen. Im Mittelpunkt dieses Vergleichs steht die personalisierte Verhältniswahl. Zunächst werde ich mich mit dem theoretischen und methodischen Umfeld beschäftigen, in welchem die alte Frage: Mehrheitswahl oder Verhältniswahl abzuwägen wäre und in welchem sie sich in der klassischen Formulierung im Grunde als obsolet erweist. Sodann werde ich speziell auf die personalisierte Verhältniswahl eingehen, ihre Vorzüge darstellen und sie mit anderen Typen von Wahlsystemen vergleichen. Grundlage daftlr sind verschiedene Funktionskriterien, deren Erftlllung zur Beurteilung der Leistungsfllhigkeit von Wahlsystemen herangezogen wird. 1. Ansätze in der Wahlsystemforschung

Zunächst mache ich Sie mit den gegenwärtigen Ansätzen in der Wahlsystemforschung vertraut. Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung ftlr die Analyse, den Vergleich und die Bewertung von Wahlsystemen sowie insbesondere auch ftlr die Politikberatung. Zwei Kriterien verhelfen zu der Unterscheidung: normativ versus empirisch und statistisch versus historisch. Wissenschaftstheoretisch könnte man die erste Unterscheidung auch als die zwischen deduktivem und induktivem Verfahren sehen, die zweite Unterscheidung als die zwischen verschiedenen empirischen Methoden, zwischen der statistischen und der komparativen Methode. Den ersten Ansatz kann man als normativ bezeichnen. Im Rahmen dieses Ansatzes werden Wahlsysteme gemäß theoretischer, meist axiomatischer Überzeugungen analysiert und bewertet, welche mit Theorien der Demokratie oder guter Regierung in enger Verbindung stehen. So wird etwa die Option relative Mehrheitswahl damit begründet, daß nur dieses Wahlsystem der Essenz parlamentarischer Regierung oder der Demokratie mit voll zur Geltung gebrachter politischer Verantwortung der Gewählten entspreche. Ein gutes Beispiel ftlr diesen Ansatz, der mehr als ein Jahrhundert - seit den großen Debatten zwischen Joht! Stuart Mill und Walter Bagehot - in der Wahlsystemforschung vorherrschend war, lieferte Sir Karl Popper (Tbe Economist, 23.4.1988): Er entwickelte

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seine Präferenz rur ein bestimmtes Wahlsystem, indem er auf Begründungen aus der politischen Philosophie zurückgriff, ohne sich um die Empirie zu scheren - und dies, obwohl Popper nach seiner epistemologischen Lehre ein entschiedener Verfechter empirischer Überprüfung als wissenschaftlich zu geltender Aussagen ist (trial-and-error-Methode). Der normative Ansatz impliziert im allgemeinen, daß seine Vertreter einem der beiden Repräsentationsprinzipien und dementsprechend dem jeweiligen Wahlsystem den Vorzug geben. Dieser Ansatz ist hinsichtlich seiner Aussagen über die Effekte und Vorteile eines bestimmten Wahlsystems leistungsfähig, allerdings nur auf Kosten der Vernachlässigung raum-zeitlicher Kontextbedingungen. Charakteristische Thesen rur diesen Ansatz sind Z.B. "Mehrheitswahl ist besser als Verhältniswahl" oder "die relative Mehrheitswahl ist dasjenige Wahlsystem, welches am besten mit dem Kern von Demokratie und mit der Essenz von parlamentarischer Regierung übereinstimmt" etc. Mit dieser Bewertung einhergehend wird oft von einem Fall auf viele weitere oder alle Fälle geschlossen, also extrapoliert. In normativer Hinsicht wird die These vertreten, daß das, was ft1r einen Fall als günstig erklärt wird, auch ft1r andere bzw. alle anderen Fälle genauso gelte. Diese Tendenz zeigt sich auch in Behauptungen über die Auswirkungen von Wahlsystemen, die in der Form von Gesetzesaussagen formuliert werden, wie z.B.: "Das Mehrheitswahlsystem bringt ein Zweiparteiensystem hervor." Nichtsdestoweniger basiert das theoretische Studium von Wahlsystemen, von Vor- und Nachteilen der Repräsentationsprinzipien, ihrer Beziehung zu politischen Institutionen allgemein und zur Dynamik der politischen Prozesse, immer noch stark auf Arbeiten innerhalb des normativen Ansatzes. Die Stärke dieses Ansatzes liegt zweifellos in der Verknüpfung des Untersuchungsgegenstandes, der Wahlsysteme, mit Politik im allgemeinen, wobei die forschungsleitenden Fragen auf die Wahlsysteme hin fokussiert werden und ein Verstehenshorizont gewählt wird, der auf politischer Theorie basiert. Häufig werden bewertende Aussagen über angenommene Kausalzusammenhänge getroffen. Andererseits ist es die große Schwäche dieses Ansatzes, daß weder das differenzierte Spektrum möglicher Beziehungen zwischen einzelnen Wahlsystemen und dem Grundmuster politischer Repräsentation noch die historische Kontingenz von Wahlsystemen in die Analyse einbezogen werden - alles Elemente, die in der Tat entscheidend ft1r die Effekte der Wahlsysteme und deren Bewertung sind. Der zweite Ansatz ist empirisch-statistischer Natur. Wegen der Funktionslogik der statistischen Methodologie, die eine große Anzahl von Fällen rur die Gewinnung aussagekräftiger Ergebnisse erfordert, versucht dieser Ansatz, die größtmögliche Zahl von Wahlsystemen syn- und diachronisch einzubeziehen. Im Vergleich zum normativen Ansatz differenziert der empirisch-statistische Ansatz besser zwischen den Komponenten von Wahlsystemen, d.h. er behandelt die einzelnen Komponenten als Variablen in einem statistisch geprägten For-

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schungsdesign über multi-kausale Beziehungen. Die Fortschritte, die durch diesen Ansatz in der Erforschung der Wahlsysteme und ihrer Auswirkungen gemacht wurden, sind beträchtlich. Es sei nur auf die Pionierstudie von über die politischen Auswirkungen von Wahlsystemen 1 und die große Untersuchung von Arend Lijphart über Wahlsysteme und Parteiensysteme2 verwiesen, die den empirisch-statistischen Ansatz am besten repräsentieren. Ein Vergleich zwischen beiden Studien läßt im übrigen den Fortschritt erkennen, den der Ansatz selbst erlebt hat. Kritikwürdig am empirisch-statistischen Ansatz ist, daß dieser um das zentriert ist, was gemessen werden kann, und versucht, das historische Material in der Weise zu präparieren, daß es ftlr eine statistische Analyse verwendet werden kann. Dieses Verfahren ftlhrt nicht immer zu befriedigenden, gelegentlich sogar zu falschen Ergebnissen, wie etwa im Fall der personalisierten Verhältniswahl der Bundesrepublik, deren mittlere Wahlkreisgröße bei Rae auf den Wert 2 fixiert wurde 3. Auch erfolgen mitunter Veränderungen in der Konzeptualisierung (z.B., wenn die Definition des Begriffs Wahlsystem wie bei Lijphart 1994 durch die Einbeziehung weiterer meßbarer Charakteristika wie die Größe der Parlamente ausgedehnt wird) und es wird eine reduktionistische Perspektive bei der Analyse konkreter Wahlsysteme eingenommen, um eine Klassifizierung zu erleichtern (z.B. im Fall der personalisierten Verhältniswahlsysteme). Schließlich lenkt die tendenzielle Fokussierung der Forschung auf den meßbaren Teil des Untersuchungsgegenstandes die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers auf den mathematisch formalisierten Bereich des Materials (z.B. Proportionalitätsindices), wodurch oft die politische Bedeutsamkeit solcher Formeln (z.B. die Beziehung zwischen Proportionalitätsindices und Parteiensysternen) als auch allgemeine Bewertungskriterien und Kontextfaktoren, die ftlr die empirische, im eigentlichen Sinne politikwissenschaftliche Analyse notwendig sind, vernachlässigt werden. Der dritte Ansatz ist historisch-empirisch. Seinen methodologischen Ausgangspunkt besitzt er im Einzelfall-orientierten Studium konkreter Wahlsysteme und der Analyse des sozio-politischen Kontextes, der das einzelne Wahlsystem umgibt, was eine unbedingte Voraussetzung ftlr das Verständnis von dessen Funktionsweise und Auswirkungen darstellt. Im Vergleich zum empirischstatistischen Ansatz ist der historisch-empirische Ansatz deskriptivindividualisierend, woftlr er von der statistisch orientierten Denkschule kritisiert wird. Trotzdem ist der empirisch-historische Ansatz auch komparativ. Der Einzelfall ist deswegen wichtig, weil man nur durch induktives Vorgehen zu einem theoretischen Verständnis gelangen kann, das auch empirisch fundiert ist. Über Douglas W. Rae, The Political Consequences ofElectorai Laws, New HavenILondon 1967. Arend Lijphart, Electoral Systems and Party Systems, London 1994. Vgl. Rae (Anm. I), S. 43.

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die beim Vergleichen wichtige Ausarbeitung von Hypothesen und Theorien hinaus legt dieser Ansatz besonderen Wert auf terminologische Präzision und Klassifikation. Freilich wird manchmal, in nationalen Studien, der für den empirisch-historischen Ansatz so entscheidende vergleichende Aspekt vernachlässigt. Gleichzeitig muß man sich vor Augen halten, daß dieser Ansatz im Vergleich zu den beiden anderen am meisten für die Politikberatung im Bereich der Wahlsysteme herangezogen wird. Im Zusammenhang mit dem Letztgesagten ist besonders hervorzuheben, daß der empirisch-historische Ansatz nicht einem bestimmten Wahlsystem den Vorzug gibt, ohne zuerst die Kontextfaktoren detailliert studiert zu haben. Dem historisch-empirischen Ansatz sind meine Untersuchungen verpflichtet4 . Wenn noch nicht auf der Hand liegt, was die Darstellung der verschiedenen Ansätze uns verrät, so will ich es zusammenfassen. Für den Normativisten macht eine Kontroverse um Mehrheitswahl versus Verhältniswahl Sinn, für den Empiriker nicht. Zum al der historisch-empirisch-orientierte Forscher hält zwei Informationen für unabdingbar: Er muß wissen, um welchen Typus von Wahlsystem es sich handelt, und er muß wissen, bezogen auf welches Land und für welche Zeit die Überlegungen angestellt werden. Denn unter den Kategorien Mehrheitswahlsystem und Verhältniswahlsystem werden derart unterschiedliche Wahlsystemtypen mit gänzlich unterschiedlichen Auswirkungen geführt, so daß es wenig Sinn macht, die Wahlsystemfrage unter den cluster-Begriffen zu diskutieren. Einige Beobachter beispielsweise identifizieren Verhältniswahl mit reiner Verhältniswahl und beziehen sich gerne auf Weimar. In Bonn wird aber nach personalisierter Verhältniswahl mit Sperrklausel gewählt. Auch wird Italien gern für die Kategorie Verhältniswahl schlechthin angeführt, obwohl vor der Reform von 1994 nach Verhältniswahl mit Präferenzstimmgebung gewählt wurde. Das ehemalige Verhältniswahlsystem Italien steht also nicht für die ganze Klasse von Verhältniswahlsystemen, sondern ist nur ein Typus, wie die spanische Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen ein solcher Typus ist oder eben die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel. Im Zuge der Entwicklung von immer mehr Varianten von Wahlsystemen (ich verweise hier besonders auf die neuen Wahlsysteme in Osteuropa) kommt man gar nicht umhin, auf der Abstraktionsleiter eine Stufe herunterzugehen, auf die mittlere Stufe der Wahlsystemtypen, wenn man eine wissenschaftlich angemessene und ergiebige Diskussion führen will.

Vgl. Wahlsysteme der Welt, München 1978; Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 1990; Elections and E1ectoral Systems, 2. Aufl., New Delhi 1996; (mit Mirjana Kasapovic) Wahlsysteme und Systemwechsel in Osteuropa, Opladen 1996.

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Des weiteren ist das Land, seine politische Kultur, die Struktur sozialer und politischer Konfliktlinien, sind die parteipolitischen Verhältnisse, die Strukturfragen des Parteiensystems von Bedeutung. Die Frage, die es dementsprechend heute zu beantworten gilt, lautet nicht, ob Mehrheitswahl oder Verhältniswahl vorzuziehen sei. Sie lautet vielmehr: Hat sich die personalisierte Verhältniswahl in der Bundesrepublik bewährt? Oder besteht Anlaß zu Refonnen, gar zu Refonnen in Richtung auf ein System der Mehrheitswahl, welches dann genauer spezifiziert werden müßte? Soll die relative Mehrheitswahl, die absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl, ein Dreierwahlkreissystem, eine Mehrheitswahl mit Ergänzungsliste nach Verhältniswahl, ein Grabensystem oder ein sonstiges Mehrheitswahlsystem eingefilhrt werden? Es hätte dann eine Abwägung jeweils zwischen dem gültigen Wahlsystem und dem vorgeschlagenen Wahlsystem zu erfolgen, so wie es die neuseeländische Refonn Commission 1986 getan hat5, die alle Refonnvorschläge mit dem damals in Neuseeland gültigen Wahlsystem, der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, auf ihre jeweiligen Auswirkungen in Neuseeland überprüft hat. Die Kommission kam - nebenbei bemerktzu dem Ergebnis, daß die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel, das international als deutsches Modell bezeichnete Wahlsystem, das filr Neuseeland beste Wahlsystem sei und propagierte seine EinfUhrung. Bekanntlich haben sich die neuseeländischen Wähler in zwei Referenden in dem gleichen Sinne entschieden. 2. Bewertungsmaßstäbe für den Wahlsystemvergleich

Wie kann man nun eine solche Bewertung von Wahlsystemen im Vergleich vornehmen? Dazu sind vergleichende Maßstäbe notwendig, die es im folgenden kurz zu entwickeln gilt. Bevor wir das tun, müssen wir zunächst noch einige wichtige Hinweise geben. Der allerwichtigste ist der folgende: Es gibt kein ideales Wahlsystem! Diese Tatsache ist ein weiterer Grund dafUr, weshalb ich mich nicht an einer Debatte über Mehrheitswahl versus Verhältniswahl beteilige. Mein Beitrag ist viel bescheidener. Ich prüfe, ob sich das bestehende Wahlsystem bewährt hat, ich prüfe seine Leistungsfllhigkeit und seine Angemessenheit. Fiele diese Prüfung negativ aus, könnte ich die personalisierte Verhältniswahl als für die Bundesrepublik geeignetes Wahlsystem auch in Frage stellen. Ein zweiter Hinweis nimmt Einsichten vorweg, die sich aus den folgenden Darlegungen selbst ergeben. Ich will sie aber hier explizit machen: Wahlsysteme müssen nach mehreren und verschiedenen Funktionsleistungen bewertet werden. Ich werde deren fUnf nennen. Diese Funktionen - wir können auch

Vgl. Report of the Royal Commission on the Electoral System. Towards a Better Oemocracy, Wellington 1986.

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Werte oder Ziele sagen - stehen keineswegs ergänzend oder hannonisch zueinander, sondern zum Teil antithetisch einander gegenüber. Die Steigerung einer Funktionsleistung, die ein Wahlsystem erbringen soll, muß häufig durch die Minderung einer anderen Funktionsleistung erkauft werden. Es handelt sich um die folgenden Funktionen: 1. Repräsentation - und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen im Sinne einer Vertretung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen, einschließlich von Minderheiten und Frauen, in den gewählten Vertretungsorganen; zum anderen im Sinne einer fairen Repräsentation, d.h. einer annähernd spiegelbildlichen Repräsentation der gesellschaftlichen Interessen und politischen Meinungen im Parlament. Parameter einer angemessenen Repräsentation ist der Grad der Proportionalität von Stimmen und Mandaten. Allzu große Abweichungen von der Proportionalität werden häufig als problematisch begriffen. 2. Konzentration - im Sinne einer Aggregation gesellschaftlicher Interessen und politischer Meinungen zum Zwecke politischer Entscheidungsfindung und Handlungsfiihigkeit des Gemeinwesens. Wahlen werden als Akt der politischen Willensbildung verstanden, nicht als Abbildung der in der Wählerschaft vorherrschenden Meinungen. Parameter der angemessenen Konzentrationsleistung eines Wahlsystems sind zum einen die Zahl bzw. die Reduzierung der Zahl der Parteien, die Parlamentsmandate erhalten, zum anderen die Bildung stabiler parteilicher oder Koalitionsmehrheiten im Parlament. Instabile Regierungsverhältnisse infolge von Vielparteiensystemen werden häufig als problematisch begriffen. Das Kriterium der Konzentration schließt in gewisser Weise das der Effektivität eines Wahlsystems ein. Die Effektivität bestimmt sich indes auch danach, ob ein Wahlsystem die Stabilität des politischen Systems befördert. Es ist also zwischen Regierungsstabilität und Stabilität des politischen Systems zu unterscheiden. Geringere Regierungsstabilität als Folge einer geringeren Konzentrationsleistung des Wahlsystems kann durchaus mit größerer Systemstabilität als Folge erhöhter Legitimität der politischen Repräsentation einhergehen, und vice versa. Wie dem auch sei: Regierungsstabilität ist ein hoher Wert. Sicherlich sind nicht alle stabilen Regierungen gute Regierungen, aber es kann als höchst unwahrscheinlich gelten, daß unter den Bedingungen politischer Instabilität eine gute Regierung besteht. 3. Partizipation. Hier geht es nicht um Partizipation im allgemeinen Sinne denn Wahlen stellen ja für sich bereits einen Akt politischer Partizipation dar -, sondern um mehr oder minder große Möglichkeiten des Wählers, seinen politischen Willen zum Ausdruck zu bringen. Konkret geht es um die Alternative Personenwahl versus ParteienwahllListenwahl. Parameter der angemessenen Partizipation in diesem engeren Sinne ist die Frage, ob und (wenn ja) inwieweit ein Wahlsystem die Personalstimmgebung ermöglicht. Ist sie gänzlich ausge-

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schlossen, etwa in Fonn der starren Liste, wird dies häufig als problematisch begriffen. 4. Einfachheit. Diese funktionale Anforderung hat den Charakter einer Richtlinie, da Wahlsysteme, die versuchen, den Kriterien Repräsentation, Konzentration und Partizipation gleichzeitig gerecht zu werden, wie gesagt, unweigerlich komplizierter sind als Wahlsysteme, die nur eines der Kriterien zu erfüllen versuchen. Dennoch ist es erstrebenswert, daß der Wähler die Funktionsweise des Wahlsystems versteht und nachhalten kann, was mit seiner Stimme geschieht. 5. Legitimität: Dieses Kriterium schließt insofern alle anderen ein, als es sich auf die allgemeine Akzeptanz der Wahlergebnisse und des Wahlsystems bezieht - und damit auf die Zustimmung zu den Spielregeln des demokratischen Regierungssystems. Die Frage, ob das Wahlsystem eine Gesellschaft eint (oder aber teilt), dient hier als spezifischer Parameter. In den Medien und von Seiten einiger wissenschaftlicher Wahlsystemexperten wird oft der Prozentanteil der Wahlenthaltung als Gradmesser für die Legitimität eines demokratischen politischen Systems bzw. dessen Institutionen angesehen. Allerdings ist dieser scheinbar valide Indikator "Wahlenthaltung" weniger aussagekräftig als man zunächst meinen könnte: Erstens gibt es keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und der Legitimität des demokratischen Systems, und zweitens kann ein Wahlsystem allenfalls sehr begrenzt auf die Wahlbeteiligung einwirken. Ein weiterer möglicher Indikator für die Legitimität eines Wahlsystems ist die Art und Stoßrichtung von Kritik, die es in der öffentlichen Diskussion erfährt. Hierbei kann man zuweilen eine tiefe Kluft zwischen der technischen Qualität eines Wahlsystems einerseits und dessen kritischer Bewertung in der Öffentlichkeit konstatieren. In Venezuela z.B. sprachen sich in den 80er Jahren beinahe alle Wahlsystemspezialisten für das bestehende System aus6, die öffentliche Meinung war dagegen für eine Refonn des Wahlmodus. Schließlich richteten sich die Präsidentschaftskandidaten in ihrem Wahlkampf an diesem Issue der Wahlsystemrefonn aus, und die Parteien stimmten einer solchen Änderung des Wahlrechts zu. Ein anderes Beispiel in diesem Zusammenhang ist Neuseeland. 1984 vertrat Arend Lijphart die These, daß das neuseeländische Mehrheitswahlsystem mit Minderheitenwahlkreisen relativ nahe an einen idealen Komprorniß zwischen majoritärer und proportionaler Repräsentation herankomme. Ein Jahrzehnt später stimmten die Neuseeländer in einem Referendum gegen dieses "nahe am Idealen" liegende Wahlsystem. Obwohl es also wenig harte Kriterien gibt, können wir dennoch folgende Tendenz feststellen: Wenn Vgl. Consejo Supremo Electoral (Hrsg.), Sistemas electorales comparados, Caracas 1994.

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ein Wahl system wenig oder gar nicht öffentlich kritisiert wird, kann man davon ausgehen, daß eine gewisse Zufriedenheit mit dem in Gebrauch befindlichen Wahlsystem vorherrscht bzw. daß es einen beachtlichen Grad an Legitimität besitzt. Schließlich kann man versuchen, die Legitimität eines Wahlsystems über Meinungsumfragen herauszufinden. Auch die Aussagekraft dieses Indikators wirft einige Probleme auf, insbesondere wenn die Befragten schlecht über das in Frage gestellte Wahlsystem bzw. über mögliche Alternativen informiert sind. Im allgemeinen nimmt das Wissen über das aktuelle Wahlsystem zu, je näher der Wahltermin rückt. Dies bedeutet wiederum, daß vor anstehenden Wahlen das allgemeine Wissen über das Wahlsystem schlecht eruiert werden kann, da hier die Meinungen der Wähler stärker als sonst von ihrem politischen Standpunkt geprägt sind, d.h. sie werden das Wahlsystem eher danach beurteilen, ob es günstige oder ungünstige Auswirkungen rur die eigene Partei hat. Somit besteht eine Kluft zwischen der objektiv feststellbaren Funktionsweise eines Wahlsystems und den auf einer geringen Informationsgrundlage basierenden subjektiven Meinungen über dieses System. Ein gutes Beispiel stellt in diesem Fall Bolivien dar: Obwohl dort das Wahlsystem zur Wahl des Präsidenten effektiv zur Konsolidierung der Demokratie beigetragen hatte, wurde es in Meinungsumfragen überwiegend abgelehnt. Obwohl also das Kriterium der Legitimität offensichtlich rur die Bewertung eines Wahlsystems von zentraler Bedeutung ist, ist es sehr schwierig, verallgemeinerbare und verläßliche Indikatoren der Legitimität eines Wahlsystems anzugeben. Politische Machtkonstellationen und Interessenlagen sind die entscheidenden Variablen in der Wahl bzw. Entstehungsgeschichte von Wahlsystemen. Für Optionen in der Wahlsystemfrage ist nun - jenseits dieser machtpolitischen Erwägungen, die stets eine Rolle spielen - charakteristisch, daß häufig nur eine einzige Funktion leitend ist, ja die Debatte über Mehrheitswahl versus Verhältiniswahl nährt sich aus diesem Reduktionismus. Die Anhänger der Mehrheitswahl reduzieren die Wahlsystemfunktionen auf die der Effizienz, die Verfechter der Verhältniswahl auf die der Repräsentation. Ich habe verschiedentlich betont - und mich dabei von Eckhard Jesse gründlich mißverstanden gesehen -, daß es richtig und notwendig ist, die Wahlsysteme zuallererst danach zu beurteilen, inwieweit sie denn die ihren Repräsentationsprinzipien zugrunde liegenden Zielvorstellungen zu erfililen in der Lage sind, weil es nicht sehr sinnvoll ist, eine intendierte bzw. erbrachte Leistung am Maß-

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stab einer anderen zu beurteilen, die gar nicht zuallererst erbracht werden solJ7. Einen Hundertmeterläufer beurteilt man danach, wie schnell er hundert Meter läuft, und nicht danach, wie hoch er springen kann. Es macht keinen Sinn, dem Hundertmeterläufer eine nur geringe übersprungene Höhe vorzuhalten. Soweit meine Entgegnung auf Beobachter, die Wahlsysteme an nur einer Funktion beurteilen und zudem noch an der falschen. Tatsächlich gleichen die von Wahlsystemen zu erbringenden Leistungen jedoch einem Mehrkampf. Ohne die volle Leistung in seiner Spezialdisziplin hat der Sportler im Mehrkampf keine Chance. Ohne akzeptable Leistungen in den zusätzlichen Disziplinen braucht der Hundertmeterläufer aber erst gar nicht im Mehrkampf anzutreten. Man könnte die Analogie noch weiter spinnen. Was deutlich werden sollte, ist, daß Wahlsysteme mehrere Funktionen zu erfUllen haben. Individuelle Wahlsysteme erfUllen die Funktionsleistungen meistens abgestuft, die eine besser, die andere schlechter, vielleicht auch sehr schlecht. Bewertungen sollten stets zuallererst jene Funktion betrachten, der ein Wahl system hauptsächlich folgt. Alle anderen Funktionen dürfen aber nicht aus den Augen verloren werden. 3. Der Wahlsystemtypus Personalisierte Verhältniswahl und seine Auswirkungen

Kommen wir nun zum Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland, das ich nicht im einzelnen beschreiben, sondern typisieren und auf seine wesentlichen Effekte hin analysieren werde. 1. Das deutsche Wahlsystem ist ein Verhältniswahlsystem. Die Bezeichnung "Mischwahlsystem", unter der es oft gefUhrt wird, trifft nicht zu, und zwar deswegen, weil sich die politische Zusammensetzung des Bundestages wahlsystematisch betrachtet ausschließlich aus der proportionalen Verteilung auf nationaler Ebene (d.h. in dem nationalen Wahlkreis) ergibt. Daher ist das StimmenMandate-Verhältnis trotz der 5%-Sperrklausel in außerordentlich hohem Maße proportional. Freilich gilt das Letztgesagte nur fUr die Parteien, die die Hürde passieren. Die Sperrklausel-Konstruktion begünstigt diejenigen Parteien, die sie zu überspringen in der Lage sind, und dieser Vorteil erhöht sich in dem Maße, je mehr Parteien an der gesetzlichen Hürde scheitern. Allerdings gibt es dann keine Disproportionalitäten bei der Verteilung der Mandate an diejenigen Parteien, die die 5%-Klausel passiert haben; die einzige Ausnahme bilden evtl. Überhangmandate, was nach den Wahlen von 1994 mit insgesamt 16 Überhangmandaten, davon 12 für die CDU problematisiert und einer verfassungs-

Vgl. Eckhard Iesse, Wahlen. Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Berlin 1988, S. 61; Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem (Anm. 4), S. 108 fr.

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Dieter Nohlen

rechtlichen Prüfung zugefilhrt worden ist8. Insgesamt erreicht das deutsche Wahlsystem einen hohen Proportionalitätsgrad und ist insoweit defmitiv ein Verhältniswahlsystem. 2. Das deutsche Wahlsystem ist personalisiert. Mit seinen zwei Stimmen entscheidet der Wähler sowohl zwischen Personen als auch zwischen Parteien: zwischen Kandidaten in den Einerwahlkreisen und zwischen Listen, die auf Länderebene von den Parteien aufgestellt wurden. Die Personenwahl und die Listenwahl erlauben dem Wähler, sein Votum differenziert abzugeben: Dieses Stimmensplitting wird auch als Test dafilr angesehen, ob der Wähler wirklich zwischen Kandidat und Partei unterscheidet. So gesehen bestimmt der Wähler die individuelle Zusammensetzung der Hälfte des Bundestages durch seine Erststimme, jedoch ohne dadurch im Prinzip die parteipolitische Zusammensetzung zu beeinflussen. Dementsprechend beeinflussen die Einerwahlkreise -sieht man von den möglichen Überhangmandaten ab - nicht das Stimmen-Mandate-Verhältnis, sondern nur die Beziehung zwischen Wählern und Abgeordneten. Diesem so strukturtierten Wahlsystem können drei unmittelbare Auswirkungen zugeschrieben werden: 1. Konzentration: Die Zugangsmöglichkeit kleinerer Parteien ins Parlament ist eingeschränkt. Dieser Effekt resultiert aus der S%-Klausel und nicht - wie oft irrtümlich angenommen - auf der direkten Wahl der Hälfte der Abgeordneten nach relativer Mehrheit in Einerwahlkreisen. 2. Repräsentation: Die Parteien, die die S%-Hürde überschreiten, erhalten ihre Mandate proportional zu ihrem jeweiligen Stimmenanteil, so daß weder große Parteien begünstigt noch kleinere benachteiligt werden. Mit anderen Worten: Die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel schließt manufactured majorities praktisch aus; es ist erwiesenermaßen sehr schwierig filr eine Partei, die nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht hat, eine absolute Mehrheit der Mandate zu erzielen. Durch diesen fehlenden mehrheitsbildenden Effekt unterscheidet sich die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel nicht nur von allen Mehrheitswahlsystemtypen, sondern auch von Verhältniswahlsystemen, die durch einen offensichtlichen Disproportionalitätseffekt gekennzeichnet sind (wie z.B. Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen). 3. Partizipation: Die Auswirkungen, die sich aus der personalen Komponente dieses Wahlsystems ergeben, sind weniger aufgrund objektiver Daten feststellbar, sondern treten in erster Linie im psychologischen Bereich auf. Anders als bei freien Listen, die in der Geschichte der Verhältniswahl die traditionelle Siehe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 1997.

Wahlsysteme im Vergleich

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Form der Verknüpfung von Proporz und Personenwahl bildeten, findet die Auswahl, die der Wähler unter den Kandidaten trifft, zwischen Bewerbern statt, die verschiedenen Parteien zugehören. So können z.B. diejenigen Wähler, die eine kleine Partei präferieren, welche aller Wahrscheinlichkeit nach keine Chancen auf den Gewinn eines Direktmandates in einem der Wahlkreise hat, ihre Entscheidung bei ihrer Erststimme von den Persönlichkeitskriterien derjenigen Kandidaten abhängig machen, die reale Chancen bei der Direktmandatsvergabe haben. In der Praxis orientieren sich split-voter in ihrem Stimmverhalten jedoch nicht unbedingt an den Persönlichkeiten, sondern wählen oft einen von ihrer Parteipräferenz unterschiedenen Kandidaten aus koalitionstaktischen Erwägungen, d.h. den Repräsentanten derjenigen Partei, die ihrer ursprünglichen Präferenz ideologisch oder koalitionspolitisch am nächsten steht. Der psychologische Effekt liegt nun darin, daß der Wähler nicht nur eine Parteiliste, sondern auch Kandidaten wählen kann. Das Argument der Anonymität der Liste, das generell gegen die Verhältniswahl nach starrer Liste vorgebracht wird, trifft im Fall der personalisierten Verhältniswahl nicht mehr zu. Obwohl die Landeslisten der Parteien starr sind, kann der Wähler sein Bedürfnis, zwischen Personen zu wählen, befriedigen, ohne daß jedoch die Effekte auftreten, die mit anderen Verfahren der Persönlichkeitswahl notwendigerweise verbunden sind: a) Im Gegensatz zur Personenwahl bei der Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen verschiebt sich bei der personalisierten Verhältniswahl die StimmenMandate-Relation nicht sehr stark. Somit kann der Proporzeffekt unabhängig von der Personalisierung erhalten werden. b) Im Gegensatz zur Personenwahl in Systemen, die mit freien bzw. lose gebundenen Listen arbeiten, wird bei diesem Wahlverfahren der Wettbewerb zwischen den Parteien nicht negativ beeinflußt. Hier entscheidet der Wähler nämlich nicht zwischen Kandidaten einer einzigen Partei, sondern zwischen denen verschiedener Parteien; bei der personalisierten Verhältniswahl behalten die Parteien die zentrale Stellung bei der Nominierung der Kandidaten ftlr die Wahlen. Neben diesen unmittelbar auf den Wahlakt bezogenen Effekten können noch drei Auswirkungen der personalisierten Verhältniswahl angefUhrt werden, die sich mittel-bzw. langfristig einstellten: 1. Dieser Wahlmodus hat u.a. durch seine 5%-Sperrklausel zur Konzentration des Parteiensystems beigetragen: zum einen in rein mechanischer Hinsicht, d.h. durch den Ausschuß kleiner Parteien von der Mandatsverteilung, zum anderen in psychologischer Hinsicht, da der Wähler in Anbetracht des Wunsches nach einer effektiven Stirnmabgabe durch die 5%-Hürde dazu gebracht wurde, Parteien mit geringen Erfolgschancen gar nicht erst zu wählen. Die u.a.

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dadurch erreichte Konzentration des Parteiensystems hat in der Vergangenheit erheblich zur Regierungsstabilität beigetragen. 2. Da der Disproportionalitätseffekt bei der personalisierten Verhältniswahl wie betont - sehr gering ist, erzwingt die personalisierte Verhältniswahl mit Sperrklausel die Bildung von Koalitionsregierungen. Dieser Effekt wird vielfach als problematisch angesehen. Es gilt jedoch darauf hinzuweisen, daß die Regierungsmehrheit einer Koalitionsregierung stets einer Wählermehrheit entspricht und nicht das Ergebnis einer durch das Wahlsystem bewirkten, künstlichen Mandatsmehrheit ist. In der Praxis regieren diejenigen Parteien, die sich über die Bildung einer Koalition geeinigt haben. Die Möglichkeiten rur solche Koalitionen sind in der Bundesrepublik zahlenmäßig sehr beschränkt. Zudem präsentieren sich die Parteien im allgemeinen bereits vor der Wahl als wahrscheinliche Koalitionspartner. Somit bietet sich dem Wähler in den meisten Fällen eine klare Alternative: Er muß sich entscheiden zwischen Regierungsund Oppositionsparteien. Einige Wähler geben sogar ihre Stimme just nach solchen koalitionstaktischen Erwägungen ab. Das häufig gegen die Verhältniswahl schlechthin ins Feld gefllhrte Argument, Regierungen gingen in Mehrparteiensystemen aus Entscheidungen nach der' Wahl der Parteieliten hervor, gilt demnach rur die Bundesrepublik nicht. Es zeigt sich hier erneut, daß die Wahlsystemfrage nach spezifischen Kontexten und entsprechend spezifischen Erfahrungen zu beurteilen ist. 3. Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich äußerst sensitiv gegenüber politischen Veränderungen: Trotz der 5%-Hürde ist weder der Zugang neuer Parteien noch der neuer politischer Kräfte zum Parlament ausgeschlossen - ganz im Gegensatz zum Effekt von Mehrheitswahlsystemen, der von Anhängern der Mehrheitswahl hochgeschätzt wird. Gegen einen solchen "Sicherungseffekt" spricht freilich, daß auch prodemokratischen, systemkonformen Parteien der Zugang zum Parlament verwehrt wUrde, sich diese gegen die demokratischen Verfahrensweisen wenden könnten, von denen sie sich ausgegrenzt ruhlen, und daß damit möglicherweise eine größere Destabilisierungswirkung auf das politische System ausgeübt würde als durch das eventuelle Auftreten extremistischer Gruppen im Parlament, das innerhalb der personalisierten Verhältniswahl mit 5%-Sperrklausel nicht ausgeschlossen werden kann. 4. Wahlsystemtypen im Vergleich

Abschließend werde ich nun einige Wahlsysteme vor allem hinsichtlich der drei erstgenannten Funktionserwartungen - der Repräsentation, der Konzentration und der Partizipation - vergleichen.

Wahlsysteme im Vergleich

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a) Die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen erftlllt besser als alle anderen Wahlsysteme die Konzentrationsfunktion. Sie erleichtert nachweislich die Bildung einer absoluten Parlamentsmehrheit fUr eine Partei. Ein Großteil absoluter Parlamentsmehrheiten resultiert aus der Disproportionalität zwischen Stimmen und Mandaten, welche die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen hervorbringt. Die andere Seite der Medaille ist jedoch, daß dieses Wahlsystem nur in höchst ungenügender Weise der Repräsentationsfunktion Genüge tut. Kleinen Parteien (ohne Wählerhochburgen) wird die Möglichkeit einer parlamentarischen Repräsentation versagt. Mitunter bleiben selbst Parteien, die 20% der Stimmen erhalten haben, ohne parlamentarisach Vertretung. Die Wahlkreiseinteilung ist stets umstritten und kann zum Vorteil bestimmter Parteien ausschlagen. Bezüglich des Kriteriums der Partizipation wiederum wird das Wahlsystem insofern positiv bewertet, als der Wähler in seinem Wahlkreis eine Person wählt. Freilich weisen wahlsoziologische Erkenntnisse darauf hin, daß sich in gut strukturierten Parteiensystemen auch in Einerwahlkreisen die Wahlentscheidung vielfach eher nach der Partei als nach der Person richtet. Die Funktionsweise des Wahlsystems ist leicht zu verstehen. Seine Legitimität beruht auf politischer Tradition und einem am britischen Parlamentarismus orientierten Demokratie. Allerdings stößt in vielen Ländern die mangelhafte Repräsentationsleistung des Wahlsystems auf scharfe Kritik. Zweifel sind angebracht, ob die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, die in vielen Ländern Afrikas und Asiens durch die einstige Kolonialmacht Großbritannien "importiert" wurde, von der Wählerschaft wirklich gewollt würde, wenn sie über andere Wahlsysteme und ihre Auswirkungen informiert wäre und unter den Alternativen auswählen könnte. b) Die absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen teilt viele Charakteristika des obigen Typs der Mehrheitswahl, unterscheidet sich aber in einigen wesentlichen Punkten. Das Wahlsystem kann zwar auch eine hohe Dispropotionalität zwischen Stimmen und Mandaten erzeugen. Doch zielt der Verzerrungseffekt des Wahlsystems weniger darauf ab, daß eine Partei eine absolute Parlamentsmehrheit gewinnt, als vielmehr darauf, daß sich mehrere Parteien vor einem etwaigen zweiten Wahlgang zu einem Parteienbündnis zusammenschließen, um die Stichwahl (ballotage) zu gewinnen. Das Wahlsystem elminiert also nicht kleine Parteien, sondern schützt diese durch ihre Bedeutung im Rahmen von Parteiallianzen beim zweiten Wahlgang. Insofern solche Allianzen nicht nur aus rein wahlstrategischen Gründen, sondern auch zum Zwecke der parlamentarischen Zusammenarbeit gebildet werden, Obt die absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen einen Konzentrationseffekt aus. Das Wahlsystem ist einfach zu verstehen und zu handhaben, auch wenn es im Falle einer Stichwahl eines zweiten Wahlgangs bedarf. Freilich ist hervorzuheben, daß gegenwärtig die absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen bei Parlamentswahlen kaum zur Anwendung kommt und im Rahmen von Wahlsystemreformen zumeist nicht als

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Dieter Nohlen

Alternative gehandelt wird, was gewisse Rückschlüsse auf eine eher negative Bewertung des Wahlsystems zuläßt. Desungeachtet wird in Deutschland die absolute Mehrheitswahl gelegentlich als Alternative zum bestehenden Wahlsystem genannt, und auch Giovanni Sartori hat sich jüngst rur die absolute Mehrheitswahl als bestes Wahlsystem stark gemacht9. c) Eher selten sind auch Wahlsysteme, welche die Entscheidungsregel des Proporz in kleinen Wahlkreisen anwenden. Der zentrale Unterschied zwischen diesem und den beiden vorangegangenen Typen der Mehrheitswahl ist, daß der jeweilige Wahlkreis im Parlament von Abgeordneten unterschiedlicher Parteien repräsentiert wird - d.h. von Abgeordneten sowohl der Mehrheitspartei als auch der (bzw. den) Minderheitspartei(en). Die Stimmen-Mandate-Disproportionalität kann bei diesem System geringer sein, doch hängt dies letztlich von einer Reihe weiterer Faktoren ab, wie z.B. der Größe der Wahlkreise (variierend, gerade oder ungerade Mandatszahl pro Wahlkreis etc.). Das Wahlsystem stellt sich im allgemeinen als einfach dar, es sei denn, daß komplizierte Formen der Kandidatur- und der Stimmgebungsform verwandt werden. d) Die Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen wird sehr häufig angewandt. Gewöhnlich bringt sie keine faire Repräsentation im Sinne einer hohen Proportionalität zwischen Stimmen und Mandate hervor. Sie übt insofern einen Konzentrationseffekt auf das Parteiensystem aus, als die Wahlkreisgröße eine natürliche Hürde ft1r kleine Parteien darstellt. In der Regel folgt die Wahlkreisziehung der politisch-administrativen Einteilung des Landes und ist daher zumeist weniger konfliktiv als etwa bei Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, die eine ständige Neuziehung der Wahlkreise erfordert und mehr Spielräume rur eine aktive Manipulation der Wahlkreiseinteilung (gerrymandering) zuläßt. Etwaige Ungleichheiten im Verhältnis von Wähler und Abgeordneten zugunsten kleiner Wahlkreise können freilich Anstoß der Kritik sein. Auch an den starren Parteilisten, die bei der Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen gewöhnlich verwandt werden, macht sich mitunter Kritik fest, da diese Listenform keine personenorientierte Wahl zuläßt. Alles in allem funktioniert das Wahlsystem jedoch recht gut, obwohl es die Repräsentationsfunktion nur unzureichend erftlllt und der Forderung nach Partizipation im obigen Sinne nicht genügt. Mißverständnisse über die Auswirkungen des Wahlsystems ruhren zum Teil jedoch zu deslegitimierender Kritik an diesem Wahlsystem. e) Die reine Verhältniswahl erftlllt am konsequentesten die Forderung nach fairer Repräsentation. Doch geht dies auf Kosten der Konzentrationsfunktion und, da normalerweise starre Listen verwandt werden, auch auf Kosten der Partizipationsfunktion des Wahlsystems. Demgemäß richtet sich die Hauptkritik Vgl. Giovanni Saltori, Comparative Constitutional Engineering. An Inquiry into Structures, Incentives and Outcomes, Houndsmills U.8. 1994.

Wahlsysteme im Vergleich

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an diesem Wahlsystem darauf, daß es die Zersplitterung des Parteiensystems befördert und der Wählerstimme einen anonymen Charakter verleiht. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß die Stimmenverrechnung auf nationaler Ebene erfolgt und somit andere Listenformen als die starre Liste praktisch nicht anwendbar sind. Die Legitimität der reinen Verhältniswahl wurde insbesondere durch die historischen Erfahrungen in Westeuropa mit unstabilen Regierungen und mit dem Zusammenbruch von Demokratien in Frage gestellt. Doch ist diese negative Einschätzung der reinen Verhältniswahl nicht ohne weiteres auf andere Länder und Regionen zu übertragen. In Ländern mit einer ausgeprägten gesellschaftlichen Heterogenität und tiefen gesellschaftlichen Konflikten kann der Repräsentationsfunktion eine herausgehobene Bedeutung zukommen, welche die Anwendung der reinen Verhältniswahl als sinnvoll erscheinen läßt. f) Die personalisierte Verhältniswahl mit gesetzlicher Sperrklausel ist ein intermediäres Wahlsystem, das unterschiedlichen Funktionsanforderungen gerecht wird: Sie erfilllt die Repräsentationsfunktion durch die proportionale parlamentarische Vertretung all der Parteien, welche die Sperrklausel überwunden haben. Dabei ist die Höhe der Sperrklausel noch mit dem Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl vereinbar. Sie genügt der Konzentrationsfunktion, indem sie sehr kleine Parteien vom Parlament ausschließt und damit die Bildung parlamentarischer Mehrheiten erleichtert, die gemeinhin als Grundlage stabiler Regierungen in parlamentarischen Regierungssystemen gelten. Doch fördert dieses Wahlsystem nicht die parlamentarische Mehrheitsbildung rur eine Partei. Die Regierungen stützen sich gewöhnlich auf Koalitionmehrheiten, die nicht künstlich über den Disproportionseffekt des Wahlsystems zustande kommen, sondern die tatsächlich die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinen. Der Partizipationsfunktion genügt die personalisierte Verhältniswahl insofern, als sie Elemente der Personalstimmgebung beinhaltet. Die Wähler wählen immerhin einen Teil der Abgeordneten in Einerwahlkreisen - ohne daß dadurch (abgesehen von den Überhangsmandaten) der jeweilige Mandatsanteil einer Partei verändert wird, der normalerweise auf nationaler Ebene nach Proporz berechnet wird. Die personalisierte Verhältniswahl wird zwar verschiedentlich aufgrund ihrer vermeintlichen Kompliziertheit kritisiert, doch angesichts ihrer Multifunktionalität stellt sie sich noch als vergleichsweise einfach dar.

Die folgende Tabelle vergleicht nochmals zusammenfassend die sechs Wahlsystemtypen hinsichtlich der drei zentralen Funktionsanforderungen Repräsentation, Konzentration und Partizipation. Wie sich zeigt, sind alle Wahlsystemtypen fähig, eine oder zwei der Funktionen zu erfilllen, aber lediglich die personalisierte Verhältniswahl ist in der Lage, allen drei Funktionsanforderungen gleichzeitig gerecht zu werden:

SIesse I Löw

Dieter Nohlen

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Tabelle 1 Die Erfüllung von Funktionsanforderungen in verschiedenen Wahlsystemtypen Wahlsystem Relative Mehrheitswahl Absolute Mehrheitswahl Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen Verhältniswahl in Mehrpersonenwahlkreisen Reine Verhältniswahl Personalisierte Verhältniswahl

Repräsentation

Konzentration

Partizipation

negativ negativ negativ

positiv positiv positiv

positiv positiv positiv

negativ

positiv

negativ·

positiv positiv

negativ positiv

negativ· positiv

• im Falle starrer Listen

Bezeichnenderweise läßt sich in der internationalen Wahlsystementwicklung eine Tendenz erkennen, die weg von extremen, "klassischen" Wahlsystemen filhrt, die vorrangig auf einzelne Funktionen (unter Vernachlässigung anderer) abheben, hin zu kombinierten (personalisierten) Wahlsystemen, die ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Funktionen herzustellen versuchen. Gerade die personalisierte Verhältniswahl, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland angewandt wird, schlägt einen guten Mittelweg zwischen den oben genannten Funktionsanforderungen ein. Sie ist in diesem Sinne zu einem Modellwahlsystem geworden. In einigen Ländern wurde die personalisierte Verhältniswahl im Rahmen von Wahlsytemreformen jüngeren Datums übernommen - so etwa systemgetreu in Neuseeland und mit gewissen Modifikationen in Venezuela und Bolivien lO . In andereren Ländern wurden der personalisierten Verhältniswahl verwandte Wahlsysteme eingefilhrt, wie die kompensatorische Verhältniswahl mit Sperrklausel (Italien) oder auch Grabensysteme, die in der Regel jedoch mit dem Repräsentationsprinzip der Verhältniswahl brechen (z.B. Japan, Mexiko, Rußland)ll. Die große Bandbreite an Kombinationen zwischen der Personenwahl in Einerwahlkreisen einerseits und der listenwahl nach Proporz andererseits ermöglicht es, daß diese Typen von kombinierten Wahlsystemen in Ländern mit sehr unterschiedlichen gesellschaftspoliti10

Vgl. Dieter Nohlen, Sistemas Electorales, in: Ders./Sonia PicadolDaniel Zovatto (Hrsg.), Tratado de Dcrccho Electoral Comparado de Arnerica Latina, Mexico 1997. II

Vgl. dazu die erweiterte und aktualisierte Neuauflage von Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem (Anm. 4), Opladen 1998.

Wahlsysteme im Vergleich

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schen Bedingungen zur Anwendung kommen können. Belegt wird dies durch die "Attraktivität" personalisierter Wahlsysteme im Rahmen jüngster Wahlsystemreformdebatten in ganz unterschiedlichen Teilen der Erde. Die Auswirkungen der personalisierten Verhältniswahl in der Bundesrepublik und der Vergleich mit anderen Wahlsystemen auf der Ebene der Funktionsanforderungen an Wahlsysteme legt den Schluß nahe, daß die Bundesrepublik ein bewahrtes und vergleichsweise gut funktionierendes Wahlsystem ihr eigen nennen kann. Für die Kritik an der bundesdeutschen personalisierten Verhältniswahl ist typisch, daß sie sich in der Regel an einer Funktion festmacht. So wird gerne die Sperrklausel als zu hoch oder zu niedrig (vor allem hinsichtlich der Möglichkeit, die Prozentklausel durch die Direktmandatsklausel zu unterlaufen) eingeschätzt. Oder es wird die mangelnde Prinzipientreue des Wahlsystems kritisiert, etwa im Zusammenhang mit dem massiven Auftreten von Überhangmandaten. Es wird sogar angenommen, die Ausrichtung des Wahlsystems an nur einem Gestaltungsprinzip ließe sich verfassungsgerichtlich erzwingen. Innerhalb des Repräsentationsprinzips Verhältniswahl besitzt die Politik jedoch einen Gestaltungsspielraum, den offenzuhalten fUr die Aufrechterhaltung der personalisierten Verhältniswahl in der Bundesrepublik entscheidend werden könnte. Auch fUr die Bevorzugung anderer Wahlsysteme und deren Propagierung in Deutschland gilt in der Regel, daß eine einzige Funktion als Begründung genannt wird. Ohne Zweifel gibt es Wahlsysteme, die einzelne Funktionen besser erfUllen als die personalisierte Verhältniswahl. Es kommt aber auf die in etwa ausgewogene Berücksichtigung verschiedener Ziele an. Die Vorteile, die Reformalternativen fUr die Bundesrepublik versprechen, werden durch die zumeist nicht bedachten Nachteile solcher Optionen mehr als wettgemacht. Im übrigen liegt eine wesentliche Legitimitätsressource in der Konstanz eines Wahlsystems. Spätestens hier ist noch einmal die obige These einzubringen, daß es kein ideales Wahlsystem gibt. Sie schließt ein, daß auch ein bewahrtes Wahlsystem hin und wieder auf seine Tugenden und Schwächen angesichts sich verändernder Kontingenzen befragt werden muß. Wenn keine außergewöhnlichen Umstände eintreten, sollten sich Reformen des Wahlsystems in der Bundesrepublik im Rahmen des Typs personalisierte Verhältniswahl bewegen, der flexibel genug ist, um möglichen Herausforderungen an die Politik durch die Politik begegnen zu können.

OtmarJung WAHLEN UND ABSTIMMUNGEN IM DRIITEN REICH 1933-1938* J. Einleitung

Was bedeuten schon" Wahlen und Abstimmungen" in einer Diktatur? Bei einer Einheitspartei, die alle Register der Massenbeeinflussung zog? In einem System, das jede entschiedene Äußerung einer anderen Meinung mit Terror bedrohte, das Zehntausende bereits in Lager gesteckt und andere Zehntausende ins Exil getrieben hatte? Was sind "Wahlen" ohne Auswahl, was "Wahlen und Abstimmungen" ohne Freiheit? Dies ist richtig gefragt, und die Antwort kann denn auch - pauschal - nur lauten: nicht viel. Insoweit besteht wohl Einigkeit, und ich bitte doch - leider muß ich das aussprechen - nicht zu argwöhnen, daß Sie jetzt einem Versuch des Revisionismus beiwohnen sollen. Indes wäre über diesen Konsensbereich zu sprechen heute - weit mehr als ein halbes Jahrhundert danach - nicht sonderlich interessant und einer Vereinigung, die den anspruchsvollen Begriff der "Forschung" im Namen filhrt, kaum angemessen. Setzen wir das alles voraus - daß Wahlen und Abstimmungen in einer Diktatur nicht viel bedeuten -, dann lautet die eigentliche und spannende Frage, •

ob es damit sein Bewenden haben kann, ob dies gewissermaßen das letzte Wort ist, oder



ob sich trotz dieser diktatorischen Verzerrung, unbeschadet all des vorhin Konsentierten, aus solchen Wahlen und Abstimmungen wissenschaftlich etwas erkennen läßt.

Die Antwort darauf soll nicht politisch-theoretisch versucht werden, sondern historisch anband der konkreten, empirisch erforsch baren Urnengänge. Dies also ist mein Vorhaben, und ich möchte vorab sagen, daß sich in der Tat ein Erkenntnisgewinn so erreichen läßt, wenngleich vielleicht in unerwarteten Richtungen. • Dieser Beitrag fußt weitgehend auf meiner Studie "Plebiszit und Diktatur" zu den Volksabstimmungen der Nationalsozialisten (1995). Nachweise Uber Zitatbelege hinaus wurden daher nur insoweit aufgenommen, als die Untersuchung vertieft wurde oder der Gedankengang Uber den damaligen Stand hinausgeht.

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Otmar Jung

Der heikle Charakter meines Unterfangens erfordert noch eine thematische Präzisierung. Nicht so sehr bei "Wahlen", als vielmehr bei "Abstimmungen" gibt es einen weiten sozialwissenschaftlichen Begriffsgebrauch, der etwa Parteitage, Haussammlungen und Urnengänge unter dem Terminus des "Plebiszitären" zusammenfaßt; in diesem Sinne prägte dann z. B. Bracher den Schlüsselbegriff eines "Systems der plebiszitären Akklamation" 1 oder schrieb Kershaw von Hitlers "plebiszitärer Macht"2. Der Nutzen eines solchen Begriffsgebrauchs ist jetzt nicht zu erörtern. Ich möchte nur klarstellen, daß ich "Wahlen und Abstimmungen" in einem engeren staatsrechtlichen Sinne verstehe, mich zudem auf reichsweite Akte beschränke und daher lediglich folgende sechs Vorgänge untersuche: die Reichstagswahlen 1933, 1936 und 1938 sowie die Volksabstimmungen 1933, 1934 und 1938. Im November 1933 fanden die Wahl und die Abstimmung gleichzeitig statt, 1938 sogar uno actu. Damit haben wir also nur noch vier historische Ereignisse zu betrachten. 2. Demokratie im NS-Staat - November 1933

Was berechtigt nun zu der Hypothese, die Wahl und die Abstimmung vom 12. November 1933, um mit dem ersten Ereignis zu beginnen, seien von dem Wahlforscher überhaupt ernstzunehmen? Den Nationalsozialismus historisch zu begreifen, heißt vor allem auch, seine Ideologie, sein Herrschaftssystem und seine Unterdrückungspraktiken in der Zeit zu verstehen. Wie das Regime nicht monolithisch war, war es auch nicht statisch. Die Situation des Herbstes 1933 darf nicht mit den Schreckensbildern von 1943 - zehn Jahre später und nach der Verkündung des totalen Krieges - illustriert werden. Die konkrete zeitgeschichtlich-wahlhistorische Untersuchung jenes Ereignisses, gut neun Monate nach der sogenannten "Machtergreifung", zeigt vielmehr ein vielschichtiges Bild. Hervorzuheben ist zunächst, daß das Regime sich peinlich um eine pseudodemokratische Fassade bemühte - natürlich nicht, weil die Nationalsozialisten einen Sinn rur die Werte der Demokratie bewahrt hätten, sondern weil sowohl die Reichstagswahl - nach dem Plan der Machthaber der primäre politische Akt - als auch die als sekundär angesehene Volksabstimmung in erster Linie als Demonstration gegenüber dem Ausland gedacht waren, das man gerade durch das Verlassen der Genfer Abrüstungskonferenz und den Austritt aus dem Völkerbund vor den Kopf gestoßen hatte. Sollte diese - um es ganz deutlich zu

Vgl. Otmar Jung, Plebiszit und Diktatur: die Volksabstimmungen der Nationalsozialisten. Die Falle "Austritt aus dem Völkerbund" (1933), "Staatsoberhaupt" (1934) und "Anschluß Österreichs" (1938), TUbingen 1995, S. 2, 88-91. 2 Vgl. cbd., S. 3.

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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sagen - "Täuschung der Weltöffentlichkeit" irgendeine Aussicht auf Erfolg haben, verlangte dies freilich Zurückhaltung des Diktators und seiner Vollstrekker. Das Regime konnte also nicht schalten und walten, wie es vielleicht gewollt hätte. So böse die Absicht auch immer war, ftlhrte sie doch zum Zugeständnis gewisser Freiräume. Dies sei erst ftlr das formale Arrangement der beiden Urnengänge und dann fUr die konkrete Situation der Bürger gezeigt. Von Freiraum ließ sich nun freilich gerade bei der Reichstagswahl kaum sprechen. Das Wahlsystem war ja absurd. Daß nur Wahlvorschläge einer einzigen Partei eingereicht worden waren, bedeutete wahltechnisch, daß auf den Stimmzetteln nur ein Kreis - neben der Liste der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (Hitlerbewegung)" - zum Kennzeichnen vorgesehen war3. Wer seine Stimme nicht fiir die NSDAP abgab, wählte automatisch ungültig. Die Bürger hatten also, soweit sie sich an dieser "Wahl" beteiligten, zwei Optionen. Anders dagegen bei der Volksabstimmung, die über einen wortreichen Aufruf der Reichsregierung vom 14. Oktober 1933 gehen sollte. Unter dem Aufruf, den man in voller Länge auf den Stimmzettel gesetzt hatte, befanden sich nämlich zwei Kreise ftlr Ja bzw. fUr Nein4; einschließlich der Möglichkeit, den Stimmzettel ungültig zu machen, hatten die Bürger, die an der Abstimmung teilnahmen, mithin drei Verhaltensoptionen. Es gab also kein "Einheitsplebiszit"S, während man in der Tat eine Einheits-"Wahl" durchfUhrte. Doch wie konnten die Bürger mit diesen Optionen umgehen? Gewiß war hinter der erwähnten Fassade die politische Freiheit der Bürger massiv eingeschränkt, wenngleich auch hier zu differenzieren ist: Die politische WiIIensbildung war in einem autoritären Staat mit politischem Monopol einer Partei und umfassender "Gleichschaltung" aller erreichbaren gesellschaftlichen Kräfte schwer beeinträchtigt. Ein politischer Diskurs fand nicht statt. Opposition war illegal, Einwände gegen die Regierungspolitik waren weder zu hören noch zu lesen, Argumentationen fUr das verfahrenstechnisch ja mögliche "Nein" zur Abstimmungsfrage wurden nicht veröffentlicht. Vielmehr wurde mit einem großen Aufwand an Propaganda, die zu einem "Bekenntnis" zur Regierung aufforderte, an den Stolz als "Deutscher" appellierte und Werte wie "Anstand" und "Verantwortung" beschwor, eine kühl-rationale Antwort auf l Ein solcher Stimmzettel ist abgebildet in der "Statistik des Deutschen Reichs" (StatOR) Bd. 449, S. 4; siehe im Anhang Abb. I. • Der Stimmzettel ist wiedergegeben in RGBI. 1933 I, S. 748 und in StatOR Bd. 449, S. 5; siehe im Anhang Abb. 2. S So aber Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M.lBerlinlWien 1973, S. 603; ebenso Hans-Ulrich Thamer, Verfilhrung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986, S. 316.

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die vorgelegte außenpolitische Frage systematisch hintertrieben. Allerdings war diese Geschlossenheit der öffentlichen Meinung nicht nur der Diktatur geschuldet. Daß etwa auch die relativ unabhängige katholische Kirche sich in diese Meinungsfront einfügte, geht auf geschickte Politik zurück. Die Reichsregierung hatte es verstanden, die Sorge der Bischöfe um die Wahrung ihres kirchenpolitischen Besitzstandes auszunutzen, um diese - via Rom - zu Kundgebungen für ein "Ja" bei der Abstimmung zu veranlassen6. So war es vor allem die Linke, die - aus der Illegalität heraus - Widerstand durch Aufklärung leistete 7, ohne freilich die (Ab-) Geschlossenheit des politischen Systems ernsthaft autbrechen zu können. Anders steht es mit der Nötigung zur Abstimmungsbeteiligung, die oft falsch eingeschätzt wird: Es mag zum liberalen Leitbild gehören, daß der Bürger auch berechtigt sein soll, sich nicht um die Politik zu kümmern - ein demokratisches Essential ist die Wahlbeteiligungsfreiheit im Gegensatz zur Wahlentscheidungsfreiheit nicht. Es gibt unzweifelhafte Demokratien, die nicht nur einen faktischgesellschaftlichen Abstimmungszwang praktizieren, wie die Nationalsozialisten es taten, sondern die ihre Bürger von Rechts wegen - und manchmal stratbewehrt! - zur Teilnahme an Wahlen bzw. Abstimmungen verpflichten. Alsdann ist zu vermerken der Einfluß auf die Willensäußerung: Indem die Nationalsozialisten hergebrachte Schutzrechte, wie insbesondere das Abstimmungsgeheimnis, mißachteten, untergruben sie die sozialpsychologischen Voraussetzungen dafür, daß jemand die formal eröffneten anderen Optionen als das offiziell geforderte "Pro NSDAP" bzw. "Ja" - mit "Nein" oder ungültig abzustimmen - auch real wahrnehmen konnte8. 6 Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I: Vorgeschichte und Zeit der l1\usionen 1918-1934, Frankfurt a. M.lBerlin 1977, S. 641-645. Zu Kundgebungen von evangelischer Seite vgl. ebd., S. 699 f. 7 Vgl. über die bisher nachgewiesene Gegenpropaganda hinaus die Texte von Flugblättern und Klebezetteln der Sopade bei BärbeI Hebel-Kunze, SPD und Faschismus. Zur politischen und organisatorischen Entwicklung der SPD 1932-1935, Frankfurt a. M. 1977, S. 242-246; Bemd Stöver, Berichte über die Lage in Deutschland: Die Lagemeldungen der Gruppe Neu Beginnen aus dem Dritten Reich 1933-1936, Bonn 1996, S. 3-6. Für regionale KPD-Aktivitäten und -Propaganda siehe auch: Gestapo OsnabrUck meldet ... Polizei- und Regierungsberichte aus dem Regierungsbezirk OsnabrUck aus den Jahren 1933 bis 1936, bearb. von Gerd Steinwascher, OsnabrUck 1995, S. 423, 426, 428 ff. • Die schwierige Situation angesichts einer solchen "Premiere" in der Diktatur läßt sich gut bei K1empcrer nachvollziehen. Vor dem Urnengang notierte er in sein Tagebuch, daß "niemand" dem Wahlgeheimnis traue (Victor Klempcrer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, hrsg. von Walter Nowojski, Berlin 1995, S. 62 f. [23.10.1933], S. 65 [2.11.1933]). Rückblickend erkannte er den Teufelskreis: Er "glaube nicht, daß man wirklich das [sc. Wahl-] Geheimnis verletzt hat". Das sei auch "unnötig" gewesen, schließlich "genügt es, daß jedermann an den Bruch des Geheimnisses glaubte und also Angst hatte" (ebd., S. 68 (14.11.1933] - Hervorhebung im Original).

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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Schließlich ist an der Korrektheit der Ergebnisfeststellung durch die ausschließlich von Nationalsozialisten gestellten Abstimmungsvorstände, zum al wenn sie intransparent erfolgte, zu zweifeln. Während diese Freiheitsbeeinträchtigungen auf einer allgemeinen Ebene unstreitig sind, ist bei der eigentlich interessanten Frage nach dem konkreten Ausmaß, in dem so eine freie Wahl und Abstimmung erschwert bzw. unmöglich gemacht wurde, manches kontrovers. Methodisch gibt es fUr die Erhärtung dieser Vorwürfe grundsätzlich zwei Möglichkeiten: •

In einem historischen Ansatz können zunächst die erhaltenen Unterlagen insbesondere aus dem Prüfungsverfahren ausgewertet werden, welches das Wahlprüfungsgericht beim Reichstag nach der Wahl bzw. Volksabstimmung durchfUhrte, ferner Behörden- und Parteiakten mit dem Betreff "Reichstagswahl" und "Volksabstimmung", endlich Polizei- und Regierungsberichte sowie Lageberichte der Gestapo und der Justizverwaltung. Als Ergebnis dieses historischen Ansatzes ist zu resümieren, daß massiv Abstimmungsnötigung vorkam, ohne daß sich das Ausmaß näher bestimmen ließe, während eine generelle Fälschung der Ergebnisse von oben "nicht nachzuweisen" ist9 bzw. die einschlägigen Manipulationen sich "in engen Grenzen" hielten lO .



Des weiteren kann man in einem sozusagen inhaltlichen Ansatz das mitgeteilte Zahlenwerk als solches einer Plausibilitätskontrolle unterziehen. Wenn z. B. bei der "Wahl" nach Einheitsliste in Wahlbezirken mit unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung auch die Zahl der ungültigen Stimmen deutlich niedriger lag, sind das "stimmige" Einzelergebnisse. Entsprechend erscheint beim Gesamtergebnis das Zurückbleiben der Wahlstimmen fUr die NSDAP gegenüber den Ja-Stimmen bei der Volksabstimmung als eine glaubhafte Stufung. Ähnlich wird 1934 - um das vorwegzunehmen - der Rückgang der Ja-Stimmen im Vergleich zum Vorjahr gegen eine Totalfälschung sprechen.

Zwischenergebnis: Gewiß ist das Datenmaterial, wie es "technisch" in der "Statistik des Deutschen Reiches" vorliegt, verderbt, aber doch nicht schlechterdings unbrauchbar.

9 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Stufen der Machtergreifung, in: Ders./Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, KölnlOpladen 1960, S. 29-368 (358). 10 Vgl. Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der Pseudo-Volksvertretung 1933-1945, DUsseldorf 1992, S. 273.

74

Otmar Jung

3. Wie liest man Wahl- und Abstimmungsdaten in einer Diktatur?

Wenn in einem diktatorischen politischen System jeweils weit über 90 % der Stimmberechtigten sich an einem Doppel-Umengang beteiligen, entsprechend viele gültig votieren, wovon wiederum weit über 90 % pro Staatspartei bzw. auf "Ja" lauten, kann man dieses Ergebnis natürlich nicht nach den Grundsätzen liberaler Demokratien interpretieren, in denen zumindest in der letzten Phase Ziele knapp über 50 % angepeilt werden. Sinnvoll erscheint dagegen eine Deutung nach dem aus der Rundfunktechnik bekannten Modell der Amplitudenmodulation. Die Durchschnittswerte der Abstimmungsstatistik - ich spreche der Einfachheit halber jetzt nur von dieser werden danach als "Trägerfrequenz" der Diktatur aufgefaßt. Daß 1933 reichsweit z. B. 95,1 % der abgegebenen gültigen Stimmen auf "Ja" lauteten, besagt dann nicht mehr, als daß die nationalsozialistische Diktatur damals auf dieser Frequenz "sendete", daß also ihre spezifische Mischung aus Druck und Lokkung - "Verführung und Gewalt"!! - jenen Wert der Zustimmung hervorgebracht hatte. Eigentlich aussagekräftig ist aber die dieser hochfrequenten Trägerschwingung aufgeprägte Niederfrequenz; gefragt wird mithin, wo einzelne Abstimmungswerte und um wieviel und warum von jenem Durchschnittswert abwichen. Dabei interessiert hier weniger der logischerweise ebenfalls vorhandene Ausschlag nach oben - wenn jeweils 100 % sich beteiligten, gültig stimmten und Ja-Stimmen abgaben -, als vielmehr die Elongation nach unten: Wo und warum haben auch unter den Bedingungen einer Diktatur Bürger in statistisch erheblichem Maße sich der Abstimmungsnötigung entzogen, den Stimmzettel ungültig gemacht oder mit "Nein" gestimmt? Zum "Sprechen" läßt sich das Wahl- bzw. Abstimmungsergebnis daher vor allem in den unteren Wahl- bzw. Stimmkörpern bringen!2. Dazu ist das überlieferte Material bereits vom Statistischen Reichsamt hervorragend aufbereitet; für eine Betrachtung bieten sich die Wahl- bzw. Stimmkreise, die Städte oder untere Verwaltungsbezirke und endlich die Berliner Bezirke an.

11

So der Titel von Thamers Werk (Anm. 5).

Diese Erkenntnisquelle übersieht beispielsweise Bemd Jürgen Wendt, Deutschland 19331945. Das "Dritte Reich". Handbuch zur Geschichte, Hannover 1995, S. 119, der das Thema recht oberflächlich behandelt. 12

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

75

4. Ergebnis der Reichstagswahl und der Volksabstimmung 1933 Tabelle 1

Reich WahlIStimmkreise 34 [Hamburg] 2 [Berlin] 29 [Leipzig] 3 [PotsdamII] Städte (Stadtkreise) Lübeck Bremen Magdeburg Dortmund Aachen Koblenz Münster Berliner Bezirke Wedding Neukölln Prenzlauer Berg Charlottenburg Schöneberg Tempelhof Wilmersdorf

B 89,9

RTW 1933 11 D C 7,9 87,8

13,0 10,8 10,0 7,1

80,1 80,2 85,0 84,0

16,4 14,9 13,0 11,1

78,1 77,4 82,7 79,5

22,1 10,7 10,4 10,1 8,9 3,3 2,1

71,2 83,2 86,9 83,8 85,2 90,9 92,3

21,8 13,5 13,4 12,3 14,4 10,2 7,8

70,9 92,0 85,4 82,4 80,6 85,6 87,1

13,1 12,6 11,7

79,3 79,8 79,8

16,4 17,4 16,5

77,2 77,3 76,9

6,7

81,7

14,0

76,4

6,4 6,3 5,8

83,4 86,3 79,9

4,2 11,9 5,7

77,9 81,0 72,4

A 4,9

VA 1933

A = Nein in % der abgegebenen gültigen Stimmen B = Ja in % der Stimmberechtigten C = Ungültig in % der abgegebenen Stimmen D = Pro NSDAP in % der Stimmberechtigten Quelle: StatOR Bd. 449, S. 8 f., 37, 49, 59, 105 f. und eigene Berechnung.

Bei der Wahl betrug der Satz der "ungültigen" Stimmen im Durchschnitt rur diese Kategorie ungewöhnlich hohe 7,9 %. Da natürlich keine 100%ige Beteili-

76

Otmar Jung

gung erreicht worden war, ergibt sich eine reichsweite Wahlquote pro NSDAP (bezogen auf die Wahlberechtigten) von 87,8 %. Doch nun sehen Sie die kleineren Einheiten an. Hier stieg der Satz der "ungültigen" Stimmen, die ja außer den klassischen Situationen von Unfilhigkeit und Unwillen auch die fehlenden Alternativen "beherbergen" mußten, auf exzessive Höhen an: bis zu 16,4 % bei den Wahlkreisen (34 [Hamburg]), bis zu 17,4 % bei den Berliner' Bezirken (Neukölln), ja bis zu 21,8 % in der Stadt Lübeck. Entsprechend sank die Wahlquote: In den Wahlkreisen Berlin, Hamburg und Potsdam 11 lag diese Quote unter der 80%-Marke und erreichte im Bezirk Wilmersdorf mit 72,4 % und in Lübeck mit 70,9 % Tiefstwerte. Ähnlich die Situation bei der Volksabstimmung. Im Reichsdurchschnitt stimmten 4,9 % der gültig votierenden Bürger mit Nein, die "Ja"-Quote (bezogen auf die Stimmberechtigten) betrug 89,9 %. Aber auch hier gingen in den Durchschnitt Einzelwerte ein von bis zu 13,0 % "Nein" bei den Stimmkreisen (34 [Hamburg]), bis zu 13,1 % im Wedding und 22,1 % in Lübeck. Entsprechend sank die "Ja"-Quote im Stimmkreis Hamburg auf 80, I %, in vier Berliner Bezirken unter die 80%-Marke und betrug in der Stadt Lübeck gerade noch 71,2%. Diese Ergebnisse tragen zwei konventionelle und zwei vielleicht überraschende Interpretationen: •

Daß sich - was ich hier nicht weiter ausfUhren kann - das bekannte StadtLand-Gefiille wiederfmdet und



daß man bei regionaler Betrachtung noch die Silhouette der alten politischen Landschaft der zerschlagenen Republik mit Zentrumshochburgen 13 und traditionell "roten" Stimmkörpern erahnen kann, ist nicht unerwartet.

Freilich stützen beide Befunde - wegen ihrer Plausibilität - die Hypothese eines nicht durchgreifend ("total") gefiilschten Ergebnisses. •

Neu ist dagegen: Die Volksabstimmung war, was schon der Blick auf die Optionen nahe legte, das feinere Instrument geblieben, bzw. die Diktatur hatte es weniger verderbt. Die exzessive Zahl der ungültigen Stimmen bei der "Wahl" - offensichtlich ein Verzerrungseffekt, der auf die AlternativlosSteIlung der nationalsozialistischen Einheitsliste zurückging - normalisierte sich bei der Volksabstimmung, wo jene, die nicht mit "Ja" stimmen wollten, sich technisch zwanglos in Sachgegner ("Nein") und eine echte, in sich heterogene Restgruppe ("Ungültig") scheiden konnten. Mit dieser formellen Er-

IJ Dies gilt vor allem rur die Reichstagswahl, rur welche die Bischöfe ja keine so eindeutige Empfehlung ausgesprochen hatten wie rur die Volksabstimmung.

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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öffnung einer ablehnenden Alternative war das Verfahren der Volksabstimmung aber auch - immer technisch gesehen - vergleichsweise offen und fair. •

Neu - und so peinlich, daß es in der Literatur oft einfach übergangen wird ist schließlich: Mit diesem feineren Instrument, in diesem vergleichsweise offenen und fairen Verfahren, hatten die Nationalsozialisten - und das war ihr eigentlicher Triumph! - bessere Ergebnisse erzielt als - trotz der Einheitsliste - bei den Reichstagswahlen. 39 655 224 Bürger hatten NSDAP gewählt, aber fast eine Million mehr - 40 633 852 - hatten den Austritt aus dem Völkerbund bejaht. Umgekehrt: Von 40 Millionen Bürgern, die bei dieser Sachfrage der Politik der Reichsregierung zustimmten, verstanden sich trotz der Einheitslisten-Zwänge nur 39 Millionen dazu, den Nationalsozialisten durch ihre Wahlstimme pauschal das Vertrauen zu bekunden; eine Million Bürger nutzte die Chance, die ihnen die gleichzeitige Praktizierung zweier verschiedener Verfahren bot, um ihre politischen Präferenzen differenziert auszudrücken.

Gewiß ist diese überwältigende Zustimmung zu der Politik eines Staates, der den Völkerbund eben verlassen hatte, von einem übergeordneten Standpunkt internationaler Zusammenarbeit aus zu beklagen. Man wird gleichwohl zu verstehen suchen, daß sich hier ,jahrelang gehegte Gefühle der Zurücksetzung, des tiefsitzenden Grolls über die zahllosen Querelen, mit deren Hilfe Deutschland diskriminiert und im Status des Besiegten gehalten worden war" 14, Bahn brachen. Wichtig ist aber vor allem, daß das praktizierte Abstimmungsverfahren bei allen Vorbehalten wegen des Drucks und der Manipulation - diese Stimmungstendenz der Öffentlichkeit annähernd zum Ausdruck brachte 15, und man wird hinzufügen müssen: Es ist durchaus eine Reihe anderer Themen denkbar, zu denen die Nationalsozialisten damals ähnlich hohe Zustimmungswerte hätten verbuchen können. Man denke nur, daß der Weimarer Parteienstaat zur Abstimmung gestellt worden wäre ... Die Einheitswahl zum Reichstag war für die Nationalsozialisten ein machttechnischer Erfolg; dieser Sieg in vergleichsweiser fairer Abstimmung war ein Vgl. Fest (Anm. 5), S. 603 f. Besonders schneidend urteilte hierzu die Gruppe Neu Beginnen: Wer das Ergebnis als geflI1scht ansehe oder "die außerordentlich hohe Zahl der in der Abstimmung vom 12. November ftlr das Regime abgegebenen Stimmen" auf unmittelbaren Zwang und Terror zurUckftlhre, irre "über den wirklichen Einbruch faschistischer Ideologien in alle Klassen der deutschen Gesellschaft" bzw. suche gar sich mit diesen "Beruhigungsargumenten über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen"; jedenfalls sei das "keine ernsthafte Rechenschaft über die wirklichen Umgruppierungen in den Tiefen der Gesellschaft". Die Wahlergebnisse entsprächen "im großen und ganzen der wirklichen Stimmung", zumindest in Berlin sei die Wahl selbst "im großen und ganzen korrekt durchgeftlhrt" worden. "Trotz der Unregelmäßigkeiten ist aber das Gesamtresultat verhältnismäßig glaubwürdig; ein Ausdruck der gegenwärtig wirklich erzwungenen Stimmungen" (Stöver Anm. 7], S. 2 f., 6 f.). 14 15

78

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politischer Triumph, und die Nationalsozialisten reagierten darauf denn auch nahezu euphorisch, während ihre Gegner - wie die Sopade rückblickend einräumte - "eine tiefe Depressionswelle zu überwinden hatten"16. Als Hitler bald darauf die Absicht verkündete, "immer wieder von neuem festzustellen, inwieweit sich der Wille der Nation verkörpert in der sie führenden Regierung"17, zeichnete sich gar die Vision eines plebiszitären Führerstaates ab. Wenig später versprach der Diktator, "in Zukunft wenigstens einmal in jedem Jahre dem Volk die Möglichkeit zu geben, sein Urteil über uns zu flillen" 18. Andererseits stellte Hitler um die gleiche Zeit ausdrücklich klar, daß er bei seinen Abstimmungsplänen nichts weniger als ein pluralistisches Verfahren der Entscheidung der Basis zwischen materiellen Alternativen im Sinn hatte. Solange sich die Führung über bestimmte Probleme noch nicht im klaren sei - schärfte er z. B. Anfang Februar 1934 seinen Gauleitern ein -, dürften diese in der Öffentlichkeit nicht einmal diskutiert werden, denn dadurch würde man ja "der Masse des Volkes die Entscheidung zuschieben. Das war der Wahnsinn der Demokratie ... "19 5. Die Volksabstimmung 1934

Die nächste Gelegenheit, um wieder eine Volksabstimmung abzuhalten, ergab sich aus der Sicht des Diktators Anfang August 1934. Nach dem Tod v. Hindenburgs beschloß die Reichsregierung ein Gesetz, demzufolge die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den "Führer und Reichskanzler" übergehen sollten. Obwohl die Machthaber diese Neuregelung des Komplexes

16 Vgl. Deutschland-Bericht (DB) der Sopade I (1934), Neudruck, Frankfurt a. M. 1980, S. 287 [Rinner, 30.8.1934]; entsprechend Stöver (Anm. 7), S. 4 ("In den Gruppen herrscht starke Enttäuschung, Niedergeschlagenheit"), S. 7. Siehe ferner Klemperers (Anm. 8) Reflexionen: "Als nun gestern der Triumph veröffentlicht wurde: 93 Prozent Stimmen rur Hitler! 40 \12 Millionen 'Ja', 2 Millionen 'Nein' - 39 \12 Millionen rur den Reichstag, 3 \12 Millionen 'ungültig' - da war ich niedergeschlagen, da glaubte ich das beinahe auch und hielt es rur Wahrheit. Und seitdem heißt es in allen Tonarten: das Ausland erkennt diese 'Wahl' an, es sieht 'ganz Deutschland' hinter Hitler, es rechnet mit Deutschlands Einigkeit, bewundert sie, wird ihr entgegenkommen etc. etc. Das alles macht mich nun auch besoffen, ich fange auch an, an die Macht und die Dauer Hitlers zu glauben. Es ist gräßlich." (S. 68 f. [14.11.1933] - die Differenz zu dem 1947 veröffentlichten Text - Viktor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947, S. 45 f., zitiert bei Jung (Anm. I), S. 57, Anm. 87 - ließ sich nicht aufldären). 17 Reichskanzler Hitler, Deutscher Reichstag (RT) 30.1.1934, Verh. RT Bd. 458, S. 18 C. 1I Rede vom 24.2.1934, Völkischer Beobachter Nr. 58 vom 27.2.1934. 19 Rede auf der Gauleiter-Tagung in Berlin am 2.2.1934, in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hrsg. von Herbert Michaclis/Ernst Schraepler, Berlin o. J., Bd. 10: Das Dritte Reich - Die Errichtung des Führerstaates. Die Abwendung von dem System der kollektiven Sicherheit, S. 134 f. (135).

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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"Staatsoberhaupt" als verfassungsrechtlich gültig ansahen, wollte Hitler noch einmal das Volk darüber abstimmen lassen20 . Was die Umstände des Abstimmungskampfes angeht, war der Druck auf die Bürger noch stärker geworden. In den folgenden zwei Wochen wurde, wie die Sopade resümierte, ein bis dahin nicht gekannter Propagandaaufwand getrieben21 ; gleichzeitig war der offene Terror, den das Regime anläßlich der Unterdrückung des vorgeblichen "Röhm-Putsches" praktiziert hatte, noch frisch in Erinnerung. Auch Fälschungen des Ergebnisses seien - so wieder die Sopade häufiger vorgekommen als bei irgend einem anderen Urnengang vorher22 . Widerstand durch Aufklärung war nun noch schwieriger geworden, wurde aber vor allem von Kommunisten wie Sozialdemokraten23 durchaus geleistet. "Natürlich" erbrachte auch diese Volksabstimmung insgesamt eine überwältigende Zustimmung zu der vorgelegten Frage. 89,9 % der abgegebenen gültigen Stimmen lauteten auf "Ja". Von 45552059 Stimmberechtigten hatten 38394848, gleich 84,3 %, ihre Zustimmung erklärt. Doch wiederum zeigen die einzelnen Stimmkörper, was in der durchschnittlichen Nein-Quote von 10,1 % verrechnet wurde: Auf Stimmkreisebene 20,4 % Nein in Hamburg, 18,5 in Berlin und 18,2 in Köln-Aachen; 20,6 % Nein in der Stadt Lübeck und sogar 28,3 % Nein im Stadtkreis Aachen. Die absolute Zustimmung lag in nicht weniger als sechs Stimmkreisen unter 80 % und war in den bürgerlichen Berliner

20 Auf die schwierigen Rechtsfragen, die dieses Vorgehen sowohl mit Blick auf das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 als auch hinsichtlich des von den Nationalsozialisten selbst erlassenen Gesetzes über Volksabstimmung vom Juli 1933 aufwarf, kann hier nur hingewiesen werden. Der Stimmzettel ist wiedergegeben in RGBI. 1934 I, S. 758 und in StatOR Bd. 449, S. 6; siehe im Anhang Abb. 3. 21 Vgl. DB I (1934), S. 275 [ein Berichterstatter aus Bayern, 30.8.1934]. Klemperer (Anm. 8) in Dresden notierte besonders die Dynamik: "Mir fiel das kurze Trommelfeuer der Propaganda auf. Sie setzte erst ganz wenige Tage vor dem 19. ein, dann aber mit einer Raserei der Fahnen, Aufrufe, Radioansprachen.lmmer spekuliert man auf Dummheit und Primitivität. Das Volk läßt das Gestern übertäuben, die Röhmrevolte, den DolIfußrnord usw. usw. Solche Narkose kann man nur unmittelbar vor der Operation einleiten." (S. 138 [21.8.1934]). 22 Vgl. DB I (1934), S. 357 [Rinner, 7.9.1934]; ferner Stöver (Anm. 7), S. 237. 23 Vgl. über die .bisher nachgewiesene Gegenpropaganda hinaus die Texte von Flugblättern sowie Flug- und Klebezetteln (vor allem) der Sopade bei Hebel-Kunze (Anm. 7), S. 248-252. Nachweise einschlägigen Materials auch in: Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933-1940, bearb. von Marlis Buchholz/Bemd Rother, Bonn 1995, S. 61, Anm. I. Dieses Propagandamaterial erschien in relativ hoher Auflage: Der SAI meldete die Sopade, sie habe zu den Urnengängen im November 1933 und August 1934 (sowie nach dem sogenannten Röhmputsch) insgesamt ca. 400 000 Stück Streu- und Klebezettel verbreitet (ebd., S. 470). Zur Proportionierung sei erwähnt, daß die SPD im Wahljahr 1930 allein Klebezettel in einer Auflage von 4 500 000 Stück herausgab, dazu Plakate, Flugblätter und Broschüren ebenfalls in Millionenauflagen, vgl. Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie 5 (1930), S. 218 ff. - Für regionales KPDMaterial vgl. Gestapo OsnabrUck meldet ... (Anm. 7), S. 88, 128.

80

Otmar]ung

Bezirken Charlottenburg und Wilmersdorf auf 69,6 bzw. 68,8 % gesackt; im Stadtkreis Aachen gab es sogar nur 65,7 % Zustimmung24 . Tabelle 2 VA 1934

VA 1933 Reich Stimmkreise 34 [Hamburg) 2 [Berlin) 20 [KölnAachen) 17 [WestfalenNord) 3 [Potsdam 11) 29 [Leipzig) 14 [Weser-Ems) 21 [KoblenzTrier) Städte (Stadtkreise) Aachen Lübeck Bremen Koln Münster Trier Frankfurt a. M. Dortmund Koblenz Hannover Magdeburg Breslau Berliner Bezirke Wedding Prenzlauer Berg Neukölln Wilmersdorf Charlonenburg

A 4,9

B 89,9

A 10,1

B 84,3

13,0 10,8 5,6

80,1 80,2 88,1

20,4 18,5 18,2

72,6 72,1 75,9

5,6

89,1

15,8

77,6

7,1 10,0 6,6 2,3

84,0 85,0 87,5 93,4

15,6 14,9 13,6 12,5

74,9 80,3 79,3 82,0

8,9 22,1 10,7 6,4 2,1 1,9 4,9 10,1 3,3 8,2 10,4 6,3

85,2 71,2 83,2 85,9 92,3 93,7 88,1 83,8 90,9 86,2 86,9 84,1

28,3 20,6 19,9 19,8 18,2 17,2 16,6 16,4 16,4 16,3 16,0 15,7

65,7 73,0 72,2 74,2 73,7 75,7 76,5 77,0 77,5 77,8 78,3 73,8

13,1 11,7 12,6 5,8 6,7

79,3 79,8 79,8 79,9 81,7

19,7 19,5 19,5 17, I 17,1

71,7 71,9 72,0 68,8 69,6

A = Nein in % der abgegebenen gültigen Stimmen B = Ja in % der Stimmberechtigten Quelle: StatOR Bd. 449, S. 8 f., 31, 37, 49, 52, 55, 59, 63, 65-68, 105 f. und eigene Berechnung. 24 Auf der Mikroebene sollen sich die Nein-Stimmen bis auf 53 % gesteigert haben (vgl. Gestapo OsnabrUck meldet ... (Anm. 7), S. 86). Das "schlechteste" Ergebnis im Landkreis OsnabrUck war in Hollage zu verzeichnen: 321 Ja-, 394 Nein-, 61 ungültige Stimmen (ebd., S. 100, Anm. 2), was bei korrekter Betrachtung nur der gültigen Stimmen eine Ablehnungsquote von 55,1 % bedeutete.

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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Am bemerkenswertesten aber ist, daß im Vergleich zur Volksabstimmung vom November 1933 nun praktisch alle Werte schlechter geworden waren. Die "Trägerfrequenz" des Regimes - um wieder das rundfunktechnische Bild zu bemühen - war gesunken. Statt 95,1 % im Vorjahr lauteten 1934 nur noch 89,9 % der abgegebenen gültigen Stimmen auf "Ja", statt 89,9 % stimmten jetzt nur noch 84,3 % der Stimmberechtigten der Abstimmungsfrage zu. Auch die Amplituden waren vergleichsweise stärker moduliert. Um 12,6 Prozentpunkte stieg der Anteil der klar sachoppositionellen Nein-Stimmen im Stimmkreis Köln-Aachen (von 5,6 % auf 18,2 %) und um je 10,2 Prozentpunkte in den Stimmkreisen Westfalen Nord (von 5,6 % und 15,8 %) bzw. Koblenz-Trier (von 2,3 % auf 12,5 %) - um nur einige alte Zentrumshochburgen 25 aus den mannigfach möglichen Belegen herauszugreifen. Die Nationalsozialisten reagierten doppelzüngig. Nach außen hin wurde das Ergebnis der Volksabstimmung im gewohnten triumphalistischen Stil gefeiert. "Die Einheit von Staat und Bewegung", schwärmte Hitler anderntags in einer Proklamation an das deutsche Volk, sei "vor der ganzen Welt" "dokumentier(t)" worden 26 . Intern aber sprach etwa Goebbels unverblümt von einem "Mißerfolg". Vor allem das Berliner Ergebnis sei "sehr schlecht"27. Diese Beurteilung mag nicht sofort einleuchten bei einer Zustimmungsquote von immerhin 84,3 % im Reich bzw. 74,2 % in der Stadt Berlin. Aber "Traumwerte" darin zu sehen, hieße eben noch liberal denken, während die Nationalsozialisten nach anderthalb Jahren ihrer Revolution von ganz anderen Werten des totalen Konsenses den famosen 99 %! - träumten. Goebbels selbst hatte am 13. August bei einem großen Appell im Neuköllner Stadion selbstsicher einen konkreten Vergleich gewagt: "Der 19. August muß der Welt ein gleiches Beispiel deutscher Geschlossenheit und Einheit geben wie der 12. November des vergangenen Jahres; denn es gilt, die Welt davon zu überzeugen, daß das nationalsozialistische Regime fest und unerschütterlich steht und daß alle Hoffnungen auf seinen Zusammenbruch Fehlspekulationen sind." Es komme auf jede Stimme an. "Wir

2' Dies hing gewiß auch damit zusammen, daß die Kirchen sich nun zurUckgehaiten hatten, vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Bannen und Rom, Berlin 1985, S. 267. Speziell zu Westfalen Nord vgl. Christoph Kösters, Katholische Verbände und modeme Gesellschaft. Organisationsgeschichte und Vereinskultur im Bistum Mün-ster 1918 bis 1945, Paderborn 1995, S. 302 f. 26 Proklamation Hitlers vom 20.8.1934, zitiert nach Amold Köttgen: Vom Deutschen Staatsleben (vom I. Januar 1934 bis zum 30. September 1937), in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart 24 (1937), S. 1-165 (80). 17 Vgl. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Samtliche Fragmente, hrsg. von Elke Fröhlich, T. I: Aufzeichnungen 1924-1941, Bd. 2: 1931-1936, München 1987, S. 475 [22.8.1934, betr.: 20.8.1934]. 6 Jessc I Löw

Otrnar Jung

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brauchten der Wahl vom 12. November gegenüber auch nur ein e Stimme zu verlieren", und schon würde das Ausland darüber triumphieren 28 . Mit dieser Parole hatte der oberste Propagandachef nicht nur einen politischen Fehler gemacht. Vielmehr erwies sich angesichts des realen Ergebnisses die grundsätzliche Unfiihigkeit der Machthaber, auch nur mit Resten eigenen Willens bei den Bürgern umzugehen. Daß es Volksgenossen gab, die noch nicht überzeugt waren und erst weiterer "Bearbeitung" bedurften, akzeptierte ihr geschlossenes Denken durchaus. In Schwierigkeiten aber geriet ihre Dogmatik kontinuierlichen Fortschritts, wenn schon einmal Gewonnene sich wieder abwandten. Gerade Hitler hatte mit Liebe an dem Bild gearbeitet, daß den machtvollen 40 Millionen, die sich 1933 vertrauend zum nationalsozialistischen Staat bekannt hätten, nur "eine kleine negative Welt gegenüber(stUnde)": Kommunisten, bürgerliche Intellektuelle, Monarchisten und völkische Ideologen 29 . Wie waren dann jetzt die weit über zwei Millionen "verlorener" Ja-Stimmen zu erklären?30 Im Grunde scheiterte das Regime am Verfahren: Die AlternativensteIlung Ja oder Nein mußte doch geradezu, solange noch irgendein StUck Freiheit der Entscheidung bestand, bei verschiedenen Anlässen zu unterschiedlichen Ergebnissen ruhren und widersprach damit prinzipiell dem Ansatz einer formierten Gesellschaft, die Geschlossenheit, Treue und Unbeirrbarkeit auf ihr Panier geschrieben hatte. Genau umgekehrt reagierte die demokratische Linke. Gewiß hatten die Gegner der Nationalsozialisten wieder eine Niederlage einstecken müssen, aber die Senkung der "Trägerfrequenz" wurde durchaus "als beachtlicher Erfolg im Kampfe gegen das Regime gebucht"31. Man "hat das Geruhl: der Bann ist gebrochen", pointierten kritische Beobachter32 , und ihre Konsequenz aus der Zunahme offener Ablehnung - dem wachsenden "Mut zum 'Nein'" - spiegelte die Geftlhle der Machthaber: "Man wird das Experiment einer Wahl (sc. Volksabstimmung) nicht mehr oft wiederholen dürfen"33.

Wortlaut der Rede in: Der Tag Nr. 194 vom 15.8.1934 (Sperrung in der Vorlage). Vgl. Reichskanzler Hitler, RT 30.1.1934, Verh. RT Bd. 458, S. 13C-14A. 30 Für die Mikroebene hatten zumindest die unteren Überwachungsbehörden dabei allerdings keine Schwierigkeiten; im Fall des Landkreises Osnabrtlck wurde das schlechte Abschneiden auf die Kirchen- bzw. Wirtschaftspolitik zurtlckgefilhrt, welche die katholischen Bauern der Gegend verärgert hätten (vgl. Gestapo Osnabrtlck meldet ... [Anm. 7], S. 98 ff.). 31 Vgl. OB 1 (1934), S. 287 [Rinner, 30.8.1934]. 21

29

32 Vgl. ebd., S. 289 [ein Berichterstatter aus Sachsen, 30.8.1934]; vgl. Stöver (Anm. 7), S. 232: "Die Opposition überhaupt filhlt sich etwas freier." II Vgl. OB 1 (1934), S. 289 [ein Berichterstatter aus Bayern, 30.8.1934].

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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6. Exkurs: Nein-Stimmen bei Volksabstimmungen als Widerstand?

AuffiUligerweise wird die Volksabstimmung vom 19. August kaum im Zusammenhang des deutschen Widerstandes erwähnt, obwohl es alle Kriterien neuerer Widerstandsdefinitionen erfüllt, wenn im Sommer 1934, gut anderthalb Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und angesichts der überwältigenden diktatorischen Umstände, 10,1 % der Abstimmenden - in absoluten Zahlen: 4,3 Millionen Bürger - es wagten, in einer Hitler höchstpersönlich treffenden Frage mit "Nein" zu stimmen. Als Ursache dieses eigenartigen Befundes liegt der gruppen-, organisations- oder parteiorientierte (um nicht zu sagen: -fixierte) Ansatz der Widerstandsforschung zutage. Ein politisches Verhalten, das nicht in das Schema von Widerstand der christlichen Kirchen / Arbeiterwiderstand / nationalkonservativen Widerstand, Frauen im Widerstand etc. paßt, sondern diese Kategorien übergreift bzw. quer zu ihnen liegt, trifft offenbar auf einen blinden Fleck im Forscherauge. Eine Kenntnisnahme des realen Umfangs und der politischen Qualität34 des Widerstehens, das sich in dem millionenfachen "Nein" bei den Volksabstimmungen 1933 und vor allem 1934 ausdrückte, ist daher überfällig. Sie erscheint auch geeignet, die gängige These vom "Widerstand ohne Volk" jedenfalls für die beiden ersten Jahre des Regimes zu erschüttern. 7. Die Reichstagswahl 1936

Nach dem Mißerfolg 1934 wurde die Volksabstimmung faktisch abgeschafft. Diese These widerspricht zwar sowohl den bekundeten Absichten des Regimes als auch der herrschenden Meinung in der Literatur. Indes gibt es gute Gründe dafür. Der wichtigste: Es fand in den folgenden Jahren einfach keine Volksabstimmung mehr statt. Aufschlußreich ist insbesondere der außenpolitische Paradefall von 1936: Am 7. März ließ Hitler den anderen Signatarmächten mitteilen, daß Deutschland sich an den Locamo-Vertrag nicht mehr gebunden filhle, und befahl den Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes. Gleichzeitig unterbreitete er vor dem Reichstag Vorschläge in sieben Punkten filr "die Aufrichtung eines Systems der europäischen Friedens-

34 Klemperer (Anm. 8) seinerzeit hatte daftlr ein GespIIr: "Die 5 Millionen Nein und Ungilltig am 19. August gegen 38 Millionen Ja bedeuten ethisch sehr viel mehr als nur ein Neuntel des Ganzen. Es hat Mut und Besinnung dazu gehört. Man hat alle Wähler eingeschllchtert und betrunken mit Phrasen und Festlärm gemacht. Ein Drittel hat aus Angst, eines aus Betrunkenheit, eines aus Angst und Betrunkenheit ja gesagt. Eva und ich haben ihr Nein auch nur aus einer gewissen Verzweiflung und nicht ohne Furcht angekreuzt." Auch wenn Hitler "unumschrln1cter Sieger" sei, habe er eine "moralische[n] Niederlage" erlitten. (S. 137 f. [21.8.1934]).

6*

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sicherung"35. Hitler empfand an diesem Wendepunkt der auswärtigen Politik durchaus, daß das Volk selbst Gelegenheit haben solle, sich zu der damit abgeschlossenen Politikphase und den neuen Grundsätzen und Zielen zu erklären am besten natürlich: "seine feierliche Zustimmung (zu) erteilen"36. Doch anstatt eine Volksabstimmung anzusetzen, löste Hitler den Reichstag auf und setzte Neuwahlen an. Der "Abstieg" war unverkennbar. 1933 hatten die Nationalsozialisten eine Volksabstimmung mit JalNein-Alternativlogik gewagt und über die gleichzeitige Reichstagswahl eine Differenzierung zwischen pauschaler Vertrauenserklärung an das Regime und punktueller Bestätigung eines Sachprogramms ermöglicht. Jetzt wurde jedes Nein-Risiko peinlich vermieden und statt dessen - wenig witzig - ein Einparteienparlament durch das nächste ersetzt. 1933 hatte Hitler Mut gezeigt und war jedenfalls bei der außenpolitischen Abstimmung triumphal bestätigt worden. Nun, 1936, suchte man durch die Konzentration der Wahlagitation auf außenpolitische Parolen der Reichstagswahl den politischen Charakter einer Volksabstimmung "zuzuschreiben"37 - verglichen mit einer echten Volksabstimmung mit JalNein-Alternative eine Politik des Als-ob, die gerade außenpolitisch nie den Eindruck der vergleichsweise fairen Volksabstimmung von 1933 machen konnte. Wenn man den Stimmzettel mit dem einen Wahlvorschlag der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" und dem einen Kreis daneben betrachtet38 , den man kennzeichnen konnte - andernfalls man ungültig wählte -, muten Goebbels' Jubelnotizen in seinem Tagebuch über das 98,8%-Ergebnis dieser "Wahl" ("Triumph über Triumph ... So hatten wir das in unseren kühnsten Träumen nicht erhofft"39) doch als grandiose Selbsttäuschung an. Im Vergleich mit der Reichstagswahl1933 11 zeigt sich eine deutliche Nivellierung. Nach beiden gewählten Maßstäben - der Prozentzahl der abgegebenen ungültigen Stimmen bzw. der Wahlquote (Stimmen pro NSDAP in % der Stimmberechtigten) - war zumindest die ausdrückliche Opposition stark zurückgegangen40 . Zwar waren durchaus noch Strukturen vorhanden, daß etwa auch jetzt der Prozentsatz der ungültigen Stimmen im Wedding doppelt so hoch H Vgl. das Memorandum der Reichsregierung, verlesen RT 7.3.1936, Verh. RT Bd. 458, S. 73A-74D, und Reichskanzler Hitler, ebd., S. 74D. J6 Vgl. Verordnung des FUhrers und Reichskanzlers Uber die Auflösung und Neuwahl des Reichstages vom 7.3.1936, RGBI. I S. 133. 37 Vgl. Hubert (Anm. 10), S. 129.

Ein solcher Stimmzettel ist abgebildet in StatOR Bd. 497, S. 3; siehe im Anhang Abb. 4. Goebbels (Anm. 27), S. 594 [31.3.1936, betr.: 29.3.1936]; unkritisch dazu Heinz Höhne, "Gebt mir vier Jahre Zeit". Hitler und die Anfllnge des Dritten Reiches, Berlin u. a. 1996, S. 424. 40 Diese Würdigung versperrt sich Wendt (Anm. 12) mit der lockeren Formulierung von "den schon Ublichen" 99 % (S. 407 f.). 31 39

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war wie im Reichsdurchschnitt, aber bei rigoros gedrückten Elongationen erscheint die Aussagekraft des Amplituden-Modells ziemlich beeinträchtigt.

Tabelle 3

Reich Wahlkreise 34 [Hamburg] 2 [Berlin]41 29 [Leipzig] 3 [PotsdamII] Städte (Stadtkreise) Lübeck Bremen Magdeburg Dortmund Aachen Koblenz Münster Berliner Bezirke Wedding Neukölln Prenzlauer Berg Charlottenburg Schöneberg Tempelhof Wilmersdorf

RTW 1933 II C D 7,9 87,8

C 1,2

RTW 1936

16,4 14,9 13,0 1I,1

78,1 77,4 82,7 79,5

4,1 /,7 2,6 /,6

94,0 96,7 96,0 96,4

21,8 13,5 13,4 12,3 14,4 10,2 7,8

70,9 92,0 85,4 82,4 80,6 85,6 87,1

1,7 2,2 2,3 1,7 1,9 0,8 1,4

97,4 95,1 96,2 95,9 97,7 99,1 96,6

16,4 17,4 16,5

77,2 77,3 76,9

2,4 1,8 2,0

95,7 98,0 95,7

14,0

76,4

1,8

95,3

4,2 11,9 5,7

77,9 81,0 72,4

1,8 1,1 1,3

95,4 97,9 96,3

D 97,8

C = Ungültig in % der abgegebenen Stimmen D = Pro NSDAP in % der Stimmberechtigten Quelle: StatDR Bd. 449, S. 8, 37, 49, 55, 59, 66 f., 105 f., Bd. 497, S. 7, 32, 36, 38, 40, 42, 51 und eigene Berechnung.

41 Die kursiv gesetzten Zahlen sind nur eingeschränkt vergleichbar, da die Nationalsozialisten die Wahlkreise in teilung verändert hatten. Die bisherigen Wahlkreise 2 [Berlin ] und 3 [Potsdam 11] waren nun neu zugeschnitten als 3 [Berlin Ost] und 2 [Berlin West). Eine nähere Aufschlüsselung lohnt nicht.

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Etwas mehr Relief zeigt sich, wenn man die unteren Verwaltungsbezirke betrachtet. Hier stieg der Prozentsatz der ungültigen Stimmen bis auf 5,0 % (Stkr. Wandsbek) und sank die Wahlquote der NSDAP bis auf 91,6 % der Stimmberechtigten (Stkr. Emden).

Tabelle 4 Untere Verwaltungsbezirke Stkr. Wandsbek Stadt Meerane Stkr. Neumünster Kr. Offenbach a. M. Stadt Hamburg Stkr. Emden Stkr. Hindenburg O. S. Stkr. Weißenfels A.-Bez. Freiburg

c

D 92,8 93,6 93,4 94,2 93,7 91,6 92,0 94,8 94,7

5,0 4,7 4,5 4,5 4,3 4,2 4,1 4,1 4,0

C = Ungültig in % der abgegebenen Stimmen D = Pro NSDAP in % der Stimmberechtigten Quelle: StatDR Bd. 497, S. 35-38, 48, 50 f. und eigene Berechnung.

Über diesen kleinen, z. T. winzigen, Prozentsätzen sei nicht vergessen, daß sich dahinter sehr viele Personen verbergen mochten. Es waren in den Großstädten eben nicht einige wenige, sondern viele Tausende, die auch jetzt noch immer noch - nicht "mitmachten", jeweils über zehntausend in Leipzig, Dresden, Breslau und Frankfurt a. M., 35816 Bürger allein in Hamburg und 52 470 in Berlin.

Tabelle 5 Großstädte Stadt Berlin Stadt Hamburg Stadt Leipzig Stadt Dresden Stkr. Breslau Stkr. Frankfurt a. M. Quelle: StatOR Bd. 497, S. 32, 34, 41, 47,51.

Ungültige Stimmen (absolut) 52470 35816 15611 14658 13 844 10 742

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Gab es hier noch Gemeinschaft, wenngleich in der kleinen Minderheit, so seien darüber die statistisch-quantitativ belanglosen, aber menschlich tragischen Fälle nicht übersehen, wo unter Tausenden buchstäblich noch ein einziger "Gerechter" gegen die nationalsozialistische Liste zu stimmen wagte (so geschehen im Kr. Hofgeismar, in der Stadt Dinkelsbühl und im B. A. ZweibrUcken42 ). Mancherorts endlich war - den Zahlen nach - die "Volksgemeinschaft" zur Vollendung gelangt, wenn sich in braunschweigischen bzw. hessischen Kreisen (Kr. Helmstedt, Kr. Rotenburg i. Hess.-Nass., Kr. Schlüchtem43 ), aber auch in der fränkischen Stadt Forchheim 44 , 100 % der Stimmberechtigten an der Wahl beteiligten und ebenfalls 100 % fllr die Einheitsliste stimmten, wobei allerdings an der Realitätshaltigkeit des hier prätendierten geschlossenen politischen Verhaltens von - im ersten Falle - über fllnfzigtausend Menschen Zweifel anzumelden sind. Was war geschehen? "Verfllhrung und Gewalt" hatten offenbar einen Kulminationspunkt erreicht. Daß das Reich die sogenannte Wehrhoheit auch über die linksrheinischen Gebiete wieder erlangen sollte, war fllr die meisten Deutschen damals ein selbstverständliches nationales Zie1 45 , und es bedurfte schon eines hoch entwickelten Rechtsempfindens bzw. Sinnes fllr Außenpolitik, um wider die allgemeine Befllrwortung ein prinzipielles "So nicht" zu setzen 46 . Dagegen und auch gegen die aufkommende Kriegsangst47 griffen freilich die Herrschaftstechniken des Regimes voll: ein wahrer "Hexensabbat" von Propaganda und die allgegenwärtige Angst vor Kontrolle, speziell, wie politisch "Verdächtige" gewählt hätten. Schließlich wurde die - nichtöffentliche - Ergebnisfeststellung auch formal willkürlich gehandhabt, indem man etwa leere Stimmzettel als Pro-NSDAP-Stimmen wertete. Zugrunde lag dem eine (unverVgl. StatOR Bd. 497, S. 41, 45, 47. Vgl. ebd., S. 39,41. 44 Vgl. ebd., S. 45. 4S Vgl. die Argumentation in den verschiedenen Erklärungen bzw. Erklärungsentwürfen aus dem katholischen Episkopat in: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945, Bd. IIl: 1935-1936, bearb. von Bemhard Stasiewski, Mainz 1979, S. 299-304. Beispiele entsprechender Motivation von der anderen Seite in: OB 3 (1936), S. 452 . ... Ein solches sicheres Urteil besaß etwa der religiöse Schriftsteller Jochen Klepper, der in Berlin in sein Tagebuch notierte: "Die politische Hektik dieser Tage ist quälend und bitter. Deutschland ist nur noch bestimmt durch Lautsprecher, marschierende Kolonnen, Fahnen. In diesem unglücklichen Lande Fahnen, immerzu Fahnen. Warum heißt es am Sonntag noch 'Wahl'? Warum muß die gewissenquälende Verknüpfung, die unheilvolle, von außenpolitischer Abstimmung und Pauschal-Anerkennung dieser Regierung sein? Das ist nicht eine von vielen Regierungen, der man mit Parlamentarismus, Individualismus begegnet. Das Nein reicht tiefer. Es ist das Nein gegenüber der Hybris. Nicht Frankreich -, Gott ist der Partner, um den es geht." Vgl. Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942, hrsg. von Hildegard Klepper (Redaktion: Benno Mascher), Stuttgart 1956, S. 342 [23.3.1936]. 47 Vgl. OB 3 (1936), S. 460-469. 42 43

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öffentlichte) Anweisung des Reichsinnenministeriums, die nur als Anleitung zur amtlichen Fälschung des Wahlergebnisses bezeichnet werden kann 48 . Daß auch jetzt noch Gegenpropaganda vorkam 49, sei ehrenhalber erwähnt. Über die Anteile von "Verfiihrung" bzw. "Gewalt" am Endergebnis läßt sich nichts Gewisses sagen. Festhaltenswert erscheint, daß selbst die kritischen Berichterstatter der Sopade den Nationalsozialisten "echte" 60-70 %50, ja sogar 75 bis 85 %51 Pro-Stimmen zutrauten. Auf diesem Hintergrund hätte Hitler mit den 98,8 % der abgegebenen Stimmen, die - angeblich - "fiir die Liste und damit für den Führer" abgegeben wurden, "zuviel gesiegt"52. Daß dieses Vorgehen kontraproduktiv war, weil sich "große Teile der Bevölkerung ... über den zu offensichtlichen Schwindel der 99 % direkt geschämt", hingegen die wackeren Antifaschisten sich "über die viel zu plumpe Art der Fälschung sehr gefreut" hätten 53 , war wohl eher Wunsch als Wirklichkeit. Realistischer erscheint das Eingeständnis, daß bei den bewußt Oppositionellen der Ausgang der Wahl, ungeachtet aller Kritikfähigkeit, wieder einmal "große Depression" hervorrief5 4.

8. Die Volksabstimmung und Reichstagswahl1938 Die Praxis 1933 und 1936 hatte gezeigt, daß die Diktatur ihre "Wahlen" über alle sonstigen Verzerrungen hinaus - von der Periodizität gelöst hatte, die für demokratische Wahlen essentiell ist. Eine Reichstagswahl wurde vielmehr verfllischend - ebenso situativ angesetzt wie eine Volksabstimmung, für die das normal ist. Die nächste "Situation" kam für das Regime mit dem überraschend gelungenen und in vieler Hinsicht improvisierten "Anschluß" Österreichs. Ursprünglich 41 Vgl. Hubert (Anm. 10), S. 270 f.; siehe die entsprechenden Klagen in den Sopade-Berichten: DB 3 (1936), S. 281-300, 314-320, 398-460, 469-478. - Anders noch Klemperers (Anm. 8) Prognose: "Es wird ein ungeheurer Triumph der Regierung. Sie erhält Abermillionen Stimmen rur 'die Freiheit und den Frieden'. Sie braucht keine Stimme zu flIlschen. Die Innenpolitik ist vergessen." (S. 251 [23.3.1936]). 49 Z. B. hektographierte Wahlzettel in Oberschlesien (vgl. DB 3 [1936], S. 410 f.), SopadeAufruf in Westsachsen (ebd., S. 418), KPD-Propaganda im Vogtland (S. 422), KPD-Flugblätter in Berlin (S. 454); kommunistische "Hetzschriften" in Osnabrtlck (vgl. Gestapo Osnabrtlck meldet ... [Anm. 7], S. 354). Ferner Stöver (Anm. 7), S. 723. 50 Vgl. DB 3 (1936), S. 408 (Bericht aus Breslau); entsprechend S. 411 (Bericht aus Niederschlesien): 60-65%. 51 Vgl. DB 3 (1936), S. 450 (Bericht aus Berlin). 52 So Erich Rinner, in: DB 3 (1936), S. 407. 53 Vgl. DB 3 (1936), S. 316 (Bericht aus Berlin); entsprechend S. 474 (Bericht aus Sachsen). 54 Vgl. DB 3 (1936), S. 428 (Bericht aus SUdbayern); entsprechend S. 455 (Bericht aus Berlin).

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plante Ritler in der Tat, nach dem Muster der Rheinlandbesetzung zwei Jahre zuvor zu taktieren, d. h. als - dünnen - legitimatorischen Paravent das Einparteienparlament per Neu-"Wahl" durch das nächste zu ersetzen. Das Konzept einer Volksabstimmung wurde ihm von außen vorgegeben - Kanzler v. Schuschniggs österreichische Volksbefragungsidee -, Hitler griff es nur auf, um sich gegenüber den westlichen Demokratien angesichts seines Bruchs des Völkervertragsrechts abzusichern; erst durch ein Territorialplebiszit in Österreich, welches das Anschlußverbot des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye mißachten, dann durch ein Territorialplebiszit auch im "Altreich" , das sich über die entsprechende Verpflichtung aus dem Versailler Vertrag hinwegsetzen wollte. Diese Abstimmung stand also weniger in der staatsrechtlichen Tradition von Volksentscheid bzw. Volksabstimmung als vielmehr der völkerrechtlichen Territorialplebiszite von Oberschlesien 1920 bis zur Saar 1935. Damit widerlegt das "Anschluß"-Plebiszit auch nicht die These von der faktischen Abschaffung der Volksabstimmung. Der "Nachzügler" von 1938 stellt einen Sonderfall dar. Praktiziert wurde im Ergebnis die hybride Form einer Volksabstimmung und einer Reichstagswahl uno actu. Gefragt wurde der bewußt - wie immer - pseudovertraulich "geduzte" Bürger: "Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?"55 Weil nun das Volksabstimmungs-Verfahren dominierte, in das die Reichstagswahl verfahrensmäßig "eingebaut" war, gab es - im Unterschied zu 1936 - für die Bürger mit "Ja", "Nein" und "Ungültig" jetzt wieder drei Verhaltensoptionen an den Urnen. Davor wirkte die typische "Verftihrung-und-Gewalt"-Kombination auf die Bevölkerung ein. Bei dem sogenannten Anschluß handelte es sich nun einmal aus nationaler Perspektive - um eine Frage, auf welche die Aufgerufenen, wie die österreich ischen Bischöfe feierlich erklärten, das "Ja" "ihrem Volke schuldig" waren 56 , freilich gekoppelt an die Wahl einer einzigen Liste und damit wie der Schriftsteller Jochen Klepper in sein Tagebuch notierte - "mit einer Frage, die man vor Volk, Welt,. Kirche, Gott verneinen muß"57. Dazu erreichte der Druck seinen endgültigen Höhepunkt. Nötigung zur Beteiligung, Bruch des Abstimmungsgeheimnisses und Abstimmungsfälschung kamen in besonders großem Umfang vor, ohne daß freilich das Ergebnis insgesamt als gefälscht

55 Der Stimmzettel ist abgebildet in RGBI. I S. 303 und in StatDR Bd. 531, S. 3; siehe im Anhang Abb. 5. 56 Vgl. Ludwig Volk, Flucht aus der Isolation. Zur "Anschluß"-Kundgebung des österreichischen Episkopats vom 18. Man 1938, in: Stimmen der Zeit 200 (1982), S. 651-661, 769-783 (652). Der (reichs-)deutsche Episkopat hielt sich dagegen zurück. 57 Vgl. Klepper (Anm. 46), S. 576 [9.4.1938].

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bezeichnet werden könnte 58 . Man kann die neue Qualität am Vergleich zweier Arabesken zeigen: 1934 war der münstersche Bischof v. Galen der Volksabstimmung bewußt ferngeblieben 59, ohne deswegen - soweit bekannt - behelligt zu werden. Als 1938 sein Rottenburger Amtsbruder Sproll das gleiche wagte, gab es einen inszenierten Volksaufstand, der mit der Vertreibung des Bischofs aus seiner eigenen Diözese endete60 . Nach der Statistik des Deutschen Reichs nahmen von 45 149952 reichsdeutschen Stimmberechtigten 44 964 005, gleich 99,59 %, an der Volksabstimmung teil. Von diesen machten 69890, gleich 0,16 %, ihren Stimmzettel ungültig. Von den abgegebenen gültigen Stimmen lauteten 44 451 092, gleich 99,01 %, auf "Ja" und 443023, gleich 0,99 %, auf "Nein". Von den österreich ischen Stimmberechtigten nahmen 99,71 % teil, wovon 0,13 % ungültig abstimmten; Ja- und Nein-Stimmen verteilten sich dann auf 99,73 und 0,27 %. Ein solches Ergebnis wirkte nicht nur auf der Makroebene "erschlagend". Auch bei einer Aufgliederung der Abstimmungsdaten bis hin zu den unteren Verwaltungsbezirken und Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern zeigt sich alles, was etwa 1934 noch an Renitenz faßbar war, als so gut wie eingeebnet. Wo auf Stimmkreisebene vor vier Jahren noch zweistellige Nein-Quoten bestanden, ließ sich jetzt allenfalls insofern ein Nachklang hören, als "nur" 98 % zustimmten; 97,87 % Ja-Stimmen im Stimm kreis Weser-Ems bzw. gar 96,95 % im Stimmkreis Leipzig waren nun die "Tiefpunkte". Auf der untersten Ebene ließen sich einzelne Spuren abweichenden Stimmverhaltens feststellen, in insgesamt 14 Gemeinden lagen die Zustimmungsquoten unter 90 % - den Negativrekord hielt die Gemeinde Visbek im Amt Vechta mit 79,13 % "Ja"Stimmen61 . Wo zu Anfang des Regimes noch die Großstadt bzw. die (großstädtische) Industriearbeiterschaft und - mit Vorbehalt - der politische Katholizismus als Renitenzfaktoren auszumachen waren, fällt jetzt nur die regionale Konzentration in zwei oldenburgischen Ämtern (Cloppenburg und Vechta) und S. Vgl. - rur Österreich - Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39,3. Aufl., Buchloe 1988, S. 115-192 (185); ders., Zwischen Akzeptanz und Distanz. Die österreichische Bevölkerung und das NS-Regime nach dem "Anschluß", in: Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des "Anschlusses" vom März 1938, hrsg. von Gerald StourzhlBirgitta Zaar, Wien 1990, S. 429-455 (443), und ders., Schlußwort, in: Ebd., S. 468. S9 Vgl. v. Galen an Lammers vom 22.7.1941, in: Bischof Clemens August Graf von Galen, Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, bearb. von Peter Löffler, Mainz 1988, Bd. 11: 1939-1946, S. 864 ff. (865 f.). 60 Vgl. Die Vertreibung von Bischof Joannes Baptista Sproll von Rottenburg 1938-1945. Dokumente zur Geschichte des kirchlichen Widerstandes, hrsg. von Paul Kopf/Max Miller, Mainz 1971. Der Grund seines Fembleibens lag in der teilweisen Ablehnung der zur Einheits-"Wahl" gestellten Liste, vgl. ebd., S. 76. 61 Vgl. StatOR Bd. 531, S. 8 f., 58 f., 64 f., 110.

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dem münsterschen Landkreis Ahaus auf62. Insgesamt gesehen ist wegen der übergroßen Nivellierung auch das Deutungsmodell der Amplitudenmodulation nicht mehr praktikabel.

9. Resümee 1) Wahlen und Volksabstimmungen im Dritten Reich waren nur noch Zerrbilder dessen, was in einer Demokratie unter diesen Partizipationsformen verstanden wird. Die Deformation der Willensbildung durch das Politikmonopol der Staatspartei, die Beeinflussung der Willensäußerung durch die Verletzung der Schutzrechte und die Fragwürdigkeit der Ergebnisfeststellung lassen das überlieferte Datenmaterial als verderbt erscheinen. Helfen kann man sich mit dem hier vorgestellten Modell der Amplitudenmodulation: Die Durchschnittswerte stellen dann bloß die "Trägerfrequenz" dar, auf der die nationalsozialistische Diktatur "sendete". Eigentlich aussagekräftig ist die dieser Trägerschwingung aufgeprägte Niederfrequenz, genauer: deren Elongation nach unten. Gefragt wird: Wo und warum haben auch unter den Bedingungen einer Diktatur Bürger sich der Abstimmungsnötigung entzogen, den Stimmzettel ungültig gemacht oder mit "Nein" gestimmt? Mit dieser Maßgabe sind die Daten - mit Vorsicht - durchaus brauchbar. 2) Verglichen mit den Reichstagswahlen nach "Einheitsliste" blieben die Volksabstimmungen aus der Logik ihrer JalNein-Alternative heraus - es gab kein "Einheitsplebiszit"! - das feinere Instrument; ihr Verfahren war (technisch gesehen) vergleichsweise offen und fair. Die Terrorisierung war also bei den Einheitslisten-"Wahlen" noch schlimmer als bei den Volksabstimmungen 63 . 62 Vennutlich residuierte aber gerade hier der politische Katholizismus. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf den sogenannten Kreuzkampf im Oldenburger MUnsterland, vgl. Joachim Kuropka, "Das Volk steht auf'. Zur Geschichte, Einordnung und Bewertung des Kreuzkampfes in Oldenburg im Jahre 1936, in: Ders. (Hrsg.), Zur Sache - Das Kreuz! Untersuchungen zur Geschichte des Konflikts um Kreuz und Lutherbild in den Schulen Oldenburgs, zur Wirkungs geschichte eines Massenprotests und zum Problem nationalsozialistischer Herrschaft in einer agrarisch-katholischen Region, 2. Aufl., Vechta 1987, S. 11-55 (40 f., 55). Das Oldenburger MUnsterland sei "politisches Notstandsgebiet", klagte Gauleiter Carl Röver am 6.7.1938. "Der klerikale politische Einfluß zentrUmlicher Färbung ist dort noch sehr stark, wie der Wahlausfall gerade in diesem Gebiet, der hier wohl am schlechtesten in ganz Deutschland war, bewiesen hat." (Zitiert in: von Galen [Anm. 59], Bd. I: 1933-1939, S. 636, Anm. 2.). 63 Um so grotesker wirkt der Einsatz des "Mißbrauchs"-Arguments nach 1945. Der - größere Mißbrauch der Reichstagswahlen hat die Bundesrepublik nicht daran gehindert, es - bei Parlamentswahlen! - "besser zu machen" (vgl. Christi an Graf v. Pestalozza, Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland, Berlin 1981, S. 29). Der - nicht ganz so starke - Mißbrauch der Volksabstimmungen dagegen sollte - angeblich - die Abschaffung praktisch aller plebiszitären Elemente auf Bundesebene legitimieren.

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3) Wahlen und Volksabstimmungen sind im Laufe der Zeit zu sehen. 1933 und 1934 ist die Aussagekraft der sorgsam interpretierten Daten noch relativ hoch: •

Der bessere Ausfall der Volksabstimmung 1933 gegenüber der gleichzeitigen Reichstagswahl bedeutete einen echten Triumph der Nationalsozialisten.



Das Sinken der Zustimmungsquote bei der Volksabstimmung 1934 gegenüber der Volksabstimmung des Vorjahres stellte einen ernsthaften Rückschlag rur das Regime dar, der dieses denn auch zur faktischen Abschaffung der Volksabstimmung veranlaßte.



Die Urnengänge von 1936 und 1938 dagegen sind - abgesehen von Einzeifilllen auf der Mikroebene - kaum mehr aussagekräftig. Die das Regime kennzeichnende Mischung aus "Verfilhrung und Gewalt" wirkte nun fast perfekt.

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

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Abbildung 2 Stimmzettel zur Volksabstimmung am 12.11.1933

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30

9lein

00 Nach: RGBI. 1934 I, S. 758

11

95

Otmar Jung

96

Abbildung 4 Stimmzettel zur Reichstagswahl am 29.3.1936

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-

Nach: StatOR Bd. 497, S. 3

Wahlen und Abstimmungen im Dritten Reich 1933-1938

97

Abbildung 5 Stimmzettel zur Volksabstimmung und zur Reichstagswahl am 10.4.1938

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Nach: RGBI. 1938 I, S. 303

7 Jeise I Löw

KonradLöw WAHLEN UND ABSTIMMUNGEN IN DER SBZ UND IN DER DDR 1. Die ersten Wahlen waren die letzten

Um es gleich vorwegzunehmen, vor 50 Jahren fanden die ersten und - bis zur friedlichen Revolution - letzten Wahlen in jenem Gebilde statt, das zunächst sowjetische Besatzungszone war und sich dann, ab dem 7. Oktober 1949, Deutsche Demokratische Republik nannte. Die Bezeichnung Wahlen ist mit Blick auf die Kommunal- und Landtagswahlen vom Herbst 1946 ebenso berechtigt wie mit Blick auf die Wahlen im Deutschen Reich am 5. März 1933. Wie die Ergebnisse beweisen, gab es jeweils die Möglichkeit der Auswahl. Es entschieden sich beispielsweise in Brandenburg rur die SED 43,9, für die CDU 30,6, rur die LDPD 20,6 und rur die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe 4,9 Prozent, in den fünf Ländern insgesamt 47,6 zu 24,5 zu 24,6 zu 3,0 Prozent. Freilich, demokratische Wahlen waren es nicht. Es fehlten die essentiellen Merkmale "allgemein" und "frei". So hatten die NS-Belasteten kein Stimmrecht, eine Maßnahme, die noch vertretbar erscheint, insbesondere unter den Gesichtspunkten einer wehrhaften Demokratie. Frei ist eine Wahl, wenn alle politischen Grundrechte im Wahlkampf gewährleistet sind: Meinungs- und Informationsfreiheit, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Von den drei rivalisierenden Lizenzparteien wurde die SED seitens der Besatzungsmacht in jeder Hinsicht begünstigt, während CDU und LDPD permanent vielfllitigen Schikanen ausgesetzt waren, ihre Funktionäre eingeschüchtert, nicht selten auch verhaftet wurden. "Die Besatzungsmacht genehmigte viele Wahlplakate und viele Wahlversammlungen der bürgerlichen Parteien nicht, verbot bürgerlichen Wahlrednern aufzutreten, zensierte ihre Redetexte, teilte der CDU und der LDPD viel weniger Papier zu als der SED. Die 'Tägliche Rundschau', 'die Tageszeitung der Besatzungsmacht, war voll von Agitation rur die SED." I

Georg ReißmulIer, Als Ulbricht nirgends mehr eine absolute Mehrheit bekam, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 8. 96, S. 12; siehe auch Bundeszentrale rur politische Bildung (Hrsg.), Geschichte der DDR, Informationen zur politischen Bildung Nr. 231, Bonn 1991, S. 7. 7·

100

KonradLöw

Daß trotzdem in zwei der fünf Länder die sogenannten kleinbürgerlichen Parteien die Mehrheit erzielen konnten, war für die Kommunisten Anlaß genug, die Wiederholung einer solchen Panne auszuschließen, die sich - aus ihrer Sicht - darin manifestierte, daß sie in keinem der filnf Länder trotz der Fusion mit den Sozialdemokraten zur SED die absolute Mehrheit gewann. Eben diese SED ist unter dem Namen PDS in der rechtsstaatlichen Demokratie Bundesrepublik Deutschland ein politischer Faktor von zunehmendem Gewicht, der von anderen politischen Faktoren zum Zwecke der Machterlangung und Machterhaltung umworben wird. Wahlen sind die conditio sine qua non jeder Demokratie. Selbst die Kommunisten, die im Geiste von Marx die Diktatur der Proletariats bejahten, hielten periodische "Wahlen" filr ratsam. Auch diese "Wahlen" bilden also einen wesentlichen Bestandteil der 40jährigen DDR-Geschichte und somit auch der gesamtdeutschen Geschichte. Fragen wir uns: Was sagten die Verfassungen der DDR über die politische Beteiligung der Bürger? Welche Funktion hatten diese "Wahlen" amtlich und tatsächlich? Welche Neuerungen wurden im Laufe der Jahrzehnte eingefiihrt? Entsprach die Wirklichkeit den theoretischen Vorgaben? Wurden die "Wahl"Ergebnisse getalscht und gegebenenfalls wie? Wie ist der Westen mit diesen "Wahlen" umgegangen? Die folgende Betrachtung beschränkt sich auf die DDR-Volkskammer"Wahlen", läßt also die Kommunal-"Wahlen" und dergleichen unberücksichtigt. 2. Die Wahlrechtsaussagen der DDR-Verfassungen

Weitgehend in Übereinstimmung mit der Weimarer Reichsverfassung (WV) bestimmt die erste Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 in Art. 3: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus ... Das Mitbestimmungsrecht der Bürger wird wahrgenommen durch Teilnahme an Volksbegehren und Volksentscheiden; Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts ... Die im öffentlichen Dienst Tätigen sind Diener der Gesamtheit und nicht einer Partei."2

Art. 51:. "Die Volkskammer besteht aus den Abgeordneten des deutschen

Volkes.

In der Weimarer Reichsverfassung hieß es in Art. 1: "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Art. 130 bestimmte: "Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei."

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

101

Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechtes auf die Dauer von vier Jahren gewählt. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden."3 Wesentlich umfangreicher sind die Demokratiebekenntnisse der zweiten DDR-Verfassung vom 6. April 1968. Sie sind von der großen Änderung des 7. Oktober 1974 zwar nicht im Wortlaut, aber im Kern unberührt geblieben. Im folgenden die einschlägigen Texte in der novellierten Fassung. Art. 2 Abs. 1: "Alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt." Art. 5 Abs. 1: "Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik üben ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus." Art. 19 Abs. I: "Die Deutsche Demokratische Republik garantiert allen Bürgern die Ausübung ihrer Rechte und ihre Mitwirkung an der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung." Art. 21 Abs. I: "Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz' Arbeite mit, plane mit, regiere mit! '" Art. 21 Abs. 2: "Das Recht auf Mitbestimmung und Mitgestaltung ist dadurch gewährleistet, daß die Bürger alle Machtorgane demokratisch wählen, an ihrer Tätigkeit und an der Leitung, Planung und Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens mitwirken ... " Art. 22 Abs. 1: "Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist wahlberechtigt." Art. 54: "Die Volkskammer besteht aus 500 Abgeordneten, die vom Volke auf die Dauer von fünf Jahren in freier, allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden." (1968 waren es noch vier Jahre.) Diese Formulierungen, tUr sich genommen, sind eindeutig. Die Vielzahl sinngleicher Bekenntnisse sollte offenbar jeden Zweifel an demokratischen Gegebenheiten im Keim ersticken. Solche Zweifel weckte die Verfassung selbst, beispielsweise mit den Worten der Präambel: "Erfüllt von dem Willen,

Art. 22 WV: "Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über 20 Jahre alten Mllnnem und Frauen nach den Grundsätzen der Verhllltniswahl gewählt."

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KonradLöw

seine Geschicke frei zu bestimmen, unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und Völkerfreundschaft zu gehen, hat sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische Verfassung gegeben." Art. 1 Abs. 1 stieß ins gleiche Horn: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei." 3. Die amtlichen und die tatsächlichen Funktionen der Scheinwahlen in der DDR

Noch im Frühjahr 1989 sprach der Minister der Justiz, Hans-Joachim Heusinger angesichts der bevorstehenden Kommunalwahlen von "Höhepunkten im gesellschaftlichen Leben"4 und benutzte damit eine Wortkombination, die schon in der Präambel des Wahlgesetzes vom 24. Juni 1976 in der Fassung vom 28. Juni 1979 steht. In jeder Demokratie sind Wahlen in der Tat Höhepunkte im politischen Leben, da sie über Erfolg und Mißerfolg der Kandidaten, der konkurrierenden Parteien entscheiden und so auf Jahre die Weichen in die Zukunft stellen.

Welche Funktionen hatten die als Wahlen bezeichneten Veranstaltungen in der DDR nach den amtlichen und offiziösen Verlautbarungen? Die 40 Jahre DDR lassen sich grob in die Ära Ulbricht und in die Ära Honecker unterteilen. Die erste dauerte gut die Hälfte der Zeit, nämlich bis Herbst 1971, also bis vor genau 25 Jal).ren. Damals wurde Ulbricht zum Verzicht auf die Funktion des Ersten Sekretärs der SED gezwungen. In der Ära Ulbricht sind es vor allem der Verfassungskommentar - der einzige, den es in der DDR überhaupt gegeben hat - sowie die von Herbert Graf/Günther Seiler verfaßte Monographie "Wahl und Wahlrecht im Klassenkampf', die unsere Frage nach der amtlich beteuerten Funktion der "Wahlen" beantworten. Auch insofern war also die Lage in der DDR eine gänzlich andere als in der Bundesrepublik. Die Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen war dort ganz gering. Sie hatten jedoch ein weit größeres Gewicht, waren gleichsam die Stimme des Staates und der sie leitenden Partei. Im Ulbricht-Kommentar, wohl deshalb inoffiziell so genannt, weil neben Marx und Lenin niemand so häufig erwähnt wird als eben der Erste Sekretär der Hans-Joachim Heusinger, Wahlen im 40. Jahr des Bestehens der DDR... , in: Neue Justiz, 2/89, S. 50.

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

103

SED, heißt es: "Durch die Ausübung des Wahlrechts nehmen die Bürger entscheidenden Einfluß auf die Zusammensetzung und die Gestaltung der Tätigkeit des höchsten staatlichen Machtorgans der Deutschen Demokratischen Republik, der Volkskammer und der örtlichen Volksvertretungen. Somit ist das im Art. 22 verankerte Wahlrecht und seine Wahrnehmung durch die Bürger Verwirklichung und zugleich wesentliche Garantie des Verfassungsgrundsatzes, daß alle politische Macht in der Deutschen Demokratischen Republik von den Werktätigen ausgeübt wird ... " Das Gesagte ständig mit anderen Worten wiederholend heißt es weiter: "Die Bedeutung des Wahlrechts der Bürger ergibt sich aus der Funktion der Wahlen und der Stellung der Volksvertretungen in der Deutschen Demokratischen Republik. In unserem sozialistischen Staat als der politischen Organisation der Werktätigen üben die Bürger ihre politische Macht durch die demokratisch gewählten Volksvertretungen aus. Sie bilden die Grundlage des Systems der Staatsorgane (Art. 5): Kein anderes staatliches Organ kann neben oder unabhängig von den Volksvertretungen staatliche Macht ausüben. Die Wahlen in der Deutschen Demokratischen Republik sind Akte der politischen Machtausübung, weil aus ihnen wahre Vertretungskörperschaften des Volkes, bei denen alle staatliche Macht konzentriert ist, hervorgehen und nicht irgendweIche ohnmächtige oder von kapitalgewaltigen Gruppen abhängige Parlamente."5 Auf andere Weise aufschlußreich, ja geradezu verräterisch die Texte der erwähnten Monographie mit Blick auf das Jahr 1950: "Es war Ausdruck der hohen gesellschaftlichen Bedeutung des Wahlprozesses, vor allem aber Symptom ftlr die derzeitig alle gesellschaftlichen Bereiche erfassende Klassenauseinandersetzung, daß die reaktionären Kräfte die Wahlfrage zu ihrem Angriffsobjekt wählten. Sie versuchten, eine Kontroverse über die Wahlen zu den Volksvertretungen sowie die Festlegung ihres Termins herbeizufUhren, um die Wahlen dazu auszunutzen, die Konsolidierung der Arbeiter- und Bauern-Macht sowie ihre planmäßige politische und ökonomische Entwicklung zu hemmen. Einige reaktionäre Elemente in der LDPD und CDU traten mit der Forderung auf, unmittelbar nach den Oktobertagen des Jahres 1949 Wahlen auszuschreiben. Das bedeutete eine direkte Unterstützung der westdeutschen Monopolbourgeoisie. Auf den Sitzungen des Demokratischen Blocks widersetzten sie sich der von der großen Mehrheit eingebrachten Empfehlung, die im Herbst 1949 ablaufende Wahlperiode der Landtage bis zu einem Jahr zu verlängern, und forderten die sofortige DurchfUhrung von Wahlen zu allen Volksvertretungen. Es ging dabei nicht um parlamentarische Regeln. Hinter der von den reaktionären Kräften ausgelösten Diskussion um den Termin der Wahlen versteckte sich die Bourgeoisie, die die in der Volkskongreßbewegung gewachsene Einheit der Autorenkollektiv, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin (Ost) 1969, S. 54 f.

Konrad Löw

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demokratischen Kräfte zerschlagen wollte, um von neuem der Bevölkerung das bürgerliche Parteienschema einer kapitalistischen Staatsmaschinerie aufzuzwingen. Zugleich bestand ihr Bestreben darin, einen Kampf der Parteien untereinander zu entfachen und die eben beginnende systematische Tätigkeit der Machtorgane des jungen Staates zu sabotieren."6 Mit Blick auf die Volkskammerwahl 1950 steht zu lesen: "Neu war, daß erstmals eine einheitliche Kandidatenliste der Demokratischen Parteien und Massenorganisationen aufgestellt und bei der Wahl über diese Liste entschieden wurde. Das hatte fUr die weitere Entwicklung des Wahlsystems prinzipielle Bedeutung."7 Zwei Seiten weiter: "Die Bedingungen des Klassenkampfes und die reale politisch-staatliche Situation in jenem Zeitraum verdeutlichten in besonderem Maße, daß sich die Demokratie weder im Wahlrecht erschöpft noch in ihm dominiert; daß die Wahlen von der bestehenden demokratischen Staatsmacht zum objektiven notwendigen Zeitpunkt festgelegt werden und dem Ausbau der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung und damit letztendlich den Interessen der Bürger dienen müssen."8 Speziell mit Blick auf die Wahlen vom 15. Oktober 1950: "Unter der zielgerichteten Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei nahm die Arbeiterklasse und mit ihr die Mehrheit der Werktätigen die Lösung der vor ihr stehenden historischen Aufgaben bewußt in Angriff... Die entscheidende Basis dafür bildete die weitere Stärkung und Festigung der Zusammenarbeit im Demokratischen Block, besonders deshalb, weil nach Gründung der DDR der Block der demokratischen Parteien und Massenorganisationen zu einem Konzentrationspunkt der Angriffe des Klassengegners wurde. Sein Ziel war es, die Zusammenarbeit der Blockpartei mit der SED zu stören, den demokratischen Block zu spalten und wieder bürgerlich-parlamentarische Verhältnisse einzufUhren ... Die prinzipienfeste Politik der Partei der Arbeiterklasse, die von den Massen der Werktätigen entschieden unterstützt wurde, stärkte den Einfluß der fortschrittlichen Kräfte in den Blockparteien. Die reaktionären Gruppen in diesen Parteien verloren ihre Gefolgschaft und wurden isoliert... Die Staatsrnacht der antifaschistisch-demokratischen Ordnung entwickelte sich zur Arbeiter- und BauernMacht, zur Diktatur des Proletariats. Immer vollkommener bildete sich die sozialistische Demokratie heraus."9

194 f.

Herbert GraflGUnther Seiler, Wahl und Wahlrecht im Klassenkampf, Berlin (Ost) 1971, S. Ebenda, S. 195. Ebenda, S. 197. Ebenda, S. 198 ff.

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

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Abschließend noch ein Zitat zum Thema Opposition: "Mit der sich immer stärker ausprägenden Einheit der Grundinteressen der Bürger und ihrer politischen Organisationen und der Existenz einer gesellschaftlichen Ordnung, deren Ziel in der Verwirklichung dieser Grundinteressen unter bewußter Mitwirkung des Volkes besteht, verlor das Verlangen nach Opposition - mit dem besonders in den Wahlen im Herbst 1950 von der Monopolbourgeoisie gesteuerte reaktionäre Kräfte einen Teil der Bevölkerung irreführen wollten - jeglichen Boden."IO In der Ära Honecker übernahm das "Lehrbuch des Staatsrechts der DDR" die Funktion des schon zitierten "Ulbricht-Kommentars". Auch insofern spricht jeder Vergleich mit den bundesdeutschen Verhältnissen Bände. Unverblümt stellt das Lehrbuch fest: "Die Wahlen im Sozialismus unterscheiden sich grundlegend von denen unter kapitalistischen Bedingungen. Nicht die wahlrechtlichen Bestimmungen, die Wahlgrundsätze und das Wahlverfahren - so bedeutsam sie auch sind - sind ausschlaggebend für die politische und juristische Charakterisierung eines Wahlsystems, sondern deren Einbettung in das System der politischen und ökonomischen Herrschaft einer bestimmten Klasse. Wahlen tragen demokratischen Charakter, wenn sie Ausdruck realer Volkssouveränität und Instrument ihrer Festigung und Erweiterung sind." Dann kommt, was kommen muß: "Dies trifft allein auf die Wahlen in sozialistischen Staaten zu, denn die Freiheit für die Werktätigen entsteht erst mit dem Ende der Ausbeutung, mit dem Sozialismus." 11 Schließlich sei noch aus der letzten Monographie zum Thema Wahlrecht zitiert, die 1988 in Berlin (Ost) erschienen ist. Verfasser wiederum, wie üblich, ein Autorenkollektiv, und zwar unter Leitung von Oswald Unger, betitelt "Wahlsystem und Volksvertretungen in der DDR" (112 Seiten): "Die soziale Funktion des sozialistischen Wahlsystems in der DDR besteht folglich darin, entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen Volksvertretungen zu bilden, die in der Lage sind, auf sozialistische Weise zu arbeiten. Dieses dialektisch-gesellschaftlich bedingte Wechselverhältnis zwischen sozialistischem Vertretungssystem und Wahlsystem erfordert, daß durch die weitere Ausgestaltung der sozialistischen Prinzipien der Bildung und Zusammensetzung der Volksvertretungen sowie der Wahlprinzipien die demokratische Aktivität der Werktätigen noch stärker zur Geltung gebracht wird ... " 12 "Unser Wahlsystem und seine Vervollkommnung sind aufs engste mit den Hauptetappen der Gesellschafts- und Staatsentwicklung in der DDR verknüpft... 10

11

12

Ebenda, S. 207. Autorenkollektiv , Staatsrecht der DDR. Lehrbuch, Berlin (Ost) 1977, S. 231.

Autorenkollektiv unter Leitung von Oswald Unger, Wahlsystem und Volksvertretungen in der DDR, Berlin (Ost) 1988, S. 8.

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Klassencharakter der Wahlen in der DDR und 'ausschließliche und volle Demokratie des Volkes' bilden eine unabdingbare Einheit. In Durchsetzung der Leninschen Prinzipien wird erreicht, daß auch mittels der Wahlen die Werktätigen immer umfassender an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse teilnehmen." 13 Zu den "demokratischen Prinzipien der Bildung und Zusammensetzung sozialistischer Volksvertretungen ... " gehören insbesondere •

"die Gewährleistung der fUhrenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei..." 14



"Die Wahlen zu den staatlichen Machtorganen haben in der sozialistischen Gesellschaft eine bedeutende politische Integrationsfunktion. Sie vereinen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei ... die wahlberechtigten Bürger aller Klassen und Schichten des werktätigen Volkes ..."15



"Unter sozialistischen Bedingungen sind die Wahlen zu den staatlichen Machtorganen daher nicht nur ein Instrument zur Erneuerung und Vervollkommnung der Volksvertretungen, sondern auch eine Quelle der gesellschaftspolitischen Aktivität, der breiten Masseninitiative der Arbeits- und Bürgerkollektive, der gesellschaftlichen Organisationen und jedes einzelnen." 16

Fassen wir zusammen: Die "Wahlen" dienten - nach den amtlichen Verlautbarungen - 1. der plebiszitären Bejahung dessen, was sein und kommen muß, 2. der Integration der Bevölkerung, 3. der Mobilisierung der Leistungsbereitschaft aller Kollektive und jedes einzelnen. Die Legitimation der Kommunistischen Partei folgte aber nicht aus den Wahlen, sondern aus den historischen Notwendigkeiten, den objektiven Bedingungen. Die "Wahlen" hatten aber noch weitere Funktionen: 1. Längst nicht alle durchschauten das Wesen dieser "Wahlen". So glaubten

offenbar viele, insbesondere im Westen, an eine ähnliche Legitimation der Volkskammermitglieder wie die der Bundestagsabgeordneten. 17

13

Ebenda, S. 10.

14

Ebenda, S. 11

" 16

17

Ebenda, S. 12. Ebenda.

Siehe Konrad Löw, ... bis zum Verrat der Freiheit. Die Gesellschaft der Bundesrepublik und die "DDR", München 1994, S. 3S f.

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

107

2. Wer, wenn auch unter Druck, sich dem "Wahl"gebot ständig beugt, ist versucht, sein Handeln nicht nur damit zu entschuldigen, daß er eben bei abweichendem Verhalten Nachteile in Kauf nehmen müßte. Weniger psychisch belastend ist es, wenn er sich in der Überzeugung wiegt, daß man doch, trotz mancher Vorbehalte, Ja sagen könne. Da der Mensch bestrebt ist, sein Handeln optimal zu rechtfertigen, lohnten diese Veranstaltungen auch unter diesem Gesichtspunkt ihren Aufwand. 3. Obwohl es also nichts zu wählen gab, beteiligten sich an den letzten Volkskammerwahlen nach den amtlichen Ergebnissen 99,73 Prozent der "Wahlberechtigten". Das war eine eindrucksvolle Demonstration der Macht des Staates über seine Untertanen, die er so sehr in der Hand hatte, daß sie wenngleich häufig widerwillig - ihre "höchste staatsbürgerliche Pflicht" gewissenhaft erfilllten.

4. "Wahl"-Rechtsänderungen Die Petrifizierung der politischen Verhältnisse in der DDR betraf auch das "Wahl"-Recht. Zwar gab es viele "Wahlgesetze", zunächst zu jeder "Wahl" ein neues. 18 Aber die halbwegs nennenswerten Änderungen sind rasch aufgezählt: 1949 hieß es (Art. 51): "Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts auf die Dauer von vier Jahren gewählt." Anstelle des Wortes "unmittelbar" trat 1968 das Wort "frei". Eine wie auch immer geartete praktische Auswirkung hatte diese Änderung nicht. Aus vier Jahren wurden - wie schon erwähnt - 1974 fünf Jahre. Diese Verlängerung der "Wahl"-Peiiode spielt zwar keine Rolle, da die Volkskammer ohnehin nie ein reales Machtorgan gewesen ist. Doch formal betrachtet waren es eben zunächst vier Jahre, aufgrund verfassungswidriger Volkskammerbeschlüsse zweimal auch fünf Jahre. Durch die erwähnte Verfassungsänderung wurden die Verfassungsverstöße nun mit Blick auf die Zukunft formal einwandfrei. Entfallen sind ab dem "Wahlgesetz" 1963 die Worte: "nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts". Sie standen jedoch noch bis 1968 in der Verfassung. Bereits § 27 des Wahlgesetzes 1950 enthielt die Bestimmung, daß die zur Einreichung von Wahlvorschlägen berechtigten Vereinigungen das Recht hätten, gemeinsame Vorschläge einzubringen. In der "Wahl"-Rechtsmonographie Ungers heißt es: "Es wurde dies [eben die Einheitsliste] zu einem Prinzip, das 11

Autorenkollektiv (Anm. 12), S. 21.

Konrad

108

Löw

wesentlich den sozialistischen Inhalt des Wahlsystems in der DDR bestimmte und bestimmt." 19 Ab 1965 wurden die Einheitslisten - ein e Liste rur alle "gesellschaftlichen Kräfte" - dadurch etwas glaubwürdiger, daß sie nun mehr Namen enthielten, als Kandidaten gewählt werden konnten, so daß rein theoretisch durch den Wähler ein Austausch der Kandidaten gegen Ersatzkandidaten möglich gewesen wäre. Eine der "Wahl"-Rechtsänderungen hat im Westen Proteste ausgelöst, nämlich die Gleichstellung Ost-Berlins mit der DDR hinsichtlich der "Wahlen". Die 66 Berliner Abgeordneten der Volkskammer wurden zunächst nicht vom Volk "gewählt", sondern durch die Stadtverordnetenversammlung delegiert. Sie hatten nur beratende Stimme. 1954 entfiel diese Einschränkung. Am 14. Juni 1981 kam es dann erstmals zur Direkt"wahl" der Berliner Abgeordneten - unter Protest der drei westlichen Schutzmächte, des Bundestages und der Bundesregierung. (Am Status der Berliner Bundestagsabgeordneten wurde jedoch nichts geändert.) Am 3. März 1989 beschloß die Volkskammer - wie üblich - einstimmig, daß nunmehr Ausländer bei den Kommunal-"Wahlen" aktiv und passiv wahlberechtigt sein sollen. 20 5. Die Durchführung der" Wahlen" und Abstimmungen sowie die amtlichen Ergebnisse

Der erste Volksentscheid fand am 30. Juni 1946 in Sachsen statt, und zwar über - wie es heißt - die Enteignung der Betriebe der Naziaktivisten und Kriegsverbrecher. "In Vorbereitung und DurchfUhrung des Volksentscheids kamen Formen und Methoden zum Tragen, die fUr die Entwicklung eines demokratischen Wahlsystems bleibenden Wert hatten: Es waren alle gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere die Gewerkschaften, aktiv tätig... "21 Trotzdem haben, obwohl doch auch Neid und Mißgunst ein Ja nahelegten, 16,58 vom Hundert mit Nein gestimmt. Das ist bemerkenswert. Es darf unterstellt werden, daß damals noch die geheime Wahl eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Auf Länderebene kam es, wie eingangs erwähnt, am 20. Oktober 1946 zu den ersten Wahlen, bei denen die SED trotz vielfältiger Begünstigungen seitens der Besatzungsmacht nur 47,5 % der gültigen Stimmen erzielte. "Keine Demo-

19

Ebenda.

20

Siehe dazu den Beitrag in diesem Band von Hans Michael Kloth: "Die letzte DDRWahlrechtsreform von 1988/89. Eine Fallstudie zur Delegitimierung der SED-Herrschaft". 21

Autorenkollektiv (Anm. 12), S. 18.

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109

kratie für die Feinde der Demokratie. Kriegsverbrecher und Naziaktivisten wurden vom Stimmrecht ausgeschlossen - lautete der offiziöse Kommentar."22 Etwas ganz besonderes gab es am 15. und 16. Mai 1949. Mit einem und demselben Kreuzchen wurden sowohl die Kandidaten einer Einheitsliste zum 3. Deutschen Volkskongreß gewählt als auch die Frage bejaht, ob man für die deutsche Einheit und einen gerechten Frieden sei. Wer die Einheitsliste ablehnte, entschied sich also auch gegen die deutsche Einheit und einen gerechten Frieden. Dieses perverse Junktim, das an den Stimmzettel des Hitlerreiches vom 10. 4. 1938 erinnert, bedarf keines Kommentars. Es ist einer der anschaulichsten Belege, mit welch diabolischen Methoden die Bevölkerung gefügig gemacht werden sollte. Trotzdem votierten - immer nach den amtlichen Verlautbarungen - nur 66,1 % der Stimmberechtigten für die Kandidaten der Einheitsliste, und dies, obwohl das Votum nicht geheim war. 23 Die erste Volkskammer-"Wahl" fand am 15. Oktober 1950 statt und brachte das gewünschte Ergebnis. Nun war es wohl auch nicht mehr nötig, ein Kreuzchen zu machen. Es genügte das Falten des Stimmzettels - insofern ging man über die Praxis der Nationalsozialisten noch hinaus -, während 1949 noch zwei Kreise vorhanden waren, ein großer für die Ja-Stimmen zur Einheit und zur Einheitsliste und ein kleiner für die Nein-Stimmen, wieder wie 1938 im Hitlerreich. Bei 98,53 % Beteiligung gaben 99,72 % der "Wahlberechtigten" ihre Stimme der Nationalen Front. Daran hat sich in den folgenden 36 Jahren nichts Nennenswertes geändert. Ergebnisse der Einheitslisten"Wahlen" zur Volkskammer von 1950 - 1986 (in Prozent) 24 Wahljahr 1950 1954 1958 1963 1967 1971 1976 1981 1986

22

Wahlbeteiligung 98,53 98,51 98,90 99,25 98,82 98,48 98,58 99,21 99,74

Ja-Stimmen 99,72 99,46 99,87 99,95 99,93 99,85 99,86 99,86 99,94

Ebenda, S. 19.

23

Siegfried Mampe1, Die Verfassung der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Text und Kommentar, Frankfurt a.M. 1962, S. 9. 24

Bundeszentrale fUr politische Bildung (Anm. I), S. 27.

Konrad Löw

110

Auch an der Verteilung der Sitze auf die einzelnen Parteien und gesellschaftlichen Massenorganisationen hat sich zwischen 1950 und 1986 kaum etwas geändert: 25 SED CDU LDPD NDPD DBD FDGB FDJ DFD KB VdgB

127 52 52 52 52 61 37 32 21 14 500

25,4 10,4 10,4 10,4 10,4 12,2 7,4 6,4 4,2 2,8

Wie wenig diese Resultate seitens der SED ernstgenommen wurden, zeigt nicht zuletzt die parteipolitische Zusammensetzung der obersten Staatsorgane, insbesondere des Ministerrats und des Nationalen Verteidigungsrats: Von den 45 Mitgliedern des Ministerrats gehörten 41 der SED an, je einer den sogenannten kleinbUrgerlichen Parteien. Der Nationale Verteidigungsrat bestand ausschließlich aus SED-Mitgliedern. Der einzige Volksentscheid in der DDR-Ära wurde am 6. April 1968 durchgefilhrt und betraf die neue, die sozialistische Verfassung. Der Vorschlag der Nationalen Front fand, verglichen mit den "Volkskammerwahlen", eine deutlich geringere Resonanz. Von den "Wahlberechtigten" stimmten 94,5 % filr die neue Verfassung. Ferner gab es zwei Volksbefragungen, die eine 1951, die zweite 1954, die jeweils die bundesdeutsche Politik irritieren sollte (Remilitarisierung, Friedensvertrag). Die extrem hohe Beteiligung an den "Volkskammerwahlen" - jeweils, gemäß den amtlichen Ergebnissen, Uber 98 % - verdeutlicht den ungeheuren Druck, dem die Bevölkerung ausgesetzt gewesen ist und der auch im Text der Verfassung seinen Niederschlag gefunden hat (Art. 21 Abs. 3): "Die Verwirklichung dieses Rechts der Mitbestimmung und Mitgestaltung ist zugleich eine hohe moralische Verpflichtung filr jeden BUrger." Auch gingen die meisten schon am Vormittag zu den Urnen, da dies - als Zeichen der Begeisterung - von der Obrigkeit erwartet wurde.

lS

Ebenda. Minimale Verschiebungen gab es, da die Vereinigung gegenseitiger Bauemhilfe nicht immer berücksichtigt wurde.

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

111

Wer hat diesem Druck widerstanden? Bis heute gibt es offenbar keine entsprechenden Untersuchungen. In dem Buch "Die gottlosen Jahre" schreibt der langjährige Superintendent und Konsistorialrat der Berlin-Brandenburgischen Kirche Reinhard Steinlein: "Viele Diskussionen gab es schließlich noch um die Frage, wie sich die Pfarrer zu den 'Wahlen' in der DDR stellen sollten. 1958 ist kirchlicherseits zum letzten Mal in aller Form gegen die Art und Weise der DurchfUhrung dieser Wahlen protestiert worden. Die Entscheidung, wie er sich zur Wahl verhält, hatte natürlich jeder rur sich selbst zu treffen. Ich habe in den 40 Jahren nur zweimal ein Wahllokal besucht, 1946 und 1968. 1946 waren noch Parteien zu wählen. 1968 - bei der Abstimmung über die neue Verfassung - war immerhin ein Kreis rur das 'Nein' auf dem Wahlzettel vorhanden."26 Längst nicht alle haben seinem mutigen Beispiel Folge geleistet. Die evangelische Geistlichkeit beugte sich immer stärker dem Druck der politischen Macht. Nach einer Analyse Rudi Bellmanns war ein deutlicher Anstieg der "Wahlbeteiligung" kirchlicher Amtsträger zu verzeichnen: "Das mit Abstand beste Ergebnis [aus der Sicht der SED] konnte die Thüringer Kirche aufweisen. Volkswahl 1981 95,6 %, jetzt 96,1 % [1986]. Absolut gesehen haben in dieser Kirche nur zwei Superintendenten (von 48) und 29 Pfarrer (von 621) nicht gewählt ... Von den acht evangelischen Bischöfen haben sechs gewählt."27 Erst im Mai 1989, bei den Kommunalwahlen, gab es ein vernehmliches Erwachen evangelischer Kreise. Mitte Februar 1989 schrieben 14 Dresdner Pfarrer an den Leiter der Wahlkommission, Egon Krenz: "Im Zusammenhang mit der letzten Wahl kam es zu einer Reihe von Ereignissen, die uns berichtet wurden bzw. die wir selbst erlebten, die uns manches problematisch erscheinen ließen. Die Anfragen und Vorbehalte wurden auch bei einem Gespräch mit Vertretern des Stadtbezirks nicht ausgeräumt und lassen uns fragen, ob der Anspruch einer freien und geheimen Wahl mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Aus Gesprächen mit Gemeindegliedern wissen wir, daß manche entgegen ihrer Überzeugung zur Wahl gehen und offen ihren Wahlschein in die Urne stecken, weil sie Sorge haben, diskriminiert zu werden. Darum wäre es dringend notwendig, gemäß Wahlgesetz vom 24. Juni 1975 den Wählern in geeigneter Weise offiziell bekanntzugeben, •

daß es ein Wahlrecht, aber keine Wahlpflicht gibt;



daß in jedem Wahllokal eine Wahlkabine vorhanden ist und genutzt werden muß;

26 27

Reinhard Steinlein, Die gottlosen Jahre, Berlin 1993, S. 69.

Nach Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche. Höhenflug und Absturz, Berlin 1995, S. 172 f.

KonradLöw

112 •

wann eine Stimme eine gültige Ja- oder Nein-Stimme bzw. wann sie ungültig ist...

Weiterhin erwarten wir in Zukunft, daß die gegenwärtig praktizierte Abstimmung zu einer Kandidatenliste umgewandelt wird in eine echte Wahl zwischen verschiedenen Kandidaten und daß auch Parteilose kandidieren können ... Wir schreiben diesen Brief, weil uns daran liegt, daß die Wahrhaftigkeit in unserem Land geilirdert wird."28 Wie sich der katholische Klerus verhalten hat, ist mir nicht bekannt. Von den Bischöfen heißt es, sie hätten nie an den Scheinwahlen teilgenommen. 6. Wann und wie wurden die Ergebnisse der" Wahlen" und Abstimmungen gefälscht?

Im Verfahren gegen Hans Modrow und andere wegen Wahlflilschung führte Rechtsanwalt Heinrich Hannover aus: ,,'Die Geschichte der Wahlen in der DDR ist die Geschichte ihrer Fälschungen', hat der Sachverständige Dr. L. gesagt. Das entspricht dem, was westliche Politiker und westliche Medien schon seit den 50er Jahren immer wieder behauptet haben und was, wie wir von Zeugen gehört haben, auch in der DDR als offenes Geheimnis galt."29 "Dr. L." ist Peter J. Lapp, von dem die einzige bundesdeutsche Monographie zum Thema "Wahlen in der DDR", 1982 erschienen, stammt. Er hat die zitierte Einlassung in seinem Aufsatz "Wahlen und Wahlfllischungen in der DDR" wiederholt: "Keine der DDR-Wahlen seit 1950 kam ohne Fälschungen aus." 30 Als Beleg für die Richtigkeit verweist er ohne Seitenangabe auf sein Buch "Wahlen in der DDR". Doch dort ist nur davon die Rede, daß die Wahlergebnisse "geschönt" und "frisiert" wurden, indem als "Gegenstimmen" zum Wahlvorschlag der Nationalen Front nur Stimmzettel gewertet werden sollten, "die a) gegen den Staat und seine führenden Persönlichkeiten gerichtete Äußerungen enthalten; b) diagonal durchgestrichen sind und außerdem den schriftlichen Zusatz 'ungültig' tragen, ohne diesen Zusatz werden durchgestrichene Stimmzettel nicht als Gegenstimme gewertet;

21 29 30

Ebenda, S. 381. Das Verfahren gegen H. Modrow u.a. wegen Wahlflilschung, in: Neue Justiz 11/93, S. 497.

Peter Joachim Lapp, Wahlen und Wahlflilschungen in der DDR, in: Deutschland Archiv 1/96, S. 93.

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

113

c) jeden aufgeführten Kandidaten einzeln waagrecht durchgestrichen haben. Es gilt nicht als Gegenstimme, wenn nur zwei oder drei Kandidaten in der bezeichneten Weise abgelehnt worden sind."31 Was in dem Verfahren gegen Modrow u.a. nachgewiesen wurde, ist weit schlimmer als diese bedenklichen Manipulationen. Die Fälschungen großen Stils hat Lapp in seinem Buch jedoch nicht angesprochen. Gab es vor den Kommunalwahlen 1989, bei denen ungeachtet der von Lapp beschriebenen Manipulationen das Ergebnis um rund 10 Prozent verändert wurde 32 , vergleichbare Transplantationen? Ausgeschlossen ist das nicht. Aber offenbar fehlen insofern beweiskräftige Belege, wenngleich es in dem Urteil des Bezirksgerichts Dresden in Sachen Wolfgang Berghofer u.a. heißt: "Die Geschichte der Wahlen in der DDR ist somit auch eine Geschichte der Fälschungen der Wahlergebnisse ... Die bekanntgegebenen Ergebnisse entsprachen nicht der Realität... Die Fälschungen und Manipulationen waren bei früheren Wahlen zumeist im Wahllokal bei der Auszählung der Stimmen. Daneben wurde aber auch in den Wahlkommissionen geflilscht. Dies geschah zunehmend ab Mitte der 80er Jahre, nachdem oppositionelle Kreise damit begonnen hatten, die Auszählung in den Wahllokalen zu kontrollieren. Hierbei wurden die Zahlen, die aus den Wahllokalen gemeldet wurden, in den örtlichen Wahlkommissionen verändert und die veränderten Zahlen an die überörtlichen Wahlkommissionen weitergegeben. Den Wahlvorständen waren zuvor von Parteibeauftragten 'Wahlprognosen ' teils mündlich, teils schriftlich übergeben worden, wonach mit einer bestimmten Wahlbeteiligung, einem bestimmten Ja-Stimmen-Anteil und einer bestimmten Anzahl ungültiger Stimmen 'gerechnet' werde. Die Wahlvorstände verstanden diese 'Wahlprognosen' als von der Parteizentrale gewolltes Wahlergebnis und richteten sich danach."33 "Über frühere Wahlflilschungen haben die Zeugen Siegfried Nacke und Günther Sobe ausgesagt, daß es auch bei den Kommunalwahlen 1984 durch den damaligen Oberbürgermeister der Stadt Dresden und den früheren Ersten Sekretär der SED-Stadtleitung konkrete Zahlenvorgaben für das zu erreichende Wahlergebnis gegeben hat."34 Wie gesagt, die Feststellungen betreffen die vorletzten Kommunalwahlen der alten DDR. Beginnen wir mit der ersten Volkswillensbekundung, der Abstimmung in Sachsen vom 30. Juni 1946. Das amtliche Ergebnis klingt glaubwürdig: 16,56 % Gegenstimmen. Und doch wird man stutzig, wenn man liest, daß in Polen am 31 32 33 34

Ders., Wahlen in der DDR, Berlin 1982, S. 91. BGH-Ulteil vom 26.11. 1992 (3 StR 319/92) S. 9.

Bezirksgericht Dresden vom 7. 2.1992 (3 KLs SI Js S30/91), S. 17. Ebenda, S. 46.

8 Jelse I Löw

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Konrad Löw

gleichen Tag eine Abstimmung stattfand, deren Ergebnisse nachweislich um rund 25 % verfälscht wurden. Die neue Grenze im Westen bejahten nicht 91,4 % der Bevölkerung, sondern nur 66,9. Die Bodenreform fand nicht die Zustimmung von 77,1 %; sie wurde nur von 42 % gebilligt. 35 Mit Blick auf das Junktim vom Mai 1949 sprach man im Westen in der einschlägigen Literatur allgemein von massiven Fälschungen. In Mampels Kommentar aus dem Jahr 1962 zur ersten DDR-Verfassung taucht im Register das Stichwort "Wahlfälschungen" auf mit zwei FundsteIlen, erstens mit dem Hinweis auf Seite 10, wo die Vorgänge um den 15. und 16. Mai 1948 näher dargestellt werden, und zweitens auf Seite 192, wo es heißt: "Die Verletzungen des Wahlgeheimnisses und der Wahlfreiheit sowie die Wahlfälschungen sind die unausweichlichen Konsequenzen fUr die Praxis, wenn man glaubt, es käme nicht auf den empirischen Willen, sondern auf den 'geschichtlich-notwendigen' Willen der Bürger an."36 In der Auflage, die zur zweiten DDR-Verfassung 1982 erschien, ist von Wahlfälschungen nicht mehr die Rede)7 Entsprechendes gilt, soweit ersichtlich, fUr praktisch alle bundesdeutschen DDR-Publikationen. Im ersterwähnten Band verweist Mampel auf die Veröffentlichungen des Bundesministeriums fUr gesamtdeutsche Fragen, u.a. "Die Wahlen in der Sowjetzone, Dokumente und Materialien" Bonn 1960. In den Veröffentlichungen des Ministeriums ab 1965, insbesondere in den DDR-Handbüchern, wird das Thema "Wahlfälschungen" tabuisiert. Nicht anders die auflagenstarken Informationen der Bundeszentrale fUr politische Bildung, die sich mit mehreren Heften der DDR, vor allem auch der "Wahlen" annahmen. Von den Fälschungen großen Stils, die erst 1989 aufflogen, wußte im Westen offenbar niemand, zumindest wurde darüber nicht berichtet. Was das tendenzielle "Schönen", "Frisieren" anlangt, so war es offenbar nur Peter Lapp, der noch in den 80er Jahren daran erinnerte, aber eben unter Hinweis auf Quellen, die seit knapp 20 Jahren versiegt waren. Dabei wäre es gerade den in Ost-Berlin akkreditierten Journalisten und Diplomaten durchaus möglich gewesen, jene Stellen aufzuspüren, wo Wahlfälschungen möglich waren. Auch wir Politologen, die wir uns mit der DDR befaßten, können uns von diesem Vorwurf nicht völlig exkulpieren. Vieles spricht dafUr, daß die erste Wahlfälschung großen Stils bereits 1950 begangen wurde. Denn was hätte die DDR-Opposition, die 1949 - nach den geschönten Ergebnissen - noch 34 % betrug, veranlassen können, nahezu ge), 7.96.

ML, Enthüllungen über Referendum von 1946 ... , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.

36

Mampel (Anm. 22), S. 192. Siehe auch Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR, Köln 1984, S. 62 ff. 37

Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar, Frankfurt a.M. 1982.

Wahlen und Abstimmungen in der SBZ und in der DDR

115

schlossen innerhalb von gut einem Jahr ins gegnerische Lager überzulaufen? Lautete die amtlich mitgeteilte Zustimmung 1949 noch 66,1 %, so 1950 99,72 %. 7. Kritische Schlußbetrachtung

In seinem Kommentar zur ersten DDR-Verfassung traf Siegfried Mampel voll ins Schwarze, als er schrieb: "Aus dem Satz: 'Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus', wird der andere: 'Alle Staatsgewalt wird von der Partei ausgeübt.' Eine Partei ist aber stets nur, wie der Begriff seinem Wortsinne nach besagt, ein Teil des Volkes. Wird der Begriff Volk so ausgelegt, daß darunter Partei verstanden wird, werden die Grenzen der Interpretation überschritten. Es liegt Verfassungsbruch vor."38 Sind nicht auch dann die Grenzen der Interpretation überschritten, wenn ein Vorgang "Wahl" genannt wird, obwohl es nichts zu wählen gibt, die Veranstalter mit absoluter Sicherheit das Ergebnis der sogenannten Wahl kennen? (In der DDR kursierte ein Witz: "Letzte Nacht erfolgte ein Einbruch im Innenministerium!" - "Wurde etwas Wichtiges entwendet?" - "Leider! Die Wahlergebnisse rur die nächsten 20 Jahre!") Die Antwort kann, wie ich meine, nur lauten: Ja, die Grenzen der Interpretation sind überschritten. Dann aber ist es unverständlich, daß auch seitens jener, die mit beiden . Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, diese staatsweite Kundgebungen der Macht der SED und der Ohnmacht aller Untertanen als Wahlen bezeichnet wurden.39 War es Gedankenlosigkeit, Schwäche, Bequemlichkeit, Liebedienerei, was dazu veraniaßt hat, den DDR-Sprachgebrauch zu übernehmen? Daß dieses Entgegenkommen mit dazu beigetragen hat, die Diktatur der Partei etwas zu verschleiern, steht rur mich außer Frage. Erstmals seit Mitte der 60er Jahre entdeckte ich 1991 in einer amtlichen Publikation der Bundesregierung wieder das Wort "Scheinwahl", und zwar in Heft 231 der Informationen der Bundeszentrale rur politische Bildung, betitelt "Geschichte der DDR".40

31

Mampel (Anm. 22), S. 28.

39

Der Autor sprach stets von "Veranstaltungen, die die Bezeichnung Wahlen tragen", z.B. Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat - Verstllndnis und Wirklichkeit in beiden Teilen Deutschlands, Köln 1980, S. 121 ff.; ders., Karl Marx und die Diktatur in der DDR, in: Ders. (Hrsg.), Karl Marx und das politische System der DDR, Asperg 1982, S. 21; ders., 1st die DDR eine deutsche demokratische Republik?, in: Politische Studien 271/1983 S. 534 f.; ders., Vorwort, in: Rudolf Pasch (Hrsg.), Wachsamkeit der Preis der Freiheit, Berlin 1987, S. 5. 40

Bundeszentrale rur politische Bildung (Anm. I), S. 12.

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Eingangs wurden Gemeinsamkeiten zwischen den Wahlen zum Deutschen Reichstag am 5. März 1933 und zu den Landtagen der SBZ am 20. Oktober 1946 festgestellt. An das Ende setze ich einen Bericht über die NSReichstags"wahlen" 1936. Die Frage lautet nicht, wo liegen die Gemeinsamkeiten zu den "Wahlen" in der DDR. Sie liegen auf der Hand. Die Frage lautet nur: Wer hat vom wem abgeschaut, denn Stalin war vor Hitler? "Die Wähler wurden wie die Schafe aus der Hürde geholt. Die Blockwarte drängten alles am Vormittag des Wahltages schon zur Wahl. So wurde erreicht, daß die Wähler im Wahllokale Schlange stehen mußten. Die Wahlzelle stand abseits. SA-Leute lenkten die Schlange der Wähler vom Eingang des Wahllokals direkt zum Tisch des Wahlvorstandes, bei dem die Urne stand. Dabei wurde von Nazis immer wieder erklärt: Wer Hitlers Friedenspolitik nicht bejaht, ist ein Volksverräter! Was mit Volksverrätern geschieht, weiß ein jeder, die Blockwarte haben es außerdem deutlich in den Wohnungen zu verstehen gegeben, daß derlei Volksverräter nach Dachau gehören. Wer aber kein Volksverräter sein will, der kann auch offen abstimmen. Wer einmal in der Schlange der Wähler im Wahllokal stand, getraute sich nicht mehr herauszutreten und etwa zur Wahlzelle zu gehen. So wurde Wähler um Wähler in der Schlange langsam weitergeschoben, bis er am Tische mit der Urne stand. Von Wahlgeheimnis also keine Spur. Das war am Vormittag des Wahltages. Wer nachmittags sozusagen als Einzelwähler kam, der wurde von soviel Nazi-Augen gemustert, daß er davon schon seinen Schreck bekommen konnte. Ein Fernbleiben von der Wahl war kaum möglich, denn bei Nichtbeachtung der Aufforderung der Schlepper machte man sich ja wieder zum 'Volksverräter'. Kranke brauchten überhaupt nicht zur Wahl zu gehen, man brachte ihnen den Stimmzettel in die Wohnung und nahm ihn dann angekreuzt wieder mit."41

41

Deutschland-Bericht der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Sopade. 1933 - 1940, Frankfurt 8.M. 1982 betr. 1936, S. 423.

Hans Michael Kloth DIE LETZTE DDR-WAHLRECHTSREFORM VON 1988/89 1. Einleitung

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten waren Wahlen in der DDR genau das nicht: Wahlen. Die Aus-Wahl zwischen unterschiedlichen politischen Programmen und Personen war kein Wesensmerkmal dieser "Volksbefragungen konsultativen Charakters [... im Wege einer gelenkten Kampagne [... ] mit der Auflage der abschließenden einmütigen Akklamation" I; statt aus dem Mehrheitsprinzip leitete die SED ihren Herrschaftsanspruch aus angeblich objektiven historischen Erfordernissen und, konkret, aus einer verfassungsmäßig verankerten "fIlhrenden Rolle" ab. 2 Im Realsozialismus kehrte sich so die Stoßrichtung politischer Willensbildung gegenüber der im Pluralismus um: Nicht mehr die Willensbildung des Volkes galt als Voraussetzung fIlr staatliche Willensbildung, sondern die Staatspartei beanspruchte, den Willen des - nur noch formal als Souverän anerkannten - Volkes zu bilden und es fIlr ihre Ziele möglichst umfassend zu aktivieren. Sozialistische Demokratie manifestierte sich damit nicht als Gewährung autonomer Teilhabe, sondern als Mobilisierung zweckgebundener Teilnahme; auch die Wahlen wurden der fIlr sie konstitutiven qualitativen Dimension (Mitbestimmung, Teilhabe) beraubt und auf die quantitative Dimension (Mitmachen, Teilnahme) politischer Partizipation reduziert.3 In der Wahlliteratur der westdeutschen DDR-Forschung erscheint die Rolle von "Wahlen" in der DDR - soweit sie überhaupt thematisiert wird - außeror-

So die Charakterisierung von Hennann Josef Leng, Die allgemeine Wahl im bolschewistischen Staat, Meisenheim a. G. 1973, S. 71. Der DDR-Staatsrechts lehre zufolge lagen im Realsozialismus "die politischen und sozialen Wurzeln der Macht.. nicht im Wahlsystem begründet", vielmehr ist "die Legitimität der Macht der Arbeiterklasse .. auf die historische Mission der Arbeiterklasse, auf die Erfordernisse der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gegründet, die in der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, dem Marxismus-Leninismus, Ausdruck findet"; so Herbert Graf/Günther Seiler, Wahl und Wahlrecht im Klassenkampf, Berlin (Ost) 1971, S. 165. Diese Differenzierung geht zurück auf die klassische Studie von Robert A. Dahl, Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven u. London 1971.

118

Hans Michael Kloth

dentlich statisch. Der in der Ära von Szientismus und Entspannungspolitik dominierend gewordene "systemimmanente" Ansatz der "vergleichenden Deutschlandforschung" ist der Problematisierung politischer Herrschaft in der DDR weitgehend ausgewichen und hat sich auch mit dem Wahl system nur oberflächlich und referierend befaßt. 4 Die überwiegend normativ-staatsrechtlich ausgerichtete "Ostforschung" alter Prägung hat die in der DDR vorgenommenen Wahlrechtsänderungen zwar akribisch registriert, sie aber auch umgehend als unbedeutend ad acta gelegt, weil sie als bloße "Vervollkommnung des sozialistischen Wahlrechts" rechtsstaatlichen und demokratietheoretischen Kriterien notwendigerweise nicht genügen konnten. 5 Heute läßt sich aus historisch-rekonstruierender Perspektive unbefangener und differenzierter an eine Rekonstruktion des ideologischen und machtpolitischen Stellenwerts der Wahlen aus Sicht der SED gehen, ohne in den Geruch des Relativismus zu geraten. Denn während sie aus normativer Sicht von geringer Bedeutung sind, fUgen sich die zahllosen Ergänzungen und Änderungen des DDR-Wahlrechts aus partizipationstheoretischer Perspektive in ein Schema der Extensivierung von Partizipation ein. Die Geschichte der "sozialistischen Demokratie" in der DDR war spätestens seit den siebziger Jahren eine Geschichte der Ausweitung von Teilnahme zur Verhinderung der Ausweitung von Teilhabe. Dies hatte zum einen situationsunabhängige ideologische Gründe: Zunächst die identitär-rousseauistische Demokratieauffassung und das zweckrationale

Grundlegend rur den "systemimmanenten" Ansatz: Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-FUhrung, 3. durchges. Aufl., Köln 1970; eine repräsentative Zusammenschau aufletztem Stand bietet Gert-Joachim Gläßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker, Opladen 1988; zu Wahlen exemplarisch der Artikel "Wahlen", in: DDR-Handbuch, hrsg. vom Bundesministerium rur innerdeutsche Beziehungen, Bd. 2, Köln 1985, S. 1447 ff. Zur Kritik der systemimmanenten DDR-Forschung vor 1989 Eberhard SchUttWetschky, Vergleich Bundesrepublik Deutschland - Deutsche Demokratische Republik. Zur Kritik der systemimmanenten Methode, in: Deutschland Archiv, 7/1988, S. 754-61; nach 1989 besonders Eckhard Jesse, Die politikwissenschaftliche DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter EisenmanniGerhard Hirscher (Hrsg.), Dem Zeitgeist geopfert. Die DDR in Wissenschaft, Publizistik und politischer Bildung, MUnchen 1992, S. 13-58 sowie sehr prononciert Jens Hacker, Deutsche Irrtümer 1949-89, BerlinlFrankfurt a. M. 1992. FUr diese Richtung stehen etwa Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der DDR. Kommentar, Köln, 2. Aufl., 1982; Georg Brunner, Einruhrung in das Recht der DDR, 2. Aufl., MUnchen 1979; Herwig Roggemann, Die Staatsordnung der DDR, 2. Aufl., Berlin 1974; ders., Die DDR-Verfassungen, 3. Aufl., Berlin 1980. Im Hinblick auf die Funktion der sozialistischen Wahlen differenzierter und ergiebiger als "Ostforschung" und "vergleichende Deutschlandforschung" ist bezeichnenderweise die politikwissenschaftliche Literatur zu DDR-Wahlen, die nicht i. e. S. aus der DDR-Forschung stammt, so Leng (Anm. I); Eckhard JesselUdo Wetzlaugk, Wahlen im geteilten Deutschland, Berlin 1974, sowie grundlegend Peter Joachim Lapp, Wahlen in der DDR, Berlin 1982. Einruhrend auch Hans Michael Kloth, Artikel "Wahlen", in: Rainer Eppelmann u.a. (Hrsg.), Lexikon des SED-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Paderbom 1996, S. 672 f.

Die letzte DDR-Wahlrechtsreform von 1988/89

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Politikverständnis des Marxismus-Leninismus, gemäß derer "die Erkenntnisse und Erfahrungen der Massen" für die vorgegebenen Ziele der Partei möglichst "umfassend ausgeschöpft und genutzt" werden sollten 6 ; darüber hinaus aber auch den in der Fortschrittsideologie des Systems selbst angelegten Zwang, ständig gesellschaftlichen "Fortschritt" produzieren zu müssen, um die Gültigkeit des teleologischen Legitimitätsanspruchs der Herrschaft zu belegen. Zum anderen waren die Gründe natürlich machtpolitischer Art: Die (den ideologischen Prämissen zuwiderlaufende) Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Interessen mußte aufgefangen werden, ohne daß dadurch die fllhrende Rolle durch Ausweitung von Teilhabe in Frage gestellt wurde. Die Gründung der "Gesellschaft fllr Natur und Umwelt" 1980 oder des "Verbandes der Freidenker" 1988/89 sind ebenso Beispiele für die "extensive" Partizipationsstrategie des Regimes wie die Wiederaufnahme der "Vereinigung der gegenseitigen Bauemhilfe" (VdgB) in den Kreis der als Volkskammer-"Mandatsträger" fungierenden Massenorganisationen 1986. In diesem Sinne besaßen auch sozialistische "Wahlen" die gesellschaftsgestaltende Funktion, die ihnen von der DDRStaatsrechtslehre zugestanden wurde. 7 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll im folgenden die letzte von der SED selbst initiierte Wahlrechtsreform, in zwei Schritten Ende 1988 und Anfang 1989 durchgeführt und wirksam geworden bei der berühmtberüchtigten Kommunalwahl vom 7. Mai 1989, rekonstruiert und in den politischen Kontext der Endphase der DDR eingeordnet werden.

2. Die" Wahlrechtsreform" der SED von 1988/89 Die DDR-Kommunalwahlen vom Mai 1989 sind vor allem durch den Nachweis systematischer Wahlfiilschungen durch oppositionelle Basisgruppen im Bewußtsein geblieben. Die Offenlegung der von der SED begangenen Manipulationen kam einem erzwungenen Offenbarungseid gleich, der auch bislang system loyale DDR-Bürger gegen das Regime aufbrachte und die Kommunal-

Wolfgang WeicheltIHans-loachim KarliczeklHelmut Melzer, Lenins Lehre von den Sowjets und die Volksvertretungen in der DDR, Berlin (Ost) 1970, S. 107, zitiert nach Hans-Peter Waldrich, Der Demokratiebegriff der SED, Stuttgart 1980, S. 151. "Die Entwicklung der gesellschaftlichen Funktion der Wahlen, des Wahl systems und des Wahlrechts ist ein gesellschaftsgestaltendes dynamisches Element, das [... ] die Entwicklungspotenzen der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Staates" starkt, so Herbert Graf/Günther Seiler, Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem. Wesensmerkmale der Wahlen und des Wahlrechts in der DDR, in: Sozialistische Demokratie vom 5.6.1963 (Beiheft), S. 2; paraphrasiert auch in dem Standardwerk der beiden Autoren (Anm. 2), S. 151 f.

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Hans Michael Kloth

wahl zu einem entscheidenden Katalysator fUr die Entstehung der Bürgerbewegung in den folgenden Monaten werden ließ.8 Kaum bekannt ist dagegen, daß die SED-Führung im Vorfeld dieser letzten "sozialistischen" Wahlen Ende 1988 und Anfang 1989 in zwei Schritten eine "Wahlrechtsreform" durchfUhrte, die nicht nur fUr die Ereignisse in Zusammenhang mit dem 7. Mai 1989 von erheblicher Bedeutung waren, sondern mit der die SED-Spitze geradezu ein Lehrstück über die Gründe ihres eigenen Untergangs lieferte. 2. J Hintergrund

Zum Jahresende 1988 hatte der Reformdruck auf die SED eine neue Dimension erreicht. Das Scheitern der Repression nach innen und der Abgrenzung nach außen hatte zu einer gesellschaftlichen Konfrontation ge fUhrt, wie sie die DDR seit 1953 nicht mehr erlebt hatte. Der nach Honeckers Bonn-Besuch im September 1987 eingeleitete harte innenpolitische Kurs hatte die einsetzende Formierung der inneren Opposition nicht verhindern können und das Verhältnis Staat-Kirche zerrüttet; die permanente Ausreisekrise hatte einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Unter dem Einfluß der Entwicklung in den sozialistischen "Bruderländern" rückte auch in der DDR immer deutlicher das Verlangen nach echter Teilhabe und damit implizit bereits die Machtfrage - in den Mittelpunkt der Kritik an der SED-Herrschaft. Im Sommer 1988 hatten die Initiative "Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung" in einem weit verbreiteten Aufruf die "Reform des politischen Systems der Mitverantwortung einschließlich des Wahlsystems und der Wahlverfahren, die Herausbildung eines öffentlichen Meinungspluralismus zu den drängenden Lebensproblemen im Land" als "unumgänglich" bezeichnet; kirchliche Basisgruppen hatten in einem breit abgestimmten "Konsenspapier" gefordert, "bei allen Wahlen erkennbare Entscheidungsmöglichkeiten zwischen mehreren Kandidaten zuzulassen. "9 Diese Entwicklung war der SED-Führung aus den Berichten der "Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe" (ZAIG) des Ministeriums rur Staatssi-

Z. B. Wolfgang RUddenklau, Störenfried. DDR Opposition 1986-1989, 2., Uberarb. Aufl., Berlin 1992, S. 288 ff. Empirische Belege daftlr, daß der 7. Mai den Einschnitt ftlr die Zunahme der Proteste Mitte 1989 darstellt, liefern Karl-Dieter OpplPeter Voß/Christiane Gern, Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993, S. 241, 255. "Weil alle Abgrenzung ... " Dokumente im Streit um die Abgrenzung, hrsg. vom Friedenskreis der Bartholomllusgemeinde Berlin, o. D., S. 28 f. (Archiv des Verf.); Gerhard Rein, Die Opposition in der DDR. EntwUrfe ftlr einen anderen Sozialismus, Berlin 1989, S. 200.

Die letzte DDR-Wahlrechtsrefonn von 1988/89

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cherheit (MfS) genau bekannt. I0 Auch, daß sich diese Stimmung nicht auf einige wenige "feindlich-negative" Randgruppen beschränkte, sondern die Unzufriedenheit mit den gegebenen Partizipationsmöglichkeiten auch in der breiten Bevölkerung nicht mehr nur latent, sondern akut war, wußte die SEDSpitze. In einer von ihr selbst in Auftrag gegebenen Umfrage erklärten im Frühjahr 1989 über drei Viertel der Befragten in 14 DDR-Kreisen offen, daß sie ihre Möglichkeiten zur realen Mitentscheidung als "nicht ausreichend bzw. wirksam" betrachteten. I I Damit war im Grunde eine neue Qualität erreicht: Die Systemkritiker hatten zum ersten Mal ein Thema aufgegriffen, das auch weiten Kreisen der bislang system loyalen Bevölkerung auf den Nägeln brannte. l2 2.2 "Ausschöpfen des Wahlgesetzes" als Reformsignal?

Die SED hatte somit guten Grund, es als "das erklärte Ziel unserer Partei" zu betrachten, "gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen das reale Funktionieren unserer Demokratie auch auf dem Gebiet von Wahlen noch deutlicher und überzeugender zu machen."13 Am 1. Dezember 1988 kündigte Erich Honecker vor diesem Hintergrund auf der mit Spannung erwarteten 7. Tagung des Zentralkomitees der SED neben der neuen Doktrin vom "Sozialismus in den Farben der DDR" an, als "weiterer Schritt zur Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie" werde rur die bevorstehenden Kommunalwahlen das Kandidatenvorschlagsrecht auf weitere gesellschaftliche Organisationen ausgedehnt, die

10

So heißt es in den Hinweisen vom 26. April 1989 zur Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchfilhrung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989: ,,[... ] im Zusammenhang mit den Wahlvorbereitungen werden auch immer wieder grundsätzliche Fragen der Entwicklung der sozialistischen Demokratie - gemessen an den Kommunalwahlen 1989 diskutiert. (... ) Häufig werden dabei Vergleiche zu den .. Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten in der UdSSR gezogen. Einzelne in der UdSSR pr8ktizierte Methoden sollten nach Meinung der sich dazu äußernden Personen auch in der DDR angewandt werden. Damit könne der demokratische Charakter der Wahl erhöht werden." Bundesbeauftragter filr die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR, (im folgenden BStU), MfS, ZAIG, Nr. 0/216, abgedruckt in: Armin Mitter/Stefan Wolle (Hrsg.), Ich liebe Euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS, Berlin 1990, S. 29-33, 30 f. 11

Peter Zotl (Leiter eines Autorenkollektivs), Zur weiteren Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie in der DDR in den neunziger Jahren; Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv (im folgenden SAPMO), Zentrales Parteiarchiv der SED (im folgenden ZPA), Bestand Büro Krenz, IV 2/2.039/232. Dies war eine von insgesamt vierzig Studien, die an der Akademie filr Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED 1988/89 zum Thema "Der Sozialismus in den 90er Jahren" erstellt wurden. 12 13

Rüddenklau (Anm. 8), S. 288.

Rede des Genossen Horst Dohlus auf der Beratung mit den 2. Sekretären der Bezirksleitungen der SED am 9.2.1989; SAPMO, ZPA, Bestand Büro Dohlus, IV 2/2.0412/052, S. 38.

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Möglichkeiten zur Prüfung der Kandidaten durch die Wähler erweitert sowie die Wahlkreise verkleinert.! 4 2.2. I Ausweitung des Vorschlagsrechts

Durch die Ausweitung des Rechtes zur Nominierung von Kandidaten auf zusätzliche gesellschaftliche Gruppen sollte, so Honecker, "die Auswahl der künftigen Volksvertreter auf eine breitere Grundlage" gestellt werden. Die Zusammenstellung der acht nunmehr zusätzlich vorschlags berechtigten Organisationen machte jedoch deutlich, daß diese "breitere Grundlage" in einem rein funktionalen, nicht politischen Sinne verstanden wurde. Es handelte sich um die Kammer der Technik (KdT), den Verband der Konsumgenossenschaften (VDK), die Volkssolidarität, den Deutsche Turn- und Sportbund der DDR (DTSB), die URANIA, das Deutsche Rote Kreuz der DDR, die Freiwilligen Feuerwehren und schließlich den Verband der Kleintierzüchter, Siedler und Kleingärtner (VKSK).15 Neben diesen offiziell genannten Organisationen wurden rur den 7. Mai dann auch noch Kandidaten von der "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST), der "Gesellschaft rur Deutsch-Sowjetische Freundschaft" (DSF) sowie, in einigen Gebieten, vom DDR-Anglerverband aufgestellt. Der VDK war über andere Massenorganisationen bereits zuvor vertreten gewesen, durfte diese Präsenz aber ausbauen. Daß mit dieser Änderung keineswegs eine Pluralisierung der Politik oder auch nur eine Refonn des "Demokratischen Blocks" eingeläutet werden sollte machte auch die Tatsache deutlich, daß die genannten Organisationen noch nicht einmal den Status von "Mandatsträgern" erhielten, sondern ihre Vorschläge lediglich von den Mitgliedsorganisationen des Blocks "berücksichtigt" werden sollten. 2.2.2 Intensivierung der Kandidatenauswahl

Auch die versprochene "Intensivierung" der Kandidatenauswahl konnte kaum als Schritt in Richtung einer Verbesserung politischer Teilhabe interpretiert werden. Denn weder rur die Ausdehnung der Kandidatenprüfung in den 14

Mit dem Blick auf den XII. Parteitag die Aufgaben der Gegenwart lösen. Aus dem Bericht des Politbüros an die 7. Tagung des Zentralkomitees der SED, Berichterstatter: Erich Honecker, in: Neues Deutschland vom 2. Dezember 1988. 15

Vgl. Wahl aufruf des Nationalrats der Nationalen Front der DDR, in: Junge Welt vom 27. Januar 1989; Roland AckerlOswaId Unger, Kommunalpolitik ftlr Leistungswachstum und Bürgerwohl. Volkswahlen 1989 - Akt souveräner Willensentscheidung der Bürger der DDR, in: Staat und Recht, 2/1989, S. 111.

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Arbeitskollektiven auf vier Wochen noch filr die Einfilhrung einer zusätzlichen Vorstellungs- und PTÜfungsrunde der Wahlkreiskandidaten in den Wohngebieten wurden konkrete Ausfilhrungsbestimmungen erlassen, so daß - anders als in der Sowjetunion, wo das neue Wahlgesetz filr Wählerversammlungen zum Beispiel ein Quorum von 500 Wahlberechtigten vorschrieb l6 - die Handhabung weiterhin der willkürlichen und interessegeleiteten Auslegung von SEDFunktionären blieb. Daß, wie Peter Joachim Lapp annimmt l7 , die Ausweitung der Kandidatenprüfung wesentlich zu der gestiegenen Zahl der Ablehnung von Kandidaten bei der Aufstellung filr die Mai-Wahl 1989 beigetragen hat, ist bislang nur Hypothese. Es erscheint ebenso plausibel, daß auch unter dem alten Verfahren angesichts des Unmuts der Bevölkerung eine ähnliche Größenordnung erreicht worden wäre. Eine Zunahme der Ablehnung von Kandidaten könnte sogar ursächlich auf die besondere Wachsamkeit zurückzufilhren sein, die die Parteispitze von ihren Funktionären vor Ort aufgrund der ausgeweiteten Kandidatenprüfung verlangte. 18 Möglicherweise waren es also gerade "liberale" Kandidaten, die gestrichen wurden. So oder so schafften es auch 1989 nur von der SED abgesegnete Kandidaten, als Abgeordnete in die Volksvertretungen einzuziehen. 2.2.3 Verkleinerung der Wahlkreise

Die Verkleinerung der Wahlkreise von bisher bis zu zwölf Mandaten pro Wahlkreis 19 auf nunmehr acht bis maximal zehn war ebenfalls eine politisch

16

Vgl. Georg Brunner/Cannen Schmidt, Die sowjetische Verfassungsreform vom Dezember 1988, in: Osteuroparecht, 2/1989, S. 77 ff. 17

Peter Joachim Lapp, Kommunalwahlen 1989 in der DDR, in: Deutschland Archiv, 6/1989, S.615. 18

So forderte Politbüro Horst Dohlus von den Bezirkssekretären Anfang Februar 1989, sie sollten ,,[... ] der gründlichen Auswahl und öffentlichen Prüfung der Kandidaten rur die neuzuwählenden Volksvertretungen große Bedeutung beimessen [... ] Die Prüfung und der Vorschlag der Kandidaten [ ... ] sollen [... ] dazu beitragen, daß letztlich nur solche Kandidaten auf den Stimmzetteln stehen, die den im Beschluß des Politbüros vom 24. Mai 1988 genannten Voraussetzungen gerecht werden." (Rede des Genossen Horst Dohlus auf der Beratung mit den 2. Sekretären der Bezirksleitungen der SED am 9.2.1989, SAPMO, ZPA, Bestand Büro Dohlus, IV 2/2.0412/052, S. 38) Der erwähnte Politbüro-Beschluß verlangte, Kandidaten müßten "fest mit der Arbeiter- und Bauernrnacht verbunden sein. Vgl. auch: Sex und Suff. Perestroika in der DDR?, in: Der Spiegel vom 3. April 1989, S. 114 ff. I' Vgl. Beschluß des Staatsrats der DDR zur Zusammensetzung der Kreistage, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen und über die Bildung der Wahlkreise vom 12.12.1988, GBI., I, S. 353; Neues Deutschland vom 8. Mai 1989, S. 3. Auch Roland AckerlOswaId Unger, Kommunalpolitik rur Leistungswachstum und Bürgerwohl. Volks-

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belanglose Korrektur, die sich aus der mechanistischen Vorstellung speiste, durch solche Zahlenspiele "die reale Mitbestimmung von immer mehr Bürgern bei der Leitung und Planung von Staat und Wirtschaft" sichern zu können. Entgegen der formal in einem Staatsratsbeschluß festgeschriebenen Verkleinerung wurden zudem die Wahlkreise in den Großstädten dann doch nicht wie vorgesehen verkleinert, was den Eindruck eines leichtfertigen Umganges mit dem Wahlrecht verstärkte und in Eingaben zur Wahl Anlaß rur Kritik war, wie auch Honecker in seinem Bericht an die 8. Tagung des SED-Zentralkomitees zugeben mußte. 20 2.2.4 Motive

Die Neuerungen brachten den DDR-Bürgern unter dem Strich keinerlei Zuwachs an politischer Teilhabe. Als Signal an die Bevölkerung waren die Änderungen ausgesprochen kontraproduktiv: Daß Kaninchenzüchtern und Feuerwehrleuten Mandate in Volksvertretungen zugestanden wurden, während andere, manifeste gesellschaftliche Interessen weiterhin ausgeschlossen blieben, machte die sozialistische Demokratie in den Augen vieler Bürger endgültig zu einer Karikatur. Ein reformerischer Impetus war in den Änderungen durchweg nicht zu erkennen, sie setzen lediglich die bisherige Politik der Ausweitung von Teilnahme fort und standen damit konsequent in der Tradition ihres identitärquantitativen Demokratieverständnisses und linear-mechanistischer Reformvorstellung. In der Tat unternahm die SED alles, um den Eindruck eines Reformsignals zu vermeiden und wiederholte stereotyp, alle Änderungen stünden in der "bewährten" Tradition der systematischen "Weiterentwickung des Wahlrechts in Einklang mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung" (so der Präsident des Nationalrats der Nationalen Front, Lothar Kolditz). Insoweit stellte sich diese "Wahlrechtsreform" vor allem als ein ideologisch induzierter, vom Einfluß politischer Realitäten jedenfalls unangekränkelter Selbstläufer dar, Ausfluß des systemimmanenten Zwanges zur permanenten Erzeugung ideologiekompatiblen Fortschritts und nicht etwa der Notwendigkeit politischen Handelns. Tatsächlich war das auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Krise im wahlen 1989 - Akt souverllner Willensentscheidung der Bürger der DDR, in: Staat und Recht, 2/1989, S. 112. 20

Infonnation über Hinweise, Vorschläge, Forderungen und Kritiken von Bürgern in den Eingaben an das ZK der SED zu Wahlrechtsfragen vom 28.7.1989, S. 2 (Kopie im Archiv des Verf.); Bericht des Politbüros an die 8. Tagung des Zentralkomitees der SED am 22./23. Juni 1989, in dem Honecker erklllrte: "Die Wahlkreise wurden verkleinert [... ] Kritische Hinweise gab es dort, wo diese Festlegung noch zu wenig beachtet wurde." (zit. nach Deutschland Archiv, 8/1989, S. 945 ff, 955).

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Dezember 1988 verkündete Maßnahmepaket bereits im Mai 1988 zusammen mit der Festlegung des Wahltermins beschlossen worden, als die Zuspitzung noch weit weniger akut war. 21 Die Interpretation, daß hier die konsequente Umsetzung einer langfristigen Strategie zur "Vervollkommnung" der "sozialistischen Wahldemokratie" im Vordergrund stand, ist dennoch nicht haltbar. Die Änderung war keinesfalls langfristig oder systematisch geplant, sondern erfolgte offenbar sehr kurzfristig und aus taktischen Motiven. Der einschlägige Beschluß des Politbüros datiert vom 24. Mai 1988.22 Den Vorschlag, das Kandidatenvorschlagsrecht auszuweiten, unterbreitete Egon Krenz, designierte Vorsitzender der Wahlkommission der Republik, Erich Honecker in einer ZK-Hausmitteilung erst fUnf Tage zuvor, am 19. Mai 1988.23 In der vom darauffolgenden Tag datierenden Vorlage fUr die Politbürositzung vom 24. Mai fmdet sich noch keine Bemerkung über eine beabsichtigte Änderung des Wahlverfahrens. Die diesbezüglichen Vorschläge sind dieser Vorlage separat in einem zweiseitigen Papier ohne Datum als Anlage beigefUgt. Offenbar war die Änderung in dem vom Apparat entworfenen ursprünglichen Beschluß nicht vorgesehen und erst unmittelbar vor der Politbürositzung Bestandteil der Vorlage geworden. Als Motive fUr diese plötzliche Initiative dürften also durchaus politischtaktischen Erwägungen in Frage kommen. Kaum von der Hand zu weisen ist der Anschein, daß das Politbüro unter dem Eindruck der parallel laufenden Entwicklung in der Sowjetunion handelte. Nachdem Michail Gorbatschow auf dem Februar-Plenum 1988 des ZK der KPdSU erstmals eine weitreichende Reform des politischen Systems selbst gefordert hatte 24 , hatte das Plenum am 23. Mai 1988 - also genau einen Tag vor dem SED-Beschluß zur DurchfUhrung der DDR-Kommunalwahlen - 10 Thesen fUr die XIX. Allunionskonferenz im Juni verabschiedet. Diese Thesen verlangten nicht nur eine wirkliche Weisungsbefugnis der Sowjets gegenüber den Exekutivorganen, sondern forderten darüber hinaus in These 6 ausdrücklich ein Konkurrenzwahlsystem. 25 Auch daß die öffentliche Bekanntgabe der DDR-"Wahlrechtsreform" durch Honecker am 1. Dezember 1988 erfolgte, genau an dem Tag, an dem der Oberste Sowjet einschlägige Verfassungsänderungen beschloß, mag man kaum als reinen Zufall 21

Vgl. die Materialien aus dem Büro Krenz, SAPMO, ZPA IV 212.039/230.

22

Ebd. Die in diesem Absatz erwähnten und nicht einzeln zitierten Politbüro-Dokumente finden sich alle in diesem Bestand. 23 24

25

Ebd., S. 10. Die Mitteilung trllgt den handschriftlichen Vermerk "Einverstanden. E.H." Vgl. Michail Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 365 ff.

Durch die "freie Aufstellung von Kandidaten", so das Papier, würden Wahlen zukünftig "das natürliche Ergebnis der Willensbekundung der Wähler sein", vgl. BrunnerlSchmidt (Anm. 16), S. 77 ff.

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interpretieren. Schließlich waren auch inhaltliche Ähnlichkeiten unübersehbar: Während in der DDR nun der Verband der KleintierzUchter und die Kammer der Technik Kandidaten vorschlagen durften, sollten im sowjetischen Volksdeputiertenkongreß Organisationen wie die "Freiwillige Gesellschaft der Union zum Kampf rur Nüchternheit" oder die Unionsgesellschaften der Buchliebhaber, der Kinofreunde, der Philatelisten und rur Musik Mandate besetzen dürfen. 26 Für die SED-Führung dürfte also zum einen der Gedanke eine Rolle gespielt haben, durch Adaption einiger mit ihrer "fUhrenden Rolle" zu vereinbarender Elemente des neuen sowjetischen Wahlrechts innenpolitische Forderungen nach Übernahme sowjetischer Reformen aufzufangen. Dennoch ist gerade im Konflikt mit der Sowjetunion auch der ideologische Aspekt von großer Bedeutung. Subjektiv sah sich die SED zu diesem Zeitpunkt tatsächlich stärker einer externen und ideologischen denn einer internen und politischen Bedrohung gegenüber. Die SED-Führung verstand sich nicht erst seit Gorbatschow als eigentlicher Gralshüter der marxistisch-leninistischen Lehre. Fast durchweg in der Stalin-Ära politisch sozialisiert, waren die SED-Führer gläubige Kommunisten alter Prägung, deren Fixierung auf die Axiome des HistoMat und DiaMat von katholischer Frömmigkeit war. Angesichts der "Häresien" Gorbatschows ließen sie keine Gelegenheit aus, der sowjetischen Bruderpartei ihr Abweichen vom Pfad der universellen Wahrheit und rechten Erkenntnis vor Augen zu ruhren und sich ihr eigenes Weltbild zu bestätigen. 27 Ohne sie beim Namen zu nennen wurde so betont herausgestellt, daß während die UdSSR ein komplett neues Wahlgesetz und weitreichende Verfassungsänderungen vorbereitete, rur die DDR-"Wahlrechtsreform" ein formelle Änderung des Wahlgesetzes unnötig gewesen seien. Dies sei ein deutlicher Beleg rur das "demokratische Potential" des DDR-Wahlrechts und seine Verwirklichung der Leninschen Forderung eines "unbürokratischen" Wahlsystems ohne "bürgerlichen Formalismus". Der ZK-Abteilungsleiter rur Staat- und Rechtsfragen, Klaus Sorgenicht, formulierte es wie folgt: ,,[ ... ] die "Vervollkommnung unseres Wahlrechts (ist) in der Praxis, ohne Veränderung des Wahlgesetzes erfolgt. Ich möchte sagen: Das ist ein Phänomen. Aber es ist Ausdruck unserer Politik, Ausdruck dessen, daß unsere Verfassung und die Gesetze noch mehr Spielraum geben, in der Praxis den demokrati-

26

Ebd., S. 80, Fn. 18. Von der in der DDR fehlenden, entscheidenden Möglichkeit zur Aufstellung unabhlngiger Kandidaten natürlich abgesehen. 27

Zur Analyse moderner Diktaturen unter religionssoziologischen Gesichtspunkten vgl. Hans Maier (Hrsg.), "Totalitarismus" und "Politische Religionen". Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996.

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schen Charakter unserer Politik mit dem Menschen noch deutlicher zu machen und zu praktizieren."28 Dem pflichtete auch der StaatsrechtIer und SED-Volkskammerabgeordnete Wolfgang Weichelt bei: "Die Tatsache, daß die meisten neuen Elemente in der Wahlvorbereitung sichtbar werden und möglich geworden sind ohne Änderung des Wahlgesetzes, zeigt, daß sowohl unsere Verfassung als auch unsere Gesetze noch beträchtliche Reserven der Entwicklung einer lebendigen Demokratie in unseren Lande enthalten und daß das Problem gar nicht in einer Flut neuer Gesetz liegen muß, um auf diesem Gebiet weiter voranzukommen."29

2.3 Mobilisierung von Legitimationsreserven: Die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts Dieses Argument ließ sich für die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts nicht geltend machen. Dennoch war der SED-Führung diese Änderung offenbar so wichtig, daß sie dafür das DDR-Wahlgesetz mitten in der laufenden "Wahlbewegung" von der Volkskammer in einem beispiellosen Kraftakt ändern ließ. Die Geschichte dieser Gesetzesänderung ist eine der frappierendsten Episoden aus der Spätphase der SED-Herrschaft, die sich ausführlicher darzustellen lohnt, weil sich in ihr die ganze Komplexität (und Verbogenheit) der machtpolitischen und ideologischen Motive zeigt und wie in einem Brennglas exemplarisch die Defekte des DDR-Sozialismus deutlich werden: die Personalisierung und Zentralisierung von Entscheidungsmacht, die Geringschätzung der politischen Institutionen und des Rechts, das zwanghaft anmutende Rechtfertigungsbedürfnis nach außen und das Verharren in einem rein quantitativen Partizipationsverständnis, welches das wachsende Bedürfnis der Bürger nach Teilhabe in keiner Weise mehr befriedigen konnte.

2.3.11nspiration aus dem Westen Am 31. Januar 1989 traf SED-Generalsekretär Erich Honecker in Ost-Berlin mit dem damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Björn Engholm zusammen. Neben anderen Fragen kam das Gespräch auch auf die Bemü2.

Steno Protokoll der Sitzung des Verfassungs- und Rechtsausschusses arn 30. März 1989; Bundesarchiv, Abteilungen Berlin (im folgenden BAreh), 0 AI/4056. 29

Ebd.

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hungen einiger sozialdemokratischer Landesregierungen, in ihren Bundesländern das kommunale Ausländerwahlrecht einzuruhren. Diese Pläne waren in der Bundesrepublik auf heftigen innenpolitischen Widerstand gestoßen und zum Gegenstand von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geworden.3 0 Im Anschluß an das Gespräch mit Engholm erkundigte sich Honecker bei Klaus Sorgenicht, dem Leiter der Abteilung Staat und Recht beim ZK der SED, nach dem wahlrechtlichen Status von Ausländern in der DDR.3 1 Offenbar aus einem spontanen Impuls heraus - ob in Absprache mit anderen Politbüromitgliedern ist ungewiß - beauftragte er Sorgenicht, kurzfristig einen Entwurf auszuarbeiten, um noch rur die nahenden Kommunalwahlen im Mai die rechtlichen Voraussetzungen rur die Teilnahme von Ausländern zu schaffen. Ein Mitarbeiter Sorgenichts in der Abteilung Staat und Recht, Klaus Heuer (ein Bruder des DDR-Staatsrechtlers und späteren PDS-Bundestagsabgeordneten Uwe-Jens Heuer), nahm daraufhin Kontakt zu Professor Joachim Misselwitz auf. Misselwitz war Inhaber des einzigen Lehrstuhls in der DDR rur das Staatsrecht bürgerlicher Staaten an der Akademie rur Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg und befaßte sich in diesem Rahmen auch mit westlichem Wahlrecht. Heuer beauftragte Misselwitz, bis zur Politbürositzung am Donnerstag, dem 16. Februar 1989 um 10 Uhr eine Beschlußvorlage zu entwerfen. 2.3.2 Der Wille des SED-Generalsekretärs und die DDR-Verfassung Der von Misselwitz erarbeitete Entwurf wurde dem Politbüro auch offenbar am 16. Februar als Entwurf eines Staatsrat-Beschlusses vorgelegt.Er sah vor, in der DDR lebenden Ausländern das aktive Wahlrecht unter der Voraussetzung zu gewähren, daß sie das 18. Lebensjahr vollendet hatten, in einem ArbeitslD

Am 12. Oktober 1989 erließ das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung ge· gen die Beteiligung von Ausländern an den Gemeinde- und Kreiswahlen in Schleswig-Holstein, vgl. Deutsches Verwaltungsblatt, 1989, S. 1146. Mit Entscheidung vom 31. Oktober 1990 wurde der schleswig-holsteinische Gesetzentwurfftlr verfassungswidrig erklärt, vgl. BVerfUE 83, S. 73 .• Zwar wurde dem Protokoll des Treffens zufolge das Thema Ausländerwahlrecht während des offiziellen Gesprächs nicht erwähnt. Dennoch muß der Eindruck von Klaus Heuer, daß Honecker die Anregung aus der Begegnung mit Engholm mitgenommen hatte, nicht falsch sein; es scheint ohne weiteres denkbar, daß eine entsprechende Bemerkung am Rande fiel. Vgl. das Protokoll der Unterredung Engholm-Honecker bei Heinrich Potthoff (Hrsg.), Die "Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995, S. 830 ff. l' Ich beziehe mich im folgenden, wo nicht anders gekennzeichnet, auf mündliche Informatio· nen zahlreicher Beteiligter, insbesondere von Joachim Misselwitz und Klaus Heuer sowie von Werner Kirchhoff, Sekretar des Nationalrats der Nationalen Front, Manfred Gerlach, ehemaliger Parteivorsitzender der LDPD und letzter Staatsratsvorsitzender der DDR, sowie Paul Eberle, ehemaliger LDPD-Volkskammerabgeordneter und als Nachfolger von Rudolf Agsten Vorsitzender der LDPD-Volkskammerfraktion in der Zeit des Umbruchs. Ihnen allen sei hier ftlr ihre ausftlhrlichen Auskünfte gedankt.

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rechtsverhältnis mit einem DDR-Betrieb standen beziehungsweise an einer DDR-Einrichtung studierten oder mit einem DDR-Bürger verheiratet waren und in der DDR lebten.3 2 Wie es scheint, wurde die Vorlage in der Sitzung am 16. Februar jedoch nicht bestätigt, denn "Wahlrecht für ausländische Bürger" erscheint als Punkt I erneut auf der Tagesordnung der darauffolgenden Politbürositzung am 21. Februar 1989. Der Grund damr war augenscheinlich, daß Honecker die Novelle nicht weit genug ging: Er wollte Ausländern auch das passive Wahlrecht gewahren. Bedenken aus seiner Umgebung, daß einer so weitgehenden Fassung des kommunalen Ausländerwahlrechts innerstaatliche Regelungen der jeweiligen Herkunftsländer entgegenstehen könnten, fochten Honecker nicht an. Auch der Einwand, daß dafür eine Änderung "zumindest des Wahlgesetzes", möglicherweise sogar der Verfassung nötig werde (während flir die EinfUhrung des aktiven Wahlrechts noch ein Staatsratsbeschluß als ausreichend erachtet wurde!33), verfmg bei Honecker nicht, obwohl dadurch nicht nur ein enormer Zeitdruck entstand, sondern auch das kurz zuvor bei der Ausweitung des Kandidatenvorschlagsrechts noch als zentraler Vorzug der sozialistischen Demokratie herausgestellte Prinzip der "Ausschöpfung" des Wahlgesetzes ohne formalrechtliche Novellierung durchbrochen wurde. Honecker wischte diese Vorbehalte ohne Diskussion beiseite: "Man sollte hier offen diskutieren, ob man das macht [... ] in der Vorlage (ist) nur das aktive Wahlrecht vorgesehen. Ich bin auch für die Aufstellung von Kandidaten [... ] Am 3. März ist Staatsratssitzung. Wir haben die Möglichkeit, eine Verfassungsänderung zu veranlassen."34 Doch diese Möglichkeit bestand nach der Rechtslage tatsächlich nicht: Schon seit 1974 war der DDR-Staatsrat nicht mehr befugt, Verfassungsänderungen zu initiieren - ein Faktum, welches dem Staatsratsvorsitzenden Honecker offensichtlich nicht präsent war. Immerhin wagte es der stellvertretende Leiter der Abteilung Staat und Recht, Günther Böhme, Honecker einen entsprechenden

J2

Von der Politbüro-Vorlage zu diesem Beschlußentwurf existieren zwei unterschiedliche Versionen. Eine trägt als Datum den 16. Februar 1990 und vermerkt als Einbringer Horst Sindermann, die andere trllgt kein Datum und schließt mit dem Namen Honeckers. Inhaltlich stimmen beide Versionen überein. Vgl. SAPMO, ZPA, IV 2/2.039/230 bzw. IV 2/2 A 3195. JJ

Vgl. die Begründung zum Beschluß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Möglichkeiten rur ausländische Bürger zur Teilnahme an den Kommunalwahlen 1989; SAPMO, ZPA, IV 2/2.039/230, S. 62. J4

SAPMO, ZPA, IV 2/2.039170, S. 42 ff.

9 Jesse I Löw

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Hinweis zu geben. Honecker ließ sich korrigieren, hielt aber am Ziel unbeirrt fest: "Das stimmt. Das hatten wir damals tatsächlich geändert, weil wir das nicht mehr wollten. Aber wir können doch die Volkskammer einberufen."35 Daß die Parteien und Massenorganisationen des Demokratischen Blocks ihre Kandidatenvorschläge zu diesem Zeitpunkt längst miteinander abgestimmt und sie beschlossen hatten, daß überdies die "Prüfung" der Kandidaten durch die Wähler bereits seit zwei Wochen in Gang war, focht das Politbüro nicht an dieser Aspekt wurde gar nicht erst problematisiert. Laut Beschlußvorlage war der Demokratische Block lediglich "über die beabsichtigte Regelung zu informieren."36 Die Rolle des Rechts stellte Horst Sindermann von vornherein klar: "Die Teilnahme von Ausländern an den Kommunalwahlen verstößt nicht gegen die Verfassung und das Wahlgesetz [ ... ] Es ist eine politische Entscheidung, keine juristisch-wahlrechtliche."37 Die Quelle der Idee und das hinter der Entscheidung stehende politische Ziel machte Honecker in der aufschlußreichen Begrllndung für seinen Vorstoß deutlich: ,,(Es) geht [... ] darum, die Gleichberechtigung der ausländischen Arbeitnehmer sicherzustellen. In der BRD haben das fast alle sozialdemokratischen Regierungen beschlossen [... ] Im Westen gibt es das aktive und passive Wahlrecht bereits in 5 Staaten. Wie sollten wir da rückständiger sein?"38 Der ursprüngliche Entwurf wurde außerdem durch das Einfügen einer Seßhaftigkeitsklausel ergänzt, die als Mindestaufenthalt lediglich sechs Monate verlangte, wobei Honecker deutlich machte, daß er sich auch eine noch "liberalere" Lösung vorstellen könnte: "Das Wahlrecht sollte an eine Frist gebunden sein, evt. wer länger als 6 Monate in der DDR lebt, arbeitet bzw. studiert. Wir haben 1930 in der Sowjetunion sofort an den Wahlen teilnehmen können."39

JS

Ebd.

J6

Vorlage rur das PolitbUro des ZK der SED betr. Möglichkeiten rur in der DDR lebende ausländische Bürger zur Teilnahme an den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989; SAPMO, ZPA, 2/2.0391230, S. 59. 37 31 39

SAPMO, ZPA, IV 2/2.039170, S. 42. Ebd. Ebd.

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l31

Politbüromitglied Horst Sindermann, in Personalunion Volkskammerpräsident, wurde beauftragt, das DDR-Scheinparlament zum 3. März 1989 filr den einzigen Tagesordnungspunkt "Einfilhrung des kommunalen Wahlrechts filr ausländische Bürger" einzuberufen. In den offiziellen Verlautbarungen filr die Öffentlichkeit sollte jedoch bezeichnenderweise nur von einer "Ergänzung des Wahlgesetzes der DDR" gesprochen werden - ein weiteres Indiz dafilr, daß die Maßnahme von vornherein nicht die Erwartungen der eigene Bevölkerung beschwichtigen, sondern vor allem das außenpolitische Remomee der DDR stärken sollte. Egon Krenz wurde beauftragt, die Vorlage in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Wahlkommission der Republik einzubringen, die Kommentierung sollte der ZK-Abteilungsleiter filr Agitation, Heinz Geggel, vorbereiten. 40 Um 10.05 Uhr, nur filnf Minuten nach Eröffnung der Sitzung, war die Vorlage zum Ausländerwahlrecht mit den von Honecker gewünschten Ergänzungen vom Politbüro bestätigt und damit so gut wie Gesetz. Daß auf den Tag genau ein Jahr später die Rumpf-Volkskammer der Wendezeit das erste demokratische DDRWahlgesetz filr die ersten freien Wahlen vom 18. März 1990 verabschiedete, kann man aus dieser Perspektive als späte Genugtuung empfinden. 41 2.3.3 Die" Unbedenklichkeitsbescheinigung" des Verfassungsund Rechtsausschusses

Am Donnerstag, dem 2. März. 1989, trat um 16 Uhr der Verfassungs- und Rechtsausschuß der Volkskammer zur Vorbereitung der filr den folgenden Tag angesetzten Plenarsitzung zusammen. Von den 36 Mitgliedern waren nur achtzehn anwesend; Nachfolgekandidaten - eigentlich in die Gesetzgebungsarbeit der Ausschüsse voll integriert - waren nicht eingeladen worden. An einen anderen Ausschuß war der Entwurf vom Volkskammerpräsidium nicht überwiesen worden. Als Gäste nahmen an der Sitzung der Sekretär der Wahlkommission der Republik und Leiter der Abteilung Staat und Recht beim DDR-Staatsrat, Hans-Joachim Semler, sowie der Leiter der Rechtsabteilung im Sekretariat des Ministerrates der DDR, Klaus Mehnert, teil. 42 Der formale Auftrag an den Ausschuß lautete, eine Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der vorgeschlagenen Wahlgesetznovelle abzugeben. Erwar40

3195. 41

42

Protokoll Nr. 8/89 der PolitbUrositzung vom 21. Februar 1989; SAPMO, ZPA, IV 2/2 A Ebd., dies geht aus handschriftlichen Randnotizen hervor.

Stenografisches Protokoll der Sitzung des Verfassungs- und Rechtsausschusses der 9. Volkskammer am 2. März 1989 (unkorrigiert); BArch, DA 1/4055, S. 23.

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tet wurde de facto eine verfassungsrechtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung, die zudem den Schein der Rechtsllirmigkeit des ganzen Verfahrens wahren sollte. Der erste stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, NDPDHauptausschußmitglied Manfred Mühlmann 43 , der die Sitzung leitete, formulierte die Ambivalenz dieses Auftrags: ,,[ ... ] entsprechend dem Anliegen des Auftrags unseres Ausschusses (steht) im Vordergrund .. , die Übereinstimmung mit der Verfassung zu überprüfen. Ausgangspunkt ist natürlich - und ich glaube, da werden wir uns sofort einig sein - die Bekräftigung des politischen Anliegens des Vorschlages [... ]"44 Unter dieser Prämisse wurde schnell eine kreative juristische Lösung gefunden: Über das Bürgerrecht hinaus, so die Argumentationslinie, besitze das Wahlrecht als sozialistisches Grundrecht Menschenrechtscharakter. Als Menschenrecht stehe es aber nicht nur DDR-Bürgern, sondern allen Mitgliedern der Gesellschaft zu; dies sei auch so im DDR-Ausländergesetz von 1979 normiert. Dabei war die Problematik der in § 4 Ausländergesetz der DDR enthaltenen Einschränkung: "soweit die Wahrnehmung dieser Rechte nicht ausschließlich an die Staatsbürgerschaft der DDR gebunden ist" dem Ausschuß vollkommen bewußt: "Hierzu möchte ich sagen - das trage ich dann [vor dem VolkskammerPlenum] nicht vor -, daß natürlich der Wortlaut der Verfassung von den Bürgern der DDR ausgeht, denn dies ist ja eine Verfassung der DDR."45 Unbenommen dieser Einsicht leitete der Ausschuß eine Verfassungskonformität aus der Mitwirkungsgarantie und dem Gleichbehandlungsgebot des Artikel 19 der DDR-Verfassung ab, das auch fUr Ausländer gelte. 46 Die Stellungnahme des Ausschusses ging schließlich sogar soweit, aus der Pflicht der 100.000

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Jürgen W. Falter

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Taagepera, Rein/Shugart, Matthew S.: Seats and Votes. The Effects and Determinants ofElectoral Systems, New HavenILondon 1989. Unger, Oswald u.a. (Autorenkoll.): Wahlsystem und Volksvertretungen in der DDR, Berlin (Ost) 1988. Unkelbach, HelmutlWildenmann, RudolfIKaltefleiter, Wemer: Wähler, Parteien, Parlamente. Bedingungen und Funktionen der Wahl, Frankfurt a.M./Bonn 1965. Vogel, Bernhard/Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf: Wahlen in Deutschland, Theorie-Geschichte-Dokumente 1848-1970, Berlin/New York 1971. Voss, Rüdiger vonIFriedrich, Karl: Jungwähler - wem gehört die Zukunft? Stuttgart 1986. Vring, Thomas von der: Reform oder Manipulation? Zur Diskussion eines neuen Wahlrechts, Frankfurt a.M. 1968. Wehling, Hans-Georg (Red.): Wahlverhalten, Stuttgart 1991. Wennner, Ulrich: Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundessrepublik Deutschland, Frankfurt a.M u.a. 1986. Weßels, Bernhard: Erosion des Wachstumsparadigmas. Neue Konfliktstrukturen im politischen System der Bundesrepublik?, Opladen 1991. Wildenmann, Rudolf: Wahlforschung, Mannheim u.a. 1992. Wolf, Wemer: Wahlkampf und Demokratie, 2. Aufl., Köln 1985. Woyke, Wichard: Stichwort Wahlen, Wähler - Parteien - Wahlverfahren, 10. Aufl., Opladen 1998. Zelle, Carsten: Der Wechselwähler. Eine Gegenüberstellung politischer und sozialer Erklärungsansätze des Wählerwandels in Deutschland und den USA,Opladen 1995.

VERFASSER UND HERAUSGEBER Prof. Dr. Hans-Jörg Bücking Fachhochschule rur öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen Abt. Bielefeld Fach Politikwissenschaft 33615 Bielefeld Prof. Dr. JUrgen W. Falter Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Fach Politikwissenschaft 55095 Mainz Prof. Dr. Eckhard Jesse Technische Universität Chemnitz Fach Politikwissenschaft 09107 Chemnitz Priv.-Doz. Dr. Otmar Jung Freie Universiltät Berlin Fach Politikwissenschaft 10696 Berlin Prof. Dr. Wemer Kaltefleiter t Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Fach Politikwissenschaft 24098 Kiel Hans-Michael Kloth Doktorand und Publizist 10119 Berlin Prof. Dr. Konrad Löw Universität Bayreuth Fach Politikwissenschaft 95440 Bayreuth

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Verfasser und Herausgeber

Prof. Dr. Dieter Nohlen Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Fach Politikwissenschaft 69117 Heidelberg Johannes Singhammer Bundestagsabgeordneter der CSU 80995 München