Vorbild und Gegenbild: Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur 1779-1939 9783412214371, 9783412207663

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Vorbild und Gegenbild: Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur 1779-1939
 9783412214371, 9783412207663

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Carsten Schapkow

Vorbild und Gegenbild Das iberische Judentum in der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur 1779 –1939

2011 böhlau verlag köln weimar wien

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die Synagoge Oranienburger Straße in Berlin, ca. 1870

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst GmbH, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20766-3

Inhalt

A Einleitung Die iberisch-sephardische Kultur als interkulturelles Bezugssystem zwischen Aneignung und Abgrenzung ................................................................... Prolog ............................................................................................................................... Historische Fundierung: Jüdische Geschichte und Kultur im antiken Spanien ...................................................................................................................... Jüdische Geschichte unter moslemischer Herrschaft in al-Andalus ................... Juden im christlichen Spanien . ................................................................................... Methodische Vorgehensweise: Wege der Rezeption im Zeitalter der Emanzipation der Juden in Deutschland .................................................... Zum Forschungsstand . .................................................................................................

9 9 11 15 23 28 31

B Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah . ............ 51 Die Haskalah als Epoche des Umbruchs .................................................................. Christian Wilhelm von Dohms Memorandum „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ . ....................................................................................... Wirkungsgeschichte: Christian Wilhelm von Dohms Verbesserungsschrift . .............................................................................................. Maskilische Erziehungsprogramme und das sephardische Vorbild in Amsterdam . ......................................................................................................... Deutsch-jüdische Presse in der Haskalah und das iberischsephardische Ideal ................................................................................................... Lebensbeschreibungen berühmter Männer ............................................................. Moses Maimonides . ...................................................................................................... Moses Maimonides Rezeption in der Haskalah . .................................................... Menasseh ben Israel ....................................................................................................... Menasseh ben Israel Rezeption in der Haskalah ................................................ Spanienbilder bei Vertretern der europäischen Aufklärung . ................................ Isaak Euchels „Die Briefe des Meschullam ben Uriah ha-Eschtemoi“ . .............. Darstellungen des iberischen Judentums in der Zeitschrift „Sulamith“ . ...........

53 58 70 72 77 80 85 89 93 101 104 107 123

C Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition in der Wissenschaft des Judentums ............................................................................... 136 Darstellungen nationaler Geschichte aus deutscher und jüdischer Perspektive ................................................................................................................ Das Bild Spaniens in der deutschen Literatur und Geistesgeschichte . .............. Johann Gottfried Herder ............................................................................................. Johann Gottlob Fichtes Nationalismus: Das freie deutsche Volk und die Juden . .................................................................................................................. Novalis: Christentum als politischer Ordnungsfaktor .......................................... Rühs, Fries und Saul Aschers Erwiderung ................................................................ Gegenbilder zur Nation im „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ . ................................................................................................................ Polemisches Gegenbild: Saul Ascher . ....................................................................... Leopold Zunz’ Organismus-Theorie und das Beispiel der iberischsephardischen Kultur . ............................................................................................ Isaak Markus Jost und seine politische Geschichte der iberischen Juden .......................................................................................................................... Jüdische Geschichte im Spiegel der iberischen und polnischen Lebenswelten im Werk von Heinrich Graetz . .................................................. Graetz’ „Konstruktion jüdischer Geschichte“ und der Mythos von al-Andalus ................................................................................................................. Die polnischen Lebenswelten bei Heinrich Graetz . .............................................. Wirkungsgeschichte seit Mendelssohn ..................................................................... Iberisch-sephardische Geschichte bei Abraham Geiger als Gegengeschichte . .................................................................................................... Geiger in der Wissenschaft des Judentums . ............................................................. Abraham Geiger und das iberisch-sephardische Vorbild ...................................... Die Funktion von Dichterbildern bei Geiger ..........................................................

136 140 141 148 153 158 163 164 176 194 214 217 229 238 242 250 255 258

D Verwandlungen des iberischen Vorbildes........................................................ 275 Der Ausgangspunkt: Phöbus Philippsons „Die Marannen“ . ............................... Ludwig Philippson ........................................................................................................ Die iberisch-sephardische Geschichte in den belletristischen Arbeiten Ludwig Philippsons ................................................................................................ Neoorthodoxe Erwiderungen ..................................................................................... 6

I

Inhalt

282 285 294 298

Die Damaskus-Affäre: Ausgangspunkt für die politische Initiative Ludwig Philippsons in Spanien . .......................................................................... Tagespolitik und das iberisch-sephardische Vorbild bei Ludwig Philippson . ................................................................................................ „Das Mittelalter und seine Folgen“ ............................................................................ Philippsons Petition von 1854 . .................................................................................. Jüdische Literatur und deutsche Nationalliteratur: iberisch-sephardische Autoren als interkulturelle Vermittler . ............................................................... Moritz Meyer Kayserling . ............................................................................................ Geschichte der Juden in Spanien im „Handbuch der jüdischen Geschichte und Kultur“ .............................................................................................................. Gustav Karpeles . ............................................................................................................ Zionismus als Gegengeschichte zum iberisch-sephardischen Ideal .................... Max Nordau: Repräsentation der iberisch-sephardischen Geschichte und das zeitgenössische Spanien .................................................................................. Fritz Yitzhak Baer ..........................................................................................................

304 310 314 321 345 351 364 380 396 400 410

Zusammenfassung ....................................................................................................... 423 Danksagung ................................................................................................................... 425 Literaturverzeichnis .................................................................................................... 426 Index ............................................................................................................................... 452

Inhalt

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A  Einleitung   Die iberisch-sephardische Kultur als   interkulturelles Bezugssystem zwischen   Aneignung und Abgrenzung Prolog

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ie kaum ein anderer Ort symbolisierte die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein des deutschen Judentums in der preußischen Hauptstadt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts orientierte sich der Synagogenbau in Deutschland zumeist noch stark an romantischen Vorbildern, im weiteren Verlauf des Jahrhunderts nahm das Selbstbewusstsein der Juden in Deutschland jedoch zu und drückte sich auch im Bau von Synagogen im maurischen Stil aus. Dem lag die Bewunderung für das sephardische Erbe auf der Iberischen Halbinsel zugrunde, wo die Juden, so wurde angenommen, integriert und akzeptiert von der Mehrheitsgesellschaft gelebt hatten. Dieser Stil wurde nicht als orientalisch im Sinne von fremd verstanden, sondern sollte an die Errungenschaften der sephardischen Juden erinnern. Der Berliner nicht jüdische Architekt Eduard Knoblauch entwarf das Synagogengebäude in der Oranienburger Straße, fortgesetzt wurde der Bau dann von August Stühler. Die feierliche Einweihung erfolgte am 5. September 1866 in Anwesenheit des preußischen Ministerpräsidenten Bismarck und anderer staatlicher und städtischer Honoratioren. Dieser repräsentative Synagogenbau bot Raum für 3.200 Gläubige. Der Architekt Knoblauch hatte sich an der Architektur der Alhambra in Granada orientiert, deren maurischer Baustil beginnend mit dem Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Reisebeschreibungen thematisiert wurde.1 Vonseiten der christlichen Deutschen gab es Vorbehalte gegen diesen Bau. So wurde argumentiert, Juden seien als „orientalische Fremde“ lediglich in der Lage, 1 Vgl. u. a. Reisebeschreibungen in einem ausführlichen Auszuge, worin eine genaue Nachricht von der Religion, Regierungsverfassung, Handlung, Sitten, natürliche Geschichte und andern merkwürdigen Dingen verschiedener Länder und Völker gegeben wird. Aus verschiedenen Sprachen zusammengetragen. 7. Bd. Berlin: August Mylius 1769. Neues Magazin von merkwürdigen Reisebeschreibungen aus fremden Sprachen übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet. 36. Bd. Berlin: Vossische Buchhandlung 1823. Die größte Bekanntheit erlangte die Reisbeschreibung von Washington Irving: The Alhambra. New York 1861 (OA 1832). Ders.: A chronicle of the Conquest of Granada. o. O. 1832. Die iberisch-sephardische Kultur

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den maurischen Stil nachzuahmen, ohne selbst etwas Authentisches schaffen zu können.2 Der Baustil der Synagoge wurde außerdem als „spezifisch jüdisch“3 interpretiert, der geradewegs die „Fremdheit“ der Juden4 hervorhebe. Der in der Architektur artikulierte Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung, bezogen auf das historische Beispiel in Spanien, wurde von diesen Kritikern mit dem Hinweis auf die Andersartigkeit und orientalische Minderwertigkeit der Juden zurückgewiesen. Als sich nach der rechtlichen Gleichstellung im Deutschen Reich 1871 der Antisemitismus in den 1880er-Jahren etablieren konnte, nahm auch der Bau von Synagogen im maurischen Stil in Deutschland kontinuierlich ab.5 Die Auseinandersetzungen mit der iberisch-sephardischen Kultur blieben jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht auf Synagogenbauten beschränkt. Sie fanden vielmehr in ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen und literarischen Diskursen statt und waren sehr eng mit der Geschichte der Juden in Deutschland und ihrem Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung im Verlauf des 19. Jahrhunderts verknüpft.6 Die vorliegende Studie soll verdeutlichen, auf welche Weise deutsche Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts jüdische Geschichte auf der Iberischen Halbinsel wahrgenommen und in unterschiedlichen wissenschaftlichen und literarischen Textgattungen verarbeitet haben. Das Buch setzt mit der Untersuchung dieses Phänomens bei den jüdischen Aufklärern im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein und endet mit dem Aufkommen des politischen Zionismus als Antwort auf einen sich ausbreitenden Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei ist eine zentrale These des Buches, dass jüdische Geschichte auf der Iberischen Halbin2 Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jahrhundert (1780–1933). Teil I. Hamburg 1981. S. 263. 3 Wochenblatt des Architektenvereins zu Berlin, ( I) 1867, S. 4. Zit. nach Hammer-Schenk, Synagogen, S. 290. 4 Hammer-Schenk: Synagogen, S. 296. 5 Michael A. Meyer: Jüdische Identität in den Jahrzehnten nach 1848. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. S. 337. Ivan Davidson Kalmar: Moorish Style: Orientalism, the Jews, and Synagogue Architecture. In: Jewish Social Studies. Vol. 7, Nr. 3 (Spring-Summer 2001), S. 68–100. 6 „Die etwas unscharfen Termini ‚deutsche Juden‘ und ‚Juden in Deutschland‘ stehen hier und fortab für die Judenheit im deutschen Sprach- und Kulturbereich, unabhängig davon, ob eine deutsche Identität bereits ausgeformt war und auch unabhängig von Staatsgrenzen. Entscheidend ist die kulturelle Zuordnung im Untersuchungszeitraum, weshalb etwa Böhmen einbezogen, Elsass-Lothringen aber ausgespart bleibt. Die starke terminologische Vereinfachung, die zudem die Tatsache ignorieren muss, dass ‚Deutschland‘ an sich noch gar nicht existierte, empfiehlt sich vor allem im Interesse der Lesbarkeit.” (Simon Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004. S. 14.) 10

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Einleitung

sel nicht ausschließlich als ein Goldenes Zeitalter betrachtet wurde. Als Goldenes Zeitalter wurden seit der klassischen griechischen Antike Epochen bezeichnet, die als höchste Stufe kultureller Entfaltung in einer Zeit des Friedens galten. Es waren gerade die Brüche innerhalb der Erinnerung – unter Einbeziehung von Vertreibung und Erfahrung im Exil –, die die Ausgestaltung einer modernen deutsch-jüdischen Identität im 19. Jahrhundert entscheidend mitprägen sollten. Die Studie hat sich zudem zum Ziel gesetzt, herauszuarbeiten, in welchem Maße die deutschen Juden die iberisch-sephardische Erfahrung auf die noch nicht erfolgte bürgerliche Gleichstellung der Juden in Deutschland als Referenzpunkt bezogen. Diese Bezugnahme konnte hauptsächlich deshalb gelingen, weil die deutschjüdischen Rezipienten die Juden auf der Iberischen Halbinsel als Vermittler zwischen jüdischer Kultur und den moslemischen und christlichen Mehrheitskulturen auf der Iberischen Halbinsel auffassten. Das harmonische Bild einer Gesellschaft der drei Kulturen – moslemisch, jüdisch, christlich – nahm hierbei eine Vorbildfunktion ein, das erst durch religiösen Fanatismus zerstört worden sei. Allerdings wurde die Wahrnehmung der iberisch-sephardischen Kultur ausdrücklich auch auf solche Staaten bezogen, in denen sich sephardische Juden oder später Marranen nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel niederließen. Im letzten Kapitel der Studie erfolgt abschließend eine Analyse der zionistischen Interpreten, nach denen die Rolle der Juden als kulturelle Vermittler nicht mehr wünschenswert sein konnte. Historische Fundierung: Jüdische Geschichte und Kultur im   antiken Spanien Jüdische Geschichte war nicht erst seit der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. auch auf die Konstanten von Exil und Diaspora bezogen. Bereits zuvor errichteten Juden in der Diaspora in Babylon ein religiöses und geistiges Zentrum, das von Jerusalem getrennt existierte und doch bedeutsame Zeugnisse des Judentums geschaffen hatte. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels existierte das Zentrum des Judentums als Symbol der Einheit von Religion und Staat nicht mehr. Dieser Zustand musste kompensiert werden. Obwohl nicht alle Juden Palästina nach der Zerstörung verließen, sie also – anders als zur Zeit des christlichen Mittelalters – nicht vollständig aus bestimmten Ländern vertrieben wurden, war das Bewusstsein, sich in der Galut zu befinden, gleichwohl zentral. Diese Orte des Exils wurden jedoch nicht ausschließlich mit Trauer und Resignation gleichgesetzt, sondern sie prägten die religiöse und geistige Entwicklung des Judentums ganz entscheidend mit. Darüber hinaus brachte das Leben in der Diaspora nicht nur für das Judentum, sondern auch für die allgemeine Zivilisation bedeutende kulturelle Zeugnisse herDie iberisch-sephardische Kultur

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vor. Bezeichnungen eines „neuen Jerusalem“ oder eines „Goldenen Zeitalters“ der Juden bezogen sich im Verlauf der jüdischen Geschichte auf so unterschiedliche jüdische Niederlassungen wie in Spanien bis zur Vertreibung 1492, in Amsterdam während des 17. Jahrhunderts oder in Vilna während des 18. Jahrhunderts.7 Die hier lebenden Juden und auch spätere Rezipienten nahmen diese jüdischen Ansiedlungen nicht ausschließlich als einen Bezugspunkt für Vertreibung und Exil wahr. Sie betonten vielmehr die Errungenschaften für die allgemeine Kultur oder Zivilisation, die ausgehend von den jüdischen Zentren geschaffen wurden. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. lebte die Mehrzahl der Juden im Herrschaftsbereich des Römischen Reiches, einschließlich derjenigen auf der Iberischen Halbinsel. Sie unterschieden sich fundamental von dem Teil der Juden, die in Babylon unter der Herrschaft der Parther lebten. Der Ortsname Sarepta, von dem sich Sepharad ableitet, wird erstmals im Buch Obadja 1,20 verwendet. Das Buch Obadja gehört zu den zwölf kleinen Propheten der hebräischen Bibel und ist mit seinen 21 Versen das kürzeste Buch der Bibel.8 Der Untertitel „Das Gericht über Edom” weist auf die Einnahme und später erfolgte Zerstörung Jerusalems in Vers 11 durch Nebukadnezar II., König von Babylon im Jahre 584 v. Chr., hin. Hier wird unter dem Begriff Edom allen Feinden Israels mit ewiger Zerstörung gedroht und allen Israeliten in Aussicht gestellt, aus der Zerstreuung nach Zion zurückzukehren.9 Iberisch-sephardische Juden schlossen daraus, dass die im Buch Obadja gemachte Prophezeiung bezogen auf Sarepta nur Spanien bedeuten könne, womit sie sich selbst in diese Prophezeiung einschlossen.10 Juden auf der Iberischen Halbinsel verstanden sich als Nachfahren derjenigen Juden aus der Stadt Jerusalem, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels von den Römern gefangen genommen und nach Rom und Spanien deportiert wurden. Andere Legenden verorteten die erste Ansiedlung in Spanien bereits während der Herrschaft König Salomos im 10. Jahrhundert v. Chr.11 7 Vgl. hierzu die Ausführungen von Yosef H. Yerushalmi: Exile and Expulsion in Jewish History. In: Crisis and Creativity in the Sephardic World, 1391–1648. 1997. S. 3–22. Hier: S. 15. 8 Franz Delitzsch: Was weissagte Obadja? In: Zeitschrift für lutherische Theologie und Kirche, (12. Jahrgang) 1851. S. 91. 9 Max Wiener: Obadja. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens. Berlin: Jüdischer Verlag 1927 (ND 1987). Hier: Bd. IV/1, S. 544. 10 Mark R. Cohen: The Origins of Sephardic Jewry in the Medieval Arab World. In: Zion Zohar (ed.): Sephardic & Mizrahic Jewry. From the Golden Age of Spain to Modern Times. New York 2005. S. 23–39. Hier: S. 23. 11 Mark R. Cohen: The Origins of Sephardic Jewry in the Medieval Arab World. In: Zohar, Sephardic & Mizrahic Jewry, S. 23–39. Hier: S. 23. In der Encyclopedia Judaica heißt es über die etymologische Fundierung des Begriffes Sepharad im Buch Obadiah: “The sense of self-worth 12

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Einleitung

Im Anschluss an die Aufstände gegen die römische Herrschaft (66–70) in Palästina verschlechterte sich die Situation der Juden zunehmend. Nach dem Übertritt Kaiser Konstantins zum Christentum, begann sich auch das geistige Zentrum des Judentums von Palästina nach Babylon zu verschieben. In Babylon existierten Formen von Selbstverwaltung unter der Führung des Exilarchen oder Geonim. Unter islamischer Herrschaft wurde den jüdischen Gemeinden in Babylon – anders als unter christlicher Herrschaft – eine relative Autonomie eingeräumt. Die sephardischen Juden in Spanien standen später in der Tradition des babylonischen Judentums mit seinen bedeutenden Religionsschulen.12 Die sephardischen Juden auf der Iberischen Halbinsel hatten sich ganz an die griechisch-römische Zivilisation und deren Lebensweise in Sprache und Kleidung angepasst. Einige römische Kaiser wie Trajan (53–117) und Hadrian (76–138) sowie der letzte Gesamtherrscher des Ost- und Weströmischen Reiches, Theodosius (347–395), waren selbst hispanischer Herkunft. Dennoch ist bereits für die Spätantike festzuhalten, dass die iberische Gesellschaft zu dieser Zeit, bezogen auf alle dort lebenden Völker, äußerst heterogen war. Das Zusammenleben zwischen Juden exhibited by the Sephardim themselves was first given impetus by the reference in the Book of the Prophet Obadiah (I:20) to a community of Jerusalem exiles living in Sepharad. Now the town of Sepharad was most likely Sardis, the capital of ancient Lydia, 60 miles from Turkey’s West coast. Known as Sardis in English and Sfard in Lydian and Persian, the city is erroneously identified as Spain by Jews because in Hebrew the name for Spain is Sepharad (as mentioned by Obadiah). Thus, with their antiquity established by Scripture (all the more so for their having been directly linked with holy city of Jerusalem), the Sephardim had a heightened sense of their own self-worth and importance. These vague conceptions were made concrete by the magnificent civilisation they subsequently created for themselves in Spain. […] According to various legends, there were Jews living in Spain in biblical times, but no proof exists in support of such stories. Most probably, the first group settled there under the Roman Empire and the communities grew rapidly. A tombstone inscription attests the presence of Jews in Adra (the ancient Abdera) in the third century C. E. They thus witnessed the conversion of the inhabitants of the Peninsula of Elvira (305) attempted to effect or maintain a separation between the members of the two faiths by forbidding Christians to live in the houses of Jews, or to eat in their company, or to bless the produce of their fields.” (Eliyahu Ashtor: Spain. In: Encyclopædia Judaica. Vol. 15. Jerusalem o. J. S. 220. Eliyahu Ashtor: The Jews of Muslim Spain. Philadelphia 1992. Vgl. hierzu auch Evan H. Haley: Migration and Economy in Roman Imperial Spain. Barcelona 1991. S. 40f ). 12 “Political circumstances prevailing in the Middle Ages were responsible for the fact that the Franco-German Jews came under the influence of Palestine through Italy as an intermediary, while Spanish Jewry was linked mainly through North Africa with Babylonia.“ (Hirsch Jakob Zimmels: Sephardim and Ashkenasim: their relations, differences, and problems as reflected in the rabbinical responsa. London 1976. S. 4). Die iberisch-sephardische Kultur

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und Christen sollte sich insbesondere nach der „Synode von Elvira“ im Jahre 306 ändern.13 In dieses Jahr fiel auch der Beginn der Regierungszeit Kaiser Konstantins I. (306–337), unter dessen Herrschaft das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich wurde. In einem sich daran anschließenden Prozess wandelte sich das Christentum von einer verfolgten zu einer verfolgenden Religion. Die damit einhergehende Änderung des rechtlichen Status der Juden hatte Folgen für ihren Status im gesamten Römischen Reich, einschließlich der Iberischen Halbinsel. Die Bewohner der Iberischen Halbinsel setzten sich aus zahlreichen europäischen, afrikanischen und asiatischen Völkern zusammen. So lebten dort schon zu Zeiten der griechischen Besiedlung keltische und iberische Völker. Innerhalb dieser wechselvollen Geschichte blieben Juden als eine konstante Größe eng mit der Geschichte des Landes verbunden.14 Als die Westgoten die Herrschaft über das weitestgehend romanisierte Spanien im 5. Jahrhundert übernahmen, erhielten die Juden im Jahre 506 das römische Bürgerrecht durch die „Lex Romana Visigothorum“.15 Mit dem Übertritt der Westgoten vom Arianismus zum Katholizismus unter König Rekkared I. (586–601) verloren die Juden ihren gleichberechtigten Status. Sie hatten keinen Zutritt mehr zu öffentlichen Ämtern, außerdem waren Eheschließungen mit Christinnen verboten und es bestand die Anordnung, Söhne, die aus Ehen zwischen Juden und Christinnen entsprungen waren, zu taufen. Als der Katholizismus nach dem dritten Konzil von Toledo Staatsreligion wurde, nahm der Zwang zur Konversion zum Katholizismus zu. Die „toledanischen Bestimmungen“ wurden später der Ausgangspunkt für den Verhaltenskodex von Christen gegenüber Juden im sich konstituierenden Kirchenrecht.16 13 Johann Maier: Das Judentum. Von der Biblischen Zeit bis zur Moderne. München 1973. S. 341. 14 Battenberg geht davon aus, dass „der nur schwer schätzbare Bevölkerungsanteil auf dem Lande mit vielleicht 1 % von 4,5 Millionen Einwohnern begrenzt blieb“ und „nur in den Städten nahm der jüdische Anteil erheblich zu. […] So lässt sich schon für das 8. Jahrhundert erkennen, dass das spanische Judentum vornehmlich zu einem urbanen Judentum wurde.“ (Vgl. Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. In 2 Teilbänden. Darmstadt 1990. Bd. 1, S. 30–31). 15 Fritz Baer: Spanien. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet von Georg Herlitz und Bruno Kirschner. Berlin: Jüdischer Verlag 1927. ND Frankfurt/Main: Athenäum Verlag. Bd. IV/2. S. 523–538. Hier S.  523. Vgl. außerdem Wilhelm Güde: Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1981. 16 Friedrich Lotter: Zur Ausbildung eines kirchlichen Judenrechts bei Burchard von Worms und Ivo von Chartres. In: Rainer Erb/Michael Schmidt (Hg.): Antisemitismus und jüdische Ge14

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Einleitung

Jüdische Geschichte unter moslemischer   Herrschaft in al-Andalus Zunehmende Streitigkeiten innerhalb der westgotischen Eliten ermöglichten es moslemischen Berbern und Arabern, mit relativ geringem militärischem Aufwand das westgotische Königreich in den Jahren von 711 bis 714 zu erobern. Die Eroberung durch die Muslime wurde durch die hier lebenden Juden begrüßt,17 insbesondere deshalb, weil sich das Leben der Juden unter der Herrschaft der Westgoten stetig verschlechtert hatte. Die neuen Herrscher hoben die antijüdische Rechtssprechung auf, womit zeitgleich ein Makel implementiert wurde: „Zum einen gab die westgotische antijüdische Gesetzgebung dem Mittelalter einen unheilvollen Präzedenzfall in die Hand, zum anderen schuf die Geschichte von einem – durchaus verständlichen – jüdischen Interesse an einem Herrschaftswechsel im 8. Jahrhundert die langlebige und fatale Legende, die Juden hätten im Jahre 711 Spanien den Muslimen ausgeliefert.“18 Innerhalb der Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur nahmen sephardische Juden als Vermittler innerhalb der erstmals vereinten arabisch dominierten Welt – im Jahr 638 fällt Jerusalem, im Jahr 712 Nordafrika bzw. Spanien unter das Kalifat von Córdoba – eine Schlüsselfunktion ein. Das arabisch gewordene Spanien wurde Heimat für die Juden.19 Das eroberte Gebiet erhielt die Bezeichnung al-Andalus und unterstand dem Kalifat von Damaskus. In der Forschung wird die Bezeichnung al-Andalus für das muslimische Spanien bis etwa zur Mitte des 13. Jahrhunderts von der Formulierung Sepharad für das christliche Spanien getrennt verwendet.20 Zu schichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Berlin 1987. S. 69–96. 17 Eliyahu Ashtor: Jews of Muslim Spain, S. 11–16. 18 John Edwards: Die spanische Inquisition. Düsseldorf 2003. S. 50–51. 19 So spricht Baer davon, dass „Arabic Spain became a refuge for Jews.“ (Yitzhak Baer: A history of the Jews in Spain. In 2. Vol. Philadelphia 1992. Hier: Bd. I, S. 24). 20 Eli Davis: Sephardim, in: Encyclopaedia Judaica, Vol. 14, Jerusalem 1971, S. 1166–1176. Menahem Ben-Sasson wies darauf hin, dass Spanien tatsächlich kein Ort für eine besondere Kreativität gewesen sei. “Spain was never the first in any field of creativity, even in those that reached to high levels of development [and that] in a few important areas there was no ‘golden’ state as imagined and described in scholarly works.” (Ben-Sasson, Al-Andalus, in: The Jews of Europe in the Middle Ages, S. 123–137. Hier: S. 123). Vgl. zur Begriffsgeschichte und historischen Fundierung außerdem die folgenden Titel: Adam Sutcliffe and Ross Brann: Introduction: Al-Andalus, Enlightenment, and the Renewal of the Jewish Past. In: Renewing the Past, Reconfiguring Jewish Culture. From al-Andalus to the Haskalah. Edited by Ross Brann and Adam Sutcliffe. Philadelphia 2004. S. 1–18. Hier: S. 3. Zion Zior (Ed.): Sephardi & Mizrahi Jewry. From the Golden Age of Spain to Modern Times. New York 2005 (Hier sind besonders wichtig für die in diesem Abschnitt diskutierDie iberisch-sephardische Kultur

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einem Zeitpunkt, als Nichtjuden noch nicht von Spanien sprachen, verwendeten Juden bereits das hebräische Wort Sepharad für Spanien. Darüber hinaus gaben sie auch Städtenamen hebräische Entsprechungen. „Thus Toledo was really Toledot, or else Toletula, from the Hebrew tiltul – ‚migration‘ or ‘wandering’“21 Im Jahre 756 etablierten die Omajjaden in Córdoba ein zusammenhängendes Reich. Die Situation der Juden begann sich – verglichen mit der durch die Westgoten verhängten antijüdischen Bestimmungen – kontinuierlich zu verbessern. Sie waren jedoch den Moslems nicht gleich gestellt. Wie auch die Christen mussten Juden bestimmte Kopf- und Grundsteuern entrichten und durften keinerlei Umgang mit moslemischen Frauen haben. Dennoch lebten Juden und Moslems eher miteinander als voneinander getrennt. Diese besondere Stellung basierte auf einem Prinzip ten Aspekte: Mark R. Cohen: The Origins of Sephardic Jewry in the Medieval Arab World, S. 23–39. Norman A. Stillman: The Judeo-Arabic Heretige, S. 40–54. Jonathan P. Decter: Literatures of Medieval Sepharad, S. 77–100). Norman A. Stillman: The Jews of Arab Lands. A History and Source Book. Philadelphia 1979. Zur Geschichte der Juden unter christlicher Herrschaft vgl Yitzhak (Fritz) Baer: A History of the Jews in Christian Spain. 2 Bde. Philadelphia 1992. Mark R. Cohen stellt die Unterschiede zwischen dem islamischen und christlichen Herrschaftsbereich auch mit einem Schwerpunkt auf die rechtliche Stellung der Juden vor. Mark R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter. München: 2005 (OA Under Crescent and Cross: The Jews in the Middle Ages. Princeton 1994). Grundlegend für die Geschichte des iberisch-sephardischen Judentums ist außerdem Jane S. Gerber: The Jews of Spain. A History of the Sephardic Experience. New York 1994. Ferner sind von Bedeutung Béatrice Leroy: Die Sephardim. Geschichte des iberischen Judentums. Frankfurt/Main;Berlin: Ullstein Verlag 1991 (OA L’aventura séfarade Paris: 1986). Esther Benbassa, Aron Rodrigue: Sephardi Jewry. A History of the Judeo-Spanish Community, 14th–20th centuries. Berkeley: 2000. Esther Benbassa, Aron Rodrigue: Histoire des Juifs sépharades. De Tolèdo à Salonique. Paris 2002. Jonathan Ray: The Sephardic Frontier. The Reconquista and the Jewish Community in Medieval Iberia. Ithaca: 2006. Zur Bedeutung der schöngeistigen Literatur vgl. Jonathan P. Decter: Iberian-Jewish Literature. Between al-Andalus and Christian Europe. Bloomington: 2007. Peter Cole: The Dream of the Poem. Princeton University Press 2007. Zum Begriff der Convivencia 500 Jahre nach Inkrafttreten des Vertreibungs-Edikts vgl. Convivencia. Jews, Muslims, and Christians in Medieval Spain. Edited by Vivian B. Mann, Thomas F. Glick, Jerrilynn D. Dodds: New York: The Jewish Museum 1992. Zur Fragestellung von Jüdischer Identität in der arabischen Welt vgl. Daniel J. Schroeter: A different Road to Modernity. Jewish Identity in the Arab World. In: Howard Wettstein (Ed.): Diasporas and Exiles. Varieties of Jewish Identities. Berkeley 2002. S. 150–163. Paul Wexler: The Non-Jewish Origins of the Sephardic Jews. Albany 1996. 21 Yerushalmi: Exile and Expulsion, S. 14. 16

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der Toleranz. Der wesentliche Unterschied zum Christentum findet sich im islamischen Recht. Juden sowohl als auch Christen wurde der Status als Schutzbefohlene, arabisch Dhimmi, eingeräumt. Diese Rechtsauffassung manifestierte sich exemplarisch im vermutlich 637 gestifteten Pakt von Umar.22 Hier beruft sich der Islam in seiner theologischen Fundierung auch auf Judentum und Christentum und erkennt ausdrücklich Ismail, den Sohn Abrahams, als Stammvater an. Juden wurden als Angehörige einer Buchreligion angesehen. Von den Juden im islamischen Herrschaftsbereich wurde verlangt, den Islam mit besonderer Wertschätzung zu betrachten, was bedeutete, unter Lebensbedingungen zu leben, die mit der Formel „Duldung und Freizügigkeit unter dem Islam“ zusammengefasst werden kann. Ausdrücklich garantiert blieben in diesem Rahmen die Religionsfreiheit, das Recht auf Eigentum und eine eigene Rechtsprechung. Außerdem wurde der Handel von den Moslems hoch geschätzt und die Funktion von Juden im Handel war ein konstitutiver Bestandteil des Lebens. Im Zuge der arabischen Eroberungen zogen auch Juden aus Nordafrika auf die Iberische Halbinsel, um sich bevorzugt im Süden des Landes niederzulassen. Es bestand eine weitgehend einheitliche Verwaltung unter dem Emirat von Córdoba, wobei den einzelnen Teilfürstentümern erhebliche eigenständige Rechte eingeräumt wurden. Die Zersplitterung der politischen Landschaft in al-Andalus ermöglichte es einzelnen Juden, auch in den Regierungsdienst aufgenommen zu werden. Anders als in anderen arabischen Ländern wurden die Juden hier mit relativer Freizügigkeit behandelt und nicht vom Staatsdienst ausgeschlossen. Insbesondere die Jahre von 900 bis 1150 wurden innerhalb der Historiografie zur jüdischen Geschichte als Goldenes Zeitalter bewertet. Dieses ermöglichte auf allen Gebieten des Geisteslebens, insbesondere in der Philosophie, der Dichtung, der Medizin, aber auch der Auslegung der Thora und dem Studium des Talmuds, eine umfangreiche reichhaltige Geistestätigkeit. Einige Juden wurden in politische und wirtschaftliche Schlüsselpositionen berufen, indem sie beispielsweise als politische Berater der unterschiedlichen islamischen, aber auch christlichen Herrscher fungierten. Dies geschah beispielsweise im Jahre 1020 in den durch die Berber begründeten Königreichen Granada und Malaga, deren Wesir und Staatsminister (Katib) Samuel HaNagid wurde. Dieser wurde mit diplomatischen und militärischen Angelegenheiten betraut und nach Auseinandersetzungen um die Führung des Landes (nach 1037) zum Verwalter des Königreiches durch König Badis ernannt. Diese Ausnahmen änderten nichts an der Tatsache, dass die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung – vergleichbar mit der Kammerknechtschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – stets in einer besonderen Schutz gewährenden Abhängigkeit verblieb. 22 The Pact of Umar. In: Norman Stillman: The Jews of Arab Lands. A History and Source Book. Philadelphia 1979. S. 157–158. Die iberisch-sephardische Kultur

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Diese Rechtsauffassung galt nicht allein bei den Juden, sondern bei allen religiösen Minderheiten. Die Vertreter dieser Minderheiten hatten eine Körpersteuer, die so genannte Jizya, zu entrichten und wurden im Gegenzug durch die Herrscher geschützt. Obwohl das islamische Recht den Dimam grundsätzlich untersagte, politische Funktionen zu übernehmen, konnten Juden dennoch aufgrund einer spezifischen Durchlässigkeit in diese Positionen gelangen.23 Die Juden Andalusiens befanden sich damals in einer so bevorzugten Lage, dass sie die geistige Hegemonie von Babylon übernehmen konnten.24 An ihrer Spitze stand Chasdaj ibn Schaprut (915–970), Günstling und Ratgeber des Kalifen Abdurraham III. (912–961). Unter seiner Führung wurden die jüdischen und profanen Wissenschaften, insbesondere Medizin und Astronomie, gepflegt25. Das charakteristische Erscheinungsbild des iberisch-sephardischen Judentums konnte sich demnach insbesondere zu Beginn der islamischen Herrschaft ausbilden. Der Höhepunkt manifestierte sich im so genannten Goldenen Zeitalter vom 10. bis zum 12. Jahrhundert.26 Neben der Integration in die Mehrheitsgesellschaft zeich23 Dies trifft auch noch bezogen auf das Osmanische Reich zu. Hier wurden die Juden als Teil der größeren islamischen Gesellschaft aufgefasst. Rechtlich galten sie zwar als geschützte Minderheit. Allerdings war es ihnen untersagt, sich wie die Moslems zu kleiden, auf Pferden zu reiten, Sklaven zu besitzen oder sich in ihren religiösen Zeremonien über den Islam zu erheben. Allerdings habe sich im Osmanischen Reich niemand um die Einhaltung dieser Bestimmungen gekümmert: (Vgl. Halil Inalcik: Foundations of Ottoman-Jewish Cooperation. In: Jews, Turks, Ottomans. A Shared History, fifteenth trough the twentieth century. Edited by Avigdor Levy. New York 2002. 3–14. Hier: S. 6). 24 Zur Traditionslinie zwischen Sepharad und Babylon vgl. Salomon Zeitlin: Religious and Secular Leadership. Part I. Philadelphia 1943. 25 Fritz Baer: Spanien. In: Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Begründet von Dr. Georg Herlitz und Dr. Bruno Kirschner. Unter Mitarbeit von über 250 jüdischen Gelehrten und Schriftstellern und unter redaktioneller Hilfe von Ismar Elbogen. Nachdruck der 1. Aufl. Berlin 1927. Frankfurt/Main 2. Aufl. 1987. Hier: Bd. 4, S–Z, 523–538. Hier: S. 525. 26 Diese fruchtbare Episode brachte die markanten Merkmale des iberisch-sephardischen Judentums hervor, die Zion Zohar wie folgt zusammenfasst: „a) their desire for and attainment of secular political positions; b) their ability to appreciate and harmonize religion and secular aspects of culture; c) their skill of mastering both religious works (like the study of Bible and Talmud) and more secular subjects (such as poetry and philosophy); and d) their multicultural proficiency, which enabled them to converse and publish both in Hebrew and Arabic. Because of their acceptance into Muslim society and culture, Sephardim were more open to external influences and more tolerant influences.” (Zohar: A Global Perspective on Sephardic and Mizrahi Jewrz, in: Zohar, Sephardi & Mizrahi Jewry, S. 7.) Kritischer zu solchen Überlegungen äußerte sich Ben-Sasson, der diese Idealisierung insbesondere durch Vertreter der Wissenschaft des Judentums als “wishful thinking” charakterisierte. Menahem Ben-Sasson: Al-Andalus: The 18

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nete sich das Goldene Zeitalter in Spanien für die Juden herausragend im Bereich der mittelalterlichen hebräischen Poesie, beispielsweise bei dem Dichter Moses ibn Esra ab.27 Dieser hatte zwar intensiv über Zion geschrieben, doch nachdem er gezwungen war, in den christlichen Norden auszuwandern, war seine Sehnsucht nach Granada mindestens ebenso groß. Sein dichterisches Werk zeigt, dass er sich in erster Linie im Exil von Granada und nicht im Exil von Zion verstand.28 Der Niedergang der omajjadischen Herrschaft in Spanien und der Übergang der Macht auf die Berber mit der Eroberung Córdobas bedingte nicht unmittelbar das Ende dieser Blütezeit. In der sich anschließenden Dezentralisierung fanden Juden in den unterschiedlichen Verwaltungs- und Handlungszentren auch wieder neue Möglichkeiten der Existenz- und Machtsicherung.29 Auch wenn einzelne Juden während der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden in höhere Staatsämter berufen wurden, breitete sich gleichzeitig eine striktere Auffassung des Islam aus, die der gesellschaftlichen Offenheit in Spanien ein Ende setzen sollte.30 Während der Herrschaft der Almoraviden (1091–1135), veränderte sich der Lebensstil der Oberschicht und der oberen Mittelklasse nicht dramatisch. Allerdings setzte eine politische Veränderung unausweichlich ein. So war diese Epoche auch von messianischen Erwartungen seitens der Juden gekennzeichnet. Am eindrucksvollsten manifestierten sich diese Erwartungen in der Sehnsucht nach einer Heimstatt der Juden in Palästina bei Jehuda ha-Levi (1075–1141). So-Called ‘Golden Age’ of Spanish Jewry – a Critical View. In: The Jews of Europe in the Middle Ages. Edited by Christoph Cluse. Brepols 2004. S. 123–137. Hier: S. 125. 27 “Ibn Daud as well Moses ibn Ezra credited this activity to Spanish Jewry and pointed to the purity of the Hebrew language of the Jewish tribes landed in Spain as a main reason for the purity of the Hebrew language among them.” (Ben-Sasson: Al-Andalus, in: The Jews of Europe in the Middle Ages, S. 123–137. Hier: S. 129). 28 Yerushalmi: Exile and Expulsion, S. 16. 29  Friedrich Battenberg: Das Europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nicht jüdischen Umwelt Europas. Zwei Bände. 2., um ein Nachwort des Autors erweiterte Auflage 2000. Hier: Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650. S. 28–44. Hier: Bd. 1, S. 33. 30 „Zwar verspürten die gebildeten und kultivierten Andalusier wenig Zuneigung zu den unzivilisierten Almoraviden; als aber Toledo gefallen war, konnten sie nicht verhindern, dass man Ibn Tasfin zu Hilfe rief. Die Schlacht von Zallaqua (1086) rettete das islamische Spanien. […] Zu Beginn des 12. Jahrhunderts war nach erneuten Kämpfen die Hoheit der Almoraviden im ganzen islamischen Teil der Halbinsel anerkannt. Mit ihnen zog in Spanien ein Geist der Intoleranz gegen die Nichtmuslime ein, die man (was im Osten nie geschehen war) des Einverständnisses mit dem äußeren Feind verdächtigte.” (Claude Cahen: Islam. Bd. 1. Vom Ursprung bis zu den Anfängen des Osmanenreiches. Frankfurt/Main 2003. S. 309.) Der Legende zufolge sollen 40.000 Juden in dieser Schlacht gefallen sein. (Baer: Spanien. In: Jüdisches Lexikon. Bd. IV.2, S. 531). Die iberisch-sephardische Kultur

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Nach dem Zusammenbruch des Kalifats kam es 1065 zu Ausschreitungen gegenüber den Juden. Daraufhin ließen sich einzelne Juden in den christlichen Königreichen von Aragon und Kastilien nieder, wo sie vereinzelt bei Hof angestellt wurden. Bei den Übergriffen der moslemischen Bevölkerung Granadas im Jahr 1066 gegenüber den Juden wurden 1.500 jüdische Familien ermordet.31 Ein möglicher Grund für die Ausschreitungen mag darin gefunden werden, dass der relative wirtschaftliche Wohlstand der Juden mit der relativen Armut der moslemischen Bevölkerung konkurrierte und dass es dadurch bedingt zum Gewaltausbruch kam. Mit diesem Ereignis galt diese so genannte goldene Epoche der Juden im Emirat von Córdoba als beendet. Als im 12. Jahrhundert die berberischen Almohaden an die Macht gelangten und Zwangskonversionen der Juden zum Islam veranlassten, zogen viele Juden in die Gebiete der christlichen Herrscher. Dass Juden auch im Goldenen Zeitalter in al-Andalus zeitweise unter Verfolgungen zu leiden hatten und sogar ganze Gemeinden ausgelöscht wurden, blieb bei vielen jüdischen Rezipienten der arabisch-jüdischen Epoche im 19. Jahrhundert in der Regel unerwähnt oder wurde erheblich abgeschwächt. Das islamische Spanien war das Zentrum des Islam im Westen, das in einem engen Austausch mit dem Judentum und Christentum gestanden hatte. Diese gegenseitige Beeinflussung hat die gemeinsame Geschichte von Arabern, Juden und Christen intensiv beeinflusst.32 Ähnlich wie zuvor unter römischer Herrschaft orientierte sich das gesamte öffentliche Leben nicht nur in Spanien, sondern auch in Sizilien nun an den Lebensgewohnheiten der Araber. Anders als das Christentum kannte der Islam keinen Judenhass auf religiöser Grundlage.33 Diesen Umstand erklärt Bernard Lewis auch mit der Tatsache, dass die Juden unter islamischer Herrschaft nur eine Minderheit unter weiteren darstellten. Diese Minderheit befand sich jedoch in einem interkulturellen Dialog mit der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft – ein zentraler Umstand, der von den Rezipienten im 19. Jahrhundert besonders hervorgehoben wurde. Dennoch könne, so Bernard Lewis, nicht von einer simplen Schwarz-Weiß-Malerei ausgegangen werden, derzufolge das Leben unter christlicher Herrschaft stets mit Unterdrückung und Intoleranz gleichgesetzt wurde, während sich die islamischen Herrscher durch Toleranz gegenüber den Ju31 Bétrice Leroy: Die Sephardim. Geschichte des iberischen Judentums. Frankfurt/Main 1991. S. 37. 32 Cahen: Islam I, S. 230–234. 33 “In Islamic society hostility to the Jew is non-theological. It is not related to any specific Islamic doctrine, not any specific circumstance in Islamic sacred history, without that additional theological and therefore psychological dimension that gives Christian anti-Semitism its unique and special character.” (Lewis: The Jews of Islam, S. 85). 20

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den ausgezeichnet hätten. Diese vorgenommene Unterscheidung sei insbesondere den Autoren der Wissenschaft des Judentums geschuldet.34 Die arabische Kultur war von einer alle Lebensbereiche durchdringenden Wirksamkeit gespeist, dass selbst die christlichen Herrscher Italiens „christlich getaufte Sultane Siziliens“35 genannt wurden. Selbst im Verlauf der Reconquista, der christlichen Rückeroberung der Iberischen Halbinsel, hätten die durch die christlichen Streitkräfte eroberten Städte „ihr islamisches oder hispano-arabisches Gepräge“ beibehalten „und es waren die neu angekommenen Eroberer, die sich anpassten.“36 Allerdings legten Quellen und Funde aus der Geniza auch nahe, dass Spanien während der islamischen Herrschaft keineswegs durchweg ein sicherer Platz gewesen war und dass auch nicht von einer wohlhabenden jüdischen Bevölkerung in Gänze ausgegangen werden dürfe.37 Chasdai ibn-Schaprut (vermutlich 915–970) und Samuel ha-Nagid (993–nach 1056), seien, so Ben-Sasson, Ausnahmen gewesen.38 Insbesondere Chasdai ibn-Chaprut wurde wegen seiner medizinischen Kenntnisse auch von muslimischen Autoren gewürdigt.39 Ben-Sasson vertrat zudem die Ansicht, dass Autoren des Goldenen Zeitalters wie Abraham ibn Daud (1110– 1180) und Abraham ibn Esra (1092–1167), die sich als Nachfahren der Exilierten nach der Zerstörung des ersten Tempels stilisierten, selbst ein Bild von ihrer eigenen Gegenwart geschaffen hätten, das nicht mit der Realität übereinstimmte.40 34 “The simplified and idealized nineteenth-century accounts of the history of the Jews in Spain present a black and white picture of Christian intolerance and Muslim tolerance, with the Jews fleeing from the one to the other. It was not always so. During the centuries when both Muslim and Christian states existed in the Iberian Peninsula, there were times and places, as in Maimonides’ own birthplace, when it was the Muslims who persecuted and the Christians who offered refuge. In North Africa on the one hand and in Iran and Central Asia on the other, the patterns of Jewish life from the later Middle Ages was one of increasing poverty, misery, and degradation. Only in the central lands of the Middle East, under the rule of Mamluk sultans and far more under the rule of the Ottoman Empire, were Jews able to preserve some status and dignity, and even to enter on an new age of efflorescence.” (Lewis: The Jews of Islam, S. 106). 35 Montgomery Watt: Der Islam. Berlin 1999. S. 18. 36 Watt: Islam, S. 45. 37 Shlomo D. Goitein: A Mediterranean society; the Jewish communities of the Arab world as portrayed in the documents of the Cairo Geniza. In 6 volumes. Philadelphia 1967f. 38 Ben-Sasson: Al-Andalus, in: The Jews of Europe in the Middle Ages, S. 123–137. Hier: S. 131–132. 39 Norman Stillman: al-Andalus. In: Encyclopedia of Jews in the Islamic World. Vol. 1, S. 100– 115. Leiden/Boston 2010. Hier: S. 105. 40 Ben-Sasson: Al-Andalus. In: The Jews of Europe in the Middle Ages. S. 123–137. Hier: S. 134–135. Die iberisch-sephardische Kultur

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Dennoch existierte auf der gehobenen gesellschaftlichen Ebene ein Austausch zwischen den Eliten der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Sephardische Juden auf der Iberischen Halbinsel wirkten insbesondere deshalb als Vermittler, da sie dank ihrer Sprachkenntnisse beispielsweise vergessene philosophische Texte auf Griechisch übersetzen konnten. So übersetzten sephardische Juden die AristotelesKommentare des Averroes aus dem Arabischen.41 Aber auch das christliche Abendland begann sich beginnend mit dem 12. Jahrhundert für das arabische Spanien zu interessieren. Dadurch entstand ein Kulturkontakt zwischen Muslimen, Juden und Christen mit einem Schwerpunkt auf den Wissenschaften und Künsten.42 Im Gebrauch so unterschiedlicher Sprachen wie Arabisch, Latein und den sich ausbildenden Volkssprachen waren Juden aufgrund ihrer Sprachkompetenz als Vermittler gefragt. Darüber hinaus wurden die ersten philologischen, wissenschaftlichen Einordnungen der hebräischen Sprache durch bereits vorliegende Untersuchungen zur arabischen Sprache beeinflusst.43 Die arabische Sprache ersetzte als zentrales Kommunikationsmittel das Hebräische bisweilen sogar in Texten zur jüdischen Theologie.44 Parallel zur christlichen Welt konnte sich also selbst in jenen Teilen Spaniens eine eigenständige jüdische Tradition ausbilden, deren Lebenswelt sich im Denken und in ihren Verhaltensmustern mit der islamischen Kultur abstimmte. Im christlich dominierten Norden Spaniens fand stattdessen eine intensivere Auseinandersetzung mit den Texten zur jüdischen Mystik statt.

41 Cahen: Islam, S. 312. 42 „Unleugbar sind manche Zweige der Geisteskultur seit dem 12. Jahrhundert im Niedergang begriffen, doch aufs Ganze gesehen lässt sich nicht nur ein Abstieg, sondern auch eine Neuorientierung beobachten. So blühte unter einem spontanen Drang der Zeit die Mystik auf und wies der philosophischen Reflexion neue Wege. Zwar nahm die Wissenschaft keinen neuen Aufschwung, doch bezeugen Enzyklopädien und ‚Summen‘ des erreichten Wissens das Interesse, das für sie weiter besteht.“ (Cahen: Islam, S. 312). 43 Allerdings sei die mittelalterliche hebräische Poesie selbst von früheren Entwicklungen des babylonischen und maghrebinischen Judentums mit beeinflusst worden. Auch seien ähnliche Entwicklungen im Irak und in Palästina während des 10. Jahrhunderts nachzuweisen. (BenSasson: Al-Andalus, in: The Jews of Europe in the Middle Ages, S. 123–137. Hier: S. 130). 44 “Hebrew of course remained, but its use was limited. It was above all a religious language, used in the liturgy of the synagoge and in poetry, sometimes more generally in belles lettres. But for most purposes Hebrew and all the other languages formerly used by Jews were replaced by Arabic, which became the language of science and philsophy, of government and commerce, even the language of Jewish theology when such discpline began to develop under Islamic influence.” (Lewis: Jews of Islam, S. 76). 22

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Juden im christlichen Spanien Bis auf wenige christliche Kämpfer, die sich in die Pyrenäen im Norden der Halbinsel zurückgezogen hatten, gab es keinen nennenswerten Widerstand gegen die neuen moslemischen Herrscher. Nach der Eroberung Iberiens begannen diese, auch das Frankenreich zu erobern, wurden jedoch in der Schlacht von Tours und Portiers 732 durch den Frankenkönig Karl Martell zurückgeschlagen. Die Idee der Reconquista sollte von diesem frühen Widerstand in den Pyrenäen ihren Ausgang nehmen. Neben dem Mythos eines Goldenen Zeitalters in al-Andalus für die Juden, wurde für die Christen der Mythos einer christlichen Rückeroberung mit einer ebenso großen Wirksamkeit versehen. Auch wenn diese verhältnismäßig überschaubare Periode im Rückblick treffender als „goldener Moment“ bezeichnet werden könnte, blieb die gesamte jüdische Kultur auf der Iberischen Halbinsel – insbesondere in der Erinnerung späterer Jahrhunderte – mit dem vollen Glanz behaftet, der unter dem zentralen Begriff Convivencia zusammengefasst wurde.45 Der Begriff Convivencia erhält noch eine andere Bedeutung, wenn die Definition der Bezeichnungen moslemisch, christlich oder jüdisch auf die jeweilige historische Situation und die sich daran anlehnende Erinnerung anknüpft. Wie bereits zuvor im moslemischen Herrschaftsbereich wurden Juden von der christlichen Verwaltung als Kenner der muslimischen Verwaltungsdienste eingesetzt und konnten häufig ihre alte Stellung in der sich etablierenden christlichen 45 Dass in Spanien ein kritisches Verständnis von Peripherie und Zentrum vorliegt, zeigt sich auch an der Wahrnehmung des Anderen als Nachbar. Dies macht auch eine kritische Einordnung des Begriffs Convivencia nötig. Vgl. Mark D. Meyerson, Edward D. English (Eds.): Christians, Muslims and Jews in Medieval and Early Modern Spain. Notre Dame, Indiana 2000. Zum Verständnis einer sich im Umkreis der Reconquista radikal verändernden Welt des sephardischen Judentums vgl. B.R. Gampel: Crisis and Creativity in the Sephardic World, 1391–1648. New York 1997. Dass sich besonders die marranische Diaspora in Amsterdam strikt von ihren aschkenasischen Glaubensbrüdern abgrenzte, ist in zahlreichen Untersuchungen dargelegt worden, die immer wieder auf den bei den sephardischen Juden angenommen Stolz über deren edle Herkunft bezogen werden. So kann Weiner folgern: „During the sixteenth and seventeenth centuries there emerged such a level of hostility on the part of wealthy Sephardic Jews towards their poorer Ashkenazic brethren in the Northern European Urban centers that the term ‚Jewish anti-Semitism‘ ist not an overstatement.“ (Gordon M. Weiner: Sephardic Philo- and Anti-Semitism in the Early Modern Era: The Jewish Adoption of Christian Attitudes. In: Jewish Christians and Christian Jews. From the Renaissance to the Enlightenment. Edited by Richard H. Popkin and Gordon M. Weiner. Dordrecht o. J. S. 189–214. Hier: S. 189. Dem besonderen Verhältnis von spanischer Geschichte und der Inquisition geht Netanyahu nach. Vgl. Benzion Netanyahu. The Origins of the Inquisition in Fifteenth Century Spain. New York Second Edition 2001. Die iberisch-sephardische Kultur

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Bürokratie beibehalten. Oder wie es Bahya ben Asher aus Saragossa (gest. 1340) ausdrückte: Die Juden seien auch unter christlicher Herrschaft Diener von Königen und nicht von Dienern gewesen.46 So verfügten die sephardischen Gemeinden auch unter christlicher Herrschaft zunächst über eine autonome Gemeindestruktur: die so genannten Aljamas. In bestimmten Städten waren die jüdischen Viertel mit eigenen Wehranlagen versehen. Jede Gemeinde hatte ein Vorstandsgremium, das durch eine Wahl ermittelt wurde. Der Leiter der Gemeinde war der Rabbiner, doch stand diesem ein Prokurator oder Anwalt zur Seite, der als Mittler zwischen König und Juden auftrat. Häufig gingen diese Ämter vom Vater auf den Sohn in einer Familie über. Ein Oberrabbinat konstituierte sich (Rabi Mayor), das wiederum zwischen dem König und den jüdischen Gemeinden vermittelte, wenn es z. B. um die Verhängung eines Banns ging. Besonders in den Wissenschaften, der Dichtkunst und der Medizin zeichneten sich die sephardischen Juden aus und gelangten zu bedeutenden und ehrenvollen Stellungen. Bis 1377 bestand zudem eine Rechtssicherheit der Juden durch die Monarchen, ähnlich der im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation praktizierten Kammerknechtschaft. Diese ermöglichte eine enge Bindung zwischen den Juden und dem Herrscher, auf deren Grundlage sich eine jüdische Hofkultur auch in den sich immer weiter nach Süden ausbreitenden christlichen Herrschaften ausbildete. Hier standen die Juden teilweise unter dem direkten Schutz des christlichen Königs, der als Royal Alliance bezeichnet wurde. Besonders unter König Alphons VII. von Leon und Kastilien (1126–1157) konnte sich „in Toledo […] eine glänzende Nachblüte der jüdisch-arabischen Kultur entfalten“47, wobei der Bedeutung des Kastilischen als Kultur- und Umgangssprache eine besondere Bedeutung zukommen sollte. Auch als nach dem Verlust von Córdoba, Murcias und Sevilla in den Jahren 1236 bis 1248 jüdische Gelehrte ins Exil nach Südfrankreich gingen und sich der Anfang vom Ende der jüdisch-arabischen Epoche abzeichnete, blieb Spanien in der Wahrnehmung seiner jüdischen, christlichen und moslemischen Leser das „andere“ Europa. Die jüdische Kultur orientierte sich ganz an der arabischen Sprache und Kultur und war Bernard Lewis zufolge eine „Judaeo-Islamic culture“48, also eine Kultur, die beide Elemente, jüdische und islamische, miteinander in Verbindung brachte. Das Zusammenleben von Moslems, Juden und Christen zwischen 1000 und ca. 1350 hatte im Terminus Convivencia beredeten Ausdruck gefunden. Allerdings war in den spanischen Gesetzbüchern der Zeit nur sehr eingeschränkt explizit die Rede von 46 Zitiert in Yerushalmi: Exile and Expulsion, S. 11. 47 Saul Mezan: Sefardim. In: Jüdisches Lexikon in 4 Bänden. Bd. 4. Berlin 1930. S. 329–331, S. 531. 48 Lewis: The Jews of Islam, S. 77. 24

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Convivencia. Am ehesten fand sich dieses Prinzip des Zusammenlebens noch unter der Herrschaft König Alfons X (1252–1282) von Kastilien und Leon, genannt der Weise.49 In der in seinem Herrschaftgsbereich liegenden Stadt Toledo wurden in der ansässigen Übersetzerschule zahlreiche Übersetzungen vom Arabischen ins Lateinische, insbesondere durch die sephardischen Juden angefertigt. Die Reconquista als eine politische Gegenbewegung nahm ihren Ausgang bei jenen christlichen Bewohnern des westgotischen Reiches, die nach der islamischen Eroberung der Halbinsel in die Pyrenäen geflüchtet waren. Im Zuge der Ausdehnung der Reconquista nach Süden fiel eine Vielzahl von jüdischen Gemeinden in den christlichen Herrschaftsbereich. Die Juden waren auch hier anfangs den Christen gleichgestellt. Dennoch führte die einseitig enge Bindung zu einzelnen Herrschern zu einer Verschärfung des Gegensatzes zwischen Juden und Christen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts existierten vier christliche Königreiche auf der Iberischen Halbinsel: Navarra, Aragon, Kastilien und Portugal. Ganz im Süden bestand weiterhin das maurische Königreich Granada. Erst im Nachhinein wurde die Reconquista in eine Kreuzzugsideologie gegen die „Ungläubigen“ umgestaltet. Eine judenfeindliche Gesetzgebung wurde 1370 in Kastilien verabschiedet. Dadurch verloren die jüdischen Gemeinden ihre Selbstbestimmung und richterliche Unabhängigkeit. Die Hetzpredigten des später heiliggesprochen Dominikaners Vincenz Ferrer (1350–1419) taten ein Übriges, um zu offener Judenfeindschaft aufzurufen. Durch den Gegenpapst Benedikt XIII. wurde Ferrer mit der Durchführung der Religionsgespräche von Toledo (1412–1414) beauftragt, die noch in den Dichtungen Heinrich Heines als „Fanal der Inquisition“ interpretiert wurden. Auch bedingt dadurch ergab sich eine neue Situation: Die Zahl der getauften Juden – der Conversos oder Neuchristen – war größer als die der Juden wobei etwa 200.000 von 600.000 Juden zum christlichen Glauben konvertierten.50 Die Conversos übernahmen, wie Yitzhak Baer gezeigt hat, häufig die Funktion der Juden als Vermittler in der Gesellschaft. Sie hielten sich vorwiegend in den Städten auf. In ihrer Mehrheit gehörten sie der oberen Mittelschicht an und sie

49 „In manchen Historikerkreisen ist es üblich, die Periode zwischen 1000 und 1350 als das Goldene Zeitalter der Koexistenz (spanisch: convivencia) zwischen Christen, Muslimen und Juden unter christlicher Herrschaft zu bezeichnen, im Sinne einer Duldung religiöser Unterschiede und eines Verzichts auf Verfolgung und Gewalt.“ (Edwards: spanische Inquisition, S. 58). 50 „Innerhalb von 25 Jahren hatte die jüdische Religionsgemeinschaft demnach in Spanien mehr als die Hälfte, vielleicht sogar mehr als zwei Drittel ihrer Angehörigen verloren.“ (Michael Grüttner: Die Vertreibung der spanischen Juden 1492. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Band 3 (1996). S. 166–188. Hier. S. 178). Die iberisch-sephardische Kultur

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zeichneten sich durch eine hohe soziale Mobilität aus. In seinem Eintrag „Inquisition“ im „Jüdischen Lexikon“ macht Baer deutlich, dass die Inquisition Ende des 12. Jahrhunderts mit dem Ziel der Verfolgung von Häretikern und judaisierenden Christen eingerichtet worden war; mit dem offiziellen Judentum habe sie hingegen nichts zu tun gehabt. Am Anfang lag sie in den Händen der Bischöfe. Papst Innozenz III. (1198–1216) unterstellte die Inquisition der unmittelbaren Leitung des Papstes. Mit ihrer Ausführung wurden vorwiegend Franziskaner und Dominikaner beauftragt. Infolgedessen kam es häufiger zu Reibungen zwischen Juden und den Vertretern der Inquisition, insbesondere in Frankreich, Italien und Spanien. Die Inquisition war bestrebt, alle Prozesse gegen Juden an sich zu ziehen, in denen eine Bedrohung des christlichen Glaubens vorzuliegen schien. Dies waren Prozesse wegen Blasphemie, Hostienschändung, Ritualmord und Aufnahme von Christen und getauften Juden in das Judentum durch Konversion.51 In Spanien war die Situation besonders brisant, da infolge der Massentaufen der Jahre 1391 bis 1415 eine überwiegende Anzahl von Neuchristen im Geheimen noch weiterhin dem Judentum anhing. Dies führte schließlich dazu, dass König Ferdinand und Königin Isabella 1481 das Einverständnis von Papst Sixtus VI. erhielten, die Inquisition unter staatliche Aufsicht zu stellen. Als eine Reaktion darauf kam es zu „Verschwörungen der Marranen in Sevilla und Saragossa, denen in Saragossa der Inquisitor Pedro Arbuez zum Opfer fiel.“52 Diese Aufstände wurden jedoch niedergeschlagen. Die Reinheit des Glaubens zu verteidigen, war das zentrale Anliegen der Inquisition. Davon waren Juden zuerst einmal nicht betroffen, allerdings konnten alle Neuchristen von der Inquisition befragt werden. Die spanische Inquisition war – wie auch die allgemeine mittelalterliche Inquisition – ein Instrument der Religionspolitik. Die Prozesse gegen die Neuchristen hatten den Zweck, nachzuweisen, dass die Angeklagten zu jüdischen Riten und Überzeugungen zurückgekehrt seien oder diese niemals verlassen hatten. Die Inquisition war in ihrer Unerbittlichkeit dafür verantwortlich, dass die Mehrzahl der Neuchristen zwischen 1481 und 1492 auf dem Scheiterhaufen endete und hatte somit ihre Absicht wahr werden lassen, „die judaisierenden Elemente innerhalb der christlichen Gesellschaft auszurotten.“53 Die Inquisition muss daher auch als ein fester Bestandteil der Politik verstanden werden, der die Juden als so bezeichneten Fremdkörper schließlich im Jahre 1492 aus Spanien vertreiben sollte. Die Inquisition war maßgeblich daran beteiligt, dass Juden verstärkt als Vertreter einer dem Christentum feindlich gesinnten Religion wahrgenommen wurden. 51 Fritz Baer: Inquisition. In: Jüdisches Lexikon. Bd. III. S. 21–24. Hier: S. 22. 52 Baer: Inquisition, S. 23. 53 Baer: Inquisition, S. 23. 26

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Die Ausbreitung des Christentums kulminierte in dem zentralen Ereignis der Vertreibung der Juden 1492 aus Spanien und 1496 aus Portugal. Die Vertreibung fiel mit der staatlichen, religiösen und der forcierten sprachlichen Einheit Spaniens auf der Grundlage des Kastilischen zusammen. Die Anzahl der aus Kastilien und Aragon 1492 ausgewiesenen Juden belief sich auf ca. 150.000 Personen. Weitere 50.000 ließen sich taufen und 20.000 starben in Folge der Vertreibungen.54 Wer sich entschloss, in Spanien zu bleiben, musste zum Christentum übertreten.55 Damit war das Kapitel jüdischer Geschichte auf der Iberischen Halbinsel zwar formal zu Ende, allerdings stellte die Existenz von Neuchristen eine neue Herausforderung sowohl für das Christentum als auch für das Judentum dar. Die Geschichte der Vertreibung wurde bereits von Zeitgenossen in religiösen und historischen Werken festgehalten. Unter der Herrschaft des Islam hatte es zwar auch zeitweise Einschränkungen und Diskriminierungen gegenüber Juden und anderen nicht moslemischen Minderheiten gegeben, jedoch fand eine Vertreibung der Juden wie unter christlicher Herrschaft nicht statt. Die Vertreibung aus Spanien 1492 und aus Portugal 1497 markierte einen Abschluss in einer ganzen Reihe von Vertreibungen aus europäischen Staaten, z. B. aus Frankreich 1182, 1322 und 1394, aus England 1290 und aus der Provence 1501 sowie zahlreichen regionalen Vertreibungen aus den deutschsprachigen Ländern während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Auch wenn das Goldene Zeitalter der Juden in den islamisch regierten Ländern Spaniens schon früh zu Ende war, waren die sich daran anschließenden Jahrhunderte unter christlicher Herrschaft bis zur Vertreibung nicht immer von Verfolgung gekennzeichnet. Allerdings nahm im geistigen Klima der Reconquista der „gotische Mythos“ eine zentrale Funktion ein, demzufolge Menschen „rein“ christlich-spanischer Herkunft als höherwertiger im Vergleich zu Muslimen und Juden angesehen wurden. Dieser Mythos nahm im weiteren Verlauf der Reconquista konkrete Gestalt 54 Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden, S. 134–136. Georg Bossong: Die Sepharden. Geschichte und Kultur der spanischen Juden. München 2008. S. 57–58. Fritz Baer ging in Kastilien von 35.000 bis 40.000 jüdischen Familien bei einer Gesamtbevölkerung in Kastilien von ca. 5.700.000 aus. (Baer: Spanien. In: Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, S. 535.) Die Encyclopedia Judaica geht von 100.000 Vertriebenen aus. (EJ, Vol. 15, S. 241.) Jane Gerber spricht von 175.000 Juden, die Spanien verließen und 100.000, die im Jahre 1492 konvertierten. (Gerber: Jews of Spain, S. 140). Haim Beinart kommt auf die Zahl von 200.000 vertriebenen Juden. Die bei Reclam verlegte Kleine Geschichte Spaniens hingegen geht von lediglich 30.000 bis 40.000 Vertriebenen aus (Kleine Geschichte Spaniens. Herausgegeben von Peer Schmidt. Stuttgart 2004. S. 111). 55 Zur Verständnis der Marranen als erste „moderne Juden“ vgl. Yirmiyahu Yovel: The Other within. The Marranos. Split Identity and Emerging Modernity. Princeton 2009. Die iberisch-sephardische Kultur

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in Form der Limpienza de Sangre an.56 Dem Gesetz lag die Vorstellung einer christlichen Volksgemeinschaft zugrunde, an der Nichtchristen nicht teilhaben durften. Diese Konstruktion der Vergangenheit wurde in den folgenden Jahrhunderten häufig als Abgrenzungsmechanismus gegenüber Nichtchristen eingesetzt. Tatsächlich waren die Iberer jedoch bereits vor der moslemischen und christlichen Epoche vollständig latinisiert worden. Die rein spanische Abstammung – ungeachtet des Anachronismus – und insbesondere deren Nachweispflicht wurden zu einer beliebten Waffe in der Identifizierung möglicher Neuchristen, die nicht über diesen reinen Stammbaum verfügten. Das Nachleben dieser reinen Abstammung zeigt sich darin, dass noch bis 1865 der Nachweis der Limpienza de Sangre für eine Anstellung im Staatsdienst notwendig war.57 Methodische Vorgehensweise: Wege der Rezeption im Zeitalter der Emanzipation der Juden in Deutschland Im Spannungsfeld von Judenfeindschaft, Zivilisierungsprojekten und Assimilationsdruck eröffnete die Orientierung am sephardischen Vorbild den deutschen Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, bestimmte Elemente dieses sozialen Drucks umzusetzen und gleichzeitig dem verbreiteten Bedürfnis nach Bewahrung einer jüdischen Eigenständigkeit Ausdruck zu verleihen. Die komplexen Formen dieser keineswegs einheitlichen Wahrnehmung der iberisch-sephardischen Kultur verbreiteten sich in unterschiedlichen Diskursen und bildeten ein zentrales Bezugssystem im Zeitalter der Emanzipation der Juden. Die in dieser Arbeit vorgestellten und untersuchten Texte im Zeitraum von 1779 bis 1939 erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind gleichwohl zentral für die Rekonstruktion der Erinnerung an diese Kultur bei den deutschen Juden im Verlauf des Zeitalters der Emanzipation. Die Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur begann bereits in der jüdischen Aufklärung, der Haskalah. Sie wurde jedoch insbesondere von Vertretern der Wissenschaft des Judentums in der wissenschaftlichen, literarischen und publizistischen Diskussion im 19. Jahrhundert intensiver aufgegriffen und als Leitbild für die Entwicklung einer modernen jüdischen Identität eingesetzt. Beschrei56 Vgl. Léon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Hamburg 1993. Hier bes. S. 27–32. 57 Ernst Schulin: Die spanischen und portugiesischen Juden im 15. und 16. Jahrhundert. Eine Minderheit zwischen Integrationszwang und Verdrängung. In: Bernd Martin und Ernst Schulin (Hg.): Die Juden als Minderheit in der Geschichte. 3. Aufl. München 1985. S. 85– 109. Ebd., S. 102. 28

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bungen eines Wissens um die iberisch-sephardische Kultur waren Bestandteil einer spezifischen Kommunikationsstruktur, deren komplexe Formen dieser keineswegs einheitlichen Wahrnehmung in unterschiedlichen Debatten zueinander in Beziehung gesetzt und als zentrales Bezugssystem für die Emanzipation der Juden in Deutschland interpretiert wurden. Die Etablierung dieser Diskurse erfolgte innerhalb des Zusammenspiels von Aneignung und Abgrenzung als Bestandteil eines spezifischen Raum-Zeit-Kontinuums, das sich auf drei Orte erstreckte und mit einem jeweils spezifischen Potenzial von Erinnerung versehen war. Darüber hinaus ereignete sich die Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel im Verständnis seiner Rezipienten zu keiner Zeit an der Peripherie, sondern sie spielte sich unter römischer, westgotischer, arabischer und schließlich christlicher Herrschaft im Zentrum Europas ab. Nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel 1492 bzw. 1497 nahm die marranische Diaspora in den Niederlanden – besonders in Amsterdam –, aber auch in Hamburg und Glückstadt und schließlich die iberisch-sephardische Kultur im Osmanischen Reich diesen Referenzpunkt ein.58 In Hamburg bestand seit den 1580er-Jahren eine sephardische Gemeinde, die bis zur Schoah Bestand haben sollte. Es ist allerdings keine direkte Einflussnahme auf die Mehrheit der aschkenasischen Juden nachzu-

58 Zur Geschichte der sephardischen Juden im Osmanischen Reich vlg. Avigdor Levy (Hg.): Jews, Turks and Ottomans. A Shared History. Fifteenth through the twentieth century. New York 2002. Für das 19. und 20. Jahrhundert ist die Untersuchung von Minna Rozen (ed.), The last Ottoman century and beyond: the Jews in Turkey and the Balkans 1808–1945 von Bedeutung. Außerdem vgl. Joseph Néhama: The Jews of Salonica in the Ottoman Empire. In: The Sephardi Heritage. Vol. II. The Western Sephardim. Edited by Richard Barnett and Walter Schwab. London 1989. S. 203–242. Den Ausschluss einer sephardischen Perspektive auf die moderne jüdische Geschichtsschreibung konstatiert Esther Benbassa bezogen auf die Geschichte der Eastern Sephardi Community. (Vgl. Esther Benbassa: Questioning Historical Narratives The Case of Balkan Sephardi Jewry. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts II (2003). Dan Diner (Hg.). München 2003. S. 15–22. Zum sich verzweigenden Ortsbezug Sepharad vgl. außerdem Desanka Schwara: Hybridität als politisches und soziokulturelles Prinzip. Sefardische Wege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Transversal 2 (2003), S. 51–78. Hiltrud Wallenborn: Bekehrungseifer, Judeneifer und Handelsinteresse: Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sefardischer Migration im 17. Jahrhundert. Hildesheim 2003. Aus ethnographischer Sicht von Bedeutung ist: Moritz Levy: Die Sephardim in Bosnien: ein Beitrag zur Geschichte der Juden auf der Balkanhalbinsel. Klagenfurt 1996. OA 1911. Felicitas Heimann-Jelinek, Kurt Schubert (Hg.): Spharadim. Spaniolen Die Juden in Spanien; die sephardische Diaspora. Eisenstadt 1992. Die iberisch-sephardische Kultur

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weisen.59 Im Osmanischen Reich gelangten einzelne Juden aufgrund ihrer Fähigkeiten in wichtige Regierungsämter. Sephardische Juden konnten ein Netzwerk internationaler Wirtschaftsverbindungen knüpfen, dessen Zentrum in Istanbul lag. Sie fungierten als Vermittler zwischen den unterschiedlichen religiösen Gruppen und Handelsvertretungen. Die herausragende Position nahm hier sicherlich Joseph Nasi ein, der von Sultan Selim II. aufgrund seiner wirtschaftlichen Verdienste zum Herzog von Naxos ernannt wurde.60 Diesen drei unterschiedlichen Orte war gemein, sich in einer signifikanten Scharnierfunktion der jüdischen Lebenswelten zwischen moslemischen und christlichen Mehrheitsgesellschaften zu befinden. Die Vertreibung 1492 war somit niemals der einzige Referenzpunkt innerhalb der Rezeption. Die katholische Kirche, die die Reconquista begründete und die schließlich zur Vertreibung der Juden führte, musste bei den jüdischen Wissenschaftlern und Lesern im 19. Jahrhundert mit einem katholischen Christentum in Spanien in Einklang gesetzt werden, das zumindest für eine Übergangszeit den Juden wohlwollend bis neutral gegenüberstand und diese als Vermittler zwischen der islamischen und der christlichen Kultur in ihren gewohnten Positionen beließ. Hinsichtlich der sephardischen Diaspora im Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches dominierten hingegen Referenzpunkte, die das kulturelle Selbstverständnis

59 Besonders Yosef Kaplan hat umfangreiche Untersuchungen zur Bedeutung der sephardischen Juden in Westeuropa und deren wechselseitigen Auseinandersetzung mit der nicht jüdischen Welt angestellt. Vgl. Yosef Kaplan: The Portuguese community in the 17th century Amsterdam and the Ashkenazy world. In: J. Michman (Hg.): Dutch Jewish History. Vol. II. Proceedings on the History of the Jews in the Netherlands. December 1986. Jerusalem 1989. S. 23–45. Ders.: The Sephardim in north-western Europe and in the New World. In: Haim Beinart (Hg.): Moreshet Sepharad: the Sephardi Legacy. Vol. I–II. Jerusalem 1992. S. 240– 287. Ders.: The Jewish Profile of the Spanish-Portuguese Community of London During the Seventeenth Century. In: Judaism 41 (1992). S. 229–240. Auch Norbert Rehrmann hat in einer überaus aufschlussreichen Studie nachgewiesen, wie sehr die sephardischen Juden als Bestandteil der spanischen Geschichte von spanischen Autoren im 19. und 20. Jahrhundert erst verdrängt und dann wiederentdeckt wurden. Vgl. Norbert Rehrmann: Das schwierige Erbe von Sefarad. Juden und Mauren in der spanischen Literatur. Von der Romantik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2002. Vom selben Autor vgl. außerdem: Kulturelles Gedächtnis, nationale Identität und Literatur: Die Sephardenthematik in fiktionalen und essayistischen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts. Entwicklungslinien und Desiderate. In: Christoph Miething (Hg.): Romania Judaica. Bd. 3. Studien zur jüdischen Kultur in den romanischen Ländern. Tübingen 1999. S. 195–222. 60 Cecil Roth: The House of Nasi: The Duke of Naxos. Philadelphia 1948. Daniel Goffman: Jews in Early Modern Ottoman Commerce. In: Avigdor Levy (Ed.): Jews, Turks, Ottomans. S. 15–34. 30

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dieser Juden mit dem politischen Niedergang des Osmanischen Reiches im Verlauf des 19. Jahrhunderts synchron als eine Geschichte des Verfalls interpretierten. Zum Forschungsstand Die Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur im Zeitalter der Emanzipation hat auf die exemplarische Bedeutung von deutscher Sprache und Kultur als ein zentrales System von Zugehörigkeit im Rahmen der sich ausgestaltenden Akkulturation der Juden in Deutschland immer wieder hingewiesen. Besonders eindringlich vollzog sich diese von Christian Wilhelm von Dohm formulierte „bürgerliche Verbesserung“, durch die Hinwendung zu deutscher Sprache und Kultur, an der die entstehende deutsch-jüdische Mittelklasse in Deutschland eine Idealisierung vornahm. Allerdings sind essentialistische Konzepte zur deutsch-jüdischen Geschichte in jüngster Zeit immer wieder hinterfragt worden. So stellte Simone Lässig in ihrem Buch „Jüdische Wege ins Bürgertum“ heraus, dass die Begriffe Assimilation und Akkulturation zum besseren Verständnis der deutsch-jüdischen Geschichte wenig hilfreich seien. Lässig zufolge hätten „sich die Juden in der Frühphase der Emanzipationszeit mehrheitlich noch gar nicht primär an den Deutschen oder den Christen orientiert, sondern sich zunächst vor allem von der Lebensweise und Kultur einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, eben des selbst noch im Entstehen begriffenen modernen Bürgertums angezogen gefühlt.“61 Der Schlüssel zum Verständnis der „rasanten Verbürgerlichung der jüdischen Deutschen“62 sei – in Anlehnung an Pierre Bourdieus differenzierten Kapitalbegriff – ein explizit kultureller. Und auch Till van Rahden wies darauf hin, dass im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts nicht die eine dominierende Mehrheitskultur in Deutschland existiert habe, sondern vielmehr eine Vielzahl von wechselnden Identitätsentwürfen bestanden hätte.63 Insbesondere der deutsch-jüdischen Mittelklasse mit ihrem ausgeprägten bürgerlichen Bildungsideal kam in diesem Verständnis eine Vorbildfunktion für alle europäischen Judenheiten zu. Neben der deutschen Kultur als Referenzpunkt wurde aber auch die iberischsephardische Kultur in diesem Zusammenhang als Bezugsquelle herangezogen. So ordnete David Sorkin die Umgestaltungsvorgänge bei den deutschen Juden im Ver61 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, 20. 62 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 25. 63 Till van Rahden: Jews and the Ambivalences of Civil Society in Germany, 1800–1933. Assessment and Reassessment. In: The Journal of Modern History 77 (December 2005), S. 1024–1047. Die iberisch-sephardische Kultur

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lauf der Haskalah über das sephardische Bildungsverständnis als Maßstab für Erziehungskonzepte ein. Dabei wandte er sein Argument einer jüdischen Subkultur an.64 Der Begriff der „sephardischen Mystik“ wurde zuerst von Ivan G. Marcus in einem streitbaren Aufsatz formuliert, der den Historiker jüdischer Geschichte aktiv in die jüdische Gemeindepolitik eingebunden sehen wollte.65 Ismar Schorsch nahm den Begriff vom Mythos einer sephardischen Vorherrschaft wieder auf, indem er den Einfluss des sephardischen Judentums auf die Vertreter der jüdischen Aufklärung,66 in den Bereichen Liturgie, synagogale Architektur, Literatur und jüdische Gelehrsamkeit skizzierte.67 Diese Studie geht über Schorsch’ These hinaus, indem sie sich unterschiedlichen Genres – von der eher für eine Elite verfasste Geschichts- und LiteraturgeschichtsSchreibung bis hin zur populären Belletristik – in unterschiedlichen religiösen sowie politischen Lagern innerhalb des deutschsprachigen Judentums im Verlauf des 19. Jahrhunderts zuwendet. Dabei wird insbesondere auch verdeutlicht, in welchem Maße das Beispiel der iberisch-sephardischen Juden seine deutsch-jüdischen Leser in die Lage versetzte, sich auch politisch zu definieren und für die Integration in die deutsche Gesellschaft zu streiten. Dies wird besonders in der im Abschnitt D diskutierten Petition Ludwig Philippsons an das spanische Parlament deutlich, die religiöse Freizügigkeit und damit die Wiederzulassung der Juden in Spanien zu ermöglichen. Ziel der Studie ist es, nachzuweisen, dass die deutschen Juden die iberisch-sephardische Kultur als Modell für eine gelungene Integration der Juden in eine nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft auf der Grundlage einer Teilhabe an dieser Kultur als gleichberechtigter Gesprächspartner verstanden. Dieser Schritt sollte vereinzelt so weit gehen, dass sie sich von ihrer eigenen aschkenasischen Herkunft abgrenzten,68 indem sie diese entweder ausblendeten oder vollständig ignorierten.69 Dabei standen 64 David Sorkin: The Transformation of German Jewry 1780–1840. New York 1987. Hier bes. S. 51. 65 Ivan G. Marcus: Beyond the Sephardic Mystique. In: Orim (I) 1985. S. 35–53. 66 Ismar Schorsch: The Myth of Sephardic Supremacy. In: LBI Yearbook XXXIV (1989). S. 47– 66. Hier: S. 49. 67 Ismar Schorsch: Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818–1919). In: Michael Brenner und Stefan Rohrbacher (Hg.): Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust. Göttingen 2000. S. 11–24. Hier: S. 18. 68 “German-Jewish authors turned to the Jewish community of medieval Spain as a paradigmatic model of Jewish integration and acculturation.“ (Michael Brenner: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. New Haven 1996. S. 17). 69 Diese Ausblendung hat John Efron treffend dargestellt: “Thus, the Ashkenazim of modern and early modern Europe accepted the myth of Sephardic superiority by glorifying the latter’s 32

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Überlegungen im Vordergrund, die das Miteinander von Juden und Moslems bzw. Juden und Christen in den Mittelpunkt rückten, aber auch die Rolle von sephardischen Juden als Vermittler hervorhoben. Die Fähigkeit der sephardischen Juden, mit Muslimen und Christen gleichermaßen zu kommunizieren, wurde als zentrales Element dieser Konzeption von Vermittlung angenommen. Die arabische Sprache entwickelte sich auf der Iberischen Halbinsel zur Kultur- und Umgangssprache und „became the lingua franca of the vast empire, taking the place of Aramaic and Greek, which served as the international languages of culture and administration throughout much of the Middle East and North Africa previously.“70 In diesem Sinne wurde Arabisch zur „new international language of culture“,71 die sich Juden zu eigen machten. Diese Form von Multilingualität blieb auch in den christlichen Staaten Iberians erhalten. Hier bedienten sich die Juden – anders als im christlichen Europa, wo Juden und Christen im Verlauf des Spätmittelalters eher getrennt voneinander lebten – auch der lateinischen Sprache. In Spanien verblieben sie auch in politischen Ämtern und wirkten weiterhin als Vermittler. Die Interpretation von Vermittlung als Partizipation an allen gesellschaftlichen Entwicklungen und der damit verbundenen politischen Teilhabe von Juden an der Mehrheitsgesellschaft – ob moslemisch oder christlich – stellte einen entscheidenden Anteil an der Faszination für die iberisch-sephardische Kultur dar. Diese lag im Verständnis der Rezipienten zentral in Europa und keinesfalls an der Peripherie Europas. Konzepte zur Emanzipation der Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts drücken sich nicht selten durch Vergleiche und Metaphern aus, die wiederum in einem komplexen System der Bezüge und Referenzen in der Analyse dieser Bilder einen Zusammenhang herstellen. Diese in der historischen Forschung häufig vernachlässigte Bedeutung von beharrlich wiederkehrenden ‚bildlichen‘ Ausdrucksweisen, auch jenseits fester ‚begrifflicher‘ Definitionen, muss besonders hinsichtlich der Produkantiquity and noble descent. However, they also expanded upon the myth in the nineteenth century, by holding up Sephardic civilization and, as did the physical anthropologists, the Sephardim themselves, to a rather uncritical assessment and evaluation. All this was for the purpose of both finding a superior Jewish type (largely motivated by the need to rebut contemporary anti-Semitic charges of Jewish degeneracy) as well as providing a model for Ashkenazic Jews to emulate.” ( John M. Efron: Scientific Racism and the Mystique of Sephardic Racial Superiority. In: LBI Yearbook 38 (1993). S. 75–96. Hier: S. 95–96). Außerdem ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Robert Reuven Bonfil: The legacy of Sephardy Jewry in historical writing. In: Haim Beinart (Hg.): Moreshet Sepharad II (1992). Jerusalem 1992. S. 461–478. Jane S. Gerber: Lessons from the Sephardic Past. In: Michael Brown, Bernhard Lightman (Hg): Creating the Jewish Future). Walnut Creek 1999. S. 118–130. 70 Stillman: The Judeo-Arabic Heritage, hier: S. 43. 71 Stillman: Judeo-Arabic Heritage, S. 43. Die iberisch-sephardische Kultur

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tivität und dem innewohnenden Vermittlungsgehalt Beachtung finden. Denn in einer solchen Metaphorik gestaltet sich „eine katalysatorische Sphäre, an der sich [...] ständig die Begriffswelt bereichert, [...] ohne diesen fundierten Bestand dabei umzuwandeln und aufzuzehren.“72 Dieser Ansatz kommt besonders dann zum Tragen, wenn es darum geht, die Formen der Säkularisierung jüdischer Lebenswelten im Zeitalter der Emanzipation einordnen zu können. Dem Topos kommt im Vorgang der Modellierung, Einschreibung oder auch Konstruktion eine feststehende Bedeutung zu, dessen bestehende „Leerform“ aufgrund einer „Aktualisierung“ seine bestimmte Zuschreibung erfährt.73 Die Verfügbarkeit der Topoi ist analog zur Mnemotechnik der rhetorischen Gedächtnislehre angelegt, indem „an die Stelle der formalen Topik [...] die Imagination einer vertrauten Lokalität tritt, in der konkrete Topoi als Gedächtnisbilder (Imagines) abgelegt und bei Bedarf wiedergefunden werden können. Als inhaltlich habitualisierte und räumlich geordnete Wissenselemente bilden Topoi eine zentrale Konstante der kulturellen Tradierung.“74 Im kulturellen Gedächtnis verdichten sie sich als Teil der Kultur und sind dadurch sowohl „identitätskonkret“ ( Jan Assmann) als auch variabel genug, um für Identitätskonzepte bestimmter Kollektive „benutzbar“ zu sein. Die in den literaturwissenschaftlichen Fächern von Ernst Robert Curtius begründete Topos-Forschung dient dazu, dem komplexen System der Bezüge und Referenzen in der Analyse dieser Bilder einen Zusammenhang zu geben. In diesem Verständnis bildete die zentrale Gegenrede von der iberisch-sephardischen Kultur als einem Goldenen Zeitalter ein identitätsstiftendes Bezugssystem jenseits des Christentums und dem gegenüber den Juden eingeschlossenen Forderungskatalog aus. Das Gegenteil war bei der Wahrnehmung der aschkenasischen Juden im Verlauf des Mittelalters der Fall. Diese lebten unter der rigiden Herrschaft der katholischen Kirche, was dazu führte, dass Juden sich hier von der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft abschotteten, nicht an der Mehrheitskultur partizipierten und auch keine vergleichbare Form der Vermittlung eines jüdischen Anteils in die Mehrheitskultur bestand. 75 Die Rabbiner in Aschkenaz konzentrierten sich in der Wahrnehmung der deutsch-jüdischen Rezipienten des 19. Jahrhunderts zu sehr 72 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main 1989. S. 11. 73 Dietmar Schmidt: „Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen“: Körper-Topoi. In: Dietmar Schmidt (Hg.): KörperTopoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002. S. 7–36. Hier: S. 11. 74 Nicolas Pethes: Topos. In: Nicolas Pethes, Jens Ruchaz (Hg.) In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hamburg 2001. S. 584–585. Hier: S. 584. 75 Martin Przybilski: Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2010. 34

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auf das Studium von Bibel und Talmud, wobei Kenntnisse in säkularer Wissenschaft entweder vernachlässigt wurden oder ausdrücklich nicht erwünscht waren. Ein besonders signifikanter Topos ist in diesem Zusammenhang jener der Vermittlung. Im „Jüdischen Lexikon“ von 1930, auf dem Höhepunkt der Integration der deutschen Juden, beschrieb Saul Mezan, Rabbiner von Sofia, sephardische Juden unter dem Stichwort „Sefardim“ als „Träger einer hohen sowohl hebräischen als auch europäischen Kultur”. Mezan zufolge „verbreiteten sie die Wissenschaft in ganz Europa und innerhalb des Judentums.“76 Diese Auffassung, Vertreter der iberisch-sephardischen Kultur als Bestandteil der europäischen und der jüdischen Kulturen zu begreifen, wurde bereits in der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, und insbesondere von Vertretern der Wissenschaft der Judentums zu Beginn des 19. Jahrhunderts vertreten. Es war nicht ohne Grund das „Jüdische Lexikon“, das in deutscher Sprache über die Grenzen Deutschlands hinaus diese Idee eines aufgeklärten und emanzipierten deutschsprachigen Judentums, das für alle Judenheiten als vorbildhaft angesehen wurde, verbreitete. Das Bild des Vermittlers enthielt eine eindeutig positive Zuschreibung. Im „Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache“, findet sich unter dem Stichwort „Vermittler“ der Hinweis: Vermittler sei „jemand, der einem anderen etwas vermittelt, auch Makler, Zwischenhändler“. Das „Grimmsche Wörterbuch“ (1854 f.) führt auch die lateinischen Bezeichnungen an und nennt intercessor, interpres, arbiter, mediator, concilator, interventor. Ergänzend zu dieser Definition bezeichnet „Mediation“ die Vermittlung als ein vermittelndes Dazwischentreten. Der Mediator kennzeichnet einen Schlichter in Rechtskonflikten, wie er aus dem lateinischen Adjektiv mediat für mittelbar, eine Bezeichnung, die im alten Deutschen Reich die Besitzung eines Reichsstands und nicht eine dem Reich selbst unterstehende Besitzung ausmacht. Diese rechtliche Fixierung ist am Beispiel der jüdischen Geschichte eher in Form von kultureller Zuschreibung, d. h. Vermittlung übergegangen.77 Allerdings reicht 76 Vgl. Saul Mezan: Sefardim. In: Jüdisches Lexikon in 4 Bänden. Bd. 4. Berlin 1930. S. 329– 331. 77 Dieser Aspekt der Vermittlung kann auch als Versuch nach Integration angelegt sein. Am Bau der Synagogen im 19. Jahrhundert lässt sich die Problematik der Zugehörigkeit besonders eindrücklich belegen. Der Versuch, Synagogen nach einem idealisierten orientalisch-sephardischen Vorbild zu bauen, stand in einem starken Widerspruch dazu, sich am christlich-gotischen Kirchenbau zu orientieren. Synagogen im maurischen Stil wurden in Deutschland und Österreich-Ungarn, aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, von den 1830er-Jahren bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges erbaut. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin. Kalmar vertritt jedoch hier die These, dass sich die deutschen Juden stärker am Orient und nicht ausschließlich an Spanien orientierten. Außerdem könne der maurische Stil nie als rein und einheitlich verstanden werden, ihm läge gewissermaDie iberisch-sephardische Kultur

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die Heranziehung einzelner herausragender Vertreter des sephardischen Judentums nicht aus, um diese Vermittlung beispielsweise konzentriert auf die Rolle der Shtatlan hinreichend zu klären.78 Shtatlanim fungierten in der Regel als Vermittler zwischen der jüdischen Gemeinde und dem Herrscher. Sie waren der Ansprechpartner für die Obrigkeit, wenn es beispielsweise darum ging, Steuern in der jüdischen Gemeinde einzusammeln. Sie wirkten dadurch auch als Fürsprecher für die jeweilige jüdische Gemeinde gegenüber dem nicht jüdischen Herrscher. Die Rezipenten im 19. Jahrhundert nahmen die sephardischen Juden als Vermittler wahr, deren Standhaftigkeit selbst in schwierigen Situationen als Vorbild für die zeitgenössische Situation der Juden in Deutschland verstanden wurde. Neben der Wahrnehmung der sephardischen Juden als kulturelle Vermittler nahmen Orte der Erinnerung für die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausbildende moderne jüdische Geschichtsschreibung eine überragende Bedeutung ein. Yosef Hayim Yerushalmi definierte in seinem Buch „Zakhor“ die Historiografie als eine „neue Art des Erinnerns“, die dadurch auch gegen Formen der Ausgrenzung vorgehen konnte.79 Diese hatte zunächst die Funktion, das Verständnis und das Bewusstsein für eine jüdische Geschichte zu wecken, die sich eben nicht im „Weltgeist“, so Hegel, verloren habe. Der umfassende Forderungskatalog seitens der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Juden machte es notwendig, Formen der Zugehörigkeit zu entwickeln, die keineswegs als klare Beschreibungen von Assimilationsvorgängen anzusehen sind, sondern die Ambivalenzen in den Blick nahmen, um dadurch diesen Vorgang der gewünschten Integration in die Mehrheitsgesellschaft selbst unbeschadet überstehen zu können. Der iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur kam hier als ein solcher Ort eine entscheidende Funktion zu.

ßen die Brüchigkeit zugrunde. Die Errichtung dieser Synagogen sei jedoch auch dem Umstand geschuldet gewesen, mittels dieses exotischen Merkmals in einen Dialog mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu treten. (S. 87) Außerdem habe sich dadurch auch der Stolz über die gewonnene Freiheit, Synagogen ohne Beschränkungen bauen zu können, ausgedrückt (S. 94). Mit dem Aufkommen des Berliner Antisemitismus-Streites in den 1880er-Jahren wurde die Beschreibung „orientalisch“ von Treitschke und anderen als Beschreibung gegen die Fremdheit der Juden verwandt, die nicht in Deutschland heimisch sein konnten. (S. 89). (Vgl. Ivan Davidson Kalmar: Moorish Style: Orientalism, the Jews, and Synagogue Architecture. In: Jewish Social Studies, New Series, Vol. 7, Nr. 3 (Spring-Summer 2003), S. 68–100). 78 Vgl. Francois Guesnet: Strukturwandel im Gebrauch der Öffentlichkeit: Zu einem Aspekt jüdischer politischer Praxis zwischen 1744 und 1881. In: Jörg Requate, Martin Schulze Wessel (Hg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main 2002. S. 43–62. 79 Yosef H. Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. Seattle and London 1996. 36

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Solche Orte sind zudem in einem topografischen oder metaphorischen Sinne zu verstehen, an die, wie es Pierre Nora formuliert hatte, „sich das Gedächtnis lagert oder in die es sich zurückzieht.“80 In diesem Vorgang bezögen sich Individuen und soziale Schichten auf solche Orte, deren Inhalte sich zu einer kontinuierlichen, d. h. aktiven Erinnerung zu Identifikatoren (Symbolen) des reflektierten Bewusstseins ausgestalten würden, sich somit als Konstruktion von kollektiven Identitäten darstellen könnten. Das Gedenken spezifischer Orte innerhalb einer Geschichte offenbart eine Aneignung von Erinnerung, die sich nicht als ein feststehender Begriff nachweisen lässt, sondern als Prozess, in dem die Erinnerung einer ständigen Veränderung unterzogen ist. Ein solcher Ort ist ein „Generationen überdauernder Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität, der in einem sich ständig verändernden realen und imaginären Raum eingebunden ist.“81 Diese spezifische Art der Erinnerung unterlief einem ständigen Prozess der Aneignung und Vermittlung wie es Jan Assmann in seiner Arbeit über „Moses den Ägypter“ deutlich machte, indem er sich auf Hans Blumenbergs Vorstellung einer „Arbeit am Mythos“ bezog82 und den selektiven Ansatz der Gedächtnisgeschichte hervorhob.83 Dabei müssen versprengte Texte nicht allein auf einen intertextuellen Zugriff warten, sondern „die doppelte Beziehung zur Kette der Vorgängertexte (Textdimension) und zum gemeinsamen Thema (Sachdeminsion)“84 mit einbezogen werden. Zudem muss auch die „negative Seite, [das] Vergessen und Verdrängen“,85 die „im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert“86 mit in die Deutung einbezogen werden. Die Ausbildung dieses Raumes ist von zahlreichen sich überlagernden Prozessen beeinflusst. Einer der wichtigsten Prozesse bezeichnet den der Transformation von Judenheiten aus einem traditionellen oder primär religiös definierten Verständnis von Judentum hin zu einem konfessionellen Verständnis von Judentum. Diese Umgestaltung zeigt sich im zentralen Bild der Vermittlung von jüdischem Anteil in die allgemeine Kultur, das es auch unmöglich macht, von einem Aufgehen in die 80 Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/Main 1998. 81 Etienne Francois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Band 1. München 2001. Hier: Bd. I, S. 18. 82 Zur Bedeutung des Mythos vgl. auch Gyburg Radke: Die Kindheit des Mythos. Die Erfindung der Literaturgeschichte in der Antike. München 2007. 83 Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt/Main ²2000. Hier: S. 28. 84 Jan Assmann, Moses der Ägypter, S. 36. 85 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2. Aufl. 1997. S. 34. 86 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. Die iberisch-sephardische Kultur

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nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft zu sprechen. Das kulturelle Bezugssystem der iberisch-sephardischen Kultur muss innerhalb des Zusammenspiels von Aneignung und Abgrenzung einem spezifischen Raum-Zeit-Kontinuum zugeordnet werden, um als Kommentar zur Emanzipation begriffen werden zu können. Die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker ausprägende Abgrenzung vom zeitgenössischen sephardischen Juden in Amsterdam und im Osmanischen Reich hing mit dem wachsenden Selbstbewusstsein der Juden in Deutschland zusammen. In der Folge verstanden diese sich selbst als Nachfahren der sephardischen Juden. Dies erlaubte es ihnen in ihrer Funktion als Vermittler, die als rückständig betrachteten Juden, einschließlich der zeitgenössischen Sephardim, zu kritisieren und ihnen eine Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu attestieren, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Die Funktion der sephardischen Juden als Vermittler zwischen einer jüdischen und nicht jüdischen Welt zu wirken und für die allgemeine Kultur befruchtend zu sein, ging hier auf die deutschen Juden über. Aus diesem Grund geht es ihnen nicht um Nostalgie, sondern darum, als Vorbild für so verstandene rückständige Juden aufzutreten und aufzuzeigen, in welchem Maße die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft vom jüdischen Anteil an dieser profitierte. Diesen Umstand wünschte man auch bezogen auf die Anwesenheit der Juden in Deutschland hervorzuheben, damit dies von der Mehrheitsgesellschaft auch bemerkt würde. Unter Bezugnahme auf Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ und den dort definierten Begriff einer „Jetztzeit“ wird dieses Koordinatensystem unterschiedlicher Orte und ihrer Bezüge innerhalb der iberisch-sephardischen Kultur und ihrer Rezeption noch deutlicher erkennbar. Benjamin ging davon aus, dass „die Geschichte [...] Gegenstand einer Konstruktion [ist], deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von ‚Jetztzeit‘ erfüllte, bildet.“87 Diese Interpretation ermöglicht es auch, die Rezeption der iberisch-sephardischen Lebenswelten als eine aktive Form der Vermittlung von Wissen in die Mehrheitsgesellschaft zu begreifen. Diesen ‚jüdischen Beitrag‘ für die allgemeine Kultur zu verstehen kann vor diesem Hintergrund als konstitutiv im Prozess der Emanzipation der Juden angenommen werden. Einem in der modernen jüdischen Historiografie dominierenden Zuschreibungskatalog von Assimilation oder Akkulturation im Zeitalter der Emanzipation kann somit eine alternative Lesart an die Seite gestellt werden. Dies zeigt sich in dem Moment, in dem die Konstruktion eines als ideal verstandenen spanischen Mittelalters zu den Diskussionen um ein authentisches Judentum im Spiegel von Ostjuden- und Westjudentum in Beziehung gesetzt wird. Was am Beginn des 87 Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen, XIV. In: Ders.: Schriften. Herausgegeben von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszuz. Frankfurt/Main 1955. Hier: Bd. 1, S. 503. 38

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Emanzipationszeitalters noch klar auf das sich um Assimilation bemühende Judentum in West- und Mitteleuropa bezogen wurde, fand spätestens durch Vertreter des Kulturzionismus wie Martin Buber seine Idealisierung im Ostjudentum und daraus hervorgehend auch die Authentizität einer modernen jüdischen Identität.88 Benjamin wies – bezogen auf den Vorgang der Übersetzung zwischen den Kulturen – darauf hin, dass die Übertragung eines Textes in einen anderen kulturellen Zusammenhang eine neue Qualität hervorbringe und dadurch „das Leben des Originals seine stets erneute, späteste und umfassendste Entfaltung“89 erreiche. Dieses Verständnis von Übersetzung ist auch für die theoretische und methodische Auseinandersetzung hinsichtlich der Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur bedeutsam, weil sie zu einem zentralen Beispiel für ein erweitertes, gedächtnisgeschichtliches Verständnis von „Übersetzung“ als einem kulturellen Phänomen sui generis geworden ist. Übersetzung muss hier nicht zwangsläufig die Übersetzung von einer Sprache in eine andere bedeuten, sondern vielmehr die Übertragung eines Textes in einen anderen kulturellen Zusammenhang. Der Gegenstand der Sprachverwendung und Übersetzung ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur. Dieses kulturelle Phänomen ging in seiner gesamten Auseinandersetzung mit der Kultur und Geschichte der iberischen Juden weit über den bloßen Gegenstand literarischer Übersetzungen hinaus.“90 Im Moment der Reflexion über Spanien und den Anteil der Juden an dieser Entwicklung Geschichte, setzte eine eigene Übersetzungsleistung der Rezipienten ein, die niemals abgeschlossen, sondern fließend war. So nahm die deutsch-jüdische schöngeistige Literatur des 19. Jahrhunderts nicht jüdische Vorbilder im Kontext einer Angleichung an die deutsche Mehrheitskultur auf. Dies veränderte nicht allein das 88 Vgl. Dan Diner: Historische Anthropologie nationaler Geschichtsschreibung. In: Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloß Elmau-Symposium. Michael Brenner und David N. Myers (Hg.). München 2002. S. 207–216. Hier: S. 211–212. 89 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/Main 1977. S. 50–62. 90 Benjamin geht in seinen Überlegungen zur Übersetzung auch auf die perfekte Sprache ein, deren Verwendung in eine messianische Betrachtung der Dinge eingekleidet ist. “Translation between languages is held possible because the individual languages are fragmented versions of a perfect language which is to be restored only by the Messiah himself. In this model, it is the very deficiency of the languages which generates the vision of unity. Translatability thus becomes a sign hinting at eschatological perfection and unification at the end of time. Benjamin discovered in the most trivial act of translation such a ‘figural’ event anticipating the perfection of the pasted languages in their final unity.” (Aleida Assmann: Translations as Transformation. In: Zwischen den Kulturen. S. 24.) Die iberisch-sephardische Kultur

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Verständnis von jüdischer Geschichte; vielmehr nahm auch die christliche Mehrheitskultur in Deutschland diese verwandelten Bilder jüdischer Geschichte auf und schuf selbst beispielsweise das Bild des edlen spanischen Juden oder der verführerischen schönen sephardischen Jüdin. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte in Spanien versetzte die deutsch-jüdischen Autoren in die Lage, mehr Klarheit über ihre eigene Situation in Deutschland zu erlangen. Die Berufung auf die iberisch-sephardische Kultur ermöglichte es ihnen zudem, Formen von Zugehörigkeit(en) auszubilden, die weitaus stärker einer hybriden Identität als Zuschreibungen von Assimilation oder Akkulturation zuzuordnen waren. Diese Identitätsentwürfe entwickelten sich jedoch nicht willkürlich, sondern primär als Reaktion auf eine von außen an die jüdische Gemeinschaft herangetragene Forderung nach Assimilation, die ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Facetten von Zugehörigkeit notwendig machte. Sie lassen sich am ehesten in dem Vorgang beschreiben, den David N. Myers als „an ongoing, dynamic, and vitalizing process of exchange“91 bezeichnete. Als Resultat wurde jedoch nicht etwa die Ausformung einer Gegenkultur oder „countermodels of Deutschtum“92 entwickelt, sondern der Versuch beschrieben, einen Kulturbegriff auszugestalten, der nicht Teil eines traditionellen, essentialistischen Konzeptes von Kultur war, sondern eine offene Kultur propagierte, an der Juden in der Vergangenheit auf der Iberischen Halbinsel partizipieren konnten.93 Die Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur gründete zudem auf der Annahme, auf der Iberischen Halbinsel hätten Menschen unterschiedlichen religiösen Bekenntnisses, jenseits bestehender religiö-

91 David N. Myers: The Blessing of Assimilation Reconsidered: An Inquiry into Jewish Cultural Studies, in: From Ghetto to Emancipation: Historical and Contemporary Reconsiderations of the Jewish Community, edited by David N. Myers. Scrantion 1997, S. 22. 92 Steven E. Aschheim: German History and German Jewry: Boundaries, Junctions and Interdependence. In: LBI Yearbook XLIII (1998), S. 315–322. Hier: S. 319. Aschheim weist auf die Bedeutung des Begriffs „Deutschtum“ in diesem Zusammenhang hin. “We should remember that the term ‘Deutschtum’ emerges only during the Wars of Liberation and as late as 1860 the Grimms’ Wörterbuch reports that its usage was mainly ironic. Yet by the end of the century the discourse between these two contrasting hypostatization’s – ‘Deutschtum’ and ‘Judentum’ – as warring, radically incommensurate principles, was already in place.” (Aschheim: German History and German Jewry, S. 321. Außerdem vom selben Autor: Brothers and Strangers. The East European Jews in German and German Jewish Consciousness 1800–1923. London 1982). 93 Vgl. zum Begriff einer offenen Kultur außerdem Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Elisabeth Bronfen; Benjamin Marius; Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997. S. 1–29. 40

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ser Einschränkung oder Reglementierung, friedlich miteinander gelebt. Die Juden konnten in dieser Kultur als Vermittler wirken. Diese spezifische Kultur der Vermittlung ermöglichte die Ausbildung von hybriden Formen der Zugehörigkeit auf der Grundlage einer „cultural difference“.94 Diese besondere kulturelle Eigenheit entwickelte sich gerade nicht in einem Prozess der Assimilation, sondern war universal im „moment of transit where space and time cross to produce complex figures of differences and identity, past and present, inside and outside, inclusion and exclusion“95 und kann somit als Bestandteil der von Benjamin so formulierten „Jetztzeit“ aufgefasst werden.96 Eine so verstandene offene Kultur auf der Iberischen Halbinsel war durch eine Form der kulturellen Differenz gekennzeichnet, deren herausragendes Charakteristikum das der Durchlässigkeit war. Dies schloss jedoch die Abgrenzung von Gegenbildern ausdrücklich mit ein. So grenzten verschiedene Rezipienten bereits Ende des 18. Jahrhunderts das historische Judentum in Spanien von einem traditionellen und als rückständig empfundenen aschkenasischen Judentum ausdrücklich ab. Die historische Erfahrung der sephardischen Juden wurde demzufolge auf die gegenwärtige Situation der deutschen Juden projiziert. Den Juden selbst, aber auch der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland wurde signalisiert, dass die gesellschaftliche Partizipation von Juden in der Vergangenheit auch die Situation für die Mehrheitsgesellschaft verbessert habe. Es wurde zudem zum Ausdruck gebracht, dies könne auch in der Gegenwart oder Zukunft in Deutschland gelingen. Dieses so ausgedrückte Verständnis von Zugehörigkeit zu Deutschland bezog das Verhältnis zwischen Insidern und Outsidern sowie zwischen Peripherie und Zentrum ausdrücklich mit ein.97 Genau in diesem Spannungsverhältnis entwickelten sich dann hybride

94 Dagegen gab es jedoch auch Vorbehalte, inwieweit jüdische Identitätsbildung tatsächlich adäquat durch den theoretischen Zugriff der Hybridität ausgedrückt werden könne. So forderte beispielsweise Moshe Rosman, bei den Konzepten von Hybridität in der jüdischen Geschichte deutlich zu machen, mit welchem Teil der nicht jüdischen Kultur sich die jüdische Kultur hybrid vermischt habe. (Moshe Rosman: How Jewish is Jewish History? Oxford: 2007. S. 104). 95 Homi K. Bhabha: Introduction to Locations of Culture. In: ders.: The location of culture. S. 1–18. Hier: S. 1. 96 Homi K. Bhabha: The location of culture, S. 4. 97 “The ‘locality’ of national culture is neither unified nor unitary in relation to itself, nor must it be seen simply as ‚other’ in relation to what is outside or beyond it. The boundary is Janusfaced and the problem of outside/inside must always itself be a process of hybridity, incorporating new ‘people’ in relation to the body politic, generating other sites of meaning and, inevitably, in the political process, producing unmanned sites of political antagonism and Die iberisch-sephardische Kultur

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Formen von Zugehörigkeit.98 Die am Emanzipationsdiskurs teilnehmenden integrierten Muster und Formen aus der nicht aschkenasischen jüdischen Kultur fügten diese in ihr Verständnis eines Kulturtransfers ein. Kulturtransfer99 stellt in diesem Zusammenhang keine schematische Gegenüberstellung unterschiedlicher Kulturen dar, sondern illustriert eine wechselseitige Anverwandlung.100 Diese Integration beschreibt einen sich am Objekt der Betrachtung ständig verändernden Wandel innerhalb der dieses kulturelle Phänomen rezipierenden Gruppe, aber auch hinsichtlich des kulturellen Gesamtgefüges: „Unter diesem Gesichtspunkt stellt Kultur ein dynamisches Feld dar, das einem stetigen Wandel unterworfen ist, nichts Abgeschlossenes enthält und auch keine essentialistischen Inhalte kennt.“101 Der Stellenwert einer europäischen Kulturtradition wird über das Bild sephardischer Juden als Kulturvermittler besonders eindringlich beschrieben. Hinsichtlich der Bedeutung und Verwendung von Topoi, die dieser Vermittlung nachgehen, lässt sich dies nachweisen.102 Das oben genannte Verständnis von Vermittlung beschränkte sich niemals auf eine nur schöngeistig manifestierte Denkfigur, sondern es spielt mit zahlreichen Begriffen und den damit einhergehenden politischen Implikationen wie Emanzipation, Assimilation und bürgerliche Gleichstellung gleichzeitig eine große Rolle für die Wissenschaftsgeschichte und die schöngeistige Literatur im Verlauf des 19. Jahrhunderts. „The advent of Western modernity, located as it generally is in the 18th 98

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unpredictable forces for political representation.” (Homi K. Bhabha: Introduction: narrating the nation. In: ders.: Nation and Narration. London 1990. S. 7. Hier: S. 4). “The social articulation of difference, from the minority perspective, is a complex, on-going negotiation that seeks to authorize cultural hybridities that emerge in moments of historical transformation“. (Bhabha: The location of culture, S. 2). Carola Hilfrich-Kunjappu (Hg.): Zwischen den Kulturen: Theorie und Praxis des interkulturellen Dialogs. Tübingen. 1997. Es „charakterisiert in besonderer Weise seine Eignung für eine analytische Europahistoriographie. Was sich dabei u. a. zeigt, ist der Anteil des Nichtnationalen am Nationalen, zugleich die Anverwandlung, also Veränderung durch Rezeption, des Fremden an das Eigene.“ (Wolfgang Schmale: Geschichte Europas. Wien 2001. S. 169). Klaus Hödl: „Jenseits des Nationalen“ – Ein Bekenntnis zur Interkulturation. Einleitung zum Themenheft. In: transversal. Zeitschrift für jüdische Studien 1/2004. S. 3–17. Hier: S. 7. Zum Begriff der „cultural units“ vgl. Federico Celestini: Um-Deutungen. Transfer als Kontextwechsel mehrfach kodierbarer kultureller Elemente. In: Federico Celestini, Helga Mitterbauer (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik des Kulturtransfers. Tübingen 2003. S. 44. Heinrich Simon: Die Juden als Mittler II: Arabisch, jüdische und europäische Wissenschaft. In: Helmut Birkhan (Hg.): Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Bern 1992. S. 97– 107. 42

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and 19th centuries, was the moment when certain master narratives of the state, the citizen, cultural value, art, science, the novel, when these major cultural discourses and identities came to define the ‘Enlightenment’ of Western society and the critical rationality of Western personhood.”103 Dieser Vorgang konnte sich nur über Übersetzungsleistungen vollziehen. „Die Uneindeutigkeit der Bedeutungen, Werte und Zeichen erfordert daher in jeder kulturellen Begegnung im weitesten Sinne eine Übersetzungsleistung aller Beteiligten.“104 Bhabha zufolge findet diese Übersetzung in einem Zwischenraum statt, den er als „Third Space“ bezeichnet – ein Raum, in dem die Authentizität einer Kultur nicht mehr rekonstruiert werden könne.105 Anlehnend an diese Überlegung ist es die zentrale These dieser Studie, dass die iberisch-sephardische Kultur als historisches Exempel bei der Ausbildung einer zeitgemäßen jüdischen Identität eine entscheidende Scharnierfunktion in der wissenschaftlichen, literarischen und publizistischen Diskussion einnahm und somit als Leitbild für die Entwicklung einer modernen jüdischen Identität eingesetzt und wahrgenommen wurde. Die Rezeption des iberisch-sephardischen Judentums unter deutschen Juden nahm darüber hinaus im Verlauf des 19. Jahrhunderts die entscheidende Position in der Debatte um eine zeitgemäße jüdische Existenz im Zeitalter der Emanzipation ein. In diesem grundsätzlichen Verständnis stellt die Studie eine Reflexion bestehender Leitbegriffe und Kategorien bei der Ausbildung einer modernen jüdischen Identität über die Funktion des sephardischen Juden in Aussicht. Besonders eindrücklich lässt sich dies am Theorem der „Vermittlung“ oder des „interkulturellen Dialogs“ aufzeigen,106 in welchem die als exemplarisch verstandene Orientierung an deutscher Sprache und Kultur als dem „Eigenen“ durch diese Zuschreibung eine Kontur und Erweiterung erfährt.107 Formen der Zugehörigkeit waren im Prozess der Säkularisierung ständigen Umwandlungen unterworfen. Daher erscheint eine eindeutige Definition der als authentisch verstandenen „jüdischen Erfahrung“ unmöglich, was ausdrücklich in der Ausbildung hybrider Formen von Zugehörigkeit 103 The Third Space. Interview with Homi Bhabha. In: Jonathan Rutherford (Ed.): Identity. Community, Culture, Difference. London 1990. S. 207–221. Hier: S. 218. 104 Werner Suppanz: Transfer, Zirkulation, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen. In: Federico Celestini; Helga Mitterbauer (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kulturellen Transfers. Tübingen 2003. S. 21–35. Hier: S. 26. 105 Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Übersetzt von Michael Schiffmann und Jürgen Freundl. Tübingen 2000. S. 151ff. (im englischen Original S. 217). 106 Hilfrich-Kunjappu (Hg.): Zwischen den Kulturen. 107 Stichwort Identität. In: Duden. Fremdwörterbuch. 5., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim 1990. S. 331. Die iberisch-sephardische Kultur

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in der Aneignung oder Abgrenzung von nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaften, insbesondere in Form der kulturellen Vermittlung, sichtbar wird. Identität stellt sich dementsprechend als Geschichte von Brüchen dar. Die Zuschreibung von Selbstund Fremdbild ermöglicht unter Einbeziehung der iberisch-sephardischen Kultur auch Aufschlüsse darüber, wie sich der Begriff einer modernen deutsch-jüdischen Identität aus diesem System speiste. Dabei besteht kein Zweifel an dem Umstand, dass sich eigenes aschkenasisches und fremdes sephardisches Judentum wechselseitig beeinflussten. Die Fremdheit des anderen war in dieser Hinsicht konstitutiv und „ein unverzichtbares Apriori der Gruppenkonstitution und der intersubjektiven Definition kollektiver Identität.“108 Diese Erweiterung des Zugriffs auf Identitätskonzepte jenseits von Assimilation und Akkulturation zeigt sich auch in den Diskussionen, die „Identität auf Differenz als Grundlegung“109 auffasst. So versteht Martina Steer unter Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte in erster Linie einen dynamischen Prozess: „Kulturtransfer ist als dynamischer Prozess zu betrachten, der drei Komponenten miteinander verbindet, und zwar 1. die Ausgangskultur, 2. die Vermittlungsinstanz, und 3. die Zielkultur.“110 Bezogen auf diese Untersuchung ist die Ausgangskultur das deutschsprachige Judentum im Verlauf des 19. Jahrhunderts, die Vermittlungsinstanz ist die iberisch-sephardische Kultur und die Zielkultur verweist auf das Ideal eines modernen Judentums in Deutschland in einer Synthese von deutscher und jüdischer Kultur. Dieser Zugriff stellt auch eine Alternative gegenüber einem essentialistischen Kulturbegriff dar.111 Insbesondere im Spannungsfeld von Theorien zur „bürgerlichen Verbesserung der Juden“, einem damit einhergehenden Druck nach Assimilation in die christliche Mehrheitsgesellschaft und einer besonders nach dem Wiener Kongress nicht nur latent vorhandenen Judenfeindschaft im Gefolge von romantischen Theorien zur Nation, erfolgte bereits eine Erweiterung des Identitätsbegriffs. Auf Grundlage des immanenten Spannungsverhältnisses erforderte es von den deutschen Juden eine erhöhte Bereitschaft zum Wandel und bedingte eine ständige „Verwandlung von Ju108 Thomas Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt/Main 1987. S. 287. 109 Bronfen; Marius: Hybride Kulturen, S. 1–29, hier: S. 8. 110 Zum Konzept des Kulturtransfers vgl. Wolfgang Schmale, Martina Steer (Hg.): Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Frankfurt/New York 2006. 111 „Indem es die Transfers, also die Bewegung von Menschen, materiellen und geistigen Gütern, zwischen relativ klar identifizierbaren und unterscheidbaren Kulturen und die Konsequenzen dieser Transfers analysiert, deckt das Kulturtransferkonzept auf, inwieweit hinter der homogenen und essentiellen Vorstellung von Kultur eine verborgene Heterogenität steckt.“ (Martina Steer: Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer. In: Steer (Hg.): Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. S. 13). 44

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dentum in Judentum“. In diesem Prozess waren vergangene, vermeintlich Goldene Zeitalter jüdischer Geschichte geradezu idealtypische Vorbilder, an denen – und prototypisch an der iberisch-sephardischen Kultur – diese Art von Anverwandlung erprobt werden konnte. Die Bedeutsamkeit dieser unterschiedlichen Orte zeigt sich in der Mittlerfunktion der sephardischen Lebenswelten zwischen moslemischen und christlichen Mehrheitsgesellschaften. Zentral ist dabei für die Rezeption nicht die Wahrnehmung eines Vorgangs der Assimilation, sondern ein Prozess der Säkularisierung jüdischer Lebenswelten in einer moslemischen oder christlichen Mehrheitsgesellschaft. Die Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur versetzte die deutschen Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Lage, nicht von einem Prozess der Assimilation zu sprechen, sondern den Aspekt der Vermittlung eines jüdischen Anteils in die allgemeine Kultur hervorzuheben. Dadurch wurde es ihnen ermöglicht, die Emanzipation als Prozess mit einem innewohnenden ambivalenten und säkularen Potenzial zu begreifen. Dieser Vorgang basierte nicht ausschließlich auf dem Verständnis einer sich durchsetzenden Erkenntnis, dass die bürgerliche Gleichstellung ihnen versagt blieb. Vielmehr ermöglichte die Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur den deutschen Juden, Formen gesellschaftlicher Zugehörigkeit in der gegenwärtigen Zeit Ausdruck zu verleihen. Der Glanz der Vergangenheit konnte somit bis in die Gegenwart von Córdoba bis nach Berlin leuchten. Eine so aufgefasste Histoire Croisée überschreitet eine enge nationalstaatlich ausgerichtete Perspektive. Diese transnationale Aussicht der iberisch-sephardischen Geschichte ist im hohen Maße relevant für ein Konzept von Erinnerungskultur, wie sich insbesondere im Topos der Vermittlung zeigen lässt. Im Abschnitt B nimmt eine Anlayse die Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah über die Vorbildfunktion einzelner sephardischer Autoritäten vor. Diese Funktion zeigte sich in der Verbindung von jüdischer Tradition und allgemeiner Kultur und wurde von den Rezipienten als Beweis verstanden, dass es möglich sei, sich als Jude in eine nicht jüdische Gesellschaft zu integrieren und von dieser akzeptiert zu werden. Die jüdischen Aufklärer, die sich auf Hebräisch Maskilim nannten, stellten in ihrer Deutung besonders die Geschicke der sephardischen Juden in den protestantischen Niederlanden heraus. Beiträge in den Zeitschriften „Ha-Me’assef “ und „Sulamith“ orientierten sich bei ihrer Beschreibung und Deutung der iberisch-sephardischen Kultur vornehmlich an Marranen, die sich in den Niederlanden besonders als intellektuelle Vermittler integriert hatten, ohne zum Christentum überzutreten.112 Dabei war für die Maskilim von besonderer Bedeu112 Heinrich Simon: Die Juden als Mittler II: Arabisch, jüdische und europäische Wissenschaft. In: Helmut Birkhan (Hg.): Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Bern 1992. S. 97–107. Die iberisch-sephardische Kultur

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tung, wie es Jakob Katz formulierte, dass „die Sephardim sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Bildung und Wissen der verschiedenen Länder in denen sie lebten aneigneten.“ Durch diese Form der Einverleibung bestimmter Aspekte der Mehrheitskultur „trugen sie maßgeblich zur Kultur ihres Landes bei.“113 Besonders die von Jakob Katz so bezeichneten Secondary Agents unter den Maskilim verbreiteten ein modernes Verständnis von jüdischer Geschichte. Sie selbst gelten als bedeutende Vermittler von Konzepten zur Aufklärung und modernen Erziehung in der jüdischen Gemeinschaft. Die Maskilim unterschieden sich dadurch deutlich vom konservativen rabbinischen Establishment. Das von ihnen propagierte Erziehungsprogramm trug ein „Zukunftsprogramm in sich, nämlich das „eines umgewandelten jüdischen Typus und eines rehabilitierten jüdischen Charakters“,114 auf dessen Grundlage „die Umgestaltung jüdischer Anschauungen und Mentalität ins Auge“115 gefasst werden konnte. Das geistesgeschichtliche Ereignis der Haskalah war von entscheidender Bedeutung für die innerjüdische Diskussion. Die Französische Revolution und damit einhergehend die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte wurden als Aspekte einer politischen Geschichte zunehmend auch für jüdische Autoren relevant. Diese Deutung der Maskilim beeinflusste auch eine Generation später das von Leopold Zunz, Isaak Markus Jost, Heinrich Graetz und weiteren Vertretern der „Wissenschaft des Judentums“ ausgestaltete, neue jüdische Geschichtsverständnis. Der Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur kam hier eine Schlüsselfunktion zu, der im Abschnitt C nachgegangen wird. Sie blieb nicht auf die historischen Wissenschaften beschränkt, sondern wurde in ein zentrales Koordinatensystem aufgenommen und beeinflusste auch die deutsch-jüdische Publizistik und Belletristik im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, die im Abschnitt D noch zur Sprache kommt. Die Verbreitung dieses Diskurses in der Schnittmenge zwischen Wissenschaftsgeschichte und Literatur enthielt einen Appellcharakter, der aus einem fast ausschließlich innerjüdischen Diskurs hervorgehend den Versuch unternahm, mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft in einen – oft einseitig von jüdischer Seite geführten – Dialog zu treten. Die Wahrnehmung einer jüdischen Geschichte auf der Iberischen Halbinsel war im Verlauf des 19. Jahrhunderts gerade deshalb so einflussreich und vielfältig und ist für uns heute so aufschlussreich, weil ein modernes Verständnis von Geschichte von einer verhältnismäßig großen Gruppe im deutschen Judentum mitgetragen wurde, 113 Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770– 1870. Frankfurt/Main 1988. S. 45. 114 Katz: Ghetto, S. 82. 115 Katz: Ghetto, S. 141. 46

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die sich aus ganz unterschiedlichen Milieus zusammensetzte. Insbesondere Auseinandersetzungen zum Goldenen Zeitalter der Juden in Spanien nahmen bei Vertretern der Wissenschaft des Judentums breiten Raum ein und stellten einen gewichtigen Kommentar zur Emanzipation im 19. Jahrhundert dar. Die Rekonstruktion der Funktion von iberisch-sephardischen Juden als „Kulturträger für Europa“116 konnte dadurch der Dominanz des Christentums mit dem einhergehenden Forderungskatalog nach Konversion zum Christentum oder Akzeptanz von dessen moralischer und geistiger Höherwertigkeit ein eigenständiges Potenzial entgegenstellen. Bedeutsam für die Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur war die Etablierung eines Topos vom Goldenen Zeitalter in al-Andalus, der als Abgrenzung von einem als rückständig aufgefassten christlichen Mittelalter formuliert wurde und somit an der Schnittstelle von Wissenschaftsgeschichte und Belletristik die iberisch-sephardische Kultur als historische Quelle für die Gegenwart zu integrieren verstand. Die Geschichte der Juden im christlichen Mittelalter wurde im Wesentlichen als eine Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung und nicht der Teilhabe aufgefasst. Zudem war in den Augen seiner Betrachter der Einfluss des zeitgenössischen Christentums ein wesentlicher Hinderungsgrund dafür, dass die Juden nicht emanzipiert wurden und das alte Vorurteil ihnen gegenüber weiterhin Bestand hatte. Mit der Gründung des „Vereins für die Cultur und Wissenschaft der Juden“ im Jahre 1819 nahm die Ausrichtung auf einzelne Vorbilder im Judentum ein Ende. Es ging nun nicht mehr um den Beweis, dass einzelne Juden auch in einer nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft an der jeweiligen Kultur teilhaben konnten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und nach der Niederlage Napoleons ging es vielmehr um mögliche Wege zu einer nationalen Orientierung, an der auch die Juden teilnehmen konnten. Es war jedoch auch schnell klar geworden, dass einer Integration in die deutsche Gesellschaft den Juden gegenüber neue Hürden auferlegt worden waren. In diesem Verständnis waren Entgegnungen von Juden auf das erwachende Nationalgefühl in Deutschland von dem Umstand geprägt, der dort besonders gegenüber Juden artikulierten monolithischen Ausschließlichkeit ein Gewicht entgegenzusetzen. Anstelle einer deutschen Hegemonie von Kultur und Politik in Europa wurde hier eher eine Vorstellung von Vermittlung repräsentiert.

116 Margarete Schlüter: Heinrich Graetzens „Konstruktion der jüdischen Geschichte“ – Ein Gegenentwurf zum Begriff einer „Wissenschaft des Judentums“. In: Frankfurter Judaistische Beiträge. (24) 1997. S. 107–127. Die iberisch-sephardische Kultur

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Diese Auffassung von Vermittlung floss in das von Leopold Zunz, Isaak Markus Jost, Heinrich Graetz117 und besonders auch von den Secondary Agents ausgestaltete neue Geschichtsverständnis mit ein, in welchem die iberisch-sephardische Kultur als ein zentrales Koordinatensystem wahrgenommen wurde, in dem sich jüdische Geschichte im Zentrum europäischer Geschichte – räumlich und ideengeschichtlich – abgespielt hatte. Diese Funktion der Vermittlung blieb niemals eine nur schöngeistig manifestierte Denkfigur. Sie war mit zahlreichen politischen Implikationen der Jetztzeit der Rezipienten aufgeladen, z. B. bürgerliche Verbesserung und bürgerliche Gleichstellung, Assimilation und Antisemitismus. Außerdem blieb dieses Geschichtsverständnis nicht auf die historischen Wissenschaften beschränkt, sondern beeinflusste besonders die Literaturgeschichtsschreibung und die gesamte jüdisch-deutschsprachige Publizistik des 19. Jahrhunderts gleichermaßen, indem es Tendenzen, Konzepte und Deutungsmuster aus der nicht jüdischen Kultur aufnahm und weiterentwickelte. Eine Abgrenzung von der iberisch-sephardischen Form nahm hier besonders eindringlich Abraham Geiger vor, wenn er Tendenzen zur Assimilation der iberischen Juden kritisierte, die um den Preis der Macht und des Reichtums ihr Judentum am Ende aufgaben und zum Christentum übertraten. Bezogen auf die sephardischen Juden in Amsterdam beanstandete er deren nur auf die Vergangenheit bezogene Existenz, ohne aktiv am gesellschaftlichen Leben in den Niederlanden teilzunehmen. Abschnitt C geht auf die umfangreiche Rezeption bei Vertretern unterschiedlicher ideologischer Ausrichtungen, z. B. der Reform und der Neoorthodoxie ein. In diesem Kapitel wird auch der sich im 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitetenden Nationalliteratur und deren Bedeutung im nationalen Diskurs Gegenstand der Untersuchung. Fragestellungen zu eigenen und fremden Anteilen an dieser Literatur wurden von den jüdischen Literaturhistorikern intensiv diskutiert, wobei auch sie sephardische Juden als interkulturelle Vermittler verstanden und deren Bedeutung für die allgemeine Kultur und Literatur ausdrücklich hervorhoben. Der Säkularisierung jüdischer Lebenswelten kam im deutschen Judentum im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Funktion zu, sie ließ jedoch noch genug Spielraum für neoorthodoxe Entwicklungen. In diesem Verständnis nahm die Dar117 Vgl. Isaak Markus Jost: Geschichte der Israeliten. 9 Bde. Berlin 1820–1828. Hier: Bd.  8. Heinrich Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1853ff. Hier besonders Bd. 8: Geschichte der Juden von Maimunis Tod (1205) bis zur Verbannung der Juden aus Spanien und Portugal. Und Bd. 9: Geschichte der Juden von der Verbannung der Juden aus Spanien und Portugal (1494) bis zur dauernden Ansiedlung der Marranen in Holland (1618). Bd. 10: Geschichte der Juden von der dauernden Ansiedlung der Marranen in Holland (1618) bis zum Beginne der Mendelssohnschen Zeit (1770). 48

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stellung von Marranen zwar besonders innerhalb der unterschiedlichen literarischen Genres von Roman, Novelle und dramatischem Gedicht, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auszuprägen begannen, eine wichtige Stellung ein, sie ist jedoch nicht darauf zu reduzieren.118 Außerdem bestand eine wechselseitige Rezeption zwischen deutsch-jüdischen und spanischen Historikern und Publizisten, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.119 Dies zeigte sich insbesondere am Beispiel der Petition Ludwig Philippson an die spanische Regierung auf Wiederzulassung der Juden in Spanien, die gleichzeitig Ausdruck über das große Selbstbewusstseins eines der maßgeblichen Repräsentanten des reformorientierten Judentums gab. Eine durchgängig positiv geführte Debatte über die Errungenschaften der iberisch-sephardischen Kultur auf der einen und die reale Integration der Juden in die Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite blieb jedoch nicht unwidersprochen. Besonders vor dem Hintergrund einer stockenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Juden seitens der Mehrheitsgesellschaft erschien die vollständige Assimilation der iberischen Juden keine zeitgemäße Empfehlung mehr zu sein. Infolgedessen trat auch die Idealisierung dieser Kultur, wie sie besonders von der Wissenschaft des Judentums betrieben wurde, zurück. Der erste Autor, der eine radikale Kritik der zeitgenössischen iberisch-sephardischen Kultur formulierte, war Abraham Geiger. Er kritisierte vor allem die Lethargie der zeitgenössischen sephardischen Juden, die sich nicht in die Mehrheitsgesellschaft einfügten und deren sephardische Herkunft sie hochmütig und intellektuell nicht auf der Höhe erscheinen ließ. Die Kritik des Kulturzionisten an den sephardischen Juden richtete sich geradezu gegen deren vollständige Assimilation in die christliche spanische Gesellschaft. Es sei deren Unkenntnis ihrer jüdischen Identität, die sie, so Nordau, blind gemacht habe für die bevorstehende Vertreibung. Ihm und den nachfolgenden zionistischen Interpreten war gemein, dass sie das Konzept einer Teilhabe der iberischen Juden an der allgemeinen Kultur und der Rolle als kulturelle Vermittler auf der Iberischen Halbinsel nicht mehr akzeptierten. Für sie waren die sephardischen Juden in einer Weise an die Mehrheitsgesellschaft assimiliert, die es ihnen unmöglich machte, zu erkennen, 118 Florian Krobb: Kollektivautobiographien Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002. Ders.: ‚Mach die Augen zu, schöne Sara.‘ In: German Life and Letters. Vol. 72, Nr. 2. Oxford April 1994. S. 167–181. 119 Norbert Rehrmann: Das schwierige Erbe von Sefarad. Joshua Goode: Corrupting a Good Mix: Race and Crime In: Late Nineteenth- and Early Twentieth-century Spain. In: European History Quaterly 35, issue 2 (April 2005), pp. 241–265. Carlyn P. Boyd: The Second Battle of Covadonga. The Politics of Commemoration in Modern Spain. In: History and Memory. Edited by Raanan Rein. Vol. 14, Nr. 1–2, Fall 2002. S. 37–64. [Special Issue: Spanish Memories: Images of a Contested Past] Ebd.: José Àlvarez Junco: The Formation of Spanish Identity and Its Adaption to the Age of Nations. S. 13–36. Die iberisch-sephardische Kultur

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dass sie nicht in diese integriert und geschützt waren, sondern – ganz im Gegenteil –, dass ihr eigenes Leben massiv bedroht war. Die im zionistischen Diskurs entstehenden Identitätsentwürfe ließen Vorstellungen einer hybriden jüdischen Identität hinter sich. Dies wurde insbesondere bei der Diskussion um die Rolle der jüdischen Oberschicht deutlich, deren Geschichte als ein negatives Exempel für diese Art von Assimilation verstanden wurde. An deren Stelle traten Konzepte eines zionistisch gedachten „Urjuden“, der sich der Assimilation widersetzte und als Vertreter eines „gesunden“, authentischen Judentums agierte. Konsequenterweise wandten sich die zionistischen Autoren auch wieder der biblischen Geschichte zu, die in diesem Sinne keine Assimilation kannte.

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B  Bedeutung der  iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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er Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung machte es für aufgeklärte Juden während der Haskalah notwendig, sich an Orte in der jüdischen Geschichte zu erinnern, die nicht ausschließlich die Assimilation und eine damit einhergehende Verschmelzung alles Jüdischen mit der Mehrheitskultur verkörperten. Einer dieser Orte befand sich auf der Iberischen Halbinsel. Bereits in der deutsch-jüdischen Presse, beginnend im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zur Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ im Jahre 1819, wurde die Geschichte der Juden in Spanien diskutiert, reflektiert und verbreitet. Dieser Diskurs sollte die Bildung einer zeitgenössischen jüdischen Identität im Zeitalter der Emanzipation ganz entscheidend prägen. Die Measfim orientierten sich an einzelnen sephardischen Figuren des Goldenen Zeitalters, z. B. an Moses Maimonides in einer idealtypischen Vermischung von dessen gelebter jüdischer Tradition und seiner Verbundenheit mit der allgemeinen arabischen Kultur und Wissenschaftstradition. Dabei wurden historische Figuren wie Maimonides jedoch nicht ausschließlich als Vorbilder aufgefasst. Formen von Anlehnung an die iberisch-sephardische Kultur oder Beschreibungen von deren Abgrenzung fanden vielmehr stets unter Berücksichtigung eines Ansatzes statt, der sich in der Vermittlung eines jüdischen Anteils in die allgemeine Kultur ausdrückte, die sowohl arabisch als auch christlich geprägt war. Auf Grundlage dieser Hypothese konnte sich ein Begriff von jüdischer Geschichte ausbilden, der sich ausdrücklich als Bestandteil der allgemeinen jüdischen und der europäischen Geschichte verstand. Insbesondere die Geschichte und Kultur der Juden auf der Iberischen Halbinsel wurde als zentraler „Beweis“ einer gemeinsamen, von Juden und Nichtjuden getragenen Geschichte und Kultur herangezogen. Diese Geschichte ereignete sich nicht an der Peripherie Europas, sondern sie spielte sich unter römischer, westgotischer, arabischer und schließlich christlicher Herrschaft im Zentrum Europas ab. Von zentraler Bedeutung war dabei nicht die Wahrnehmung eines Vorgangs der Assimilation, sondern das Verständnis eines Prozesses der Säkularisierung jüdischer Lebenswelten in einer moslemischen oder christlichen Mehrheitsgesellschaft, die sich innerhalb dieser im stetigen Austausch befanden. Die in den Zeitschriften der Haskalah diskutierten sephardischen Autoritäten wurden als Modellcharakter häufig in einer idealisierten Verbindung von gelebter jüdischer Tradition und der Teilhabe an der allgemeinen nicht jüdischen Kultur Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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wahrgenommen. Dabei blieb dieser Diskurs nicht auf Spanien als geografischen Raum beschränkt, sondern schloss besonders das Exil in den Niederlanden als Beweis mit ein. Dort war es möglich, sich als Jude in eine nicht jüdische Gesellschaft zu integrieren und von dieser akzeptiert zu werden.1 So ist es nicht verwunderlich, dass sich Beiträge in den Zeitschriften „Ha-Me’assef “ und „Sulamith“ bei ihrer Beschreibung und Deutung der iberisch-sephardischen Kultur vornehmlich an Marranen orientierten, die sich in eine christliche Mehrheitsgesellschaft als intellektuelle Vermittler integriert hatten, ohne zum Christentum übergetreten zu sein. Überlegungen zur Rolle der Juden als Vermittler waren hierbei von besonderem Interesse. 1 Dies hat Thomas Kollatz für das 19. Jahrhundert anschaulich untersucht. Seine Beweisführung wird auch für das Kapitel zur deutsch-jüdischen Publizistik in diesem Buch von Bedeutung sein. „The German-Jewish press created an unreservedly positive image of Dutch equality, emancipation, tolerance and civic rights. In fact there seems in this period to have been no reports identifying problems in the behavior of the Dutch authorities and the general population towards the Jews.” (Vgl. Thomas Kollatz: Fascination and Discomfort: The Ambivalent Image of the Netherlands in the Jewish-German Press in the 1830s and 1840s. In: Studia Rosenthaliana. XXXII, issue 1 (1998), S. 43–66. Hier: S. 55. Über das Niederländische in den Predigten, vgl. S. 56. Die Juden in den Niederlanden wurden von deutsch-jüdischer Seite als generell orthodoxer eingeschätzt. (Ebd. S. 59) Juden wurden hier als rückständiger als die deutschen Juden verstanden: „Der intellektuelle und moralische Zustand der Juden Niederlands lässt noch manches zu wünschen übrig, doch ist ein Fortschritt unter ihnen nicht zu verkennen. Man bemerkt bald, dass die Wissbegierde und der Durst nach geistiger Bildung, den deutschen Juden […] so eigen, die hiesigen Israeliten noch nicht durchdrungen hat.” (Die Reform des Judentums. Ein Organ der Rabbiner-Versammlung Deutschlands. Hg. Von A. Adler. Mannheim 1846. Hier: Nr. 7 (1846), S. 55.) Kollatz folgert daraus, eine Ambivalenz habe sich dem Betrachter aus Deutschland hinsichtlich der Situation der Juden in den Niederlanden eingestellt. „The image of the Netherlands in the Jewish-German press was ambivalent, nourished by fascination on the one hand and discomfort on the other. While the political situation in the Netherlands seemed to be almost ideal to German observers, they were forced to admit that these extremely favorable social conditions had not significantly changed either the cultural or the religious life of their co-religionists to any great extent.” (Kollatz: Fascination and Discomfort, S. 63). Es sei jedoch den deutsch-jüdischen Publizisten in erster Linie darum gegangen, nicht etwa ein objektives Bild der Situation in den Niederlanden zu zeichnen, sondern die herausragende Rolle der deutschen Juden hinsichtlich ihres Grades an Akkulturaltion hervorzuheben. “The journalistic perception of the Netherlands or of Dutch Jewry was determined by the apologetic interests of German Jews. For them the example of the Netherlands proved that a country could emancipate ‘its’ Jews without having to expect negative consequences for society at large. The stories reported here show that in addition to the ‘impact of German-Jewish Modernization on Dutch Jewry’ ( Jospeh Michman) the emancipation of the Dutch Jews had its own ‘impact’ on German Jewry.” (Kollatz: Fascination and Discomfort, S. 64.) 52

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Vertreter der sich aus den universalen Idealen der Aufklärung speisenden Haskalah konnten die Sephardim in Amsterdam als universal gebildete Figuren auffassen, deren zentrale Aufgabe in der Vermittlung zwischen jüdischer und nicht jüdischer Sphäre lag, und sie darüber hinaus für ihre eigenen Zwecke einer aufgeklärten jüdischen Gesellschaft in Deutschland instrumentalisieren. Die Entstehung der Haskalah war zumindest in Teilen auch eine Entgegnung auf die Theorien zur so genannten bürgerlichen Verbesserung der Juden und einem damit einhergehenden Druck nach Assimilation vonseiten der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Zusätzliche Brisanz gewannen diese Überlegungen durch das entscheidende politische Ereignis Ende des 18. Jahrhunderts: die Französische Revolution. Infolgedessen wurden – bedingt durch die Ablösung der alten durch eine neue Ordnung – auch Elemente der christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte(n) als Teil einer politischen Geschichte verstanden, die sich unmittelbar auf die Rezeption zur iberisch-sephardischen Kultur auswirken sollte. Ein wesentlicher Wandel von der alten zur neuen Gesellschaftsordnung vollzog sich durch die Gewährung von Staatsbürgerrechten für die Juden in Frankreich im Jahre 1790 bzw. 1791. Die Orientierung am sephardischen Vorbild eröffnete den Maskilim im besonderen Maße die Möglichkeit, bestimmte Elemente dieses sozialen Drucks umzusetzen und gleichzeitig dem verbreiteten Bedürfnis nach Bewahrung einer jüdischen Eigenständigkeit Ausdruck zu verleihen. Dies geschah, indem die Fähigkeit zur Vermittlung eines „jüdischen“ Beitrags in die „allgemeine“ Kultur als spezifisches Charakteristikum der iberisch-sephardischen Kultur in Wechselwirkung mit ihren nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaften aufgefasst wurde. Die Haskalah als Epoche des Umbruchs Die hebräische Bezeichnung Haskalah enthält die hebräische Wortwurzel für Verstand und wird mit Bildung und Aufklärung gleichgesetzt. Die Haskalah ereignete sich in enger Anlehnung an die europäische Aufklärung und nahm ihren Ausgang im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.2 Sie konnte sich allerdings nicht langsam den Überlegungen und Vorstellungen der Aufklärung anpassen, sondern war auf2 Zur jüdischen Aufklärung vgl. Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002. Außerdem: Shmuel Feiner: Haskalah and History. The Emergence of a Modern Jewish Historical Consciousness. Oxford 2002. Shmuel Feiner: The Jewish Enlightenment. Philadelphia 2002. Shmuel Feiner: Die Haltung der Haskala zur Geschichte [hebr.]. Diss. Phil. Hebräische Universität Jerusalem 1990. Ders.: ‘Geschichte’ und ‘geschichtliche Vorstellungen’ in der Haskala (1782–1820) [hebr.]. MA Thesis Hebräische Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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gefordert, den Vorsprung der Aufklärung aufzuholen und damit einhergehend einem nicht unerheblichen sozialen und zeitlichen Druck standzuhalten. Diesem Verständnis folgend muss die Haskalah als „eine beschleunigte, kurze und darum radikale Aufklärung“3 aufgefasst werden. Zu dieser Zeit waren die Juden in Preußen auf Grundlage des unter der Herrschaft Friedrich II. von Preußen verabschiedeten „Generalprivilegiums” von 1750 in sechs Gruppen eingeteilt. Die Einteilung war abhängig vom Einkommen, auf dessen Grundlage wurde vom preußischen Staat ein in der Regel befristetes Aufenthaltsrecht bewilligt. Das Generalprivilegium legte zudem fest, in welcher Höhe Juden Schutzgelder entrichten mussten. Außerdem griff der preußische Staat zentral in die jüdische Selbstverwaltung ein.4 Diese auf Prinzipien der Nützlichkeit und restriktiven Einwanderungspolitik aufbauende Ordnung bestand aus einer Kombination von mittelalterlichen und früh-modernen Bestimmungen. Insgesamt betrachtet waren die Jahre von 1750 bis 1812 entscheidend für die Ausbildung einer neuen Sozialstruktur innerhalb der jüdischen Bevölkerung.5 Diese Art der Judenpolitik ging in Preußen erst mit dem Emanzipationsedikt von 1812 zu Ende. Innerjüdisch versuchten die Maskilim, das Judentum mit den Prinzipien der Aufklärung in Einklang zu bringen. In einer relativ kurzen Zeit erwuchs aus der Aufgeklärtheit dieser einzelnen Juden eine Aufklärungsbewegung, die vornehmlich in den städtischen Zentren Berlin, Königsberg, Breslau, Prag und Wien stattfand. Deren Vorstellungen und Konzepte vermittelten sich in einer eigenen, wenn auch sehr ambivalenten Ideologie mit Aufklärungsgesellschaften und Schulgründungen6 vor den Augen einer aktiven jüdischen Öffentlichkeit mit dem Slogan „Emanzipa-

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Universität Jerusalem 1984. Zur Debatte um den Beginn der jüdischen Aufklärung vgl. Asriel Schochat: Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland. Frankfurt/Main 2000. Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002. S. 19. Selma Stern: Der preußische Staat und die Juden, 4 Bde., hier: Bd. 3. Die Zeit Friedrich des Großen, Tübingen 1971. Zur Bedeutung des Generalreglements für das Emanzipationsgesetz von 1812 vgl. Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen, unter besonderer Berücksichtigung des Gesetzes vom 11. März 1812. 2 Bde. Berlin 1912. „Seit etwa 1800 bildete sich der Sozialtypus des deutschen Juden heraus, der trotz bleibender Diskriminierung und Judenfeindschaft sich selbst als Deutscher identifiziert, nur noch Deutsch spricht und schreibt, dem eine Vielzahl von Bildungswegen und Berufen offen stehen, für den Religion konfessionalisiert und Privatsache ist und der in Salons, Universitäten, Büchern, Zeitschriften und den schönen Künsten Deutschlands Stimme und Gehör findet.“ (Schulte: jüdische Aufklärung, S. 44). Dem Ort der Schule kommt eine wichtige Funktion innerhalb der Distribution von Wissen zu. So hatte bereits David Friedländer Judentum als universalistische Religion interpretiert. 54

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tion durch Bildung“7. Der Begriff Emanzipation selbst wurde erst ab den 1820erJahren auch auf die Juden bezogen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde unter dieser Bezeichnung der Widerstand „gegen jede Form von Fremdbestimmung oder deren Aufhebung im Interesse anderer verstanden.“8 „Emanzipation erscheint insofern“, so Simon Lässig, „vor allem in der frühen Phase, (noch) nicht als ein nationales Projekt, sondern als ein überwiegend sozial und kulturell definiertes Phänomen.“9 Demzufolge wurde Emanzipation nicht vordergründig als politische Aufgabe, sondern als „kulturelle Herausforderung“10 verstanden. Dieses Verständnis formulierte auch die prinzipielle Möglichkeit jeder gesellschaftlichen Gruppe nach Veränderung durch die Fähigkeit zur Bildung und einer damit einhergehenden Erziehung des Menschen. „Bildung war schlichtweg das verbindende Element zwischen ihren Trägern. Dies galt wohl nirgends so vorbehaltlos wie in Deutschland. Wer sich hier als aufgeklärter Regent oder Staatsdiener definierte, musste sich an der Umsetzung gerade dieses Ideals besonders kritisch messen lassen.”11 Das Konzept einer bürgerlichen Verbesserung der Juden wurde insbesondere von der aufgeklärten Beamtenschaft in ganz unterschiedlichen Regionen des deutschsprachigen Kulturraumes getragen. Diesen Entscheidungsträgern ging es jedoch nicht darum, die politische Umsetzung der Emanzipation sicherzustellen, sondern darum, den Beweis zu erbringen, dass allgemeine Menschenbildung auch bezogen auf die Juden möglich sei. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung stellten die Maskilim in den größeren Städten eine Minderheit dar und galten zugleich häufig aufgrund ihrer privilegierten sozialen Herkunft als Elite. In der Minderheit waren sie, weil die Mehrzahl der Juden ihr Dasein auf Grundlage des General-Privilegiums in ärmsten Lebensumständen fristete. Die Maskilim waren jedoch auch elitär in ihrem Willen nach Wandel des traditionellen Judentums. Von dieser kleinen Gruppe sollte eine große Wirkung auf die gesamte jüdische Bevölkerung ausgehen. So wirkte beispielsweise Daniel Itzig (1723–1799) als Hofbankier und Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Berlin.12 Zusammen mit seinem Sohn Isaak Daniel (1750–1806) und David Friedländer (1750–1834) gründete er 1778 die „Jüdische Freischule“ in Berlin als 7 8 9 10 11 12

Schulte: jüdische Aufklärung, S. 27–28. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 69. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 75. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 74. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 71. Vgl. hierzu das tendenziöse Werk von Heinrich Schnee, in dem er die Rolle der Hofjuden untersuchte und mit der nationalsozialistischen Ideologie in Verbindung brachte. Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. 6 Bände o. Ort 1953. Hier besonders Band I. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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eine zentrale Institution jüdischen Reformwillens,13 der eine zentrale Rolle innerhalb der Artikulation einer Reform des jüdischen Gottesdienstes und des jüdischen Erziehungs- und Schulwesens zukam. Die Orientierung am sephardischen Vorbild wurde von Vertretern dieser jüdischen Elite in vielseitiger Form betrieben. In ihrer Funktion als Hauslehrer und Redakteure standen sie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an zentraler Stelle der Vermittlung von Wissen. Die Annahme, dass Juden und Christen miteinander über dasselbe – die Emanzipation der Juden – gesprochen hätten, steht hier einer Realität gegenüber, die dies nicht bestätigte.14 So fasste Jakob Katz die Umstände hinsichtlich der Orientierung der Maskilim an die deutsche „semi-neutrale“ Gesellschaft als Projekt für die Zukunft des Judentums auf.15 Diese Zukunft wurde intensiv mittels der „Literatur aus den Quellen des spanischen Judentums“16 diskutiert und spielte insbesondere bei den Diskussionen um die Reform des Judentums eine entscheidende Rolle. Die relativ überschaubare Gruppe jüdischer Intellektueller war bedeutend für die Entwicklung der jüdischen Gesellschaft in Deutschland. Die doppelseitige Ausrichtung der Haskalah erfolgte in einem jüdischen Binnendiskurs und einem nicht jüdischen Außendiskurs; beide existierten niemals vollständig losgelöst voneinander, unterschieden sich jedoch stark voneinander durch die Verwendung der hebräischen und deutschen Sprache. Besonders hinsichtlich der Fragen der Emanzipation und bürgerlichen Gleichstellung trat aufgrund der unterschiedlichen Sprache ein gewichtiger Unterschied in Erscheinung, den Christoph Schulte wie folgt charakterisiert: „Während in den deutschen Texten die Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden und die Abwehr judenfeindlicher Attacken und Vorurteile 13 Chevrat Chinuch Nearim: Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kulturreform. Herausgegeben von Ingrid Lohmann (= Schriftenreihe Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, Band 1.1 und 1.2). Münster, New York 1999/2000. 14 Hess: Germans, Jews, and the Claims of Modernity, S. 10–11. 15 ”Most important of all, the maskilim pictured the future of Jewish society in accordance with the model and the values of the neutral society. In their aspiration to shape the future of the society, they assumed the right to serve as mentors to the entire community. If die-hart traditionalists regarded the maskilim as heretics and deviationists, in their own eyes the latter were pioneers and heralds of the future. From the 1780s onward, the maskilim emerged as a group with clear-cut social-ideological character, which laid claim, much like any other social elite, to the leadership of society as a whole. The rise of this new elite alongside the traditional society constituted the decisive event in the Jewish social history of this period.” ( Jacob Katz: Tradition and Crisis. Jewish Society at the end of the middle ages. New York 1993. S. 225.) 16 Michael Graetz: Jüdische Aufklärung. In: Michael A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hier: Bd. I, Tradition und Aufklärung 1600 – 1780, S. 254. 56

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dominierten, waren diese Themen in der innerjüdischen hebräischen Diskussion fast bedeutungslos, weil eigentlich unumstritten.“17 Der deutschen Sprache kam innerhalb der Haskalah eine dominierende Funktion zu, an der sich die Maskilim und in deren Nachfolge alle Juden in Deutschland, Österreich und Osteuropa orientieren sollten.18 Das sicherlich signifikanteste Beispiel dafür, die deutschen Juden an die deutsche Sprache heranzuführen, war die Bibelübersetzung Moses Mendelssohns, die im Jahre 1783 mit der Übersetzung des Pentateuchs abgeschlossen vorlag. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Mendelssohns nicht jüdische Zeitgenossen ihn insbesondere als einen Autoren verstanden, der auf Deutsch schrieb und der sich in ihren Augen dem Christentum annäherte, ohne explizit Stellung für das Judentum zu beziehen. Die wenigsten christlichen Zeitgenossen waren sich darüber im Klaren, dass Mendelssohn auch ein bedeutender Autor in der hebräischen Sprache war und bedeutende philosophische und religiöse Traktate verfasste, die seine enge Verbindung zum Judentum verdeutlichten. Allerdings unterstreicht dieser Umstand nur die Tatsache, dass Mendelssohn weitgehend machtlos in den politischen und theologischen Diskursen mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft seiner Zeit bleiben sollte.19 Der Ablehnung des Jiddischen als Kultursprache kam auch im Übersetzungsprojekt der hebräischen Bibel bei Mendelssohn eine bedeutende Funktion zu. Diese Einstellung wurde von den Maskilim geteilt.20 Die Orientierung an den beiden Kultursprachen Deutsch und Hebräisch sollte sicherstellen, dass sich Juden an den Konzepten zur bürgerlichen Verbesserung beteiligten. Als Kaiser Joseph II. 1782 den Juden Niederösterreichs die rechtliche Gleichstellung garantierte, wurde der Gebrauch des Jiddischen für die Zukunft untersagt und als unerwünschte Sprache charakterisiert. Besonders für das 19. Jahrhundert entwickelte sich die Emanzipation der deutschsprachigen Juden in so unterschiedlichen Ländern wie Preußen, Österreich oder Böhmen aus einer im weiteren Sinne bildungsbürgerlichen Aufklärungsbewegung, in der jedoch auch der Staat massiven Einfluss auf die jüdischen Gemeindestrukturen ausübte und die jüdische Autonomie, den Kahal, einschränkte. Im Resultat bedingte die Verbürgerlichung der Juden auch eine Tendenz zur Kon17 Schulte, jüdische Aufklärung, S. 31. Zum Konzept der Verbesserung vgl. Horst Möller: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden: Christian Wilhelm Dohm und seine Gegner. In: Marianne Awerbuch und Stefi Jersch-Wenzel (Hg.): Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Beiträge zu einer Tagung. Berlin 1992. S. 59–79. 18 Schulte: jüdische Aufklärung, S. 32. 19 Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, S. 94. 20 Stepahn Braese: Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930. Göttingen 2010. Hier: S. 29–68. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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fessionalisierung des Judentums, wie es sich eindringlich in der Orientierung am deutschen Bildungssystem ausdrückte. Das insbesondere auch bei den Sephardim in den Niederlanden von den jüdischen Aufklärern untersuchte Bildungsverständnis galt ihnen dabei als Maßstab für eigene Erziehungskonzepte.21 Christian Wilhelm von Dohms Memorandum „Über die   bürgerliche Verbesserung der Juden“ Die Ereignisse Ende des 18. Jahrhunderts riefen auch einen maßgeblich Wandel hinsichtlich der Wahrnehmung von Geschichte und des historischen Bewusstseins der Zeitgenossen hervor. Nun begann sich die Vorstellung von Geschichte in einer universalen Sichtweise auszubilden.22 Dies hatte bereits vor der Französischen Revolution, die den Juden Bürgerrechte verlieh, ein verändertes Denken hinsichtlich der Rolle der Juden in der Gesellschaft ermöglicht. Solche Überlegungen zur besseren Integration der Juden wurden insbesondere durch die Denkschrift Christian Wilhelm von Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ aus dem Jahre 1781 angestoßen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift wurden Juden in Preußen nach dem „Revidierten General-Privilegium und Reglement“ von 1750 ganz im Verständnis vormoderner Judenordnungen in Abhängigkeit von ihrem Einkommen in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Dohms Memorandum verstärkte die Tendenz unter den Maskilim, sich Gedanken darüber zu machen, wie es möglich

21 “The considerable success of Sephardic education, particularly in Amsterdam, was well descriped by contemporary authors and cited by German writers time and again. Besides being a model for language and textual instruction, the Sephardim also seemed to excel in their knowledge of fields helpful for understanding Talmud, mathematics and natural science being part of the school curriculum.“ (David Sorkin: The Transformation of German Jewry, 1780–1840) Oxford 1987. S. 51. 22 “What had hitherto been seen as a plurality of local histories (Geschichten) to be recounted and remembered was now eclipsed by sense of ‚history in general’ ” – Geschichte – that could be ‚made by human actions’. This analysis matches exactly with the chronology of reformism in Enlightenment attitudes towards Jews. Until the 1770s scholars of Jewish themes overwhelmingly focused their energies on projects of description, interpretation, classification or argument. Only in the early 1780s did prominent minds seriously contemplate the transformation of Jewish status. Within less than a decade history was unprecedentedly made by the people of Paris, and these hypothetical reformist projects already abruptly lurched towards realisation.” (Adam Sutcliffe: Judaism and Enlightenment. Cambridge 2003. S. 251). 58

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sei, als Juden integriert in der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft zu leben.23 Zudem nahm es direkten Einfluss auf die Verleihung der Bürgerrechte an die Juden in Frankreich. Was von Dohm als Verbesserung der Lebensumstände der Juden gefordert wurde, ließ frühere Konzepte nach Toleranz weit hinter sich. Dabei wurde allerdings nicht dem Umstand nachgegangen, wie die so verstandene „Andersartigkeit“ der Juden in diesem Zusammenhang als Bestandteil der ganzen Gesellschaft integriert werden sollte. Dohms Denkschrift war insofern einzigartig, weil zum ersten Mal Juden und ihre Rolle im Staatswesen jenseits eines auf der Basis des Christentums gründenden Verständnisses, sondern stattdessen auf Grundlage einer um Neutralität bemühten Position dargestellt wurden. Dohm ging dabei auch von der Möglichkeit der Verbesserung der jüdischen Religion aus, die sie kompatibel mit dem modernen Staat machte.24 Dohms Denkschrift wurde durch ein Schreiben der elsässischen Juden unter Führung von Berr-Isaak Berr (1744–1828) an Moses Mendelssohn veranlasst. Darin wurde Mendelssohn gebeten, ein Memorandum an den französischen Staatsrat zu verfassen, in dem er für die Verbesserung der wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen der Juden im Elsaß eintreten sollte. Das Elsass wurde Frankreich 1648 nach dem Westfälischen Frieden angegliedert. Juden waren hier insbesondere im Geldverleih und als kleine Händler tätig und lebten vorwiegend auf dem Lande, da ihnen die Städte verschlossen waren.25 Außerdem waren sie religiös observant, sprachen Westjiddisch und waren von jeder Veränderung ihrer sozialen und kulturellen Situation im Zuge der europäischen Aufklärung weit entfernt.26 Im Verlauf der 1770er-Jahre

23 Christian Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Teile in einem Band, Berlin 1781. ND Hildesheim 1973. Die Abhandlung erscheint bei Friedrich Nicolai. Zur Verortung Dohms in die allgemeine politische Agenda der Zeit vgl. W. Gronau: Dohm nach seinem Willen und Handeln. Lemgo 1824. Franz Reuss: Dohm’s Schrift […] und deren Einwirkung auf die gebildeten Stände. Diss. Leipzig 1880. Regina Risse, Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) und sein Beitrag zur Politisierung der Aufklärung in Deutschland, Köln: Diss. 1996. Carsten Bäcker: Christian Wilhelm von Dohms Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/83) im Urteil seiner Zeitgenossen. Hamburg: M.A. Arbeit 2002. Für die Diskussion von Dohm’s Verständnis von Juden und Aufklärung vgl. Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity. New Haven 2002, S. 25–32. 24 Hess: Germans, Jews, and the Claims of Modernity, S. 37. 25 Arthur Hertzberg: The French Enlightenment and the Jews: The Origins of Modern AntiSemitism. New York 1968. 26 Paula E. Hyman: The social context of assimilation: village Jews and city Jews in Alsace. In: Assimilation and community. The Jews in nineteenth-century Europe. Edited by Jonathan Frankel and Steven J. Zipperstein. Cambridge-New York 1992. S. 110–129. Hier: S. 111. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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verstärkten sich im Elsass zudem zunehmend die Spannungen zwischen Juden und Christen, die sich häufig an der Praxis des Geldverleihs entzündeten. Vor diesem Hintergrund baten die elsässischen Juden Mendelssohn um die Niederschrift eines Memorandums, das die Funktion einer Verteidigungsschrift einnehmen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war Mendelssohn mit der Arbeit am Kommentar zum Buch „Exodus“ so sehr eingespannt, dass eine gewünschte Beteiligung am gewünschten Memorandum unmöglich war. Vermutlich wollte er sich aber auch in seiner unsicheren Rolle als Schutzjude politisch nicht zu sehr exponieren. Daher bat er Dohm, diese Aufgabe zu übernehmen. In der Denkschrift wurde die Geschichte der Juden seit ihrer Vertreibung bis zur Ankunft in Frankreich zusammengefasst. Das Memorandum analysierte die für die Juden im Elsass bestehenden rechtlichen und ökonomischen Einschränkungen und sprach sich für uneingeschränkten Handel als eine Quelle des Wohlstands für Juden und Christen gleichermaßen aus.27 Dohm sah es als notwendig an, die Verknüpfung der jüdischen Geschichte nach dem Verlust der staatlichen Eigenständigkeit im Jahre 70 mit den Geschehnissen in den Staaten zu verbinden, in denen Juden Aufnahme fanden. Zu Beginn seiner Ausführungen nahm Dohm eine Analyse des rabbinischen Judentums vor. Er verteidigte es auf Grundlage seines Gesetzes gegenüber den Kritikern aus dem Umkreis der Aufklärung (z.  B. Voltaire) als eine für seine Zeit hoch entwickelte Kultur. Judentum war für Dohm im Wesentlichen Gesetzesreligion. Seiner Meinung nach basierte der jüdische Staat auf diesen Gesetzen, seine Bewohner seien von Stolz darauf geprägt gewesen, dem jüdischen Staat habe jedoch jede Art von Toleranz gefehlt. Als Konsequenz daraus sah Dohm im Kampf Roms gegen Jerusalem die Verkörperung einer Antithese.28 Der römische Staat verkörperte für ihn eine politische Ordnung, die auf Toleranz und religiöser Differenz basierte und die Trennung von Kirche und Staat vorwegnahm.29 Selbst nach den Aufständen gegen die römischen Besatzer nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit hätte Rom nur die unmittelbar Beteiligten bestraft, die Mehrheit der Juden im Römischen Reich sei in ihren Rechten ungehindert eingesetzt geblieben und mit allen anderen Bürgern des Römischen Reiches gleichgestellt gewesen.30 Der römische Herrscher habe den 27 David Sorkin: Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment. Berkeley 1996. S. 111. 28 Vgl. als Überblick zur Geschichte der Juden im Römischen Reich das Jüdische Lexikon, Band III, S. 546–552. 29 Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, S. 33. 30 „Der Kaiser Claudius gab allen Juden die Rechte, welche bisher die alexandrinischen nur allein genossen hatten, und befahl ausdrücklich, dass sie in allen, auch den griechischen Städten, völlig gleicher Freiheiten mit den übrigen Bürgern genießen sollten.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 42). 60

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Juden Religionsfreiheit gewährt und sie vor „den Verfolgungen des unerleuchteten Religionshasses der Christen“ geschütz.“31 In diesem Sinne verstand Dohm Rom als einen modernen Staat, der die Autoriät der Religion zurückdrängte und stattdessen das Prinzip der Gleichheit unter dem Gesetz vertrat. Dohm führte ferner aus, dass es den Juden darüber hinaus auch erlaubt gewesen sei, „nach ihren eigenen Gesetzen zu leben.“32 Diese rechtliche Gleichstellung wurde begleitet von einer uneingeschränkten Freizügigkeit in Bezug auf die Berufswahl: „Bis zum Jahr 418 konnten die Juden zu allen bürgerlichen und Kriegsämtern gelangen.“33 Die Römer hätten den Juden bis in das fünfte Jahrhundert hinein die Rechte und Pflichten von Bürgern eingeräumt. Erst die Etablierung des Christentums als Staatsreligion hätte ganz im Verständnis vormoderner Judenordnungen zum Ausschluss der Juden geführt.34 Das historische Beispiel Roms versetzte Dohm zudem in die Lage, auf die Rolle der Juden als Soldaten zu verweisen. Erst unter der Herrschaft des Kaisers Honorius (384–423)35 sei Juden die militärische Laufbahn verschlossen geblieben, allerdings hätten die sich bereits im Militärdienst befindlichen jüdischen Soldaten weiterhin ihren Pflichten nachkommen können. Es sei sogar nach dem 438 vollendeten „Codex des Theodosianus“ gesetzlich verboten gewesen, die Juden aus militärischen Ämtern zu drängen. Vielmehr seien sie im 31 „Die weise und gelinde Politik der römischen Monarchen erlaubte aber nicht, dass die Härte dieser Behandlung weiter als auf die Schuldigen ausgedehnt wurde. Die schon vor der Zerstörung von Jerusalem in dem Römischen Reiche zerstreuten Juden wurden bei der vollkommenen Religionsfreiheit und bei allen den bürgerlichen Rechten, deren sie vorher genossen, erhalten, und wir finden die Gesetze sowohl der heidnischen als der ersten christlichen Kaiser durchgehends dahin arbeiten, ihnen diese Rechte zu sichern und sie vor den Verfolgungen des unerleuchteten Religionshasses der Christen zu schützen.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 40). 32 Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 40. 33 Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 42. 34 Dohm: Verbesserung, Bd. 1, S. 40, S. 45. 35 Dazu bemerkt Paul Rieger im Jüdischen Lexikon: „Eine Entrechtung der Juden bedeutete der Erlaß des Honorius (395–423) vom Jahre 404, der Juden und Samaritaner vom Kriegsdienst ausschloß. Andererseits erlaubte Honorius auf Ersuchen der römischen Gemeinde die bis dahin (noch zuletzt im April 399) von ihm verbotene Steuerleistung an den Patriarchen, die dann unter Theodosius II. (408–450) ein Ende nahm. Die im Westreich 404 erlassenen Judengesetze waren im allgemeinen den Juden günstig; sie nahmen auf die Sabbatfeiern Rücksicht, schützten die gottesdienstlichen Feiern und die Gotteshäuser, gestatteten den Juden das Studium der Wissenschaften und die Ausübung der Rechtspraxis (418), ließen sie zu öffentlichen Ehrenämtern zu und erlaubten ihnen sogar den Besitz von Sklaven unter der Bedingung, dass man sie in ihrer Religionsübung nicht behindere.“ (Paul Rieger: Kaiser, römische: In: Jüdisches Lexikon, Band III, S. 546–552. Hier: S. 552). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Zuge dieses Gesetzes auch weiterhin „zu bürgerlichen Bedienungen und zur Advocatur zugelassen“,36 worden, sofern sie „ihre Geburt und eine edlere Erziehung dazu berechtigte.“37 Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung ist es wichtig darauf zu verweisen, dass insbesondere von dem Göttinger Orientalisten Michaelis wiederholt die Auffassung vertreten wurde, Juden seien unfähig, Militärdienst zu leisten. Dohm hingegen wandte sich gegen die gängige Praxis, Juden durch die Zahlung spezieller Steuern von der Militärpflicht zu entbinden. Er sah es vielmehr als Notwendigkeit an, sie durch den Militärdienst an das Land zu binden. Das römische Beispiel diente Dohm also als Beleg dafür, dass Juden in der Vergangenheit vollständig gleichgestellt waren und diesen Status im Verlauf von mehr als vier Jahrhunderten niemals gegen die Interessen des Staates eingesetzt hätten. Den Aspekt der Verderbnis griff Dohm wieder auf, als er seinen Abriss über die Geschichte der Juden in Europa beendete. Trotz seiner Religion könne der Jude „ein sehr guter Bürger sein“38 und seine Verdorbenheit sei durch seine unterdrückte Stellung in der Gesellschaft zustande gekommen. Es stehe jedoch außer Frage, dass „eine gerechtere Behandlung ihn wieder bessern“39 werde. Diese sei jedoch nicht von „fanatischen Kirchenvätern“ zu erwarten. Wie auch viele andere Aufklärer war Dohm skeptisch, inwieweit sich die religiösen Führer von Gedanken der Aufklärung würden leiten lassen. In der Vergangenheit sei dies jedenfalls nicht der Fall gewesen.40 Erst mit der Etablierung des Christentums zur Staatsreligion sei ein Bruch aufgetreten. Die Vorurteile gegenüber den Juden gründeten darin, dass christliche Regie36 37 38 39 40

Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 43. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 43. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 87. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 187. „Der ungestörte Besitz dieser Freiheiten während eines Zeitraums von mehr als vier Jahrhunderten, ist ein sicherer Beweis, dass sich die Juden derselben nicht unwürdig machten, und der ihnen verliehene unbeschränkte Genuss aller Rechte der Bürger lässt nicht zweifeln, dass sie auch alle Pflichten derselben erfüllten, das sie durch die Treue, ihre Ergebenheit für den Staat und ihre Betriebsamkeit, das Wohlwollen und besondere Vorsorge der Monarchen verdienten. Die Geschichte bestätigt also hier das Urteil der uneingenommenen Vernunft, dass die Juden eben so gut, wie alle anderen Menschen, nützliche Glieder der bürgerlichen Gesellschaft sein können. Sicher würde man an dieser Wahrheit nie gezweifelt haben, wenn man nie die weisen Grundsätze der römischen Regierung verlassen, und diese Nation dadurch mit der Gesellschaft fester verbunden hätte, dass man sie aller Vorurteile derselben genießen lassen. Gewiss würden die Juden aufgeklärter und weniger verdorben sich erhalten haben, wenn nicht in der folgenden Zeit fanatische Kirchenväter schwache Monarchen verleitet hätten, die weisen Verordnungen ihrer Vorgänger aufzuheben, und als einen Beweis ihres Eifers für die Religion der Liebe anzusehen, wenn sie die Andersdenkenden lieblos behandelten.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 44–45). 62

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rungen das Trennende zwischen Juden und Christen hervorgehoben und nicht die Gemeinsamkeiten thematisiert hätten.41 Im Zuge der sich immer weiter verschlechternden rechtlichen Situation der Juden im Römischen Reich – nun unter christlicher Herrschaft – seien die Juden aus der staatlichen Gemeinschaft ausgeschlossen worden. Dies konnte nur gelingen, weil fanatische Kleriker die Herrscher in dieser Hinsicht beeinflussen konnten, was dem staatlichen Gemeinwesen nicht von Nutzen gewesen sei, wenn Dohm festhält: „Endlich wurde auch den Gliedern derselben alle Fähigkeit bürgerliche Ehre zu erwerben, und das das gemeinschaftliche Vaterland sich verdient zu machen, genommen. Sie wurden aller Würden und Bedienungen im Staate unfähig erklärt; nur an den Lasten der bürgerlichen Gesellschaft sollten sie Teil nehmen, aber an keinem der Vorteile, die für jene sonst gestanden hätten.“42 Die nordeuropäischen Völker hätten im Zuge der Völkerwanderung und der Niederwerfung des Römischen Reiches schnell das Christentum angenommen und mit großer Härte das Judentum bekämpft. Dohm verwies hier ausdrücklich auf das Beispiel der Westgoten und zitiert zahlreiche Belege dafür aus der „Lege Wisigothorum“, wie überhaupt alle seine Aussagen über die Lebensbedingungen der Juden mit Belegen aus Gesetzestexten belegt wurden.43 Während des Mittelalters, so Dohm, seien die Juden in aller Regel von den Herrschern geschützt worden, sie hätten jedoch auch besondere Abgaben oder Steuern für diesen Schutz zahlen müssen. Dohm richtete sich an diesem Punkt scharf gegen die christlichen Geistlichen, die sich gegen dieses Monopol wandten.44 Juden seien in die christlichen Gesellschaften 41 42 43 44

Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 38. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 49. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 52–53. „Nicht das kanonische Recht, sondern nur spätere Ausleger (besonders Marta de Jurisd. L. 4. Cent. 2. Caf. 67) desselben, haben den Geistlichen die ausschließende Gerichtsbarkeit über die Juden in allen Religionssachen beilegen wollen, aus dem gewiss sehr sonderbaren Grunde, weil die vorher angeführten römischen Gesetze nur die Handlungen der Juden, welche die Religion nicht angehen, den weltlichen Richtern unterwerfen. Schon allein die Natur der geistlichen Gerichtsbarkeit musste die Ungereimtheit dieses Gedankens beweisen, da dieselbe notwendig nur über die Glieder der Kirche sich erstrecken, und da dieser höchste Strafe, die Exkommunikation, diejenigen nicht treffen kann, die schon ihre Geburt exkommuniziert. Man habe daher in den meisten katholischen Staaten eine solche dem höchsten Recht des Regenten nachteilige Anmaßung der Geistlichkeit nicht gestattet, nur in denen Ländern, wo den Juden überhaupt das Dasein untersagt ist, wie in Spanien und Portugal, gehört die Untersuchung über die Beschuldigung so wie aller, also auch der jüdischen, Ketzereien für die Inquisition. Die Päpste Sixtus V. und Clemenz VIII. haben aber ausdrücklich erklärt, dass die jüdische Religion nicht zu den Ketzereien, also auch nicht für Inquisitionsgerichte, gehöre, und dadurch eine Bulle Papst Gregor XIII. aufgehoben, welche die Juden denselben unterBedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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integriert gewesen, die Mehrzahl der Berufe sei ihnen verschlossen geblieben und aus diesem Grunde hätten sie sich dem Handel und dem Finanzwesen zugewandt.45 Für Dohm war es jedoch bedeutsam, darauf zu verweisen, dass die Juden trotz ihrer gesellschaftlichen Außenseiter-Position über kulturelles Kapital verfügten, das sie direkt aus dem Römischen Reich mitgenommen hätten und sie somit als Vermittler gewirkt hätten. Dies sei insbesondere während der arabischen Herrschaft über Spanien zum Tragen gekommen. Dohm verwies auf den reichen kulturellen Bodensatz des „arabischen Spaniens“, das er vom christlichen Norden abgrenzte, welches sich nur aus religiösem Fanatismus zusammensetze. Er erklärte zudem, „dass es eine Zeit gab, wo die größte europäische Aufklärung bei den Beschnittenen gefunden wurde“, während das restliche, christliche Europe noch im Dunkeln ausgeharrt habe. Die Juden konnten aufgrund ihrer Fähigkeiten schnell in herausragende Positionen aufsteigen, riefen dadurch aber auch den Neid der Christen in Spanien hervor.46 worfen hatte.“ (Dohm verweist hier auf S. Amelot de la Houssaye Hist. du Gouvernement de Venise, edit. de 1695. Tom. I, p. 280. Vgl. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 55–56). 45 „Da die Juden von allen Wegen, die zur bürgerlichen Ehre führen, ausgeschlossen waren, so betraten sie desto eifriger die, welche zum Gewinn leiten. Und ihre Bemühungen auf denselben wurden ihnen sehr erleichtert, da ihnen zwar der Besitz liegender Güter und der damals sehr wenig einträgliche Ackerbau untersagt, aber dagegen der Handel und alle Geldgeschäfte fast allein überlassen wurden.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 53–56. 46 „Die Juden brachten aus dem Römischen Reich noch mehr Kenntnisse und Kultur herüber, als die herrschenden in dem ersten Zeitalter der neuen Nationen besaßen. Sie wurden nicht durch rohe Sitten und Fehden verwildert, nicht durch scholastische Mönchsphilosophie und Aberglauben aufgehalten. Wenn man die Kenntnisse des damals arabischen Spaniens gegen die des rechtgläubigen Europas vergleicht, so wird es sehr wahrscheinlich, dass es eine Zeit gab, wo die größte europäische Aufklärung bei den Beschnittenen gefunden wurde. Die Juden befanden sich damals in Spanien in sehr blühenden Umständen, und setzten dieses Land mit dem übrigen Europa mehr in Verbindung als sonst gewesen sein würde. Diese Verbreitung der Nation durch fast alle Teile der damals bekannten Erde, ihre engere Verbindung untereinander sowie ihre größere Kultur und Kenntnis mussten ihnen notwendig Vorzüge im Handel vor den herrschenden Nationen des christlichen Europa geben, deren edlerer Teil sich den Handel zur Schande rechnete, und deren mittlere Stände teils aus Unkunde, teils aus Furcht vor den Räubereien des Adels erst in späteren Zeiten erhebliche Handelsunternehmungen wagten. Die Seltenheit und Unsicherheit derselben musste ihren Gewinn erhöhen, und die Juden waren durch ihre Geschicklichkeit fähig, allmählig Reichtümer zu erwerben, die ein Gegenstand des Neids der Fürsten und des Volkes, von jenen unter einigen religiösen Vorwänden, von diesem mit durch die Priester befeuerter und geheiligter Wut ihnen abgenommen wurden. Die Juden müssten keine Menschen gewesen sein, wenn sie die, welche sie so ungerecht verfolgten, nicht wieder gehasst hätten, und wenn ihnen ihre uralte Lehre, eben weil sie ihnen soviel Kummer verursachte, nicht noch lieber geworden wäre.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 56–57). 64

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Für Dohm stand außer Frage, dass keine Gruppe im Verlauf ihrer Geschichte so sehr gelitten hatte wie die Juden. Obwohl Dohm sich einer wissenschaftlichen Analyse bediente, waren seine Argumente gleichwohl von Verständnis für die ablehnenden Reaktionen der Juden gegenüber den Christen geprägt. Die mittelalterlichen Anschuldigungen gegenüber den Juden – Dohm führte Hostienschändung und Ritualmordanschuldigungen an – seien zudem noch in der Gegenwart anzutreffen. Und dies sei nicht nur im als rückständig verstandenen Polen der Fall, sondern auch in den Gegenden Europas, wo die Aufklärung bereits Einzug gehalten habe. Das mittelalterliche Vorurteil sei somit noch keinesfalls überwunden,47 sondern die Realität sehe gänzlich anders aus. „Noch in allen, sowie in den übrigen europäischen Ländern, sind mehr oder weniger Spuren der Barbaren der finsteren Jahrhunderte in der Judenverfassung übrig geblieben. Portugal und Spanien beweisen auch hier, dass die Aufklärung des übrigen Europa zu ihnen noch wenig durchgedrungen ist.“48 Dohm erwähnte in diesem Zusammenhang auch die Kammerknechtschaft der Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die im Wesentlichen dazu diente, die Juden unter den Schutz des jeweiligen Herrschers zu stellen und diesem die Möglichkeit zu geben, die Unfähigkeit der Juden, Militärdienst zu leisten, die Juden dafür als Gegenleistung mit zusätzlichen Steuern zu belasten.49 In der angehängten Fußnote diskutierte Dohm die Situation der Marranen, die er die „heimlichen Juden“ und zugleich „sehr nützliche Glieder des Staates“50 nannte. Im Haupt-

47 So habe der (unbekannte) Verfasser der Schrift „Observations d’un Alsacien sur l’affaire presente des Juifs d’Alsace“ aus dem Jahre 1779 „sich mit einem unseres Zeitalters und einer aufgeklärten Nation höchst unwürdigen Fanatismus bemüht, die Verfolgung gegen die Juden zu predigen; er häuft die unphilosophischen Beschuldigungen gegen dieselben, um zu beweisen, dass sie im Staat nicht geduldet werden müssten, und wiederholt die Lügen der Mönche finstrer Zeit mit gläubiger Zuversicht, so wie er die Unmenschlichkeiten, die man gegen die Juden begangen, an die kein Mensch von Gefühl ohne Abscheu zurückdenken kann, mit einer Art von Billigung erzählt und gleichsam zum Muster aufstellt. Es ist natürlich, dass eine solche Schrift bei einer aufgeklärten Regierung seinen Eindruck machen könne, und die elsässischen Juden dürfen im Jahrhundert Ludwig XVI. hoffen, ihre alte Freiheit nach den Grundsätzen einer weisen Politik erhalten und noch erweitert zu sehn. Nur um den Lesern einen Begriff von dieser Schrift – als einer im Jahre 1779 gewiss seltnen Erscheinung – zu geben, will ich anführen, dass ihr verfolgungssüchtiger Verfasser, als das Hauptverbrechen der Juden im Sungau – den von ihren Vorfahren in Palästina begangenen Gottesmord (deicide) aufstellt.“ (Dohm, bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 60–61). 48 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 71–74. 49 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 65. 50 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 74. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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text wiederum verwies er auf die wirtschaftlichen Gewinne, die namentlich Holland und England durch die dort lebenden spanischen Juden erlangten.51 Nach der Vertreibung konnten die sephardischen Juden aufgrund ihrer gut entwickelten Netzwerke auch weiterhin den anderen Nationen von großem Nutzen seingewesen. Die wenigen Juden, die sich beispielsweise in Bordeaux und Bayonne niederlassen durften, seien Neuchristen aus Spanien und Portugal gewesen, die hier durch den französischen König geschützt und nicht zwangskonvertiert werden durften. Diesen sephardischen Juden waren bereits von König Heinrich II. im Jahre 1550 umfangreiche Rechte verliehen worden. Aber in den Orten, wo sie sich niederlassen durften, vornehmlich in Bordeaux und Bayonne, profitierten einmal mehr die Städte und Menschen, denn die sephardischen Juden „gaben dem Handel dieser Städte mehr Leben und Umfang, und errichteten zuerst eine Bank in denselben.”52 In allen anderen französischen Provinzen sei es Juden nicht erlaubt gewesen, sich niederzulassen. In dem Moment, in dem Elsass und Lothringen an Frankreich fielen, wurden die hier lebenden Juden neben allen anderen Bewohnern in ihren Rechten bestätigt.53 Aber diese Rechte bezogen sich ausschließlich auf diejenigen ihrer Autonomie. Jenseits der jüdischen Gemeinde seien die Rechte von der Toleranz der Herrscher abhängig gewesen, die sich die Juden hätten erkaufen müssen. Dohm kritisierte, dass noch im Jahre 1779 das Vorurteil die öffentliche Wahrnehmung der Juden beherrschte. In einem vom französischen Staatsrat in Auftrag gegeben Memoire sei „eine völlige Unterdrückung und Ausrottung der Juden wider alle Grundsätze der Menschlichkeit, der Religion, der Gesetze und Verordnungen des Staats zu beschließen“54 angeordnet worden.55 Diese Publikation habe großen Einfluss neh51 „Schon längst bereicherte sich Holland mit den aus diesen Staaten vertriebenen Hebräern, die oft außer ihrem Fleiß, auch noch beträchtliches Vermögen mit herüber brachten. Hier und in England genießen die Juden der vorzüglichsten Rechte des Menschen und Bürgers, und beweisen sich als sehr nützliche Glieder des Staats. In England hat man sogar im Jahre 1753 durch eine Parlamentsakte die Juden der Naturalisation fähig erklärt, den Versuch der Menschlichkeit und Politik, den der wütende Widersand des Pöbels die Regierung schon im folgenden Jahr wieder aufzugeben zwang.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 74–75). 52 Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 77. 53 „Wie diese Lande an die Krone Frankreichs kamen, wurden die Rechte aller Einwohner derselben, und also auch der Juden, bestätigt, und die Letzteren haben auch nachher von den französischen Monarchen besondre Erneuerungen aller der Rechte und Freiheiten, die sie unter den vorigen Regenten genossen hatten, erhalten.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 77). 54 Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 79. 55 Mémoire sur L’etat des Juifs en Alsace. In: Dohm, bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 155– 200. 66

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men können, ungeachtet der sich in anderen Teilen Europas abzeichnenden Veränderungen der Aufklärung. Immer wieder seien jedoch einzelne Juden mit besonderen Privilegien versehen worden, während die Juden als Ganzes auf Misstrauen und Ablehnung gestoßen seien. Dohm verwies auf die Notwendigkeit, nicht einzelnen Juden Privilegien zu verleihen sondern allen Juden die gleichen Rechte wie den Nichtjuden zu garantieren.56 Aufgrund ihrer Anwesenheit in vielen europäischen Staaten seien die Juden auch einfacher zu integrieren als beispielsweise Kolonisten, die häufig keinerlei Loyalität für ihr neues Vaterland aufwiesen. Dohm begriff die Juden als Patrioten par excellence und markierte mit dieser Wahrnehmung eine Kehrtwendung hinsichtlich des verbreiteten Verständnisses unter den Zeitgenossen, das den Juden jede Loyalität zum modern Staat absprach.57 Anders als die „Zigeuner“, die Dohm als Vergleich anführte, seien Juden nicht „verwildert“,58 sondern könnten sich leicht integrieren, denn sie besäßen „vorzügliche Klugheit, Scharfsinn, Fleiß, Betriebsamkeit und die biegsame Fähigkeit, in alle Lagen sich zu versetzen“.59 Daran anknüpfend verwies Dohm auf ein hervorragend ausgeprägtes Fürsorgesystem innerhalb der jüdischen Gemeinden, das dafür sorgte, dem Staat nicht zur Last zu fallen, wenn es darum gehe, die Armen der Gemeinde zu versorgen.60 Allerdings knüpfte Dohm daran die Forderung, die Handelsbücher der Juden zukünftig in der Landessprache und nicht mehr auf Hebräisch oder Jiddisch zu führen. Außerdem sollten Juden an die allgemeine Wissenschaft herangeführt werden. Sei dies in jüdischen Schulen aufgrund eines Mangels an qualifizierten Pädagogen nicht möglich, könnten die jüdischen Schüler auch auf christliche Schulen geschickt werden, sollten dort jedoch vom christlichen Religionsunterricht ausgenommen werden.61 Darüber hinaus sollte den Juden freie Religionsausübung garantiert sein. Es war Dohms Überzeugung, dass ein aufgeklärter, moderner Staat nicht wieder dem Vorbild des theokratisch ausgerichteten, jüdischen Staates folgen sollte. Die 56 „Möchte nur erst der allgemeine Genuss dieser Rechte und Freiheiten die Juden überhaupt zu patriotischen, oder doch wenigstens, brauchbareren und glücklicheren Bürgern machen.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 82. Weitere Ausführungen zur Geschichte der Juden in Italien, Polen und Neapel folgen.) 57 „Die Juden jeden Staats sind in denselben schon mehr eingebürgert, als Fremde [z.B. Kolonisten, C.S.] erst nach geraumer Zeit werden können. Sie kennen kein anderes Vaterland, als dasjenige, welches sie nun erhalten, und sehnen sich nicht nach einer fernen Heimat.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 91.) 58 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 90. 59 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 91. 60 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 95. 61 Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 1, S. 117–122. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Religion müsse sich dem Staat unterordnen, was sich auch positiv auf die Religion auswirken werde. Dohm war sich sicher, das Judentum basiere auf Kriterien der Rationalität;62 die Prinzipien des biblischen Judentums seien erst durch Rabbiner nachfolgender Jahrhunderte korrumpiert worden.63 Es war daher nur folgerichtig, dass Dohm in seinem Traktat insbesondere darauf hinwies, dass die offensichtliche Situation der Ausgrenzung der Juden in der Gesellschaft ihre Gründe in der Rückständigkeit des Staates habe. Daher sei der Staat gehalten, die „unglücklichen asiatischen Flüchtlinge“64 durch eine Öffnung der ihnen verschlossenen Berufszweige in die Möglichkeit zu versetzen, sich in „glücklichere und bessere Glieder der bürgerlichen Gesellschaft“65 zu verwandeln und dies auf Grundlage „vollkommen gleiche[r] Rechte mit allen übrigen Untertanen.“66 Die Verwednung des Adjektivs „asiatisch“ macht dennoch deutlicht, dass die Juden ursprünglich nicht zu Europa gehörten und sie lediglich durch die Zerstörung des jüdischen Staates nach Europa gelangt seien Dohms Aufforderung nach Reform der Situation der Juden im Staatswesen richtete sich also sowohl an den Staat, Juden statt auszugrenzen zu integrieren, als auch an die Juden selbst, eine Reform ihrer Religion zuzulassen. Der Staat müsse eine Trennung zwischen Kirche und ihm selbst vornehmen, denn genau unter dieser Trennung begründe sich die Absonderung der Juden.67 Dohm argumentierte vor dem Hintergrund einer Mechanik der sittlichen Kräfte, die den Juden und dem Staat gleichermaßen zugute kommen müssten. Sein Argument zielte dabei nicht auf eine radikale Assimilation. Diese Einordnung, den Nutzen der Juden für das Staatswesen zu begreifen, lässt jedoch nicht darüber hinwegblicken, dass für Dohm eine Zulassung von Juden zu öffentlichen Ämtern nicht sofort erfolgen konnte. Christen sollten vielmehr bei gleicher Qualifikation gegenüber jüdischen Kandidaten bevorzugt werden. Die Einhaltung der jüdischen Ritualgesetze war Dohm zufolge der Hindernisgrund für eine sofortige und ausschließliche Integration und Zulassung zu allen Ämtern, da die Juden als Vertreter einer „für sich stehenden Nation durch äußere Unterscheidung in der Lebensart sich absondern.“68 Die Zulassung auf öffentliche Ämter sei erst nach mehreren Generationen ihrer bereits erfolgten Verbesserung möglich. Hier berücksichtigte Dohm auch das Verhältnis von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheit. 62 63 64 65 66 67 68

Dohm: bürgerliche Verbesserung der Juden, Bd. 2, S. 213. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 143. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 8. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 110. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 110. Hess: German, Jews and the Claims of Modernity, S. 31. Dohm: bürgerliche Verbesserung, Bd. 1, S. 110. 68

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Um diesen Punkt ging es den Juden bei der Auseinandersetzung mit einer bürgerlichen Verbesserung, wenn sie den vermeintlichen Makel einer so verstandenen Rückständigkeit beseitigen wollten, um zu zeigen, Judentum und aufgeklärte Gesellschaft stünden in keinem Widerspruch zueinander. Denn sie waren der Ansicht, das Judentum sei mit den rationalen Kriterien des aufgeklärten Staates in Einklang zu bringen. Dies war nicht zuletzt deshalb notwendig geworden, weil das elitäre Verständnis von Aufklärung bei seinen zahlreichen Vertretern die moralische Höherwertigkeit des Christentums gegenüber dem Judentum vertrat. Dohms Einwand gegen eine unmittelbare und vollständige Integration der Juden manifestierte sich in seiner Ablehnung, diesen unmittelbaren Zugang zu öffentlichen Ämtern zu gewähren.69 Dohm wies darauf hin, dass kein Mangel an gut ausgebildeten christlichen Untertanen für diese Aufgaben bestanden hätte. Der Stand der Erziehung und der „kaufmännische Geist“ der Juden hätte sie an der Erfüllung dieser Ämter gehindert.70 Dohm erhoffte sich am Ende dieses Prozesses – ohne auf zeitliche Parameter einzugehen – die Auflösung aller individuellen Besonderheiten der Juden im Ganzen des Staates, und folglich „dass die Juden durch weitere Behandlung zu völlig gleichen Bürgern umgeschaffen und alle Unterscheidungen abgeschliffen sein werden.“71 Dohm schloss sich den skeptischen Vorstellungen gegenüber der Religion bei den anderen Aufklärern an, wobei er forderte, die jüdische Religion mit den christlichen Konfessionen rechtlich gleichzustellen.72 Es müsste eine zentrale Auf69 „Eine andere Frage ist, ob man schon jetzt in unseren Staaten die Juden zu öffentlichen Ämtern zulassen könnte? Allerdings, scheint es, würde man billig den Juden, wenn sie aller Rechte der Bürger genießen sollten, auch nicht verwehren können, sich um die Ehre, dem Staate zu dienen, zu bewerben, und falls ihre Ansprüche durch Fähigkeit unterstützt würden, auch diese zu denselben zuzulassen. Indes glaube ich, dass bei den nächsten Generationen sich diese Fähigkeit noch nicht so häufig zeigen, und dass dem Staate auch nicht so sehr daran gelegen sein dürfte, sie bei ihm zu entwickeln.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 118–119). 70 „Der noch zu kaufmännische Geist der meisten Juden wird besser durch starke körperliche Arbeiten als durch die stillsitzende des öffentlichen Bedienten gebrochen werden; und für den Staat wie für ihn selbst, wird es in den meisten Fällen besser sein, wenn der Jude mehr in der Werkstätte und hinter dem Pflug, als in den Kanzleien arbeitet. Der beste Mittelweg würde vermutlich sein, wenn man die Juden, ohne sie zu ermuntern, auch nicht abhielte, die Kenntnisse, die zum Dienste des Staats leiten, sich zu erwerben, und wenn man sie in den Fällen, die sich vorzüglich fähig bewiesen, auch gebrauchte, wäre es auch nur, um dem ohne Zweifel noch lange herrschenden Vorurteil entgegen zu arbeiten.“(Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 118–119). 71 Dohm: bürgerliche Verbesserung, Band 1, S. 120. 72 „Ein wichtiger Teil des Genusses aller Rechte der Gesellschaft würde auch dieser sein, dass den Juden an allen Orten eine völlig freie Religionsausübung, Anlegung von Synagogen und Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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gabe des Staates sein, „sittliche Bildung und Aufklärung“ unter den Juden zu verbreiten. Der Staat sollte zwar nicht in den jüdischen Religionsunterricht eingreifen, müsste jedoch das Schulwesen im Allgemeinen an die christlichen Lehranstalten und deren Zielsetzung anpassen. Die Ideen der Aufklärung seien dazu angehalten, auch den Juden das „helle Licht der Vernunft“73 zu bringen. Wirkungsgeschichte: Christian Wilhelm von Dohms   Verbesserungsschrift Die erste Generation der Maskilim wandten sich in hebräischer Sprache an ihre gebildeten und aufgeklärten Leser – vornehmlich in den großen preußischen Städten wie Berlin und Königsberg –, um den Forderungen nach einer „bürgerlichen Verbesserung der Juden“ entgegenzukommen. Die Juden in Deutschland konnten sich dieser Verbesserung auch deshalb so kompromisslos anempfehlen, weil sie die deutsche Sprache erlernten, diese wie von Dohm gefordert als Kommunikationsmittel nutzten und Deutsch zu ihrer ausschließlichen Kultursprache erhoben. Innerhalb einer Generation hatte sich der Typus des deutschen Juden ausgebildet, der Deutsch sprach, sich ganz an die deutsche Kultur akkulturierte und für den die jüdische Religion den Charakter einer Privatangelegenheit angenommen hatte. In der Konsequenz ließ dies eine Emanzipation durch Erziehung zur säkularen Wissenschaft greifbar nah erscheinen. Im Anschluss an Dohms Abhandlung entzündete sich eine erregte Diskussion über die Aussichten einer solchen Verbesserung und die Frage, ob Juden überhaupt in der Lage seien, sich zu verbessern.74 Formuliert wurde die Unmöglichkeit einer solchen Verbesserung am wirkungsvollsten durch den Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis in seiner „Orientalischen und exegetischen Bibliothek“. Michaelis Vorstellung vom antiken Judentum fand insbesondere in seinem Werk „Mosaisches Recht“ Berücksichtigung und wurde auch von Dohm rezipiert. Hier zeigte sich Michaelis Bewunderung für das mosaische Gesetz. Er verstand die BiAnstellung von Lehrern auf ihre Kosten, verstattet würde.“ (Dohm: bürgerliche Verbesserung, S. 123). 73 Dohm: bürgerliche Verbesserung, S. 120. 74 Dohm hatte eine Vielzahl von Werken zur Geschichte und Kultur der Juden rezipiert. Es sind hier insbesondere zu nennen Johann David Michaelis: Mosaisches Recht. 1770–1775. Anton Friedrich Büsching: Geschichte der Jüdischen Religion. 1779. Montesquieu: Spirit of the Laws (1748). Jean Basnage: L’histoire et la religion des Juifs depuis Jesus Christ jusqu’ a present pour servir de supplement et de continuation a l’histoire de Joseph. 5 volumes. Rotterdam 1707–1711. 70

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bel als ein historisches Dokument zum antiken, altertümlichen Israel. Für ihn war das mosaische Gesetz nicht wie es Voltaire ausdrückte barbarisch, sondern durch Moses als aufgeklärten Gesetzgeber und alleinigen Autor des Pentateuch geprägt und somit eine gelungene Voraussetzung dafür, dass das Volk der Israeliten in ihrem eigenen Königreich regierte. Michaelis Interesse galt dem jüdischen Gesetz und nicht der rechtlichen und sozialen Situation der zeitgenössischen Juden in Deutschland. Wie Jonathan Hess zeigte, war Michaelis Verständnis von Juden und Judentum von einer besonderen Form von Orientalismus geprägt.75 So vertrat er die Ansicht, Juden könnten nicht mit anderen Europäern verschmelzen. Ihre nationale Homogenität, verbunden mit falschen messianischen Hoffnungen, könnte sich nicht europäischen Staaten anpassen. Durch die rabbinischen Interpretationen des mosaischen Gesetzes sei das mosaische Gesetz kontinuierlich pervertiert worden und es sei auch für Juden nicht möglich, in Palästina zu leben, denn dieser Landstrich sei heute nunmehr von den genuinen oder authentischen Nachfahren der alten Israeliten bevölkert. Zeitgenössische Juden könnten also weder in Palästina noch in Deutschland leben oder sich anpassen. Michaelis unterbreitete daher den Vorschlag, die Juden auf den Zuckerplantagen der Westindischen Inseln arbeiten zu lassen.76 Sein Vorschlag, Juden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer „südlichen Rasse“ in die Karibik zu senden, war wie Jonathan Hess herausstellte, Teil einer Sehnsucht nach imperialer Größe Preußens auf der Grundlage von Bibelkritik und radikalem Antisemitismus.77 Aufgeklärte Juden wie Moses Mendelssohn wandten sich scharf gegen Michaelis’ Argumentation.78 75 “The hegemony that his Orientalism ultimately expresses and produces is not merely an intellectual authority over the modern Arab world but also a form of inner European colonialism, a colonial authority over the Jews that uses the modern Near East in order to put both the ancient Israelites and contemporary European Jews in their proper places.” (Hess: German, Jews and the Claims of Modernity, S. 57). 76 “Rooted in both eighteenth-century race thinking and his own biblical scholarship, Michaelis’s colonial imagination sees Jews not as planters or traders but as the modern equivalent of Israelite slaves, a subject people well suited to toil alongside African slaves in the West Indies.” (Hess: German, Jews and the Claims of Modernity, S. 83). 77 “For with his vision of sugar island Jews, Michaelis articulates a racial anti-Semitism that marks the ultimate embodiment of German Orientalists’ fantasies of both intellectual hegemony and colonialist power.” (Hess: German, Jews and the Claims of Modernity, S. 89). 78 So schrieb Mendelssohn: „Hat nicht ein Rezensent in den Göttingschen Anzeigen, bei Gelegenheit der Dohmschen Schrift, Beschuldigungen wider uns, wahrlich wie aus der Luft gegriffen, die man keinem Schrifsteller unseres Jahrhunderts, am wenigsten, einem in diesem wahren Sitze der Musen lebenden Gelehrten zutrauen sollte? Er trägt so gar keine Bedenken, uns jetztlebenden Israeliten die Unart vorzuwerfen und anzurechnen, deren sich unsere Vorfahren in der Wüsten schuldig gemacht haben; ohne zu bedenken, dass aller der gerügten Untugend Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Mendelssohn war insofern über Dohms Konzept der Verbesserung verwundert, weil er im Gegensatz zu Dohm keine Vorbedingungen gelten lassen wollte, bevor Juden gleichgestellt würden. Ihm ging es bei der Gleichstellung nicht um bürgerliche Verbesserung. Innerhalb der Maskilim setzte sich jedoch die Tendenz durch, den Überlegungen Dohms nach einer Verbesserung des inneren Status der Juden Folge zu leisten. Gleichzeitig wurde jedoch deutlich gemacht, dass auch der Staat – ganz wie es Dohm forderte reformiert werden müsse. Anders ist es nicht zu verstehen, dass insbesondere in den Jahren bis zur Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ im Jahre 1819 dem preußischen Staat die Fähigkeit zu dieser Neuordnung zugetraut und eine damit einhergehende Integration von Juden in das Gemeinwesen als besonders Erfolg versprechend angesehen wurde. Die Kenntnis der eigenen jüdischen Geschichte sollte bei der Integration in die Mehrheitsgesellschaft ein wertvoller Bezugspunkt sein. Maskilische Erziehungsprogramme und das sephardische Vorbild in Amsterdam Schon vor der Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ im Jahre 1819 setzte eine Rückbesinnung auf Orte in der jüdischen Geschichte ein. Diese wurden besonders als Beweise für eine gelungene Integration von Juden in die nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaften angesehen und sie zeigten gleichzeitig, dass Juden in der Vergangenheit als Beiträger für die allgemeine Kultur angesehen wurden. Darüber hinaus lag diesen Überlegungen auch die Überzeugung zugrunde, dass die jeweiligen nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaften in Spanien von der Rolle der Juden als Vermittler profitiert hätten.79 Beschreibungen des Orients mit ungeachtet, der gesetzgebende Gott unserer Väter, oder wie die Modesprache lieber will, der Gesetzgeber Moses, es gleichwohl möglich gefunden, diesen rohen Haufen zu einer ordentlichen, blühenden Nation umzubilden, die erhabene Gesetze und Verfassung, weise Regenten, Feldherren, Richter und glückliche Bürger aufzuweisen hat: ja ohne in sich zu gehen, und zu bedenken, was wohl seine eigenen Vorfahren, in nördlichen Einöden, um eben diese Zeit für Kultur gehabt haben mögen, aus denen doch heutiges Tages Rezensenten in Göttingschen Anzeigen entsprungen sind. – Mit einem Wort, Vernunft und Menschlichkeit erheben ihre Stimme umsonst; denn grau gewordenes Vorurteil hat kein Gehör.“ ( Jub A 8, S. 10). Zur Rezeption von Michalis und Mendelssohn bei Hißmann vgl. Juba A 8, S. 248–249. 79 Andrea Schatz: Returning to Sepharad: Maskilic Reflections on Hebrew in the Diaspora. In: Resianne Fontaine, Andrea Schatz, Irene Zwiep: Sepharad in Ashkenaz. Medieval Knowledge and Eighteenth-Century Enlightened Jewish Discouse. Amsterdam 2007. S. 263–277. Hier: S. 264. 72

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antijüdischer Zielsetzung, aus der Feder christlicher Gelehrter wie Michaelis, riefen aufseiten der jüdischen Intellektuellen drei mögliche Antworten hervor. “Jews responded to the anti-Jewish orientalism of the late eighteenth to the early twentieth century in three different ways (typical, we believe, for other targets of orientalism, including Muslims, as well): first, by rejecting it wholesale; second, by idealizing and romanticizing the Orient and themselves as its representatives; and third, by setting up traditional Jews as oriental, in contrast to modernized Jewry which was described as ‘Western’”.80 Alternativ etablierten sie die Vorbildfunktion einer iberisch-sephardischen Kultur, die sich sogar auf Bereiche erstreckte, die auf den ersten Blick wenig mit einer Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft gemein hatten. Ein Beispiel hierfür ist die Wiederbelebung der hebräischen Sprache unter den sephardischen Juden in Amsterdam, gefordert und umgesetzt von Joseph Delmedigo und Moses Raphael D’Aguilar. Deren gelungene Verwandlung des Hebräischen in eine literarische Sprache war für die Measfim von herausragender Bedeutung, was sich allein schon an der Tatsache ableiten lässt, dass ihr wichtiges publizistisches Organ, „Ha-Me’assef “, in hebräischer Sprache Beiträge zu Wissenschaft und Kultur, zu Erziehung, Moral und Sittengeschichte sammelte.81 Die Maskilim waren der Überzeugung, dass es – wie bereits zur Zeit der arabischen Herrschaft in Spanien – möglich sei, Aufklärung und Glauben miteinander in Einklang zu bringen, so dass sich Offenbarungsreligion und säkulare Wissenschaft einander nicht widersprechen. Insbesondere die Erziehungsprogramme der sephardischen Juden in Amsterdam wurden auch noch von zeitgenössischen jüdischen Autoren in Deutschland als Erziehungsmodell zukünftiger Bildungsprogramme für die in Deutschland lebenden Juden wahrgenommen. Ismar Schorsch wies in diesem Zusammenhang der mittelalterlichen hebräischen Literatur aus Spanien für die im Entstehen begriffene hebräische Literatur der Haskalah eine programmatische Vorbildfunktion zu.82 Er80 Kalmar and Penslar, Introduction to Orientalism and the Jews, S. XVIII. 81 Zum Aufbau einer Traditionslinie vgl. auch Shmuel Feiner: Haskalah and History. The Emergence of a Modern Jewish Awareness of the Past. Jerusalem 1995. Hier bes.: S. 459. Außerdem: Andrea Schatz: Sprache in der Zerstreuung: Zur Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007. 82 „Die Identifizierung der Höhepunkte der hebräischen Literatur aus dem mittelalterlichen Spanien drückte die Präferenz für das sephardische Judentum aus, das so wichtig für emanzipierte aschkenasischen Juden auf der Suche nach Legitimation wurde. Die Anziehungskraft des spanischen Judentums und seiner Nachfahren war ein beherrschender kultureller Faktor unter den deutschen Juden im 19. Jahrhundert und fand ihren Niederschlag in der Liturgie, der Synagogenarchitektur, der Literatur und natürlich der Forschung.“ (Ismar Schorsch: Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818–1919). In: Wissenschaft vom Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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ziehungskonzepte nahmen eine Orientierung am sephardischen Vorbild vor, was sich besonders deutlich bei Naphtali (d.i.Hartwig) Wessely (1725–1805) zeigte. Wessely wurde in Hamburg geboren, studierte Talmud bei Jonathan Eybeschütz und zog 1763 nach Berlin. Wessely war einer der bedeutendsten Vertreter der Aufklärung und trat auch als einflussreicher und stilprägender hebräisch schreibender Schriftsteller hervor. Er lebte einige Jahre in Amsterdam in engem Kontakt zur sephardischen Gemeinde. Hier publizierte er im Jahre 1765/66 sein erstes Buch über hebräische Stilistik unter dem Titel „Ja’ar Lewanon oder Gan na’ul“, das ihn rasch populär machte. Weselys Identifizierung mit den Sephardim ging so weit, dass er sogar darum bat, im sephardischen Teil des jüdischen Friedhofes zu Altona beerdigt zu werden. Wie Shmuel Feiner anmerkte, war dies weit mehr als ein symbolischer Akt, der Wesselys Distanz zu seiner eigenen Herkunft, dem aschkenasischen Judentum, und seine Favorisierung des sephardischen Judentums bei den bevorstehenden Reformen im zeitgenössischen Judentum ausdrücken sollte.83 Wesselys Erlebnisse innerhalb der sephardischen Gemeinde in Amsterdam trugen weiterhin dazu bei, dass sich Wessely für die Verwendung der sephardischen Aussprache des Hebräischen einsetzte, um somit auch einen unmittelbaren Einfluss auf die Reformen des jüdischen Gottesdienstes auszuüben.84 Wessely wurde von den Reformen Kaiser Joseph II. sowie durch die Schrift Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ stark beeinflusst. Auf Anregung der jüdischen Gemeinde in Triest verfasste er 1782 sein berühmtes Sendschreiben „Worte des Friedens und der Wahrheit“ auf Hebräisch (Divre schalom we-emet). Josef Meisl kommt im „Jüdischen Lexikon“ zu dem Schluss, Wessely habe die kaiserlichen Reformen begrüßt, „wenn er sie auch nicht in allen Details billigt.“ Wessely habe die Überzeugung vertreten, das Studium säkularer Wissenschaften sei auch für das Lernen des Talmuds notwendig, „denn zum Verständnis des Talmuds, ja des Judentums überhaupt, müsste man wenigstens Naturwissenschaften, Geschichte und Geografie in ihren Anfangsgründen kennen.“85

Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust. Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher. Göttingen 2000. S. 11–24. Hier: S. 18). 83 Shmuel Feiner: From Renaissance to Revolution: The Eighteenth Century in Jewish History. In: Sepharad in Ashkenaz, S. 1–10. Hier: S. 5-6S. 1. 84 Dies ist bislang nur auf Hebräisch erschienen bei Simha Assef (Hg.): Mekorot le-Toldot ha Hinukh be-Yisrael. 4 Bde. Tel Aviv 1925–1942. Hier: Bd. I. S. 234. Zu dem Umstand eines hochwertigen Hebräischen vgl. Sorkin, Transformation, S. 57. 85 Josef Meisl: Wessely. In: Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, S. 1415-1417. Hier: S. 1415. 74

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Wessely war wie die Mehrzahl der Maskilim der Ansicht, dass die sephardische Aussprache reiner als die aschkenasische sei. Seine „Worte des Friedens und der Wahrheit“ führten diesen Gedanken der Sprachreinheit weiter aus. David Friedländer übersetzte diese Schrift noch im selben Jahr ihres Erscheinens 1782 ins Deutsche,86 die ihrem literarischen Charakter folgend eigentlich eine Nacherzählung87 war. Aufgrund seiner zweisprachigen Textgrundlage richtete sich dieses Traktat an ein jüdisches und an ein christliches Publikum. Bereits Isaak Wetzlar (1680–1751) hatte auf die gängige Praxis der Sephardim hingewiesen, nicht auf Hebräisch, sondern in den Landessprachen Portugiesisch und Spanisch zu beten. Dieser Umstand erhöhte Wetzlar zufolge auch die Fähigkeit der Gläubigen, dem Gottesdienst zu folgen.88 Ausgehend von der Analyse des gegenwärtigen Zustandes, den Wessely hinsichtlich der Erziehung als rückständig und somit als Hindernis für die Emanzipation der Juden verstand, bezog er die pädagogischen Eigenschaften der sephardischen Juden ausdrücklich in sein Erziehungskonzept mit ein. Wessely führte das Beispiel der sephardischen Juden heran, um eine Verbesserung der Erziehung und allgemeinen Bildung auch in Deutschland zu erreichen. Seiner Vorstellung von Sprache ist eine moralische Funktion eingeschrieben, die Wessely am Beispiel der sephardischen Juden mit einer Modellfunktion versah, an der sich die deutschsprachigen Juden als Vorbild orientieren sollten. Sie wurden somit angehalten, die deutsche Sprache fehlerfrei zu erlernen um dadurch die so verstandene Anomalie, das Deutsche als Landessprache nicht zu beherrschen, zu beseitigen.89 Wessely argumentierte dabei unter Einbeziehung der nicht jüdischen Perspektive, wenn er das Erlernen der Landessprache durch die Juden als Gewinn in doppelter Hinsicht verstand: „Wenn wir auf 86 Naphtali Herz Wessely: Worte der Wahrheit und des Friedens an die gesamte jüdische Nation. Vorzüglich an diejenigen, so unter dem Schutze des glorreichen und großmächtigen Kaisers Josephs II. wohnen. Aus dem Hebräischen. [Von David Friedländer] Berlin 1782. Zur freien Übersetzung dieser programmatischen Schrit durch Friedländer vgl. dazu Michal Kümper: „Worte der Wahrheit und des Friedens“ oder „Worte des Friedens und der Wahrheit“? Die deutsche Übersetzung von Naphtali Hartwig Wesselys pädagogischem Pamphlet „Divrei shalom we’emet“ durch David Friedländer. In: Ursula Goldenbaum, Alexander Košenina (Hg.): Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien. Bd. 2. Hannover 2003. S. 155–188. Hier bes.: S. 165–178. 87 Kümper, Worte der Wahrheit und des Friedens, S. 165–178. 88 “Wetzlar contrasts the Ashkanasim who pray with order and decorum and suggest that the Ashkenasim follow the Sephardi example.“ (Morris M. Fairstein: The Liebes Brief. A Critique of Jewish Society in Germany (1749). In: LBI Yearbook XXVII (1982). S. 219–241. Hier: S. 237). 89 Vgl. Sorkin: The Transformation of German Jewry, S. 57. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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der einen Seite durch Erlernen der Landessprache Geselligkeit, Menschenfreundlichkeit und Einsicht unter uns verbreiten, und einander nützlich werden können, so werden wir auf einer anderen nicht minder angenehme Früchte erhalten.“90 Für Wessely stand zudem außer Frage, dass es sehr wohl Juden gab, die die Landessprache als „Muttersprache“91 auffassten. An dieser Stelle verdeutlichte Wessely den direkten Vergleich zwischen den deutschen Juden und den sephardischen Juden in ihren Heimatländern nach der Vertreibung aus Spanien und Portugal. So hätten im Gegensatz zu den sephardischen Juden die deutschen Juden die Landessprache nicht erlernt. Dieser Mangel sei bis zum heutigen Tag spürbar: „Dieser unverzeihlichen Vernachlässigung der Landessprache haben wir, die wir in dem Römischen Reich wohnen, uns besonders schuldig gemacht. Unsere Mitbrüder, die aus Spanien und Portugal gekommen, verstehen ihre Muttersprache vollkommen. In Frankreich, Italien und England, so wie im Morgenlande, sprechen sie ebenfalls die Landessprache in ziemlicher Vollkommenheit.“92

Bei dieser Betrachtung wurden insbesondere die zeitgenössischen Juden in Polen miteinbezogen und als rückständig bezeichnet. Die höchste Vollkommenheit in dieser Hinsicht und somit auch die größten Erwartungen für die Zukunft könnten nur von den sephardischen Juden erfüllt werden. Wessely war der Überzeugung, dass aufgeklärte Herrscher und Juden gemeinsam die Situation des Erziehungswesens – vor allem der Juden in Polen – ändern müssten.93 Diese Gegenüberstellung einer im Westen vorherrschenden Aufbruchstimmung, gespeist aus den Idealen der Aufklärung, mit einer realen Rückständigkeit im Osten und Polen im Speziellen, fand in der deutsch-jüdischen Presse beginnend mit den 1780er-Jahren eine weit verbreitete Verwendung. Wessely ging dabei so weit, dass für ihn die Möglichkeiten eines aufgeklärten Zeitalters, das traditionelle und als rückständig empfundene Ju90 91 92 93

Wessely: Worte der Wahrheit und des Friedens, S. 36–37. Wessely: Worte der Wahrheit und des Friedens, S. 34. Wessely: Worte der Wahrheit und des Friedens, S. 34. “Wessely drew a line to separate the Jewish communities in the Muslim East and Sephardi communities of Western Europe form Ashkenazi Jewry. Whereas the latter, especially in Poland, was backward, living in the past in isolation and according to old norms, Sephardi and Eastern Jewry were living in the present and ready for the future. The members of these communities spoke the vernacular naturally; their commercial ties with gentiles were very strong and their manners appropriate to the norms of the surrounding society. What was needed now was a joint effort by enlightened rulers and Jews to transform the Ashkenazim (especially those in Poland, whose cultural situation was the worst). Thanks to education, they too would fit to be counted as people of the present, people of the eighteenth century.” (Feiner: From Renaissance to Revolution, S. 5–6). 76

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dentum hinter sich zu lassen, als Chance begriffen wurden. Diese Ansicht gipfelte in der Aussage „Mensch sein ist eine Stufe höher als Israelit sein.“94 Deutsch-jüdische Presse in der Haskalah und das iberisch-sephardische Ideal Die anfängliche Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur erfolgte besonders intensiv und eindringlich in der auf Hebräisch von 1786 bis 1806 erscheinenden „Ha-Me’assef “ (dt. der Sammler), die jedoch auch über eine deutschsprachige Beilage verfügte, und der in deutscher Sprache von 1806 bis 1830/35 mit Unterbrechungen erschienenen „Sulamith“.95 Michael Nagel zufolge „lassen sich unter den Begriff der ‚jüdischen Presse‘ all jene Periodika fassen, die maßgeblich jüdische Themen aufgreifen, von jüdischen Herausgebern und Redakteuren getragen und für einen vorrangig jüdischen Leserkreis publiziert werden. Davon zu unterscheiden sind das journalistische Engagement von Juden in der jeweiligen landessprachlichen Presse oder aber der antisemitische Begriff der ‚Judenpresse.‘“96 Die jüdische Presse bildete sich am Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Eindruck des Wandels „der Geselligkeitsformen und Kommunikationsstrukturen, eine bis dahin beispiellose quantitative Ausweitung des Kommunikationsraumes und die Etablierung einer (politisch-)kulturellen Praxis, die sich zentralen Prinzipien der Aufklärung wie Offenheit und allgemeine Zugänglichkeit, Freiwilligkeit, Publizität, Vernunft und Bildung verpflichtet fühlte“97 aus. Die existierende Verschränkung verschiedener Öffentlichkeiten miteinander prägte die jüdische Presselandschaft maßgeblich. Eine mögliche Periodisierung innerhalb der deutsch-jüdischen Presse könnte wie folgt aussehen: (1) 1786–1806, (2) 1806–1830⁄35, (3) 1830⁄35–1848, (4) 1848–1871, (5) 1871–1900. Die deutsch-jüdische Publizistik war maßgeblich daran beteiligt, 94 Wessely: Worte der Wahrheit und des Friedens, S. 32. 95 Zur Bedeutung der Zeitschrift „Sulamith“ in diesem Zusammenhang vgl. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 446–451. 96 Johannes Valentin Schwarz: ‘A New German-Jewish Public Sphere’ – Konzeptionelle Überlegungen zu einer Gesamtgeschichte der jüdischen Presse in Deutschland von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In. Die jüdische Presse. Forschungsmethoden- Erfahrungen – Ergebnisse. Herausgegeben von Susanne Martin-Finnis und Markus Bauer unter Mitarbeit von Markus Winkler. Bremen 2007. S. 39–53. S. 46. Hinsichtlich möglicher Periodisierungen nimmt Schwarz eine Unterteilung in 7 Phasen vor, die eng an Ereignisse aus der Emanzipationsgeschichte oder der allgemeinen deutschen Geschichte geknüpft waren. (Schwarz: Konzeptionelle Überlegungen, S. 47–49). 97 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 442. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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eine spezifische jüdische Teilöffentlichkeit auszubilden. Diese richtete sich an ein Publikum, das bereits bürgerlich war oder werden wollte, sich in seinem Selbstverständnis keinesfalls auf eine jüdische Öffentlichkeit beschränken wollte98 und auf diesem Wege auch eine genuine “sub-culture” ausbilden konnte. Es sei jedoch, so Lässig, klar, dass am Beginn „der deutsch-jüdischen Publizistik […] der Versuch [stehe], die Entwicklung neuer Handlungsmuster und Mentalitätsstrukturen über die Konstruktion von jüdischen Traditionen und damit über vermeintlich vertraute Muster kollektiver Identität zu vermitteln.“99 Der Prozess der Emanzipation der Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der damit einhergehenden Transformation traditionellen Judentums in eine stärker individuelle Definition von deutschen Juden kann jedoch nicht hinreichend mit den Vorstellungen einer einseitigen Akzeptanz von Aufforderungen nach Reform des Judentums interpretiert werden. Forderungen, die jedoch von den Juden auch selbst erhoben wurden und teilweise über die der Christen hinausgingen.100 Die Redakteure und Autoren der beiden ersten jüdischen Zeitschriften, „Ha-Me’assef “ und „Sulamith“, waren ganz dem Verbesserungsgedanken der Aufklärung verpflichtet, versuchten jedoch ein eigenes Profil auszubilden, das der spezifischen Situation der jüdischen Gemeinschaft an der Schwelle zu einer sich modernisierenden jüdischen Gesellschaft gerecht zu werden versuchte. Die Überlegungen zur bürgerlichen Verbesserung der Juden wurden dabei mit der Forderung nach einem Wandel auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft verknüpft. Die Forderungen nach einer Verbesserung der traditionellen jüdischen Gemeindestruktur und Heranführung der Juden an die Ideale der Aufklärung wurden mit Darstellungen zur iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur verknüpft. Im „Ha-Me’assef “ wurden vornehmlich Marranen, die sich in eine christliche Mehrheitsgesellschaft zu integrieren versuchten, ohne zum Christentum überzutreten, als Vorbilder herangeführt.101 Die Lebensbeschreibungen herausragender iberisch98 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 444. 99 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 447. 100 So forderte Dohm in seiner Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ auch eine vollständige innerjüdische Gerichtsbarkeit unter Beibehaltung des Bannrechts. Diese Einschätzung einer unabhängigen jüdischen Gerichtsbarkeit wurde hingegen von den Maskilim als nicht kompatibel mit den Idealen der Aufklärung angesehen. (Vgl. Schulte: jüdische Aufklärung, S. 38). 101 Für das Verständnis jüdischer Geschichte ist das Selbstverständnis von Marranen von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht die Schnittmenge zwischen Christentum und Judentum zu definieren. Zu diesem Untersuchungsgegenstand ist noch immer grundlegend die Untersuchung von Yosef Haim Yerushalmi: From Spanish Court to Italian Ghetto. Isaac Cardoso, a study in Seventeenth Century Marranism and Jewish Apologetics. Revised Edi78

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sephardischer Persönlichkeiten stellten den vermittelnden Charakter dieser Figuren in den Mittelpunkt. Diese Auseinandersetzung unterscheidet sich von der Interpretation der iberisch-sephardischen Kultur als einer alle Bereiche umschließenden Gegenkultur zum deutschsprachigen Judentum, wie sie insbesondere von der Wissenschaft des Judentums und in der sich ausbildenden jüdischen Historiografie vertreten wurde.102 Es ist jedoch bedeutsam, diese frühe Rezeption der iberischsephardischen Kultur vor dem Hintergrund einer sich ausbildenden deutsch-jüdischen Presselandschaft zu beleuchten, die breitere Zuschauerschichten als zuvor erreichen sollte. Dies galt auch für deutsch-jüdische Zeitschriften und deren Leser. In der Forschung so bezeichnete Secondary Agents erreichten ein Publikum, für die der Gedanke einer Vermittlung zwischen einem traditionellen Verständnis vom Judentum und den Werten einer allgemeinen Kultur von zentraler Bedeutung wurde. Diese Rezeption erfolgte in der „Ha-Me’assef “ in hebräischer, in der „Sulamith“ in deutscher Sprache und markierte somit auch einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Kultur, die ganz in den Verbesserungskontext einzuordnen ist. Die von der christlichen Mehrheitsgesellschaft erhobenen Forderungen an die Juden nach einer Reform des Judentums, um das Judentum mit den Prinzipien von Aufklärung und Nützlichkeit in Verbindung setzen zu können, gehörten hier genauso hinein wie der Umstand, dass diese Forderungen auch von aufgeklärten Juden selbst erhoben worden und die Vorstellungen von Veränderungen teilweise über die der Christen hinausgingen.103 Die Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur unterschied sich innerhalb der Haskalah signifikant von der später erfolgten Auseinandersetzung in der sich ausbildenden Wissenschaft des Judentums im Verlauf des 19. Jahrhunderts. „While the proponents of Sephardi knowledge and education in the seventeenth century found Sepharad in the contemporary West, primarily in Amsterdam, and the proponents of the Wissenschaft des Judentums found it in the medieval ‘Orient’, in the world of alAndalus, the Maskilim developed approaches to Sepharad that were more nuanced and complex than those of the seventeenth century and less informed by ideological

tion Seattle 1981 richtungsweisend. Vgl. zu Cardosa außerdem Yosef Kaplan: From Christianity to Judaism: The story of Isaac Orobio de Castro. Oxford 1989. S. 308–362. 102 Zum Konzept der Gedächtnisorte al-Andalus und Sepharad vgl. Carsten Schapkow: al-Andalus und Sepharad als jüdische Gedächtnisorte im Spiegel der Emanzipation der deutschsprachigen Juden. In: Jenseits des Nationalen. Transversal 1/2004. S. 80–99. 103 So formulierte Dohm in seiner Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ auch eine vollständige innerjüdische Gerichtsbarkeit und freie Religionsausübung unter Beibehaltung des Bannrechts gefordert, was von den Maskilim als nicht kompatibel mit den Idealen der Aufklärung angesehen wurde. Vgl. hierzu auch Schulte: jüdische Aufklärung, S. 38. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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and apologetic concerns than those of the nineteenth century.”104 Das herausragende Element innerhalb dieser Rezeption war auch die Wahrnehmung der Vermittlung eines jüdischen Anteils in die allgemeine nicht jüdische Gesellschaft und Kultur.105 Lebensbeschreibungen berühmter Männer Die Measfim waren vornehmlich daran interessiert, herausragende Vertreter des Judentums und hier insbesondere des sephardischen Judentums als Gesprächspartner für eine christliche Umwelt zu präsentieren. So erschien in der ersten Ausgabe des „Ha-Me’assef “ (1783/84) eine Rubrik mit dem Titel „Biografien berühmter Rabinen und angesehener Männer der Nation”.106 Diese Juden wurden dabei als kulturelle Vermittler wahrgenommen, die kulturelle und pädagogische Konzepte der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft weiterentwickelten oder adaptierten, dabei aber immer Juden blieben. Darüber hinaus wurden im „Ha-Me’assef “ Darstellungen zur hebräischen Poesie und Grammatik neben Artikeln mit philosophischem und moralischem Inhalt, die sich an ein den Ideen der Aufklärung aufgeschlossenes jüdisches Publikum richtete, gedruckt. Die Maskilim orientierten sich besonders an ausgesuchten Figuren des sephardischen Judentums, z. B. Jehuda ha-Levi und Moses Maimonides, um zu verdeutlichen, dass diese der jüdischen Tradition verbunden blieben und trotzdem großen Anteil an der allgemeinen Entwicklung der Kultur und Wissenschaft nehmen konnten.107 104 Andrea Schatz: Returning to Sepharad: Maskilic Reflections on Hebrew in the Diaspora. In: Resianne Fontaine, Andrea Schatz, Irene Zwiep (Ed.): Sepharad in Ashkenaz. Medieval Knowledge and Eigteenth-Century Enlightened Jewish Discouse. Amsterdam 2007. S. 263–277. Hier: S. 264. 105 In diesem Zusammenhang sei auch auf David Ruderrman verwiesen, demzufolge Denker wie Maimonides and Ibn Ezra hinsichtlich ihrer Naturphilosophie nicht mehr auf dem neuesten Stand der Erkenntnis und Forschung jener Zeit standen, sie dennoch rezipiert wurden. (Vgl. David Ruderman: The Impact of Early Modern Jewish Thought on the 18th Century: A Challenge to the Notion of the Sephardic Mysthique. In: Fontaine, Schatz, Zwiep (eds.), Sepharad in Ashkenaz, S. 11–22, hier: S. 20). 106 Ha-Me‘assef 1 (1783/84): Nachricht an das Publikum - Erste Zugabe zu der hebräischen Monatsschrift der Sammler. Januar 1784, S. 20. Zur Bedeutung der Biographik für diese Art der Schreibpraxis Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart 2002. 107 Eine Ausnahme bildet die biografische Darstellung Moses Mendelssohns, der von den Maskilim als die herausragende Figur des zeitgenössischen Judentums gefeiert wurde, der allerdings auch häufig gemeinsam mit Moses Maimonides genannt wurde, wenn besonders aufgeklärte Juden, die dennoch ihrem Judentum treu blieben, genannt werden. Die 80

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Die biografischen Stärken dieser Figuren waren gekennzeichnet durch Aufgeschlossenheit gegenüber säkularen Wissenschaften, ohne die jüdische Tradition abzulegen, sowie eine akzeptierte, wenn nicht sogar herausragende Stellung innerhalb der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Diese Figuren des sephardischen Judentums wurden von den Measfim herangezogen, um ein Vorbild für die zeitgenössischen Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu schaffen. Dabei wurde insbesondere die hohe moralische Integrität jüdischer Persönlichkeiten der Vergangenheit betont. Das Bestreben, die nicht jüdische Umwelt als einen Partner wahrzunehmen, war ein Weg, dies auszudrücken. Der Biograf von Moses Maimonides hob besonders den Umstand hervor, dass dieser neben den Juden – wenn auch teilweise mit erbitterten Widerständen verbunden – auch von der zeitgenössischen islamischen und christlichen gelehrten Welt anerkannt wurde. In diesem Verständnis der Vermittlung erfuhr besonders der Führer der Verwirrten [hebräisch moreh Newuchim] des Maimonides seitens der Measfim eine Würdigung.108 Diese Darstellungen über herausragend verstandene Persönlichkeiten des sephardischen Judentums erfolgten in enger Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen aus der deutschen und europäischen Literatur. Dadurch fand eine Auseinandersetzung statt, die nicht allein aus der jüdischen Geistesgeschichte gespeist, sondern im engen Austausch mit der zeitgenössischen, nicht jüdischen Kultur und Literatur stand. Dabei kam den im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verfassten Biografien in deutscher Sprache und in deutschen Publikationen eine große Bedeu-

einzelnen Hefte, in denen sephardische Biografien vorgestellt werden, sind: Ha-Me’assef 1 (1783/84), S. 38–42, S. 57–61 (Isaak Abravanel); S. 123–127, S. 140–143 ( Joseph Delmedigo); Ha-Me’assef 2 (1784/85), S. 15–16, S. 26–27 (Moses Rafael d’Aguilar); Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 19–27, S. 35–47 (Moses Maimonides); Ha-Me’assef 4 (1787/88), S. 167– 172 (Menasseh ben Israel); S. 219–233 (Isaak Orobio di Castro); S. 297–301 ( Jadob Jehuda Leon). Ich danke Dirk Sadowski für die Bereitstellung seiner Magister-Arbeit und die damit einhergehenden Gespräche. Vgl. Dirk Sadowski: Geschichtsbewusstsein und historisches Selbstverständnis der Haskalah in Deutschland. Biographik und Historie im Ha-Me’assef 1783–1790. Berlin 1997. Zeitlin wies auf den Umstand hin, dass Maimonides auch im ägptischen Exil sich immer als Spanier verstanden habe. “Although Maimonides occupied a very high position in Egypt as a physican at court, he still remained a Spaniard and always signed his name, Moses the Spaniard. His entire education was Spanish.” (Vgl. Zeitlin: Religious and Secular Leadership, S. 51) 108 Vgl. Friedrich Niewöhner: Jenseits und Zukunft. Über eine Differenz im 12. Jahrhundert. In: Eveline Goodman-Thau (Hg.): Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte. Berlin 1997. S. 61–69. Hier: S. 64. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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tung zu.109 Hier spielten nicht nur die Biografien von Deutschen aus der Vergangenheit eine Rolle, es wurden ausdrücklich auch Persönlichkeiten aus anderen Ländern, z. B. Plutarch, Hannibal, Titus oder Christine von Schweden, aufgenommen. Unter den deutschen Gelehrten wurden beispielsweise Christian Thomasius und Philipp Jacob Spener behandelt. Diese Biografien würdigten insbesondere die aufgeklärten Tugenden dieser Persönlichkeiten und dienten auch zur Vermittlung aufgeklärten Gedankengutes an die Leser. Die Konzentration auf das einzelne Lebensschicksal ermöglichte es, in der Abbildung auf das gesellschaftliche Ganze zu zielen und somit aufklärend oder erzieherisch tätig zu werden. Dies zeigte sich insbesondere in den Biografien, die Herder gemeinsam mit Wieland im „Deutschen Merkur“ von 1776 bis 1781 veröffentlichte. Auch in seinen „Briefen zur Beförderung der Humanität“, verfasst von 1791 bis 1797, wurden biografische Arbeiten aufgenommen. Herder und Wieland orientierten sich in ihren Arbeiten für den „Deutschen Merkur“ an Humanisten des 16. Jahrhunderts, z. B. Erasmus von Rotterdam, Kopernikus, Agrippa von Nettersheim, Paracelus oder Reuchlin. Diese instrumentalisierten sie, um deren Leben für die Ziele der Aufklärung zu nutzen.110 Für die jüdischen Leser waren es hingegen Persönlichkeiten aus dem Judentum, die als kompatibel mit den Zielen der jüdischen Aufklärung in Deutschland herangezogen werden konnten. In der Haggada waren bereits Darstellungen zur Biografie und zum Charakter einzelner Rabbiner enthalten, doch waren diese häufig legendenhaft ausgeschmückt und können nicht historisch ‚objektiv‘ ausgewertet werden. Anders verhielt es sich mit Vertretern des sephardischen Judentums. Diese wurden von den Maskilim in ihrer Wirksamkeit verstärkt, um deutlich zu machen, dass es jenseits des zeitgenössischen aschkenasischen Judentums, das man in erster Linie als ein rabbinisches Judentum wahrnahm und kritisierte, eine Form von Judentum gab, das als Vorbild fungieren konnte, wenn es darum ging, ein aufgeklärtes Judentum in der nahen Zukunft zu schaffen. In der Zeitschrift „Ha Me’assef “ wurden also die Biografien bedeutender Persönlichkeiten des zumeist sephardischen Judentums neben Beiträgen zur hebräischen Poesie und Grammatik sowie Darstellungen zur Philosophie und Moral abgedruckt. Im Zeitraum vom Herbst 1783 bis zum Sommer 1788 erschienen insgesamt acht Biografien. Die Biografien dieser sephardischen Autoritäten enthielten immer auch eine Kritik am rabbinischen Establishment. Sadowski verdeutlichte, dass dies auch durch 109 Vgl. u.  a. Johann Matthias Schröckh: Allgemeine Biographie. 8 Teile. Berlin 1767–1791. Gottlob Benedict von Schirach: Biographie der Deutschen. 6 Teile. Halle 1770–1774. Anton (Edler von) Klein: Leben und Bildnisse der großen Deutschen, von verschiedenen Verfassern und Künstlern. 5 Bde. Mannheim 1785–1805. 110 Sadowski: Geschichtsbewusstsein, S. 52. 82

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Verschweigen erfolgte, z. B. als „die Biografie eines der berühmtesten Vertreter des mittelalterlichen aschkenasischen Judentums, des Verfassers des normativen TalmudKommentars, Salomo ben Isaak aus Troyes (RaSCHI, ca. 1040–1105), nicht im „Ha-Me’assef “ erschien.“111 Insbesondere die Dominanz des Talmud-Studiums bei gleichzeitiger Vernachlässigung des Studiums der hebräischen Bibel bei den polnischen Juden wurde von den Maskilim kritisiert. Diese Dominanz konnte sich im sephardischen Judentum nicht ausbilden. „Indem sich die Maskilim auf Vorbilder stützten, die einem ‚aufgeklärten’ sephardischen Judentum entnommen waren, stellten sie sich selbst und ihre Erneuerungsbewegung in einen historischen Zusammenhang, der außerhalb der Geschichte des aschkenasischen Judentums lag und dem Traditionsverständnis ihrer rabbinischen Gegner widersprach.“112 Dennoch waren diese sephardischen Vorbilder auch aufgrund ihrer Frömmigkeit für die Maskilim wichtig. Die kontinuierliche Reihung einer Tradition im sephardischen Judentum war konstruiert bzw. sie beruhte auf einer bewussten Imagination, an deren Ende die jüdischen Aufklärer selbst zu stehen glaubten. Erst dadurch konnte ein Gegengewicht zum rabbinischen Judentum etabliert werden. Neben Moses Maimonides wurden auch Isaak Abrabanel, Joseph Delmedigo, Orobio de Castro und Menasseh ben Israel als sephardische Persönlichkeiten vorgestellt und diskutiert. Für die Rezeption und das erwachende Selbstverständnis der Maskilim war diese Reihung von Tradition von großer Bedeutung.113 Es erfolgte eine Aneignung von jüdischer Geschichte, die in den Worten Michael A. Meyers eine eigene und eine fremde zugleich war.114 Die Darstellung der sephardischen Juden als „edle Juden“ ging zudem mit der Zuweisung einer Modellfunktion einher, die den deutschen Juden als Vorbild für 111 Sadowski: Geschichtsbewusstsein, S. 70. 112 Sadowski: Geschichtsbewusstsein, S. 71. 113 Shmuel Feiner: Haskalah and History. The Emergence of a Modern Jewish Awareness of the Past. Jerusalem 1995. Vgl. hierzu auch Sadowskis Unterscheidung von Thora sche-be-al pe, der mündlichen Lehre der rabbinischen Tradition, und Thorat ha-adam, der aufklärerischuniversalen „Lehre des Menschen“, wobei an die Stelle des traditionellen Ideals des Thora- und Talmudgelehrten (talmid chacham) das Ideal eines moralisch vollkommenen auf der Grundlage von religiöser und säkularer Bildung modernen Juden getreten sei. (Vgl. Sadowski: Geschichtsbewusstsein, S. 72). 114 “To draw upon Sephardi models meant to widen the past of German bringing to awareness figures very different from the prominent rabbinical authorities, whose names made up the chain of tradition. Creating a new tradition of the religious but worldly required shifting its course away from the most immediate, to a more distant channel.” (Michael A. Meyer: The Emergence of Jewish Historiography. Motives and Motifs. In: Ada Rapoport Albert (ed.), Essays in Jewish Historiography. Middletown 1988 (History and Theory, Beiheft 27). S. 160–175. Hier: S. 162). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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die angestrebte Emanzipation und einer damit einhergehenden Integration in die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft diente. Die Measfim räumten den Großen Israels breiten Raum ein, neben Maimonides und Mendelssohn (in der Biografie von Euchel) wurden weitere sephardische Juden vorgestellt.115 Sie hatten sich an ausgewählten sephardischen Juden als „jüdischen Figuren (Typen) der Vergangenheit [orientiert], in denen sie säkularisierte Heroen sahen, die sie typisierten, um sich dann mit ihnen identifizieren zu können.“116 Diese jüdischen Helden, z. B. Jehuda Halevi und Moses Maimonides, galten als maßgebliches Vorbild für eine innerjüdische Reform, verbunden mit einer scharfen Ablehnung gegenüber dem traditionellen rabbinischen Judentum.117 Diese „biografische Imagination“ ( James Lehmann) präsentierte die historisch-biografische Authentizität der hier als Vorbild abgebildeten Helden für den Zweck, diese als vergangene Garanten für die sich nun vollziehende jüdische Aufklärung und besonders für eine moderne Erziehung einzusetzen. Auch in nicht ausschließlich biografischen Abhandlungen hinterließ dies Spuren. So setzte sich auch David Friedländer mit der Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel auseinander. In seinem „Lesebuch für jüdische Kinder“ aus dem Jahre 1779 definierte Friedländer das Judentum als universalistische Religion, indem er sich auf ausgesuchte exemplarische Figuren des sephardischen Judentums, z. B. Jehuda Halevi und Moses Maimonides, konzentrierte und an ihnen eine Vorbildfunktion für die Emanzipation in Deutschland ausrichtete. In seinen „Akten-Stücken“ untersuchte er 1793 die rechtliche Stellung der Juden und regte einen Vergleich der Verhältnisse in Deutschland mit den Geschehnissen auf der Iberischen Halbinsel an.118 Ebenso in seinem Gutachten aus dem Jahre 1819 „Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Polen“ setzte Friedländer das Verbesserungskonzept der Aufklärung bezogen auf die Situation der Juden in Polen ein, wobei er auch hier auf die iberisch-sephardische Geschichte verwies.119 Die Biografien religiöser Autoritäten vornehmlich aus Aschkenas wurden hingegen auch nicht in geschönter Form im „Ha-Me’assef abgedruckt. Dies war bei 115 U. a. auch Isaak Abravanel (1437–1508), vgl. Ha-Me‘asef 1 (1783/84), S. 38–42; S. 57–61. Vgl. Benzion Netanyahu: Don Isaac Abranval. Statesman and Philosopher. Philadelphia 1968. 116 Friedrich Niewöhner: Vom Elend der Aufklärung. Jüdische Philosophiegeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte. Beiheft  10. Walter Grab (Hg.): Juden in der deutschen Wissenschaft. Tel Aviv 1985. S. 55. 117 David Friedländer: Akten-Stücke, die Reform der jüdischen Kolonien in den Preußischen Staaten betreffend. Berlin 1793. Hier bes.: S. 152–153. 118 Friedländer: Akten-Stücke. 119 David Friedländer: Über die Verbesserung der Israeliten im Königreich Polen: ein von der Regierung daselbst im Jahre 1816 abgefordertes Gutachten. Berlin 1819. 84

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der Biografie Isaak Abravanels noch geschehen, wenn hier dessen herausragende politische Funktion auf der Grundlage seiner breiten säkularen Bildung unter Auslassung seiner religiös-messianischen Schriften diskutiert wurde. Insbesondere Isaak Abravanels religiöse Standhaftigkeit, nicht zum Christentum zu konvertieren, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Neben der religiösen Standhaftigkeit war es den Maskilim grundsätzlich wichtig, auf die Nützlichkeit der kulturellen Leistungen der Sephardim für ganz Europa zu verweisen. Diese Fähigkeit, so die Maskilim, zeige sich auch im gegenwärtigen Dialog mit den christlichen oder so verstandenen deistischen Vertretern der Aufklärung.120 Am Beispiel Baruch Spinozas lässt sich diese Tendenz eindrücklich nachweisen. Dessen sephardische Identität wurde mit einem säkularen Potenzial aufgeladen, das sowohl von Juden als auch von Christen herangezogen wurde, um sicherzustellen, dass Spinozas Philosophie ein Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte darstellte.121 Für das Verständnis der Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur am Beispiel herausragender Persönlichkeiten folgt an dieser Stelle die Analyse von Moses Maimonides und Menasseh ben Israel. Moses Maimonides Nur vergleichbar mit der jüdischen Kultur zur Zeit der griechischsprachigen Diaspora, existierte eine vollkommene Durchdringung jüdischer Lebenswelten durch die Lebenswelt des Islam. Das Arabische war für die Juden in Spanien die allgemeine Kultur- und Handelssprache, in der sie auch philosophische, medizinische oder astronomische Werke und schöngeistige Dichtungen verfassten. Vor diesem Hintergrund muss die Figur des Moses Maimonides und dessen Idealisierung durch die Maskilim untersucht werden. Moses Maimonides, nach den hebräischen Anfangsbuchstaben auch Rabbi Moses ben Maimon, Rambam (1135–1205) genannt, ist neben seinem philosophischen Vermächtnis122 bis in unser Jahrhundert hinein als religiöse Autorität von Bedeutung. Maimonides wurde in Córdoba geboren, wo 120 Zur Überschneidung von Judentum und einem Christentum in protestantischer und katholischer Ausrichtung, die gleichzeitig einen sehr schwierigen Dialog beschrieb vgl. Jeffrey S. Librett: The Rhetoric of Cultural Dialogue: Jews and Germans from Moses Mendelssohn to Richard Wagner and Beyond. Stanford 2000. Hier bes.: S. 43–99. 121 Zu diesem Gegenstand vgl. Adam Sutcliffe: From Moses Unto Moses: Thinking with Spinoza from Moses Mendelssohn to Moses Hess. In: Leipziger Beiträge für jüdische Geschichte und Kultur. Band II (2004). München 2004. S. 1–20. Hier: S. 7. Carsten Schapkow: Die Freiheit zu philosophieren. Bielefeld 2001. 122 Zur Bedeutung des Maimonides als Philosoph vgl. Howard Kreisel: Maimonides. In: History of Jewish Philosophie. S. 245-280. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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er zuerst durch seinen Vater Maimon ben Josef Unterricht im Talmud und der Mathematik erhielt. Später wurde er von arabischen Lehrern in Philosophie und den Naturwissenschaften unterrichtet. Maimonides war dreizehn Jahre alt, als Andulusien und Córdoba 1148 von den Almohaden erobert wurde und die vergleichsweise tolerante Herrschaft der Almoraviden beendete. Die radikalen religiöse Positionen der Almohaden führten dazu, dass Nichtmuslime entweder zum Islam konvertieren mussten oder zur Emigration gezwungen wurden. Daher entschloss sich auch die Familie des Maimonides zur Auswanderung und sie ließen sich gegen 1160 im marrokanischen Fez nieder. Doch auch dort herrschten bereits die Almohaden und die Juden konnten nicht frei ihrem religiösen Bekenntnis folgen und wurden gezwungen, die Moscheen zu besuchen. In Fez stand Maimonides im engen Kontakt mit moslemischen Ärzten und Philosophen und begann hier an seinem Kommentar zur Mischnah zu arbeiten. Im Jahre 1160 verfasste Maimonides ein Schreiben in arabischer Sprache („Igeret haShamed“) an die durch einen aggressiven Islam bedrohten jüdischen Gemeinden in Spanien, in welchem er die Juden dort zum Verbleib im Judentum aufforderte und von ihnen die Einhaltung der jüdischen Riten und Bräuche forderte. Maimonides selbst sollte das Schicksal einer weiteren Emigration ereilen, als er mit seiner Familie im Jahre 1165 Marokko verließ, um nach Palästina auszuwandern, sich dann allerdings in Fostat, einem Vorort von Kairo, als Arzt niederließ. In Ägypten waren die Juden unter der Regentschaft des Sultan Saladin (1137/38–1193), dem Eroberer Jerusalems, geschützt. Hier trat Maimonides auch mit seinen öffentlichen philosophischen Vorträgen in Erscheinung. Im Jahre 1168 vollendete er seinen Kommentar zur Mischnah in arabischer Sprache, was ihn zu einer rabbinischen Autorität machte. In diesem Kommentar wurden auch die dreizehn Glaubensartikel des Judentums, die Iqqarin, als zentrale Grundlage des jüdischen Glaubens, die sich bis zum heutigen Tag in den Gebetbüchern niederschlägt, festgehalten.123 Eine Kodifizierung des jüdischen Gesetzes nach ethischen und philosophischen Prinzipien zu einem organischen Ganzen nahm Maimonides in der 1180 vollendeten Mischneh Thora vor. Diese Arbeit machte ihn endgültig zu einer uneingeschränkten Autorität.124 In diesen Jahren großer geistiger Arbeit praktizierte Maimonides weiterhin als Arzt und wurde schließlich sogar Leibarzt des Sultan Saladin, setzte aber auch seine Studien in Philosophie und den Naturwissenschaften fort. Die Wirkung Maimonides’ zeigte sich durch die Rezeption seiner Werke, die sich in vehemente Befürworter und ebensolche Gegner spaltete. Die Gegner im or123 Sidur Sefat Emet. Mit deutscher Übersetzung von Rabbiner Dr. S. Bamberger. Basel 1987. S. 78–79. 124 Aron Sandler: Maimonides. In: Jüdisches Lexikon. Band III. S. 1306–1310. Hier: S. 1308. 86

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thodoxen Judentum erachteten insbesondere das Studium des More Newuchim aus dem Jahre 1190 als eine Gefahr für die religiösen Fundamente des Judentums. Diese Schrift war ursprünglich nur für einen kleinen Kreis von Schülern verfasst worden, um diesen aus ihrer Verwirrung zu helfen, philosophische Bildung und traditionelles jüdisches Religionsverständnis in Einklang zu bringen.125 Maimonides schrieb den More Newuchim ebenfalls auf Arabisch, dieser wurde jedoch noch zu seinen Lebzeiten durch Samuel ibn Tibbon (1160–1230) ins Hebräische übersetzt. Bereits vor dem More Newuchim hatte Maimonides in seinen talmudischen Werken philosophische Fragestellungen behandelt. Einer der Grundsätze des Judentums, dass die Frommen aller Völker Anteil an der kommenden Welt haben werden, kodifizierte Maimonides bereits in seiner Mischneh Thora. Diese Überlegungen wurden dann im More Newuchim zum Leitfaden der Darstellung.126 Als Philosoph war Maimonides daran interessiert, aristotelische Philosophie und Offenbarungsreligion miteinander in Einklang zu bringen. Reichtum, Gesundheit und Tugend waren die Voraussetzung für Wissen und Erkenntnis, die letztendlich der Endzweck allen Lebens ausbilde. Das philosophische Wissen sollte auf der Grundlage der 613 Gesetze des Judentums den weisen Philosophen ausbilden.127 Maimonides’ Vorstellung von Gott war geprägt von dem Wunsch nach einer objektiven Darstellung bzw. Vorstellung Gottes ohne mystische Verklärungen, indem er den Wortsinn der Bibel allegorisch ausleuchtete. Philosophische Bildung war bei Maimonides gleichzusetzen mit der Philosophie überhaupt: der Philosophie des Aristoteles.128 Es war für Maimonides ein zentrales Anliegen, philosophisches Wissen mit 125 „Es will denen ein Führer sein, die durch die scheinbaren Widersprüche zwischen den Lehren der Philosophie und den nach ihrem Wortlaut verstandenen Lehrer der Bibel in ihrem Glauben schwankend und unsicher geworden sind. Es ist somit für einen Leserkreis bestimmt, dem die Lehren der Philosophie, d. h. das aristotelische System nach der Auffassung seiner arabischen Ausleger, bereits bekannt sind, und wiederholt dieses System nicht, sondern erörtert nur die Fragen, in denen es eines Ausgleichs mit den Anschauungen des Judentums bedarf.” ( Julius Guttmann: Maimonides als Philosoph. In: Jüdisches Lexikon. Band III. S. 1309-1324. Hier: S. 1312). 126 Moses ben Maimon: Führer der Unschlüssigen. Übersetzung und Kommentar von Adolf Weiss. Mit einer Einleitung von Johann Maier. Erstes Buch. Hamburg 1972. S. XXXV. 127 Friedrich Niewöhner: Maimonides. Aufklärung und Toleranz im Mittelalter. Heidelberg 1988. S. 23. 128 Maimonides setzt zwei Punkte für das Verhältnis von Religion und Philosophie miteinander in Verbindung: „1. die Möglichkeit der Aussagen über Gott und damit seiner Beziehung zur Welt und zum Menschen, insbesondere im Verhältnis zu den biblischen Aussagen, 2. die Frage, wie der erste Punkt eine Begründung der traditionellen jüdischen Religiosität erlaubt.” (Maimonides: Führer, S. LIV). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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den Grundlagen des Glaubens zu verbinden. Dies gelang auf der Grundlage einer Theologia Negativa, die jede Möglichkeit zur objektiven Erkenntnis und zum Beweis eines Gottbegriffs bestreitet und somit positives Gotterkennen möglich macht. In der Philosophie des Islam hatte sich die Hinwendung zum Aristotelismus und einer Abkehr vom Neuplatonismus bereits im 10. Jahrhundert durchgesetzt, während dies für das Judentum erst im 12. Jahrhundert durch Abraham ibn Daud (1110–1180) geschah.129 „Die außerordentliche Bedeutung der Philosophie des Maimonides liegt darin, dass sie das aristotelische System in der jüdischen Philosophie zur Herrschaft gebracht.“130 Diese Hinwendung zum Aristotelismus brach auch mit der bislang im Judentum vorherrschenden Ausrichtung auf den Neu-Platonismus, auch wenn Maimonides die Kommentare der Neu-Platoniker durchaus schätzte. Es war jedoch Maimonides’ Bestreben, sein religionsphilosophisches System in Ausgleich mit der talmudisch gedachten Religiosität des Judentums zu setzen.131 Mit der großen Masse der Nichtwissenden möchte sich Maimonides im More Newuchim nicht auseinandersetzen, er spart diese sogar explizit aus: „Und dies ist die große Masse, mit welcher uns zu befassen in diesem Buche kein Anlass ist. [...] Ihnen bleibt die Wahrheit gänzlich verborgen, ungeachtet der Stärke ihres Erscheinens, und von ihnen wird gesagt: ‚Sie sehen das Licht nicht, welches hell am Firmament leuchtet‘ (Hiob, 36,21).“132 Die möglichen Leser des More Newuchim sollten ein Interesse daran haben, in schwierigen Zeiten in der Schrift Rat zu suchen.133 Die nur wenige Jahre später angefertigte Übersetzung des More Newuchim ins Hebräische durch Samuel ibn Tibbon bildete aufgrund der Leichtigkeit des Stils wiederum die Grundlage für die lateinische Übersetzung. Die Begründer der aristotelischen Schule unter den Scholastikern, allen voran Albertus Magnus, Thomas von Aquino und deren Schüler,134 rezipierten die lateinische Übersetzung im 13. und 14. Jahrhundert insbesondere bezüglich Fragen zur Ewigkeit, zu den Umständen der Erschaffung der 129 Norbert M. Samuelson: Medieval Jewish Aristotelianism: an Introduction. In: History of Jewish Philosophy. S. 228–244. 130 Guttmann: Maimonides, S. 1313. 131 „Es gibt also grundsätzlich eine Wahrheit, ein Erkenntnisziel, eine Offenbarung für alle, doch der Erkenntnisstand ist verschieden.“ (Maimonides: Führer, S. XIX). 132 Maimonides: Führer, S. 9. 133 „Ich weiß wohl, dass jeder Anhänger, auch wenn er von der Philosophie keine Kenntnis hat, von einigen Kapiteln dieses Buches Nutzen haben wird; hingegen wird der als Mensch Vollkommene und der Religion Kundige, der, wie ich sage, in Ratlosigkeit befangen ist, aus allen seinen Kapiteln Nutzen empfangen und sich gewiss sehr daran erfreuen und ergötzen.” (Maimonides: Führer, S. 19). 134 Vgl. zu dieser Beeinflussung insbesondere Alexander Broadie: Maimonides and Aquinas. In: History of Jewish Philosophie. S. 281–293. 88

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Welt sowie zum besseren Verständnis des göttlichen Wissens.135 Es bleibt festzuhalten, dass im christlichen Europa die aristotelischen Schriften bis zu dieser Zeit nur teilweise bekannt waren. Erst durch die von Juden getätigten Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische fanden diese Schriften auch im christlichen Europa Beachtung. Dieser Umstand verdeutlicht exemplarisch die Bedeutung eines jüdischen Anteils an der Geistesgeschichte Europas, teils durch die Vermittlung von Wissen, in diesem Fall durch die Übersetzungsleistung, teils durch Maimonides selbst, der die Philosophie des Griechen Aristoteles in sein eigenes Werk einfließen ließ. Moses Maimonides Rezeption in der Haskalah Die jüdischen Aufklärer im späten 18. Jahrhundert maßen dem Werk Maimonides besonderen Wert zu, weil sie hier eine ideale Verbindung von Judentum mit nicht jüdischer Philosophie – hier ganz konkret der aristotelischen – nachweisen konnten.136 Die Schriften Maimonides’ bildeten wichtiges Material für das eigene Programm der jüdischen Aufklärung, die jüdische Gesellschaft einer Reform zu unterziehen.137 Zur Bedeutung dieser Legitimationslinie verwies Amos Funkenstein auf den Aspekt der Teilhabe an der allgemeinen kulturellen Entwicklung und machte klar, dass sich die jüdische Aufklärung ambivalent zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie verhalten habe.138 135 Jakob Guttmann: Die Scholastik des 13. Jahrhunderts in ihren Beziehungen zum Judentum und zur jüdischen Literatur. o. O. 1902. Jakob Guttmann: Das Verhältnis des Thomas von Aquino zum Judentum und zur jüdischen Literatur. o. O. 1891. Manuel Joel: Das Verhältnis Albert des Großen zu Maimonides. o. O. 1863. 136 Vgl. James H. Lehmann: Maimonides, Mendelssohn and the Me’asfim. Philosophy and the Biographical Imagination in the Early Haskala. In: LBI Yearbook 20 (1975). S. 87–108. „In ihren Augen enthielten diese Schriften [des Maimonides, C. S.] aufklärerischen Inhalt. Sie hatten ihre Aktualität noch nicht eingebüßt, und viele der Aufklärer der ersten Generation bemühten sich eben darum, die religionsphilosophischen Schriften des Mittelalters neu herauszugeben, neu zu kommentieren und gemeinverständlich zu paraphrasieren.“ (Amos Funkenstein: Das Verhältnis der jüdischen Aufklärung zur mittelalterlichen Philosophie. In: Aufklärung und Haskala in jüdischer und nicht jüdischer Sicht. Herausgegeben von Karlfried Gründer und Nathan Rothenstreich. Heidelberg 1990. S. 13–20. Hier: S. 17). 137 „In ihren Augen enthielten diese Schriften aufklärerischen Inhalt. Sie hatten ihre Aktualität noch nicht eingebüßt, und viele der Aufklärer der ersten Generationen bemühten sich eben darum, die religionsphilosophischen Schriften des Mittelalters neu herauszugeben, neu zu kommentieren und gemeinverständlich zu paraphrasieren.“ (Funkenstein: Verhältnis, S. 17). 138 „Weil also der Maskil die mittelalterlichen jüdischen Traditionen bejahte, konnte er von ihnen ein weitaus nuancierteres Bild zeichnen als jeder andere europäische Aufklärer, ohne Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Zwei herausragende Maskilim setzten sich insbesondere mit Maimonides auseinander: Bereits 1761 verfasste Moses Mendelssohn einen hebräischen Kommentar zu den Milot ha-higajon („Logik des Maimonides“). Ferner fertigte Salomon Maimon im Auftrag der Herausgeber der Zeitschrift „Ha-Me‘assef “ einen Kommentar zum More Newuchim mit dem Titel Giv’ at ha-more („Anhöhe des Lehrers“), der in Teilen in der Zeitschrift 1787/88 erschien. Maimon hatte sich in seiner Autobiografie besonders eindringlich mit Maimonides auseinandergesetzt und sich mit diesem in einem so hohen Maße identifiziert, dass er dessen Namen annahm und aus Ben-Joshua Salomon Maimon wurde. Die Vorbildfunktion des Moses Maimonides stand bei Maimon einem als rückständig verstandenen polnisch-jüdischen Milieu und dessen Erziehungssystem gegenüber.139 Die Rezeption des Maimonides bei Vertretern der Secondary Agents unter den Maskilim verdeutlicht, welche Aspekte des Lebens und des Werkes von Maimonides herausgestellt und welche ignoriert wurden. Die Lebensbeschreibung Moses Maimonides’ von Simon Baras mit 20 Seiten und Isaak Euchels Mendelssohn-Biografie mit 124 Seiten stellten dabei eindeutig die umfangreichsten Abhandlungen in der Zeitschrift „Ha-Me’assef “ dar, während die verbleibenden sechs Biografien zwischen vier und sechs Seiten einnahmen. In der Maimonides-Biografie des 1787 verstorbenen Simon Baras, auch Simon ben Secharja genannt, fungierte Maimonides als ideale Verkörperung eines aufgeklärten Juden, der zudem als Pionier für Reformen im zeitgenössischen Judentum angesehen wurde. Maimonides habe erkannt, so Baras, „dass bei all der Mühsal und dem Hin- und Herirren, wie es mit unserer Nation geschieht, die Thora vergessen wird, die Wissenschaften verloren gehen und die Lehren der Moral und der Religion verfälscht werden.“140 Die der Lehre des Maimonides innewohnende Diskrepanz zwischen der Masse und der Elite stellte die Maskilim vor nicht geringe Probleme. Maimonides widersprach, wie gezeigt wurde, der Ansicht, dass alle Menschen die Befähigung zum Studium der Philosophie hätten. Für ihn war jedoch jeder Mensch verpflichtet, religiöse Erkenntnis durch das Studium der relevanten religiösen Schriften zu erlangen. Eine aktive Teilhabe am politischen Leben war für Maimonides hingegen nicht erstrebenswert. Sein Biograf sich mit ihren Inhalten ganz zu identifizieren. Die Ambivalenz der jüdischen Aufklärung gegenüber der mittelalterlichen Philosophie machte es dem jüdischen Maskil auch leichter als jedem anderen Aufklärer, der Ambivalenz der eigenen Aufklärungsbegriffs gewahr zu werden.“ (Funkenstein: Verhältnis, S. 20). 139 Ha-Me‘assef 4 (1787/88), S. 243–262. Der Kommentar erschien in Buchform 1791 in Berlin. Vgl. außerdem Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt. Zwi Batscha (Hg.). München 1984. Außerdem vgl. hierzu Schapkow: Spinoza, S. 88–89. 140 Simon Baras: Maimonides, in: Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 20. 90

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in der „Ha-Me’assef “ musste, um Maimonides für die Maskilim und deren Überzeugungen nutzbar zu machen, verschiedene Veränderungen an den inhaltlichen Aussagen des Philosophen vornehmen, um diesen als Vorbild wirklich nutzen zu können. Wie James Lehmann nachwies, griff Simon Baras in den Verweisen auf Maimonides’ Einleitung zum Mischnah-Kommentar redaktionell in der Form ein, dass er Maimonides’ Text aufgeklärte, zeitgenössische Ideen hinzufügte.141 Maimonides wurde in der Biografie als jemand verstanden, der die jüdische Gemeinschaft zusammenhielt und nach Aufklärung streben ließ. Diese Einordnung erhielt durch seine Kritik am traditionellen Thora- bzw. Talmud-Gelehrten zusätzliche Aktualität und Schärfe, wenn es als Ermahnung an die Leser heißt: „Versteht die Worte des Weisen des richtig, ihr, die ihr wollt, dass alle eure Söhne weise, verständig und gelehrt sind, und kein Handwerk oder andere nützliche Kenntnisse zu ihrer Erlernung sich aneignen sollen; sie alle sollen in ihren Zimmern eingeschlossen bleiben […]: welch ein böses Übel.“142 Es sei also notwendig, jenseits des religiösen Studiums praktische Kenntnisse zu erwerben und anzuwenden, ganz so wie es Maimonides als Arzt getan habe. Somit fungierte Maimonides als eine Figur innerhalb der jüdischen Geschichte, die für die Gegenwart idealisiert wurde und darüber hinaus bei der Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls unter den zeitgenössischen Juden als Vorbild herangezogen wurde – ganz entgegen den tatsächlich für eine jüdische Elite formulierten Gedanken des historischen Maimonides. So hob der Biograf Baras insbesondere den Umstand hervor, dass Maimonides – ohne zum Islam überzutreten – von der zeitgenössischen islamisch gelehrten Umwelt und später auch von christlichen Gelehrten anerkennt wurde. Dies ließ ihn als einen europäischen Philosophen erscheinen, der zudem Aristoteles wieder in den europäischen Wissenschaftskanon zurückgeführt habe. Die Gegnerschaft der orthodoxen Juden gegenüber Maimonides wurde zusammen mit der zeitgenössischen orthodoxen Kritik an einer Reform im Judentum adressiert: „Aber wie es geschieht, dass in jeder Generation Männer ohne Ruf sich gegen uns erheben und uns zu vernichten suchen, so erhoben sich auch in seinen Tagen Männer des Trotzes, die sich weise und vernünftig wähnten; und in ihrer Vermessenheit und ihrem Stolz legten sie vor dem Volk aus: vor jenen Törichten, die ihren Worten ohne Prüfung Glauben schenkten; und sie machten den Namen jenes Weisen vor ihnen schlecht, häuften Makel und üble Nachrede auf ihn, wendeten das Süße ins Bittere und das Helle ins Dunkle, und seine Worte, die in Wahrheit und Einfalt gesagt waren, kehrten sie in sinnlosen Spott und Trugrede.“143

141 Lehmann: Maimonides, Mendelssohn and the Me’asfim, S. 98f. 142 Simon Baras: Maimonides. In: Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 23. 143 Simon Baras: Maimonides. In: Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 20. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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In diesem Zusammenhang thematisierte Baras auch die Auseinandersetzungen um Maimonides’ Werk im so genannten Maimonides-Streit, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die jüdischen Gemeinden in Spanien und Südfrankreich beschäftigte. Anlass für den Streit war die Kritik an Maimonides’ philosophisch-allegorischem Verständnis der Bibel und seine intensive Auseinandersetzung mit Vertretern der griechisch-arabischen Philosophie. Diese Kritik mündete in der Verhängung des Banns gegen die philosophischen Schriften des Maimonides. Allerdings ging Baras in seiner Darstellung nicht auf die zeitlichen Abläufe ein und der Leser gewinnt dadurch den Eindruck, Maimonides habe selbst noch aktiv Anteil an diesen Auseinandersetzungen genommen, was nicht der Fall war. „Aber die Quelle der Eifersucht und des Hasses waren die Bücher ‚Führer der Verwirrten‘ und ‚Das Buch der Erkenntnis’, die er verfasst hatte; so schrieb man eine Anklage gegen ihn, und die Auseinandersetzungen nahmen zu, da man ihn für einen Epikoros hielt.”144 Man hielt Maimonides also für einen Epikuräer, was hier mit Freigeist oder Ketzer zu übersetzen ist. Tatsächlich zerbrachen diese Vorwürfe jedoch nicht zuletzt an der lauteren Persönlichkeit des Maimonides. „Aus allen Worten des Gebildeten [Maskil] geht hervor, dass er vollkommen und aufrichtig war, dieser Mann Moses, und keine Bosheit in ihm. Und in ihm sind alle Tugenden und Vorzüge versammelt, die die Weisen aufzählen; er wusste, was man wissen musste, und er tat, was zu tun angebracht war, seine Taten waren mit seinen Gedanken wunderbar vereinigt, und seine Worte bezeugen die Aufrichtigkeit seines Herzens, in das das Abbild der Vollkommenheit graviert war und die Befähigung zur Tat, zur Weisheit und zur Aufrichtigkeit!“145

Diese Eigenschaften erfuhren durch den Umstand, dass Maimonides auch von christlichen Gelehrten rezipiert wurde, noch eine besondere Wertschätzung. Baras zitierte aus der Einleitung zur lateinischen Übersetzung des „Buches der Erkenntnis“, wenn es hier heißt: Jenes Buch des Maimonides verdiene es „mit vergoldeten Lettern geschrieben zu werden, da es wie ein Granatapfel voll von Weisheit und Moral“146 sei. In den Augen der Maskilim war Maimonides eine überragende Figur, deren intellektuelle Erscheinung und Leistungen für die zeitgenössischen Juden von wegweisender Bedeutung seien. „Schließlich stellen wir fest, dass aus allen seinen Büchern, die er verfasste, ersichtlich und offenbar wird, dass er der einzige in seiner Generation war, der den Wundern des Himmels vergleichbar ist, wie sie sich nur einmal in mehreren hundert Jahren ereignen; und weiter sehen wir in ihm eine Wunder-Gestalt, da doch die Kraft des Menschen, viele Wissenschaften 144 Simon Baras: Maimonides. In: Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 39. 145 Simon Baras: Maimonides, in: Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 45. 146 Simon Baras: Maimonides, in: Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 38. 92

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zu erlernen, durch seine Lebensdauer beschränkt und begrenzt ist; und dann haben wir auch schon viele Male gesehen, dass schon in dem Versuch, eine einzige Wissenschaft oder nur einen Teil aus ihren Verzweigungen mit seinen Armen zu umfassen und mit beiden Händen alle Details und ihre Feinheiten aufzunehmen, viel Arbeit und Mühe verborgen ist […]. Und doch hat der RaMBaM so Großes in allen Weisheiten und Wissenschaften und von ihren Grundlagen her geleistet.“147

Menasseh ben Israel Neben Maimonides stellten die Maskilim der ersten Generation mehrheitlich Marranen, die sich in den Niederlanden niedergelassen hatten, ins Zentrum ihrer Darstellungen.148 Die spezifische Rolle der Niederlande und die Rolle des „holländischen Jerusalem“149 nahmen innerhalb der Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur eine wichtige Funktion ein. Sephardische Juden wurden hier als erste „moderne“ Juden verstanden, die beides waren: gesetzestreu lebende Juden und aufgeklärte Bürger in einem modernen Staat.150 Anders als das Vorbild Maimonides, der 147 Simon Baras: Maimonides. In. Ha-Me’assef 3 (1785/86), S. 45. 148 Der Geschichte der Juden in den Niederlanden wurde der 2. Jahrgang der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums gewidmet, der den Titel „Geschichte der Juden in den Niederlanden und niederländischen Kolonien“ trug. 149 Cecil Roth hatte als einer der ersten diese marranische Diaspora als Bestandteil der Geschichte der Juden eingeordnet und dabei die Bezeichnung des “Dutch Jerusalem” benutzt hatte. Vgl. Cecil Roth: A History of the Marranos. London 1932. Ein Überblick findet sich bei Daniel M. Swetschinski: From the Middle Ages to the Golden Age, 1516–1621. In: J.C.H. Blom, R.G. Fuks-Mansfeld, I. Schöffer (Eds.): The History of the Jews in the Netherlands. Oxford 2002. S. 44–84. Zur Bedeutung der Stadt Amsterdam in der jüdischen Geschichte vgl. Jozeph Michman: Amsterdam. In: Encyclopedia Judaica. Vol. 2. S. 895–904. Dass sich die Geschichte der iberischen Juden besonders auch nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel als migrationgeschichtliches Untersuchungsfeld anbietet, ist in der jüngsten Vergangenheit hinlänglich untersucht worden, insbesondere die Kommunikation zwischen den sephardischen Juden in Amsterdam und London schien der Beachtung wert. (Vgl. zu diesem Untersuchungsfeld Evelyne Oliel-Grausz: A study in intercommunal relations in the Sephardi diaspora: London and Amsterdam in the eigteenth century. In: Dutch Jews as perceived by themselves and by others. Proceedings of the Eight International Symposium on the History of the Jews in the Netherlands. Edited by Chaya Brasz and Yosef Kaplan. Leiden 2001. S. 41–58). Außerdem bedeutsam sind die Studien von Daniel M. Swetschinski: Reluctant Cosmopolitans. The Portuguese Jews of Seventeeth-Century Amsterdam. London 2000 und Jonathan Israel (ed.): Dutch Jewry: its history and secular culture (1500–2000). Leiden 2000. 150 Swetschinski merkt dazu an: “The effort to identify the Portuguese Jews of seventeenthcentury Amsterdam as the first modern Jews has a venerable pedigree; and it has been lent particular force through having initially been made by the other ‘first modern Jews’ themBedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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in einer islamischen Mehrheitsgesellschaft lebte, stellten die calvinistisch regierten Niederlande auch ein aufgeklärtes Christentum dar, wie es sich insbesondere im Spanien der katholischen Inquisition von seiner intolerantesten Seite gezeigt hatte. Diese Tendenz zeigte sich deutlich am Beispiel Menasseh ben Israels, der 1604 vermutlich auf Madeira151 geboren wurde und 1657 im niederländischen Middleburg starb.152 Er entstammte einer Familie von Marranen, die als Katholiken in Portugal lebte. Menasseh wurde als Manoel Dias Soeiro katholisch getauft.153 Der Taufname seiner Mutter war Soeiro, der seines Vaters Dias. Sein Vater Gaspar Rodrigues Dias floh, nachdem er durch die Institutionen der Inquisition gefoltert wurde, von Lissabon nach Madeira. Von dort ließ sich die Familie schließlich in Amsterdam nieder. Menasseh selbst gab Lissabon als seine Heimat an.154 Menassehs marranische Herkunft ließ ihn der eigenen Identität ambivalent gegenüber stehen, Henry Mécholan schreibt hierzu: Menasseh ben Israel war “Portuguese by birth, Batavian in spirit, he remains a Jew.”155 Menassehs vielfältige Bezugspunkte zu einer verdeckten jüdischen Identität in der Familiengeschichte, sollten die ambivalente Einschätzung von Leben und Werk dieses Repräsentanten der jüdischen Gemeinde bereits bei den Zeitgenossen beeinflussen.156

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selves – Moses Mendelssohn and his contemporaries.“ (Swetschinski: Reluctant Cosmopolitans, S. 316). Salomon Ullmann: Geschichte der spanisch-portugiesischen Juden in Amsterdam im XVII. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. (V) 1907-5668. Frankfurt/Main 1907. S. 32. Francois Guesnet zufolge erfuhr Menasseh ben Israel die erste historiografische Einordnung durch Eljakim Carmoly: Menasseh ben Israel. In: Revue Orientale 2 (1842), S. 299–308. Guesnet: Strukturwandel, S. 43–62. Yosef Kaplan u. a. (Hg.): Menasseh ben Israel and his world. Leiden 1989. Moritz Meyer Kayserling: Menasse Ben Israel. Sein Leben und Wirken. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Juden in England. In: Jahrbuch für die Geschichte der Juden und des Judentums. Zweiter Band. Leipzig 1861. S. 124. Cecil Roth: A Life of Menasseh ben Israel. Rabbi, Printer, Diplomat. Philadelphia 1934. Er bezeichnet Lissabon als „en mi patria Lixboa.“ (Menasseh ben Israel: Esto es Esperança de Israel. Ámsterdam 5410 (1650). Menasse ben Israel: The Hope of Israel. The English Translation by Moses Wall, 1652. Herausgegeben von Henry Méchoulan. Oxford 1987. Ebd. S. 25. „We were protected from Spanish tyranny, and for that neither I nor my co-religionists will ever be able to thank you enough.“ Vgl. Menasseh ben Israel: Conciliador o de la convenienca de los lugares de la S. Escriptura que repugnantes entre si parecen, pt. 2. Amsterdam 1641. Zit. nach Menasseh ben Israel: The hope of Israel. The English translation by Moses Wall, 1652, ebd. S. 24. 94

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In Amsterdam erhielt Menasseh bei dem aus Fez stammenden Rabbiner Isaak Uziel seine traditionelle Ausbildung in Talmud und Thora. Nach dessen Tod 1622 übernahm er seine Stelle und fungierte bis 1639 als Rabbiner der Synagoge „Newe Schalom“. Menasseh heiratete in Amsterdam eine Urenkelin Isaak Abravanels (1437–1508), Rachel Soeira,157 die vermutlich mit ihm in die Niederlande gekommen war.158 Das Paar hatte zwei Söhne, Joseph und Samuel, und eine Tochter, Gracia Hanna. Cecil Roth zufolge war Menasseh sehr stolz auf diese Heirat, da die Familie Abravanel der Legende nach von König David abstimmen sollte159 und Menasseh damit hoffte, Stammvater des künftigen Messias zu werden. In Amsterdam gründete Menasseh 1627 eine hebräische Buckdruckerei, die eine Vielzahl von Publikationen zur biblischen und rabbinischen Literatur wie den Index zum Midrasch Rabba, aber auch Veröffentlichungen zur hebräischen Grammatik herausbrachte.160 Menasseh selbst war ein produktiver Schriftsteller und stand mit zeitgenössischen christlichen Autoren seiner Zeit in enger Verbindung. Zu diesen gehörten auch Isaac und Dionysius Vossius, Hugo Grotius und die Königin Christine von Schweden, zu Rembrandt soll er „freundschaftliche Beziehungen“161 unterhalten haben.162 Das Hauptwerk Menassehs, die 1650 geschriebene und 1654 veröffentlichte „Esperanca de Israel“ war dem Vater Baruch de Spinozas, Michael 157 Moritz Meyer Kayserling: The Life and Labours of Menasseh ben Israel. Being a contribution to the history of the Jews in England, from original sources. Translated from the German of Dr. M. Kayserling by the Rev. Dr. F. De Sola Mendes. New York/London 1877. S. 7. 158 Moritz Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Spanien und Portugal. Zweiter Teil. Geschichte der Juden in Portugal. Hildesheim 1978 (ND 1867). S. 284f. 159 Ismar Elbogen: Isaak Abravanel: In: Jüdisches Lexikon. Band I. S. 50–52. Hier: S. 50. 160 Roth: Marranos, S. 248. 161 Paul Goodman: Manasse ben Israel. In: Jüdisches Lexikon. Band III. S. 1157–1158. Hier: S. 1157. 162 Diese Freundschaften hatten auch für die Rezipienten des 19. und 20. Jahrhunderts große Bedeutung. So verwies beispielsweise Anna Seghers in ihrer Dissertation über Rembrandt auf diesen Umstand: „Rembrandt hat da in ihm einen Mann gekannt, der alle Eigenschaften des holländisch-jüdischen Gelehrten in sich vereint, ein Mann, dessen Ruf durch die Bekanntschaft mit Rembrandt noch einen besonderen Glanz bekommen hat.“ (Netty Reiling (Anna Seghers): Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Leipzig 1983. S. 23). Seghers zeichnete das Klima einer intellektuell inspirierenden Stadt, in der die Juden nicht als Juden auffallen, sondern als Vertreter einer wohlhabenden Oberschicht. Und dies bedeutete auch Einhaltung einer bewussten Abgrenzung vom osteuropäischen Judentum - weit weg von Wohlstand und weltlicher Gelehrsamkeit: „Jedenfalls hat auch der Teil seines Lebens, der der Hingabe an kabbalistische Studien gewidmet war, nichts gemein mit der Seele jener Kabbala, wie sie sich in der abgeschlossenen und damit glutofenhaften Atmosphäre der östlichen Ghettos entwickelt hat.“ (Reiling: Jude und Judentum, S. 23). Als dann diese Juden Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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D’Espinoza, gewidmet. Es greift messianische Erwartungen hinsichtlich einer baldigen Rückkehr der Juden nach Palästina unter Bezugname auf Deuteronominum 28,64 und das prophetische Buch Daniel (12,7)163 auf.164 Menassehs Buch diskutierte das Schicksal der zehn Stämme Israels, von denen er annahm, einer sei in Südamerika wiederentdeckt worden. Geschrieben vor dem Hintergrund seiner messianischen Grundüberzeugung, versuchte Menasseh, aus einer Zerstreuung der Juden in alle Enden der Welt das baldige Kommen des Messias abzuleiten. Im Buch verwies Menasseh auf Legenden, Sagen und Prophezeiungen, die er über die zehn Stämme Israels und deren Verbleib in Südamerika zusammenstellte. Dieses Buch war in der lateinischen Übersetzung mit einer Widmung an den Gerichtshof, das Parlament und den Staatsrat von England versehen. Es erregte großes Aufsehen in England, unter anderem auch die Aufmerksamkeit des Lordprotektors Oliver Cromwell, der aus religiösen aber auch aus ökonomischen Erwägungen die Wiederansiedlung der Juden in England erwog. Besonders mit der Vertreibung der Juden aus Spanien erlebten messianische Überlegungen eine verstärkte Renaissance unter den sephardischen Juden.165 Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass erst durch die Vertreibung kabbalistische Texte verstärkt rezipiert wurden. Das Buch „Sohar“ als eines der Hauptbücher der Kabbala hatte das Jahr 1648 für die Ankunft des Messias errechnet,166 was dann durch das Auftreten Sabbatai Zwis (1626–1676) noch verstärkt wurde. Aus diesem Grunde richtete sich das Interesse Menassehs darauf, die Wiederzulassung der Juden in England als Teil des Plans einer Zerstreuung der Juden in alle Teile der Welt zu erwirken. Die Niederlassung der Juden in England galt als Bedingung für das Kommen des Messias. Die Juden waren bereits im Jahre 1290 vollständig aus England vertrieben worden. Ab 1521

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nach Amsterdam durch die Kosaken-Aufstände in Polen kamen, wurden sie von den bereits ansässigen Sephardim als Hausierer und Bettler wahrgenommen. Daniel 12,7f.: „Da hörte ich, wie der Mann im Linnengewande, der über den Wassern des Stromes stand, die Rechte und die Linke zum Himmel erhoben, bei dem Ewiglebenden schwur: Nach einer Zeit, Zeiten und einer halben Zeit; und wenn die Macht des Zerstörers des heiligen Volkes ein Ende hat, wird sich dies alles erfüllen.“ (Das Alte Testament. Zürich 1987, S. 890) Deuteronomium (Dewarim) 28,64: „Und der Herr wird dich unter alle Völker zerstreuen, vom einen Ende der Erde bis zum andern, da wirst du andern Göttern dienen, die du und deine Väter nicht gekannt haben.“ (Das Alte Testament, S. 219) „During the whole of the Middle Ages, particularly among Sephardic Jews, Messianic manifestations arose in various places form the Yemen to Iraq and Persia. The period of the Crusades was especially productive of Messianic agitations.“ (Menasse by Wall, Introduction, S. 81). Gershom Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt/Main 1970. S. 40. 96

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ließen sich Marranen in Bristol nieder, gaben sich dort als katholische Portugiesen aus und wurden auch als solche von der Regierung und Bevölkerung angesehen. Darüber hinaus hatten die Judenverfolgungen unter Bogdan Chmielnicki in der Ukraine im Jahre 1648 neben heilsgeschichtlichen Erwartungen unter den Juden auch zu einer spürbaren Wanderungsbewegung von Ost nach West geführt. Unter der englischen Elite gab es ein ausgeprägtes Interesse am Judentum. Bereits 1643 hatte Henrietta Maria, die Königin von England, die Amsterdamer Synagoge besucht und war bei einer Ansprache Menasseh ben Israel dort anwesend.167 Auch der englische Gesandte in Holland, Oliver Saint-John, der ein Verwandter des späteren Lordprotektors Oliver Cromwell war, besuchte die Amsterdamer Synagoge und wurde dort begeistert aufgenommen.168 Cromwells Sekretär John Thurloe (1618–1688) forderte während seines Aufenthalts in Amsterdam 1651 Menasseh nachdrücklich dazu auf, sich an die englische Regierung und namentlich den Lordprotektor zu wenden.169 Die politische Situation in England sollte sich zu Lebzeiten Menassehs vollkommen wandeln: Nach der Hinrichtung Karl I. 1649 wurde Oliver Cromwell als Lordprotektor der tonangebende Politiker auf der britischen Insel. Cromwells Puritanismus stellte sich gegen die Kultusfrömmigkeit der anglikanischen Kirche und forderte von seinen Anhängern ein hohes Maß an innerweltlicher Askese. Diese zeigte sich durch eine intensive Lektüre der hebräischen Bibel. Insbesondere das prophetische Buch Daniel, das eine Theorie der Zerstreuung und chiliastische Hoffnung bzw. auch eine Apokalypse in Form eines 1000-jährigen messianischen Reiches sieht, erfreute sich großer Beliebtheit bei den Puritanern.170 Die öffentliche Diskussion hinsichtlich der Wiederzulassung der Juden in England setzte im Jahre 1655 mit der Ankunft von Menasseh ben Israel und der Publikation „Humble Address“ an den Lordprotektor Oliver Cromwell ein.171 Für Menasseh ging es neben messianischen Hoffnungen auch um das Schicksal der Marranen in England. Beide Komponenten versuchte er, mit seinem Ansinnen auf Wiederansiedlung der Juden in England zu verbinden. Menasseh war allerdings nicht als offizieller Be167 168 169 170

Cecil Roth: Jews in England, S. 152–154. Kayserling: Menasseh, S. 133–135. Roth: Jews in England, S. 156. Über die unterschiedlichen Entwicklungen zum und im Puritanismus vgl. Ismar Schorsch: From Messianism to Realpolitik: Menasseh Ben Israel and the Readmission of the Jews to England. In: Proceedings of the American Academy for Jewish Research. Volume 45 (1978). S. 187–208. 171 Adresse des R. Manasse ben Israel im Namen der jüdischen Nation an den Lordprotektor von England. In: Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. Band 2. IV Teil. Europäische Länder in der Neuzeit. Zürich ND 1983. S. 24–25. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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vollmächtigter der sephardischen Gemeinde nach England gereist. Es handelte sich hierbei um eine von ihm selbstständig ausgeführte Unternehmung. Allerdings hatten einflussreiche Mitglieder der Gemeinde dieser Mission zunächst zögernd und dann im Geheimen – aus Angst vor den Reaktionen der holländischen Behörden – ihre Zustimmung gegeben.172 Auch ohne offizielles Mandat der Amsterdamer sephardischen Gemeinde wurde Menasseh als Fürsprecher der Juden wahrgenommen. Dieses zeigte sich auch in der Bereitschaft Cromwells, mit Menasseh zu verhandeln. Cromwell sah in Menasseh einen Vertreter der Juden, verstand ihn als Fürsprecher oder Shtatlan. Der Fürsprecher wurde als „Zwischengänger“173 verstanden, der für ein Kollektiv sprach und Zugang zu politischen Entscheidungsträgern hatte. Dadurch konnte er Empfehlungen für einen anderen oder eine ganze Gruppe erwirken. „Zu den Fähigkeiten des Fürsprechers zählten Sprachkompetenz wie ein Netz von Verbindungen,“174 also Kompetenzen über die Menasseh im hohen Maße verfügte. Im ersten Kapitel der „Humble Address“ mit dem Titel „How profitable the Nation of the Jewes are“ bezog sich Menasseh auf die Begeisterung, mit der die englischen Gesandten in Amsterdam empfangen wurden. Menasseh gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die neue Staatsform der Republik auch helfen würde, die alten Vorurteile gegenüber den Juden in England zu beseitigen.175 Die Forderungen Menassehs richteten sich auf freie Religionsausübung und waren in Form einer demutsvollen Bittschrift an den Herrscher formuliert.176 Bedeutsam ist hier der vergleichende, auf Europa bezogene Blick Menassehs. England würde demzufolge nunmehr zu den Nationen aufschließen, in denen freie Ausübung des jüdischen Kultus bereits gewährleistet sei. Sollte den Juden in England dieses Recht zugestanden werden, würden die Juden als Gegenleistung – und dies war natürlich auf die religiöse Grundhaltung der Puritaner abgestimmt –, „immer beten für das Glück und den 172 Israel: European Jewry, S. 130–131. Todd M. Endelman: The Jews of Britain, 1656–2000. Berkeley 2002. S. 22. 173 Guesnet: Fürsprache, S. 67. 174 Guesnet: Fürsprache, S. 68. 175 „Ahnte doch unser Volk, dass mit der Umwandlung des Königtums in eine Republik auch der alte Hass gegen uns in Wohlwollen verwandelt werde, dass jene strengen, von Königen erlassenen Gesetze – wenn sie überhaupt noch in Kraft waren – gegen ein unschuldiges Volk nunmehr zurückgenommen würden.“ (Adresse des R. Manasse ben Israel, S. 25). 176 „Demutsvoll flehe ich jetzt Eure Hoheit an, dass Sie mit einem huldreichen Blicke uns und unsere Bitte beglücken und uns, wie anderen bereits geschehen, freie Religionsausübung gestatten, dass wir unsere Synagogen haben und Gott öffentlich verehren können gleich unseren Brüdern in Italien, Deutschland, Polen und vielen anderen Gegenden.“ (Adresse des R. Manasse ben Israel. S. 25). 98

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Frieden dieser sehr berühmten und mächtigen Republik.“177 Menasseh war davon überzeugt, dass die Wiederansiedlung der Juden auch dem religiösen Heilsverständnis der Puritaner um Cromwell entgegenkomme und daher konnte er den Wunsch, „dass wir unsere Synagogen haben und freie Religionsübung genießen“ als Teil einer Agenda darstellen, die auf „unseren gerechten Wünschen aufgebaut“178 sei. Darüber hinaus stellte Menasseh die Juden als nutzbringende Subjekte für eine florierende Wirtschaft vor. Bedingt durch deren Lebenssituation im Exil konnten sie in den unterschiedlichen Ländern ihre Fähigkeiten entwickeln. Sie seien zudem durch die Geschichte hindurch loyale Bürger gewesen, da sie selbst keinen Staat ihr Eigen nennen konnten. Durch ihre wirtschaftlichen Kompetenzen würden sie außerdem für ein friedliches Gleichgewicht zwischen den Staaten sorgen. Die Juden seien somit ein Garant für eine friedliche und wirtschaftliche sichere Zeit auch in England. Der englische Staat müsse ihnen nur die Religionsfreiheit und das Recht auf freien Handel zugestehen und würde selbst davon profitieren. Oliver Cromwell stand der Wiederansiedlung der Juden positiv gegenüber. Dies hing mit seinem religiösen Selbstverständnis zusammen. Die Puritaner sahen in der Konversion der Juden zum Christentum ein wesentliches Element ihres eigenen religiösen Selbstverständnisses. Sie waren davon überzeugt, das korrumpierte Christentum namentlich in Form der bestehenden kirchlichen Glaubensgemeinschaften in England überwunden und ein reines Christentum geschaffen zu haben. Nun gelte es, die Juden mit diesem neuen Christentum in Kontakt zu bringen, um sie später zum Christentum zu konvertieren. Dies könne nur gelingen, wenn sie auf englischem Boden wieder zugelassen würden.179 Die Konversion der Juden würde das Kommen des Messias möglich machen.180 Menasseh hingegen zielte seinerseits auf eine Wiederansiedlung der Juden in England. Seinem messianischen Verständnis zufolge würde nur die möglichst vollständige Zerstreuung der Juden über den Globus und somit auch in jene Länder, in denen ihnen eine Ansiedlung verwehrt war, das messianische Zeitalter und die Rückkehr der Juden nach Palästina möglich machen. Mit diesen messianischen Einschätzungen stimmten Cromwell und Menasseh überein.181 Die geplante Wieder177 178 179 180

Adresse des R. Manasse ben Israel. S. 25. Adresse des R. Manasse ben Israel. S. 25. Endelman: Jews of Britain, S. 19. “That millenarian connection was specifically drawn for the English public in 1649 when it was informed once again of the successful missionary work among the Indians of New England.” (Schorsch: From Messianism to Realpolitik, S. 196). 181 „The Discovery of Jews in the New World meant that God was fullfilling the prophecy that the Jews would be scattered ‘from one of the earth to the other’ (Deut. 28: 64) before the end of days. Yet there remained one corner of the World from which Jews were still absent – Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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zulassung der Juden in England verlief jedoch erfolglos, da der Widerstand seitens der Kaufleute und Kleriker sich als zu groß herausstellte. Unter ihnen herrschte die Angst, die Juden würden das Wirtschaftsleben auf der Insel dominieren. Daraufhin löste Cromwell, bevor es zur Abstimmung kam, die Versammlung auf.182 Dennoch ließen sich Juden auch dann ohne offizielle Duldung in England nieder. Bereits um 1580 siedelten sich Marranen zuerst aus Portugal dort an. Diese liefen beim Ausbruch des Krieges mit Spanien im Jahre 1656 Gefahr, ihr Vermögen zu verlieren. Sie protestierten deswegen und wiesen sich als Marranen aus, die in Portugal geboren waren. Die Behörden erkannten sie als Juden offiziell an und es wurde ihnen ermöglicht, private Gottesdienste abzuhalten.183 Bevor es jedoch dazu kam, setzte eine judenfeindliche Agitation ein. Gegen diese Anschuldigungen, besonders gegen die des Rechtsgelehrten und fanatischen Puritaners William Pryne, wandte sich Menassah ben Israel in seiner Schrift „Vindiciae Judaeorum“ (Rettung der Juden)184. In dieser Schrift demontierte Menasseh die antijüdischen Vorwürfe, indem er insbesondere die Unsinnigkeit der Blutmordbeschuldigung gegenüber den Juden zu beweisen versuchte. In diesem Zusammenhang findet sich auch ein Vergleich der Lebensbedingungen von Juden unter christlicher und moslemischer Herrschaft.

England (called ketseh ha-arets [the end of the earth] in medieval Hebrew.” (Endelman: Jews of Britain, S. 21). 182 „Although support was forthcoming from the millenarian faction, merchants and more orthodox clergymen expressed strong objections, as they had in various pamphlets published since the question of readmission surfaced. The merchants feared that Jews would dominate certain areas of trade, enriching themselves at the expense of native Englishmen.” (Endelman: Jews of Britain, S. 25). 183 Endelman: Jews of Britain, S. 26. 184 „Der Erstdruck der Schrift Menasseh ben Israels erschien unter dem Titel “Vindiciae Judaeorum”, or a Letter in Answer to certain Questions propounded by an Noble and Learned Gentleman, touching the reproaches cast on the Nation of the Jews: Wherein all objections are candidly, and yet fully clear’d. By Rabbi Menasseh ben Israel a Divine and a Physician. Printed by R.D. in the year 1656. Dieser Text ist wiederabgedruckt bei Lucien Wolf, Menasseh ben Israel’s Mission to Oliver Cromwell. London 1901. S. 105–147. Im Jahre der Publikation der Schrift, 1656, erfolgte auch die Veranlassung des Banns gegen Baruch Spinoza. Mendelssohns deutsche Ausgabe ist eine Übersetzung nicht des Erstdrucks, sondern des in orthographischer Hinsicht vielfach veränderten Wiederabdrucks in „The Phenix: or, a Revival of scarce and valuable Pieces No where to be found but in the Closets of the Curious, Volume II. London M.DCC. VIII (Phenix XXIV), 391–426, s. Mendelssohn Vorrede, 5” (In: Moses Mendelssohn, JubA 8, S. 233). 100

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Menasseh ben Israels Rezeption in der Haskalah Die Figur Menasseh ben Israel sollte für die Maskilim eine wichtige Rolle einnehmen, insbesondere nachdem seine Schrift „Vindiciae Judaeorum“ aus dem Jahre 1656 auf Bitten Moses Mendelssohns hin durch Marcus Herz aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurde. Mendelssohn selbst hatte eine Vorrede dazu verfasst, die gemeinsam unter dem Titel „Rettung der Juden“ im Jahre 1782, also ein Jahr nach der Veröffentlichung von Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“, publiziert wurde. Hier hatte Mendelssohn argumentiert, gleiches Bürgerrecht für die Juden sei ein Menschenrecht.185 Mendelssohn sah in Dohms Schrift den hoffnungsvollen Neubeginn einer Politik gegenüber den Juden. Er bezog sich jedoch in seiner Vorrede insbesondere auf Menasseh ben Israels „Humble Address“ aus dem Jahre 1655 und hier ausdrücklich auf den ersten Teil der Schrift mit dem Titel „How profitable the nation of the Jews are“. Mendelssohn hob die Nützlichkeit der Juden für das allgemeine Staats- und Gesellschaftswesen hervor. Dadurch folgte er dem pragmatischen Verständnis des Merkantilismus, dessen Grundlagen auch noch die Aufklärer seiner Generation beeinflussen sollten.186 Mendelssohn vertrat überdies die Forderung, religiösen Institutionen kein Bannrecht einzuräumen. Ein solches Recht dürfe nur vom Staat angewandt werden, der immer die Sachen der ganzen Bevölkerung im Auge haben müsse.187 Die Lebensbeschreibung Menasseh ben Israels wurde durch David Franco Mendes (1713–1792) aus Amsterdam auf Hebräisch angefertigt.188 Mendes war von Naftali Herz Wessely zur Mitarbeit am „Ha Me’assef “ gewonnen worden. Mendes stand der jüdischen Aufklärung nahe, blieb jedoch zeit seines Lebens der jüdischen Tradition verbunden. Melkman sieht Mendes als einen vorbildlichen Vermittler

185 JubA 8, S. XVI. 186 Jonathan I. Israel: European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750. Oxford 1989. 187 Mendelssohn stellte den allgemeingültigen Charakter von Dohms Gedenkschrift heraus, wenn erfesthielt: „Seine Absicht, weder für das Judentum noch für die Juden eine Apologie zu schreiben. Er führet bloß die Sache der Menschheit, und verteidigt ihre Rechte. (“Menasseh ben Israel: Rettung der Juden. Aus dem Englischen übersetzt. Nebst einer Vorrede von Moses Mendelssohn. Als ein Anhang zu des Herrn Kriegsraths Dohm Abhandlung: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1782. In: Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Mit dem Vorwort zu Manasse ben Israels Rettung der Juden und dem Entwurf zu Jerusalem sowie einer Einleitung, Anmerkungen und Register herausgegeben von Michael Albrecht. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005. S. 5.) 188 J. Melkman: David Franco Mendes. A Hebrew Poet. Jerusalem und Amsterdam 1951. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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zwischen der alten sephardischen Kultur und der gegenwärtigen.189 Neben seinem Beitrag über Menasseh verfasste Mendes die Einträge über d’Aguilar, Orobio de Castro und Jakob Jehuda Leon. Für Mendes war insbesondere Menassehs Vernetzung mit christlichen Wissenschaftern und Politikern wie Hugo Grotius und Kaspar Baerlaues ein bedeutender Baustein seiner fünfseitigen Biografie.190 Diese Bekanntschaft mit Christen wurde in Mendes’ Beschreibung der Reise Menassehs nach London und die positive Aufnahme durch Cromwell unter Bezugnahme auf den Cromwell-Biografen Gregorio Leti (1630–1701) im Kontext christlicher Konversionsabsichten noch vertieft.191 Als zweite Quelle für die Biografie orientiert sich Mendes an Daniel Levi de Barrios (gest. 1700). Demzufolge habe Cromwell Menasseh wegen seiner herausragenden Weisheit gerufen, „damit er sich mit ihm persönlich über die Geheimnisse seines Königreichs und dessen Führung berate. Und über die Lösung der Rätsel in den hohen Wissenschaften.”192 Diese Begegnung habe Cromwell so sehr für die Juden eingenommen, dass laut Mendes nach dem Gespräch mit Menasseh jeder weitere jüdische Besucher mit ausdrücklicher Höflichkeit begrüßt wurde. Bei der Lektüre ist auffällig, dass Mendes im weiteren Verlauf der Darstellung nicht auf die messianische Komponente innerhalb der puritanischen Führungsschicht und insbesondere auf den Lordprotektor selbst einging. Eine solche Deutung stand der Überzeugung der Maskilim und ihrem Wunsch nach einem aufgeklärten Judentum zentral gegenüber und wurde deshalb ausgelassen. Vielmehr verstand Mendes die Mission Menassehs nach England als Teil der allgemeinen Aufklärung und damit verbunden auch einer bürgerlichen Verbesserung der Juden. Bei der Bitte um Niederlassung für die Juden in England wandte sich Menasseh laut Mendes mit folgenden Worten an Cromwell: „dass sie dort mit ihren Familien und mit ihrem Besitz siedeln können und dem Herrn dienen in ihren Gebetshäusern in aller Öffentlichkeit und ohne Bedrängnis, und dass sie ihre Geschäfte im Lande betreiben können, wie alle Nichtjuden auch, die dort siedeln.“193 Die Apologie Menassehs enthalte „das Zeugnis der Treue der Juden zu den Fürsten und Herrschern der Länder, in denen sie wohnen, […] und der Größe des Nutzens, 189 David Franco Mendes “fullfilled a very important function in the revival of Hebrew literature in the Ashkenazic countries both as mediator of the older [Sephardic] culture and as a creative artist.” (Melkman, Mendes, S. 118). 190 Mendes: Menasseh ben Israel, in: Ha-Me’assef, 4 (1787/88) S. 167. 191 Historia e Memoria recondite sopra alla vita di Oliviero Cromwell. Amsterdam 1692. (In: Zedlers Universallexikon, Band 17, Sp. 512–515). 192 Mendes, Menasseh ben Israel, in: Ha-Me‘assef, 4 (1787/88) S. 169. 193 Mendes: Menasseh ben Israel, in: Ha-Me’assef, 4 (1787/88) S. 169. 102

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den die Völker aus ihrer Anwesenheit ziehen […].“194 Mendes erwähnte allerdings nicht den negativen Ausgang der Reise nach England. So gab Mendes eine gänzlich andere, nämlich positive Darstellung der Ereignisse wieder, die in einer Beschreibung der Zulassung der Juden als Konsequenz auf Menassehs Reise nach London mündete: „Und seine [Menassehs] Worte fanden Gefallen bei allen Ministern und bei allem Volk, und die Gsera [das Vertreibungsedikt] wurde aufgehoben.“195 Damit wurde dem Wunsch Ausdruck verliehen, dass ein Dialog mit Christen im Kontext einer so verstandenen aufgeklärten Welt die Bedingungen der Juden verbessern könne. Die Rezeption Menasseh ben Israels wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitergeführt. So wurden in der Zeitschrift „Jedidja“ die Lebensumstände Menasseh ben Israels erneut aufgegriffen. Der erste Band von 1817 zeigt sein Frontispiz nach einem Kupferstich, den der Herausgeber nach einem Gemälde Rembrandts für die Zeitschrift anfertigen ließ. Allerdings fiel im weiteren Verlauf des 19. Jahrhundert die Wahrnehmung nicht mehr durchweg positiv aus. So attestierte der Historiker Heinrich Graetz Menasseh zwar einen guten Willen, aber letzten Endes habe dieser nur über eine mittelmäßige Begabung verfügt.196 Massiv wandte sich Graetz gegen alles, was nach kabbalistischer Beeinflussung – für ihn Ausdruck einer „urteilslosen Kompilation und der Leichtgläubigkeit“ – aussah. Kritisch ordnete Graetz zudem die „Wundergläubigkeit“ Menassehs ein, die sich wiederum durch seine christlichen Leser wohl bestätigt gefühlt habe.197 Allerdings hätten auch die Zeitgenossen Menassehs ihn überschätzt.198 Graetz beließ es nicht bei dieser vergleichsweise kritischen Feststellung, sondern machte zudem auf Menassehs Rolle eines Vermittlers 194 Mendes: Menasseh ben Israel, in: Ha-Me’assef, 4 (1787/88) S. 170. 195 Mendes: Menasseh ben Israel, in: Ha-Me’assef, 4 (1787/88) S. 170. 196 „Er war, wie gesagt, keine hervorragende Persönlichkeit und kann nur zu den Mittelmäßigen gezählt werden. Aber er hatte etwas in seinem Wesen, welches sehr anzog, eine gewinnende Freundlichkeit und Zugänglichkeit, die ihn befähigte, mit verschiedenen Kreisen zu verkehren, sich überall Freunde zu erwerben, und keinen Feind zu haben. [...] Menasseh ben Israel umfasste die jüdische Literatur, kannte auch die christliche Theologie in dem Stande, den sie zu seiner Zeit angenommen hatte, und wusste genau, was sich über jeden Punkt sagen lässt, d. h. von Vorgängern gesagt woden ist.“ (Vgl. Graetz: Geschichte, Bd. 10, S. 78–79). 197 Graetz: Geschichte, Bd. 10, S. 84. 198 „Indessen sahen seine Zeitgenossen Manasses Schriftten mit anderen Augen an; die darin angehäufte Gelehrsamkeit aus allen Literaturgebieten und Sprachen und die Glätte der Form bestachen sie und erregten sogar Bewunderung. Von den Juden wurde er außerordentlich gefeiert; wer nur irgendeinen lateinischen, portugiesischen oder spanischen Vers zustande bringen konnte, verkündete Manasses Lob. Aber auch christliche Gelehrte seiner Zeit überschätzten ihn.“ (Graetz: Geschichte, Bd. 10, S. 80). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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zwischen jüdischem und christlichem Denken aufmerksam. Diese habe dazu beigetragen, dass antijüdische Positionen abgeschwächt worden seien, da christliche Gelehrte in direktem Austausch mit Menasseh gestanden hätten.199 Spanienbilder bei Vertretern der europäischen Aufklärung Die Vorstellung vom „Orient“ oder dem „Morgenland“ nahm keinen direkten Bezug auf eine geografische Gegend, sondern war eine ideelle Konzeption, die den Vorstellungen westlicher Intellektueller entsprang. So bestand in der deutschen Klassik ein Band zwischen Spiritualität und dem Orient, wie es sich in Friedrich Schlegels 1808 erschienener Schrift „Über die Sprache und Weisheit der Inder“ und Goethes 1819 erschienenem „Westöstlichen Diwan“ manifestierte. Auch bei Schopenhauer und in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ (1883–1885) erfuhr dieses Thema weitere Bearbeitung und wirkte bis in die Literatur der Weimarer Republik.200 Als Bestandteil dieses Verständnisses wurden Araber häufig als unselbstständige Objekte der Geschichte interpretiert. So hatte der Orientalist Johann David Michaelis den Arabern abgesprochen, sich über die Jahrhunderte kulturell weiterentwickelt zu haben. Dasselbe treffe, so Michaelis, auch auf die Juden zu und deren jüdisches Recht sei allenfalls als Studienzweck für eine vergangene Religion relevant. Seinen zentralen Beweis trat Michaelis durch die Behauptung an, die Bräuche der Juden hätten sich seit ältester Zeit nicht verändert und somit seien zeitgenössische Juden nicht in die gegenwärtige Gesellschaft integrierbar.201 Die gegenteilige Auffas199 „Daher waren den christlichen Forschern Manasse Ben-Israels Abhandlungen, welche viele rabbinische Belegstellen und neue Gesichtspunkte boten, außerordentlich willkommen. Sie waren ihnen durch seine faßliche Darstellung mundgerecht gemacht. Die holländischen Gelehrten suchten daher Manasse auf, bewarben sich um seine Freundschaft, hingen sozusagen an seinem Munde, legten daher allmählich die Vorurteile gegen die Juden ab, welche damals auch im tolerantesten Lande Europas die freisinnigsten Männer noch nicht losgeworden waren.“ (Graetz, Geschichte, Bd. 10, S. 82) Das Interesse an Menasseh ist bei den denen besondes stark ausgeprägt, die sich ebenfalls eines messianishcen Denkens bedienen. 200 „In der Weimarer Republik wurde dieses Stereotyp von so unterschiedlichen Autoren wie Hermann Hesse und Oswald Spengler weiter verbreitet.“ (Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 1996. S. 152). 201 An Graf Bernstorff am 30. August 1756. Vgl. Literarischer Briefwechsel I, S. 299–324. Hier: S. 299–305. “The hegemony that his Orientalism ultimately expresses and produces is not merely an intellectual authority over the modern Arab world but also a form of inner European colonialism, a colonial authority over the Jews that uses the modern Near East in order to put both ancient Israelites and contemporary European Jews in their proper places.” 104

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sung findet sich explizit bei Lessing, dessen Lustspiel „Die Juden“ (1755) als Plädoyer für mehr Toleranz galt und „Nathan der Weise“ (1779) zudem eine Idealisierung des Orients vornahm. Das Spanienbild wandelte sich während und innerhalb der europäischen Aufklärung „von der Schwarzen Legende zum ‚Hesperischen Zaubergarten’.”202 Im Verlauf der Aufklärung wurde dieses Bild insbesondere von den französischen Vertretern beeinflusst. So waren Montesquieus (1689–1755) „Lettres Persanes“ ein großer publizistischer Erfolg. Die Briefe erlebten bis zum Tod Montesquieus 30 Auflagen. Sein Briefroman wurde kopiert und in andere Sprachen übersetzt. In den Briefen nahm Montesquieu im Wesentlichen eine kritische Bestandsaufnahme der europäischen Kultur vor. So war im 78. Brief auf wenigen Seiten das ganze Spektrum negativer Charakteristika Spaniens zusammengefasst. Dabei richtete sich die Kritik weniger an politische und religiöse Umstände, sondern vielmehr an den spanischen Charakter, der gänzlich ins Lächerliche gezogen wurde.203 „Zudem konnten die Leser der „Lettres Persanes“ auch erfahren, dass in Spanien und Portugal ‚Leute wie Stroh verbrannt werden‘ (29. Brief ), dass ‚Spanien, einst dicht besiedelt, [heute] nur noch aus unbewohnten Landstrichen [besteht]‘ (112. Brief ) und in jeder Hinsicht ein ‚dahinsiechender Staat‘ sei (121. Brief ).“204 In den „Lettres Juives“ des Marquis d’Argens (1704–1771) erfährt das von Montesquieu entwickelte negative Spanienbild eine zusätzliche Akzentuierung. Diese Reisebeschreibung d’Argens wurde auch ins Deutsche übersetzt und erreichte somit auch eine größere Leserschaft in Deutschland.205 Die Geschehnisse in Spanien wurden als grausam und rückständig dargestellt, während als Gegenbild die Niederlande

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(Hess, Germans, Jews and the claims of Modernity, S. 57.) Michaelis fügte Reisebeschreibungen zum Orient seinem historischen Verständnis der Hebräischen Bibel bei. “His reasons for doing so are to liberate the European present from the power of its Oriental past and reduce Mosaic law to what it should be: a legal system of strictly historical importance, relevant merely as an occasion for philosophical reflection on law as such.” (Hess: Germans, Jews and the claims of Modernity, S. 60). Dazu äußert sich ausführlich Hönsch, Ulrike: Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2000. Hier: S. 9–19. Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 68. Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 68. Des Herrn Marquis d’Argens, […], Jüdische Briefe, oder philosophischer, historischer und kritischer Briefwechsel, zwischen einem Juden, der durch verschiedene Länder von Europa reiset, uns seinen Corrspondenten an anderen Orten. Aus dem Französischen, mit des Herrn Verfassers Vermehrungen und Verbesserungen übersetzt. Erster bis sechster Teil. Berlin, bey Friedrich Nicolai, 1763–1766. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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zu einem Ort der Aufklärung und Freiheit stilisiert wurden.206 Konkret sah diese Gegenüberstellung so aus, dass im 100. Brief an einer Stelle die Grausamkeiten der Inquisition geschildert und diese Geschehnisse einem überschwänglichen Lob der niederländischen Buchkunst und dem Verlagswesen gegenübergestellt wurden.207 Auch Voltaires Spanienbild war von der Beschreibung d’Argens geprägt. In seinen „Essais sur le moeurs et l’esprit des nations“,208 1745/46 sowie 1750/51 als Vorabdruck im „Mercure de France“ erschienen und 1756 als Buch herausgebracht, hatte Voltaire historische Ereignisse hinsichtlich der Entwicklung der Menschheit zusammengestellt. Dabei stand er der Kultur des arabischen Spanien, wie Hönsch analysierte, offen und begeistert gegenüber. „Uneingeschränkte Sympathie bringt er dem maurischen Spanien entgegen (Kapitel XXVII und XLIV). Hier blühten die Wissenschaften und die Künste, Toleranz bestimmte den Umgang mit Andersgläubigen. An den Höfen der maurischen Könige wurde das Theater gepflegt und hier vermutete Voltaire den Ursprung ritterlicher Turniere. Andalusien wird so in seinen Beschreibungen zu einem Märchenland stilisiert.“209 Als Gegensatz zum freiheitlichen Leben im maurischen Spanien wurden jedoch die Geschehnisse vor dem Hintergrund der Inquisition behandelt. Diese sei zwar keine Erfindung der Spanier, so Voltaire, sie habe jedoch in Spanien aufgrund des „strengen, grausamen, ja barbarischen Nationalcharakters der Spanier zu einer fürchterlichen Ausprägung kommen können.“210 Insbesondere die Verbindung Philipp II. mit der Inquisition kritisiert Voltaire in seiner Schrift, denn diese sei in der Konsequenz Unheil bringend für Spanien gewesen und habe das Land geschwächt. Diese negative Charakterisierung Spaniens blieb in Frankreich im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts von grundsätzlicher Bedeutung. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts erschienen Marranen als Bedrohung für die christliche Gesellschaft in den „Jüdischen Merckwürdigkeiten“ des lutherischen 206 „D’Argens Protagonist Jacob Brito durchquert die Iberische Halbinsel und korrespondiert aus Barcelona und Madrid mit seinem Freund Aaron Monceca, der sich zur selben Zeit in Amsterdam befindet (91.–107. Brief, IV, S. 1–220). Jedem Schreiben aus Spanien lässt Marquis d’Argens eine Antwort aus Holland folgen, so dass den Klagen Jacob Britos über die religiöse Intoleranz, die lächerlichen Sitten und Gebräuche oder über den unvernünftigen, ja grausamen Charakter der Spanier immer entsprechende antithetische Ausführungen Aaron Moncecas über den aufgeklärten und freiheitlichen Zustand der Niederlande entgegen gesetzt werden.“ (Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 69). 207 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 70. 208 Voltaire: Essais sur le mœurs et l’esprit des nations. Introduction, bibliographie, relevé de variantes, notes et index par René Pomeau, Tome I et II. Paris 1990 (OA Paris 1756). 209 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 71. 210 Voltaire: Essai, Band II, S. 296. Zit. nach Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 71. 106

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Theologen und Orientalisten Johann Jakob Schudt (1664–1722). Schudt integrierte in seinem vierbändigen Werk die Marranen als festen Bestandteil der jüdischen Geschichte, deren Herkunft er bis auf König Salomo zurückführte. Schudt grenzte sie auch von den aschkenasischen Juden ab, insbesondere weil sie als Ratgeber der moslemischen oder christlichen Herrscher fungiert hätten. Unter der christlichen Herrschaft in Spanien hätten die Marranen in altkatholische Familien eingeheiratet und großen Einfluss auf das Staatsleben ausgeübt. Durch den Umstand, dass sie perfekt in die christliche Gesellschaft assimiliert waren, erkannte Schudt die Gefahr einer Unterwanderung durch die von ihm bezeichneten heimlichen Juden. Schudt führte den marranischen Arzt Orobio de Castro (1620–1687) an, der selbst auf den Umstand verwies, dass alle Fürsten und Edlen in Spanien von Juden abstammten. Trotz aller Anerkennung für die geistigen Leistungen der Marranen sah Schudt in ihnen eine Gefahr für den christlichen Staat.211 Erst Lessing sollte in seinem Lustspiel „Der Jude“ von 1755 einen Reisenden, der auch marranischer Herkunft sein könnte, einführen, der als Spiegel gegenüber der Intoleranz der christlichen Mehrheitsgesellschaft fungierte.212 Isaak Euchel „Die Briefe des Meschullam ben   Uriah ha-Eschtemoi“ In diesem Zusammenhang ist auch auf die Wahrnehmung des Spanienbildes in der Haskalah hinzuweisen. Herausragend verdeutlichen dies Isaak Euchels (1756– 1804) angeblich in einem Nachlass aufgefundenen Briefe des „Igrot Meschullam ben Urijah ha-Eschtemo’i“ (Die Briefe des Meschullam ben Uriah ha-Eschtemoi). Euchel, einer der entscheidenden Köpfe der Haskalah, wurde 1756 in Kopenhagen geboren. Bereits 1767 ging er nach Berlin, um seine religiöse Ausbildung unter Anleitung seines Onkels mit dem Ziel zu vervollständigen, Rabbiner zu werden. In Berlin kam er schnell in Berührung mit den Berliner Maskilim. Während seines fünfjährigen Aufenthaltes in der preußischen Hauptstadt erwachte sein Interesse an den Wissenschaften mit besonderem Fokus auf der Erforschung der Sprachen. Bedingt durch seine säkularen Studien entfernte sich Euchel auch zunehmend von dem Wunsch seines Onkels, sich ausschließlich auf das religiöse Studium zu konzentrieren. Nachdem Euchel Berlin verlassen hatte, vorgeblich mit dem Ziel, in Frankfurt seine religiösen Studien fortzusetzen, arbeitete er an verschiedenen Orten als 211 Johann Jakob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronik . 3 Teile und Continuatio (4. Teil). Frankfurt und Leipzig 1714–1717. 212 Schapkow: Spinoza, S. 31–41. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Hauslehrer. So verschlug es ihn auch als Lehrer in die Familie David Friedländers in Königsberg. Dort bewarb er sich vergeblich auf die Stelle eines Dozenten für orientalische Sprache. Er wurde trotz einer Empfehlung durch Kant abgelehnt, da nur Bekennern des evangelischen Glaubens eine Anstellung gewährt wurde.213 Von besonderer Bedeutung für die maskilischen Positionen wurde Euchel auch als Herausgeber des „Ha-Me’assef “. Euchel war ein vielseitiger Schriftsteller in hebräischer Sprache. Obwohl ganz den Idealen der jüdischen Aufklärung verpflichtet, stand für ihn außer Zweifel, dass in der Synagoge auch weiterhin ausschließlich auf Hebräisch gebetet werden müsse. Gleichwohl übersetzte Euchel hebräische Gebete ins Deutsche, die jedoch für das Studium der deutschen Sprache benutzt werden sollten. Demzufolge ist es nur konsequent, dass Euchel seinem geistigen Lehrer Moses Mendelssohn ein Denkmal setzte: in seiner auf hebräisch verfassten Mendelssohn-Biografie mit dem Titel „Toldot rabbenu hechacham Mosche ben Mendelssohn“.214 Darüber hinaus übersetzte er den ersten Teil von Maimonides’ „More Newuchim“ mit dem Kommentar von Moses Narboni und dem „Gewat more“ des Salomon Maimon. Sprachlich ein Purist, drückte Euchel seine eigene Distanz zum Jiddischen in seinem Theaterstück „Reb Henoch oder wos tut mer damit“ aus.215 Darüber hinaus trat Euchel deutlich publizistisch gegen die Praxis der frühen Beerdigung bei den Juden auf; ein Streit der die Juden in Deutschland gespalten hatte. Dem Vorbild Berlins folgend, wollte Euchel auch in Königsberg eine jüdische Freischule errichten. Dieses Unternehmen scheiterte jedoch am Widerstand der jüdischen Orthodoxie. Erfolgreicher war er bei der im Dezember 1782 auf seine Initiative erfolgten Gründung der „Gesellschaft der Freunde der hebräischen Sprache“ oder „Gesellschaft hebräischer Literaturfreunde“. Bereits zuvor wurde im Hause David Friedländers in Königsberg die Herausgabe einer Zeitschrift diskutiert, die sich zur Aufgabe setzen sollte, die Ideen der Aufklärung zu propagieren. Dies führte schließlich zur Gründung des „Ha-Me’assef “, dessen erstes Heft 1783 in Königsberg erschien. Im Jahre 1785 wurde die Zeitschrift aufgrund mangelnder Subskribenten 213 Andreas Kennecke: Nachwort. In: Isaak Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung. Schriften der Haskala. Mit den hebräischen Originaltexten. In Verbindung mit dem Franz Rosenzweig Forschungszentrum, Jerusalem herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Andras Kennecke. In: Jüdische Geistesgeschichte. Bd. 3. Christoph Schulte (Hg.). Düsseldorf: Parega Verlag 2001. S. 141. 214 Vgl. Mendelssohn JubA 23. 215 Reb Henoch oder wos tut mer damit. Ein Familienleben in drei Abteilungen. M. Allenstein (Hg.). o. O. 1846. Israel Zinberg: A history of Jewish Literature. Übersetzt und hg. von Bernard Martion. Bd. 8. The Berlin Haskalah. Cincinatti 1976. Zu Euchel und Wolfssohns Stücke vgl. S. 140–150. 108

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wieder eingestellt. 1787 konnte Euchel die Herausgabe des „Ha-Me’assef “ wieder aufnehmen, dieses Mal von Berlin aus. Diese Tätigkeit hatte er bis zum Jahre 1790 inne. Als zweiter Verlagsort blieb Königsberg bestehen. In Berlin leitete Euchel zudem die Druckerei der Jüdischen Freischule. „Als Herausgeber der Zeitschrift war nur die „Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Edlen“ verantwortlich, die jetzt stärker auf die Vermittlung von säkularem Wissen und die Unterstützung der Haskalah als die Verbreitung und Erneuerung des Hebräischen ausgerichtet war.“216 Nach seinem Rücktritt als Herausgeber der Zeitschrift „Ha Me’assef “ war Euchel weiterhin als Mitbegründer der „Gesellschaft der Freunde“ (1791) und der „Gesellschaft zur Förderung der hebräischen Sprache“ (1783) tätig – zwei Foren, die es sich zur Aufgabe gesetzt hatten, Ideen der Aufklärung unter den Juden zu verbreiten. Die „Gesellschaft der Freunde“ verpflichtete sich ihren Mitgliedern der Hilfe bei Krankheit und sonstigen Notfällen, die ihnen aufgrund ihres aufgeklärten Standpunktes von der jüdischen Gemeinde nicht mehr gewährt wurde.217 Die Gesellschaft verfolgte das Ziel, die Aufklärung sowie – entsprechend ihrem Namen – die Beförderung des Edlen und Guten voranzubringen. Dies geschah auf drei Wegen: „Einem literarischen Weg“, auf dem „alle Anstrengungen unternommen werden sollten, um die heiligen Bücher in einer deutschen Übersetzung nach dem Vorbild Mendelssohns herauszugeben. […] Auf dem zweiten belohnenden Weg sollten die verdienstvollen Männer der jüdischen Nation geehrt werden. Der dritte, ausübende Weg zielte darauf ab, die Kräfte der Mitglieder der Gesellschaft zu bündeln und Vorschläge sowohl zu diskutieren als auch in der Wirklichkeit umzusetzen.“218 Dieser letzte Weg, die Umsetzung des literarischen Vorbildes über die Folie der verdienstvollen Männer, die in der Mehrzahl sephardischer Herkunft waren, griff direkt auf die gegenwärtige Situation zurück: Das sephardische Vorbild wurde herangezogen, um eine Änderung des zeitgenössischen deutschen Judentums herbeizuführen. Kennecke nennt den verschärfenden Ton gegenüber den Traditionalisten unter den Mitarbeitern der Zeitschrift als Grund für Euchels Rücktritt als Herausgeber. Diese Tendenz habe sich insbesondere nach der Französischen Revolution und dem Beginn der Reformen in Preußen noch verschärft. Euchels maskilische Position war nicht durch eine grundsätzliche Ablehnung des traditionellen Judentums geprägt. Euchel stellte den Rabbinern, die den Talmud verfassten, ein gutes Zeugnis aus, indem er ihre Erkenntnisse einem Prozess der 216 Kennecke: Nachwort, S. 142. 217 Kennecke zufolge könne bereits „in dem Versuch, ein eigenes Netzwerk und quasi Gemeindeleben aufzubauen die Tendenz zur Teilung der traditionellen (Einheits-)Gemeinde sehen.“ (Kennecke: Nachwort, S. 143). 218 Kennecke: Nachwort, S. 142. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Historisierung unterzog und beispielsweise den Talmud als historisches Dokument der Spätantike auffasste. „Er verdammt die Tradition nicht, sondern preist lediglich den Vorteil aufgeklärter Geschichtskenntnisse, ihren literarischen Nutzen für noch die frommste Lektüre der heiligen Schriften von Bibel und Talmud.“219 Die sich abzeichnende Umwandlung des traditionellen Judentums wurde von Euchel häufig ironisch gebrochen. Dies zeigte sich bei Fragen der Kleidung oder bestimmter Gebräuche, aber auch hinsichtlich einer sich verändernden Rolle der Frau in der jüdischen Gesellschaft. In seinem „Brief an den dänischen König“ folgte Euchel der aufsehenerregenden Denkschrift Christian Wilhelm von Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“, indem er sich dafür einsetzte, alles zu unternehmen, um die Verbesserung der Juden mittels einer Umgestaltung des traditionellen Judentums in ein modernes und aufgeklärtes Judentum herbeizuführen. Der dänische König ging auf diese Vorschläge jedoch nicht ein. Der Briefroman markierte ein neuartiges literarisches Genre innerhalb der hebräischen Literatur. Die Entstehung des hebräischen Briefromans ging auch auf Einflüsse aus der nicht jüdischen europäischen Literatur zurück. Der Briefroman besteht aus einer Folge von Briefen eines oder mehrerer fingierter Verfasser, die durch Tagebuchfragmente ergänzt werden. Anders als im klassischen Ichroman wird im Briefroman nicht vom Ende her erzählt, sondern die Handlung wird vor dem Leser scheinbar ohne Kenntnis des weiteren Handlungsverlaufs ausgebreitet. Die Form der direkten nuancierten Selbstaussage macht den Briefroman zum Mittel differenzierter Seelenschilderung. Der Briefroman geht aus vielfältigen Vorstufen bis auf Ovids „Heroiden“ zurück. Er wurde jedoch ein zentrales Produkt der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts und fand seinen literarischen Höhepunkt in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) als gefühlsbetonte geistige Strömung innerhalb der europäischen Aufklärung. Insbesondere der Kategorie der Empfindsamkeit kam hinsichtlich der Ausgestaltung der privaten Autonomie des bürgerlichen Subjekts eine zentrale Rolle zu.220 Euchels Briefroman steht darüber hinaus auch in der Tradition des Reiseromans. Das Charakteristische des Reiseromans ist die fiktive Darstellung einer Reise. Dabei werden vielfältige Formen der Darstellung, die topografische, ethnologische, (kunst-)historische, wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Fakten sowie persönliche Erfahrungen und Eindrücke des Reisenden vermitteln wollen, mit der Handlung verwoben. Euchels Briefroman „Die Briefe des Meschullam ben Uriah ha-Eschtemoi“ (Igrot Meschullam ben Urijah ha-Eschtemo’i), wurde in hebräischer Sprache 1790

219 Schulte: jüdische Aufklärung, S. 89. 220 Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Auf 3 Bde. berechnet. Stuttgart 1974–1980. 110

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im „Ha-Me’assef “ abgedruckt.221 Es war gleichzeitig das erste Beispiel für dieses Genre innerhalb der Haskalah.222 Im Roman porträtierte Euchel einen jungen orientalischen Juden, Meschulam, der während seiner fiktiven Reise nach Europa unterschiedliche Gesellschaften besuchte und in diesem Zusammenhang auch über die jüdische Erfahrung in diesen Ländern berichtete. Meschulam reiste vom orientalischen Smyrna in Kleinasien über den Peloponnes in die Länder Europas.223 Er verkörperte einen Idealtypus eines jüdischen Aufklärers, der sprachgewandt und umfassend gebildet diese Reise antreten konnte, gleichzeitig jedoch dem Judentum religiös eng verbunden blieb.224 Er bildete gleichzeitig das Bindeglied zwischen seinem gesetzestreuen Großvater und dem aufgeklärten Vater, weil er beide Aspekte in seinem Leben zu verbinden versuchte. Ziel des Romans war es, die Programmatik der Aufklärung unter den Lesern des „Ha-Me’assef “ zu verbreiten. Informationen bezüglich der Geschichte des iberischsephardischen Judentums entnahm Euchel im wesentlichen Salomo Ibn Vergas historischer Darstellung „Schevet Jehuda“ (1554), wie sich insbesondere am dritten Brief zeigen lässt. Außerdem war es für Euchel bedeutsam, die Notwendigkeit eines Zusammengehens von aufgeklärter und religiöser Identität zu illustrieren. Daher finden sich auch nicht jüdische Quellen im Roman. Euchel machte sich die Darstellungen zahlreicher aufgeklärter Autoren zunutze. So orientierte er sich an Montesquieus „Lettres Parsans“225 und an der sechsbändigen Ausgabe der „Lettres Juives“ von Jean-Baptiste d’Argens.226 D’Argens’ Darstellung war aus einer christlichen 221 Vgl. Ha-Me’assef 6 (1789–90), S. 38–50, S. 80–85, S. 171–176, S. 245–259. 222 Kennecke: Euchel, S. 398. 223 So heißt es im Vorwort: „Im Jahre 5529 [1769] nach der Schöpfung schickte ein Mann von den Führern unseres Volkes, ein Einwohner der Stadt Aleppo (die man in der Sprache der Einwohner Chalibon nennt) Uriah ist sein Name, seinen Sohn Meschulam zu einer Fahrt über das Meer in die Königreiche Europas, um die Volkssitten dieser Staaten sowie ihre Eigentümlichkeiten zu sehen.“ (Euchel: Briefe des Meschulam, S. 87). 224 „Der Jüngling war achtzehn Jahre alt, als er von seinem Vaterhaus abfuhr, aufgeklärt und klar denkend, er beherrschte die Sprache seines Volkes und die andere Völker. Von Anfang an begann sein weiser Vater, ihn zu erziehen und ihn Weisheit und Wissenschaft, die hohe Sprache, das Musizieren und die Logik, Astronomie und Experiment und die restlichen Eigenschaften des Menschen zu lehren, die ein Mensch benötigt, wenn er vor den Großen stehen will.” (Euchel: Briefe des Meschulam, S. 87–88). 225 Montesquieu: Lettres Parsans, Amsterdam 1721 (dt. 1760). Jean-Baptiste d’Argens: Lettres Juives. 1736/38, dt. 1763/66. Vgl. zu dessen Wirkung besonders hinsichtlich der Schilderung der Inquisition Shmuel Verses: Gerusch Sfarad be-aspaklarija schel sifrut ha-Haskala. In: Pe’amim 57 (1994). S. 48–81. Hier: S. 51–57. 226 Jean Basnage: L’histoire et la religion des Juifs depuis Jesus Christ jusqu’ a present pour servir de supplement et de continuation a l’histoire de Joseph. 5 Vol. Rotterdam 1707–1711. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Perspektive heraus geschrieben, die sich die Konversion der Juden zum Ziel setzte. Euchel folgte in seinem Roman auch dem verbreiteten Geschichtsmodell Edward Gibbons (1737–1794), indem er das Vergangene in Bezug zu den zeitgenössischen Ereignissen setzte. Anders als Montesquieu, Voltaire und andere christliche Aufklärer war Euchel jedoch nicht daran gelegen, eine Kritik an der christlichen Gesellschaft zu formulieren, sondern auf Missstände in der jüdischen Gesellschaft hinzuweisen und sie ihrer bürgerlichen Verbesserung hinzuführen.227 Verbunden damit war Euchels Anliegen, seinen Lesern einen Eindruck von jüdischer Geschichte in den unterschiedlichen europäischen Ländern zu geben. Wie er bereits in „seinem Artikel ‚Über den Nutzen der Geschichte‘“228 erklärte, verortete Euchel jüdische Geschichte somit in das Zentrum der europäischen Geschichte.229 Der Aufenthalt Meschulams in Spanien nahm im Roman eine Schlüsselfunktion ein. Der Ort Spanien war jedoch auch für die Leser zentral, denn sie sollten ausgerichtet am Beispiel des iberisch-sephardischen Protagonisten die eigene zeitgenössische Situation in Deutschland vor Augen haben. Diese habe bereits Tendenzen hervorgebracht, die der Gesetzestreue der Juden Schaden beigefügt und aus Euchels Sicht eine grundsätzliche Neuorientierung der Juden notwendig erscheinen lassen. Bei einer kleinen jüdischen Oberschicht, den so genannten Hofjuden, sei eine zu starke Annäherung an das Christentum erfolgt. Die daraus hervorgehenden assi

Yerushalmi wies auf die Bedeutung hin, dass Basnage Asyl in den Niederlanden gefunden hatte “It is significant that the first real attempt in modern times at a coherent and comprehensive post-biblical history of the Jews was made, not by a Jew, but by a French Huguenot minister and diplomat, Jacques Basnage, who had found refuge in Holland.” (Yerushalmi: Zakhor, S. 81). Zu Basnage und dessen Geschichte der Juden vgl außerdem Richard H. Popkin: Jacques Basnage’s Histoire des Juifs and the Bibliotheca Sarrazani. In: Studia Rosenthaliana 21 (1987). S. 154–162. 227 Nils Roemer hat hinsichtlich der Bedeutung Basnages darauf verwiesen, dass dessen Geschichte der Juden sich wegen seines messianischen Untertons und der Einbeziehung klandesiner Literatur in Deutschland weniger Beliebtheit als in England und Frankreich unter erfreute. Daher wurden die Darstellungen zur Geschichte der Juden hier eher von christlichen Hebraisten wie Michaelis dominiert. (Vgl. Nils Roemer: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith. Madison 2005. S. 17). 228 Andreas Kennecke: Isaac Abraham Euchel. Architekt der Haskala. Göttingen 2007. S. 406– 407. 229 „Nicht unähnlich zu Herzls ‚Judenstaat‘ kommt es in Euchels Roman zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Judentums, indem sich das jüdische Volk erstmals als gleichberechtigt neben anderen niederlässt und heimisch wird. Euchels Zion liegt in Europa, in einem utopischen Europa, in dem das Judentum integriert und geachtet wird. Diese Wandlung Europas wird von Euchel evolutionär gedacht und einzig durch die Verbreitung von Wissenschaft und Handel bewirkt, nicht durch eine Revolution.“ (Kennecke: Euchel, S. 399). 112

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milatorischen Tendenzen, verbunden mit einer Zurschaustellung von materiellem Wohlstand, hätten schon einmal in der Geschichte Spaniens zu Unheil geführt. Juden sollten stattdessen ein tugendhaftes Leben führen, weil das Exil als Knechtschaft zu verstehen sei, hinter der eine göttliche Strafe für das – falsche – Verhalten der Juden liege. Euchel porträtierte im Roman einzelne Vertreter des sephardischen Judentums wie Meschulam, seinen Vater und seinen Gastgeber in Spanien Badajatzy als bereits aufgeklärte jüdische Persönlichkeiten und grenzte sie von der Elite der Hofjuden in Deutschland ab. Dies zeigte sich insbesondere in der Zusammenführung zweier Aspekte dieser Persönlichkeiten: Aufgeklärtheit und Religiosität.230 Der Aspekt der Aufgeklärtheit teilte sich im Roman auch über die Wahrnehmung von Kultursprache mit. Allerdings war diese bei Euchel nicht etwa eine der europäischen Sprachen, sondern die arabische Sprache, die Muttersprache Meschulams. So waren die Briefe Meschulams in arabischer Sprache an seinen Freund Baruch Ben Albussagli gerichtet. Der Vorgang der Übersetzung dieser Briefe ins Hebräische wurde im Roman dezidiert diskutiert. So sei der Übersetzer „einer der Weisen Spaniens, der viele Tage ein gerechter Lehrer im Haus des Vaters von Meschulam war. Er brachte sie mit sich bei seiner Rückkehr in sein Heimatland, auf die Insel Mallorca, mit.”231 Das Arabische fungierte hier als eine Kultursprache, der sich der Autor mühelos bediente. Allerdings hinterließ auch ein sich veränderndes Bild des Islam am Beispiel der zeitgenössischen Geschehnisse im Osmanischen Reich bereits Spuren bei Euchel. „Die jahrhundertealte Furcht vor den Türken war spätestens seit ihrer Niederlage im ersten Krieg gegen Russland 1769 gewichen und in ein großes Interesse für alles Orientalische umgeschlagen. Die Türken (Orientalen) wurden nicht mehr als gefürchtete Krieger, sondern als ‚verzauberte‘ Wesen wahrgenommen, wie der in orientalische Gewänder gekleidete ‚Schach spielende Türke‘, den Baron Wolfgang von Kempelen (1734–1804) der Kaiserin Maria Theresia präsentierte.“232 Neben der Sprache nahm das äußere Erscheinungsbild der Hauptfiguren eine wichtige Rolle ein. Im ersten Brief vom Ijar 5529 (Mai 1769) schilderte Meschulam wie er auf Geheiß seines Vaters die Kleidung wechselte, um nicht als Jude erkennbar zu sein. Dies diente dem Zweck, die Sitten und Gebräuche der Fremden besser 230 „Sein Vater hatte ihn in der chochma, d. h. in der säkularen Wissenschaft unterrichtet: in Logik, Astronomie, in der Sprache seines Volkes und der anderen Völker, aber auch in den schönen Künsten, in Poesie und Musik, kurzum, er hatte das Bildungsideal, dem die Maskilim nacheiferten, verwirklicht.“ (Michael Graetz: Die Haskala als sozio-kulturelles Phänomen. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 1, S. 299). 231 Kennecke: Nachwort, S. 88. 232 Kennecke: Euchel, S. 399–400. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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studieren zu können. Der Großvater, der das traditionelle Judentum verkörperte, wandte sich jedoch gegen das Anlegen westlicher Kleidung. Dies ist für den Verlauf der Darstellung von Bedeutung, weil Meschulams weltliches Auftreten als Beweis dafür dient, dass eine Reform des gelebten Judentums durch den Kleidungswechsel von traditionell zu modern nicht zu einer Aufgabe der Religion führen müsse. Den nicht jüdischen Mitreisenden Meschulams blieb dadurch allerdings seine jüdische Identität verborgen, und „keiner von uns wusste, wer und von welchem Volk ich bin.“233 Eher zufällig, aufgrund eines plötzlich hereinbrechenden Unwetters, führte Meschulam seine Reise nach Spanien. Spanien erschien als „Ort der Gräuel über Israel, der Wohnstätte unserer Peinigers seit ewigen Tagen“.234 Euchel benutzte in diesem Text nicht den eher gebräuchlichen hebräischen Namen Sepharad, sondern schreibt „Spanien“ in hebräischen Buchstaben. Die Furcht vor diesem Ort Spanien musste sehr groß sein, wenn Meschulam seinen Bruder hinsichtlich seines Aufenthaltsortes zu beruhigen versuchte: „Und erzittere nicht, wenn Du meine Stimme vernimmst, die zu Dir von einem Ort der Gräuel an Israel spricht, der Heimstatt unserer Feinden seit ewigen Zeiten; denn Gott wendet die Sache, von ihr wird kein Übel mehr ausgehen.“235 Spanien wurde als ein zentraler Ort des historischen Verbrechens an den Juden verstanden, und die Erinnerung daran war unvergänglich Die Beständigkeit der Erinnerung an die Vertreibung machte diese Erfahrung für jeden Juden zu einem universalen Wissen. Die Gerechtigkeit sei von Gott selbst wiederhergestellt worden und daher könne von Spanien „kein Übel mehr ausgehen“.236 Damit deutet der Erzähler an, das Spanien zu Zeiten der Reise Meschulams nicht mehr an den Glanz vergangener Zeiten anknüpfen konnte und insbesondere erheblich wirtschaftliche Probleme hatte. Der Peiniger des Judentums trat während der jüdischen Geschichte in Spanien in Gestalt des Christentums auf, das sich im Verlauf der Reconquista aller Nichtchristen, sofern sie nicht zum Christentum übergetreten sind, entledigt habe. Das Trauma der Vertreibung der Juden nahm im Roman eine zentrale Deutungsebene ein und blieb auch für das zeitgenössische Spanien des Reisenden Meschulam präsent – insbesondere bei seinen Erlebnissen mit den Marranen. Zudem zeigte sich dieses Wissen in dem Umstand, dass sich die Marranen einer ständigen Verwandlung unterziehen müssen, sie sich den jeweiligen Umständen anpassen und das Judentum seiner äußeren Umgebung angleichen, wie Meschulam am Beispiel des Kleidungswechsels verdeutlichte. „Und ich wechselte sie jedes Mal, wenn ich einen 233 234 235 236

Kennecke: Nachwort, S. 89. Euchel, Briefe, in: Ha-Me’assef 6 (1789/90), S. 41. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 88. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 88. 114

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Ort oder die Zeit wechselte.“237 Vor der feindlichen Atmosphäre des Christentums, so die deutliche Warnung, müsse sich der jüdische Besucher in Acht nehmen.238 Dennoch beschrieb Meschulam die Marranen als Charaktere, die ihr Judentum trotz Vertreibungsedikt von 1492 und der sich daran anfügenden intoleranten und rigiden Haltung der Inquisition nie aufgegeben hätten. Diese Deutung der Marranen als dem Judentum treu bleibende Individuen unterstreicht Euchels eigene Perspektive, sicherzustellen, dass auch „die nach einer Reform des Judentums in Deutschlands strebenden Juden bleiben würden.“239 Euchels Verständnis von Marranen soll im Folgenden genauer untersucht werden. Bereits auf dem Schiff traf der Protagonist Meschulam auf einen Marranen, der ihn beim Sprechen des Neumondsegens beobachtet hatte und sich im Anschluss daran als Marrane zu erkennen gab. In der Rede des marranischen Mitreisenden begegneten Meschulam das Schicksal und die Unsicherheit der Lebensumstände seines marranischen Mitreisenden ganz drastisch. Würde dessen Identität in Spanien aufgedeckt, wäre ihm der Tod auf dem Scheiterhaufen sicher.240 Der Mitreisende schilderte weiterhin, seine Familie lebe anerkannt unter den Nichtjuden der Stadt, was in der Größe und Erhabenheit seines Hauses inmitten aller anderen Häuser der Christen zum Ausdruck komme. Die Familie lebte neben diesem äußerlichen Leben ihr Judentum im Verborgenen, wie sich auch in der Formulierung „Abkömmlinge der Hebräer“ und eben nicht Juden oder Hebräer deutlich mitteilte. Bedingt durch den Druck von außen, wurde die Familie des Mitreisenden gezwungen, das Christentum anzunehmen. Auch wenn das Jahr dieses Ereignisses hier nicht deutlich benannt wird, dürfte es sich entweder um das Jahre 1391 oder 1492 gehandelt haben. Im Geheimen blieb die Familie jedoch dem jüdischen Glauben treu und hatte das Christentum somit nur formal angenommen. In der Konsequenz hieß dies jedoch, eine verdeckte Identität zu leben, die zudem ständig Gefahr lief, von der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft als jüdisch identifiziert zu werden. Dadurch wurde auch die Tragik dieser marranischen Lebenssituation deutlich. Um weiterhin in der 237 Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 90. 238 „Fürchte Dich nicht vor dem Zorn der Christen und erschrecke nicht in Deinem Herzen vor Ihrem Fanatismus. (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 92). 239 Kennecke: Nachwort, S. 146. 240 „,Ich bin einer der Abkömmlinge der Hebräer, die im Lande Spanien lebten, das Haus meines Vaters war einst groß und erhaben unter den Häusern der Stadt Madrid; sie wurden gezwungen, die Religion der Christen anzunehmen, doch im geheimen befolgen wir bis auf den heutigen Tag die Thora des Moses und die Gesetze des Herrn, des Gottes der Wahrheit, die er unseren Vätern verlieh; wir ruhen am Schabbat und heiligen die Feiertage, soweit wir dies vermögen. Aber über all dies reden wir nicht, denn wenn es auf der Straße bekannt würde, so wäre unser Urteil der Tod, man übergäbe uns dem Feuer und unseren Besitz nähme man in Beschlag.‘“ (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 91). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Gesellschaft geachtet zu werden und somit auch nicht auf den Glanz und Reichtum verzichten zu müssen, nahm die Familie das Christentum formal an, weil ansonsten Leben und Besitz der Zerstörung anheimfallen würde. Der Verlauf der weiteren Reise, die an Griechenland, Malta und Sizilien vorbei schließlich nach Murcia in Spanien führte, brachte eine folgenschwere Änderung für die Reisepläne Meschulams mit sich. Der marranische Mitreisende, der sich Don Marco Badjatzy nannte, lud ihn ein, ihm in dessen Heimtatstadt Madrid zu folgen, wobei er ihn ermahnte: „Fürchte Dich nicht vor dem Zorn der Christen und erschrecke nicht in Deinem Herzen vor ihrem Fanatismus, denn ich werde es erfahren, wenn jemandem Dein Gehen und Kommen bekannt wird.“241 Damit wurde nicht nur auf die unsichere Situation der Marranen hingewiesen. Vielmehr mussten natürlich auch Juden wie Meschulam in Spanien fürchten, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in Konflikt mit dem Gesetz und den Christen zu kommen. Das Bild von Marranen, die scheinbar perfekt angepasst in der spanischen Hauptstadt lebten, im Geheimen jedoch dem Judentum in Riten und Gebräuchen die Treue hielten, war ein weiterer zentraler Bestandteil des zweiten Briefes. Euchel stand dabei auch selbst ganz in der Tradition der maskilischen Literatur, die die Situation der Conversos und deren Assimilation in die christliche Mehrheitsgesellschaft kritisierte.242 Auffällig war hingegen die Anzahl derjenigen, die dem Judentum treu blieben. Jeden Tag, so Meschulam, sehe er im Hause seines Freundes Badajatzy „viele Menschen seines Alters, die das Gesetz Moses im Verborgenen halten“.243 Der soziale Hintergrund innerhalb der Marranen in Madrid war sehr unterschiedlich geprägt, wobei die hohe soziale Stellung auffällig war. So befanden sich unter den Marranen Meschulam zufolge „Minister des Königs, Angesehene im Land, Berater der Kaufleute und Handwerker“.244 Wie Kennecke nahe legt, hatte Euchel damit der Forderung Dohms, Juden müssten Zugang zu allen Gewerben und Berufen haben, zusätzlich Nachdruck verliehen.245 In Spanien erlebte Meschulam, dass die Mehrzahl der Gebote bei den Marranen nicht befolgt und die jüdischen Feiertage nicht gefeiert wurden. Dies geschah mit 241 Euchel: Nutzen der Aufklärung, S. 92. 242 “To be sure, the maskilim created a famous pantheon of Sephardi heroes. But this did not prevent them form singling out certain aspects of Jewish society in Christian Spain that they perceived as problematic. Thus they sharply criticized what they saw as the cultural arrogance of the Jews in Christian Spain in times of peace and affluence and adduced the situation of the conversos to cast light on the problems of religious assimilation.” (Schatz, Returning to Sepharad, S. 269-270). 243 Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 93. 244 Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 93. 245 Kennecke: Euchel, S. 404. 116

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der Erklärung, man lebe unter Feinden. Offen Matzot an Pessah zu essen sei nicht nur gefährlich, sondern widerspreche auch der ursprünglichen Intention „sichtbar das Volk Israel zu sein“246 – ein Umstand der unter der gegenwärtigen Situation nicht gegeben sei. Meschulam zeigte sich über diesen Pragmatismus irritiert. Einzig das Wochenfest wurde, um die prekäre Situation der Juden in Spanien unter der Inquisition zu verdeutlichen, in einer Höhle gefeiert.247 Euchel ließ seinen Protagonisten daraus den zentralen Konflikt im Judentum ableiten, dessen universalistische Prinzipien das Überleben des Judentums überhaupt ermöglicht haben. Diese Auseinandersetzung war zentral für die Aufklärung, deren christliche Vertreter häufig nicht bereit waren zu akzeptieren, dass Juden dem Judentum treu blieben, obwohl sie sich den allgemeinen Zielen der Aufklärung zugehörig erklärt hatten. Es bleibt festzuhalten, dass dieses Dilemma grundsätzlich nicht gelöst wurde. Meschulam behielt Zweifel gegenüber einem zu säkular praktizierten Judentum, besonders wenn es darum ging, Zeremonien zu beschreiben, die denen des gesetzestreuen Judentums entgegenstanden. Allerdings brachte er dem Leser auch die rigide Haltung der Organe der Inquisition nahe, die ein Klima der Überwachung und Angst geschaffen hatten.248 Die Marranen seien lediglich einem „äußeren Gottesdienst“ gefolgt, ohne die Lehren des Christentums tatsächlich zu verinnerlichen. Und dies hängt Meschulam zufolge damit zusammen, dass die christliche Religion Furcht und Schrecken verbreite, die eine Identifikation unmöglich mache. Zudem wurde das durch die Inquisition geschaffene Recht als „boshaft“ charakterisiert, was zudem verdeutlichte, dass Gerechtigkeit hier nicht zu erwarten sei. Gleichzeitig illustrierte die Beschreibung, dass das Christentum eine rein äußerlich gelebte Religion symbolisierte. Dies offenbarte sich beispielhaft in dem Umstand, dass es notwendig war, am christlichen Gottesdienst teilzunehmen. Wer dies nicht tat, machte sich bereits verdächtig. Meschulam war von einem Wissensdurst gekennzeichnet, der von einem zufälligen Fund arabischer und hebräischer Bücher in der Königlichen Bibliothek zu 246 Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 94. 247 „Dieses Fest sei übrigens das einzige, das von den Marranen begangen würde, da an ihm der Tag der Übergabe der Thora, des Gesetzes, an Moses gedacht wird. Von allen Festen sei den spanischen Juden nur dieses, das sich auf die Thora bezieht, verblieben. Die nachbiblischen Feste und Gebräuche werden zur Disposition gestellt und verworfen.“(Kennecke: Euchel, S. 404). 248 „Sie [die Vertreter der Inquisition] stellen Wachen an jedem Platz und jeder Ecke auf, um zu beobachten, ob es jemanden gibt, der ihre Gesetze übertritt, und wenn man einen findet, der nicht in das Gebetshaus zu ihren Festen geht, dann sagt man über ihn, dass er Jude ist oder ein Verbrecher, und man lädt ihn vor die Pforte ihres Rechts. [...] Und aus Furcht vor diesem boshaften Gesetz – es gibt auch viele christliche Marranen – erfüllen sie einen äußeren Gottesdienst, um dieses harte Gesetz potentiell zu bedienen. In ihrem Herzen aber gehören sie nicht zu diesem Volk.“ (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 95). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Madrid entfacht wurde. Aufgrund seiner eigenen Lektüren konnte Meschulam Mythenbildungen, z. B. der Vorstellung, Juden lebten bereits nach der Zerstörung des ersten Tempels auf der Iberischen Halbinsel, entschieden entgegentreten. Am Ende des zweiten Briefes wird aber auch deutlich, wie Meschulam nach seinem Aufenthalt in Spanien dieses Land wahrnimmt: als „Land der Verdammung“.249 In seinem dritten Brief beschäftigte sich Meschulam mit dem „Schevet Jehuda“ von Salomo ibn Verga,250 das er in der Königlichen Bibliothek gesehen hatte und das ihm in das Haus seines Freundes Badajatzky geschickt wurde. Salomo ibn Verga, geboren in Sevilla, wanderte 1492 nach Portugal aus, wo er gezwungen wurde, zum Christentum zu konvertieren. Nach 1506 gelang es ihm, zu fliehen, vermutlich starb er in Neapel. Salomon ibn Verga gilt als erster Autor einer modernen jüdischen Geschichtsschreibung. Yosef Hayim Yerushalmi erklärte, dass “significantly, for ibn Verga it is a Christian custom to read historical chronicles, and here there is a note to envy that is at the same time an implicit criticism of his fellow Jews.”251 Sein „Schevet Jehuda“ „behandelt in 64 Kapiteln Judenverfolgungen und Religionsgespräche, über die er nur zum Teil schriftliche Nachrichten hatte. Unter anderem benutzte er eine jüdische Chronik, die auch seinem jüngeren Zeitgenossen Samuel Usque vorlag, ferner mündliche Traditionen, z. B. über seinen älteren Verwandten Juda ibn Verga, demdessen Namen er den „Schevet Jehuda“ gewidmet hatte. Er überlieferte auch die bekannte Parabel von den drei Ringen in einer relativ ursprünglichen Form. Einen großen Teil seiner Geschichten hatte er selber erfunden.“252 Euchel hält sich in diesem Kapitel eng an die Wortwahl ibn Vergas. Am Beginn stellte Meschulam fest, dass Juden nach der Zerstörung des zweiten Tempels nach Spanien gekommen waren und nicht – wie dies häufig bei anderen Autoren anklang – bereits nach der Zerstörung des ersten Tempels. Es waren die Römer, die es den Juden erlaubten hätten, sich dort niederzulassen und „im Land Macht und Reichtum zu erwerben.“253 Nach der Herrschaft der Römer sei das Land von den Goten regiert worden, diese seien wiederum von den Sarazenen und Mauren abgelöst worden. Meschulam erwähnte nicht die Diskriminierungen gegenüber den Juden während deren Herrschaft. Stattdessen fuhr er fort, unter moslemischer Herrschaft „lebte das Volk Israel in Sicherheit, bis der christliche Alfonso, der Katholik, kam. 249 250 251 252

Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 96. Salomo ibn Verga: Sefer Schevet Jehuda. Herausgegeben von Asriel Shohet. Jerusalem 1947. Yerushalmi: Zakhor, S. 34. Fritz Baer: Salomon ibn Verga. In: Jüdisches Lexikon. Bd. IV/2. S. 1182. Marianne Awerbuch: Zwischen Hoffnung und Vernunft. Geschichtsdeutung der Juden in Spanien vor der Vertreibung am Beispiel Abrabanels und Ibn Vergas. Berlin 1985. 253 Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 103. 118

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In seiner Zeit wurden einige von ihnen vertrieben und kehrten danach wieder ins Land zurück. In der Zeit der Könige, die auf ihn folgten, wurden sie mehrere Male vertrieben und kehrten wieder zurück.“254 Unter der christlichen Herrschaft hätten einzelne Juden dem Königsthron nahegestanden und sie seien wohlhabend geworden. Genau in diesem Umstand erkannte Meschulam ein wesentliches Problem dieses engen Kontakts: „Aber als ihnen Geld und Gold erwuchs, da erwuchs Hochmut und Stolz, sie bauten sich große Häuser, sie legten Weinberge und Obstgärten an und hatten viele Vergnügungen. Sie ritten auf Pferden, die mit Purpur und feinem Zeug gekleidet waren, und sie wurden in den Augen der Menge zur Belästigung. Sie sprachen: Wahrlich, dieses Volks hasst uns seit frühester Zeit, es kam, um unter uns zu wohnen, und wurde mächtiger und größer als wir, es will uns von unserem Land vertreiben.“255

Die Juden wurden eindeutig als Fremdkörper wahrgenommen, denen es einzig darum ging, Kontrolle über die christlichen Spanier auszuüben und diese sogar von ihrem Grund und Boden zu vertreiben. Darüber hinaus existierte ein Hass den Christen gegenüber, der seit frühester Zeit bestanden habe. Meschulam gab darüber hinaus der Einschätzung Ausdruck, in der impulsiven Herrschaft des Volkes die größte Gefahr für die Juden zu erkennen. Das Volk habe sich durch den Reichtum der Juden provoziert gefühlt.256 Diese Stimmung im Volk gegenüber den Juden sei von den katholischen Geistlichen aufgegriffen worden, wenn es heißt: „Als die Priester sahen, dass der Verdienst der Israeliten in den Augen des Königs groß ist, hetzten sie die Menge auf, indem sie ihnen Schlechtes über die Juden predigten und verleumderische Dinge über sie verbreiteten. Sie sagten: Mörder sind sie, sie lauern auf das Blut der Christen, und sie opfern deren kleine Kinder als Menschenopfer für Gott.“257

Diese judenfeindliche Stimmung kulminierte in der Aufforderung an den König, die Juden aus dem Land zu vertreiben.258 Diese nahm noch zu und mündete in den Ereignissen von 1391. Die Juden, so folgerte Meschulam, hätten jedoch nichts daraus gelernt, an der sie selbst nicht ganz unschuldig gewesen seien. Sie hätten ihre Demut vergessen und sich stattdessen hochmütig verhalten. 254 255 256 257 258

Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 103. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 103. Kennecke: Euchel, S. 411. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 103. „Wenn der König dieses Volk nicht von unserem Angesicht entfernt, dann wollen wir gemeinsam aufstehen und Vorkämpfer in die Stadt senden, um sie zu töten, von Jung und Alt soll kein Mensch übrig bleiben.“ (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 103). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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„Und nachdem dieses Wutgeschrei wieder verklungen war, wurde die Freiheit wieder aufgerufen, und sie kehrten in das Land zurück, und kein Mensch fügte ihnen Böses zu, solange sie sich demütig verhielten. Aber zu der Zeit, da sie nicht mächtig waren, vergaßen sie die früheren Nöte und erhoben ihr Herz ein zweites Mal und ritten auf dem Pferd und trugen gestickte Kleider, sie prägten Silber und Gold. Und sie durchbrachen die Bresche durch die Präsentation ihres Reichtums und ihres Wohlstandes. So entzündete sich das Feuer des Neides in den Herzen der Menge, bis sie ein zweites Mal gemeinsam über sie berieten und sie ermordeten und ihnen den Besitz raubten.“259

Im Anschluss daran sei es den Juden ermöglicht worden, nach Spanien zurückzukehren, was sie nach 1391 auch taten. Diese unsichere Situation änderte sich in dem Moment, als Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, die Herrscher wurden von Euchel jedoch nicht explizit benannt, die Juden im Jahre 1492 vor die Wahl stellten, entweder die Taufe anzunehmen oder aber das Land binnen einer dreimonatigen Frist zu verlassen. Ähnlich dem Schicksal der Juden in Spanien sei es auch den Juden 1496 in Portugal ergangen. „Nachdem sie ihren Reichtum und ihren Stolz zeigten, erwachte ein Geist von Neid und Zorn im Volk dieses Landes.“260 Der Hass der Christen gegenüber den Juden gründete zwar in der übertriebenen Zurschaustellung von Reichtum und Macht bei den Juden, die von den Christen als Vorwand angeführt wurde, um gegen diese gewaltsam vorzugehen. Allerdings fiel es Meschulam schwer, die religiöse Motivation zu verstehen, die so gänzlich von den Prinzipien der Vernunft seines eigenen Zeitalters abwich: „Auch mithilfe der Weisheit wüsste ich nicht, wie man ihre Taten rechtfertigen könnte, von den Fremden zu verlangen, eine Religion anzunehmen, deren Mitglieder sich in einer Flut von Wut und rasender Grausamkeit erheben, um deren Last auf die Schulter der Fremden zu legen.“261 Bescheidenheit und Zurückhaltung seien entscheidende Prinzipien, die es einzuhalten galt, um sich nicht den Hass der Mehrheit zuzufügen. Dies erklärt Meschulam am Beispiel seines Vaters, der – obwohl sehr wohlhabend – sich, was die Präsentation seines Reichtums anging, immer in Zurückhaltung geübt habe. Und diese Zurückhaltung hing auch mit dem Verhältnis zwischen jüdischer Minderheit und nicht jüdischer Mehrheit zusammen: „Würden wir im Land unserer Vorfahren wohnen, so hätte ich mir fürstliche und herrschaftliche Paläste gebaut, aber jetzt, bei unserem Leben auf fremder Erde, lebt man auf zweifelhaftem Grund, in einem Land, das uns nicht gehört.“262 Nichts sei von Hass gegenüber den Nichtjuden hier 259 260 261 262

Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 103–104. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 104. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 105. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 105. 120

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zu finden, einzig geistige Schätze gelte es zu heben und die Sehnsucht nach äußerem Prunk sei hier nicht zu finden.263 Auch das Haus seines Freundes Badjatzy war das eines wohlhabenden Mannes und stand allen Gästen offen, allerdings war es Meschulam unmöglich, länger seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen, da er die Unsicherheit und die Angst spürte, die unter den Marranen herrschte.264 Meschulam formulierte erneut klar, die Mitverantwortung der Juden an ihrer Vertreibung. Er begründete diesen wieder mit einer Überheblichkeit gegenüber den Christen, aber auch mit einer nicht mehr vorhandenen religiösen Bindung der Juden untereinander.265 Der Lektüre ibn Vergas entnahm er zudem, dass der Stolz der Juden ihre Vertreibung bedingt habe. Erst durch ihren sichtbaren materiellen Wohlstand hätten der Argwohn und die Angst vor der Macht der Juden bei den Nichtjuden zugenommen. Hier klang bereits etwas an, was sich später bei der negativen Einschätzung des Zusammenlebens von Juden und Christen als eine Kritik an der Assimilation manifestieren sollte, wenn Euchel seinen Erzähler ausführen lässt: „Und in den Tagen der christlichen Könige wurden sie wichtig und groß und dem Königshaus nahestehend. Aber indem ihr Gold und Silber zunahm, nahmen auch ihre Überhebung und ihr Stolz zu, sie bauten sich große Häuser, legten Weinberge und Plantagen an und Lustgärten, ritten zu Pferd, gekleidet in Purpur und Damast; und so wurden sie zum Dorn in den Augen der Massen, die sagten: Dieses Volk hasst uns seit ewiger Zeit, es kommt, um unter uns zu wohnen und wird gewaltiger und zahlreicher als wir und wird uns von unserem Besitz vertreiben.“266

263 „[…] ein ewiges Haus für mich und meinen Stamm gründen und die Männer der Weisheit und der Wissenschaft lehren, anstatt dem Garten, den ich anpflanzen will, um sich in ihm zu vergnügen und mich zu preisen, auf all den Boden, der die Boshaftigkeit meines Nachbarn wachsen wird und der mich beneiden wird, will ich ringsherum Setzlinge anpflanzen, um sie sie Waisen zu schicken, denen nicht geholfen wird. Sie will ich unterstützen und sie Thora und Wissenschaft lehren, damit sie wachsen, gedeihen und Früchte hervorbringen.“ (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 106). 264 „Hätte ich nicht andere in diesem Lande in Angst vor den Christen leben gesehen, so wäre ich in dem Haus meines wohlwollenden Freundes viele Tage wohnen geblieben, um mich im Glanz seiner Gesellschaft zu amüsieren, da sie liebenswürdig ist.“ (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 106–107). 265 „Wenn doch die Leute Israels weise gewesen wären und sich gebildet hätten, indem sie sich bewahrten, und wenn sie sich nicht ihren Hassern gegenüber überhoben hätten [...],dann hätte sie all dieses Übel nicht ereilt.“ (Euchel: Briefe, in: Ha-Me’assef 6 (1789–90), S. 83). 266 Euchel: Briefe, in: Ha-Me’assef 6 (1789–90), S. 81f. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Die Juden sollten stets Demut üben, damit sich nicht der Hass gegen sie regen konnte. „Ihr sollt nicht, Israeliten, an allen Orten Eure Kolonien haben, Ihr sollt nicht nach Reichtum und Ehre jagen, bis Gott Eure Taten annehmen und er Euch von Eurem Unglück befreien wird, denn Euer Silber wird in den Augen Eurer Hasser zu Stacheln und Euer Gold zu Dornen werden [4. Moses 33,55]“ Auch wenn Juden scheinbar integriert in der nicht jüdischen Gesellschaft lebten, sei dies noch kein Garant dafür, tatsächlich sicher zu sein. Folglich sei unter Bezugnahme auf Jesaja 24,2 „der Besitz ein Trug und der Reichtum ein Nichts.“267 Lediglich „Erkenntnis und Vernunft und ein reines Herz werden zur Ewigkeit aufsteigen.“268 Die Christen hätten sich durch das selbstbewusste Auftreten der Juden angegriffen gefühlt und sprachen: „Wahrlich, dieses Volk hasst uns seit frühester Zeit, es kam, um unter uns zu wohnen, und wurde mächtiger und größer als wir, es will uns von unserem Land vertreiben. Als die Priester sahen [die Eliten sind für die Hetze verantwortlich, C. S.], dass der Verdienst der Israeliten in den Augen des Königs groß ist, hetzten sie die Menge auf, indem sie ihnen Schlechtes über die Juden predigten und verleumderische Dinge über sei verbreiteten. Sie sagen: Mörder sind sie.“269 Die eigentliche Vertreibung sei durch den Druck der Straße zustande gekommen und durch die Geistlichkeit initiiert worden. Meschulam weist in seinem Bericht darauf hin, dass „Aufrichtigkeit“, „Weisheit“ und „Gerechtigkeit“ des Königs nichts gegen den Volkswillen haben ausrichten können. Die Vertreibung sei ein großes Unrecht gewesen, wofür es keine Rechtfertigung geben könne.270 Insbesondere die Ungebildetheit der Massen wurde für diesen Akt der Gewalt verantwortlich gemacht. Die dann erfolgte Vertreibung verstand Euchel als Schutzmaßnahme die Schlimmeres, nämlich die Ermordung aller Juden in Spanien, verhindert habe.271

267 268 269 270

Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 110. Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 110. Euchel: Briefe, in: Ha-Me’assef 6 (1789/90), S. 81f. „Auch mit Hilfe der Weisheit wüsste ich nicht, wie man ihre Taten rechtfertigen könnte, von den Fremden zu verlangen, eine Religion anzunehmen, deren Mitglieder sich in einer Flut von Wut und rasender Grausamkeit erheben, um deren Last auf die Schulter der Fremden zu legen?“ (Euchel: Vom Nutzen der Aufklärung, S. 105). 271 Der „Zorn des Volkes“ habe getobt und „wenn sie der König nicht aus seinem Angesicht vertreibt, dann stehen wir gemeinsam auf [...], um sie zu töten vom Knaben bis zum Greis, bis dass keiner übrig bleibt.“ (Euchel: Briefe, in: He-Me’assef 6 (1789/90), S. 81f ). 122

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Darstellungen sephardischer Geschichte in der   Zeitschrift „Sulamith“ Auch in den in deutscher Sprache verfassten Beiträgen in der Zeitschrift „Sulamith. Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität der jüdischen Nation“272 wurden Erziehungskonzepte der Aufklärung auf die sephardischen Juden bezogen.273 Die „Sulamith“ erschien von 1806 bis 1848 in Dessau. Diese Zeitschrift wandte sich auf Hebräisch an ein gebildetes Publikum, während die deutsche Ausgabe einen breiteren Leserkreis anvisierte. Die Beiträger der „Sulamith“ verstanden herausragende sephardische Figuren als Vorbilder für das zeitgenössische Judentum in einer sich verändernden Welt. In einem langsamen, doch stetigen Prozess, der für sie keinen radikalen Bruch mit der Tradition darstellen sollte, näherten sich die Maskilim einem aufgeklärten Denken an. Die „Sulamith“ nahm eine wichtige Funktion bei der Verbreitung maskilischen Gedankengutes ein und übte besonderen Einfluss auf die Ausbildung eines jüdischen Erziehungssystems aus, das sich von traditionellen Schulkonzepten abhob. Im Untertitel „Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation“ zeigte sich das Programm dieser außergewöhnlichen Zeitschrift, das über den religiösen Rahmen weit hinausging. In ihr wurden Artikel zur jüdischen Geschichte, Philosophie und Philologie veröffentlicht und darüber hinaus zahlreiche Rezensionen abgedruckt. Schulen und Zeitschriften wirkten mit ihren Programmen, Konzepten und Diskussionsbeiträgen auf die gesamte jüdische Öffentlichkeit und wirkten schließlich auch in der Wissenschaft des Judentums. Anders als bei der Zeitschrift „Ha-Me’assef “ war die Publikationssprache Deutsch. Zudem hatte die „Sulamith“ ein breiteres Publikum im Blick, das sowohl Juden als auch Nichtjuden ansprach. Ein ständiger Anteil an Mitarbeitern setzte sich aus Nichtjuden zusammen, ebenso befanden sich unter Subskribenten

272 Joseph Wolf hält das Programm der Zeitschrift „Sulamith“ in der ersten Ausgabe fest: „Sulamith will Ehrerbietung gegen die Religion, d. h. gegen diejenigen Wahrheiten, welche des Namens allein würdig sind, bei der Nation erwecken, sie will das dringende Bedürfnis, religiöse Empfindungen und Vorstellungen zu fühlen, von Neuem beleben.“ (Sulamith Bd. 1. 1806) Vgl. außerdem als grundlegenden Beitrag Siegfried Stein: Die Zeitschrift ‚Sulamith‘. In: ZGJD 7 (1937), S. 193–226. 273 Zum Beispiel der Beitrag Fränkels: „Ein Wort über die Juden zu Livorno“. In: Sulamith Bd. 2, 3.1808. S. 145–154. Über Spanien zur Zeit der Inquisition im 17. Jahrhundert geht eine anonyme Rezension ein mit dem Titel „Auszug aus der Frau von Aunoi Reisebeschreibungen durch Spanien, zur Kenntnis des Zustandes und der Sitten von Spanien im 17. Jahrhundert“. Aus dem Französischen. Nordhausen bei Karl Gottfried Goß 1782. In: Sulamith 1808/09. 1. Bd. S. 250–254. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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auch Vertreter der regierenden Fürstenhäuser in Deutschland und Mitglieder der verschiedenen Regierungen. Ziel der Zeitschrift war es, die Ideale der Aufklärung umzusetzen, Ideale, die unter den nicht jüdischen Eliten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend als nicht mehr relevant erachtet wurden. Im Mittelpunkt stand ein um Ausgleich und nicht Konfrontation bemühter Darstellungsstil. Die Zeitschrift und ihre Mitarbeiter fungierten als eine intellektuelle Sammlungsbewegung der frühen Reformbewegung. Allerdings war die Konzentration auf die Aufklärung für die Deutschen der Zeit bereits von neuen Strömungen wie der Romantik abgelöst worden. Daher stand die „Sulamith“ in ihrem Konzept tatsächlich auf Seiten der Vergangenheit.274 Wie bereits am Beispiel der Beiträger für den „Ha-Me’assef “ gezeigt wurde, näherten sich die Maskilim den Konzepten nach Verbesserung an, ohne jedoch einen radikalen Bruch mit der jüdischen Tradition zu formulieren. Durch die Verwendung der deutschen Sprache konnten auch interessierte Christen den diskutierten Themen folgen und christliche Autoren selbst Beiträge liefern.275 „Mit der Entscheidung für die deutsche Sprache verstand sich das neue Blatt folglich von Beginn an als Teil der gesamtbürgerlichen Öffentlichkeit. Damit aber wurde in einem symbolischen Akt die tradierte Grenzziehung zwischen jüdischem und nicht jüdischem Publikum überschritten, die Exklusivität der jüdischen Literatur aufgegeben und die Scheidelinie zwischen beiden Lebenswelten für durchlässig erklärt.“276 Diese zeigte sich auch hinsichtlich der Bedeutung der auf Deutsch gehaltenen Predigten. Das Programm der Zeitschrift erweiterte ein traditionell religiöses Verständnis vom Judentum, veröffentlichte Artikel zur jüdischen Geschichte, Philosophie und Philologie und druckte zahlreiche Rezensionen zu Publikationen über jüdische Geschichte und insbesondere zur Verbesserung und Emanzipation der Juden. Die in der „Sulamith“ diskutierten Konzepte nahmen auf die gesamte jüdische Öffentlichkeit Einfluss und sollten die Wissenschaft des Judentums nachhaltig beeinflussen.277 So bemerkte der Mitbegründer Joseph Wolf (1762–1826), ganz dem Geiste der Aufklärung verpflichtet, dass „jedes Volk [...] einer Bildung, einer Sittenverbesserung nicht

274 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 451. 275 Sorkin: Transformation of German Jewry, S. 82. 276 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 447. Sorkin: Transformation of German Jewry, S. 81–99. 277 Neben den Parametern Bildung sowie Religion bzw. Konfession stellte Lässig die Kategorie Öffentlichkeit als die dritte Instanz zum Verständnis der deutsch-jüdischen Verbürgerlichungsprozesse im 19. Jahrhundert zusammen. (Vgl. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 454–504. Außerdem vgl. Nagel: Zur Journalistik der frühen Haskala, S. 28). 124

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unfähig“278 sei. Wolf verstand die Juden als Volk, denen ebensolche Möglichkeiten offenstanden. Es war für Wolf jedoch unbestritten, dass diese „Sittenverbesserung“ nicht ohne herausragende Persönlichkeiten als Vorbilder zu erreichen sei, die er als „heilbringende Schutzengel der Menschheit“279 mit einer großen Vorbildfunktion ausstattete. Mit Maimonides, Aben Esra, Menasse ben Israel waren diese Vorbilder auch bei ihm Vertreter des iberisch-sephardischen Judentums.280 Die Erinnerung an diese herausragenden Persönlichkeiten gestaltete sich Wolf zufolge nicht allein als bedeutsam für die Juden, sondern war gleichwohl universal im „Andenken dieser heilbringenden Schutzengel der Menschheit“.281 Wolf führte Vertreter des sephardischen Judentums an, die seiner Meinung nach mit ihren Kenntnissen die Integration in die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft möglich machten. Er zog diese sephardischen Helden der Vergangenheit als Beispiele für die gegenwärtigen Diskussionen um eine Verbesserung der Juden heran. Dabei diente das literarische Genre der Lebensbeschreibungen insbesondere dazu, auf eine Veränderung bestehender Erziehungskonzepte hinzuwirken. Hier konnten diese jüdischen Heldenfiguren als Gesprächspartner für eine christliche Umwelt vorgestellt, und damit kulturelle und pädagogische Konzepte von Figuren adaptiert werden, die immer Juden blieben ohne zum Christentum konvertieren zu müssen. Es handelte sich hierbei – wie bereits von James Lehman ausgeführt – um eine biografische Imagination, die diese Helden der Vergangenheit als Garanten für die sich nun vollziehende jüdische Aufklärung mit den Prinzipien einer modernen Erziehung einsetzen.282 Die Programmatik der Aufklärung mit ihrem impliziten Aufruf zur „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden wurde in der jüdischen Publizistik283 nachhaltig diskutiert. Joseph Wolf trat mit der Überzeugung auf, jedes Volk, 278 Joseph Wolf: Inhalt, Zweck und Titel dieser Zeitschrift. In: Sulamith, I. Jg. I. Bd. 1. Heft (Juli 1806), S. 1. 279 Wolf: Inhalt, Zweck und Titel dieser Zeitschrift. In: Sulamith, I. Jg. I. Bd. 1. Heft, S. 4. 280 „Auch der jüdischen Nation ließ es die Vorsicht nicht an solchen verdienstvollen Männern fehlen, die mit einer Wahrheitsliebe, welche jede Menschenfurcht besiegt, und oft mit nicht geringer Aufopferung für eine verbesserte Denkungsart ihrer Glaubensgenossen sorgten, und so weit es ihr beschränkter Wirkungskreis erlaubte, Gutes beförderten. Die Namen Maimonides, Aben Esra, Manasse ben Israel, u. a. bleiben dem jüdischen Volke in unvergesslichem Andenken. Ihre Schriften sind voll belehrender Wahrheiten und nützlicher Kenntnisse. Der Geist der Wahrheitsliebe und der gründlichen Forschung wehet in allen ihren Werken. Friede sei mit ihrer Asche.“ (Wolf: Inhalt, S. 4). 281 Wolf, Inhalt, S. 4. 282 Vgl. zu diesem Ansatz insbes. James Lehmann, Mendelssohn and the Me’asfim. Philosophy and the Biographical Imigation. In: Leo Baeck Institute Yearbook (20) 1975, S. 87–108. 283 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 454f. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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auch das jüdische, könne eine solche Verbesserung durch Vermittlung von Ideen einer aufgeklärten Bildung erfahren. Zentral war dabei der Versuch, die nicht jüdische Umwelt als einen Partner wahrzunehmen. Die Orientierung an diesen herausragenden sephardischen Figuren zeigte sich am Beispiel Abraham ben Meir Ibn Esras (1092–1167), der von Salomo Löwisohn (1788–1821) in der „Sulamith“ 1812 als Bestandteil einer europäischen kulturellen Tradition integriert wurde. Ibn Esras Werk erstreckte sich auf bibelexegetische Schriften, er war jedoch auch ein Autor astrologischer, astronomischer und mathematischer Werke. Seine astrologischen Bücher erschienen auch in lateinischer und altfranzösischer Übersetzung. Löwisohn nahm die arabische Eroberung der Iberischen Halbinsel als eine kulturelle Eroberung wahr, die für ganz Europa befruchtend gewesen sei und „durch ihre [die arabische, C. S.] Eroberung Spaniens verpflanzten sie [die Araber, C. S.] die Wissenschaften wieder auf europäischen Boden“.284 Diese Kultur nähme damit zugleich eine Sonderstellung ein, die „als ein heller Lichtpunkt, glänzend am düsteren Horizonte der damaligen europäischen Kultur“285 gestrahlt habe. Diese arabisch-jüdische Kultur in al-Andalus konnte auch deshalb ihre durchdringende Wirkungskraft entfalten, weil Löwisohn sie als Gegenpol zu den Ereignissen in jenem „finsteren Mittelalter“ in Aschkenas entwarf. Dabei könnte der Gegensatz zwischen einem ruhigen Leben „unter den gebildeten Arabern“ in al-Andalus und der Situation in „den meisten Ländern Europas“ unter christlicher Herrschaft nicht unterschiedlicher ausfallen. Zusammenfassend konnte Löwisohn festhalten, dass in Aschkenas „Verachtung, Beraubung des Vermögens und schmähliche Verjagung“ vorherrsche, wobei „die Enkel Abrahams als Opfer zur Erlangung der göttlichen Gnade auf die grausamste Art“286 ermordet würden. Der Kontinuität einer Verfolgung im mitteleuropäischen Kontext stand die Kontinuität einer jüdischen Kultur gegenüber, die sich produktiv mit der Kultur der Mehrheitsgesellschaft vermischte. Diese allgemeine Kultur war christlich bzw. katholisch und stand jedem Prinzip der Aufklärung und Toleranz feindlich gegenüber. Die protestantischen Niederlande verkörperten dabei ein Gegenbild zum Katholizismus. Das Zeitalter einer jüdischen Teilhabe an der allgemeinen Kultur in al-Andalus wurde jedoch nicht als einzigartiges Geschehen interpretiert, sondern gestaltete sich als Wiedererlangung einer kulturellen Blüte, die den Juden „an den wilden babylonischen Gestaden“287 abhanden gekommen sei. Damit wurde auf eine 284 Salomo Löwisohn: Abenezra und dessen Schriften. In: Sulamith (IV) 1812, S. 217–222. Hier: S. 218. 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Ebd. 126

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Kontinuität verwiesen, die jüdische Geschichte nicht losgelöst von der gesamten historischen Entwicklung begriff. Und diese Kontinuität jüdischer Geschichte nahm ihren Ausgang in Babylon, deren jüdische Bewohner Löwisohn als „rasserein“ bezeichneten.288 Nach dem Zerfall des Gaonats von Sura im Jahre 1038 habe ein Transfer jüdischen Wissens von Babylonien nach Europa eingesetzt und „jüdische Gelehrsamkeit und jüdisches Wissen wurden nun nach Europa verpflanzt.“289 In diese kulturelle Ausgangslage wurde Esra integriert, dessen Persönlichkeit auf den ersten Blick nicht mit der Verortung im arabischen Spanien korrespondierte, weil er als Reisender ohne eine feste regionale oder gar nationale Anbindung dargestellt wurde. Dagegen wiesen seine umfassenden wissenschaftlichen Kenntnisse und Interessengebiete eindeutig auf seine Herkunft aus der iberisch-sephardischen Kultur hin. „Als Schriftsteller bearbeitete Abenezra die weitläufigsten Gebiete der Mathematik, Astronomie, Metaphysik, Medizin, Poesie, Exegetik und Grammatik. Ein hell sprudelnder, nie zu erschöpfender Witz durchfühlt seine Schriften, die zugleich das Gepräge hoher Originalität in vollem Maße an sich tragen. – Überall, wo sein erlauchter Späherblick hinfällt, entdeckt er die verborgenartigsten Dinge, und sein tief dringender, alles zermalmender Geist gefällt sich, da neue Bahne zu brechen, wohin sich vor ihm noch Forscher gewagt.“290 Esras wissenschaftliches Selbstverständnis zeigte sich dem Leser in einer breiten Palette an Interessengebieten, die er nicht nur oberflächlich betrieb. Seine Kompetenz habe er „durch Geist und lichtvolle Schriften“291 vielfältig unter Beweis gestellt. Seine Arbeit als Universalgelehrter habe ihm die Wertschätzung seiner jüdischen Zeitgenossen zugetragen, denn „Aben Esra gehört zu den genievollsten, jüdischen Gelehrten“ und sei „bei seinen Glaubensgenossen als Schriftsteller und als Mensch allgemein geschätzt und beliebt“ gewesen. Signifikant ist auch in dieser Lebensbeschreibung der Hinweis, Aben Esra habe große Wertschätzung in christlichen Gelehrtenkreisen genossen.292 Beiträger der Zeitschriften „Sulamith“ und „Jedidja“ folgten den Vorgaben der christlichen Aufklärer wie Dohm darin, dass sich nur über die Erziehung und „bürgerliche Verbesserung“ der Juden deren Emanzipation erreichen lasse. Hierbei 288 „Die babylonischen Juden waren sehr stolz, sie hatten ihre eigenen Gebräuche und Gewohnheiten, hielten sich für die rassereinsten und sahen auf die palästinensischen Juden hinab.“ (Ebd.) 289 Jüdisches Lexikon, Band I, S. 660. 290 Löwisohn: Abenezra, S. 220. 291 Anonymus: Aben Esra. In: Sulamith. (I) 1820, S. 403–415. Hier: S. 405. 292 „Nicht bloß Juden, auch Christen huldigen seiner ungemein ausgebreiteten Gelehrsamkeit, und sprechen nie von ihm, ohne zugleich Beweise der Achtung für ihn an den Tag zu legen.“ (Anonymus: Aben Esra, S. 405). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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wurde auf Kritik an christlichen Mehrheitsgesellschaften eher verzichtet, vielmehr stand der Dialog zwischen Juden und Christen im Mittelpunkt. Im Vorwort der „Jedidja“ hieß es zum Programm der Zeitschrift, es sei das Ziel „an der erhabenen Aufgabe eines wahrhaft humanen und aufgeklärten Zeitalters mitzuarbeiten, [...] das die geistige und politische Wiedergeburt [Motto] eines lange verkannten Volkes herbeiführte.“293 Daher wandten sich die Maskilim den Niederlanden zu, wo die Integration von Juden in die Gesellschaft bereits weit fortgeschritten war. Die Idee einer „Wiedergeburt“ verstand sich hier nicht als eine Form von messianischer oder früher zionistischer Position, sondern sie vollzog sich in der Interaktion mit der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Die spezifische Rolle der Niederlande konzentrierte sich auf die dort herrschenden offenen Rahmenbedingungen für Juden und fand in der Beschreibung eines „holländischen Jerusalems“294 beredeten Ausdruck. Juden standen demzufolge im regen Austausch mit der umgebenden Mehrheitsgesellschaft. Diese Autoren orientierten sich bei ihrer Beschreibung und Deutung der iberisch-sephardischen Kultur vornehmlich an den Nachfahren ehemaliger Marranen, die nicht nur toleriert wurden, sondern in der christlichen Mehrheitsgesellschaft besonders als intellektuelle Gesprächspartner integriert waren. Die hier angesprochene „geistige und politische Wiedergeburt“ vollzog sich auf Grundlage der kulturellen Integration der herausragenden sephardischen Autoritäten. Dabei ging man von der Annahme aus, dass die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in unterschiedlichen europäischen Städten, besonders in Amsterdam, lebenden Nachfahren der Marranen sich mit einem hier vorhandenen selbstbewussten Bürgertum vermischten, indem sie sich „Bildung und Wissen der verschiedenen Länder, in denen sie lebten, aneigneten“ und dadurch „maßgeblich zur Kultur ihres Landes“295 beitrugen. Die spezifischen Lebensbedingungen in der marranischen Diaspora wurden von den Maskilim als „Beweis“ angesehen, dass es möglich war – und folglich auch wieder möglich sein könne – als Jude respektiert in einer christlichen Umgebung zu leben. Aus diesem Grunde wurden häufig nur solche Eigenschaften und Charakterzüge bei den vorgestellten Protagonisten hervorgehoben, die dieser Vorstellung – gehört und somit als Vermittler wahrgenommen zu werden – auch entsprachen. Religiöse Zuschreibungen wurden entweder nur peripher berücksichtigt oder ganz ausgeblendet. Dieser Konstruktion einer vorwiegend positiven und ausschließlich säkularen Tradition im sephardischen Judentum wohnte somit ein Appellcharakter inne, der sich an diejenigen deutsch-jüdischen Intellektuellen richtete, die bereits 293 Jeremia Heinemann: Vorwort zur ersten Ausgabe der Jedidja. In: Jedidja. (1) 1818. S. 1. 294 Zur Begriffsbestimmung eines holländischen Jerusalem vgl. Roth, History of the Marranos. 295 Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation, 1770– 1870, Cambridge 1998, S. 45. 128

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begannen, sich von einem als traditionell-rabbinisch aufgefassten, aschkenasischen Judentum abzugrenzen. Diese Abgrenzung verstand sich insbesondere als eine Kritik am Erziehungsstandard im traditionellen Judentum.296 Die Bedeutung der Niederlande für die Maskilim wurde an einem weiteren Beispiel deutlich: Die von 1795 bis 1806 unter französischem Einfluss existierende Batavische Republik gewährte den Juden hier 1796 die Bürgerrechte. Nach Frankreich 1791 war dies somit das zweite Land in Europa, in dem die Juden rechtlich den Christen gleichgestellt waren.297 Dieser Umstand wurde von den Maskilim eingehend gewürdigt und versetzte die Beiträger in der „Sulamith“ und der „Jedidja“ in die Lage, die Niederlande als legitimen Nachfolger von al-Andalus aufzufassen. In diesem Sinne hoben sie die niederländische Republik als Vorbild für andere Staaten in Europa hervor. Neben der Verleihung der Bürgerrechte für die Juden waren die Niederlande für die Maskilim auch deswegen bedeutsam, weil diese spezifisch sephardische Kultur auf der Grundlage einer fruchtbaren Vermischung von jüdischer Tradition und allgemeiner Wissenschaft aufgefasst wurde, die als Beweis für die Integration in eine so verstandene allgemeine Kultur begriffen wurde. Diese als ideal verstandene innerjüdische Konstitution traf auf einen aufgeklärten Staat, der den Juden bereits im 17. Jahrhundert tolerant gegenübergestand und ihnen Religionsfreiheit und rechtliche Rahmenbedingungen für ihre Niederlassung einräumte. In den Niederlanden wurde im Verständnis der Maskilim eine christliche Religion praktiziert, die dem Prinzip der Toleranz verpflichtet war und damit dem Geist des Christentums im Zeichen von Inquisition und Reconquista auf der Iberischen Halbinsel entgegenstand. Dass damit die Assimilation der Juden weit voranschritt, war eine durchaus wünschenswerte Tendenz, die auch für die deutschsprachigen Juden angestrebt wurde. In den Niederlanden habe sich die Assimilation dadurch ausgezahlt, weil der Staat den Juden die Gleichstellung einräumte. Diese vergleichende Perspektive zwischen den Niederlanden und allen anderen europäischen Staaten zeigte sich in Salomo Löwisohns Verständnis ganz deutlich, wenn er schrieb: „Je mehr wir die vormalige Lage der Israeliten im übrigen Europa bedenken, desto lobenswerter muss sich das Benehmen der holländischen Regierung gegen dieselben unsern Augen darstellen. Denn nicht nur wies man ihnen in Holland in gesunden und sogar schönen Teilen 296 Dies lässt sich sehr anschaulich an der Autobiografie Salomon Maimons aufzeigen. Vgl. Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt. Zwi Batscha (Hg.). München 1984. (OA Berlin 1792.) 297 Vgl. H. J. Koenen: Geschiedenis der Joden in Nederland, Utrecht 1843, S. 487–488. In: Raphael Mahler (Ed.): Jewish emancipation. A Selection of Documents. New York 1941. S. 10–11. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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der Städte ihre Wohnungen an, ohne sie mit irgendeinem auszeichnenden Tribute zu belegen, und ohne ihren Kleidern entehrende Kennzeichen anzuhängen; sondern man ließ sie daselbst auch die Früchte ihres unermüdlichen Gewerbefleißes, ungehindert und unbeneidet, auf jede Art genießen.“298

Der Staat profitierte in dieser Lesart direkt von seiner toleranten Haltung, indem die Wirtschaft florierte. Zudem zeigte sich diese tolerante Haltung auch im gegenseitigen Gespräch von Juden und Christen. Löwisohn bezog sich auf den Bau von Synagogen, wenn er erklärte: „Prächtig ließ man die zitadellenähnliche portugiesische Synagoge zu Amsterdam emporsteigen, und die christlichen Gelehrten daselbst wetteiferten sogar, sie mit ihren Inschriften zu versehen.“299 Dieses offensichtliche Zeichen einer Integration, wie sie sich architektonisch ausgestaltete, wurde noch stärker durch das Medium Sprache mitgeteilt. Mehr noch als Sprechen, symbolisiert Schreiben eine tiefere Bindung und der Umstand, dass christliche Gelehrte die Synagoge mit Inschriften versehen wollten, unterstrich diese Wahrnehmung einer gemeinsamen Kultur eindrücklich. Nicht allein die Juden brachten ihre Kultur in die Gesellschaft mit ein, die Christen selbst zeigten sich von der Notwendigkeit der Integration der Juden überzeugt. Auf Grundlage dieses freundlichen Klimas blühte auch das geistige Leben der Juden. Die Gründung von Druckereien führte zu einer Blütezeit der hebräischen Sprache und „alles Schöne und Nützliche, was noch die hebräische Sprache von den ersten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts an, bis zu Mendelssohnschen Epoche geliefert“ [hatte], konnte „sich von Holland aus unter Israel verbreiten.“300 Nur auf Grundlage dieses toleranten Klimas, an dem Juden und Christen beiderseits teilhatten, konnte sich eine Renaissance jüdischer Kultur unter alle Juden verbreiten. Die niederländische Regierung sicherte den Juden bereits im 17. Jahrhundert eine Rechtssicherheit zu, wie sie sonst in ganz Europa nicht anzutreffen war. Dieser Umstand wurde in den Zeitschriften eingehend gewürdigt. In einem Klima relativer Toleranz war es den hier lebenden Juden möglich, ihren Glauben uneingeschränkt zu leben bzw. zu diesem wieder zurückzukehren und der jüdischen Kultur und insbesondere der hebräischen Sprache zu einer herausragenden Stellung und großer Blüte zu verhelfen. Die Existenz eines Dialogs zwischen Juden und Christen war für die Maskilim von überragender Bedeutung. Dies zeigte sich eindringlich am Beispiel Menasseh ben Israels und wie er in der „Ha-Me‘assef “ besprochen wurde. In der Analyse seiner Betrachter war es allein Menassehs Verdienst, dass die Interven298 Salomo Löwisohn: Menasseh ben Israel, der glückliche Sachverwalter seiner Glaubensgenossen. In: Sulamith, (II) 1812, S. 1–5, hier: S. 3. 299 Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 3. 300 Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 3–4. 130

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tion zur Wiederansiedlung der Juden in England, wo sie 1290 vertrieben wurden, möglich wurde. In ihm erkannte man zudem die Fürsprache als eine besonders edle und innovative Form der Diplomatie für jüdische Angelegenheiten. Menassehs politische Initiativen zur Wiederansiedlung der Juden in England im 17. Jahrhundert wurden von seinen Interpreten im ausgehenden 18. Jahrhundert mit seiner eigenen Integration in die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft der Niederlande verbunden. Diese ermöglichte es ihm erst, das Wort in dieser schwierigen diplomatischen Mission zu ergreifen. So verweist der Prager Maskil Ignaz Jeitteles (1783–1843) auf den englischen Parlamentarier Middlesex, der Menasseh in einem Sendschreiben als „To my dear brother the hebrew Philosopher“301 anredete. Jeitteles Charakterisierung Menassehs als Bruder des englischen Politikers, verweist auf deren enge gegenseitige Beziehung. Menassehs „vielfachen seiner Talente Anerkennung ehrende Erwähnungen“ hätten umgekehrt auch dazu geführt, dass die Engländer „sich selber ehrten.“302 Die hier erwähnten Gelehrten wie Barlaeus, Wagenseil, Calvin und Grotius waren respektierte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und deren Umgang mit Menasseh zeigte die Wichtigkeit dieses jüdisch-christlichen Dialogs. Der Austausch von Juden und Christen übertrug Vorstellungen einer individuellen „Verbesserung der Juden“, wie sie von Dohm 1781 formuliert wurde, in einem dialogischen Verfahren auch auf die Mehrheitsgesellschaft, die sich gesprächsbereit zeigen müsse, um den Juden diese Verbesserung zuzugestehen. Daran anknüpfend erschien es folgerichtig, einen protestantischen Staat, der die Prinzipien der Aufklärung selbst verinnerlicht zu haben schien, als Garanten für diese Kommunikation aufzubauen. Damit wurde bei den Autoren und der Leserschaft der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass etwas Vergleichbares auch in Preußen und den anderen deutschen Staaten möglich sein müsse. Als Gegensatz machte Löwisohn deutlich, dass in der Vergangenheit der Katholizismus diesen Dialog niemals zugelassen habe und daher auch für die Zukunft als Gesprächspartner nicht in Frage käme. Auf der Basis und „im Hochgefühl seiner eigenen errungenen Freiheit“303 von der spanischen Besatzungsmacht sei der niederländische Staat den Juden freundlich gesonnen gewesen und habe „den Flüchtlingen des von Land zu Land unter Mönchsschwert und fanatischer Pöbelwut gestoßene Israels, brüderlich die Arme [ge]öffnet, und sie in seinem aufblühenden Lande ungestörte Sicherheit, bürgerliche Freiheit und Achtung genießen“304 lassen. Dieses Beispiel erhellt einmal mehr Löwisohns Intention: 301 Isaac Jeitteles: Analekten zur Geschichte der Juden. In: Sulamith (II) 1810/11, S. 410–419. Hier: S. 411. 302 Jeitteles: Analekten, S. 412. 303 Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 2. 304 Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 2. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Die durch religiösen Fanatismus aufgestachelten Menschen hätten die Juden verstoßen. Die Formulierung „Pöbel“ legt zudem nahe, dass es sich hier nicht um aufgeklärte und besonnen agierende Individuen gehandelt habe. Die Vertriebenen seien nicht allein als Gäste in den Niederlanden aufgenommen worden, sondern dort wie Brüder behandelt und als Bürger in die niederländische Gesellschaft integriert worden. Zentral ist dabei der Gedanke, dass sich die jüdische und nicht jüdische Gesellschaft basierend auf den Prinzipien der Aufklärung aufeinander zu bewegten. Menasseh wurde jedoch nicht allein als Figur wahrgenommen, die sich politisch für die Wiederansiedlung der Juden in England einsetzte. Er galt in den Augen der Maskilim als „der glückliche Sachverwalter seiner Glaubensgenossen“, wie es im Untertitel der von Löwisohn verfassten Würdigung heißt. Das Leben Menassehs wurde bei Löwisohn als Wanderung aufgefasst, die „nach langem Herumirren zwischen traurigen Wüsten“, auf der sich „nur grässliche Gestalten ihm gezeigt“ hatten, sich dem Land der Freiheit, den Niederlanden, näherte, wo er „anmutige Naturen“ in einem Umfeld antreffen konnte, das es ihm möglich gemacht habe, „seine umdüsterte Phantasie“ aufzuheitern.305 Schließlich sei der Jude Menasseh in den protestantischen Niederlanden zur Ruhe gekommen. Damit sei auch eine individuelle Suche zu Ende gegangen, die dem die Inquisition noch selbst erlebenden Menasseh eine neue Heimat gegeben habe. Als jüdischer Politiker sei es ihm durch seine Beharrlichkeit gelungen, die Wiederansiedlung der Juden in England zu erwirken. Außerdem habe seine säkulare Bildung, die sich insbesondere in der Kenntnis von zehn verschiedenen Sprachen306 zeigte, seinen „vertrautesten Umgang“307 mit christlichen Gelehrten gefördert. Die Intervention Menassehs zur Wiederansiedlung der Juden wurde als erfolgreiche Umsetzung seiner Diplomatie in Politik aufgefasst, die wiederum nur in einem die Vorurteile ablehnenden Staat möglich gewesen sei. Menasseh war keine Einzelfigur, die auf diplomatischem Wege Juden neue Lebensperspektiven ermöglichen wollte. Der Maskil Simon Bondi stellte Menasseh in der „Jedidja“ in eine Kontinuität mit den Kenntnissen vieler Hofjuden, sich auf internationalem Parkett „als Agenten und Schaffner an den Höfen der Fürsten“308 bewegt zu haben.309 Gleichwohl ist Menassehs Intervention bereits einer politischen Deutung gewichen, denn ihm sei es nicht darum gegangen, Schutz durch mächtige christliche Herrscher zu erwirken. 305 306 307 308 309

Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 1 Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 4. Löwisohn: Menasseh ben Israel, S. 4 Simon Bondi: Menasseh ben Israel. In: Jedidja. (I) 1818. S. 117–125. Hier: S. 114. Simon Bondi: Manoel Texeira. Resident der Königin Christina von Schweden bei der freien Stadt Hamburg. In: Jedidja. (I) 1818, S. 115. 132

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So nahm die Figur Menasseh ben Israel auch in der Zeitschrift „Jedidja“ eine dominierende Rolle ein, die ihn eng im Austausch mit der christlichen Umgebung zeigte. So ging Simon Bondi in seinem Beitrag davon aus, dass „seine tiefen wissenschaftlichen Einsichten, vereint mit dem edelsten Charakter [...] ihm die Liebe und die Hochachtung seiner Zeitgenossen“310 einbrachte. Auch wurde insbesondere dem Umstand Rechnung getragen, dass Menasseh nicht allein aufgrund seiner politischen Mission mit der nicht jüdischen Gesellschaft im Kontakt gestanden hatte, sondern darüber hinaus mit den Gelehrten seiner Zeit einen regen intellektuellen Austausch pflegte. Nur aufgrund dieses Austausches und auf Grundlage der Integration in das niederländische Staatswesen sei es Menasseh möglich gewesen, die Wiederansiedlung der Juden in England zu betreiben. Ausgeblendet wurde von den Measfim hingegen der Umstand, dass die in England herrschenden Puritaner bei ihren Überlegungen bezüglich einer möglichen Wiederansiedlung der Juden von der Überzeugung getragen wurden, die Juden als Teil des so verstandenen göttlichen Heilsplans der Konversion zum Christentum zu unterziehen.311 Auch hier zeigte sich, dass Menassehs eigene messianische Überzeugung, nicht erwähnt wurde, weil diese den Vorstellungen der jüdischen Aufklärer konträr gegenüberstand. Darüber hinaus gibt es einen weiteren sehr gewichtigen Aspekt, der die Wahrnehmung der iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur in den Zeitschriften „Sulamith“ und „Jedidja“ gleichermaßen prägte. Dieser verlässt allerdings die Dimension der Erinnerung an historische Persönlichkeiten mit Wirkung auf eine erhoffte Modernisierung der deutschen Juden, indem Fragen des religiösen Kultus aufgegriffen werden und in einen Vergleich zu den bestehenden deutschen Verhältnissen gesetzt werden. Auch hier wird die Auseinandersetzung mit säkularer Wissenschaft als entscheidender Grund für die wahrhafte Religiosität aufgefasst, wie es David Fränkel in seinem Artikel „Ein paar Worte über Denk- und Pressfreiheit“ formulierte. Ihre „Sach- und Weltkenntnis“312 sei grundlegend für ihr einwandfreies Betragen und nicht zuletzt die Reinheit ihrer Sprache. Auf Grundlage dieser kulturellen Identität seien sie prädestiniert, als Maßstab für alle künftigen Betrachtungen zum religiösen Kultus herangezogen zu werden, wenn es paradigmatisch heißt: „Nur nach jenen sollte man jederzeit den religiösen Cultus der Juden beurteilen, wenn man sich in Untersuchungen über diesen Punkt einlässt.“313 310 Simon Bondi: Menasseh ben Israel, S. 125. 311 Endelman: Jews of Britain, S. 19. 312 David Fränkel: Ein paar Worte über Denk- und Preßfreiheit. In: Sulamith. Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter den Israeliten. 1. Jg. 1. Bd. 4. Heft (Oktober 1806), S. 319–331. Hier: S. 328. 313 Fränkel: Denk- und Preßfreiheit, S. 328. Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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Insbesondere die Einschätzung der Araber und ihrer Herrschaft wurde als Gegenbild zum Christentum etabliert. So führte Löwisohn anhand seiner Besprechung der Schriften Abenezra an, dass es „die hochherzigen Araber“ gewesen seien, die im „grauenvollen Mittelalter“ als einziges Volk „mit so vielen Auszeichnungen und Würde“ agiert haben.314 Wolf hingegen nannte Vertreter des sephardischen Judentums als Garanten für eine gelungene Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft der Vergangenheit. Die Lebensbeschreibungen dieser sephardischen Helden-Figuren wurden für das maskilische Erziehungsprogramm herangezogen: „Wir werden in der Folge Gelegenheit nehmen, sowohl aus den Schriften dieser würdigen Männer Auszüge, die unserem Plan entsprechen, als auch die Lebensbeschreibungen und Charakterzüge derselben in gegenwärtiger Zeitschrift nach und nach zu liefern.“315 Der weitere Mitherausgeber der „Sulamith“, David Fränkel (1779–1865), war als langjähriger Direktor der Dessauer Franzschule besonders intensiv mit Fragestellungen zur neuen jüdischen Unterrichtsform beschäftigt. Er war auch Mitglied des jüdischen Konsistoriums im Königreich Westfalen (1807–1813) und gründete die „Gemeinnützigen Blätter für Wissenschaft, Schule und Leben“, deren erster Jahrgang 1833 erschien. In seinem Beitrag aus dem Jahre 1806 nahm für Fränkel die bestehende religiöse Praxis der sephardischen Juden eine Vorbildfunktion ein. Fränkel orientierte sich dabei am Beispiel der Gemeinde in Livorno und bezeichnete die Ausübung des religiösen Kultus bei den sephardischen Juden als vorbildlich. Seiner Meinung nach war nur auf diesem Weg eine Modernisierung und Erneuerung des Kultus in aschkenasischen Gemeinden möglich. Von zentraler Bedeutung für diese positive Einschätzung waren die Hauptrepräsentanten der Gemeinde, die Rabbiner und Prediger, deren allgemeine Bildung, gute Umgangsformen und eine reine Sprache es ermöglichten, auch eine als vorbildlich erscheinende jüdische Religion zu repräsentieren. Fränkel illustrierte ein Bild des sephardischen Juden, das von einer feierlichen Würde getragen wurde und als Vorbild für die deutschen Juden und deren Bestrebungen nach Reform des jüdischen Gottesdienstes dienen sollte. Dieses Rollenmodell verstand sich explizit auch als eine Abgrenzung vom traditionellen aschkenasischen Judentum seiner Zeit mit seinen aus Polen stammenden Lehrern und Rabbinern.316 Diese Einschätzung findet sich auch später in Zunz’ Bemerkung 314 Löwisohn: Abenezra und dessen Schriften, S. 217. 315 Wolf: Inhalt, in: Sulamith, 1. Jg. 1. Bd. 1. Heft ( Juli 1806), S. 4. 316 „Ihre Andachtsübungen in ihren Tempeln sind ordentlich, ruhig, feierlich und erbaulich; die meisten ihrer Rabbiner sind echt gelehrte Männer, die Sach- und Weltkenntnis haben und gute Prediger sind; ihre Redner sind vortrefflich; ihre Kinderlehrer sind lobenswert, ja selbst ihre Schulanstalten verdienen als z. B. in Livorno [...] das beste Lob. Ihre Sprache ist 134

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Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

über den Wanderer aus der „polnisch-jüdischen Barbarei“, der in das hesperische Land der iberisch-sephardischen Kultur hinüberblickt, was im Abschnitt C noch näher diskutiert wird. War es Wolfs Absicht, die diesen sephardischen Figuren nahegelegten „Wahrheiten“ und „Kenntnisse“ für das Ziel einer Emanzipation der Juden zu nutzen, erweiterte Fränkel den bis dato vorherrschenden Blick auf verdiente sephardische Figuren, indem er die Ausübung des Judentums in Ritus und innerer Ruhe als unerreicht für die deutschen Juden einführte, aber dennoch der Hoffnung Ausdruck verlieh, in den zeitgenössischen sephardischen Juden ein Vorbild für Reformbestrebungen im deutschen Judentum zu erkennen. Die Unvermischtheit der Sprache hob auf den Umstand ab, dass der Gebrauch des Hebräischen und Deutschen der aus Polen stammenden oder in Polen lebenden Juden in der Regel als „korrupt“ und somit als ein unsauberes Sprachengemisch verstanden wurde.

unvermischt und rein, und ihr Betragen nicht auffallend ausgezeichnet. Wir erkennen nicht bald die Verschiedenheit dieser Israeliten von vielen deutschen ihrer Confession? Nur nach jenen sollte man jederzeit den religiösen Cultus der Juden beurteilen, wenn man sich in Untersuchungen über diesen Punkt einlässt.“ (David Fränkel: Denk- und Preßfreiheit, S. 328). Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für die Haskalah

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C  Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition in der Wissenschaft des   Judentums Darstellungen nationaler Geschichte aus deutscher und   jüdischer Perspektive

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uf nicht jüdischer Seite brachte die europäische Aufklärung große geistige Umwälzungen mit sich, ihre Entsprechung auf jüdischer Seite war die Haskalah, die noch weitaus radikaler die vormoderne jüdische Gesellschaft in die Moderne hineinwarf. Die damit einhergehende Transformation der deutschen und der jüdischen Gesellschaft ließ nach Abschluss dieses Prozesses ihre Erscheinungsbilder erheblich verändert zurück. In dem Prozess entwickelten sich Übereinstimmungen zwischen jüdischen und christlichen Deutschen bei der Wahrnehmung eines nationalen Selbstverständnisses und einer nationalen Geschichte im 19. Jahrhundert, genauso deutlich traten aber gerade hier auch die Unterschiede zutage. Deutschland war am Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreiche Einzelstaaten zersplittert und das Selbstverständnis seiner Bewohner und deren Identität konzentrierte sich auf das Territorium, in dem sie lebten, und keineswegs an der Vorstellung und dem Konzept einer gemeinsamen deutschen Nation. Die Französische Revolution, die Ausbreitung der französischen Hegemonie über Deutschland hinaus und schließlich die Befreiungskriege führten zu einer radikalen Veränderung. Die Ereignisse der „Revolutionsepoche“1 von 1789 bis 1814/15 in Europa gingen mit der Niederlage Napoleons zu Ende und richteten die alte Idee eines christlich orientierten Europas im Anschluss an diese revolutionäre Epoche neu aus. Die damit einhergehende Rückkehr zur alten Ordnung prägte sich besonders nach dem Wiener Kongress durch eine nicht nur latent vorhandene Judenfeindschaft im Gefolge von romantischen Theorien zur Nation aus. Als Antwort darauf entwickelte sich von jüdischer Seite die Strategie, vergangene, vermeintlich Goldene Zeitalter jüdischer Geschichte zu geradezu idealtypischen Vorbildern – in diesem Fall prototypisch die iberisch-sephardische Kultur – auszubilden.

1 Schmale: Geschichte Europas, S. 92. 136

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Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

Die Vorstellung von Christentum nahm im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine durchaus säkulare Funktion ein,2 die „den aktuellen Stand der historischen Entwicklung in Europa mit den mythischen Ursprüngen und der christlichen Heilsgeschichte verknüpfte.“3 Mit der Reichsgründung 1871, die auch die Transformation von einer bäuerlichen zu einer industriellen Gesellschaft beschrieb,4 verkörperte der deutsche Nationalstaat unter Führung Preußens den „Staatsnationalismus“5 in eindringlicher Weise. Der Nationalismusforscher Hans Kohn hatte diesen als „Glaube des neunzehnten Jahrhunderts“ bezeichnet, weil hier „die Verbindung des souveränen Volkes mit einem bestimmten, von ihm zu eigen besessenen Territorium“6 vorliege. Bezogen auf die höchst wechselvolle deutsche Geschichte hat diese Definition ihre volle Berechtigung, setzt man sich jedoch mit der Teilhabe der Juden daran auseinander, stellt sich die Lage anders dar. Es waren die in Deutschland lebenden Juden, die sich zur deutschen Nation bekennen wollten, die im Zuge eines immer stärker werdenden Nationalismus mit seinen dezidierten Ausgrenzungsmechanismen jedoch die zunehmenden Schwierigkeiten dieses Unternehmens erkennen mussten. Die Juden in Deutschland waren daher gezwungen, ein Gegenbild zu diesem monolithisch ausgerichteten Verständnis einer deutschen Nation zu schaffen. Gleichzeitig waren sie bemüht, sich selbst und der deutschen Öffentlichkeit auf diesem Weg zu verdeutlichen, dass sie sich in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integrieren wollten. Das Gegenbild zeigte sich in der iberisch-sephardischen Kultur in eindringlicher Weise. Es wurde als Leitbild für die Entwicklung einer modernen jüdischen Identität in Deutschland eingesetzt und entfaltete sich umfassend in der wissenschaftlichen, literarischen und publizistischen Diskussion jener Zeit. Wie bereits gezeigt wurde, bestand das erklärte Ziel bei Vertretern der Haskalah darin, die in ihrer Mehrheit bis dato von der europäischen Kultur abgeschlossenen Juden an diese ihnen bislang unbekannte allgemeine Kultur heranzuführen. Dies brachte eine Umgestaltung von einem traditionellen zu einem akkulturierten Judentum mit sich, was sich eindringlich in dem Slogan „Emanzipation durch Bildung“7 2 „Das Christentum in der Vorstellung vom christlichen Europa der Epoche der Romantik war, bei aller sicherlich aufrichtigen Gläubigkeit der einzelnen, ein kulturelles Christentum, das Produkt kulturgeschichtlicher Betrachtungen, insoweit also, wiederum ein wenig paradox, ein säkularisiertes Christentum.“ (Schmale: Geschichte Europas, S. 93–94). 3 Schmale: Geschichte Europas, S. 30. 4 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. München 1983. Hier bes.: S. 11–30. 5 Hans Kohn: Nationalismus. Über die Bedeutung des Nationalismus im Judentum und in der Gegenwart. Wien 1922. S. 111. 6 Kohn: Nationalismus, S. 111. 7 Schulte: jüdische Aufklärung, S. 27–28. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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zusammenfassen lässt. Dabei diskutierten christliche und jüdische Aufklärer von Anfang an nicht auf Augenhöhe. Auch wenn die Aufklärer die Ausgestaltung deistischer Positionen betrieben, die das Vorhandensein eines Weltschöpfers zwar annahmen, lehnten sie jedoch das Einwirken eines persönlichen Gottes auf das Weltgeschehen strikt ab. Dennoch stand für sie außer Frage, dass das Christentum das Judentum abgelöst habe und es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich das Judentum durch die Konversion zum Christentum notwendigerweise ganz auflösen werde. Das Christentum war also in den Überlegungen der nicht jüdischen Aufklärer stets präsent. Zwei unterschiedliche Beispiele erklären dies: Der Theologe Friedrich Schleiermacher verstand das Christentum als ethisch höher stehend als das Judentum, da es eine höhere Form des Monotheismus als das Judentum oder auch der Islam repräsentiere. Bei Hegel war das Judentum hingegen im „Weltgeist“ aufgehoben, seine Bestandteile seien von der abendländischen Kultur absorbiert worden. Trotz dieser dem Judentum feindlich gegenüberstehenden Positionen bzw. einem offensichtlichen Nicht-Interesse am Judentum, begaben sich Juden in das Gespräch mit den christlichen Deutschen. Die deutschen Juden setzten sich trotz dieser mehr oder wenig deutlich formulierten Ablehnung des Judentums ausführlich mit beiden Positionen auseinander, um die Möglichkeiten der gewünschten Integration auszuloten. Dabei wurden auch die Theorien von Schleiermacher oder Hegel, ja sogar von Fichte, wohlwollend rezipiert. Eine Grundlage dafür lässt sich, wie bereits gezeigt wurde, in der Denkschrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ des preußischen Verwaltungsbeamten Christian Wilhelm Dohm finden. Diese Schrift richtete sich nicht allein an eine gebildete Schicht, sondern wandte sich ausdrücklich an die politischen Entscheidungsträger und die Vertreter der Verwaltung in Preußen. Dohms Bestreben war es, den Juden die gleichen bürgerlichen Rechte wie den übrigen Untertanen zuteil werden zu lassen, die sie in die Lage versetzen sollten, „glücklichere, bessere Menschen“ zu werden, um sie so zu „nützlicheren Gliedern der Gesellschaft“ zu machen. Dohm blieb jedoch mit seinen weitreichenden Forderungen nach Emanzipation der Juden auf Grundlage ihrer Verbesserung allein. Viele christliche Zeitgenossen sprachen den Juden wegen ihrer Religion jede Fähigkeit zur Integration in die nicht christliche Mehrheitsgesellschaft ab. Die theoretischen Erwägungen eines hohen Beamten der preußischen Verwaltung fielen mit dem Edikt Joseph II. von 1782 und etwas später mit der Französischen Revolution und der Machtübernahme durch Napoleon zusammen. Letztere Ereignisse in Frankreich brachten eine veränderte Politik gegenüber den Juden auch bezogen auf die deutschen Territorien mit sich, indem den Juden 1791 in Frankreich die bürgerliche Gleichstellung gewährt wurde, die dann 1796 auch in den Niederlanden Anwendung fand. Infolge der französischen Besatzungen unter der Herrschaft 138

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Napoleons begannen die deutschen Staaten zu erkennen, dass sie nur überlebensfähig sein konnten, wenn sie umfassende Reformen in ihren Staaten durchführten. Diese Veränderungen sollten „den Agrarbereich, die Gewerbefreiheit, das Bildungswesen, [und] die allgemeine Wehrpflicht”8 umfassen. Dieses Reformwerk schloss die rechtliche Grundlage der Juden und die Zielgabe von deren bürgerlicher Gleichstellung ausdrücklich mit ein. Bereits 1808 konnten Juden in Preußen im Rahmen der vom Stein’schen Kommunalreform das Stadtbürgerrecht erwerben. Dies wurde möglich, da zur Konsolidierung der desolaten Finanzlage des preußischen Staates der geschäftliche Kontakt zu jüdischen Bankhäusern nötig wurde.9 Das Preußische Judenedikt von 1812 war ein weiterer Schritt dieses Reformwerks nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon. Das Edikt machte die in Preußen legal lebenden Juden zu „Inländern und preußischen Staatsbürgern.“ Allerdings wurde eine tatsächliche Gleichberechtigung nicht erreicht, weil die Paragrafen 8 und 9 Juden auch weiterhin vom Richteramt, Offizierskorps und bestimmten Regierungspositionen ausschlossen.10 Bereits seit den 1790er-Jahren gewann die Kritik gegenüber einer bürgerlichen Gleichstellung der Juden jedoch an Schärfe. Die vollständige Gleichberechtigung der französischen Juden gehörte für die Reformpolitiker in Deutschland in den Umkreis staatgefährlicher Bestrebungen, die als „auswärtige Schwärmerei“11 verstanden wurden. Im Zuge einer Radikalisierung der Positionen während der Französischen Revolution vollzogen zahlreiche nicht jüdische Intellektuelle eine Abwendung von universalistisch-humanitären Positionen der Aufklärung. Nachdem sich nationales Denken schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts in den Bildungsschichten vornehmlich in kulturell ausgelegten Debatten verbreitet hatte, gewann der politische Nationalismus – hauptsächlich in Gestalt des Volkstumnationalismus – in Auseinandersetzung mit der napoleonischen Vorherrschaft ab 1806 ideologisch feste Formen und eindeutige Bezugspunkte. Große Teile des frühnationalistischen Gedankengebäudes stammten aus den patriotischen Schriften des 18. Jahrhunderts und deren rasche Rezeption unter den Gebildeten war nur dadurch möglich. Neu waren die Verknüpfung der verschiedenen Elemente und ihre Konzentration auf einen Punkt: die Ausbildung eines nationalen Gedan8 Stefi Jersch-Wenzel: Rechslage und Emanzipation. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II. S. 26–27. 9 Hartwich weist auf den Zusammenhang dieser fiskalischen Notsituation und der Verleihung des Stadtbürgerrechts hin, wobei er die Bereitschaft der Reformer für Veränderungen auch hinsichtlich der Situation der Juden ausdrücklich betont. (Vgl. Hartwich: Tischgesellschaft, S. 206). 10 Frederik William III: Emancipation in Prussia (March 11, 1812). In: Mendes-Flohr/Reinharz: The Jew in the Modern World, S. 141–143. Hier S. 142. 11 Ismar Freund: Die Emanzipation der Juden in Preußen. 2 Bde. Berlin 1912. Hier: Bd. I, S. 90. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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kens in Deutschland unter dem Druck einer Fremdherrschaft, die nicht nur aus ökonomischen und politischen Gründen, sondern vor allem aus kulturellen Gründen auch für die eigenen Werte und Lebensformen als bedrohlich empfunden wurde. Der Franzosenhass und die teilweise bis ins Groteske gesteigerte Deutschtümelei einiger Nationalpatrioten in dieser Periode sind letztlich damit zu erklären. Die Radikalisierung und Politisierung des kulturnationalen Denkens und des national orientierten Patriotismus in den Jahren nach 1806 war in der Selbstinterpretation ihrer Betreiber ein defensiver Akt. Es galt zu verhindern, wie es der deutsche Publizist Joseph Görres nannte, dass „ein Volk seine Eigentümlichkeit verlässt“ und, „misshemmend seine innere Natur, in fremde Kreise hinübertaumelt“.12 Dabei ging es dem Selbstverständnis der Beteiligten nach zunächst und zuerst um die Veränderung des Bewusstseins und Verhaltens und erst in zweiter Linie um institutionelle Um- oder Neugestaltung in der staatlichen bzw. zwischenstaatlichen und gesellschaftlichen Sphäre. Die von so vielen deutschen Intellektuellen vollzogene Abkehr von den universalistischen Positionen der Aufklärung hing fundamental mit den Ereignissen der Französischen Revolution zusammen, die gewissermaßen die Ideen der Aufklärung von der Theorie in die Praxis überführte. Gegen die Vertreter der Französischen Revolution und in deren Nachfolge gegen den politischen Handlungsträger Napoleon wurde der Vorwurf erhoben, dass das Credo der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die Erklärung der Menschrechte und die Errichtung einer republikanischen Grundordnung keine Gültigkeit mehr besäße. Mit diesen Zielen konnte man sich theoretisch gut verständigen, als diese Ideale jedoch in praktizierte Unterwerfungslust anderer Völker, Willkür und Egoismus umgewandelt wurden, wurde hieraus der Untergang der europäischen Freiheit hergeleitet. Das Genie Napoleon wurde somit nach 1806 zum Widergeist, als man erkannte, dass seine Politik auch Unterdrückung mit sich brachte.13 Das Bild Spaniens in der deutschen Literatur   und Geistesgeschichte Die Vorstellungs- und Denkmuster bei nicht jüdischen und jüdischen Gelehrten in Bezug auf Spanien nahmen unterschiedliche Formen an. Es waren dies auf nicht jüdischer Seite Johann Gottfried Herder, Johann Gottlieb Fichte und Friedrich von 12 Joseph Görres in einem Zeitschriftenartikel vom August 1810. In: Hans-Bernd Spies (Hg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806–1814/15, Darmstadt 1981. S. 160f. 13 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007. S. 185. 140

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Hardenberg, genannt Novalis. Auf jüdischer Seite standen ihnen Saul Ascher, Eduard Gans, Leopold Zunz, Isaak Markus Jost, Heinrich Graetz und Abraham Geiger gegenüber. Den nicht jüdischen Autoren war gemein, dass ein jüdischer Anteil an der allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte Europas ignoriert wurde. Falls Aspekte jüdischer Kultur und Geschichte diskutiert wurden, dann allenfalls als Bestandteile eines historisch überlebten Judentums. Im Gegensatz dazu versuchten die jüdischen Beiträger auf die universale Sendung des Judentums hinzuweisen. Für sie stand das Judentum im Zentrum der europäischen Kultur und Geschichte. Johann Gottfried Herder Johann Gottfried Herder (1744–1803) war, wie Fritz Martini es ausgedrückt hat, „Historiker in philosophisch-religiösem Sinne, und niemals löste er ganz den inneren Widerspruch, Geschichte zugleich als naturhaft-nationale, individuelle Entfaltung und als ein fortschreitendes Wachstum zu einer höchsten, von Gott eingegebenen Humanität zu sehen.“14 Für Herder waren der antike Orient, Ägypten, Phönizien, Hellas, Rom und auch das abendländische Mittelalter „vollkommene Kulturepochen, die einander wie Wachstumsstufen ablösten.“15 Es war Herder, der das erste Mal innerhalb der deutschen Literatur das abendländische Mittelalter als eine eigene Kultur wahrnahm und untersuchte. Herder bezeichnete das Mittelalter als Epoche des „gotischen Geistes.“16 Dieser Geist sei durch eine organisch gewachsene Gemeinschaft gekennzeichnet gewesen, die durch das Papsttum universalhistorisch zusammengehalten wurde.17 Und dieses Wachstum sei immer bezogen auf die jeweilige Epoche organisch zu verstehen, in der der Mensch die Wahl hatte, sich selbst zur Humanität zu befördern.18 14 Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1984. Hier: S. 229–230. 15 Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 229. 16 Zit. nach Kindler Literaturlexikon, Bd. 7, S. 712. 17 Vgl. Rudolf Stadelmann: Grundformen der Mittelalterauffassung von Herder bis Ranke. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931). S. 45–88. 18 Die „Umgestaltung des Menschen durch sich selbst und die Bildung der Kultur als Lebensmilieu nennt Herder die „Beförderung der Humanität“. […] Herder hat dem 19. Jahrhundert den Begriff einer dynamischen, offenen Geschichte vermacht. Da gibt es keinen Traum einer paradiesischen Vorgeschichte, in die man am besten wieder zurückkehrt. Jeder Augenblick, jede Epoche enthält eine eigene Herausforderung und eine Wahrheit, die es zu ergreifen und umzubilden gilt.“ (Safranski: Romantik, S. 23–24). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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In den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1791) wurden seine Gedanken aus der frühen geschichtsphilosophischen Abhandlung „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ von 1774 fortgesetzt. Hier „geht es um die in Klima, Staatsform, Religion, Geschichte lebendigen organischen Wachstumskräfte, um die Einheit von Mensch und Natur, um die naturhaften Gesetze der Menschheitsentwicklung.“19 Die Kultur der Griechen nahm sowohl innerhalb dieses Werkes als auch für Herders gesamtes Denken den wichtigsten Stellenwert ein. Für sein organisches Verständnis von Kultur war jedoch auch die Annahme entscheidend, es habe eine Verbindung einzelner Völker miteinander bestanden.20 So stellte Herder einen Zusammenhang mit einem in Deutschland bereits existierenden Diskurs über arabische Texte in Spanien her, wie sie von Johann David Michaelis in seiner „Orientalischen und exegetischen Bibliothek“ geführt wurde.21 Bezogen auf das Judentum war Herder davon überzeugt, es habe eine wichtige Position innerhalb des sittlichen und religiösen Fortschritts der Menschheit eingenommen. Allerdings stelle das Christentum die höhere Stufe der Religion dar und das biblische Judentum markiere gleichsam einen Niedergang. In diesem Verständnis konnte Herder das Christentum als „eine geistliche Eroberung“ begreifen, in der sich die „echteste Humanität“ manifestiert habe.22 Das Judentum stehe dem als gegensätzlich gegenüber: „Kurz, es ist ein Volk, das in der Erziehung verdarb, weil es nie zur Reife einer politischen Cultur auf eignem Boden, mithin auch nicht zum wahren Gefühl der Ehre und Freiheit gelangte.“ Da sich die Juden unfähig gezeigt hätten, einen eigenen Staat zu errichten, sei ihnen keine andere Möglichkeit geblie-

19 Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 231. 20 „1. Was im Reich der Menschheit nach dem Umfang gegebener National-, Zeit- und Ortsumstände geschehen kann, geschieht in ihm wirklich. 2. Was von einem Volk gilt, gilt auch in der Verbindung mehrer Völker untereinander; sie stehen zusammen wie Zeit und Ort: sie wirken aufeinander wie der Zusammenhang lebendiger Kräfte es bewirkte. 3. Die Kultur eines Volkes ist die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbart. 4. Die Gesundheit und Dauer eines Staats beruht nicht auf dem Punkt seiner höchsten Kultur, sondern auf einem weisen oder glücklichen Gleichgewicht seiner lebendig-wirkenden Kräfte.“ (Zit. nach Kindler Literaturlexikon, Bd. 7, S. 718–719). 21 Johann David Michaelis: Orientalische und exegetische Bibliothek. Frankfurt am Main 1771–91. Michaelis war außerdem der wissenschaftliche Berater einer durch den dänischen König angeregten Arabien-Expedition. Vgl. dazu Michaelis Schrift: Fragen an eine Gesellschaft gelehrter Männer, die auf Befehl ihrer Majestät des Königs von Dänemark nach Arabien reisen. Frankfurt/Main 1762. 22 Zit. nach Kindler Literaturlexikon, Bd. 7, S. 719. 142

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ben, als „eine parasitische Pflanze auf den Stämmen andrer Nationen“ zu werden.23 Herder lehnte eine Emanzipation der Juden keineswegs ab, allerdings war er wie viele andere Vertreter der Aufklärung davon überzeugt, das Judentum sei durch das Christentum als höher stehende Religion abgelöst worden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf zu verweisen, dass Herder einen entscheidenden Anteil daran hatte, die Volksdichtung in die deutsche Literatur einzuführen. Der Kategorie des Volkes kam in den „Briefen zur Beförderung der Humanität“ in der Abgrenzung von den Autoren der Klassik eine Schlüsselfunktion zu, wenn Herder forderte, „eine gegenwartsnähere, volksnähere und nationale Dichtung“24 zu schaffen. In der „10. Sammlung der Briefe“ wurde die Bedeutung einer einigenden Volks- und Nationalsprache noch hervorgehoben: „In allem das große Gefühl hervorzubringen, dass wir Ein Volk seien, Eines Vaterlandes, Einer Sprache. Dass wir uns in dieser ehren und bestreben müssen, von allen Nationen unparteiisch zu lernen, in uns selbst aber Nation zu sein.“25 Herders „Volkslieder“ geben über diese Vorstellung Auskunft. Sie wurden 1775 in Druck gegeben, 1807 erschienen sie unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“ und wurden breit rezipiert. Als ein zentrales Beispiel gilt Herders Übersetzung der Romanze über den spanischen Nationalhelden „Cid“, die posthum 1805 erschienen war.26 Herders Interesse an Spanien entstammte vermutlich aus dem Bedürfnis heraus, „Don Quijote“ auf Spanisch zu lesen, da er mit der deutschen Übersetzung nicht zufrieden war.27 Jedes Volk und jede Kultur besaß für Herder eine unverwechselbare Individualität. Das wahre Volkslied sah er hingegen in der 23 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Bernhard Suphan (Hg.): Herders sämmtliche Werke. Bd. 14. Berlin 1909. S. 67. 24 Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 231–232. 25 Zit. nach Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 232. 26 In dem 45. Vers „Unter Alfonso dem Tapferen“ betrügt der Cid zwei Juden, die ihm Geld leihen sollten. (Herder Werke, Bd. 3. Herausgegeben von Ulrich Gaier, S. 639–640). Im 57. Vers „Feldzug in Valencia“ werden Feste mit Ritterkämpfen und Prachtturnieren veranstaltet, an der Mohren und Christen teilnehmen, allerdings werden Juden nicht erwähnt: „Feste werden angeordnet/ Ritterkämpfe, Prachtturniere/ Mohren, Christen, Alle freuen/ Auf das Fest sich, auf die Spiele.“ Gaier vertritt die Ansicht, Herder habe durch die Kritik des Cid an den Zuständen seiner Zeit tatsächlich auch Kritik an Herzog Karl August geübt. (Ebd. Bd. 3, Kommentar, S. 1289). Zwischen 1805 und 1922 erlebte der Cid 88 Auflagen in 35 verschiedenen Ausgaben. Der Cid wurde außerdem Schullektüre in Deutschland und Österreich (Ebd. S. 1309). Der Cid war auch deshalb so populär, weil der Held gewissermaßen bürgerliche Tugenden vertrat, so z. B. die für das 19. Jahrhundert so wichtige unverbrüchliche Treue, die den Cid nicht nur zum Nationalhelden Spaniens werden ließ. (Ebd. S. 1310). 27 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 233. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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spanischen Romanze verkörpert. So umfasste der erste Teil der „Volkslieder“ zwölf spanische Romanzen. Darunter fallen die „Guerras Civiles de Granada“, in denen die „Größe und Schönheit des letzten maurischen Herrschaftsgebietes in Spanien, dem Königreich Granada“28 besungen wird.29 Bereits in seiner Streitschrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“ aus dem Jahre 1774 hatte Herder sein Verständnis vom arabischen Spanien zum Ausdruck gebracht. Hier hatte er den Orient als „auserwählten Boden Gottes“30 gekennzeichnet. Die Bewohner hätten in enger Verbundenheit mit Gott und Natur gelebt. Dadurch hätten sie „Einfalt, Stärke und Hoheit“ ausbilden können, die „in unsrer philosophischen, kalten europäischen Welt wohl nichts, gar nichts ihresgleichen hat.“31 Drei Jahre später, in „Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker“32 (1777/78), hatte Herder dieses ansatzweise positive Araberbild zu einem geschlossenen Konzept verdichtet, in dem er der arabischen Kultur neben der heidnisch-nordischen und christlichen einen festen Platz innerhalb der historischen Menschheitsentwicklung zuerkannte. Mit der These, dass Poesie direkten Einfluss auf Glaube, Handlung, Sitten und Charakter eines Volkes habe, lässt Herder das arabische Volk in einem hellen Licht erscheinen, denn „von jeher waren die Araber Dichter, ihre Sprache und Sitten war unter und zu Gedichten gebildet“.33 Da Herder in ihrem Leben ein direktes Abbild ihrer Dichtung sah, „welche von Unabhängigkeit, Freiheit, Abenteuergeist, Ehre, Mut und Liebe handelte, stellten diese poetischen Inhalte für ihn gleichzeitig Merkmale des arabischen Nationalcharakters dar.“34 Herder zufolge seien die Araber, als sie nach Spanien gekommen waren, zu den Ideengebern Europas geworden. In seinen „Briefen zur Beförderung der Humanität“ ging Herder sogar davon aus, dass das arabisch beherrschte Spanien mit dessen reichen kulturellen Schätzen der Ort war, „wo für Europa die erste Aufklärung

28 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 235. 29 Hier wurden im ersten Teil die Auseinadersetzungen von zwei verfeindeten maurischen Familien geschildert, „deren Protagonisten mit großer Sympathie gezeichnet werden sowie die Kämpfe gegen die Christen“ (Hönsch, Wege des Spanienbildes, S. 235.) Im zweiten Teil werden die Aufstände der Mauren gegen die Christen in Granada geschildert, die den Beginn der europäischen Maurophilie einläutete. „Mit diesem Roman, in dessen Handlung zahlreiche Romanzen eingestreut sind, die das ritterliche und edle Leben der Mauren besingen, nahm die europäische Maurophilie ihren Anfang.“ (Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 235). 30 Herder: Werke 4, S. 16f. 31 Herder: Werke 4, S. 16f. 32 Herder: Werke, 4, S. 154–158. 33 Herder: Werke, 4, S. 189. 34 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 236. 144

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begann,“35 wenn er schreibt: „Spanien nämlich war die glückliche Gegend, wo für Europa der erste Funke einer wiederkommenden Kultur schlug.“36 Herder verstand die Araber als kulturelle Vermittler von Wissen, das sie nach Europa pflanzten: „Es kam ein Geschmack des Wunderbaren, des Abenteuerlichen in Unternehmung, Religion, Ehre und Liebe nach Europa, der sich unvermerkt von Süden immer weiter nach Norden pflanzte, mit der christlichen Religion, und zugleich mit dem nordischen Riesengeschmack mischte, und einen sonderbaren Druck auf Sitten und Völker machte, auf die er flog.“37

Herder vertrat zudem die Ansicht, dass es auch noch im Umfeld der Reconquista zu einem Austausch von Ideen zwischen Christen und Arabern kam. Allerdings habe eine Vermischung dieser Völker nicht stattgefunden. Hönsch vermutet, Herder habe hier auf die Limpienza de Sangre Bezug genommen, die streng darauf achtete, dass sich Altchristen nicht mit Juden oder Moslems mischten. Allerdings ignorierte Herder die Beteiligung von Juden an dieser Kultur. Der Einfluss der Araber sei jedoch sehr hoch gewesen. So habe der spezifische maurische Rittergeist auch die christliche Kampfkultur beeinflusst und sich in Gestalt des „christlichen Rittertums“38 am eindrücklichsten ausgeprägt. In ihren Dichtungen, insbesondere in den Romanzen der „Guerras Civiles de Granada“, wurden die Spanier zu „veredelten Arabern“.39 Ihre Dichtungen hingegen glichen „Hesperischen Zaubergärten.“40 Herder trug im entscheidenden Maße dazu bei, die Romanzen durch seine eigenen Übersetzungen für Leser im 19. Jahrhundert wieder lebendig werden zu lassen. Dies traf nicht allein auf den Inhalt, sondern auch auf den spezifischen Romanzenton zu. Die Romanze beschreibt ein kürzeres volkstümliches, episodisches Erzähllied, das Themen aus der spanischen Geschichte behandelt. Darunter fallen auch die maurischen Romanzen, die nach 1492 entstanden und insbesondere das Leben der Mauren idealisierten. In Deutschland wurden die Bezeichnung und die Gattung der Romanze von J. W. L. Gleim eingeführt. Es sollte jedoch Herder vorbehalten sein, der Romanzendichtung in der deutschen Romantik zu großer Popularität zu verhelfen.41 Darüber hinaus entwickelte Herder auch ein deutungsmächtiges und positives Spanienbild, das die christlich-höfische mit der arabischen Kultur ver35 36 37 38 39 40 41

Herder: Werke, Bd. 7, S. 474f. Herder: Werke, Bd. 7, S. 470. Herder: Werke, Bd. 4, S. 190. Herder: Werke, Bd. 7, S. 492. Herder: Werke, Bd. 7, S. 493. Herder: Werke, Bd. 7, S. 484. Zu Herders spezifischer Übersetzungsleistung und seinem Verständnis von Romanze vgl. Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 240–241. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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band, wie es am eindringlichsten in „Der Cid“ geschehen war.42 Anders als das französische Vorbild, das die negativen Charakteristika hervorhob, idealisierte Herder Don Rodrigo zu einem, wie es Hönsch treffend formulierte, „christlich veredelten Araber“43 und stilisierte ihn für seine deutschen Leser zum Idealtypus des Spaniers. Da Herder ausschließlich den ersten Teil der „Guerras Civiles de Granada“ in seine Volkslieder integrierte, bezog er historisches Material, das jenseits einer fiktionalen Verklärung der Geschehnisse angesiedelt war, nicht mit ein.44 Dieses Ausschlussverfahren hatte auch eine weitgehende Bedeutung für Herders Spanienbild. Herder bezeichnete Spanien als „schöne Wüste“ oder „abgeschlossenes romantisches Land der Schwärmerei“.45 Damit griff er auf die Kernaussage der „Schwarzen Legende“ zurück, Spanien sei ein Land, das wahrhaftig frei und „wild“46 sei, und zwar auch deshalb, weil es von den Entwicklungen der Aufklärung in Europa gänzlich abgeschnitten gewesen sei. „Ihr Land und Charakter, ihre Verwandtschaft mit den Arabern, ihre Verfassung, selbst ihr stolzes Zurückbleiben in manchem, worauf die Europäische Cultur treibt, macht sie gewissermaßen zu europäischen Asiaten. Die Verwicklungen, das Abenteuerleben, von dem ihre Romane voll sind, macht ihr Land hinter dem Gebirge, die schöne Wüste unsrer Phantasie zu einem Zauberlande.“47

Araber und die arabische Kultur waren fester Bestandteil in diesem Zauberlande. „Der Argumentation Herders folgend, bedeutet dies für die iberische Literatur, dass sie nur deswegen als Vorbild der deutschen Poesie fungieren soll, weil Spanien angeblich über Jahrhunderte hinweg jeglichen Fortschritt, von innen oder außen kommend, widerstanden habe. So wird in der Deutung Herders aus einer aggressiven Ablehnung jeglichen Wandels ein positives Bewahren kultureller Traditionen eines Volkes. Die gängigen Vorwürfe französischer und deutscher Aufklärer, in Spanien herrschten nach wie vor Unaufgeklärtheit, christlicher Traditionalismus und feu42 „Als noch wirkungsmächtiger erwies sich allerdings das von Herder vermittelte Spanienbild. Hatten Gleim und Jacobi in ihren Romanzen das Bild vom Land der Abenteurer und der Liebe vorbereitet, so griff Herder dies auf und erweiterte es gezielt um die maurische Komponente. Der Höhepunkt dieses Spanienbildes, das christlich-höfische Tradition und arabischen Rittergeist vereint, stellt zweifellos sein 1805 erschienener Romanzyklus „Der Cid“ dar.“ (Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 241). 43 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 241. 44 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 241–242. 45 Herder: Werke, Bd. 6, S. 760. 46 Herder: Werke, Bd. 2, S. 452. 47 Herder, Adrastea. In: Herders sämtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan, Band 23, S. 294. Berlin 1909. 146

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dale Strukturen, versieht Herder nun mit positiven Vorzeichen, so dass sie ihm als Garanten einer autonomen nationalen Denkungsart gelten, die allein die wahre Poesie ermögliche.“48 Für Herder war in den Mauren bereits das Humanitätsideal der Aufklärung vorgebildet, das sich die eigene Ursprünglichkeit erhalten hatte. Dieses Prinzip der Ursprünglichkeit manifestierte sich in Herders Überzeugung vom Wert der Volkspoesie – einer Poesie, die offen für Einflüsse von außen gewesen sei.49 Herders Überzeugung wurde von den Romantikern diskutiert, aber in der Zielrichtung auf eine eindeutig engere, rein nationale Perspektive ohne Einflüsse von außen verändert.50 Deren Verständnis von Volksliteratur und Volk war deutlich limitiert. Aus diesem Grunde sammelten die Romantiker Volkslieder und Märchen, um diese als Teil der deutschen Geschichte mit Authentizität und Legitimität zu versehen. Dies lässt sich insbesondere für die bedeutendsten Sammlungen dieser Art sagen: Achim von Arnims „Volksdichtung“ und Clemens Brentanos „Des Knaben Wunderhorn: Alte Deutsche Lieder“ vom Beginn des 19. Jahrhunderts (erschienen 1805–1808) sowie die „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm (erschienen 1812– 1815).51 Die Romantiker etablierten die Kategorie des Volkes nicht zuletzt in der 48 Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 244. 49 “In Herder’s view, literature – folk poetry in particular – is created inside a collective tradition that is open to stimulation from different cultures.” (Fabian Lampart: The Turn to History and the Volk: Brentano, Arnim, and the Grimm Brothers. In: The Literature of German Romanticism. Edited by Dennis F. Mahoney. Rochester 2004. S. 171–189. Hier: S. 171. Hein Härtl: Romantischer Antisemitismus: Arnim und die Tischgesellschaft. In: Weimarer Beiträge. ( Jg. 33) 1987, Heft 7, S. 1159–1173. Wolfgang Frühwald: Antijudaismus in der Zeit der deutschen Romantik. In. Hans Otto Horch und Horst Denkler (Hg.): Conditio Judaica: Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Teil 2. Tübingen 1989. S. 72–91). 50 Hönsch weist auf die Bedeutung von Johann Gottfried Eichhorns „Geschichte der Künste und Wissenschaften“ und Friedrich Bouterweks „Geschichte der spanischen Poesie und Beredsamkeit“ hin. So ist es in diesem Zusammenhang auffällig, dass Eichhorn eine Wechselbeziehung zwischen spanischer und provenzalischer Literatur ausschloss, etwas, das Herder noch für möglich gehalten hatte. Eichhorn zufolge, seien die spanischen Romanzen insofern einzigartig, als dass sie „romantisch“ seien (Hönsch: Wege des Spanienbildes, S. 260–273. Hier: S. 262). Zur Rezeption Spaniens im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts vgl. außerdem Christian von Zimmermann: Reiseberichte und Romanzen. Kulturgeschichtliche Studien zur Perzeption und Rezeption Spaniens im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts. Tübingen 1997. Zu Herder vgl. hier insbesondere S. 414–426. 51 Für die Romantiker “the term Volk no longer refers to an international collective as its foundation: folk poetry tends to be national and is limited to German traditions. Second, this collective foundation is no longer within reach but has become historicized: it belonged to a past age. Therefore, “Volksliteratur” is a part of history, and history has to be discovered by means Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Literatur in Abgrenzung von den universalistischen Prinzipien der Französischen Revolution.52 Johann Gottlob Fichtes Nationalismus: Das freie deutsche Volk und die Juden Die Romantik als geistesgeschichtliche Epoche war gleichermaßen progressiv und reaktionär; aus ihr heraus entwickelte sich eine Form von Nationalismus, der immer auch beide Komponenten in sich trug. Einer der wichtigsten Vertreter eines deutschen Nationalismus, jemand, der von der „deutschen Nation“ sprach, war der Philosoph Johann Gottlob Fichte (1762–1814). Fichte fertigte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ die Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft an, die auf den Kategorien „deutsche Nation“ und „christliche Religion“ gründete. Sein Verhältnis den Juden gegenüber war von Ambivalenz geprägt. So finden sich in seinen Schriften zahlreiche negative und feindselige Einordnungen von Juden und jüdischer Religion und Geschichte. Gleichzeitig war Fichte als Rektor der Berliner Universität Fürsprecher einzelner angefeindeter Juden und wurde auch von Vertretern der jüdischen Elite, u. a. von Rahel Varnhagen, hoch geschätzt.53 In seinen „Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution“ von 1793 widersprach er der Ansicht, gesellschaftliche Gruppen wie den Adel, das Militär, die Zünfte und insbesondere die Juden an dieser zukünftigen Gesellschaft of historical research. Accordingly, the Romantics began to collect the two folk genres, folk songs (Volkslieder) and fairy tales, with the aim of regaining and reconstructing lost national traditions.“ (Lampart: The Turn to History, S. 171–172). 52 Das Volk wurde als Kategorie auch auf die drei Stufen in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte bezogen. “In Romantic aesthetics, poesy is not merely poetry in the narrow sense of the word; rather, it represents a general force, a creative entity that synthesizes subjective and objective as well as individual and collective parts of reality.” (Schlegel, Athenaeum-Fragment No. 116 “Universalpoesie”). Poesie is an archetypal and anthropological force that can help to overcome the problematic fragmentation of the modern world.” (Lampart: The Turn to History, S. 176). 53 Vgl. Paul Lawrence Rose: Revolutionary Anti-Semitism in Germany from Kant to Wagner. Princeton 1990. Kritisch mit Roses Theses setzt sich Paul R. Sweet auseinander. Ders.: Fichte and the Jews: A Case of Tension between Civil Rights and Human Rights. In: German Studies Review 16 (1993), S. 37–48. Außerdem: Walter Grab: Fichtes Judenfeindschaft. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), S. 70–75. Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. München 1994. S. 127–128. 148

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teilhaben zu lassen.54 Innerhalb seiner Verteidigung der Französischen Revolution warf Fichte den Juden vor, sich aus egoistischen Motiven abzusondern und einen „Staat im Staate“ zu bilden, der „mächtig“ und „feindselig“55 alle europäischen Staaten heimsuche. Dieser „Staat im Staate“ sei deshalb so mächtig, weil es den Juden gelungen sei, Einfluss auf die absoluten Fürsten zu nehmen. Ihre Feindseligkeit baue hingegen „auf dem Hass des ganzen menschlichen Geschlechts.“ Für Fichte stand unabänderlich fest, dass eine Verbesserung der Juden mit staatlich sanktionierten Erziehungskonzepten nicht erreicht werden konnte, da sie „an zwei verschiedene Sittengesetze und an einen menschenfeindlichen Gott glauben“.56 In seiner Schrift „Philosophie eines Freimaurers. Briefe an Konstant“ (1802–1803) habe Fichte, so Micha Brumlik57, die Ansicht vertreten, „Freimaurertum und Judentum entstammten den alten orientalischen Religionen, beide hatten sich in Form von Mysterien und Abschließungstechniken erhalten, beide bewahrten eine notwendigerweise geheime Überlieferung – die Mysterien und den Talmud –, beide waren dabei, ihre Bestände in eine öffentliche und universalistische Kultur zu überführen.“58 Insbesondere Fichtes Warnung vor einer Bildung eines jüdischen „Staat im Staate“ wurde zu einem immer wiederkehrenden antisemitischen Stereotyp.59 Fichte selbst distanzierte sich zu Lebzeiten nicht von seiner beißenden Kritik an Juden und Judentum. Für ihn waren Juden Fremdkörper in Deutschland, deren Charaktereigenschaften sich auch durch Erziehung niemals verändern ließen. Wie Walter Grab es 54 Zu Fichtes Verhältnis zur Französischen Revolution vgl. Anthony J. La Vopa: The Revelatory Moment: Fichte and the French Revolution. In: Central European History 22.2 (1989), S. 130–159. 55 Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke. Berlin 1845–1846. Hier: Bd. 6. S. 149f. 56 „Dies alles seht ihr mit an, und könnt es nicht leugnen, und redet zuckersüße Worte von Toleranz und Menschenrechten und Bürgerrechten, indes ihr uns die ersten Menschenrechte kränkt; könnet eurer liebevollen Duldung gegen diejenigen, die nicht an Jesum Christum glauben, durch alle Titel, Würden und Ehrenstellen, die ihr ihnen gebt, kein Genüge tun, indes ihr diejenigen, die nur nicht eben so, wie ihr, an ihn glauben, öffentlich schimpft, und ihnen bürgerliche Ehre und mit Würde verdientes Brot nehmt. Erinnert ihr Euch denn hier nicht des Staates im Staate? Fällt Euch denn hier nicht der begreifliche Gedanke ein, dass die Juden, welche ohne Euch Bürger eines Staates sind, der fester und gewaltiger ist als die eurigen alle, wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure übrigen Bürger völlig unter die Füße werft?” ( Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke. Berlin 1845–1846. Hier: Bd. 6. S. 149f ). 57 Fichte: Philosophie eines Freimaurers. Briefe an Konstant (1802–1803). In: Fichte: Sämtliche Werke. Bd. 8. Vgl. dazu Micha Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum. München 2000. S. 80–81. 58 Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass, S. 82–83. 59 Vgl. Nienhaus: Tischgesellschaft, S. 209. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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ausdrückte, „setzte [Fichte] mithin an die Stelle der Theologie eine missverstandene Anthropologie, die den verschiedenen Völkern kollektive, konstante und unveränderbare Eigenschaften zuschrieb, die er an ihrer Geschichte, Kultur und Tradition ablesen zu können glaubte. Damit wurde der Philosoph zu einem der ideologischen Ahnherren der Völkerpsychologie, die von den politischen Romantikern aufgegriffen und später in die Rassentheorie von höherwertigen und minderwertigen Völkern einverleibt wurde.“60 Fichte übernahm größtenteils die damals vorherrschenden Vorurteile gegenüber den Juden, indem er den so verstandenen separatistischen Charakter der jüdischen Religion als inkompatibel mit dem Staatswesen verstand. Wolf-Daniel Hartwich zufolge müsse die judenfeindliche Position Fichtes als Teil eines auf der Aufklärung fußenden Antisemitismus verstanden werden, der das Judentum als staatsgefährdend auffasse.61 Hartwich versteht Fichte nicht wie Brumlik als Vertreter einer „gnostischen Bewusstseinsreligion“62, sondern sieht ihn als Vertreter eines „innerweltlich-rationalen Ethos.“63 Fichte favorisierte eine radikalere Lösung bezüglich der rechtlichen Situation der Juden, wenn er schrieb: „Ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei.“ Für Fichte waren Juden nicht in das allgemeine Staatswesen integrierbar und stellten somit eine reale Gefahr dar. Er plädierte daher dafür, die Juden von den Deutschen zu trennen und für eine politische „Lösung der Judenfrage“: „Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie

60 Grab: Fichtes Judenfeindschaft, S. 73. 61 „Die hier artikulierte Judenfeindschaft gründet nicht in einem ‚romantisch‘ überhöhten Nationalbewusstsein oder Christenglauben, sondern hält sich im Rahmen des aufklärerischen Antisemitismus. […] Der Text spielt den theologischen Gegensatz zwischen Judentum und Christentum herunter und greift dagegen die Stereotypen des antiken Antisemitismus auf, der die religiöse Abgrenzung des Judentums als staatsgefährdende Misanthropie interpretierte.“ (Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner. Göttingen 2005, S. 164. Stefan Nienhaus hat auf die antisemitischen Tendenzen in der „Deutschen Tischgesellschaft“ im Umfeld der Debatten und die Emanzipation der Juden in Preußen hingewiesen. Vgl. Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft. Tübingen 2003. Hier: insbes. S. 204–271. Eine andere Perspektive auf Fichtes Position gegenüber den Juden hat Erich Fuchs vertreten. Erich Fuchs: Fichtes Stellung zum Judentum. In: Fichte-Studien, Vol. 2 (1990), S. 160–177). 62 Brumlik: Deutscher Geist und Judenhaß, S. 122. 63 Hartwich: Romantischer Antisemitismus, S. 166. 150

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alle dahin zu schicken.“64 Als dezidiert deutsch verstand sich das Nationalbewusstsein bei Fichte, indem es sich auch von der realen Situation eines einst in zahlreiche Herrschaften zersplitterten Deutschland und schließlich in eines von den Franzosen beherrschten Territoriums abhob. Bei einer Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes lässt sich nachweisen, wie sich seine Vorstellung von Nation durch den Einmarsch der napoleonischen Truppen nach Deutschland langsam verändern sollte. Fichtes Überlegungen, der Mensch sei ein empirisches menschliches Wesen im Raum, wandelte sich hin zu der Vorstellung, dieses Wesen werde durch etwas Größeres zusammengehalten: die Nation.65 Freiheit für eine Nation bedeutete in diesem Verständnis, frei von anderen Nationen zu sein. Das deutsche Volk war für Fichte das freie Volk par excellence, das darüber hinaus die Pflicht hatte, für diese Freiheit zu kämpfen und diese Freiheit auch den in seinem Verständnis unfreien Nationen zu bringen, sie also zu unterwerfen. Jonathan Hess zufolge müsse dieses nationale Verständnis mit einem Konzept von geträumter kolonialer Macht in Verbindung gebracht werden.66 Fichtes Verständnis von Nation zeigt sich vielleicht am eindrücklichsten in seinen „Reden an die deutsche Nation“, die im Winter 1807/08 gehalten wurden, also in dem Jahr, als Napoleon Preußen besiegte. Im Anschluss an Fichtes „Reden“ kursierte eine Vielzahl von Schriften, die von jüdischer und nicht jüdischer Seite das Für und Wider der Emanzipation der Juden und ihrer bürgerlichen Gleichstellung diskutierten. Allein im Zeitraum von 1815 bis 1850 erschienen etwa 2.500 Veröffentlichungen, davon einige mit deutlich antijüdischem Grundton.67 Die „Reden“ basierten auf Fichtes Geschichtsphilosophie, die er in fünf Epochen einteilte. Bezeichnend an ihnen ist, dass die Befreiung der Menschheit in bewusster Abkehr vom 64 Fichte: Sämtliche Werke, Bd. 6. S. 149f. 65 Isaiah Berlin: Die Wurzeln der Romantik. Herausgegeben von Henry Hardy. Berlin 2004. S. 161. 66 “Like Michaelis, Fichte also proposes a solution to the Jewish question in the realm of colonial fantasy, introducing the progress of empire as the best means to gain control over Judaism’s international power. He argues for the French Revolution and against Jewish emancipation by pairing his invocation of revolutionary violence with a rhetorical call for a modern crusade, one that is less about conquering the ancient Jewish homeland for Christianity that it is about de-Judaizing Europe and protecting the interests of secular universalism at home.” (Hess: Jews, Christians, and the claims of modernity, S. 141. 67 Als ein Beispiel sei hier Karl Wilhelm Grattenauer genannt. Karl Wilhelm Friedrich Grattenauer. Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle christlichen Mitbürger. Berlin: 4. unveränderte Aufl. 1803. Bereits 1791 war er mit einer wichtigen Schrift in Erscheinung getreten. Ders.: Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden: Stimme eines Kosmopoliten. Berlin: Voß 1791. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Kosmopolitismus der Aufklärung allein von den Deutschen erwartet wird, denen sich allerdings andere Völker anschließen dürfen. Dabei ist Fichtes Ansatz auch theoretisch nicht unproblematisch. „Fichtes Programm einer nationalen Homogenisierung bzw. Zentralisierung, die auf der Sprache und nicht der Rasse beruht, verweist aber wiederum auf das Vorbild Frankreich, obwohl sich der Autor von dem französischen Einfluss auf die deutsche Kultur polemisch abgrenzt. In jedem Fall enthält Fichtes Auffassung der Nation in den ‚Reden‘ einen eklatanten Widerspruch. Einerseits soll die nationale Identität auf einer kollektiven Erziehung zu den universellen Werten der Aufklärung und des Christentums beruhen. Anderseits wird die deutsche Nation zum einzigen Träger dieser Werte stilisiert.“68 Laut Fichtes Analyse befand sich sein eigenes Zeitalter in der dritten Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit. In den „Reden“ unterschied er zwischen dem „Urvolk“, den Deutschen, und denjenigen Völkern, die „außerhalb des Urvolks“ standen. Diese bezeichnete Fichte als „Fremde und Ausländer“, deren Existenz auf „Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz“ gründete und die daher als „undeutsch und fremd für uns“ anzusehen waren. Er sah es daher als wünschenswert, dass sich das Fremde „je eher je lieber sich gänzlich von uns abtrenne.“69 Juden sah er als „asiatisches Element“, als Menschen, die gar nicht in Beziehung zur deutschen Kultur traten.70 So fasste Brumlik bezogen auf Fichte zusammen: „Fichtes politische Theorie ist eine Theorie der Nation und nicht des Staates.“71 Und diese Theorie der Nation gründe auf „einer Theorie des Volkes und der Nation, die die Sprache, die deutsche Sprache, als Inbegriff von Einheit und Leben versteht. […] Der Unterschied zwischen dem Deutschen und den romanischen Sprachen sei derjenige zwischen Leben und Tod.“72 Diese Einheit werde durch die „Vaterlandsliebe“73 zusammengehalten, die von Juden als einem „fremden Element“ nicht geteilt werden könnte. Genau dieses Verständnis bestritten die Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Sie traten den Beweis dadurch an, indem sie die Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel unter islamischer, aber auch unter christlicher Herrschaft als Teilhabe an der jeweiligen Mehrheitskultur verstanden.

68 69 70 71 72 73

Hartwich: Romantischer Antisemitismus, S. 166. Fichte: Reden an die deutsche Nation. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Vorlesung 7. S. 374f. Hartwich: Romantischer Antisemitismus, S. 167. Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass, S. 115. Brumlik: Deutscher Geist und Judenhass, S. 115. Fichte: Reden an die deutsche Nation, S. 387. 152

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Novalis: Christentum als politischer Ordnungsfaktor Im Gegensatz zur Aufklärungsphilosophie, die das Mittelalter insgesamt negativ als Zeitalter der Barbarei und des Papsttums wahrnahm, betonte bereits Edward Gibbons in seiner „Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches“ (1776–1788) den einheitstiftenden Gedanken des Christentums über Ländergrenzen hinweg. Der Dichter Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis (1772–1801), war von den Schriften Fichtes und Schleiermachers beeinflusst und schrieb bereits als Jüngling den Aufsatz „Über die Ordalien oder Gottesurteile“, der nur unvollständig überliefert ist. Novalis verfasste mit „Die Christenheit oder Europa“ einen der einflussreichsten Texte hinsichtlich der Wiederentdeckung des christlichen Mittelalters. Auch wenn die Rezeption dieses Textes erst viel später einsetzte, zeigt sich in diesem Dokument doch ein wichtiger Beitrag zum besseren Verständnis der Frühromantik. Novalis hatte in seinem 1799 entstandenen Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“ von „schönen, glänzenden Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte [und] ein großes gemeinschaftliches Interesse [...] die entlegendsten Provinzen dieses weiten geistlichen Reiches“74 verband, gesprochen – und mit dieser Vorstellung den Kreis derer, die an seinem enthusiastisch gemalten Vergangenheitsbild partizipieren durften, strikt eingeschränkt. In diesem Verständnis erschien das Mittelalter als einheitlicher Block, der die Vielseitigkeit mittelalterlichen Lebens und insbesondere auch die Anwesenheit nicht christlicher Bevölkerungsschichten scheinbar übersah. Ergänzend zu dieser konkreten Bezugnahme auf die Kongruenz von Europa und Christentum, zeigte sich bei der Ausbildung der Romantik als einer Sammelbewegung für ein nicht zuletzt politisches Ordnungssystem das Bestreben, Spanien in dieses Muster einzubeziehen, indem es als ein Land wahrgenommen wurde, das „sowohl Mittelalter als auch Orient“75 war. Novalis hatte seine Rede ursprünglich „Europa“ und nicht „Die Christenheit oder Europa“ genannt.76 Sie war nur einem sehr überschaubaren Kreis von Freunden zugänglich, die auf darauf verhalten reagierten. Auch aus diesem Grund blieb die Rede unveröffentlicht und wurde erst 1826 in die vierte Auflage der Schriften mit 74 Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg): Die Christenheit oder Europa, in: Hans-Joachim Mähl: Novalis Werke, Tagebücher und Briefe. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München 1973, S. 732f. 75 Gerhard Hoffmeister, Europäische Einflüsse. In: Helmut Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch. Tübingen 1994, S. 106–129. Hier: S. 110. 76 Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991. S. 95. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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aufgenommen und dadurch auch einen größerem Publikum bekannt. Doch auch zu dieser Zeit wurden noch bestimmte Passagen ausgelassen.77 Nicht zuletzt deshalb konnte sich in der Forschung lange die Überzeugung durchsetzen, die Rede sei ausschließlich als restaurativer Text zu verstehen, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Ereignisse der Französischen Revolution zurückzunehmen. Ihr rhetorischer Charakter der Oratio Deliberativa ist der Gattung der aristotelischen Parteirede zuzuordnen. Diese hatte als mündlicher Vortrag in Abhängigkeit von Situation und Zweck appellativen Charakter, wobei sie durchaus unterschiedliche Perspektiven spiegeln konnte. In Deutschland existierte zur Zeit der Niederschrift der Europa-Rede keine weit zurückreichende Tradition der politischen Rede. Im Zusammenhang mit den Ereignissen der Französischen Revolution, insbesondere mit der Proklamation universaler Menschenrechte, gewann die politische Rede in Europa jedoch wieder größere Bedeutung. Die Form der Rede und ihr Gebrauch sind demnach als Kunstgriff zu verstehen. Es ist nicht Novalis selbst, der dort spricht, sondern eine romantische Künstlerfigur, die eine neue Sicht auf das Mittelalter ermöglicht.78 Auch Novalis behielt Herders Prinzip bei, „sich in die Denkarten der Zeiten und Nationen einzufühlen.“79 Allerdings zeige sich hier, so Kasperowski, ein wesentlicher Unterschied: „Während für Herder die Religion der Hierarchie untergeordnet ist, ist es bei Novalis genau umgekehrt.“80 Novalis’ religiöses Selbstverständnis trug mit einem erheblichen Anteil zu seinem intellektuellen Schaffen bei, er war jedoch wie viele seiner Zeitgenossen auch von der Aufklärung und der Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Französischen Revolution geprägt.81 Die triadische Geschichtsauffassung in der Europa-Rede orientierte sich an Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“.82 Novalis verstand das Christentum als idealen Mittler und Heilsbringer für die Zukunft Europas, wenn er schrieb: „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installieren.“83 In Novalis’ „Teplitzer Fragmente“ aus dem Jahre 1798 finden sich ebenfalls kritische Einschätzungen hinsichtlich der Französischen Revolution. Novalis erhoffte 77 78 79 80 81

Uerlings: Novalis, S. 94–95. Uerlings: Novalis, S. 100. Ira Kasperowski: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis. Tübingen 1994. S. 85. Kasperowski: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis, S. 88. Zu Novalis religiösem Selbstverständnis und den Einfluss durch die Herrnhuter vgl. Safranski: Romantik, S. 124. 82 Kasperowski, Mittelalterrezeption im Werk Novalis, S. 49. Willhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing-Goethe-Novalis-Hölderlin. Leipzig 9. Aufl. 1924. Hier sind besonders die Seiten 268–348 über Novalis bedeutsam. 83 Novalis: Werke, S. 516. 154

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sich hier im Niedergang der Revolution ein Erstarken des religiösen Moments, das von Deutschland ausgehen und auf den Rest Europas übergreifen sollte. Er sprach dem Katholizismus sein Lob aus und konzipierte auf dieser Grundlage die abendländische Geschichte als Heilsgeschichte. Dieser göttlichen Heilsgeschichte standen die Ereignisse der Französischen Revolution als Negation des religiösen Moments gegenüber. Bereits im Spätmittelalter und insbesondere durch die Reformation sei das religiöse Gefühl abhanden gekommen. Hier sei versucht worden, Fragen des Glaubens durch Wissen zu ersetzen. „Mit der Reformation war’s um die Christenheit getan. Von nun an war keine mehr vorhanden. Katholiken und Protestanten oder Reformierte standen in sektierischer Abgeschiedenheit weiter voneinander, als von Mahomedanern und Heiden.“84 So wie das Christentum das Judentum als ‚wahre‘ Religion abgelöst habe und „die Juden zu Grunde darüber gingen“, würden „die Franzosen bei der jetzigen Revolution“85 zugrunde gehen. „Der Deutsche“ würde hingegen „mit allem Fleiß zum Genossen einer höheren Epoche der Kultur“ emporsteigen [und] die Spuren einer neuen Welt aufzeigen“.86 Und die neue Denkensart, die auf die Religion folgte, sei die Philosophie der Aufklärung gewesen, die nach einem anfänglichen Hass gegen die Institution der katholischen Kirche schließlich den ganzen christlichen Glauben umfasst habe.87 In Frankreich habe sich die Philosophie der Aufklärung gleichwohl noch radikalisiert und schicke sich gerade an, das alte christliche Fundament Europas aus den Angeln zu heben.88 Novalis legte die Gedanken zu seiner Rede in dem Moment nieder als Napoleon danach trachtete, neuer Herrscher Europas zu werden. Seine Herrschaft, so die Überzeugung Novalis’, würde die Ablösung des alten christlichen Europa mit sich bringen. Novalis sah in der Herrschaft Napoleons mit ihrer Betonung der Säkularisierung die Radikalisierung der Aufklärung. Natürlich war ihm auch die Tatsache bewusst, dass die Französische Revolution die Juden in Frankreich zu Staatsbürgern gemacht hatte und das Primat der katholischen Kirchen verloren gegangen war. Die katholische Kirche befand sich darüber hinaus in Europa in der Defensive. Im Jahre 1798 wurde Rom von französischen Truppen gebrandschatzt, Papst Pius VI. wurde gefangen genommen und nach Valence ins Exil verschleppt,

84 85 86 87

Novalis: Werke, Bd. 2, S. 505. Novalis: Teplitzer Fragmente, 416. In: ders.: Werke, Bd. 2, S. 405. Zit. Nach Schmale: Geschichte Europas, S. 94. „Der anfängliche Personalhass gegen die katholischen Glauben ging allmählich in Hass gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über.“ (Novalis: Werke, Bd. 2, S. 508). 88 Novalis: Werke, Bd. 2, S. 511. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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in dem er bereits 1799 starb.89 Gerade aus dieser offenkundigen Niederlage der katholischen Kirche als Verkörperung der alten Welt konnte Novalis in der Französischen Revolution eine „zweite Reformation“ erkennen, die er als notwendige Voraussetzung für eine Wiederbelebung des Christentums verstand. Die Rede nahm also diese zeithistorischen Begebenheiten auf und forderte eine spirituelle Gemeinschaft, basierend auf den Werten des Christentums, die über Landesgrenzen hinausgingen.90 Novalis konstatierte, man habe das Wissen vom Glauben losgelöst und die Wissenschaft sei als Ersatzreligion an die Stelle der Religion getreten. Für Novalis hatte jedoch jedes Wissen seine Grenzen. Er war davon überzeugt, in der Verbindung von Poesie und Religion könne die Wiedergeburt eines religiösen Zeitalters erfolgen.91 Novalis betrieb Erinnerungspolitik, wenn er darauf abzielte, 89 Uerlings: Novalis, S. 93. 90 „Die Rede ist eine poetisch formulierte Geschichts- und Religionsphilosophie, die in die Vision eines dritten Weltzeitalters mündet. Sie beginnt elegisch und endet prophetisch, sie plädiert nicht für die Rückkehr in die gute alte Zeit, sondern für den Aufbruch zu neuen Ufern, für eine gewandelte, wiedergeborene neue Christenheit in einem geeinten Europa, geeint nicht durch die Waffen Napoleons oder die Hegemonie eines nationalen Geistes, sondern geeint in universeller spiritueller Gemeinschaft, ‚ohne Rücksicht auf Landesgrenzen.‘“ (Safranski: Romantik, S. 125–126). 91 Zur Einordung Novalis und seinem Verhältnis zum Judentum erklärt Hartwich: „So sieht Novalis im Jüdischen eine antichristliche Struktur der Theologie, von der die Religion durch den universellen göttlichen Geist befreit werden soll. Der Autor übersetzt Motive des christlichen Antijudaismus in der Sprache des romantischen Johanneismus. [Novalis:] ‚Ist es ein wahrer Unterschied zwischen Weltlichem und Geistlichem? Oder ist gerade diese Polarität unserer Theologie noch alttestamentlich? Judaismus ist dem Xstentum schnurstracks entgegen und liegt, wie dieses allen Theologien gewissermaßen zum Grunde. Moralisiert der echte Geist Gottes. Der Moralist ist der Johannes.’ (Novalis, Bd. 3, S. 566f.) An anderer Stelle erkennt Novalis dagegen in der jüdischen Geschichte die transformatorische Kraft der eschatologischen Verheißung, durch die diese Religionsgemeinschaft ihren eigentümlichen Charakter ausgebildet habe. [Novalis]‚ In dieser Hinsicht erhielten die Juden zur Zeit der Babylonischen Gefangenschaft eine echte religiöse Tendenz – eine religiöse Hoffnung – einen Glauben an eine zukünftige Religion – der sie auf eine wunderbare Weise von Grund aus umwandelte und sie in der merkwürdigsten Beständigkeit bis auf unsere Tage erhält.‘ (Novalis: Werke, Bd. 2, S. 443). Das moderne Judentum lebt wie die christliche Kirche von diesem geistigen Impuls, der im Kampf mit den verweltlichenden Tendenzen der alttestamentarischen Theokratie steht. Das Christentum empfing also vom Judentum ein zwiespältiges Erbe, das die Romantik klären und vollenden soll. Die »moralisch«-idealistische Philosophie stellte sich in die Nachfolge der biblischen Philosophie. Diese gipfelt nach christlicher Auffassung in Johannes dem Täufer, der Jesus als Messias erkannte und daher im Evangelium des Johannes als eine der Gegenfiguren zum ungläubigen Judentum dargestellt wird. ( Johannes 1, 25-34). Der romantische Johanneismus strebt eine zweite Selbstüberwindung der 156

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die „konkreten geschichtlichen Ereignisse der abendländischen Welt“ so zu erzählen „wie sie sich seiner Meinung nach in Wirklichkeit zugetragen haben.“92 Diese Sehnsucht nach einer Erneuerung Europas auf Grundlage des Christentums als dem zentralen Ordnungsfaktor floss in die von den Herrschern Preußens, Russlands und Österreichs im Jahre 1815 begründete „Heilige Allianz“ unmittelbar ein. Außer England und dem Vatikan traten später alle christlichen Staaten Europas dieser Allianz bei. Die christliche Religion war nun wieder das Fundament der Innen- und Außenpolitik. Eine der ersten beabsichtigen Gesetzesänderungen bestand auf dem Wiener Kongress 1815 darin, die unter französischem Diktat verfügte Gleichberechtigung der Juden in den Staaten des Rheinbundes auf alle deutschen Staaten auszudehnen. Dieses besonders vom preußischen Staatskanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt getragene Ansinnen scheiterte an den Partikularinteressen der kleinen deutschen Staaten. Den Juden wurde also erneut die Berechtigung, Staatsbürger zu sein, abgesprochen. Die Nachwirkungen dieser ausgrenzenden Mechanismen blieben in den kommenden Jahrzehnten bestehen. So formulierte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen in einer Kabinettsorder vom 13. Dezember 1841 die Abkehr von Konzepten für eine „bürgerliche Verbesserung der Juden.“93 Stattdessen plädierte der König auf Grundlage einer „christlich-ständischen Monarchie“ für die „korporative Ausgliederung“ der Juden. Juden sollten kooperativ zusammengesetzt werden, jede Art von individueller Verbesserung wurde ihnen unmöglich gemacht. Eine „Verschmelzung“ der Juden „in den bürgerlichen Beziehungen mit der christlichen Bevölkerung des Landes“ wurde vehement abgelehnt.94

christlichen Kultur an, die ihren äußerlichen Judaismus endgültig überwindet und den messianischen Kern der biblischen Tradition freisetzt. Während das Judentum von Novalis nur marginal erwähnt wird, entfalten die religions- und geschichtsphilosophischen Entwürfen Hegels und Schleiermacher eine systematische Polemik gegen das Judentum. Die Texte dieser beiden Autoren lassen sich als Manifeste des Johanneischen Antijudaismus lesen, der als wichtiges Moment in den romantischen Antisemitismus eingeht.“ (Hartwich: Romantischer Antisemitismus, S. 87–88). 92 Vgl. die ausführliche Forschungsdiskussion bei Kasperowski: Mittelalterrezeption, S. 41–46. Peter Küpper: Die Zeit als Erlebnis des Novalis. Köln 1959. S. 35. 93 Jersch-Wenzel: Rechtslage und Emanzipaton. In: Deutsch-jüdische Geschichte, Bd. II, S. 53. 94 Jersch-Wenzel: Rechtslage und Emanzipaton. In: Deutsch-jüdische Geschichte, Bd. II, S. 53. zit. nach Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Justizministerium, Rep. 84a, Nr. 11951, Bl. 121. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Rühs, Fries und Saul Aschers Erwiderung Unter der deutschen geistigen Elite wurde die Integration der Juden in die Gesellschaft abgelehnt. Dies zeigte sich exemplarisch an der „Deutschen Tischgesellschaft“. Diese existierte von 1811 bis 1834 und schloss Juden, aber auch Getaufte und ihre Nachkommen, explizit als Mitglieder aus. Die beiden Begründer der Gesellschaft, Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831), schrieben Texte gegen die Juden.95 Arnim versah in seiner Tischrede „Über die Kennzeichen des Judentums“ Juden mit einer Vielzahl von Stereotypen, welche die Unmöglichkeit der Integration in die christliche Gesellschaft verdeutlichen sollten.96 Wie Fichte plädierte auch Arnim für eine drastische Lösung: „Er schlug vor, Juden zu experimentellen Zwecken die Haut abziehen zu lassen und sie zu pulverisieren, um ihre ‚chemische Zusammensetzung’ zu ermitteln.“97 Auch Brentano wandte sich in seiner bei einer der Versammlungen der Gesellschaft verlesenen Satire „Der Philister vor, in und nach der Geschichte“ 1811 polemisch gegen die Juden.98 An diesen Beispielen zeigt sich in der Literatur die Verbindung von radikalem Nationalismus mit ausgeprägtem Judenhass besonders eindringlich.99 Die Mitglieder der Tischgesellschaft, zu denen auch Fichte zählte, lehnten die Reformpolitik Hardenbergs, die im Umfeld der Napoleonischen Kriege unaufschiebbar geworden war, entschieden ab. Sie traten dafür ein, das Christentum als Staatsreligion zu verankern, die ständische Gesellschaft beizubehalten und waren von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Juden geprägt, denen sie am ehesten zutrauten, sich in die von ihnen abgelehnte moderne industrialisierte Welt einzubringen. Zahlreiche antijüdische Polemiken bestimmten zu dieser Zeit die öffentlichen Diskussionen, die im Wesentlichen daraus bestanden, zu fragen, inwieweit es überhaupt möglich sei, dass Juden nach einer Konversion zum Christentum ihre 95 Der Rechtsgelehrte Savigny, der gegen Eduard Gans Anstellung zum Professor an der Berliner Universität opponierte, war Mitglied der Tischgesellschaft. (Vgl. Deborha Hertz: How Jews became Germans. The History of Conversion and Assimilation in Berlin. New Haven 2007. S. 184f.) 96 Zu den zeitgenössischen Reaktionen auf die Tischgesellschaft vgl. Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, S. 272–292. 97 Grab: Fichtes Judenfeindschaft, S. 73. 98 Clemens Brentano: Der Philister vor, in und nach der Geschichte. In: Clemens Brentano: Werke. Bd. 2. Darmstadt 1963. S. 959–1016. 99 “The dichotomy of Volk and Poesie is full of tensions. In a political context, the idea of a nation elevated by universal feelings of Poesie became one of the starting points for nationalist radicalism. In a literary perspective, the same idea is a basis for the poetic search or even philological research for collective national traditions.” (Lampart: The Turn to History, S. 179). 158

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jüdischen Wurzeln hinter sich lassen könnten. Neben den bereits vorgestellten Autoren traten Historiker wie Friedrich Christian Rühs (1779–1820) von der Berliner Universität und Jakob Friedrich Fries (1773–1843) in Heidelberg und später in Jena mit judenfeindlichen Äußerungen hervor, die eine vollständige Ablehnung von deren Emanzipation forderten. Rühs Schriften „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht“ und „Die Rechte des Christentums und des deutschen Volks. Verteidigt gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter. Mit einem Anhang über die Geschichte der Juden in Spanien“100 wurden breit rezipiert. Auch Rühs erkannte in der Religion das trennende Element zwischen Juden und Christen. Für Fries mussten Juden zum Christentum übertreten und sich durch diesen Akt zum Deutschtum bekennen. Die Vorstellung, als Jude auch Deutscher sein zu können, existierte in seiner Vorstellung nicht. Fries erkannte in der jüdischen Religion einen ausgemachten Gegensatz zum „Deutschtum“, worin für ihn – wie auch bei Fichte – die Absonderung der Juden begründet war. Auch wenn es z. B. mit Johann Ludwig Ewald (1747–1822) oder dem Nationalökonom Michael Alexander Lips (1779– 1838) Stimmen gab, die sich klar für die Emanzipation der Juden aussprachen, bestand auch bei ihnen die Überzeugung, dass sich die Juden zuerst selbst verbessern müssten bevor sie emanzipiert werden könnten.101 Rühs Publikation aus dem Jahre 1816 erschien also unmittelbar nach der Niederlage Napoleons und der sich daran anschließenden Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress. Wie bereits an anderer Stell erörtert, wurde 1812 der rechtliche Status der Juden in Preußen geändert. Der Historiker Rühs erklärte, er habe nach dem Studium der Geschichte der Juden im Mittelalter die Ideen der Aufklärung für falsch empfunden. Sein Verständnis der nachnapoleonischen Grundordnung als auf den Grundfesten des Christentums basierend, fand hingegen seine volle Zustimmung. Anders als vor ihm Dohm, ging Rühs davon aus, dass Juden sich im Wesentlichen darauf konzentriert hätten, auf Kosten der christlichen Gemeinschaft Profit zu machen.102 Wie zuvor bereits Fichte, war auch Rühs von der Existenz prä100 Friedrich Christian Rühs: Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht und Die Rechte des Christentums und des deutschen Volks. Verteidigt gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter. Mit einem Anhang über die Geschichte der Juden in Spanien. 2.  verbesserter und erweiterter Abdruck. Berlin 1816. Außerdem: Jacob Friedrich Fries: Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Heidelberg 1816. 101 Jersch-Wenzel: Rechtlage und Emanzipaion, in: Deutsch-jüdische Geschichte, Bd. 2, S. 41. 102 „Von jeher suchten die Juden, auch wo sie es nicht nötig hatten, wo ihnen alle andren Wege des Erwerbs offen standen, sich in solche Geschäfte einzulassen, die Gelegenheit zu einem möglichst großen Gewinn ohne Rücksicht auf das Wohl Andrer gaben und daraus erklärt sich der Hass, der sie schon in sehr frühen Zeiten verfolgte.“ (Friedrich Rühs: Über die AnIberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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ziser Beispiele überzeugt, die nachweisen, dass die Juden „einen Staat im Staat“ ausgebildet hätten. Die Absonderung der Juden basierte für ihn auf den Prinzipien der jüdischen Religion.103 In seiner Abhandlung setzte Rühs Polen und Spanien gleich, wenn es ihm darum ging, herauszustellen, dass die Juden alle Gewerbe an sich gerissen hätten. So seien in Polen „ganz dieselben Verhältnisse entstanden wie in Spanien; sie wurden die Hauptbewohner der Städte, und zogen alle Gewerbe an sich, dass kein Christ neben ihnen aufkommen konnte: Sie machten eigne politische Verbindungen aus, die von ihren Ältesten und Rabbinern beherrscht wurden.“104 Rühs war sich sicher, dass auf der Basis der jüdischen Religion und des jüdischen Gesetzes diese Verbindungen unveränderlich und damit im Grunde auch nicht integrierbar seien. Darüber hinaus hätten sich die Juden Polens und Spaniens nicht vom Handel und Finanzsektor verabschiedet und nicht den produzierenden und „nützlichen“ Berufen zugewandt.105 Rühs fragte sich und seine Leser, wie es möglich sein könne, dass die Juden in Polen, wo sie augenscheinlich größere Freiheit als in anderen Ländern genossen, „auf der allerniedrigsten Stufe der Kultur stehen.“106 Der Grund dafür liege in der Religion der Juden, „der das Volk in Elend und Dumpfheit niederhält, der dem [jüdischen] Charakter eine so unselige und verhasste Richtung gibt.“107 Rühs erkannte auf Seiten der Juden kein Bestreben, diesen Zustand zu ändern. Nur dort, wo Juden sich vom Judentum entfernt hätten, seien sie auch keine Juden mehr.108

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sprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. 2., verbesserter und erweiterter Abdruck. Mit einem Anhang über die Geschichte der Juden in Spanien. Berlin 1816. S. 12). „In ihren religiösen Büchern, in den Erklärungen ihrer berühmtesten Lehrer, kommen die grässlichsten Äußerungen über Christus und seine Verehrer vor: sie werden verwünscht und die Juden bitten den Gott ihrer Väter, seine Verheißungen zum Verderben der Nichtjuden zu erfüllen.“ (Rühs: Ansprüche, S. 13). Rühs: Ansprüche, S. 20. “Challenging Dohm’s paradigmatic understanding of Jewish history, Rühs, who was joined by the philosopher Jacob Friedrich Fries, maintained that the debasement of the Jewish character did not result from persecution but rather from the religious and political Jewish law that distinguished the Jews from the people among whom they lived. Despite generous protective legislation, the Jews of Spain and Poland had not abandoned commerce, peddling, and finance, and accordingly never became part of the general population, as he contended.” (Roemer: Jewish scholarship, S. 23). Rühs: Ansprüche, S. 22. Rühs: Ansprüche, S. 22. „Wo sie sich im Äußern den Christen näherten, haben sie aufgehört, Juden zu sein.“ (Rühs: Ansprüche, S. 23). 160

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Den Juden selbst sei hingegen lediglich der Status einer geduldeten Minderheit zuzubilligen.109 Im Anhang seiner Schrift setzte sich Fries in zwei Teilen mit der Geschichte der Juden in Spanien auseinander. Zum einen in der „Übersicht der Begünstigungen und Vorrechte der Juden in Spanien“ und zum zweiten in „Über den Einfluss der den Juden in Spanien im Mittelalter bewilligten Vorrechte auf die Staatsverfassung und das öffentliche Wohl. Aus dem Dänischen des Herrn Staatsrats und Ritters Moldenhawer“.110 Daniel Gotthilf Moldenhawer (1753–1823) war evangelischer Theologe, Bibelübersetzer und Bibliothekar, der 1777 ausgestattet mit einem dreijährigen Reisestipendium vom dänischen Königshof nach Spanien reiste, um dort die Bibelhandschriften in den Bibliotheken des Landes zu erschließen. Die im ersten Teil angefertigte Übersicht basierte auf einem spanischen Aufsatz mit dem Titel „Discurso sobre el estado de los Judios en Espana“ und auf einem Anhang die rechtliche Situation der Juden unter Alfonso IX. betreffend.111 Die Überlegungen Moldenhawers liegen der im zweiten Teil des Anhangs angefügten Abhandlung zugrunde, die als Schrift der Kopenhagener Akademie der Wissenschaften vorlag und von Fries aus dem Dänischen übersetzt wurde. Der erste Teil beginnt mit dem Satz „Die Juden waren früh in Spanien und hatten sich sehr vermehrt.“ Es seien deren charakterliche Fehler gewesen, die sie unter den Christen in ganz Europa verhasst gemacht hätten. Sie hätten außerdem „an dem Einfall und dem Sieg der Araber nicht wenigen Anteil“112 gehabt. Implizit bringt dies zum Ausdruck, dass die Juden in Spanien illoyal gegen die christlichen Westgoten eingestellt gewesen seien und die nicht christlichen, fremden Araber herbeigerufen hätten. „Die Herrschaft der Araber war die eigentliche Veranlassung, weswegen die Juden so mächtig emporkamen: Die Spanier hatten kein anderes Ziel als die Wiederverlangung ihrer Freiheit.“113 Rühs stellte also die Juden auf die Seite der Araber, während die christlichen Spanier in Unfreiheit lebten. Dadurch gehörten die Juden für ihn auch nicht zum spanischen Volk, denn er unterschied nicht zwischen Juden und Christen, sondern zwischen Juden und Spaniern. „Die Juden legten sich unterdessen auf die Wissenschaften und auf den Handel, sie erlangten große Einsichten in demselben und besonders als geschickte Rechenmeister wurden sie bald für die königlichen Finanzen unentbehrlich, so verächtlich sie in den Augen der Spanier ihres Glaubens 109 „Die Juden können zu Deutschland in keiner andern Beziehung gedacht werden, als in der eines geduldeten Volks.“ (Rühs: Ansprüche, S. 33). 110 Rühs: Ansprüche, S. 43–62. 111 Rühs: Ansprüche, S. 43. 112 Rühs: Ansprüche, S. 44. 113 Rühs: Ansprüche, S. 44. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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wegen auch waren.“114 Ihr Glaube unterschied die Juden von den Spaniern, sie seien jedoch für den Staat wegen ihrer Kenntnisse unverzichtbar geworden. „Sie waren in der Regel Ärzte, Apotheker, Schatzmeister und Haushofmeister an dem königlichen Hofe und bei den Großen, und hatten Gelegenheit, sich die höchste Gunst und großes Vertrauen zu erwerben.“115 Allerdings sei aus dieser hohen gesellschaftlichen Funktion und der daraus resultierenden Rolle der Juden als Vermittler ein „Übel“ für das ganze Land entstanden. Aufgrund ihrer machtvollen Positition sei es jedoch unmöglich gewesen, die Juden aus der Verwaltung zu entfernen. „Aber doch wurden sie beständig gebraucht: Sie erhielten sogar allerlei Vorrechte und Belohnungen“,116 was einen deutlichen Unterschied zu den in allen anderen Ländern gewährten Privilegien darstellte.117 Anders als die jüdischen Autoren, betrachtete Rühs die Rolle der Juden als Vermittler als Gefahr für das ganze Land, da sich die Juden nur um die eigenen Interessen, nicht aber um die des Staates gekümmert hätten. Sie wurden also – obwohl quantitativ eindeutig in der Minderheit – zu den wahren Machthabern des Staates stilisiert, die insbesondere die Christen drangsaliert hatten. Als Reaktion darauf sah Rühs eine spätere Bestrafung der Christen durch die Juden, wenn er zusammenfassend festhält: „Der Geiz der Juden, ihr Hass und ihre Treulosigkeit gegen die Christen und die Strenge, womit sie dieselben behandelten, waren die Ursachen, die sie ganz oder zum Teil um ihre Privilegien brachten und endlich ihr Verderben herbeiführten.“118 In Maldenhawers Abhandlung ging es im Wesentlichen im selben Tenor weiter: Die Juden würden sich auf Kosten der Christen bereichern und ließen diese für sich arbeiten119, auch wenn Maldenhawer einräumte, dass auch die christlichen Herrscher die Juden nach Bedarf ausgeplündert hätten.120 Das Volk hätte sich jedoch gegen die Juden zur Wehr gesetzt, wenn die Leiden zu groß geworden seien.121 Dazu sei es insbesondere deshalb gekommen, weil die Juden gegenüber ihren Glaubensge-

114 115 116 117 118 119 120 121

Rühs: Ansprüche, S. 44. Rühs: Ansprüche, S. 44. Alle hier gemachten Zitate, Rühs: Ansprüche, S. 44. Rühs: Ansprüche, S. 45. Rühs: Ansprüche, S. 48. Rühs: Ansprüche, S. 50. Rühs: Ansprüche, S. 54. „Bisweilen überließ auch das aufgebrachte christliche Volk auf seine Weise sich dem Ausbruche der Rache. Wenn es lange genug unter der Misshandlung der jüdischen Raubsucht geseufzt hatte, so bedurfte es nur einer zufälligen Veranlassung, um den Hass und die Erbitterung zu einer Verfolgung zu entflammen, die von schrecklichen Grausamkeiten begleitet ward.“ (Rühs: Ansprüche, S. 54). 162

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nossen milde und zurückhaltend bei der Eintreibung ihrer Schulden gewesen seien, während die Christen unter ihrer Unerbittlichkeit und Strenge leiden mussten.122 Moldenhawer und Fries wiesen auf den Umstand hin, dass die Privilegien der Juden im Verlauf des 15. Jahrhunderts mehr und mehr eingeschränkt wurden. Es häuften sich Konversionen zum Christentum, die jedoch seitens der Juden nicht ehrlich gemeint gewesen seien. Im Geheimen seien sie weiter dem Judentum verbunden geblieben.123 Diese Neuchristen hätten dadurch „in dem spanischen Reiche eine im tiefen Dunkel sich ausbreitende neue Sekte“124 geformt. In diesem Sinne wurde das Edikt von 1492 als konsequente bestrafende Handlung von Isabella und Ferdinand gewürdigt, „ihr Reich von jüdischen Irrtümern zu reinigen“,125 auch wenn es bedauerlicherweise in der Ausführung der Ausweisung zu einer Vielzahl von „schändlichen Räubereien“126 gekommen sei. Gegenbilder zur Nation im „Verein für Cultur und   Wissenschaft der Juden“ Aussagen von Autoren im Umkreis der Romantik über die Nation und die Rolle der Juden darin wurden von deutschen Juden zur Kenntnis genommen, zumal sie Bestandteil einer lautstark artikulierten Ablehnung gegenüber der Integration der Juden in die deutsche Nation waren.127 Vereinzelt gab es auf Seiten der deutschen Juden polemische Abgrenzungen, wie bei Saul Ascher zum Nationalismus-Konzept Fichtes, allerdings überwogen die eher neutralen und um Ausgleich bemühten Beiträge. Aussagen von Fichte und Novalis passten insofern in das Stimmungsbild der Jahre nach 1815, als dass ein nicht nur latent geäußerter Judenhass die deutschen Juden im besonderen Maße irritieren musste. Dies zeigte sich exemplarisch in den „Hep-Hep“-Krawallen des Jahres 1819, die zu Pogromen besonders im Südwesten 122 „So unerbittlich die Strenge war, womit sie die Schatzungen und Abgaben von den christlichen Staatsbürgern, besonders der armen Klasse beitrieben, so auffallend parteiisch war die Begünstigung und Sanftmut, die sie gegen ihre Glaubensgenossen bewiesen.“ (Rühs: Ansprüche, S. 55). 123 Rühs: Ansprüche, S. 58-59. 124 Rühs: Ansprüche, S. 60. 125 Rühs: Ansprüche, S. 61. 126 Rühs: Ansprüche, S. 62. 127 „So geschah es denn, dass Deutschland, deutsches Volk, deutsche Sitte und deutsche Gemütlichkeit von ihnen als das Höchste und Würdigste aufgestellt und von ihnen mit einem Nimbus von Vortrefflichkeit umwölbt ward, worin man vielmehr einen fieberhaften Rausch als eine vernünftige Besonnenheit ahnen könnte.“ (Ascher: Germanomanie, S. 207). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Deutschlands führten und zur Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ beitrugen. Polemisches Gegenbild: Saul Ascher Am schärfsten wandte sich der Publizist und Buchhändler Saul Ascher (1767– 1822) gegen den nationalistischen Ton in den gebildeten christlichen Kreisen seiner Zeit. In seiner 1794 gedruckten Polemik gegen Fichte mit dem aussagekräftigen Titel „Eisenmenger der Zweite“ ist von Zurückhaltung keine Rede.128 Ascher selbst war kein Mitglied des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“, seine Kritik an einem starren Nationalismus wurde jedoch auch von den Vertretern der sich ausbildenden Wissenschaft des Judentums aufgegriffen, allerdings nicht so radikal formuliert. Ascher bezeichnete Fichte als „Eisenmenger der Zweite“ in Anlehnung an den Heidelberger Theologen Johann Andreas Eisenmenger, dessen Buch „Entdecktes Judentum“ im Jahre 1711 die Juden auf Grundlage von mittelalterlichen Legenden über angeblich vorgefallene Hostienschändungen, Ritualmorde und das Christentum kritisch beschreibende Talmud-Stellen als von Gott verfluchtes Volk darstellte. Dem widersprach Ascher mit Blick auf die Ereignisse im revolutionären

128 So hat Jonathan Hess darauf hingewiesen, dass es Saul Ascher gewesen sei, der Fichtes Kritik an den Juden als Kant’sches Vorwort interpretiert hatte. “Fichte offered the reading public what Ascher called, in Kantian terms, a ‘prolegomena’ to a ‘critique of Jew-hatred,’ a distinctly modern philosophical grounding for antagonism toward Jews and Judaism articulated within a defense of the principles of the French Revolution.” (Hess: Germans, Jews and the claims of modernity, S. 140). Für Aschers Auseinandersetzung mit Fichte vgl. hier bes. S. 144–149. Auf S. 148 schreibt Jonathan Hess: „For Fichte, here, modernity defines itself in opposition to Judaism, consigning Judaism to eternal oblivion as one its key acts of selfconstitution. If modernity secures its autonomy by destroying the legacies of history and memory, Ascher argues, it does not do so simply on an abstract level. It sustains its myth of self-creation partly by performing a symbolic escape from the historical burdens of Judaism.” (Hess, Germans, Jews and the claims of modernity, S. 148). Außerdem verweist Hess auf eine weitere Konstante der Wahrnehmung bei Ascher. “Ascher’s problem with Fichte, in any case, was not just that he failed to include Jews in his vision of republican renewal, but that he portrayed Jews and Judaism as the symbolic antithesis of his idealist principles, presenting Judaism as the very opposite of a universalistic politics.” (Hess, Germans, Jews and the claims of modernity, S. 140). Vgl. außerdem Christoph Schulte: Saul Ascher’s Leviathan, or the Invention of Jewish Orthodoxie in 1792. In: Leo Baeck Institute Yearbook 25 (2000), S. 25– 34. Vgl. Walter Grab: Saul Ascher: Ein jüdisch-deutscher Spätaufklärer zwischen Revolution und Restauration. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 6 (1977), S. 131–179. 164

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Frankreich mit den Worten, dass in der Zwischenzeit Juden wie Christen gezeigt hätten, „dass sie der Rechte der Menschheit teilhaftig zu werden vermögen.“129 Unmittelbar nach dem Erscheinen von Rühs Abhandlung fertigte Ascher im Jahre 1815 seine Erwiderung „Die Germanonmanie. Skizze zu einem Zeitgemälde“ an. Er lehnte Rühs Forderung nach einem Übertritt der Juden zum Christentum ab. Für ihn war entscheidend, sich den Gesetzen des Landes zu fügen und nicht einem religiösen Bekenntnis zu folgen und damit seiner Zugehörigkeit zu einem Staat Ausdruck zu verleihen. Auf die beiden zentralen Maßnahmen Fichtes, den Juden die Köpfe abzuschlagen und sie nach Palästina zu schicken, erwiderte Ascher: Die Geschehnisse in Frankreich hätten doch gerade gezeigt, das Guillotinieren von Menschen keine erzieherische Wirkung aufweise.130 Die Überzeugung der nationalen deutschen Dichter, allen voran Fichte, dass „Juden der Deutschheit entgegengesetzt“131 seien, teilte Ascher nicht, sondern er vertrat die Ansicht, diese Denkweise verstoße gegen die Prinzipien des Fortschritts, was sich in seiner politischen Analyse der Niederlage der deutschen Staaten gegen Frankreich zeigte.132 Für Ascher war die Vorstellung der Abgeschlossenheit der Nation ein Relikt aus der Vergangenheit und nicht mehr zeitgemäß.133 Jede nationale Kultur ohne Einflüsse von außen war für ihn ein Trugbild, müsste diese doch per definitionem auf den Einfluss antiker oder moderner Bildung gänzlich Verzicht üben, die doch nachweislich auch in Deutschland eine große Rolle spielten.134 Tatsächlich habe Deutschland lange Zeit den Entwicklungen in Europa hinterhergehinkt.135 Es waren die Juden in

129 Saul Ascher: Eisenmenger der Zweite. Nebst einem vorangesetzten Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte in Jena (1794) In: 4 Flugschriften. Hgg. von Peter Hacks. Berlin 1991. S. 7–80. Hier: S. 20. 130 „Wer hätte denken sollen, dass eben das Kopfabschneiden in Deutschland solche Anhänger finden sollte, die eine ganze Nation durch dieses Experiment schon gebessert sehen.“ (Ascher: Eisenmenger, S. 34). 131 Saul Ascher: Germanomanie: Skizze zu einem Zeitgemälde (1815). In: 4 Flugschriften. Herausgegeben von Peter Hacks. Berlin 1991. S. 193–232. 132 „Ist denn Deutschland einer andern Macht untertan worden, weil es fremde Sprachen übte, fremden Sitten huldigte und dem Auslande in Kultur und Industrie nachzustreben sich beeiferte? – Mitnichten! Was Deutschland in die Gewalt des Franzmanns brachte, war die Ohnmacht seiner militärischen und bürgerlichen Kraft.“ (Ascher: Germanomanie, S. 207–208). 133 „Diese Abgeschlossenheit der Nationen gründete sich auf die niedrige Bildungsstufe, worauf sich die Menschen vormals befanden.“ (Ascher: Germanomanie, S. 214). 134 Ascher: Germanomanie, S. 216. 135 „Deutschland hat sich in Hinsicht seiner Kultur und Industrie lange nachher, als Spanien, Italien, Holland, Frankreich und England schon bedeutende Fortschritte gemacht, erst emporgehoben.“ (Ascher: Germanomanie, S. 216). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Deutschland, denen in Aschers Verständnis von Universalität eine große Bedeutung zukam. Aschers Absicht war es, für die Juden als „ein Volk zu sprechen, das in jeder Hinsicht täglich den besten Willen zeigt, sich in eure Ansichtungen und Verfassungen zu fügen.“136 Die Juden hätten sich insoweit verbessert, dass nun sogar in ihren Synagogen „Orgel und der Chorgesang“137 vorhanden seien. Es habe drei Jahrhunderte gedauert, bis sich die Anhänger Luthers und Calvins die Hände gereicht hätten. Man müsse nur etwas mehr Geduld haben und es werde sich „Zuversicht und Vertrauen“138 gegenüber den Juden durchsetzen. Die deutsche Nation sei eine Bildungsnation und nehme in dieser Funktion eine Vorbildfunktion für alle anderen Nationen ein.139 Fichtes Antisemitismus war für Ascher auch deshalb so gefährlich, nicht weil er als Grundlage für die nationale Wiedergeburt Deutschlands diente, sondern weil der Antisemitismus Bestandteil von Fichtes Theorie des modernen Staates war.140 Daher griff Ascher in seiner Abhandlung zur „Wartburg-Feier“ auch wieder auf seinen Gedanken der Universalität zurück, nachdem seine Schrift „Germanomanie“ beim Wartburgfest den Flammen übergeben wurde.141 Dieser Überblick über die nationale Stimmung zu Beginn des 19. Jahrhunderts macht deutlich, weshalb es den deutschsprachigen Juden bei aller Bereitschaft zur Integration in die deutsche Gesellschaft, in der sie sich selbst bereits als Deutsche wahrnahmen, in der sie jedoch rechtlich nicht gleichgestellt wurden und auch von 136 137 138 139

Ascher: Germanomanie, S. 257. Ascher: Germanomanie, S. 257. Ascher: Germanomanie, S. 257. „Keine Nation kann sich rühmen, eine solche Universalität in ihrer Bildung aufweisen zu können, als die deutsche, und diese Universalität gibt ihr wiederum eine Tiefe und Umsicht, die ihrer Bildung vor der aller Nationen einen Vorzug gibt und sie zur universalen Bildung stempelt.“ (Ascher: Germanomanie, S. 269). 140 „Seeing Fichte’s Jew-hatred as a paradigmatic expression of the German national spirit fails to come to terms with the way the Contribution embedded its anti-Semitism in a vision of modernity and universalism that was not in any way tied to a vision of nationhood. For Ascher, who was the only contemporary sufficiently troubled by Fichte’s anti-Jewish diatribes to attempt a full-fledged refutation, the problem was not that this anti-Semitism was designed to launch a vision of national renewal but that it helped ground a general theory of modernity.” (Hess: Jews, Christians, and the claims of modernity, S. 143). 141 „In seiner Schrift die „Wartburgs-Feier“ (1818) ging er davon aus, dass nicht der gerade kursierende ‚Antijudaismus’ siegen würde, sondern ‚Weltbürgersinn‘ und ‚universale Bildung‘ – und dies auch noch, nachdem seine Schrift „Germanonmanie“ kurz zuvor als eine der ersten der studentischen Bücherverbrennung auf dem Warburgfest von 1817 zum Opfer gefallen war.“ ( Jersch-Wenzel: Rechtlage und Emanzipaion, in: Deutsch-jüdische Geschichte, Bd. 2, S. 41, S. 41). 166

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den christlichen Deutschen nicht als Deutsche anerkannt wurden, ein Gebot war, andere Identifikationsmuster als einseitig christliche zu erhalten. Eine Folge davon zeigte sich in der Ausgestaltung von ambivalenten oder hybriden Formen von Zugehörigkeit. Diese ermöglichte es deutschen Juden, sich dem monolithischen Verständnis einer deutschen Nation zu widersetzen, die ihnen zudem verschlossen war. Diese Formen entwickelten sich jedoch nicht willkürlich, sondern als Reaktion auf eine von außen an die jüdische Gemeinschaft herangetragene Forderung nach Assimilation, die nicht selten ein Aufgehen des Judentums im Christentum verlangte oder – wie bei Fichte – sogar die Vernichtung des Judentums forderte. Ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Facetten von Zugehörigkeit wurde dabei als notwendig erachtet, deren stärkste Ausprägung bildete sich in der Zuschreibung einer Vermittlung von Kultur ab. Diese Umwandlung von Zugehörigkeitsmustern löste aber die Sehnsucht nach einer Integration in die deutsche Gesellschaft keinesfalls ab. Es verschoben sich allerdings die Parameter von Konzepten einer Verbesserung der Juden hin zu einer akzentuierten Artikulation von Positionen jüdischer Identität, was sich besonders deutlich am Bild der Juden als Vermittler zeigte. Vermittlung bedeutete in diesem Fall, dass Juden etwas für die Gesellschaft der Mehrheitskultur leisten konnten. Vollzogen wurde dies vor allem im Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Geschichte, die ausgehend von diesem Verständnis einen eigenen Wert innerhalb der anderen nationalen Geschichte darstellte und gleichzeitig als Vermittlung von Kultur universalistisch und nicht einseitig national ausgerichtet war. Die Hinwendung zur eigenen jüdischen Geschichte zeigte sich sehr klar in der Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ im Jahre 1819, initiiert von Leopold Zunz, Eduard Gans, Moses Moser, Ludwig Marcus und Lazarus Ben-David. Der Verein existierte nur etwas über vier Jahre, vom 7. November 1819 bis zum 7. Januar 1824. Ziel des Vereins war es, eine Zeitschrift herauszugeben, eine jüdische Unterrichtsanstalt zu gründen, ein Archiv für die Korrespondenzen anzulegen und ein wissenschaftliches Institut für die Geschichte der Juden zu etablieren. Mit dem Präsidenten Eduard Gans142 an der Spitze setzen sich die Mitglieder in vielfältiger Form mit der Geschichte der Juden in Spanien wissenschaftlich auseinander143 und etablierten dadurch ein „Kristallisierungsstadium des modernen jü142 Vgl. Eduard Gans: Rückblicke auf Personen und Zustände. Berlin 1836. ND Stuttgart 1995. 143 Immanuel Wolf: Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums. Jahrgang 1822. S. 1–13. Immer noch von großer Bedeutung für die Konzeption einer Wissenschaft vom Judentum: Sinai Siegfried Ucko: Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland. Band 5 (1934). S. 1–34. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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dischen Selbstverständnisses“144, als sich die Emanzipation der Juden nach der Niederlage Napoleons in den deutschen Ländern nicht weiter festigen konnte sondern sogar zurückgenommen wurde.145 Die zunehmende Auseinandersetzung mit der Geschichte der Juden in Spanien gründete auf Prinzipien des Universalismus und stand einem engen Begriff von Zugehörigkeit zur deutschen Nation gegenüber.146 Damit einher ging bei den jüdischen Bildungsbürgern ein Interesse nach einer Belletristik, die das Judentum als Konfession auffaßte und die im Abschnitt D noch genauer behandelt wird. Obwohl dem Verein in den Jahren seines Bestehens von 1819 bis 1824 nur 50 Mitglieder angehörten, sind die hier angelegten Grundlagen einer inneren und äußeren Reform des Judentums maßgeblich für die Entwicklung jüdischer Identitäten im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts über die Grenzen Preußens hinaus.147 Die Vereinsorganisation gilt als erste wissenschaftliche Organisationsform, die ein modernes jüdisches Geschichtsverständnis ausbildete, indem sie Orte einer jüdischen Geschichte buchstäblich erfinden musste, um sie wieder ins Bewusstsein der Juden bringen zu können. Das anfänglich eher auf eine Elite ausgerichtete Verständnis von Geschichte verließ bereits am Beginn des 19.  Jahrhunderts diesen elitären Rahmen und erreichte in populären Ausgaben ein größeres Publikum.148 144 Michael Graetz: Judentum als Religion – Judentum als Wissenschaft. Kontinuität oder Bruch? In: Karlfried Gründer, Nathan Rothenstreich (Hg.): Aufklärung und Haskala in jüdischer und nicht jüdischer Sicht. Heidelberg 1990. S. 133–129. Hier: S. 130. 145 Wichtig für die Ausbildung eines Wissenschaftsgedankens auf der Folie der Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel mit deren Teilhabe an politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften: Rachél Livné-Freudenthal: Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (1819–1824). Zwischen Staatskonformismus und Staatskritik. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Band XX (1991). Sozialgeschichte der Juden in Deutschland. S. 103–125. Edith Lutz: Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden und sein Mitglied Heinrich Heine. Stuttgart 1997. Barbara Bauer: Nicht alle Hebräer sind dürr und freudlos. Heinrich Heines Ideen zur Reform des Judentums in: Der Rabbi von Bacherach. In: Heine Jahrbuch 35 (1996). S. 23–54. 146 “It was, in a sense, the goal of the ‚Verein‘ to accomplish in the Judaic field that which the Romanticists aimed to achieve in German folklore.“ (Israel Tabak: Judaic Lore in Heine. The heritage of a poet. Baltimore 1948. S. 174–175). 147 Hertz: How Jews became Germans, S. 190. 148 Zur Bedeutung Hegels für die Ausgestaltung des Vereins und einer Wissenschaft des Judentums vgl. Norbert Waszek: Wissenschaft und Liebe zu den Seinen – Eduard Gans und die hegelianischen Ursprünge der Wissenschaft des Judentums. In: Reinhard Blänker, Gerhard Göhler und Norbert Waszek (Hg.): Eduard Gans (1797–1839). Politischer Professor zwischen Restauration und Vormärz. Leipzig 2002. S. 71–103. Hans Reissner: Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz. Tübingen 1965. S. 28. 168

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Bis zur Gründung des Vereins bestimmten wissenschaftliche Publikationen die Vorstellung von Juden und Judentum, jüdischer Geschichte und Kultur, die aus einer christlich positionierten Perspektive heraus argumentierten. Die Mitglieder des Vereins hatten sich zum Ziel gesetzt, das Judentum mit dem Fundament der Wissenschaft zu versehen, um es als Bestandteil einer europäischen Kulturtradition zu etablieren.149 Ein bisher primär auf religiöse Kriterien ausgerichtetes Verständnis von jüdischer Identität wurde in der Folge durch ein säkularisiertes Geschichtsverständnis ersetzt. Diesem Verständnis folgend stellte Immanuel Wolf (alias Wohlwill) 1822 in seinem programmatischen Aufsatz „Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums“ der „pharisäisch-rabbinischen Verkörperung“ die „reingeistig, spekulative Seite“ des Judentums gegenüber: „So sehen wir die Juden noch im Mittelalter in Gemeinschaft mit den Arabern [...] besonders in Spanien das Feld der Wissenschaften mutig bearbeiten. Die Juden wurden die Dolmetscher arabischer Wissenschaftlichkeit für die europäische Welt.“150 Wolf integrierte das Beispiel der Juden in Spanien in seine programmatischen Überlegungen. Über ein Konzept von Vermittlung bzw. Übersetzung von Wissen verdeutlichte er seine Vorstellung eines jüdischen Beitrags an der allgemeinen Kultur und bezog damit gleichzeitig Stellung gegen das orthodoxe Judentum in Deutschland. Wolf war von zwei zentralen Texten der Aufklärung beeinflusst worden: von Lessings „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von 1780 und Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784, auf deren Grundlage er die noch von Mendelssohn formulierte Konzeption jüdischer Religion in den Grenzen der Vernunft mit den anderen Mitgliedern des Vereins in die Wissenschaftslehre umwandelte. Der Glaube an die Wissenschaft markierte hier eine deutliche Abgrenzung von dem, was auf einem überschaubaren religiösen Sektor eingeschränkt bleiben sollte. Wolf folgerte: „Wenn von einer Wissenschaft des Judentums die Rede ist, so versteht es sich von selbst, dass hier das Wort Judentum in seiner umfassendsten Bedeutung genommen wird, als Inbegriff der gesamten Verhältnisse, Eigentümlichkeiten und 149 Immanuel Wolf: Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums, Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1822. S. 1–13. Von Bedeutung sind außerdem Einschätzungen aus neuerer Zeit von Rachél Livné-Freudenthal: Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (1819–1824). In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd.  XX (1991). Sozialgeschichte der Juden in Deutschland. S. 103–125. Edith Lutz, Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden und sein Mitglied Heinrich Heine, Stuttgart 1997. Zum Verein vgl. Ismar Schorsch: Breakthrough into the Past: The Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. In: From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism. Hanover and London 1994. S. 205–232. 150 Wolf: Begriff einer Wissenschaft des Judentums, S. 11. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Leistungen der Juden, in Bezug auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtwesen, Literatur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten; – nicht aber in jenem beschränkteren Sinne, in welchem es nur die Religion der Juden bedeutet.“151 Verschärfend hatte Eduard Gans, der Präsident des Kulturvereins, ein säkulares Verständnis von Judentum vertreten: „und der klaren und reinen Vernunft […] die Herrschaft lassen. Insofern ist unser Streben gerade antireligiös.“152 Die jüdische Geschichte sollte auf diesem Wege als Bestandteil der allgemeinen Geschichte verstanden werden und somit zu einem gleichwertigen Partner in der Gesellschaft heranwachsen. Dieses Verständnis ist auch als eine Reaktion auf die bislang nicht erfolgte wissenschaftliche Auseinandersetzung der Christen mit den Quellen des Judentums jenseits der christlichen Theologie zu verstehen. Die Wissenschaft des Judentums wollte gerade diese Möglichkeit einer Gleichheit von jüdischer und allgemeiner Geschichte ausloten. Im Umfeld dieser Bestrebungen kam belletristischen Ausgestaltungen jüdischer Geschichte in Romanen und Novellen eine zunehmend bedeutende Funktion zu. Exemplarisch zeigt sich dies in der Bedeutung Heinrich Heines, der von 1822 bis 1824 als Mitglied des Vereins geführt wurde und der sich verstärkt mit dem maurischen und spanischen Judentum beschäftigte. Den „Rabbi von Bacherach“ verfasste er als Auftragsarbeit für den Verein. In einem Brief an Moses Moser vom 20. Juli 1824 schilderte Heine, sich an einen Traum erinnernd, seine Sehnsucht nach Heimat, indem er Moser zum sephardischen Juden stilisierte: „Noch diese Nacht träumte ich von Dir. In altspanischer Tracht und auf einem andalusischen Hengst rittest Du in der Mitte eines großen Schwarms von Juden, die nach Jerusalem zogen.“153 Insbesondere die Almansor-Figur diente Heine dazu, die Unterdrückung der Juden zu thematisieren, wenn er die Zerstörung der Liebe zwischen Almansor und Suleima durch die Instanzen der Reconquista schildert. Almansor (938–1002) regierte von 978 an faktisch als Alleinherrscher im Kalifat von Córdoba. Eine solche Liebesbeziehung, wie bei Heine geschildert, ist für den historischen Almansor nicht verbürgt. Dieser konnte seinen Herrschaftsbereich im Norden ausbauen und sich durch Feldzüge in den christlichen Teil Spaniens einen unter den Christen gefürchteten Namen machen. Dennoch wählte ihn Heine gerade ihn, um auf die zerstörte Liebe durch die Kraft der Inquisition zu verweisen. Heine Identifikation mit seiner Vorstellung von Almansor ging so weit, dass er sich in einem Brief an Hein151 Wolf: Begriff einer Wissenschaft des Judentums, S. 1. 152 Zit. nach Siegfried Ucko: Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums, ZGJD 5 (1934), S. 1–34, S. 17. 153 Heinrich Heine: Confessio Judaica. Eine Auswahl aus seinen Dichtungen, Schriften und Briefen. Herausgegeben von Hugo Bieber. Berlin 1925. Hier: S. 27. 170

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rich Straube selbst „Almansor“ und seine angebetete Cousine „Dulcina de Tobasa nannte.“154 Im „Buch der Lieder“ von 1827 nahm Heine den Dramenstoff der Romanzen „Donna Clara“155 und „Almansor“156 wieder auf. In der „Romanze von Rodrigo“ aus dem Jahr 1817 griff er auf die durch Johann Wilhelm Ludwig Gleim in die deutsche Literatur eingeführte Gedichtform der Romanze zurück. Der Romanze nach arabischem Vorbild kam eine zentrale Funktion zu, insbesondere auch in Heines Alterswerk, dem 1851 verfassten „Romanzero“. Die Form der spanischen Romanze und deren reimlose Trochäen verwendete er im „Buch der Lieder“. Bereits 1817 entstand das Gedicht „Don Ramiro“, das neben einer verschmähten Liebe auch die Lesart einer Flucht vor dem Judenhass anbietet. Eduard Gans (1797–1839) war einer der Mitbegründer des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ und wurde nach vollzogener Taufe 1828 Ordinarius für Völkerrecht, Preußisches Recht und Kriminalrecht an der Berliner Universität. Die Taufe im Jahre 1825 ermöglichte Gans überhaupt erst, als Professor tätig werden zu können. Wie es zu dieser Notwendigkeit kam, zeigt die folgende Sachlage: Gans hatte nach seiner Promotion in Heidelberg gehofft, sich in Berlin habilitieren und später hier eine Professur bekleiden zu können. Gans musste nun jedoch die besondere rechtliche Situation in Preußen für sein eigenes berufliches Schicksal zur Kenntnis nehmen. Das Edikt von 1812 ermöglichte Juden zwar formal „akademische Lehrämter, zu welchen sie sich geschickt gemacht haben“, auszuüben. Die juristischen Professuren waren jedoch in Berlin an die „richterliche Funktion eines Mitglieds des Spruchkollegiums“157 – eines Ausschusses, dessen Urteil von unteren Gerichtsinstanzen eingeholt werden konnte – geknüpft. Dieser Widerspruch sollte in zukünftigen Regelungen aufgehoben werden. Nachdem sich die Situation hinsichtlich der bürgerlichen Gleichstellung spätestens im Jahre 1815 wieder gedreht hatte und die Reformpolitik in die Defensive gedrängt wurde, wurde an der Bewerbung Gans‘ ein Exempel statuiert. König Friedrich Wilhelm III. persönlich hob in einer Kabinettsorder vom 18. August 1822 die Anstellung von Gans auf. Gans’ juristisches Denken war vollkommen von der Philosophie Hegels bestimmt und stand somit im Gegensatz zur historisch orientierten Rechtsschule Savignys. Im Rahmen der ersten Gesamtausgabe nach Hegels Tod im Jahre 1831 gab er 154 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. 6 Bde. in 7 Bänden. Herausgegeben von Klaus Briegleb. München 1975–1985. Hier: Bd. I, S. 221. 155 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. I, S. 156–158. 156 Heine: Sämtliche Schriften, Bd. I, S. 159–162. 157 Norbert Waszek: Eduard Gans (1797–1839): Hegelianer - Jude - Europäer. Frankfurt/Main 1991. S. 16. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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die Ausgaben zur Rechtsphilosophie und zur Geschichtsphilosophie Hegels heraus. Gans war auch Mitherausgeber der „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“ und in diesem Sinne mitverantwortlich für die wissenschaftliche Bedeutung Hegels über dessen Tod hinaus. Die Philosophie Hegels prägte Gans’ eigene Beziehung zum Judentum. Der junge Hegel hatte in seinen „Theologischen Jugendschriften“ zum biblischen Judentum Stellung bezogen und das Judentum als eine niedrigere Stufe der Religiosität im Vergleich zum Christentum begriffen. In den Jugendschriften „kritisiert Hegel tatsächlich den Formalismus des biblischen Judentums, den blinden Gehorsam gegenüber inhaltlich nicht in Frage gestellten Gesetzen.“158 Hegel stand damit in einer Tradition des Denkens, deren Kritik am biblischen Judentum häufig einen Angriff auf das Christentum zum Ziel hatte. Bei dem reiferen Hegel zeigte sich hingegen ein anderes Bild, auch wenn sich natürlich nicht alle Aussagen der Jugendzeit gänzlich aufgelöst hatten. In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ lässt Hegel keinen Zweifel daran, dass „der Mensch so gilt, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener, usf. ist.“159 Diese Einschätzung war eine Ausnahme in jenen Tagen und wurde von den jüdischen Studenten Hegels sehr begrüßt. In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, die er fünfmal, beginnend mit dem Wintersemester 1822/23, alle zwei Jahre in Berlin hielt, wertete er die Rolle des Judentums in der Geschichte grundsätzlich aufgeschlossener. Diese Vorlesungen wurden posthum 1837 von Eduard Gans herausgegeben. Die Würdigung des Judentums als Religion fiel hier positiver aus, löste jedoch nicht das für seine jüdischen Schüler auftretende Dilemma, nämlich inwieweit das Judentum der Gegenwart einen eigenen Anteil an der zeitgenössischen Kultur nehmen könne. Hegel zufolge hatte es bereits seine Bedeutung eingebüßt.160 In dem Moment, als die Juden ihren Sonderstatus als religiöse Minderheit verloren, wurde die Frage nach der Position der Juden in der europäischen Kultur nachdrücklich gestellt. Für Hegel selbst war die Emanzipation der Juden eine notwendige und selbstverständliche Maßnahme. Dies hatte er in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1821 deutlich artikuliert. Zum einen habe sich die „Ausschließung“ der Juden „in der Erfahrung am törichtsten […] erwiesen“, ande158 Waszek: Gans, S. 20. 159 Zit. nach Waszek: Gans, S. 21. 160 „Hegel zufolge hatte das Judentum aufgehört, eine eigene welthistorische Bedeutung zu besitzen. Wenn es aber nicht gelang, das Judentum als etwas Unterschiedliches zu erweisen, dann gab es auch keinen intellektuell vertretbaren Grund mehr für ein seperates Überleben. Solange das Judentum selbst exklusiv war und Juden von Nichtjuden ausgeschlossen wurden, verlief jüdische Geschichte parallel zur Weltgeschichte.“ (Michael A. Meyer: Jüdisches Selbstverständnis. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. S. 139). 172

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rerseits sei es notwendig aus Gründen der Menschlichkeit ihnen das Bürgerrecht zuzubilligen.161 Als eine Konsequenz aus dieser Position fanden jüdische Intellektuelle in Hegels politischer Philosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts „eine Vision vom freien Bürger im freien Staate, von der sie als Juden nicht ausgeschlossen waren.“162 Gans verwies insbesondere auf die politische Situation der sephardischen Juden, wenn es darum ging, die rechtliche Gleichstellung für die Juden in Deutschland zu erwirken. Gans hatte 1824 in seiner Funktion als Präsident des Vereins dem preußischen Innenminister Friedrich von Schuckmann unter Verweis auf die Integrationsfähigkeit der spanischen Juden in eine nicht jüdische Gesellschaft nahegelegt, dass dies auch für die in Deutschland lebenden Juden möglich sei und mit einer Emanzipation der Juden keinerlei Nachteile für die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft verbunden seien.163 In seinen „Reden vor dem Kulturverein“ charakterisierte Gans das reaktionäre gesellschaftliche Klima, das durch „sein Streben nach Absonderung“ gekennzeichnet sei. Unter diesen Voraussetzungen sei mit der Gleichstellung der Juden nicht zu rechnen.164 Gans verortete jüdische Geschichte als Bestandteil der europäischen Geschichte und die Juden als Europäer, wenn er fragt: „Was ist das heutige Europa? Und was sind die Juden? Ich sage absichtlich, was sind sie? Denn die früher sich mit diesem Gegenstande beschäftigten, haben das Wie sind sie? beantworten wollen, und daraus ist das Verfehlte der Lösung entsprungen.“165 Diese verfehlte „Lösung“ bezog sich auf die Diskussionen um die Verbesserung der Juden, ohne die eine Emanzipation nicht erfolgen könne. Es könne nun nicht 161 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (Hg.): Werke. Bd. 7. Frankfurt/Main 1970. S. 421. Vgl hier insbesondere § 209 und die Anmerkung zu § 270. 162 Waszek: Gans, S. 19. 163 Vgl. zu den Hintergründen Ismar Schorsch: From Wolfenbüttel to Wissenschaft: The Divergent Paths of Isaak Markus Jost and Leopold Zunz. In: Ders.: From Text to Context. 233–254. Hier: S. 240–241. 164 „Lassen Sie sich nicht irre machen durch den Baaldienst, mit dem sie vor den Altären des Mittelalters liegen und barfüßig, aber verhüllten Kopfes, ihr Götzenwesen treiben; lassen Sie sich nicht irre machen durch die hunderttausend Zungen, die in Bereitschaft liegen, da, wo es nur Rost des Mittelalters abzulecken gibt, und da, wo es nur sein Papsttum, sein Zunftwesen, sein Kastensinn und sein Streben nach Absonderung überhaupt, in tausendstimmigen Hymnen zu preisen ist.“ (Eduard Gans: Erste Rede vor dem Kulturverein. (Gehalten Berlin, 28. Oktober 1821). In: Norbert Waszek: Eduard Gans (1797–1839): Hegelianer – Jude – Europäer. Frankfurt/Main 1991. S. 55–62. Hier: S. 57). 165 Eduard Gans: Zweite Rede vor dem Kulturverein. Am 28. April 1822 abgestattet. In: Norbert Waszek (Hg.): Eduard Gans (1797–1839): Hegelianer – Jude – Europäer. Texte und Dokumente. Frankfurt/Main 1991. S. 62–75. Hier: S. 63–64. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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darum gehen, einzelne positive Seiten des Judentums hervorzukehren und andere als notwendig für eine Verbesserung heranzuziehen. Vielmehr müssten die Juden als Ganzes betrachtet werden. Diese Vorstellung korrespondierte auch mit dem Europabegriff Gans’, der „auf dem Reichtum seines vielgliedrigen Organismus”166 beruhte. Gans’ Verständnis für das „heutige Europa“ verstand sich als Gegenbild zum monolithisch gedachten Europabild der Romantiker. Die Juden waren in seinem Bild fester Bestandteil dieses europäischen Organismus und seiner „fruchtbarsten[n] Mannigfaltigkeit von Ständen und Verhältnissen, das Werk des seiner Vollendung immer näher rückenden Geistes.“167 Es existierte also kein Gegeneinander verschiedener Gruppen in den „vieltausendjährigen Anstrengungen des vernünftigen Geistes“168, sondern diese seien in der Totalität der Weltgeschichte zusammengefügt worden.169 Und dieses Europa sei von einer besonderen Form der bürgerlichen Freiheit gekennzeichnet, die dem europäischen Menschen auch Glück verspreche.170 Dieser Weltgeist in den Gefilden Europas forderte von den Juden jedoch einen besonderen Preis, um an diesem großen Ganzen teilhaben zu können. „Wo der Organismus die Wellenlinie verlangt, da ist die gerade Linie ein Gräuel. Also ist die Forderung des heutigen Europas, dass die Juden sich ihm ganz einverleiben sollen, eine aus der Notwendigkeit seines Begriffes hervorgehende. [...] Wie aber ein solches Aufgehen der jüdischen Welt in der europäischen gedacht werden müsse, das folgt wiederum aus dem oben angeführten Begriffe. Aufgehen ist nicht untergehen. Nur die störende und bloß auf sich reflektierende Selbstständigkeit soll vernichtet werden, nicht die dem Ganzen untergeordnete; der Totalität dienend, soll es sein Substanzielles nicht zu verlieren brauchen.“171 Damit richtete sich Gans gegen eine radikale Assimilation, die auch das Substanzielle im Judentum aufgebe, wenngleich das Beharren auf Selbstständigkeit für ihn fehl am Platze war. Gans kommt auf seine Organismus-Theorie zurück, wenn er 166 167 168 169

Gans: Zweite Rede, S. 64. Gans: Zweite Rede, S. 65. Gans: Zweite Rede, S. 64. „Diese Totalität hervorzurufen hat der Orient seinen Monotheismus, Hellas seine Schönheit und ideelle Freiheit, die römische Welt den Ernst des Staates dem Individuum gegenüber, das Christentum die Schätze des allgemeinmenschlichen Lebens, das Mittelalter seine Gliederung zu scharf begrenzten Ständen und Abteilungen, die neuere Welt ihre philosophischen Bestrebungen gespendet, damit sie alle Momente wieder erscheinen, nachdem ihre zeitige Alleinherrschaft aufgehört. Das Gesamtprodukt dieses vieltausendjährigen Lebens hat das heutige Europa der anderen Hemisphäre [Gans dürfte hier auf den Orient verwiesen haben. C.S.] als Vermächtnis übergeben.“ (Gans: Zweite Rede, S. 65). 170 Gans: Zweite Rede, S. 63–65. 171 Gans: Zweite Rede, S. 66. 174

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folgert: „Darum können weder die Juden untergehen, noch kann das Judentum sich auflösen; aber in der großen Bewegung des Ganzen soll es untergegangen scheinen und dennoch fortleben, wie der Strom fortlebt in dem Ozean.“172 Leopold Zunz nahm diese Metapher vom Ozean wieder auf. Im Anschluss an diesen Bezug auf das Meer verweist Gans auf die gegenwärtige Situation, die berechtigten Anlass zur Hoffnung auf eine baldige Emanzipation der Juden gebe. So hätten christliche Gelehrte bereits darauf verwiesen, dass die Zeit bald gekommen sei, wo nicht mehr gefragt würde, wer Jude oder Christ sei.173 Die sephardischen Juden nahmen in dieser Vorstellung für Gans eine Vorbildfunktion ein. So wies er darauf hin, dass die Juden der iberisch-sephardischen Halbinsel den anderen Juden körperlich und geistig durchaus geähnelt hätten. Allerdings seien die sephardischen Juden im Allgemeinen durch geringere Abweichungen in der Moral, durch eine reinere Sprache, größere Ordnung in der Synagoge und einen besseren Geschmack aufgefallen.174 Auf der Basis der ihnen bereits durch die Araber bewilligten Gleichberechtigung hätten sie gemeinsam mit ihnen alle bekannten Wissenschaften der Zeit bearbeitet. Sprachlich hätten sie sich nicht in Hebräisch, sondern in Arabisch ausgedrückt. Ihre Vertreibung habe der spanischen Wirtschaft zum Nachteil gereicht. Allerdings vertrat Gans die Ansicht, dass selbst die Nachfahren der vertriebenen sephardischen Juden niemals von der christlichen Gesellschaft isoliert gewesen seien, wie es bei den Juden in Aschkenas der Fall gewesen sei. Einen Grund dafür sah Gans darin, dass die Elite der aschkenasischen Rabbiner es nicht verstanden habe, auch der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber bekannt gemacht zu haben, welchen Anteil das Judentum an den allgemeinen Ereignissen der Weltgeschichte trägt. Dadurch hätten Juden und Christen das „Judentum nicht als Teil eines großen Ganzen betrachtet, sondern als eine ausschließende und isolierte Wissenschaft ohne allen Zusammenhang mit den anderen Zweigen

172 Gans: Zweite Rede, S. 67. 173 Gans: Zweite Rede, S. 67. Waszek weist an dieser Stelle darauf hin, dass es ihm nicht gelungen sei, den von Michael A. Meyer getroffenen Hinweis, hiermit sei Herder gemeint gewesen, zu verifizieren. 174 “These Jews, resembling all others both physically and mentally but granted by the Arabs equality with Muslims, proceeded to plumb in concert all the known sciences of the day […] And they employed (in their writings) not Hebrew but Arabic. Indeed those Jews expelled from this land to France, Holland, Italy, and England, to the detriment of Spanish economic life, and their still living progeny have never formed the contrast to Christian society which was so striking in the other family of Jews kept intentionally apart. They are marked by less discrepancy in morality, purer speech, greater order in the synagogue, and in fact better taste.” ( Jewish National and University Library, Jerusalem ( JNUL), 4° 792/B-10, S. 36). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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denkend und behandelnd.“175 Auf Seiten christlicher Gelehrter habe nur zu häufig das einzige Interesse daran bestanden, jüdische Quellen zu studieren, um einen Beweis für die Höherwertigkeit des Christentums anzuführen.176 Mit dieser Rede hatte Gans auch ein christliches Publikum im Kopf, und er wünschte sich, dass es an den Publikationen des Vereins Anteil nahm.177 Die Realität des Jahres 1819 sah jedoch anders aus und ließ für die Juden die Notwendigkeit deutlich hervortreten, sich als Juden der eigenen Geschichte bewusst zu werden. Rühs und Fries hatten neben anderen deutlich gemacht, dass ihrer Ansicht nach die Juden keineswegs Anteil an den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland nehmen sollten und diese daher auch auf keinen Fall integriert werden sollten. Denn Juden wurden als Fremdkörper wahrgenommen. Gans stellte klar heraus, dass die Ursachen der judenfeindlichen Ausbrüche auch bei den Romantikern zu finden seien. „In vielen Städten des deutschen Vaterlandes waren jene grausen Szenen vorgefallen, die manchen eine unvorhergesehene Rückkehr des Mittelalters vermuten ließen.”178 Die Mitglieder des Vereins setzten dieser eingeschränkten nationalen Sichtweise, die das christliche Europa als einen Block wahrnahm, eine universale europäische Dimension entgegen. Leopold Zunz’ Organismus-Theorie und das Beispiel   der iberisch-sephardischen Kultur Der Stellenwert der iberisch-sephardischen Kultur nahm innerhalb der sich ausprägenden Wissenschaft des Judentums breiten Raum ein und beeinflusste ein sich ausbildendes modernes jüdisches Geschichtsverständnis. Zentral für diese Wahrnehmung war die Auffassung, dass sich die iberisch-sephardische Kultur im Zentrum einer europäischen Geschichte befand, die auch jenseits einer Dominanz des Christentums Bestandteil eines interkulturellen Bezugssystems war. Diese Rezeption ma175 Gans: Zweite Rede, S. 69. 176 Gans: Zweite Rede, S. 69. 177 „Auch Ihr, meine christlichen Mitbrüder, die Ihr heute mit Liebe des entfernten gefesselten Hellas gedenket, und ein Ende setzen möchtet der entmenschenden Zwingherrschaft, - auch wir, die unter Euch Wohnenden, wir haben Anspruch auf Eure rücksichtslose Liebe. Gern möchten wir auch Euch als Mitglieder dieses Vereins begrüßen, dafern Ihr Euch uns anzuschließen nicht verschmäht. Für Euch auch wirket Ihr, wenn Ihr für die Veredelung des jüdischen Geschlechts sorgt. Kommt in unsere Reihen; lasset uns gemeinsam das schöne Beispiel aufstellen, dass das Vorurteil schwindet, wo das Reinmenschliche sich zeigt.“ (Gans: Zweite Rede, S. 74–75). 178 Gans, Zweite Rede, S. 68. 176

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nifestierte sich in unterschiedlichen Genres in wissenschaftlichen und literarischen Texten. Sie zeigte sich auch in der Vermischung inhaltlicher Ebenen und Bezüge, in dem Nebeneinander von historischer Wahrheit und fiktionaler Deutung, was die Rekonstruktion der iberisch-sephardischen Erfahrung überhaupt erst ermöglichte. Leopold Zunz, 1794 in Detmold geboren und 1886 in Berlin gestorben, war der bedeutendste Gründer des „Vereins für Kultur und Wissenschaft der Juden“ und gab dessen „Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums“ heraus. Zunz lebte das Ideal eines Gelehrten am Existenzminimum, da er selbst sichere Beschäftigungsverhältnisse ausschlug, sobald sich diese nicht mit seinen Ansprüchen und seinem Ruf nach Unabhängigkeit deckten. Seine bedeutendsten Werke waren „Die Synagogale Poesie des Mittelalters“ aus dem Jahre 1855, „Der Ritus des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt“ von 1859 und „Die Literaturgeschichte der synagogalen Poesie“ aus dem Jahre 1865. Zunz definierte die Bedeutung von Literatur für das sich ausbildende Verständnis einer Wissenschaft des Judentums bereits in seiner ersten Publikation „Etwas über die rabbinische Literatur“ aus dem Jahr 1818, die auf seine an der Universität Halle eingereichte Dissertation zurückgeht. Hier verstand Zunz rabbinische Literatur als festen Bestandteil der allgemeinen Kulturgeschichte. Für ihn zählte jede Art von Literatur und eben nicht nur die rabbinische, d. h. im engeren Sinne theologisch definierte Literatur dazu. Sein Erstlingswerk ist als Plädoyer für einen inhaltlichen Wechsel in der jüdischen Bildungselite angelegt. Dieser Wechsel sollte sich grundsätzlich dadurch auszeichnen, anzuerkennen, dass die Beschäftigung mit der deutschen Kultur und die Verwendung der deutschen Sprache einen aktiven Gebrauch des Hebräischen im Verlauf dieses Prozesses von selbst ausschließen werde. Bereits in diesem Aufsatz fragte Zunz, warum nur „unsere Wissenschaft“179 – also die der Juden – daniederliege. Zunz hatte bereits hier den Versuch unternommen, die verschiedenen Bereiche jüdischen Lebens programmatisch in Sprache, Kunst, Musik, Jurisprudenz, Astronomie und Mathematik zusammenzufassen. Dieses moderne Verständnis von jüdischer Wissenschaft konzentrierte sich ganz auf den Begriff der Philologie, der sich als „das Erbe von Herder und vor allem durch den Einfluss von Zunz’ eigenen Lehrern, August Wilhelm Boeckh und Friedrich Wolf “180 erklären lässt. Auch in dem frühen Essay „Etwas über die rabbinische Literatur“ „ist das Hauptinteresse nicht auf die Emanzipation und noch weniger auf die religiöse Reform gerichtet. Im Zentrum der Wissenschaft des Judentums […] stand der Wunsch, das Judentum dem Schutz der Wissenschaft zu unterstellen, ihm Anse179 Leopold Zunz: Etwas über die Rabbinische Literatur. Berlin 1818. S. 5. 180 Brenner: Propheten, S. 49. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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hen zu verschaffen, indem man es ins Licht der Wissenschaft rückt.“181 Das Streben nach wissenschaftlicher Objektivität basierte für Zunz auf dem Prinzip der Rationalität von dem ausgehend sich der emanzipatorische Anspruch ableitete. Dieses Prinzip lag einem Transfer von Wissen auf der Grundlage von Prinzipien wissenschaftlicher Objektivität zugrunde, wenn Zunz festhielt: „Als aber, in demselben elften Jahrhundert, der Talmud ins Abendland gewandert war, fand er – wie später die Kabbala – die Köpfe nicht mehr unvorbereitet. Von Arabern mit griechischer Wissenschaft bekannt gemacht, hatten die Juden – zuerst in Afrika und Spanien – auf Grammatik, Astronomie, Philosophie sich gelegt.“182 Zunz ordnete hier Talmud und Kabbala als jüdische Wissensfelder ein. Durch die Kenntnis griechischer Wissenschaft, vermittelt durch die Araber, hätten sich die Juden den rationalistischen Wissenschaften zugewandt. Dadurch wird zweierlei deutlich: Zum einen seien Juden im 11. Jahrhundert mit den herausragenden wissenschaftlichen Errungenschaften bekannt geworden und zum anderen seien Talmud und Kabbala eben nicht als irrationale Lehren daher gekommen, sondern bereits mit den modernen Wissenschaften verknüpft gewesen. Die Rezeption kabbalistischer Werke dürfe aus diesem Grunde auch nicht verworfen werden, da sich in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr die Polemik gegenüber dem Talmud und der Kabbala durchsetzen dürfe. Nur aufgrund philosophischer Erkenntnis könne ein Werk wirklich beurteilt werden und folglich nicht auf Grundlage einer unwissenschaftlich fundierten Behauptung. „Denn das ist die Philosophie, die im Himmel geborene, die ihre Feinde besiegt, begnadigt und anerkennt.“183 Anders als die Maskilim vor ihm konzentrierte sich Zunz nicht auf ausgesuchte Aspekte von Wissenschaft, um diese ins Verhältnis zu den Leistungen der Umgebung zu setzen. Ihm ging es immer um die Ganzheit jüdischen Wissens, die er in den Kanon der Universität eingereiht sehen wollte, was ihm jedoch Zeit seines Lebens versagt blieb. Die rabbinische Literatur in ihren aussagekräftigsten und schönsten Werken sollte einem größeren Kreis von Lesern wieder zugänglich gemacht werden, damit das bisher herrschende negative Bild vom Talmud neutralisiert werden könnte. Nur diejenigen Rabbiner, so Zunz, die sich dem Studium der Vergangenheit offen gegenüber zeigten, könnten sich für eine Führungsrolle innerhalb des zeitgenössischen Judentums qualifizieren. In seiner Einschätzung der rabbinischen Literatur sollte sich Zunz von anderen Vertretern der Wissenschaft des Judentums maßgeblich unterschieden. Am Ende seines Beitrags „Etwas über die rabbinische

181 Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, S. 201. 182 Leopold Zunz: Masora Talmud Kabbala (1818). In: Gesammelte Schriften. Bd. III. S. 82. 183 Zunz: Masora Talmud Kabbala, S. 82. 178

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Literatur“ verlieh Zunz zudem seinem Interesse an der iberisch-sephardischen Kultur Ausdruck.184 Wie Gans ging auch Zunz in Weiterführung der Idee Hegels davon aus, dass die Juden an der allgemeinen Kultur mit dem universalen Ziel partizipieren müssten, um den „Weltgeist“ auszubilden.185 Das bestehende Spannungsverhältnis von nationaler und universaler Kultur lief in einem Konflikt zusammen und bezeichnete für Zunz und andere ein Dilemma. „In seiner eigentümlichen Lage bot sich nur die Lösung: die Erforschung des jüdischen Gutes im Rahmen aufgeklärter europäischer Wissenschaft, und der großzügig angelegte Versuch, das Judentum in die freie, humanistische Kultur Europas einzugliedern.“186 Wie viele seiner der Aufklärung zugeneigten Zeitgenossen verstand Zunz die jüdischen Lebenswelten in Polen als eine in der Vergangenheit lebende Gemeinschaft, von der keine Impulse für die Verbreitung der Aufklärung unter den Juden der Gegenwart zu erwarten war. Diese Meinung fußte häufig auf einer Kritik des Erziehungssystems in den jüdischen Schulen, den Chedarim, in Polen. In der Vorstellung dieser Kritiker des polnischen Judentums bestand schon weit vor der stärker werdenden Einwanderung polnischer Juden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine tiefe Skepsis gegenüber deren Lebensführung und Auffassung vom Judentum. Diese Skepsis wurde im Verlauf des 19. Jahrhundert zum Kanon und das polnische Judentum wurde im Allgemeinen als mittelalterlich, rückständig und abgeschnitten von jeder Aufklärung verstanden. Oder um bereits hier eine Formulierung von Heinrich Graetz zu verwenden: Die Juden Polens hätten „ein neues Mittelalter über die europäische Judenheit“187 hervorgebracht. In seiner Abhandlung „Zur Geschichte und Literatur“ aus dem Jahr 1845, die ihm das Lob einbrachte, auf einer Stufe mit Philologen wie Boeckh und Grimm zu stehen, stellte Zunz die seiner Meinung nach zentrale Aufgabe von Literatur heraus, nämlich, dass „die Geschichte der Menschheit […] also zugleich die Geschichte 184 „His own choice of a Spanish philosophic text from the end of the thirteenth century conveyed unmistakably the impression that such were not to be found in the world of medieval Ashkenaz.“ (Schorsch: Thinking Historically. In: From Text to Context, S. 222). 185 „Das Ziel der historischen Entwicklung, so glaubten Gans und seine Kollegen, sei die Realisierung der Idee der Freiheit. Diese sei wiederum nur auf dem universalen Wege möglich, als notwendiger Prozess der Entwicklung des ‚Weltgeistes‘“. (Rachel Livneh-Freudenthal: Kultur als Weltanschauung. Der Kulturbegriff der Begründer der ‚Wissenschaft des Judentums‘. In: Bernhard Greiner/Christoph Schmidt (Hg.): Arche Noah. Die Idee der ‚Kultur‘ im deutsch-jüdischen Diskurs. Freiburg 2002. S. 59–84. Hier: S. 67. 186 Nahum H. Glatzer (Hg.): Leopold Zunz. Jude – Deutscher – Europäer. Ein jüdisches Gelehrtenschicksal des 19. Jahrhunderts in Briefen an Freunde. Tübingen 1964. S. 12. 187 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Bd. 10. Leipzig 3. Auflage 1897. S. 75. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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des Menschengeistes, in der Gesamtliteratur erschlossen“ sei.188 Die Geschichte der Menschheit war für Zunz in ihrer Literatur manifestiert. Politische Faktoren wirkten in das Geistesleben hinein und könnten in diesem Sinne auch eine fruchtbare und kreative literarische Produktion zutage bringen, die nicht abgeschlossen sei, sondern im Austausch mit der Umwelt stehe. Dieses Konzept findet sich ebenfalls in seinem Eintrag „Juden“, den er für das „Brockhaus Konversationslexikon“ im selben Jahr 1848 verfaßt hatte. Diese Enzyklopädie war an nicht jüdisches und jüdisches Publikum gleichermaßen gerichtet, die beide zentral sich an deutscher Sprache und Kultur orientierten. Zunz vertrat hier die Ansicht, dass seit dem Beginn einer jüdischen Literatur sich diese dadurch ausgezeichnet habe, fremde Wurzeln zu integrieren. Dies treffe auf „persische Religionsbegriffe, griechische Weisheit und römisches Recht, wie später arabische Poesie und Philosophie und europäische Wissenschaft“189 gleichermaß zu. Diese seien alle aufgenommen worden und hätten „an der Ausbildung des menschlichen Geistes“ entscheidenden Anteil genommen. Dieses Verständnis von Literatur war noch pointierter durch den Historiker und Bibliographen Moritz Steinschneider (1816–1907) formuliert worden. Steinschneider war der Ansicht, dass Jüdische Geschichte und Literatur „Glied und Quelle der Geschichte und Kulturgeschichte überhaupt“190 gewesen seien. Beide Wissensfelder dürften nicht jenseits der allgemeinen Geschichte und Literatur studiert werden, da sonst ein „neues Ghetto für die Jüdischen Wissenschaften“ entstehen würden.191 In ihrer Geschichte seien die Juden immer als natürliche Vermittler zwischen unterschiedlichen Kulturen aufgetreten, insbesondere auch deshalb weil sie über die 188 „Um die Literatur d. i. den Zusammenhang der schriftlichen Denkmäler des menschlichen Geistes zu erkennen, trennt und verbindet dieser Geist alle Besonderheiten mit Freiheit, nachdem er sie alle als Ausflüsse eines einzigen Urgeistes erkannt hat. In dieser Arbeit der Erkenntnis wird die Idee von dem speculativen Geist selbsttätig erzeugt, von dem genialen wird sie geschauet, von dem intuitiven in allem Werdenden erkannt: Es gehört sonach dem speculativen Geiste der Diamant, den nur der Diamant schneidet, die Philosophie; der geniale besitzt das Auge, in dem das Weltall sich abspiegelt, ohne dass wir es hineinbringen gesehen, die Poesie. Aber vor dem intuitiven Geist bereitet sich, einem lebendigen Kunstwerke gleich, die Geschichte der Menschheit aus, also zugleich die Geschichte des Menschengeistes, in der Gesamt-Literatur erschlossen.“ (Leopold Zunz: Zur Geschichte und Literatur. 1. Bd. Berlin 1845. Hier: S. 1). 189 Leopold Zunz: Juden. In: Brockhaus’ Conversationslexikon. Auflage IX. Band VII (1845). ND in: Leopold Zunz: Gesammelte Schriften. Berlin 1875. 1. Band, S. 86–114. Hier: S. 101–102. 190 Moritz Steinschneider: Hebräische Bibliographie 14 (1874), S. 117. 191 Moritz Steinschneider: Die Zukunft der jüdischen Wissenschaft. In: Hebräische Bibliographie 9 (1869). S. 76–78. Hier: S. 78. 180

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notwendigen Sprachkompetenzen verfügt hätten. Im Grenzgebiet zwischen dem christlichen und moslemischen Herrschaftsbereich in Spanien könne dies am treffendsten nachvollzogen werden. In seinem Beitrag für „Ersch und Grubers Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste“, die wie Zunz Beitrag im Brockhaus, für eine nicht jüdisches und jüdisches Publikum verfaßt wurde, zeigt sich dieses Verständnis besonders eindringlich. Der Ersch und Gruber erschien zwischen 1818 und 1889 in 167 Bänden. Bereits im Jahre 1831 war der Ersch und Gruber vom Brockhaus Verlag übernommen worden. Obwohl diese Enzyklopädie niemals abgeschlossen wurde, nahm sie dennoch eine zentrale Funktion hinsichtlich einer sich veränderndern Wissensgesellschaft in Deutschland ein. Steinschneiders Artikel „Jüdische Literatur“ erschien im Jahre 1850.192 Nils Roemer hat darauf hingewiesen, dass Steinschneider „defined the distinctiveness of Judaism with respect to its national literature. This literature included not only exegetical and philosophical treatises but folk literature as well, which formed the ‘spirit of the nation.‘“193 Darüber hinaus müsse Steinschneiders Argumentation, dass die Wissenschaft des Judentums kein Bestandteil jüdischer Theologie sei, auch vor dem Hintergrund seiner Forderung verstanden werden, der Staat müsse die Ausbildung von jüdischen Religionslehrern fördern und unterstützen.194 In seinem Beitrag verwies Steinschneider auf Zunz’ Buch „Etwas Über die Rabbinische Literatur“ von 1818 und wie auch dieser ging Steinschneider davon aus, dass die jüdische Literatur „als ein organisches Ganzes erscheinen“195 und aufgefaßt werden müsse. Der Rolle der Juden als kulturelle Vermittler und Übersetzer sollte auch in Steinschneiders Spätwerk „Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher“ Eingang finden.196 Von dieser Vermittlung von Wissen hätten sowohl die Juden Nordfrankreichs als auch die christlichen Wissenschaftler profitiert. Steinschneider verwies auf das Beispiel Averroes (1126–1198), dessen Aristoteles Kommentare nur deshalb den christlichen Gelehrten erschlossen wur192 Moritz Steinschneider: Jüdische Literatur. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von Ersch und Gruber. Mit Kupfern und Karten. Zweite Section. H-N. Herausgegeben von A.G. Hoffmann. Leipzig 1850, 357–471. 193 Roemer: Jewish Scholarship and Culture, S. 67. Vgl auch Moritz Steinschneiders Beitrag „Über die Volksliteratur der Juden“. In: Archiv für Literaturgeschichte 2 (1878). S. 1–12. Hier: 2 194 Roemer: Jewish scholarship. S. 102. See also: Moritz Steinschneider: Die Zukunft der jüdischen Wissenschaft. In: Hebräische Bibliographie 9 (1869). S. 76–78. 195 Steinschneider: Jüdische Literatur, S. 356–357. 196 Moritz Steinschneider: Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Berlin 1893. S. X. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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den, weil diese aus dem Arabischen zuerst ins Hebräische und dann ins Lateinische durch Jacob Anatoli (1194–1256) übersetzt wurde. Ohne diese Übersetzungsleistung wäre das Werk Averroes den Scholastikern verschlossen geblieben. Steinschneider beschrieb in diesem Zusammenhang das „Zusammen – und Übereinanderwirken verschiedenartiger Kräfte“ die sich gegenseitig beeinflussen konnten, „wenn es sich um arabische Übersetzungen aus dem Griechischen handelte.“197 Diese Bedeutung als Übersetzer und somit kulturelle Vermittler habe auch noch Bestand gehabt, als die Reconquista immer mehr Territorien von den Muslimen erobern konnte. Als Toledo im Jahre 1085 fiel, wurden die hier ansässigen Juden durch König Alfons VI und seinen Enkel Alfons VII geschützt. Diese Eroberung habe jedoch auf dem Gebiete der Wissenschaften eher positives bewirkt, wenn Steinschneider schrieb: Es „waren die Geister und Richtungen überhaupt, auch im Westen einander näher gerückt, Toledo war das Jerusalem geworden nach welchem die Kämpfer der Feder hinzogen, um arabisches Wissen für den christlichen Glauben zu holen, und Juden oder jüdische Apostaten waren hier die gewöhnlichen Vermittler.“198 Als sich diese Zeit der Toleranz mit dem 14. und 15. Jahrhundert dem Ende näherte, nahmen Christen und Juden gleichermaßen Schaden. Das „Licht arabischer Wissenschaft“ sei dem „systematischen Aberglauben“ gewichen.199 Bereits sieben Jahre zuvor hatte Steinschneider in einem Artikel für den von Julius Fürst herausgegeben „Orient“ das kulturell inspierende Klima des islamischen Spanien mit dem intoleranten während der sich ausbreitenden Reconquista kontrastiert.200 Dieser religiöse Fanatismus habe die bislang auch zwischen Juden und Christen bestehene Kommunikation nachhaltig zerstört. Das Arabische als Kultursprache sei jedoch weiterhin erhalten geblieben, so beispielsweise durch die Übersetzungen der italienischen Juden. Die aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden bezeichnete er hingegen nicht als Vertreter einer religiösen Gruppe, die Juden, sondern charak197 198 199 200

Steinschneider: Hebräische Übersetzungen, S. IV. Steinschneider: Jüdische Literatur, S. 385. Steinschneider: Jüdische Literatur, S. 385–386. „Solche Gegenbilder zeigt uns in ihrer ganzen Schärfe die Judenheit im Kern des Mittelalters in den Gebieten der Christen (Oberitalien, Deutschland, Frankreich) und Muhammedaner (Babylon, Afrika, Süditalien, Spanien). Dort Finsternis, Druck und Verfolgung, und darum engerer Anschluß an das Wort der Offenbarung; die Poesie ein Stoßgebet vor dem drohenden Untergang; hier das Sonnenlicht der Wissenschaft und der lebenswarme Hauch der Duldung, und darum die herrlichste Entfaltung des freien Geistes in allen Gebieten menschlicher Forschung und duftende Blüten der Poesie aus allen Weltgegenden von der ungebundenen Phantasie zusammengelesen.“ (Moritz Steinschneider: Immanuel, in: Literaturblatt des Orients IV (1843) 1–9, 17–25, 33–40, 58–62. In: Gesammelte Schriten. Bd. I, S. 271–308.) 182

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terisierte sie als Spanier und Portugiesen. Diese hätten ihre nationalen Sprachen, Spanisch und Portugiesich, rein gehalten auf ihrem Weg ins Exil. Eine solche Reinheit hätte im Gegensatz dazu bei den deutschen Juden nicht geherrscht, weil Kultur- und Bildungsstäten nicht am Platze waren.201 Auf keinen Fall dürfe jüdische Literatur unter der Aufsicht religiöser Institutionen und dem dem Kalkül einzelner Persönlichkeiten erfolgen. Vielmehr müsse diese Wissenschaft objektiv sein und daher versteht sich auch Steinschneiders Ruf nach einer Ausbildung jüdischer Lehrer in staatlichen Bildungsstätten.202 Diese Ganzheit jüdischer Literatur und der Austausch mit nicht jüdischen Quellen war für Steinschneider aber auch für Zunz von zentraler Bedeutung. Zunz verstand dies nicht als Programm einer Exklusion anderer Ströme und Strömungen, wie er am Beispiel des griechischen Diaspora-Judentums verdeutlichte. Dazu bediente er sich dem Topos der kulturellen Vermittlung, in diesem Fall allerdings von der griechischen Sprache ausgehend, die auch die Juden in ihren kulturellen Bann zog. Für Zunz konnte also die Sprache der nicht jüdischen Umgebung zur „Muttersprache“ werden und Juden konnten zusammen mit den Griechen in dieser Sprache das gemeinsame Ganze, eine vereinte Kultur, gestalten. Die griechische Kultur basierte auf einem Prinzip griechischer Bildung, das sich als „selbstständiger Geist“ manifestierte.203 Den Islam verstand Zunz als Religion der Befreiung, denn die Ausbreitung der arabischen Herrschaft habe auch ein Ende für die rigiden religiösen Herrschaftsformen in Griechenland und auf der Iberischen Halbinsel mit sich gebracht. Die Gewalt der Kirche habe die Juden verfolgt und zudem jede Art von freier literarischer Produktion unmöglich gemacht. Erst durch die Herrschaft der Araber sei dann auch die Wissenschaft über die damals bekannte Welt verbreitet worden. Der Geist des Christentums habe der Freiheit von Wissenschaft jedoch entgegengestanden. „Denn eben als die mönchisch geleiteten Beherrscher von Griechenland und Spanien, angeblich um die christliche Lehre zu schützen, den Juden Verfolgungen bereiteten, brach nicht weit vom Sinai die große Revolution aus, in deren Folge die Araber mit dem Islam ihre Herr-

201 Steinschneider: Jüdische Literatur, S. 467–468. 202 Steinschneider: Zukunft der jüdischen Wissenschaft, S. 78. 203 „Als die Griechen, seit Alexander, ihre Sprache und Kultur zu fernen Völkern hingetragen, deren selbstständiger Geist vor dem gewaltigern nicht selten sich niederbeugen musste, verbreitete sich auch unter den Juden mit der griechischen Sprache die griechische Bildung und in denjenigen Städten von Asien, Syrien, Ägypten, Cyrene, wo Griechen den hauptsächlichsten Teil der Bevölkerung ausmachten, wurde deren Sprache die Muttersprache der Juden, und es gab nun für die geistige Tätigkeit beider Völker ein gemeinschaftliches Organ.“ (Zunz: Geschichte und Literatur, S. 4). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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schaft, ihre Sprache, und allmählich auch ihre von den syrischen Griechen erlernte Wissenschaft bis Tanger und Habesch, bis Indien und Chorasan trugen.“204

Gleichzeitig wurden die Vertreter des Christentums von denen des Islam klar abgegrenzt. Sie seien „mönchisch geleitet” und wollten nur „angeblich die christliche Lehre schützen.” In Wahrheit ginge es ihnen um die Verfolgung der Andersgläubigen. Das Leben der Juden unter arabischer Herrschaft nahm bei Zunz eine zentrale Funktion ein. Die Aufnahme der arabischen Sprache nannte er als zweites historisches Exempel dafür, dass die Juden „in eine große nationale Strömung“205 hineingezogen wurden, sich an diese Entwicklung anglichen und ein eigenes Konzept der Vermittlung beisteuerten. Auch im Falle der islamischen Herrschaft in Territorien, in denen Juden lebten, habe die Sprache wie zuvor unter den Griechen die Rolle einer „Vermittlerin zwischen der jüdischen und einer Weltliteratur“ eingenommen, die in einer Symbiose „die höheren Geister der beiden Nationen“ aufeinander einwirken ließen. „Die Juden schrieben für ihre Brüder arabisch, wie einst griechisch, und wie damals entwickelte auch die Kultur der Herrschenden sowohl in ihren Nachahmungen als in ihren Gegensätzen eine gleiche unter den Juden.“206 Es ging Zunz hier also nicht um eine als pragmatisch verstandene Notwendigkeit, sich einer gemeinsamen Volkssprache zu bedienen, sondern darum, die Verbindung zwischen einer jüdischen Literatur und einer als allgemein verstandenen Weltliteratur, die auf gemeinsamen Themen und Bezügen aufbauen konnte, festzuschreiben. Für die Juden musste also ein Anreiz bestanden haben, sich mit der Kultur und Sprache der Griechen und Araber auseinanderzusetzen – ein Anreiz, der im christlichen Mittelalter nicht anzutreffen war, nahm doch die lateinische Sprache niemals den gleichen Stellenwert für die Juden ein. In Spanien unter den Arabern seien die Juden in der Lage gewesen, formvollendet Arabisch zu sprechen und zu schreiben. Anders habe es sich unter der Herrschaft des Christentums verhalten. Hier existierten die Sprachen von Juden und Christen als Kultursprachen getrennt voneinander. Auch wenn die Juden sich unter den Christen auch in den romanischen Volkssprachen verständigen konnten, kam es nicht zu einer allgemeinen interkulturellen Kommunikation auf hohem Niveau. Als Ausnahme galt die Herrschaft Alfons X., in der auch Juden am Hofe des Königs wirkten. Dieses Beispiel wird jedoch von Zunz nicht erwähnt, allerdings schildert er an anderer Stelle des Buches die Geschichte der Juden unter normannischer Herrschaft.207 204 205 206 207

Zunz: Geschichte und Literatur, S. 5. Zunz: Geschichte und Literaur, S. 5. Zunz: Geschichte und Literatur, S. 6. Zunz: Geschichte und Literatur, S.486. 184

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Für Zunz zeigte sich in der Analyse der christlichen Gesellschaften das Fehlen eines gesellschaftlichen Ganzen und damit verbunden einer kulturellen Identifikation, denn „es gab für die verschiedenen christlichen Völker in der Sprache und in der Nationalität keine Gemeinschaft.“208 Eine gemeinsame Sprache habe nur als Umgangssprache existiert und gegebenenfalls in der Volkspoesie benutzt. Es gab jedoch keine gemeinsame Sprache, die bei der Wissensvermittlung zwischen Christen und Juden Verwendung fand. Dies erklärte Zunz damit, dass die christliche Bevölkerung jenseits einer kleinen intellektuellen, zumeist klerikalen Elite über keinerlei allgemeine Bildung verfügt habe. Folglich lag für Zunz das christliche Europa in einer Dunkelheit, in der besonders die Juden unter Verfolgungen zu leiden hatten, was er am Beispiel der Judenverfolgung in Deutschland während des Mittelalters beobachtete: „In dem von Zünften regierten Deutschland freilich, wo Judenvertreibungen im 15. Jahrhundert zu den Erholungen der Reichsstädter gehörten, konnte unter den Geplagten wenig Geistiges neu gedeihen, und ihre Dränger, Handwerker und Mönche hatten von dem Vorhandenen keine Ahnung.“209 Als eine Konsequenz aus der christlichen Herrschaft erwuchs – bezogen auf die jüdische Geschichte – jedoch nicht allein der Umstand der Verfolgung und Ermordung von Juden. Vielmehr seien die Juden selbst nicht kreativ und deshalb intellektuell auf eine passive Rolle beschränkt geblieben. Im Gegensatz dazu habe die Vermittlung zwischen Juden und Arabern auf der Grundlage eines gemeinsamen Wissenschaft- und Kulturideals funktioniert. Zwischen Juden und Christen sei es während des Mittelalters hingegen nicht zur Ausbildung eines gemeinsamen Ziels gekommen, da die gelehrten Christen, wenn sie Hebräisch lernten, dies nur taten, weil sie der Sprache „zum Verständnis der Bibel bedurften“, denn „der Blick der Theologen und ihre Liebe galt dem Worte Gottes, nicht dem jüdischen Autor“.210 Es sei den christlichen Klerikern nicht um das Verstehen dieser jüdischen Texte gegangen. Jenseits der klerikalen Elite habe die Fähigkeit nicht bestanden, die hebräische Sprache zu beherrschen. Erst als die Macht der Kirche durchlässiger wurde, als „die ersten Ahnungen von Gewissensfreiheit erstanden“,211 konnte sich das Dunkel aufhellen. Die jüdische Kultur habe dieses Licht weitergegeben und eine allgemeine Tradition von Wissenschaft geschaffen, die als eine wechselseitige Form der Vermittlung von Wissen aufgefasst werden

208 209 210 211

Zunz: Geschichte und Literatur, S. 6. Zunz: Geschichte und Literatur, S. 8. Zunz: Geschichte und Literatur, S. 9. Zunz: Geschichte und Literatur, S. 7, Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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müsse.212 Dies zeige sich am eindringlichsten in der Literatur, die Zunz nicht als Beschränkung auf den engen Bereich der rabbinischen Literatur verstand, sondern als „eine organische geistige Tätigkeit”, die dem „Gesamt-Interesse“ diente.213 Unter dem Adjektiv „organisch“ versteht das Grimmsche Wörterbuch einen Zustand, der „zunächst naturwissenschaftlich, mit Organen versehen und durch sie belebt“ existiert. Das Substantiv „Organismus“ wird aus dem neulateinischen Wort Organismus abgeleitet, das „die Vereinigung von verschiedenen Organen zu einem lebensfähigen Ganzen und die Einrichtung desselben bezeichnet: Das Leben ist eine wiederholte Bewegung und wechselseitige Einwirkung aller Elemente in einem individuellen Körper, solch ein Körper aber heißt Organismus.”214 Für Zunz wurde der jüdische Anteil an der Gesamtkultur zwei Jahrtausende hindurch gewährleistet. Die jüdische Kultur fungierte als vermittelnde Instanz zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Sie „ist einer von den Strömen, welche jenem das Meer zuführen, eben die jüdische Literatur; auch in ihr wird das Edelste sichtbar werden, das die Seelen erfüllt hat und wonach sie gerungen: Auch sie zeigt die mannigfachen Taten des erkennenden Geistes.“215 Die jüdische Literatur beschrieb Zunz als eine Literatur der Vermittlung, die bereits in der Vergangenheit, aber auch in Gegenwart und Zukunft einen zentralen Einfluss auf die Ausbildung unterschiedlicher religiöser und kultu212 „Die Wissenschaft, einigermaßen von Byzanz aus gepflegt, aber von Arabern angebaut, durch Juden vermittelt, hatte von dem Weltverkehr unterstützt, die Universitäten und den Doktoren-Stand geschaffen.“ (Zunz: Geschichte und Literatur, S. 8). 213 „Man erkenne und ehre in der jüdischen Literatur eine organische geistige Tätigkeit, die den Weltrichtungen folgend auch dem Gesamtinteresse dient, die vorzugsweise sittlich und ernst auch durch ihr Ringen Teilnahme einflößt.“ (Zunz: Geschichte und Literatur, S. 21). 214 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig: S. Hirzel 1854–1960. Quellenverzeichnis 1971. Hier: Bd. 13, Spalten 1339–1342. 215 „Eine solche von der Weltgeschichte anerkannte historische Besonderheit sind die Juden, nach Volkstum und Bekenntnis ein Ganzes, dessen Richtungen von einheitlichen, mit ihren Wurzeln in das tiefste Altertum hineinragenden Gesetzen gelenkt wird, und dessen geistige Erzeugnisse, bereits über zwei Jahrtausende, eine Lebensfaser unzerreißbar durchzieht. Dies ist die Berechtigung zur Existenz, die Begründung der Eigentümlichkeit einer jüdischen Literatur. Aber sie ist auch aufs Innigste mit der Kultur der Alten, dem Ursprung und Fortgang des Christentums, der wissenschaftlichen Tätigkeit des Mittelalters verflochten, und indem sie in die geistigen Richtungen von Vor- und Mitwelt eingreift, Kämpfe und Leiden teilend, wird sie zugleich eine Ergänzung der allgemeinen Literatur, aber mit einem Organismus, der nach allgemeinen Gesetzten erkannt das Allgemeine wiederum erkennen hilft. Ist die Totalität der geistigen Betriebsamkeit ein Meer, so ist einer von den Strömen, welche jenem das Meer zuführen, eben die jüdische Literatur; auch in ihr wird das Edelste sichtbar werden, das die Seelen erfüllt hat und wonach sie gerungen: auch sie zeigt die mannigfachen Taten des erkennenden Geistes.“ (Zunz: Geschichte und Literatur, S. 2). 186

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reller Strömungen nehmen konnte. Die jüdische Literatur sah er als Organismus, also als einen selbstständigen Körper, der im Austausch mit anderen Organismen zu leben imstande war und dadurch dabei half, etwas Neues und Allgemeines auszubilden. In Zunz’ Argumentation nahm die Vorstellung der Ganzheit von Kultur einen Einfluss an, der den Juden im christlichen Herrschaftsbereich keine andere Wahl ließ, als sich ausschließlich religiös zu definieren, da das Christentum keinen Wert auf eine interkulturelle Kommunikation gelegt habe. In diesem Zusammenhang bezeichnete Zunz die sephardischen Juden ibn-Gabirol, Jehuda ha-Levi, Iben Esra, Maimonides, Kimchi, Nachmanides und Albo als Spanier und nicht als Juden in Spanien. Sie waren ihm zufolge keine Vertreter einer religiösen Minderheit, sondern gehörten durch die Bezeichnung Spanier bereits zum großen Ganzen der – so hier nicht bezeichneten – spanischen Nation. Die Vertreter des sephardischen Judentums in al-Andalus hätten am Aufbau der „nationalen Elemente der Literatur“ regen Anteil genommen. Zunz nahm seine Darstellung bedeutender Dichter der iberisch-sephardischen Kultur zum Anlass, die Bedeutung der nicht jüdischen Gesellschaft für die Ausbildung von deren schriftstellerischem Credo zu illustrieren, wobei sich auch die innerjüdische Perspektive verändert habe.216 Das genaue Gegenteil habe sich im Herrschaftsbereich des Christentums ereignet, in dem Juden von jeder aktiven Teilhabe an der allgemeinen Kultur ausgeschlossen gewesen seien. Hier hätten sich die Juden selbst stärker in das Innere ihrer Religion zurückgezogen und sich von der allgemeinen Kultur abgewandt. Genau wie „das Christentum die Juden annullierte, so annullierte das Judentum alle übrige Welt.“217 Damit wies Zunz 216 „Diese Aufmerksamkeit auf Männer der Literatur bemerkt man seit etwa einem halben Jahrtausend, nachdem Griechen und Araber, später Spanier, Provenzalen, Italiener ein wissenschaftliches Bewusstsein geweckt haben. In jüdischen Schriften gedenkt man nunmehr der Autoren und ihrer Werke, auch wenn diese nicht auf Talmud und Exegese beschränkt sind.“ (Leopold Zunz: Literaturgeschichte der synagogalen Poesie. Berlin 1864. ND Hildesheim 1966. S. 2. Hier wird Gabirol auf S. 187f. besprochen). 217 So heißt es hier in ganzer Ausführlichkeit: „Wenn nun selbst bei jüdischen Geschichtsschreibern jener Schauplatz übersehen oder stiefmütterlich behandelt worden, so hat nicht der Glanz der Spanier – Gabirol, Jehuda ha-Levi, Aben Esra, Maimonides, Kimchi, Nachmanides, Albo u. a. m. – nicht die Seltenheit gewisser Erzeugnisse der französisch-jüdischen allein sie am Sehen gehindert, sondern es war jene Reaktion gegen das spezifisch Jüdische, die als Gefolge der Aufklärung sich geltend gemacht, die mir ein kränkelndes Unrecht erschien, als ich mit Raschis Leben (Zeitschrift für Cultur und Wissenschaft der Juden, 1822, S. 277f ) auftrat, und welches einzugestehen auch neuere Gelehrte sich anschicken. Denn es haben die französischen und die deutschen Juden, die ihren geistigen Impuls nicht zunächst von den Arabern empfingen, vorzugsweise die nationalen Elemente der Literatur angebaut; alles war Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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auf den Umstand hin, dass sich die Legitimation des Judentums auf rabbinische Literatur ausrichtete, die nicht in einem aktiven Austausch mit der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft gestanden habe. Zunz interpretierte die Juden als Volk in Abgrenzung von der Verwendung des Terminus Hebräer, den er auf die religiöse Sphäre beschränkte. Für ihn waren die Juden ein neues Volk. Die Urideen dieses Volkes seien nicht nur während der Eigenständigkeit des jüdischen Staatswesens anzutreffen gewesen, sondern hätten sich auch daran anknüpfend in der Diaspora gehalten. Die „fortgehende Entwicklung des jüdischen Volkes“ habe sich aufgrund der Tatsache gezeigt, dass es auch während der Jahrhunderte im Exil durch „Taten“ in Erscheinung getreten sei, getreu dem Motto, „Wo das Leben ist, geschehen Taten“. Für Zunz konstituierte sich das Volk der Juden durch seine Taten und selbst dort, wo Juden nur reagieren konnten, weil sie von aktiver Teilhabe an Staat und Gesellschaft ausgeschlossen waren, würde „die Reflexion über gezwungene Tatenlosigkeit, sich in den Schriften, als Idee, als Tat offenbaren.“ Wie sich jedoch diese Tatkräftigkeit der Juden in ihren Schriften ausgedrückt habe, zeigte sich Zunz zufolge in der Zusammensetzung von Wissen aus einem jüdischen und einem allgemeinen Anteil. Zunz verstand die jüdische Geschichte als Leidensgeschichte, allerdings konstituierte er auch die Signifikanz eines doppelten Paradigmenwechsels durch die „Zeit und durch den Raum“, die vom Forscher forderte, sich sowohl mit der jüdischen Geschichte als auch mit der allgemeinen Geschichte vertraut zu machen, um den Prozess der „Einkörperung“ des Judentums in die allgemeine Kultur nachvollziehen zu können.218 der Religion anheim gefallen, was als unabhängig Menschliches von dem Leben in Anspruch genommen ward, und des letzteren gab es nur wenig. Da die alles verschlingende christliche Hierarchie das Leben der Europäer in sich aufnahm, versteht sich mit Ausnahme der Juden: so identifiziert die Kraft des Gegendrucks das Leben der jüdischen Kirche mit dem ihrer Genossen, und den Juden verwandelt sich alles, was gedacht und empfunden wurde, in ein religiöses, d.i. in ein ausschließendes. Nur in dem europäischen Süden hat die arabisch griechische Kultur dieser einseitigen Richtung entgegenwirken, im Norden des Lebens stets sich verjüngende Gewalt einigen Raum erobern können. Annulierte das Christentum die Juden, so annulierte das Judentum alle übrige Welt.“ (Zunz: Zur Geschichte und Literatur, S. 158–159). 218 Diese zitierte Passage wurde ohne Unterbrechungen im Text so übernommen. Der Anfang wurde nicht wörtlich übernommen und lautet: „In den Finsternissen, die den Zeitraum vom fünften bis zum zweiten vorchristlichen Jahrhunderte bedecken, beginnt die Geschichte der Juden. Bis dahin hat es Hebräer gegeben, - aber aus jener historischen Nacht tritt allmählich unter Hohenpriestern, Hasmonäern, Herodäern und Patriachern, ein neues Volk hervor, zwar jener Nachkommenschaft, und Fortpflanzer gemeinsamen Stammes und gleicher Urideen; aber ihnen unähnlich an Sprache und Sitten, an Tendenzen und Meinungen, einen geschlossenen Codex, in der Hand, mit vorher unbekannter Theosophie, der Heimat ent188

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fremdet und entrissen, bald ein Staat ohne Einwohner. Und obgleich seine Selbstständigkeit von kurzer Dauer gewesen, so hat doch auch an diesem Volke die Weltgeschichte ihr großes Gesetz geltend gemacht, und, wiewohl von Unverständigen geleugnet, dennoch, wenn auch durch ungewöhnliche und minder erkennbare Mittel, eine fortgehende Entwicklung des jüdischen Menschen gewollt und erzielt. „Eine solche Ideenwelt nun, welche des jüdischen Volkes Taten umfasst, teils original, insoweit sie aus dem Judaismus hervorgegangen, teils nur eigentümlich, insofern sie das aus der Fremde herübergebrachte einkörpert; bald sichtbar, im Leben und in Werken der Juden dargestellt, bald unsichtbar geworden durch die Verwirrung Irregeleiteter und störende Faust äußerer Eingriffe, - diese ist es, welche die Geschichte des zerstreuten jüdischen Volkes ausmacht. Was ohne sie von äußerer Geschichte übrig bleibt, - ist nicht mehr das Eigne, die freiwillige Kraftäußerung und die Tat, sondern das Fremde, die aufgedrungene Defensive und das Leiden; - nichts als jene zufälligen Ereignisse, die in den Geschichtsbüchern so sehr hervorstechen, weil sie allein das Veränderliche sind, so auf den scheinbar unbeweglichen ewigen Juden hingeworfen ward, damit nur etwas erzählt und geschildert werden könne.“ [Zunz versteht jüdische Geschichte als Leidensgeschichte, allerdings konstituiert er auch die Signifikanz eines doppelten Paradigmenwechsels durch „die Zeit und durch den Raum“] „Verschwindet danach die bisher so genannte jüdische Geschichte, so wird, als selbstständig und notwendig, nur eine Geschichte des Judentums übrig bleiben, die zwar die Stöße, welche dasselbe von außen in Bewegung setzten, als verändernde und motivierende Tatsachen nicht verschweigen dar; als eigentlichen Vorwurf jedoch, die Entwicklung der Juden und des Judentums darstellt; wie sie in notwendigem Zusammenhang erfolgt, und die jedesmalige Tätigkeit und Lage erklärt. Diese Entwicklung aber, weil sie sogleich einen doppelten Gang genommen, durch die Zeit und durch den Raum, scheint sie der verlegenen Darsteller zu spotten, welche es lieben, auf einen Platz ihre starre Materie hinzubannen, und, wo diese lebt und widerstrebt, alles durcheinander gewaltsam über einen Haufen zu werfen. Das missverstandene Mannigfaltige aber, ist nicht bloß Mehrzahl oder Succession des Einerlei, ist keine Polterkammer, auf deren unzusammengehörige Mobilien man je zuweilen den beschauenden reformatorischen Blick wirft: vielmehr ist auch hier alles nur Material eines einzigen unerkannten Kunstgebäudes, und das lange Leben des jüdischen Volkes, seine Zerstreuung und vielerlei Zustände, erzeugen so wenig eine mehrfach verworrene Geschichte, dass diese umgekehrt nur da eintreten würde, wo ein Zweig desselben in etwas anderes, als Jude ist, und doch in etwas Selbstständiges auswaschen könnte. Für Juden als solche, als Kinder des Judentums, gibt es nur eine und eine ganze Geschichte.“ [Und diese Vorstellung von Ganzheit verdeutlicht Zunz in seinem Credo für ein fruchtbares Zusammenspiel von jüdischen und nicht jüdischen Einflüssen] „Wie aber bequem die Geschichte Griechenlands betrachtet wird, und zugleich die seiner, bald Selbstständigkeit erringenden, Pflanzstädte, mit in die Betrachtung eingreife; also hat man bei den zerworfenen Juden, einen unsichtbaren Mutterstaat, das religiös-politische Judentum, aufzuführen, und von dort hinaus durch die bekannten Räume der Völkergeschichte, in die speziellen Kolonien der spanischen, der polnischen und aller übrigen Juden einzufahren. Um aber eine solche innere Geschichte der Juden hervorzubringen, werden von ihrem Schreiber, nicht nur jene großen Eigenschaften verlangt, die vom Judentum und seiner Kunde ganz unabhängig sind, – nicht Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Zunz begründete seine These vom Vorbild der griechischen Sprache als Kultursprache für die Juden damit, diese sei nun zur „Muttersprache der Juden“ geworden, und es gäbe nun für die „geistige Tätigkeit beider Völker ein gemeinschaftliches Organ.“219 Zunz war also der Meinung, dass die Sprache einer nicht jüdischen Umgebung zur „Muttersprache“ werden konnte. Juden und Griechen hatten in seinen Augen in dieser Sprache ein gemeinsames Medium gefunden, um am „Ganzen“ – einer gemeinsamen Kultur – zu wirken. Für ihn war die Aufnahme der arabischen Sprache das zweite historische Exempel, in dessen Verlauf Juden „in eine große nationale Strömung“ hineingezogen worden seien. Die arabische Übersetzung der griechischen Philosophie hätte die Antike erst wieder ins christliche Europa zurückgebracht. Und auch im Falle der islamischen Herrschaft hätte die Sprache wie zuvor im griechischen Kulturbereich die Rolle einer „Vermittlerin zwischen der jüdischen und einer Weltliteratur“ eingenommen, die schließlich sogar in einer Symbiose „die höheren Geister der beiden Nationen“ verband. Warum diese Symbiose in Ländern unter christlicher Herrschaft nicht zum Tragen gekommen war, verdeutlichte Zunz anhand der spezifischen Verortung der Iberischen Halbinsel als Oase der Wohlgelittenheit und als „hesperische[s] Land“. Eine „Oase“ bezeichnet das „Grimmsche Wörterbuch“ als einen „kulturfähigen und bewohnbaren Landstrich in einer Sandwüste“; der „Wahrig“ definiert sie als eine fruchtbare Stelle mit Quelle in der Wüste oder einen vom Lärm der Welt abgeschlossenen Ort. Der von Zunz verwandte Begriff „hesperisches Land“ für Spanien ist als Erstes bei Herder vorzufinden.220 nur Unparteilichkeit und Erhebung über anerzogene und modische Vorurteile, nicht nur ein großartiger, Einzelnes, Zufälliges und Gegenwärtiges vernichtender Blick, nicht nur Wohlwollen für das, was durch alle Gebiete der Weltgeschichte hindurch sich als Wahrheit erprobt; – sondern auch noch diejenigen allseitigen Kenntnisse, die das Auge für den Entwicklungsausgang des Judentums öffnen, - Bekanntschaft mit dem Einzelnen und Festhalten des Ganzen, – und reiche Wissenschaft der jüdischen Literatur. Nun trete er in die verschiedenen Epochen und Länder ein, um aus tiefen Schachten die vielleicht noch unbekannte Wahrheit herauszuholen.“ Es tut sich aber eine solche Entwicklung überhaupt, zuvörderst durch die Taten kund, die von einem Volke ausgehen; denn so lange dasselbe mit seiner politischen Existenz noch zugleich selbst verloren gehet, so lange lebt es, und wo das Leben ist, geschehen Taten. Und könnten sie auch auf Schlachtfeldern und Rednerbühnen, in Kabinetten und Gerichtssälen sich keinen Wirkungskreis öffnen; so würde doch das Unmögliche solches Tuns, noch ein Objekt für ihre Gerichtstätigkeit abgeben, und die Reflexion über gezwungene Tatenlosigkeit, sich in den Schriften, als Idee, als Tat offenbaren.“ (Vgl. Leopold Zunz: Über die in den hebräisch-jüdischen Schriften vorkommenden hispanischen Ortsnamen. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums. 1. Bd. Berlin 1823. 114–176. Hier: S. 114f ). 219 Zunz: Zur Geschichte und Literatur, Bd. 1. Berlin 1845. S. 4. 220 Herder: Werke. Bd. 7, S. 484. 190

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Diese Einordnung erfolgte in seinem Beitrag „Über die in den hebräisch-jüdischen Schriften vorkommenden hispanischen Ortsnamen“ für die kurzlebige „Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums“ im Jahre 1823. Dieser wissenschaftliche Beitrag stellte weit mehr als eine philologische Analyse dar; er verdeutlichte, „welchen Beitrag das Studium jüdischer Texte zur allgemeinen Geschichtswissenschaft leisten konnte.“221 Die Abhandlung bezog die gegenwärtige kulturelle Entwicklung im Judentum mit ein: „Denn wie in eine freundliche Oase, blickt aus der deutschpolnischen Barbarei, der Wanderer in das hesperische Land hinüber, und aus dem Jetzt in eine wichtigere Vergangenheit zurück, und würde, trostlos über das Untergegangene, noch trostloser sein über das heimische Elend.“222 Zunz interpretierte an dieser Stelle das untergegangene sephardische Judentum in Spanien als eine idyllische Oase. Obwohl diese Kultur der Vergangenheit angehöre, sei ihre Wirkung noch immer groß genug, um Glanz in die gegenwärtige Situation der deutschsprachigen Juden zu bringen. Aus der Perspektive des objektiv wirkenden „Wanderers“ wurde das gegenwärtige deutsch-polnische Judentum als rückständig und barbarisch bezeichnet, während die iberisch-sephardische Kultur als hesperisch, d. h. in der literarischen Diktion „im äußersten Westen liegend“, mit allen positiven Implikationen bezeichnet wurde. Der Wanderer wurde als Figur ohne Heimat charakterisiert, der allerdings auch die Erfahrung eingeschrieben war, durch ihr erworbenes Wissen Schwellen zu überschreiten und dabei ambivalente Zuschreibungen von Zugehörigkeit zu erfahren. Die sephardischen Juden wurden so dem Symbolsystem des antiken Griechenland zugeordnet, das gleichzeitig als universal und damit ausdrücklich nicht christlich verstanden wurde. Juden waren in diesem System nicht allein Bestandteil, sondern zentrale Ideengeber für diese Kultur. Dass Formen interkultureller Kommunikation unter einem christlichen Einflussbereich nicht vorstellbar waren und sogar dem Geist des Christentums entgegenstanden, verdeutlichte Zunz in seinem Aufsatz über Rabbi Schlomo ben Jizchak genannt Raschi (1040–1105) aus dem Jahre 1823. Die Interpretation des maßgeblichen Talmud-Kommentators, eingebunden in dessen historischen Kontext, war im Umfeld der jüdischen Aufklärer ein Novum, da bislang entweder sephardische Persönlichkeiten oder jüdische Aufklärer wie Moses Mendelssohn als Vorbilder für die Gegenwart angeführt wurden. Zunz stellte Raschi als Vertreter des aschkenasischen Judentums aus dem 12. Jahrhundert vor, da er im besonderen Maße unter den Verfolgungen durch die Christen litt und zudem ein eigenständiges Profil besaß. Zunz machte deutlich, dass Raschi den ganzen Talmud kommentiert hatte. Er „verbreitet vom Rheine aus durch Champagne und Burgund bis zum Süden, die gelehrte Tä221 Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, S. 204. 222 Zunz: hebräisch-jüdischen Schriften, S. 127. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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tigkeit, und bahnt also jenes zwölfte Jahrhundert vor, wo durch einen gleichzeitigen Schwung in Italien und Spanien, ein fast wunderbares talmudisches Leben die Juden des kultivierten Europas beseelen sollte, zu einer Zeit, wo noch, außer Griechen und Arabern, alles in tiefer Unwissenheit schmachtete.“223 Die Verdienste Raschis, so Zunz, könnten nur herausgestellt werden, wenn gleichzeitig dessen Herkunft und Bildungshintergrund keinerlei Verklärung erfahre, sondern stattdessen seine intellektuellen Fähigkeiten kritisch benannt würden.224 Seine eingeschränkte Bildung sei durch den Umstand entstanden, die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges miterlebt zu haben, was ihn zu einem Produkt der rabbinischen Kultur seiner Zeit gemacht habe.225 Zunz bediente sich dabei einer Zuschreibung von Judentum und Umwelt, die eng mit seiner Vorstellung eines Körper-Topos verbunden war.226 Das Judentum habe in die nicht jüdische Kultur gewirkt, dabei seien „einzelne Ideen aus dem Judentum hervorgegangen“, aber auch das „Fremde“ sei vom Judentum „eingekörpert“ worden; beide Komponenten gemeinsam bildeten „die Geschichte des zerstreuten jüdischen Volkes“, die Zunz als eine Mischung von eigenen und fremden Bezugspunkten wahrnahm und die unter einer christlichen Hegemonie nicht vorstellbar gewesen sei. Im christlichen Herrschaftsbereich blieb „nicht mehr das Eigne, die freiwillige Kraftäußerung und die Tat, sondern das Fremde, die aufgedrungene Defensive und das Leiden“227 übrig. Ismar Schorsch hingegen versah Raschi mit einem eigenständigen Profil und hielt fest: “Rashi was not a north-

223 Leopold Zunz: Salomon ben Isaak, genannt Raschi. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums. 1. Band. Berlin 1823. S. 277–384. Hier: S. 278. 224 „Ich aber sage von meinem Helden, dass er vom Talmud beherrscht, keineswegs tolerant gewesen, – dass er vom Persischen, Arabischen, Latein und Griechischen nichts verstanden, – dass seine deutschen, astronomischen, geografischen und medizinischen Kenntnisse einen unbedeutenden Inhalt gehabt, - dass er in der Kabbala ein Fremdling, nicht frei von Aberglauben, und selbst in der hebräischen Sprache, mehr durch Takt und Übung als durch zum Bewusstsein gekommene Grammatik, zu Einsichten gelangt war.“ (Zunz: Raschi, S. 285). 225 “In protesting the Sephardic bias, Zunz mustered the courage to face the centrality of religion in the Jewish historical experience and the empathy to treat it fairly.” (Schorsch, Thinking Historically, S. 226). Und an anderer Stelle schreibt Schorsch: “He [Zunz] showed that Rashi was wholly a product of the rabbinic culture of his time, that he was part of a living exegetical tradition, that in both sets of commentaries (biblical and talmudic) he aspired to elucidate the plain meaning of the text ‘to serve as Aaron for a mute Moses’, and that often revised his work.” (Schorsch: Thinking Historically, S. 226). 226 Zur Verwendung dieser Figur vgl. grundsätzlich Susanne Omran, Mumien-Körper. Zu einer Figur der Dauer und der Erneuerung des Judentums im 19. Jahrhundert. In: Dietmar Schmidt (Hg.): KörperTopoi. Sagbarkeit - Sichtbarkeit – Wissen. Weimar 2002, S. 249–279. 227 Alle hier gemachten Zitate, Zunz: hebräisch-jüdischen Schriften, S. 114f. 192

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ern mirror of a Spanish Jew.”228 Dies ist sicherlich richtig, auch wenn für Zunz der Aspekt eines intoleranten Christentums gleichzeitig die Unmöglichkeit beschrieb, alle geistigen Potenziale bei den Juden entfalten zu können. Diese so verstandene Leidensgeschichte des jüdischen Volkes versuchte Zunz mit einer Perspektive auf das Allgemeine zu versöhnen. Das Christentum habe die Ausrichtung auf das Religiöse als die allein dominierende Kategorie gefordert, der sich auch die Juden in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft unterordnen mussten, allerdings mit einer entscheidenden geografischen Ausnahme: „Nur in dem europäischen Süden hat die arabisch-griechische Kultur dieser einseitigen Richtung entgegenwirken, im Norden des Landes stets sich verjüngende Gewalt einigen Raum erobern können.“229 In der Überschneidung beider Kulturbereiche, dem griechischen und dem arabischen, wurde ein Feld an Begrifflichkeiten thematisiert, das sich der Deutungshoheit des Christentums entgegenstellte. So ist Michael A. Meyer auch nur zuzustimmen, dass sich Zunz’ Verständnis jüdischer Biografik maßgeblich von dem seiner Vorläufer in den maskilischen Zeitschriften unterschieden habe.230 Zunz ging es nicht um eine Idealisierung Raschis, er stellte diesen vielmehr in seinem Wirkungskreis als Talmud-Gelehrten dar, der jenseits seines jüdischen religiösen Selbstverständnisses keine weiteren Quellen aus der nicht religiösen oder gar nicht jüdischen Sphäre benutzte. Dies habe sich, so Meyer, erst mit Zunz’ Buch „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden“ geändert, indem er sich bemüht habe „Schlüsse aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu ziehen.“231 Dabei kam dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden auch hinsichtlich des existierenden abschätzigen Blickes der Nichtjuden auf die Christen eine besondere Funktion zu, wenn Zunz hier schrieb: „Nicht von dem Juden hängt es ab, ob er dem Ganzen schädlich oder nützlich sein müsse, sondern nur von der allgemeinen Zivilisation und der diese bestimmenden Gesetzgebung.“232 Für Zunz stand fest, dass die Anerkennung der Juden durch eine bessere Kenntnis der jüdischen Kultur seitens der Nichtjuden erfolgen würde. Die Realität sähe allerdings auch gegenwärtig noch anders aus: „Kein Professor las über Judentum und jüdische Literatur, keine deutsche Akademie setzte Preise darauf aus, kein Menschenfreund machte Reisen zu die228 Schorsch: From Wolfenbüttel to Wissenschaft, in: From Text to Context, S. 245. 229 Zunz: hebräisch-jüdischen Schriften, S. 158–159. 230 „Die Aufgabe jüdischer Biografik besteht für Zunz nicht im Lob der Tugendhaftigkeit und Aufgeklärtheit eines Mannes oder in seiner Verdammung durch Verschweigen; die Wissenschaft verlangt eine umfassende und objektive Beschäftigung mit der historischen Persönlichkeit.“ (Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, S. 205). 231 Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz, S. 206. 232 Zunz: Gottesdienstliche Vorträge, Vorrede, S. 33. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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sem Behufe.“233 Die Allgemeinheit folgte vielmehr den bestehenden judenfeindlichen Schriften, ohne diese auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Es ist auffällig, das Zunz nicht den von Dohm eingeführten Begriff der „Verbesserung“ verwendete. Für ihn ging es eher darum, das Wechselspiel innerer und äußerer Kräfte, aber auch „wohlwollende Anerkennung von außen“234 zu bemühen, denn nur so könnten Vorurteile – auf beiden Seiten – abgebaut werden. Zunz verstand die Errungenschaften der Wissenschaft des Judentums und deren erhoffte Integration in das Curriculum der an den Hochschulen allgemein unterrichteten Fächer als Vorläufer für die ersehnte Emanzipation der Juden: „Die Gleichstellung der Juden in Sitte und Leben wird aus der Gleichstellung der Wissenschaft des Judentums hervorgehen.“235 Isaak Markus Jost und seine politische Geschichte der   iberischen Juden Vonseiten der sich ausbildenden Wissenschaft des Judentums wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Gegensätze zwischen den jüdischen Lebenswelten in Aschkenas und Sepharad deutlich hervorgehoben. Besonders sichtbar wurde dies in dem Bestreben der Vertreter der Wissenschaft des Judentums, die mystische Seite des sephardischen Judentums nicht positiver oder verständnisvoller darzustellen.236 Insbesondere ab den 1830er-Jahren verbanden Vertreter der Wissenschaft des Judentums zudem Vorstellungen von Kulturvermittlung bei den sephardischen Juden mit politischen Konzepten und daraus abgeleitet mit Forderungen nach politischer Gleichstellung der Juden in Deutschland. Dies lässt sich sehr deutlich am Beispiel von Isaak Markus Jost aufzeigen. Isaak Markus Jost wurde 1793 im anhaltischen Bernburg geboren und starb 1860 in Frankfurt am Main.237 In Berlin und Göttingen widmete sich Jost dem Studium der Philosophie und zeigte sich schon früh als ein Anhänger der Reformbewegung. Er war als Sekretär auf der Rabbinerversammlung von 1845 anwesend. Jost leitete eine private Mittelschule in Frankfurt und war bis zu seinem Tod Lehrer am dorti233 234 235 236

Zunz: Gottesdienstliche Vorträge, Vorrede, S. 35. Zunz: Gottesdienstliche Vorträge, Vorrede, S. 37. Zunz: Gottesdienstliche Vorträge, Vorrede, S. 59. Diese Missbehandlung beruhe auf der eigenen rationalistischen Neigung, “compounded by outrage at the unfounded historical claims of the mystics themselves.” (Schorsch: Thinking Historically, in: ders. From Text to Context, S. 351). 237 Vgl. Heinrich Zirndorf: Isaak Markus Jost und seine Freunde. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Gegenwart. Leipzig/New York 1886. In diesem Band findet sich auch ein Vergleich zwischen der Geschichtsschreibung Josts mit der von Herinrich Graetz. 194

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gen Philantropin. Gemeinsam mit Ludwig Philippson (1811–1889) und Adolph Jellinek (1820/21–1893) gründete Jost das „Institut zur Förderung der israelitischen Literatur“, dem er bis zu seinem Tode angehörte und das bis zum Jahre 1873 mit Sitz in Leipzig bestand. Das Institut war als Buchgemeinschaft eingetragen und erreichte auf diesem Wege durchschnittlich 3.000 private Abonnenten und wissenschaftliche Bibliotheken. Während der Zeit seines Bestehens wurden 87 Werke herausgegeben, die sich auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte, Literaturgeschichte, Apologetik und Belletristik bewegten. Dort verlegt wurden beispielsweise sieben Bände von Graetz’ „Geschichte der Juden“. In der hauseigenen Schriftenreihe wurden Publikationen zur Geschichte und Kultur der sephardischen Juden in Spanien und Portugal, besonders historische Romane und Erzählungen, herausgegeben. In den Publikationen des „Jahrbuchs für die Geschichte der Juden und des Judentums“ wurde die Geschichte der sephardischen Juden in einer Vielzahl von Facetten beleuchtet und einzelne Figuren wurden in ihrer Funktion als Politiker, Krieger und Reisende porträtiert.238 Neben seinen historiografischen Werken – es seien hier die „Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer bis auf unsere Tage“ (1820– 1829), die „Neueste Geschichte der Israeliten von 1815–1845“ (1846–1847), die „Geschichte des Judentums und seiner Secten“ (1857–1859), die populäre „Allgemeine Geschichte des israelitischen Volkes“ (1831–1833) sowie eine punktierte Mischnah-Ausgabe mit deutscher Übersetzung (1832–1834) genannt – zeichnete Jost als Herausgeber für die „Israelitischen Annalen“ und gemeinsam mit Creizenach für die Zeitschrift „Zion“ (1841–1842) verantwortlich. Jost veröffentlichte nicht allein in jüdischen Periodika, sondern auch in deutschen Zeitschriften. Die Widmung im ersten Band der „Geschichte der Israeliten“ an S. M. Ehrenberg239, dem „hoch verehrten und geliebten Pflegevater, Erzieher, Lehrer und Freunde“, impliziert die beabsichtigte Vorbildfunktion, die diese Darstellung bei den Lesern einnehmen sollte. Jost weist auf seine Vorarbeiten hin, die es ihm ermöglichten, im halbjährlichen Rhythmus jeweils einen Band vorzulegen. Die Darstel238 Vgl. exemplarisch hierzu Moritz Meyer Kayserling: Teilnahme von Juden an portugiesischen Entdeckungen. In: Jahrbuch für die Geschichte der Juden und des Judenthums. (= Schriften herausgegeben vom Institute zur Förderung der israelitischen Literatur unter der Leitung von Ludwig Philippson, Isaak Markus Jost und Arthur Goldschmidt. Fünftes Jahr 1859– 1860) Hier: 3. Bd. S. 305–317. 239 Samuel Meier Ehrenberg, geboren 1773 in Braunschweig und gestorben 1853 in Wolfenbüttel, wirkte als Erzieher im Sinne der Reformer, besonders in Nordwestdeutschland. Ehrenberg selbst war Zögling der Wolfenbütteler Samsonschule, aus der er später in leitender Funktion eine moderne jüdische Realschule machte. Jost und Zunz gingen beide aus dieser Reformschule hervor und standen in fortdauerndem brieflichem Kontakt mit ihrem ehemaligen Lehrer (Vgl. Leopold Zunz: Samuel Meier Ehrenberg. Braunschweig 1854). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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lungsweise der „Geschichte“ sollte volkstümlich gehalten und allgemein verständlich sein. Dabei hatte Jost sich einem intensiven Quellenstudium unterzogen. Somit konnte der Rahmen der erzählten Darstellung jenseits der fest getretenen Pfade der christlichen Theologie beginnen.240 Dennoch zitierte Jost auch christliche Autoren wie beispielsweise Basnage und Johann Christian Wolff. Die Auseinandersetzung mit Basnage brachte ihm später einen Vorwurf von Heinrich Graetz ein, sich zu sehr von dessen Interpretation abhängig gemacht zu haben.241 Außerdem hatte Jost Edward Gibbons “The Decline and Fall of the Roman Empire” gelesen, dessen Darstellung mit dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 und der Invasion der Türken endete. Edward Gibbon beschreibt im 50. Kapitel seiner „Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches“ Mohammed und den Aufstieg des Islam. Im 18. Jahrhundert war insofern ein Wandel eingetreten, dass die reale politische Gefahr des Islam zurückgetreten war und Einigkeit darüber bestand, dem Islam eine bedeutende Rolle in der Weltgeschichte einzuräumen. Juden wurden bei Gibbon als eine Nation wahrgenommen, die Christen stellte er als religiöse Sekte dar. Während die Juden mit den Römern kämpften, hätten sich die Christen von der römischen Mehrheitsgesellschaft ferngehalten. Damit sei diese Darstellung im Kern, so Alex Bein, „im antichristlichen Geist der deistischen Aufklärung geschrieben.“242 Die rechtliche Stellung der Juden und das Eintreten für deren Emanzipation war das zentrale Anliegen Isaak Markus Josts, das er am Beispiel Preußens diskutierte.243 Jost ging es in seiner Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur weniger darum, Formen der Vermittlung eines jüdischen Anteils in die allgemeine Kultur herauszustellen. Er plädierte vielmehr dafür, Juden ohne Vorbedingungen die Staatsbürgerrechte zu verleihen, wodurch die Juden im Staat aufgingen. Die Bezugnahme auf die rechtliche Situation der Juden im Spanien diente dazu, die Juden als nützliche Subjekte des Staates zu zeigen, deren Verdienste dem gesamten Staats- und Kulturleben dienlich gewesen und auch für die gegenwärtige Situation in Deutschland notwendig seien. Josts Interpretation der Ereignisse von 1492 verdeutlichte überdies, dass er eine vollständige Assimilation der Juden für wünschenswert hielt. Der spanische Staat, so Jost, hätte nur warten müssen und alle Juden wären mit Freuden um den

240 „Wir treten unsere Reise ins unbekannte Gebiet da an, wo die alten Wegweiser, die Biblischen Urkunden uns verlassen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 1, S. XI). 241 Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 88. 242 Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems. Stuttgart 1980. S. 122. 243 Isaak Markus Jost: Legislative Fragen betreffend die Juden im preußischen Staate. Berlin: Schroeder 1842. Isaak Markus Jost: Excercises polyglottes [u.a. Thèmes espagnoles, thèmes allemands]. Paris, Frankfurt [Selbstverlag] 1842. 196

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Preis der Verleihung von Bürgerrechten zum Christentum übergetreten. Von diesem Übertritt hätten dann beide Seiten in Spanien profitiert, Juden und Christen. In seiner „Geschichte der Israeliten“ charakterisierte Jost deutsche und spanische Juden als Repräsentanten „verschiedener Volksstämme“.244 Diese Unterscheidung war von einem Verständnis getragen, das auf einer unterschiedlichen juristischen, historischen und sozialen Verortung zwischen den aschkenasischen und den sephardischen Juden basierte. Jost schrieb den sephardischen Juden einen höheren sittlichen Status als den aschkenasischen Juden zu. Diesen Unterschied erklärte er insbesondere mit der vollständigen Integration der sephardischen Juden als Bürger des Römischen Reiches. Den sephardischen Juden sei über die Jahrhunderte und die Vertreibung von 1492 hinausgehend das Streben nach eben dieser „alten Freiheit“245 zu eigen gewesen. Ihr Überlegenheitsgefühl gegenüber den aschkenasischen Juden begründeten die sephardischen Juden im Zusammenhang mit einer Verklärung ihrer Geschichte, da sie das „Licht“ der allgemeinen Gesellschaft bereits erblickt hätten.246 Das Beispiel der iberisch-sephardischen Geschichte und der so verstandenen Integration der Juden in diese Gesellschaften diente Jost als Vorbild für die gewünschte Emanzipation bei den deutschsprachigen Juden, die er von den „polnischen noch in der Barbarei des dunkelsten Mittelalters“247 lebenden Juden abgrenzte. Josts neunbändige „Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Makkabäer bis auf unsere Tage“ stellte den ersten Versuch einer reichen Materialsammlung zur Geschichte der Juden dar. Daneben ist noch Selig Cassels Abhandlung in Ersch und Grubers „Allgemeiner Enzyklopädie“ zu nennen, die aber unabgeschlossen blieb.248 Jost bemühte sich, apologetische Tendenzen auszuschalten und eine rationalistische Darstellung zu liefern. Die Beschreibung der rechtlichen Situation der Juden in Deutschland nahm hierbei breiten Raum ein. Seine Darstellung wurde von Juden und Christen gleichermaßen gelesen. Jost trat als dezidierter Kritiker der jüdischen Gemeindestrukturen auf und war als scharfer Kritiker des Talmuds bekannt.249 Für 244 245 246 247 248

Jost: Geschichte der Israeliten. Hier: Bd. 8. S. 309. Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, 8. Kap., S. 75–76. Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, 8. Kap., S. 75–76. Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, 8. Kap, S. 75–76. Vgl. Bettina Rüdiger: Der Ersch/Gruber: Konzeption, Drucklegung und Wirkungsgeschichte der Allgemeinen Encyclopädie und Künste. In: Leipziger Jahrbuch der Buchgeschichte 14 (2005). S. 11–78. Arnd Engelhardt: Ordnungen des Wissens und Kontexte der Selbstdefinition: Zur Besonderheit deutsch-jüdischer Enzyklopädieprojekte im 19. Jahrhundert. In: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 3 (2005). S. 81–100. 249 Zu seiner Kritik am traditionellen Judentum und Josts Kritik daran vgl. Schorsch: From Wolfenbüttel to Wissenschaft, in: ders.: From Text to Context. S. 233–254. Hier: S. 239– 241. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Jost bestand der Wert jüdischer Geschichte darin, diese basierend auf objektiven wissenschaftlichen Kriterien zu ergründen und deren Wertigkeit für die Gegenwart zu ermitteln. Traditionelles jüdisch-religiöses Wissen war für ihn in dieser Hinsicht nur hinderlich. Josts Verständnis der iberisch-sephardischen Epoche war insbesondere von dem Wunsch gekennzeichnet, die jüdische Erfahrung auf der Iberischen Halbinsel für die ersehnte Emanzipation der Juden in Deutschland nutzbar zu machen. Im Vorwort zum dritten Band seiner „Geschichte“, erschienen 1822 in Berlin, stellte er gleich im ersten Satz klar: „Kein Gegenstand der Gelehrsamkeit ist vielleicht so häufig bearbeitet worden, als die einzelnen Teile der jüdischen Culturgeschichte, sofern sie der Theologie als Hilfsmittel dienen, und dennoch ist der Nebel, der das Ganze verhüllt, nicht verscheucht.“250 Den Wert der Darstellung erkenne man an der Integration von Quellen, die immer im Mittelpunkt der Darstellung stehen müßten, und ohne die Niederschraft einer objektiven und detaillierten Geschichte der Juden nicht möglich gewesen wäre. Die Erkenntnisse der Wissenschaft basierten für Jost auf den Prinzipien der Neutralität und Objektivität. Auf dieser Grundlage lag auch die Legitimation für eine Kritik begründet, die eine Änderung des Judentums und seines Wesens ermöglichen sollte.251 Hier wurde also der Versuch unternommen, Wissenschaft objektiv zu begreifen und somit auch einer tatsächlich polemischen und bis in die Aufklärung hinein noch stark abwertenden Betrachtung von Juden und Judentum zu begegnen. Auch für Jost bot der Zustand des Judentums einen „niederschlagenden Anblick.“252 Allerdings sei selbst dieser Anblick einer Verbesserung nicht unwürdig, und der Staat sollte alles in seiner Macht stehende tun, um das Judentum der Verbesserung seines gegenwärtigen niedergedrückten Zustandes zuzuführen.253 Eine Veränderung 250 Jost: Geschichte der Israeliten, Vgl. Bd. 3, S. III. 251 „Die Wissenschaft gewinnt nichts durch elende Streitigkeiten, die nur von Leidenschaft und Parteigeist geleitet werden. Es ist Zeit, die Akten über den Wert oder Unwert der Juden und des Judentums zu schließen und mit der Untersuchung der Erscheinung selbst, ihrer Entstehung und Fortbildung nach, zu beginnen, um ihr Wesen zu erkennen, und sie wenn es für gut befunden wird, zu ändern.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 1. S. VIII–IX.). 252 In seinen als „Allgemeine Bemerkungen“ gekennzeichneten Ausführungen zum 8. Buch der Geschichte der Israeliten bemerkte Jost: „Von dem niederschlagenden Anblick des Bildes, welches die Lage, die Tätigkeit und Eigentümlichkeit der damaligen deutschen Juden gewährt, wenden wir uns zu dem Standpunkt hinauf, der uns mitten in jener trüben Zeit eine freiere Aussicht [...] schauen lässt.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 8, S. 1). 253 „Das Judentum ist in sich noch fest genug, um einer längeren Fortdauer gewiss zu sein. Wenn also eine solche Menschenzahl mit gesunden Kräften und stets verbesserten Bestrebungen im Staate gesetzlich vorhanden, und ihre Auflösung nicht gerade Zweck des Staates 198

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des gegenwärtigen Zustandes könne am eindringlichsten durch die Gewährleistung eines gesicherten Rechtsstatus geändert werden. Jost verwies dazu auf das Beispiel Spanien. Er war davon überzeugt, dass der sichere Rechtstatus der Juden in Spanien, verbunden mit einer freieren Berufswahl, zu einer weitreichenden intellektuellen Offenheit unter gleichzeitiger Zurückdrängung der religiösen Sphäre geführt habe. Davon hätten der spanische Staat und die Juden gleichermaßen profitiert. Jost etablierte eine politische Geschichte der Juden, wenn er mit der Zerstörung des ersten Tempels im Jahre 586 n. Chr. das Ende der politischen Geschichte Israels erklärte. Jost zufolge habe die rabbinische Elite im Anschluss an die Zerstörung des Tempels das Wiederaufleben eines politischen Gedankens verhindert. Von zentraler Bedeutung war es dabei für Jost, dem preußischen Staat zu zeigen, dass Juden sich in Spanien sehr wohl in ein Staatswesen integriert und keineswegs, wie von Fichte unterstellt, einen Staat im Staat ausgestaltet hatten. Dieses Beispiel einer gelungenen Integration ist deshalb so wichtig, weil es den Forderungen der christlichen Aufklärer entgegenkam, welches von den Maskilim weiterentwickelt wurde: Juden sollten ein klares Bekenntnis zum Staat ablegen und auch in Ritus und Gebräuchen auf die christliche Mehrheitsgesellschaft zugehen. Diese Schritte sollten dann als Teil der von den Juden verlangten Verbesserung gewertet werden und im Gegenzug auch tatsächlich mit Bürgerrechten ausgestattet werden. Es waren besonders Werte wie Bildung und Kultur, die – gemeinsam mit Kennzeichen wirtschaftlicher Wohlgelittenheit – von Jost als günstige Rahmenbedingungen für die Juden in Spanien interpretiert wurden. Besonders die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen im Zuge einer angestrebten Rückeroberung der Iberischen Halbinsel für das Christentum ermöglichten es den Juden, gewissermaßen im Windschatten dieser Ereignisse, ein „edleres Moment“ an Bildung auszubilden, das für die Gegenwart und die Zukunft gleichermaßen von Bedeutung war. Sie sanken dadurch nicht auf die gleiche niedrige Stufe wie die anderen Bevölkerungsgruppen im Lande.254 sein kann, so muss es zum Wirkungskreise des Letzteren gehören, das Ganze, wie es ist, zu seinem Besten zu benutzen, also ihm die Mittel zu seiner inneren Verbesserung zu geben, und überall, wo die Vorschläge den zeitgemäßen Fortschritten entsprechen, deren Anwendung zu erleichtern und vor Missbrauch zu schützen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 8, S. 191–192. Der letzte Satz lautet in diesem Kapitel: „Das Jahr, welches den Juden nebst bürgerlicher Freiheit auch den dieser angemessenen, von oben herab autorisierten Gottesdienst und Religionsunterricht verleihet, wird dem künftigen Geschichtsschreiber der Juden zur Epoche dienen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 8, S. 192). 254 „So ist gewiss, dass die Juden im Mittelalter sowohl unter sarazenischer als unter christlicher Herrschaft sehr sinken mussten, und am Ende mit den Menschen, welche Frankreich und Deutschland um ihre besten Kräfte betrogen, ganz gleich gestanden hätten, wenn nicht Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Sowohl unter der Herrschaft der Christen als auch unter der der Sarazenen hätten die Juden auf das Niveau der Mehrheitsgesellschaft sinken müssen, wäre es ihnen nicht vergönnt gewesen, dieses „edlere Moment“ zu nutzen. Die Rolle der Juden und ihre jeweiligen Aktivitäten wurden durch die Rahmenbedingungen der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften bestimmt. So hätten sie sich in Kriegszeiten in erster Linie mit ihrer „Bereicherung“255 beschäftigt, in Friedenszeiten hingegen wie in Cordova ganz der Gelehrsamkeit widmen können.256 Die Anlagen dafür waren bereits vorhanden, sie konnten sich jedoch unter den günstigen Bedingungen der islamisch dominierten Mehrheitsgesellschaft und -kultur auf das Vorteilhafteste weiterentwickeln. Seine Rezeption der vergangenen, untergegangenen Kultur der iberisch-sephardischen Kultur verglich das polnische Judentum der Gegenwart mit dem zeitgenössischen aufgeklärten deutschen Judentum, das in die Nachfolge des iberisch-sephardischen Judentums getreten sei. Die Juden auf der Iberischen Halbinsel hätten neben einem starken Gemeinschaftsgeist auch eine stark ausgeprägte Anhänglichkeit an Spanien entwickelt. Diese Grundlagen versetzten sie in die Lage, der Wissenschaft Aufmerksamkeit zu schenken und wissenschaftliche Vertreter stärker zu würdigen als diejenigen Juden, die abgeschlossen von den säkularen Wissenschaften und toleranten Mehrheitsgesellschaften, wie z. B. in Polen lebten. Ihr „edleres Streben nach alter Freiheit“ kam bei den sephardischen Juden zustande, weil sie von der Mehrheitskultur beeinflusst waren. Diese Fähigkeit, Wissen vermittelnd aufzunehmen, sei den Juden Osteuropas abhandengekommen. Selbst die zeitgenössischen sephardischen Juden würden noch heute „verächtlich“ auf die deutschen Juden blicken. Die deutschen Juden wiederum würden auf die polnischen Juden hinabblicken, da diese noch in „der Barbarei des dunkelsten Mittelalters verweilen und das

ein edleres Moment hinzugetreten wäre, um den Geist eines großen Teils der morgen- und abendländischen Juden dermaßen emporzuschwingen, dass man ihnen von einer Seite einen hohen Grad von Bildung und Nützlichkeit für die gleichzeitige und spätere Welt zuzuschreiben veranlasst wird.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Band 6, 19. Buch, S. 9.) 255 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, S. 9. 256 „In Spanien regierten in dieser Zeit zuerst die Statthalter des Asiatischen Califats, bald aber bildeten hier die Sarazenen einen besonderen Staat, dessen Hauptsitz Cordova ward. Dass hier die Juden in Ansehen blieben, versteht sich von selbst, obgleich die Schriftsteller schweigen. Sie entwickelten in Spanien ganz vorzüglich ihre Anlagen und errangen einen hohen Grad von Reichtum und wissenschaftlicher Bildung.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, S. 44). 200

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Licht scheuen“. Tatsächlich sei das aufgeklärte deutsche Judentum maßgeblich für alle Änderungen im Judentum und somit Vorbild für alle Judenheiten geworden.257 Jost war außerdem der Überzeugung, der Grad der Sittlichkeit der Juden in Spanien habe den der Juden in den anderen Teilen der Welt bei Weitem übertroffen: „Der sittliche Wert der Juden, die von solchen Männern geleitet wurden, verdient besonders beachtet zu werden. Sie waren ohne Zweifel sittlicher als alle anderen Juden der Welt, denn ihre Schulen bemühten sich, ihnen reine Begriffe vom wahrhaft Guten zu geben.“258 Sittlichkeit definiert den Zustand und die Werte, die innerhalb einer Gesellschaft für gut, anständig und richtig gehalten werden. Dem „Grimmschen Wörterbuch“ zufolge bezeichnet „Sittlichkeit“ die moralische Vortrefflichkeit und die Übereinstimmung mit den Sittengesetzen des jeweiligen Landes. Und diese Werte und Tugenden seien den sephardischen Juden in ihren Schulen vermittelt worden. Der Bedeutung von Bildung kam im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein erheblicher Stellenwert zu. In Josts Darstellung wurden die Vermittlung und der Transfer von Wissen als zentrale Bestandteile innerhalb der jüdischen Geschichte gewertet. So habe der Niedergang des Patriarchats in Babylonien eine Festigung der Bildung in Spanien mit sich gebracht. Dabei nahm Jost die Vorstellung einer Kontinuität von Gelehrsamkeit und Wissenschaft auf, die von Babylonien auf die Gemeinden in Spanien übergegangen sei. Dies sei möglich gewesen, weil die Rahmenbedingungen der Mehrheitsgesellschaft ein Klima der Offenheit gefördert hätten, 257 „In der Tat unterschieden sich in Hinsicht ihres Treibens die deutschen und nordfranzösischen Juden sehr von denen der Provence, Aquitanien, Navarra, Leon, Kastilien und endlich der maurischen Königreiche, ungeachtet auch diese bald sich auf den Geldverkehr beschränken mussten. Diese letzteren nämlich waren sehr lange nach römischen Gesetzen Bürger gewesen, hatten sich ansässig gemacht, und eine gewisse Anhänglichkeit für ihr Land, wenn auch nicht für ihre barbarischen Herren gewonnen. Dadurch gehörten sie sich einander mehr an, dadurch nahmen sie Anteil an ihrem gemeinsamen Schicksale, blieben für einander tätig und konnten darum auch weit eher wissenschaftliche Männer würdigen und gebrauchen. Sie haben dies erkannt und die östlichen Juden sehr verachtet. Bei ihnen bestand neben dem Gemeinen immer noch ein edleres Streben nach alter Freiheit, von welcher die andern Juden schon seit Jahrhunderten nichts mehr gewusst hatten. Daher kommt der verächtliche Blick, mit welchem die heutigen so genannten Portugiesen auf die deutschen Juden hochsehen, und daher schreiben sich die Fabeln, die sie ersannen, um sich auch den Ruhm der edleren Abkunft vom davidischen Geschlecht anzumaßen. Man kann sich das Verhältnis dieser verschiedenen Juden ungefähr so vorstellen, wie die heutige Verschiedenheit zwischen den deutschen Juden und den polnischen, da der deutsche Jude allen bessern Gewerben huldigt und alles Bessere unter seinen Religionsgenossen zu befördern strebt, während die polnischen noch in der Barbarei des dunkelsten Mittelalters verweilen und das Licht scheuen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, 8. Kapitel, S. 75–76). 258 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 1. Kapitel, S. 124. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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ohne die auch die Juden nicht so zentral als kulturelle Vermittler hätten wirken können. Aufgrund ihrer Gelehrsamkeit hätten sich die iberisch-sephardischen Juden fundamental von ihren Glaubensbrüdern in anderen Teilen Europas unterschieden. Jost benutzt sogar den Terminus „Judenrassen“, um diese Unterscheidung hervorzuheben. Die Rolle der sephardischen Juden in der „menschlichen Gesellschaft“ sei auch dadurch geprägt gewesen, dass ihnen „Achtung“ vonseiten der Mehrheitsgesellschaft entgegengebracht wurde. Und diese Achtung resultiere in dem Umstand, dass Juden an der „allgemeinen Entwicklung“ der Gesellschaft starken Anteil genommen hätten. Diese Situation entwickelte sogar noch nach den erfolgten Vertreibungen ihre Wirkung in dem Maße, dass die Vertreibung der sephardischen Juden von der Iberischen Halbinsel bei der Nachwelt noch stärker nachklang.259 Dies sei insbesondere dem Islam als Gesellschaftsordnung zuzuschreiben, so dass Juden sich wieder stärker einem Zentrum zuordnen konnten: „Durch das rasche Aufblühen des Islams [...] zieht sich die Geschichte der zerstreuten Juden wieder zusammen, und bildet gleichsam wieder auf einige Zeit ein Ganzes.“260 Selbst bei äußerster Drangsal machten die sephardischen Juden aufgrund ihrer geistigen Tugenden, ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Sittlichkeit einen weitaus positiveren Eindruck auf die Nachwelt. Aber diese kräftigen Elemente im sephardischen Judentum konnten sich nur deshalb entwickeln, weil „die Ankunft der Gelehrten aus dem Morgenlande […] den Juden im arabischen Spanien einen neuen Schwung […] gab.“261 Demzufolge sei es auf der Grundlage eines Transfers von Wissen aus dem Osten in den Westen möglich gewesen, dass sich die iberisch-sephardische Kultur unter Herrschaft der moslemischen Herrschaft so vorteilhaft für die Juden entwickeln konnte. Auch Jost

259 „Die jüdische Gelehrsamkeit siedelte sich in Spanien an, und machte ungeheure Fortschritte. Sie gab den dortigen Juden einen eigentümlichen Charakter, der sie späterhin zu einer ganz besonderen Sekte bildete. [...] Wir finden die spanischen Juden von dem erwähnten Zeitabschnitte an, denen ganz ähnlich, die sich über Frankreich, das Deutsche Reich, England und Italien ausgebreitet haben, aber ein ganz anderer Geist beseelt sie, und stellt sie auf eine Stufe der menschlichen Gesellschaft, die einen gewissen Grad von Achtung einflößt, während die übrigen genannten Juden bei allem Reichtum und bei aller Mitwirkung zur allgemeinen Entwicklung, doch mit jedem Jahr tiefer sanken, so dass die Katastrophen, welche beide Judenrassen gemeinschaftlich oder besser gleichmäßig trafen, auch bei der Nachwelt einen verschiedenartigen Eindruck machen musste.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. Buch, 11. Kapitel, S. 110.) 260 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 19. BuchS. 1. 261 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 1. Kapitel, S. 121. 202

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benutzte Metaphern aus der Pflanzenwelt, um die Errungenschaften in der arabischen Kultur zu benennen.262 Allerdings kontrastierte er den hohen Grad der Allgemeinbildung bei den sephardischen Juden auf der Iberischen Halbinsel mit deren traditioneller rabbinischer Gelehrsamkeit.263 Die wieder stärkere religiöse Durchdringung fand Jost zufolge ihren Ausgang in den Verfolgungen der Juden mit der Ausbreitung der Reconquista. Diese hätten einen Reflex der Juden ermöglicht, der wieder stärker dem Talmud und auch der Mystik, namentlich dem Buche „Sohar“, verpflichtet war. Er erwähnte hier jedoch auch den Umstand, dass das Fundament des Judentums im Zuge der Auseinandersetzung mit griechischer Philosophie aufgeweicht sei.264 Anders als bei seinen maskilischen Vorgängern ging es Jost nicht zentral darum, herausragende Persönlichkeiten der iberisch-sephardischen Kultur als Vorbilder für die deutschen Juden herauszustellen. Auch er betonte bei den Diskussionen einzelner Vertreter des sephardischen Judentums deren edle Herkunft, indem er auf den „Familienadel“ einging.265 Er verdeutlichte dies am Beispiel von Samuel Ha-Nagid, der gleichzeitig als Dichter und rabbinische Autorität hohe Anerkennung erfuhr und „den Zutritt der Juden zu Staatsämtern und Heeresdienst“266 ermöglichte. Gleichzeitig hatte Jost immer die erfolgreiche kulturelle Vermittlung zwischen arabischer und jüdischer Kultur als Ganzes im Blick. Die Integration der Juden in die arabische Gesellschaft erfolgte im besonderen Maße über die Sprache, von der eine integrierende Funktion ausging und die es zudem möglich machte, sich in diese

262 „Es waren bereits Männer in den Landen der Kalifen aufgetreten, welche die morgenländische Gelehrsamkeit auf spanischen Boden verpflanzt hatten und der Boden und das Klima waren diesen neuen Pflanzungen eben so günstig wie in dem Mutterlande. Die arabische Poesie hatte hier Wurzeln geschlagen, und wurde durch einen ziemlichen Grad von Wärme genährt und getrieben.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 1. Kapitel, S. 122). 263 „Im Allgemeinen sieht man, dass die Juden in dieser Zeit keine Rückschritte getan hatten. Auch ihre wissenschaftliche Bildung war noch nicht ganz erloschen, nur ward sie immer rabbanitisch, so dass zuletzt das Studium des Talmuds die Oberhand behielt.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 21. Buch, 10. Kapitel, S. 327). 264 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 21. Buch, 10. Kapitel, S. 327. 265 „Der Familienadel war bei den Juden in Spanien ein ebenso heiliges Erbgut wie bei den Arabern, und wer einige dieser großen Familien für sich gewonnen hatte, dessen Glück war gemacht.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 2. Kapitel, S. 126.) 266 „Samuel Ha-Nagid, selbst Gelehrter und Schriftsteller, förderte die jüdischen Dichter, unterhielt Beziehungen zu Mesopotamien, Syrien, Ägypten und Nordafrika, unterstützte die jüdischen Akademien in den verschiedenen Ländern und ermöglichte den Zutritt der Juden zu Staatsämtern und Heeresdienst.“ (Saul Mézan. Spanien. In: Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, S. 526.) Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.267 Dabei habe die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft diese Bemühungen ausdrücklich unterstützt.268 Als weiteres Beispiel aus der Reihe von herausragenden sephardischen Persönlichkeiten führte Jost Salomon ben Juda ben Gabirol (1020–1057/58) an. In diesem habe sich die kulturelle Vermittlung in der Form einer Synthese des biblischen Schöpferglaubens mit dem Neuplatonismus ausgedrückt.269 Insbesondere die Vermittlung von jüdischem Wissen und die Kenntnis der Philosophie seien für Gabirol entscheidend gewesen.270 Diesen Umstand erkannte Jost ausdrücklich in dem Bestreben Gabirols, religiöse und säkulare Bildung auch an weniger gebildete Juden heranzuführen. Allerdings formulierte Jost auch hier eine deutliche Kritik an der Verwendung der arabischen Sprache, die der Reinheit des Hebräischen entgegenstehe und deren Verwendung er als Ausdruck der Eitelkeit verstand.271 Die wirkliche 267 Sein literarisches Schaffen war von großer Bedeutung: „Er wird auch als Dichter gefeiert, doch sollen seine Gedichte an Dunkelheit gelitten, und der umschreibenden Erklärung bedurft haben. Sein Zeitalter war das der Grammatik und der Dichtkunst, und eine Flut von Gedichten überschwemmte damals das arabische Spanien, sowohl der jüdischen als auch der arabischen Welt.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 4, S. 139–140.) 268 So habe Samuel Levi seine Bücher auf eigene Kosten drucken lassen können. Außerdem habe er Hilfebedürftige unterstützt. Die politische Wirksamkeit seines Schaffens sei nicht auf Granada beschränkt geblieben, denn er habe die Netzwerke der sephardischen Juden am Mittelmeer benutzt, um sich für die Juden dort einzusetzen, was ihn zu einem Shtatlan machte. Jost schreibt dazu: „Er sorgte nicht bloß für das Wohl der Juden im Reiche Granada, sondern er dehnte auch seine Wirksamkeit über die Gemeinden aller anderen spanischen Reiche, Afrikas, Siziliens und Palästinas aus.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 4, S. 139– 140.) 269 Hinsichtlich Gabirol, vgl. bes. Michael Sachs, Die religiöse Poesie der Juden in Spanien, Berlin 1845. 270 Gabirol sei „ein vielseitig gebildeter Mann [gewesen]; anfangs besonders der Moral-Philosophie und der Naturkunde ergeben, nachher auch Dichter, oder vielmehr Oden-Sänger. Schon in der Jugend schrieb er in arabischer Sprache ein Werk über die Sittenverbesserung des Menschen („Tikkun middoth hanephesch“). Späterhin verfasste er hebräische Gesänge, deren Zweck war, den minder gelehrten Juden sowohl die vielen Gesetze, als auch die vorzüglichen Wahrheiten der Religion und Naturkunde, besonders auch die Beschreibung des Weltbaues, soweit der Laie sie begreift, einzuprägen, und bessere Begriffe zu verbreiten. In der Tat ein sehr löbliches Unternehmen, und nur leider im arabischen Geschmack ausgeführt, der bei aller Reinheit der hebräischen Sprache, deren sich der Verfasser immer beflissen, dennoch überall durchschauet.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 4. Kapitel, S. 149). 271 „Alle [seine Gesänge] zeigen die Größe seines Geistes, die edle Absicht, aber vielen sieht man den Hang zum Wortspiel gar zu deutlich an.” ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 4. Kapitel, S. 150). 204

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Integration könne nicht durch den Gebrauch des Arabischen gelingen, sondern nur durch ein hohes Maß an gelebter Sittlichkeit und Bescheidenheit, die sich wiederum durch den Gebrauch des Hebräischen ausdrücken sollte. Mit dem sich abzeichnenden Ende der arabisch-jüdischen Kulturepoche und der Ausbreitung der Reconquista wandte sich Jost am Ende des sechsten Bandes den Verfolgungen der Juden während des Kreuzzuges von 1320 und den Auswirkungen auf die Juden in Spanien zu. Dieser Kreuzzug, der so genannte Hiertenkreuzzug, begann im Mai 1320 in der Normandie, als ein jugendlicher Hirte von sich behauptete, der Heilige Geist sei über ihn gekommen und habe ihn angewiesen, die Mauren in Spanien zu bekämpfen. Auf dem Weg nach Spanien fielen den Kreuzfahrern insbesondere Juden zum Opfer. Obwohl Papst Johannes XXII. und König Jakob II. von Aragon gelobten, jüdische Bürger zu schützen, kam es dennoch zu Übergriffen. Jakobs Sohn Alfons brachte die Ausschreitungen gegen die Juden unter Kontrolle und der Kreuzzug löste sich auf. Die Juden wurden als Symbol königlicher Macht betrachtet, da sie sowohl in Frankreich als auch in Aragonien mehr als andere Bevölkerungsteile auf den persönlichen Schutz des Königs angewiesen waren. Zudem galten sie häufig als ein Symbol des verhassten königlichen Wirtschaftssystems, insbesondere bei den Bauern.272 In der Folge dieses Hirtenkreuzzuges seien „mehr denn hundertzwanzig Gemeinden durch diese Räuberzüge vernichtet“273 wurden. Nach Beendigung dieser gewalttätigen Ausschreitungen sei nur kurzfristig wieder Ruhe eingekehrt, tatsächlich hätten sich weitaus „grässlichere Leiden“ abgezeichnet.274 Der Hass gegen die Juden habe sich ausbreiten können, weil die Position des Königs geschwächt gewesen sei. Aus diesem Grund hätten die Cortes ihre Macht ausbauen können. Außerdem habe die Mehrheit der christlichen Bevölkerung voller Argwohn auf den wachsenden Wohlstand der Juden im Lande geblickt. Zusammen mit der zunehmenden Agitation gegen die Juden erhöhte sich die Bereitschaft, die Juden auch in Spanien zu verfolgen.275 Jost verdeutlichte unmissverständlich die besondere Verantwortung der herrschenden Klassen für die einsetzenden Verfolgungen der Juden in Spanien.

272 David Nirenberg: Communities of Violence: Persecution of Minorities in the Middle Ages. Princeton 1996. 273 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 2. Kapitel, S. 351. 274 „Die Juden waren nun im Allgemeinen für den Augenblick wieder beruhigt. Allein alles war für sie zum Teil geschah, sollten ihnen nur eine kurze Frist verschaffen, in welcher ihnen noch weit grässlichere Leiden von oben herab vorbereitet wurden.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 6, 20. Buch, 2. Kapitel, S. 351). 275 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd.7, S. 50–64. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Er nahm jedoch den König von einer direkten Verantwortung für die Verschlechterung des Klimas aus, weil dieser seine Macht an die Cortes’ habe abtreten müssen. Jost interpretierte somit die Geschehnisse der jüdischen Geschichte als Bestandteil der allgemeinen Geschichte, indem er der Integration der Juden in das Staatswesen eine entscheidende Bedeutung zumaß. Während er jedoch vor der Unsittlichkeit insbesondere der arabischen Sprache warnte und auf eine jüdische Eigenständigkeit pochte, war er von der Notwendigkeit einer vollständigen Integration der Juden in die christliche Gesellschaft überzeugt. Diese Integration habe auch für die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft wegen der bewiesenen Nützlichkeit der Juden eine immense Bedeutung besessen. Jost selbst hielt an diesem Punkt den Übertritt zum Christentum nicht nur für nicht vermeidbar, sondern geradezu für wünschenswert. Dies hätte sich vor allem für den spanischen Staat auszahlen können, der sich dem Reichtum der zum Christentum freiwillig übergetretenden Juden hätte sicher sein können. Ferner hätte die im Verlauf der Reconquista erstarkende katholische Geistlichkeit so auf natürlichem Wege geschwächt werden können. Im Ergebnis hätte es zu einer Verschmelzung unterschiedlicher Gruppen in Spanien kommen können, zum Zusammenwachsen eines großen Ganzen. In dieser Argumentation plädierte auch Jost für die von Dohm und anderen geforderte Verbesserung der Juden, indem er zeigte, wie die einer Integration zugrunde liegenden Verbesserung sich bezogen auf das historische Beispiel in Spanien für die Juden und den spanischen Staat ausgezahlt hätten.276 Diese Deutung zeigt sich noch deutlicher im zehnten Kapitel. Hier behandelte Jost die Vertreibung der Juden aus Spanien, indem er das breite Vorgehen gegen die Juden aufseiten der Justiz, der Geistlichkeit, der politischen Vertreter, des Königs, aber auch breiter Bevölkerungsschichten hervorhob.277 Dennoch habe die Vertreibung nicht nur zur allgemeinen Begeisterung geführt, sondern Jost vertrat auch die Ansicht, es habe sich Entsetzen über die anstehende Vertreibung bei Juden und Nichtjuden gleichermaßen gezeigt. Allerdings sei es aus Angst vor möglichen Konsequenzen zu keiner Opposition gegen diese Maßnahmen gekommen. Die Präsenz

276 „Hätte es damals verständige Könige und einsichtsvolle Staatsmänner gegeben, so würden sie den schwankenden Zustand etwa ein Menschenalter hindurch erhalten haben, um den Eifer der Juden abzukühlen, die Verschwägerungen zuzulassen, die Parteien miteinander allmählich auszusöhnen, und – die ganze spanische Judenheit wäre mit ihrem Reichtum zur Kirche gekommen, hätte die steigende Macht der Geistlichkeit geschwächt, und mir ihrer Tätigkeit die Lücken ausgefüllt, welche die Trägheit und der unbegründete Adelstolz der Spanier in dem Vermögen und den Einkünften des Landes hervorbrachte.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 7, 22. Buch, 7. Kapitel, S. 63–64.) 277 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 7, 22. Buch, 7. Kapitel, S. 79–89. 206

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der Inquisition und ihrer Institutionen habe Verunsicherung bei den Menschen hervorgebracht.278 Jost verstand die Geschichte der sephardischen Juden auf der Iberischen Halbinsel unter christlicher Hegemonie als Beweis für die nicht erfolgte vollständige Assimilation. Wäre diese tatsächlich erfolgt, hätte der Klerus die Inquisition nicht gegen die Neuchristen richten können, da diese integrierter Bestandteil der spanischen Gesellschaft gewesen seien. Dies zeige sich insbesondere an der Tatsache, dass nach der Vertreibung die im Lande lebenden Juden nicht im Christentum aufgingen, sondern sich durchaus eigenständig als eine „Secte“ definierten.279 Die Juden seien durch die mit Zwang erfolgten Konversionen gerade nicht „vertilgt” worden. Die Verwendung des Verbs „vertilgen“ muss im Zusammenhang mit Josts positivem Verständnis von Assimilation gelesen werden, das ein Aufgehen im Ganzen für wünschenswert erachtete; einem Aufgehen, von dem beide Seiten – die Minderheit und die Mehrheit – profitierten. Unter „vertilgen“ versteht man den Vorgang des Vernichtens oder Ausrottens bezogen auf Ungeziefer oder Unkraut, zudem impliziert das Verb die umgangssprachliche Bedeutungsebene von verzehren oder aufessen. Wenn Jost davon sprach, dass Juden nicht „vertilgt“ wurden, dann bedeutet dies, dass sie nicht dem Einheitskörper einverleibt wurden und stattdessen ihren Charakter und ihre Unabhängigkeit bewahren konnten. Auch nach der Vertreibung konnten sie entweder als Marranen – ohne dass Jost an dieser Stelle den Begriff benutzt – oder im Exil ihre Identität pflegen und sich dadurch als eine eigene Sekte begreifen. Dabei sei ihnen auch zugutegekommen, dass ihr Verständnis von Judentum eher von traditionellen Quellen gespeist war und sie selbst das Hebräische besonders authentisch lasen. Unter „Sekte“ wird im Allgemeinen eine kleine religiöse Gemeinschaft verstanden, die sich von einer großen Glaubensgemeinschaft losgelöst hat. Die Vertreibung sei nicht allein als eine Katastrophe für die Juden zu begreifen, sondern die allgemeine spanische Gesellschaft habe immens durch die Vertreibung ihrer produktivsten Mitglieder gelitten. Für Jost stand außer Frage, die 278 „Die Bestürzung war allgemein, sie ergriff Juden und Christen; aber niemand machte nachher Versuche zur Hintertreibung eines Gesetzes, das nach kurzer Frist den Juden, die sich auf spanischen Boden finden würden, und ihren etwaigen Beschützern zugleich Tod und Einziehung des Vermögens androhte. Man hatte zu deutlich die Erfüllung dieser Drohungen, seitens der Inquisition, vor Augen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 7, S. 81. Es folgen Schilderungen verschiedener Einzelschicksale mit dem Verlauf von Reise- bzw. Fluchtrouten, so im Kap. 12 „Merkwürdige Personen, welche ausgewandert sind, und ihre Schicksale; von den späten heimlichen Juden in Spanien und Portugal“( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 7, 22. Buch, 7. Kapitel, S. 96–101). 279 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 7, 22. Buch, 12. Kap., S. 100-101. Vgl. zu dieser Stelle außerdem Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten, S. 148ff. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Verfolgung der Juden als Verletzung des „Menschenrechts”280 in einen universalen Zusammenhang zu setzen. In Josts Darstellung zeigte sich durchgängig ein apologetisches Element, das die Perspektive der deutschen Juden im Zeitalter der Emanzipation mit deren Wunsch nach Verbesserung stets im Auge hatte. Die Situation der Juden sei im Verlauf des Mittelalters von Drangsal und Not gekennzeichnet gewesen, allerdings habe sich mit dem Beginn der Aufklärung „in jener trüben Zeit eine freiere Aussicht“ erahnen lassen.281 Nun sei der Staat gehalten, den Wunsch nach bürgerlicher Verbesserung bei den Juden zu fördern.282 Sei dies erfolgt, könne eine neue Epoche für die Juden geschrieben werden, die neben der bürgerlichen Freiheit auch den „von oben herab autorisierten Gottesdienst und Religionsunterricht“ mit sich bringen werde.283 Neben seiner Tätigkeit als Autor der „Geschichte der Israeliten“ untersuchte Jost auch als Herausgeber und Autor weiterer jüdischer Zeitschriften die Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel. So war Jost Herausgeber der „Israelitischen Annalen“. Ein Centralblatt für Geschichte, Literatur und Cultur der Israeliten aller Zeiten und Länder“, das von 1839 bis 1841 erschien. Außerdem gab er gemeinsam mit dem Pädagogen Michael Creizenach die Zeitschrift „Zion“ (1841/42) heraus. Creizenach, geboren 1789 in Mainz, schloss sich schon früh dem Reformjudentum an und zählte zu einem der eifrigsten Mitarbeiter der von Abraham Geiger herausgegeben „Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie“ (1835–1847). Im Vorwort zur ersten Ausgabe der „Israelitischen Annalen“ gab die Redaktion eine 280 Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 7, 22. Buch, 1. Kapitel, S. 2. 281 „Von dem niederschlagenden Anblick des Bildes, welches die Lage, die Tätigkeit und Eigentümlichkeit der damaligen deutschen Juden gewährt, wenden wir uns zu dem Standpunkt hinauf, der uns mitten in jener trüben Zeit eine freiere Aussicht […] schauen lässt.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, Bd. 8, 28. Buch, 1. Kap. „Allgemeine Bemerkungen“, S. 1–16. Hier: S. 1). 282 „Das Judentum ist in sich noch fest genug, um einer längeren Fortdauer gewiss zu sein. Wenn also eine solche Menschenzahl mit gesunden Kräften und stets verbesserten Bestrebungen im Staate gesetzlich vorhanden, und ihre Auflösung nicht gerade Zweck des Staates sein kann, so muss es zum Wirkungskreise des letzteren gehören, das Ganze, wie es ist, zu seinem Besten zu benutzen, also ihm die Mittel zu seiner inneren Verbesserung zu geben, und überall, wo die Vorschläge den zeitgemäßen Fortschritten entsprechen, deren Anwendung zu erleichtern und vor Missbrauch zu schützen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, 8. Bd., S. 191–192. Hier geht es Jost um die Beibehaltung des Edikts vom 11. März 1812 zugunsten der Bundesakte von 1815, die die religiöse Willkür weiterbestehen lassen dürfte.) 283 „Das Jahr, welches den Juden nebst bürgerlicher Freiheit auch den dieser angemessenen, von oben herab autorisierten Gottesdienst und Religionsunterricht verleihet, wird dem künftigen Geschichtsschreiber der Juden zur Epoche dienen.“ ( Jost: Geschichte der Israeliten, 8. Bd., S. 192). 208

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Erklärung heraus, die noch ganz der Vorstellung von der Verbesserung der Juden verpflichtet war.284 Gleichzeitig sollte eine offene wissenschaftliche Diskussion geführt werden, wobei Themen zur jüdischen Religion nur insofern aufgenommen und behandelt wurden als sie dem historischen Interesse dienten, keinesfalls sollte in der Zeitschrift selbst der jüdischen Religion gehuldigt werden.285 Josts zentrales Anliegen war es, mittels der Wissenschaft bestehende Vorurteile in der christlichen Welt gegenüber den Juden abzubauen und darauf hinzuwirken, Gesetze zu erlassen, die deren Leben im Staate auf rechtlich sichere Füße stellen würde. So fasste er am Ende seines Beitrages für die „Israelitischen Annalen“ mit dem Titel „Historische Skizzen zur Geschichte der Israeliten im byzantinischen Reiche“ die Vertreibung der Juden aus Spanien als ein universalhistorisches Ereignis auf, das im Wesentlichen aus religiösem Fanatismus entstanden sei und neben der Zerstörung jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel die Juden wieder ins Exil gezwungen hätte. Und dies gerade aus einem Land wie Spanien, das sie als ihre Heimat und ihr Vaterland begriffen hätten.286 Die Vertreibung sei jedoch nicht auf die Zerstörung der jüdi-

284 „Wir beginnen daher unsere Annalen, mit der angenehmen Hoffnung, durch Sammlung aller in unser Gebiet einschlagenden Leistungen von einigem bleibenden Werte, zur Verbreitung einer zuverlässigen Kenntnis der Geschichte, Literatur und Cultur der Israeliten beizutragen, und der künftigen Beurteilung, Geschichtsforschung und Gesetzgebung, so mit dem Fortschreiten und der Verbesserung im Innern, eine festere Grundlage darzubieten, als die bisherige Zerstreutheit des Materials gewährt.“ (Redaktion, in: Israelitische Annalen, Nr. 1, 1. Jg. vom 4.1.1839, S. 1). 285 „Hypothesen über Offenbarung, Tradition und andere Glaubensangelegenheiten werden wir nicht aufnehmen; wohl aber historische Nachweisung ihrer Entstehung und Fortbildung und vollständige Berichte über früher vorgefallene oder noch nicht ausgeglichene Differenzen, insofern sie allgemeine Aufmerksamkeit verdienen.“ (Israelitische Annalen, Nr. 1, 1. Jg. vom 4.1.1839, S. 2). 286 „Der Schluss des 14. Jahrhunderts war den Juden im ganzen weltlichen Europa Unheil bringend. Frankreich mussten sie, nach mannigfachen Unbilden, die sie erduldet hatten, gänzlich verlassen, und in Spanien begannen die Vorspiele zu der um ein Jahrhundert später erfolgten Vertreibung. Das Jahr 1391 verbreitete Schrecken über alle Gemeinden der pyrenäischen Halbinsel. Die Bekehrungswut ergriff das Schwert und metzelte schonungslos die Widerstrebenden nieder, Flammen verzehrten die Häuser und Habe der Unglücklichen, die in ihrem uralten Wohnsitze keinen Schutz mehr fanden. [...] Wer irgend ohne allzu viel zu opfern den Wanderstab ergreifen konnte, wendete der pyrenäischen Halbinsel den Rücken.” (Isaak Markus Jost: Historische Skizzen zur Geschichte der Israeliten im byzantinischen Reiche (Schluss). In: Israelitische Annalen Nr. 21 vom 24.5.1839. S. 161.) Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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schen Kultur einzuschränken, vielmehr hätten diejenigen Länder, die den Juden Exil gewährten, z. B. das Osmanische Reich, davon profitieren können.287 Eine wichtige Rolle nahm in den „Israelitischen Annalen“ auch die Literatur, genau genommen die Verbindung zwischen maurischer und christlicher Literatur und Poesie ein. Dies zeigt sich in Samuel Mecklenburgs Rezension von Leopold Dukes Buch „Moses ben Esra aus Granada. Darstellung seines Lebens und literarischen Wirkens, nebst hebräischen Beilagen und deutschen Übersetzungen durch Samuel Meklenburg vom 24. Januar 1840“. Der Dichter und Philosoph Moses ibn oder ben Esra (1055–1138) erwarb während seiner Jugend eine umfassende jüdische und arabische Bildung. In der Provinz Granada hatte er vermutlich eine Ehrenstellung, da ihm der arabische Titel „Sahib al-schurta“ verliehen wurde. Ibn Esra verband in Granada eine Freundschaft mit Jehuda ha-Levi, den er in seiner Dichtkunst unterstützte. Die Eroberung Granadas durch die Almoraviden im Jahre 1090 und die damit einhergehende Zerstörung der jüdischen Gemeinde zwang ibn Esra zur Flucht in den christlichen Teil Spaniens. Zeit seines Lebens blieb es ihm verwehrt, in seine Heimatstadt Granada zurückzukehren.288 In seiner Rezension zu Leopold Dukes’ Moses ben Esra aus Granada hob Samuel Mecklenburg den Umstand hervor, den die neuhebräische Literatur als vermittelnde Instanz zwischen maurischer und christlicher Literatur eingenommen habe. Er verglich die neuhebräische Sprache in dieser Hinsicht mit der Rolle der Juden zwischen unterschiedlichen Nationen als natürliche Vermittler.289 Dass sich die Rezeption der iberisch-sephardischen Kultur nicht allein auf deutschjüdische Auseinandersetzungen stützte, zeigt sich auch anhand der Tatsache, dass Besprechungen aus dem nicht deutschsprachigen Ausland rezipiert wurden und im Fall der „Israelitischen Annalen“ auch eine wichtige Rolle hinsichtlich der Verbreitung eines bestimmten Bildes der iberisch-sephardischen Kultur in sich trugen. So 287 Jost: Historische Skizzen zur Geschichte der Israeliten im byzantinischen Reiche, in: Israelitische Annalen Nr. 21 vom 24.5.1839. S. 161. 288 Encyclopedia Judaica, Bd. 8, S. 1170–1174. 289 „Ohnehin ist die maurisch-jüdische Periode noch viel zu wenig beachtet worden, und unsere berühmtesten Literaturgeschichten tun ihrer entweder wenig oder keiner Erwähnung. Gleichwohl ist die neuhebräische Literatur des spanischen Mittelalters gleichsam ein Verbindungsglied der maurischen und christlichen Literatur und Poesie, wie denn auch im Leben die Israeliten als Handel treibende Nation das Verbindungsglied zweier feindlich getrennter Völker ausmachten. Unser Dichter fällt in den Zeitraum, wo die neuhebräische Poesie in Spanien sich der höchsten Blüte erfreute.” (Samuel Meklenburg: Rezension zu Leopold Dukes über Moses ben Esra aus Granada. Darstellung seines Lebens und literarischen Wirkens, nebst hebräischen Beilagen und deutschen Übersetzungen vom 24.1.1840, S. 39–40. Hier: S. 39. Fortsetzung dieses Beitrags Nr. 7 vom 14.2.1840, S. 63–64). 210

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verfaßte Jost einen Bericht zur „Geschichte und Literatur der spanischen Juden. Ein literarischer Bericht, aus dem Englischen ( Jewish Intelligence, April 1841) mit einigen Anmerkungen vom Herausgeber (in Englisch: Sephardim, or the History of the Jews in Spain and Portugal)“,290 wobei er die gleichnamige Schrift von James Finn unter Angabe eines Auszugs aus dem 16. Kapitel zur Literatur der spanischen Juden integierte. Die sephardischen Juden hätten „seit undenklichen Zeiten einen Stand von Gelehrten“ aufgewiesen und zudem zähle das Lernen seit Anbeginn zu einem der zentralen Elemente des Judentums. Dieses Lernen drücke sich durch einen hohen Respekt vor der hebräischen Sprache aus. Auf der Grundlage von wissenschaftlicher Genauigkeit zeichne sich auch die intellektuelle Tätigkeit der sephardischen Juden aus, die jedoch immer rückwärtsgewandt gewesen sei und zudem nicht über die Fähigkeit verfügt hätte, vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen, was Jost mit dem Prinzip der „Induktion“ beschrieb.291 Dieser passive und rückwärtsgerichtete Blick sei jedoch immer dann nach vorne gerichtet worden, wenn sich Juden mit einer anderen Kultur in eine fruchtbare Verbindung setzen konnten. Herausragend sei dies unter der Herrschaft der Araber gelungen, „dass sie durch die Nähe der Araber, mit denen sie wetteiferten, stets zu tüchtigen Leistungen angetrieben wurden.“292 Dieser Wettbewerb habe die Juden angespornt und als Resultat seien nicht nur sie erhoben worden, sondern es habe auch die Mehrheitsgesellschaft davon profitiert. Allerdings hätten die Rahmenbedingungen stimmen und die Juden im Staatswesen integriert sein müssen, denn nur so hätten sie auch in der beschriebenen Form betätigt und wären nicht wieder in innerjüdische theologische Diskussionen 290 Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden. In: Israelitische Annalen, Nr. 24 vom 11.6.1841. S. 187–188. Vgl. James Finn: Sephardim: Or the history of the Jews in Spain and Portugal. London 1841. 291 „Das Volk besaß seit undenklichen Zeiten einen Stand von Gelehrten, mit einer Literatur, die dem Umfange nach nur von der aller Länder des Christentums zusammengenommen überragt ward; und der Talmud sagt: ‚Jeder zum Lernen verpflichtete ist auch zum Lehren verpflichtet.‘ [...] Sie zeichnen sich besonders aus durch Beachtung der grammatischen Erkenntnis der Sprache, um ihrer selbst willen; kein Volk hat je die spanischen Juden in der genauen Bearbeitung der Sprachlehre, in der Sorgfalt der lexikalischen Forschungen, oder in den Vorzügen, die ihre Abschriften schätzenswerter Bücher dartun, übertroffen. [...] Der Geist, welcher der hebräischen Lehrweise innewohnt, ist der aller östlichen Länder; Überlieferung von Vater auf Sohn, von Lehrer auf Schüler; er ist nicht untersuchend, wie das der wesentliche Zug des alten griechischen Geistes und der neuen induktiven Weltweisheit ist, er schauet stets rückwärts, haftet stets an der Vergangenheit.“ ( Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen Nr. 25 vom 18.6.1841, S. 196). 292 Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen Nr. 25 vom 18.6.1841, S. 196. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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zurückgefallen. Insbesondere in ihrer Tätigkeit als Übersetzer hätten Juden Standards gesetzt und zur wissenschaftlichen Avantgarde der Zeit gezählt. Jost bezeichnete Juden als Vermittler griechischer Kultur. Ihre aus dem Arabischen angestellten Übersetzungen ins Lateinische hätten sie zu den Lehrern Europas prädestiniert. „Wie viel haben die Juden nicht durch ihre Studien dem übrigen Europa im Allgemeinen genützt? Zu einer Zeit, als die griechische Sprache und deren ganze treffliche Literatur den weltlichen Nationen noch unzugänglich war, lasen die Hebräer bereits in ihrer eigenen Sprache mehrere Werke des Aristoteles, Plato, Ptolemäus, Appolinius, Hippokrates, Talen [Thales, C. S.] und Euklid, aus dem Arabischen der Mauren hergenommen, welche dieselbe aus Griechenland und Ägypten mitgebracht hatten; und zugleich mit diesen schrieben sie selbst Dissertationen und Disputationen darüber. Von hier aus wurden die alten Klassiker wirksam in die lateinischen Schulen der Christenheit verbreitet.“293

Jost etablierte das Verständnis eines Wissenstransfers in al-Andalus, der die Juden als ideale Vermittler zwischen Orient und Okzident verstand. Dieser Transfer fand ausdrücklich in beiden Richtungen statt, denn auch christliche Gelehrte forschten in Andalusien, wie dies jüdische Gelehrte in Oxford und Paris taten. Damit nahm Jost auch Stellung gegen ein Konzept, welches lediglich von den Juden Verbesserung verlangte, für Jost war eindeutig auch die Mehrheitsgesellschaft mit ihren staatlichen Organen gefordert. Anders als die Mauren hätten die Juden keinerlei Berührungsängste gehabt, sich mit Christen auszutauschen, was sie in eine Schlüsselfunktion rückte. Es lässt sich nicht leugnen, dass dies wohl mit dem Blick auf christliche Leser geschrieben wurde, um zu verdeutlichen, dass Juden vorbehaltlos mit Christen kommunizieren würden. „In der Mathematik hatten die Juden die vorzüglichen Lehrstühle in den Muhamedanischen Hochschulen zu Cordova und Sevilla; aber sie unterschieden sich darin von den Mauren, dass sie auch mit Christen in Berührung traten, und den verschiedenen Ländern zerstreut, Geometrie, Algebra, Logik und Chemie, nach spanischer Art, auch auf den Universitäten zu Oxford und Paris lehrten, während andrerseits christliche Studierende aus allen Gegenden Europas nach Andalusien gingen, um diese Wissenschaften zu studieren.“294

Jost begriff Wissen als eine Pflanze, wobei günstige Rahmenbedingungen eine reiche Ernte einbringen konnten. Dies sei auch in Spanien geschehen. „Friede kann Gelehrsamkeit nähren und Reichtum sie begünstigen, wie in Florenz und Holland; aber sie können sie nicht schaffen; der Sonnenschein belebt und fördert nur die Le293 Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen, Nr. 27 vom 2.7.1841. S. 211. 294 Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen, Nr. 27 vom 2.7.1841. S. 212. 212

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benselemente, welche durch andere Keime bereits vorhanden sind. Mit den Juden ward die Gelehrsamkeit sogar verpflanzt, wie die asiatische Palme; und in Spanien wurden jüdische und arabische Schriften zahlreich, verschiedenartig und wichtig.“295 Jost stellte auch die Vertreibung der Juden im Jahre 1492 in Zusammenhang mit den Auswirkungen für die Mehrheitsgesellschaft und verdeutlichte auf diesem Wege, in welchem Maße jüdische Geschichte mit der allgemeinen Geschichte verbunden war. Er zog eine Parallele zwischen dem Erlöschen der königlichen Linie in Spanien und Portugal und der Vertreibung der Juden. Bezogen auf die jüdische Geschichte zog Jost zudem eine Analogie zwischen dem Verlust der Eigenstaatlichkeit im ersten nachchristlichen Jahrhundert und der Vertreibung von 1492: Beide Ereignisse fungierten in seiner Darstellung als die zentralen Katastrophen innerhalb der jüdischen Geschichte.296 Wie bereits an anderer Stelle erläutert, verstand Jost die Juden als ein im höchsten Maße sittliches Volk. Auch wenn die Vertreibung für den Einzelnen leidvoll gewesen sei, habe das Judentum als Ganzes doch dadurch noch an Energie gewinnen können und sich zu größerer Geisteskraft emporschwingen können. Diese universale Botschaft des Judentums habe neuen Nährboden in den Exil gewährenden Ländern gefunden. Hier hätten sie „sehr glückliche Wohnsitze“ finden und eine „Erleuchterung“ auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft schaffen können. Daraus abgeleitet hätten dann „die Menschenrechte überall zur Wahrheit werden“ können. Die Vertreibung sei keine Katastrophe für das Judentum gewesen, sondern eine Gelegenheit, die universale Botschaft des Judentums – Gerechtigkeit und Menschenrechte – der Menschheit zu schenken.297 295 Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen, Nr. 29 vom 16.7.1841. S. 228. 296 „Bald nach der Verjagung der Juden aus dem Geburtslande, und während der schärfsten Herrschaft der Inquisition, erlosch die königlich Linie sowohl in Spanien als in Portugal, und im ersten Lande hat eine Reihe toller oder geistloser Herrscher die Monarchie selbst dem Gespött der Ungläubigen und der Republikaner bloßgestellt. [...] Aber die NationalGerichte sind ebenso sichtbar in den Leiden der Juden, und das Exil von Spanien war nur eine Wiederholung dessen aus Palästina: ‚Weinet nicht um den Toten, und betrauert ihn nicht; aber weinet um den, der weggeht, denn er kehrt nicht wieder und sieht nimmer sein Geburtsland.‘“ ( Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen, Nr. 29 vom 16.7.1841. S. 228). 297 „Kann man den spanischen Juden, die ein Muster der größten Tugenden waren, eine sittliche Verblendung vorwerfen, die ähnliche Folgen erzeugen konnte? Was sie als Weiterwirkung der Verirrungen jener Vorzeit zu leiden hatten, das litten sie auf der pyrenäischen Halbinsel genugsam; denn ihre Lage war bei aller Wohlhabenheit im Einzelnen, doch im Ganzen wahrlich nicht beneidenswert. [...] Die Vertreibung aus Spanien war übrigens zwar unheilvoll für die persönlich Leidenden, dagegen im höchsten Grade erfolgreich für die Entfaltung des Judentums selbst, welchem dadurch auf dem ganzen Erdenrund die Quellen der in Spanien Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Jüdische Geschichte im Spiegel der iberischen und polnischen   Lebenswelten im Werk von Heinrich Graetz Heinrich Graetz (1817–1891) gilt aufgrund seiner beiden Hauptwerke, der „Geschichte der Juden“ und der „Volkstümlichen Geschichte“, als einer der wirkungsmächtigsten jüdischen Historiker des 19. Jahrhunderts und wurde als historische Person bereits von seinen Zeitgenossen „zum Symbol für jüdische Geschichte“298 erklärt. Unter seinen zahlreichen Ehrungen, die er zu Lebzeiten von jüdischen Institutionen erhielt, gehörte auch die Ernennung zum Ehrenmitglied der historischen Abteilung der „Spanischen Akademie der Wissenschaften zu Madrid“ am 27. Oktober 1888.299 Graetz’ Geschichtswerk wurde in zahlreichen europäischen Sprachen verbreitet und es fehlte in keiner deutsch-jüdischen Hausbibliothek.300 Dadurch „war Graetz in eine europäische Scientific Community historischer Forschung eingebunden“301 und fester Bestandteil der Geschichtsschreibung seiner Zeit.302

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entwickelten Einsichten zugänglich wurden, und welches vielleicht aus jenem Ereignisse eine Festigkeit erlangte, die ohne dasselbe in den meisten Gegenden längst erschüttert worden wäre, wie sie denn sogar auf der pyrenäischen Halbinsel längst erschlafft war. Will man Notwendigkeit oder höhere Leitung in solchen historischen Ereignissen erblicken, so hat sie eher ihren Grund in der beispiellosen Geisteskraft, welche die Vertreibung von neuem erzeugt hat, und die der Gesamtheit fortwährend ein stärkeres Leben einhauchte, als die ganze, lange leidensvolle Vorzeit! - Will man höhere Leitung erkennen, so zeigt sie sich darin, dass der Rat der Frevler zu Schanden geworden, dass das was sie zum Bösen erdacht, vom Himmel in Wohltat verwandelt worden, und dass die Unglücklichen, Verstoßenen, neue, friedliche, zum Teil sogar sehr glückliche Wohnsitze fanden, wo sie eine Erleuchtung vorbereiten halfen, welche dereinst sich weiter verbreiten wird, wenn erst die Menschenrechte überall zur Wahrheit werden!” ( Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden, in: Israelitische Annalen, Nr. 29 vom 16.7.1841. S. 229). Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 104. Markus Pyka: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz. Göttingen 2009. Carsten Schapkow: Konstruktionen jüdischer Geschichte: die iberisch-sephardische und polnisch-jüdische Lebenswelt im Werk von Heinrich Graetz. In: Francois Guesnet (Hg.): Zwischen Graetz und Dubnow: Jüdische Historiographie in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt 2009. S. 63–86. Vgl. Josef Meisl: Heinrich Graetz. Eine Würdigung des Historikers und Juden zu seinem 100. Geburtstage 31. Oktober 1917 (21. Cheschwan). Berlin 1917. S. 69. Bei Meisl findet sich auch eine chronologische Einordnung der einzelnen Bände der Geschichte der Juden. Ulrich Wyrwa: Europäische Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung, S. 26. Zur Konzeption und Methodik der Geschichte der Juden vgl. Pyka: Graetz, S. 226–257. Wyrwa: Europäische Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung, S. 27. Schorsch: Ideology and History in the Age of Emancipation. In: From Text to Context. S. 266–302. 214

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Wie Leopold von Ranke wurde Graetz von der historischen Ideenlehre Wilhelm von Humboldts, aber auch von Ranke selbst geprägt.303 Ranke hatte gefordert, ein „kritisches Studium der echten Quellen“ zu betreiben, „unparteiische Auffassung“ zu üben, denn nur dadurch sei „objektive Darstellung – das Ziel ist die Vergegenwärtigung der vollen Wahrheit“304 aus sich selbst heraus möglich.305 Dennoch gab es auch einen klaren Unterschied zwischen Ranke und Graetz, denn „Ranke leugnete alle nationalen Geschichtstheorien, Graetz war ihr begeisterter Verfechter.“306 Darüber hinaus war es Graetz, der die universale Bedeutung der jüdischen Geschichte für die allgemeine Weltgeschichte deutlich hervorhob und dadurch auch die Notwendigkeit einer jüdischen Partikularität vertreten konnte.307 Der seit den 1860erJahren einsetzenden historisch-konservativen Denkschule öffnete er sich hingegen nicht.308 Graetz blieb als Historiker unabhängig und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit verschrieben, ohne sich einem bestimmten Lager anzuschließen.309 Wie vor ihm bereits bei Zunz, basierte sein Geschichtsmodell auf einer Unterscheidung zwischen einer äußeren Geschichte von Verfolgung und einer inneren Perspektive bezogen auf das religiöse und geistige Leben der Juden.310 Dies zeigte sich bereits in seinem Erstlingswerk „Gnosticismus und Judentum“ aus dem Jahre 1846, das Samson Raphael Hirsch gewidmet war. In dem Buch argumentierte Graetz, der Gnostizismus sei eine Tendenz der Zeit gewesen, an die das Judentum angepasst werden mußte. Der Gnostizismus entspreche dem Pantheismus des 18. Jahrhunderts, an dem sich das Judentum ebenfalls orientieren musste. Graetz favorisierte die „Denkgläubigkeit“, d. h. die Orientierung der Juden an den Kriterien 303 Salo W. Baron: Graetzens Geschichtsschreibung. Eine methodologische Untersuchung. In: Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. Herausgegeben von K. Wilhelm, o. Ort und Jahr. S. 353–360. Hier: S. 354. 304 Leopold von Ranke: Sämtliche Werke. Leipzig. 3. Aufl. 1877. Hier: Bd. 21, S. 114. 305 „Der neue Historismus, der seinen Höhepunkt in Ranke erreichte, vermied es, nach äußeren Kriterien zu urteilen, um jede Kultur aus sich selbst heraus zu verstehen.“ (Michael A. Meyer: Jüdisches Selbstverständnis. In: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. II. S.140). 306 Salo W. Baron: Graetzens Geschichtsschreibung, S. 355. 307 “It became obvious that the recognition of Jewish history would not only do justice to it but disturb the construction of world history that still had Christianity as its backbone.” (Roemer: Jewish Scholarship and Culture, S. 44). 308 Hans Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber. Tübingen 1967. S. 155. 309 „Diese Unabhängigkeit ließ Graetz zwar oft zwischen allen Stühlen der politischen und religiösen Protagonisten sitzen, machte ihn aber auch für ein breites Publikum interessant.” (Brenner, Propheten des Vergangenen, S. 105). 310 Markus Pyka: Graetz, S. 244–245. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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rationaler Philosophie und Wissenschaftlichkeit gegenüber der „Stockgläubigkeit“, also die Ausrichtung auf die jüdische Mystik. Diese Unterscheidung zog sich wie eine rote Linie durch Graetz‘ Geschichtswerk.311 Allerdings sprach er der rabbinischen Literatur stets seine Achtung aus und im vierten Band seiner „Geschichte der Juden“ „verteidigt Graetz […] den Talmud und die rabbinische Literatur gegen ihre inner- wie auch außerjüdischen Widersacher im neunzehnten Jahrhundert.”312 Anders als für die innerjüdischen Widersacher, z. B. Peter Beer (1758–1838)313 und Abraham Geiger, markierte für Graetz jedoch die rabbinische Literatur geradewegs das Wesen des Judentums. Verbunden war diese Wahrnehmung mit einem Verständnis der Existenz der Juden während des christlichen Mittelalters als rechtlich ungesichert. Die in diesem Zeitraum erfolgten zahlreichen Verfolgungen vervollständigten das Bild eines negativ verstandenen christlichen Mittelalters. Diese Einschätzung zeigte sich deutlich in einem Brief an Moses Hess, in dem Graetz schrieb: „Mit diesem [dem Christentum] ist eine absolute politische Freiheit nicht verträglich, wenigstens nicht in Europa.“314 In historiografischen und fiktionalen Beschreibungen des 19. Jahrhunderts wurden Juden insbesondere als Vermittler zwischen jüdischer und allgemeiner Kultur rezipiert. Verbunden wurde diese Ansicht mit dem Nachweis ihrer bewiesenen Verbesserung, die es ihnen immer wieder ermöglichte, sich in anderen Konstellationen zur Mehrheitsgesellschaft zu regenerieren. Die Judenheiten Osteuropas wurden in diesem Vergleich zwischen Aschkenas und Sepharad miteinbezogen. Auch Heinrich Graetz interpretierte das Verhältnis der iberisch-sephardischen und der polnischen Lebenswelten und bezog es auf die Situation der deutschsprachigen Juden seiner Zeit, die er zweifellos als Vorbild für alle anderen Judenheiten auf dem Wege nach Emanzipation und Gleichberechtigung wähnte. Auch wenn die Verantwortung von Ausgrenzung und Verfolgung zu einem großen Anteil als in der Verantwortung der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft liegend verstanden wurde, hatten die innere Konstitution jüdischer Gemeinden und die Leistungen einzelner herausragender Figuren des sephardischen Judentums, z. B. Moses Maimonides oder Menasseh ben Israel, entscheidenden Anteil daran, dass die sephardischen Juden in toto als integriert wahrgenommen wurden. Insbesondere die Fähigkeit einzelner Juden, säkulare Wissenschaft und gelehrtes religiöses Judentum miteinander in Einklang zu brin311 Michael Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 93. 312 Michael Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 88. 313 Louise Hecht: Peter Beer (1758–1838). Ein jüdischer Aufklärer in Böhmen. Der Pädagoge und Reformer Peter Beer. Köln 2008. 314 Brief Heinrich Graetz an Moses Hess, Nr. 35 vom 31.3.1868. In: Edmund Silberner (Hg.): Briefe an Moses Hess. Insituto Giangiacomo Feltrinelli Annali IV. Mailand 1961. Hier: S. 388. 216

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gen, wurde bei Graetz als Stärke begriffen. Den polnischen Juden wurde diese Eignung aufgrund ihrer als rückwärtsgewandt und unzivilisiert verstandenen Lebensweise abgesprochen. Diese negative Charakterisierung des polnischen Judentums setzte sich bereits in der Haskalah durch, wenn der sephardische Jude als Idealtypus eines edlen Juden im Kontrast zu dem sich auf das Talmud-Studium konzentrierenden polnischen Juden ausgerichtet wurde.315 Der polnische Jude orientierte sich im Gegensatz zum sephardischen Juden eben nicht an allgemeiner Bildung und Gelehrsamkeit. Mittels dieser retrospektiven Projektion von Eigenschaften stellten die Maskilim sicher, dass Juden bereits in der Vergangenheit willens und fähig gewesen seien, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren.316 Aufgrund dieser Eignung konnten iberisch-sephardische Juden als Vorbilder für die eigene Gegenwart im Zeitalter der Emanzipation herangezogen und allen anderen Deutschen gleichgestellt werden. Auch Graetz entwickelte ein Verständnis der iberisch-sephardischen Erfahrung und bezog diese auf die Situation der Juden in Deutschland, um somit dem bestehenden Druck nach Assimilation ein eigenständiges Potenzial entgegenzusetzen. Ferner sollte der christlichen Mehrheitsgesellschaft gezeigt werden, dass Juden in der Vergangenheit bereits schon einmal integriert gewesen waren. Dieses eigene Potenzial musste auch deshalb hervorgebracht werden, um einem bereits in der Aufklärung verstärkt artikulierten Vorbehalt gegenüber einem als unhistorisch und unphilosophisch wahrgenommen Judentum, der in der Annahme mündete, Judentum könne nicht Bestandteil der aufgeklärten Welt werden, entgegenzuwirken. Mit der Etablierung eines Gegenbildes zur iberisch-sephardischen Kultur in Form eines rückwärtsgewandten, polnischen Judentums konnte dies auch bei Graetz wirkungsvoll geschehen. Graetz’ „Konstruktion jüdischer Geschichte“ und der   Mythos von al-Andalus Die Vorbildfunktion der iberisch-sephardischen Kultur im Zeitalter der Emanzipation basierte demnach auf der Gegenüberstellung von iberisch-sephardischem

315 Lehmann: Mendelssohn and the Me’asfim, in: Leo Baeck Institute Yearbook XX (1975), S. 87–108. 316 Hinsichtlich des Bildes vom sephardischen Juden in der Haskalah vgl.: Carsten Schapkow, Deutsch-jüdische Presse in der Haskalah und das iberisch-sephardische Vorbild. In: S. Marten-Finnis/ M. Nagel (Hg.): Die jüdische Presse: Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum / The European Jewish Press: Studies in History and Language. Bremen 2008. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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und polnischem Judentum. Innerhalb der „Geschichte der Juden“317, erschienen in 11 Bänden zwischen 1853 und 1875, und der „Volkstümlichen Geschichte der Juden“318, erstmals erschienen zwischen 1888 und 1891, gewährte Heinrich Graetz der Beschreibung der iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur breiten Raum. Beide Werke erreichten eine breite Leserschaft.319 Graetz vertrat die Vorstellung, die Idee einer Totalität des Judentums sei „nur an seiner Geschichte erkennbar“320, wie er in seiner Schrift „Die Konstruktion der Jüdischen Geschichte“ im Jahre 1846 formulierte. Damit erteilte Graetz dem Konzept, jüdische Geschichte sei im Wesentlichen auf das Deutungsmuster der Religion zu konzentrieren, eine deutliche Absage. Für ihn war es signifikant, „dass die jüdische Geschichte in allen ihren Phasen, selbst in den scheinbaren Irrgängen des Zufälligen, eine einheitliche Idee versichtbart [habe], dass sie eben die reale Explikation eines Grundbegriffs bildet.“ Dabei seien es insbesondere Einflüsse von außen gewesen, die „das Judentum immer wieder zu einer geistigen Einheit“321 geformt hätten. Die erste Phase jüdischer Geschichte, „der vorexilische Zeitraum“, sei durch seinen vorherrschend politischen Charakter gekennzeichnet gewesen, die zweite Phase, der „nachexilische Geschichtsverlauf “, habe „ein überwiegendes religiöses Gepräge“322 besessen, die dritte Phase bezeichnete Graetz als die „theoretisch-philosophische in der letzten diasporischen Periode“323, und er hielt als zentrales Charakteristikum dieser Zeit fest: „Die Träger des ersten geschichtlichen Zeitraums sind politische Bürger, Kriegshelden, Könige mit nur geringem religiösen Anflug, die des zweiten Zeitraums sind fromme Männer, Weise, Lehrer, Schüler, Sektierer, die nur ein schwaches soziales Interesse haben.“324 Einflüsse von außen, so nennt Graetz beispielsweise den Hellenismus, hätten das Judentum immer wieder zu einer geistigen Einheit herangeführt: „Dieses fremde Element, das eine tiefe Bewegung, eine fortschreitende Undulation im Judentume hervorgerufen [habe], war der Hellenismus“. Dieses „fremde Element“ sei „im Laufe der Zeit mit demselben [dem Judentum, C. S.] verarbeitet“ worden und

317 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Leipzig u. a. 1853–1875. Zur Konzeption und Methode von Graetz’ Geschichte der Juden, vgl. Pyka: Graetz, S. 226–257. 318 Ders. Volkstümliche Geschichte der Juden in drei Bänden. 2. Aufl., Berlin 1923. 319 Nils Roemer: Jewish Scholarship, S. 62–64 und S. 74–76. 320 Heinrich Graetz: Die Konstruktion der Jüdischen Geschichte. Eine Skizze. ND Berlin 1936. (OA 1846) S. 8. 321 Graetz: Konstruktion, S. 9. 322 Graetz: Konstruktion, S. 20. 323 Graetz: Konstruktion, S. 96. 324 Graetz: Konstruktion, S. 20. 218

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„in dasselbe eingefügt“ und sein „schädlicher Einfluss ist überwunden worden.“325 Graetz verstand Judentum als immer währende Fortentwicklung im Einklang mit den nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaften aus sich selbst heraus, ohne jedoch, wie es Isaak Marcus Jost gefordert hatte, ein vollständiges Aufgehen in diesen anzustreben. Dieser so verstandene Fortschritt sei auch den Juden während ihres Weges gemeinsam mit den Römern auf die Iberische Halbinsel zu eigen gewesen, von wo aus sie weiter nordwärts nach Deutschland und Frankreich zogen, aus ihrer Wanderung „Leiden aber auch Gewinn“ ziehend. Dies sollte eines der zentralen Paradigmen in Graetz’ Geschichtswerk werden. „Mit dem Leitmotiv ‚Martyrium‘ drückte Graetz den Gegensatz aus, der zwischen der jüdischen Geschichte und der Entwicklung der europäischen Nationen besteht, die das Thema der zeitgenössischen Historiografie bildeten.“326 Er wies darauf hin, dass der Einfluss durch die Römer und den Islam gleichermaßen bedeutsam für die Juden gewesen sei: „Mit dem Römertume ließ sich das Judentum auf der pyrenäischen Halbinsel, in Gallien, am Rhein nieder und wanderte dann immer weiter in die sich immer mehr erweiternden Marken des germanischfränkischen Reiches“, ebenso „mit der überflutenden Strömung der islamitischen Völker kam auch das Judentum in neue Länder und Situationen und zog [daraus] Leiden, aber auch Gewinn.“327 Graetz integrierte die jüdische Geschichte in Spanien als festen Bestandteil in die europäische Kulturtradition, die insbesondere als Gegenbild zum polnischen Judentum ausgerichtet wurde. Im Mittelpunkt stand dabei die vorgenommene Einordnung der iberisch-sephardischen Geschichte in das Spannungsverhältnis von jüdischer Minderheit und nicht jüdischer Mehrheit. Überlegungen zur Vermittlung eines jüdischen Anteils in die allgemeine Kultur, die auch in umgekehrter Richtung prägend für die Ausbildung einer europäischen Kultur gewesen sei, nahmen in seiner Konzeption von jüdischer Geschichte einen zentralen Stellenwert ein. Die Interpretation der jüdischen Geschichte als eine von außen auferlegte Geschichte des Leidens und des Martyriums war bei Graetz mit dem Versuch verbunden, diese als eine geistige Geschichte aus dem Judentum heraus zu verstehen. Dabei vollzog Graetz eine klare Trennung zwischen den Epochen jüdischer Geschichte, die entweder eher dem Erklärungsmuster der Rationalität oder dem der Irrationalität und „Schwärmerei“ entsprachen, die Graetz insbesondere bei den Vertretern der jüdischen Mystik erkannte.328

325 326 327 328

Graetz: Konstruktion S. 41. Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 148. Graetz: Konstruktion, S. 53. Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 323. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Graetz’ erklärtes Ziel war es, mit der „Geschichte der Juden“ den jüdischen Lesern wieder einen Zugang zur eigenen Geschichte zu vermitteln, von der sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr entfernt hatten. Dabei sollte es möglich sein, das Gefühl einer Einheit im Judentum zu vermitteln, die in den Jahrzehnten des Emanzipationsprozesses sichtbar gelitten hatte. Daran anknüpfend entwickelte sich ein Begriff von jüdischer Geschichte, der ausdrücklich als Bestandteil der allgemeinen europäischen Geschichte verstanden und somit auch gegen eine nationale Geschichtsschreibung in Deutschland entwickelt wurde. Dazu ist es erforderlich, Graetz von beiden Perspektiven zu begreifen: als wortgewaltigen Vertreter der Wissenschaft des Judentums und als einen sich jüdisch und deutsch verstehenden Historiker, der auch innerhalb der deutschen Geschichtsschreibung zu verorten ist.329 Diese Auffassung gegenüber ihm wurde jedoch von deutschen Historikern wie Treitschke nicht geteilt.330 Die Dichotomie jüdischer Geschichte als Leidengeschichte und Ausdruck von geistiger Kraft aus dem Judentum heraus war zentral für Graetz’ Geschichtswerk. Er war auch der erste moderne jüdische Historiker, der ein Strukturprinzip etablierte, indem er die unterschiedlichen Zentren des Judentums über Raum, Zeit und Schwerpunktthemen miteinander in Verbindung setzte.331 In seiner Analyse der iberisch-sephardischen Kultur, mit der er sich das erste Mal ausführlich im fünften Band seiner „Geschichte der Juden“ unter dem Titel „Vom Abschluss des Talmud (500) bis zum Aufblühen der jüdisch-spanischen Kultur (1027)“ auseinandersetzte, stellte er die iberisch-sephardische Geschichte als Bestandteil der europäischen Kulturtradition vor. Graetz leitete das Kapitel zur jüdisch-spanischen Zeitepoche mit folgendem Satz ein: „Mit dem Untergange des Exilarchats und der suranischen Hochschule verlor Asien die Führerschaft über die Gesamtjudenheit.“332 Diese sollte dann auf die iberisch-sephardischen Juden übergehen. Graetz etablierte hier gleichzeitig einen Diskurs, der in der Suche nach dem authentischen Juden den sephardischen idealisierte und ihn als „Fürsten unter den Juden“333 und Importeur von Kultur in einem europäischen Traditionszusammenhang zeigte. Dadurch sei dem sephardischen Juden die Rolle zugefallen, „die Führerschaft über die Gesamtjudenheit“334 329 Brenner: Propheten des Vergangenen S. 94. 330 Walter Boehlich (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt/Main 1965. Außerdem: Nils Roemer: Jewish Scholarship, S. 84–88, Michael Brenner: Propheten. Schorsch, Thinking Historically. In: From Text to Context, S. 289. 331 Pyka: Graetz, S. 241. 332 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 5. S. 326. 333 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9. S. 2. 334 „Kein Land war unter den damaligen politischen und kulturgeschichtlichen Verhältnissen geeigneter, Mittelpunkt für die Gesamtjudenheit zu werden und die von Babylonien wei220

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einzunehmen. Es habe ein Transfer von Wissen stattgefunden, indem die gelehrten Traditionen von Judäa und Babylon, wo sie in „knöchernder Gestalt, voller Hinfälligkeit und im Greisenalter stehend“335 nach Spanien übergegangen seien. Dort verjüngte sich das Judentum, wobei „ein Wetteifer des Wissens einsetzte“.336 Die Entfaltung der arabischen Kultur auf der Iberischen Halbinsel bot den Juden viel Freiraum zur eigenen geistigen Entfaltung bot. „Es gab also im zehnten Jahrhundert nur ein einziges Land, das wie dazu geschaffen schien, dem Judentume ein fruchtbarer Boden zu werden, worauf es die schönsten Blüten treiben und zu einer höheren Entwicklung heranreifen konnte – das mohammedanische Spanien.“337 In der „Volkstümlichen Geschichte“ sprach Graetz hingegen von diesem Kulturraum als das „mohammedanische (maurische) Andalusien“.338 Eine „innige Beteiligung“339 habe die iberischen Juden dazu prädestiniert, Spanien als ihr Heimatland und sogar noch mehr als Palästina zu lieben. Der Gegensatz von „altersschwach“ und „befruchtend“ impliziert, was Graetz von der iberischsephardischen Kultur annahm, nämlich ein geistiger Sammelpunkt für alle Juden in der Diaspora und eben nicht altersschwach zu sein. Dabei wird deutlich, dass sich die Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur bei Graetz nicht allein als historisches Exempel ohne Wirkung auf die Gegenwart verstand: Die iberisch-

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chende Führerschaft zu übernehmen, als Spanien oder das mohamedanische (maurische) Andalusien. Es war wie dazu geschaffen, dem Judentume ein fruchtbarer Boden zu werden, worauf es die schönsten Blüten treiben konnte.“ (Graetz: Volkstümliche Geschichte der Juden. Band 2, S. 296–297). Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 5, S. 391. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 5, S. 392. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 5. S. 356. Graetz: Volkstümliche Geschichte, Band 2. S. 7. „Wenn die Geschichte der Juden in Byzanz, Italien, Frankreich nur ein geringes Interesse darbietet, so erhebt sich die Geschichte derselben auf der pyrenäischen Halbinsel zu einer höheren Bedeutung. Die jüdischen Bewohner dieser glücklichen Halbinsel haben durch ihre innige Beteiligung an dem Lande, das sie lieben, wie man nur ein ererbtes Vaterland liebt, zu dessen Größe beigetragen und dadurch weltgeschichtlich eingegriffen. Für die Entwicklung des Judentums hat das jüdische Spanien fast ebenso viel beigetragen wie Judäa und Babylonien, und wie in diesen Ländern, so ist auch in jenem an fast jeden Fußtritt für den jüdischen Stamm eine unvergessliche Erinnerung geknüpft. Cordova, Granada und Toledo heimeln die Juden ebenso verwandt an, wie Jerusalem und Tiberias und fast noch mehr als Nahardea und Sura. In Spanien erlangte das Judentum, nachdem es im Morgenlande zum Stillstand gekommen und altersschwach geworden war, neue Jugendfrische und wirkte befruchtend auf einen weiten Kreis. Spanien sollte einen neuen Mittelpunkt für die weithin Zerstreuten bilden, in dem sie sich geistig sammeln konnten.“ (Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2. S. 196–197.) Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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sephardische Kultur in ihren unterschiedlichen geographischen Zentren wurde geistiger Mittelpunkt auch der im Exil lebenden iberischen Juden. Darüber hinaus seien Juden als Vermittler von Kultur mittels ihrer Sprachen aufgetreten. Zum einen im östlichen Mittelmeerraum durch das Judenspanische und zum anderen in Polen durch das Deutsche. Denn „wie die spanischen Juden einen Teil der europäischen oder asiatischen Türkei in ein neues Spanien verwandelt haben, so ‚verpflanzten‘ die deutschen Juden während des Mittelalters die deutsche Sprache nach Polen und impften sie den eingeborenen Juden ein.“340 Auch Graetz kleidete die Lebensbedingungen der Juden im muslimischen Spanien in den Topos des Wachsens und Gedeihens, wenn er ausgehend von dem Anspruch der geistigen und moralischen Führung der „Gesamtjudenheit“ davon sprach, dadurch könne „dem Judentume ein fruchtbarer Boden [...] werden, worauf es [das Judentum, C. S.] die schönsten Blüten treiben könnte“341 „und zu einer höheren Entwicklung heranreifen konnte.“342 Dieses Bild des „fruchtbaren Bodens“, der alsbald die „schönsten Blüten“ hervorbringen konnte, korrespondierte mit den von Leopold Zunz gemachten Einordnungen von Spanien als einem „hesperischen Land“, das eine vollständige Umkehrung der „polnisch-jüdischen Barbarei“ ausmachte. Klar favorisierte er die Entfaltungsmöglichkeiten jüdischer Lebenswelten in einer islamisch dominierten gegenüber einer christlichen Mehrheitsgesellschaft, weil sich Juden hier stärker mit ihrem Judentum identifizieren konnten, ohne verfolgt zu werden. Im Vergleich mit den Christen in al-Andalus, die „ihre Muttersprache, das gotische Latein, vergaßen [...] und sich des Christentums schämten“, attestierte er den Juden, „bei zunehmender Bildung nur noch mehr Vorliebe und Begeisterung für ihre urheimatliche Sprache, ihr heiliges Schrifttum und ihre angestammte Religion“343 ausgebildet zu haben, was einzelne Juden zu „Führern arabischer Stämme“ und „Lehrern des arabischen Volkes“344 prädestinierte. Juden in al-Andalus fungierten nicht nur als Vermittler von Kultur, sondern sie waren auch Soldaten „und ihr kriegerischer Mut erwarb ihnen besondere Auszeichnung.“345 Anders als Zunz wies Graetz nachdrücklich auf den grundsätzlich positiven Einfluss, den der islamische Kulturbereich auf die christlichen Reiche der Iberischen Halbinsel ausübte, hin. Dieser habe sich in einer toleranten Haltung gegenüber den Juden ausgedrückt, so dass sich Juden „in Spanien unter der Herrschaft des Kreu340 341 342 343 344 345

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9. S. 71–72. Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 296–297. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 5, S. 356. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 2, S. 297. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 203. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 199. 222

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zes ebenso wohl wie unter dem Halbmonde“346 fühlen konnten. Anders als Zunz beließ es Graetz jedoch keinesfalls bei der Beschreibung dieses Zustandes, sondern forderte eine aktive Rolle der zeitgenössischen sephardischen Juden. Diese Unterscheidung gewinnt noch dadurch an Deutlichkeit, wenn Graetz Spanien als „ererbtes Vaterland“347 der Juden interpretiert, das auch nach der Vertreibung zentral im Bewusstsein dieser Juden als Importeuren von Kultur verhaftet blieb und „die spanische Sprache, die spanische Würde und Vornehmheit“ auch im Exil „hegten und pflegten“ [...] bis auf den heutigen Tag.“348 Im Rückblick habe somit „das spanische Kalifat das Mittelalter fast vergessen gemacht“, weil Juden integrierter Bestandteil der islamischen Gesellschaft gewesen seien. Unter Mittelalter verstand Graetz nicht allein die Epoche, sondern die Region, „das christliche Europa“, das in „vollständige Barbarei“349 versunken gewesen sei. Der Topos eines christlichen Europas wurde wie bereits erwähnt von Novalis in seiner Rede „Die Christenheit oder Europa“ an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verfasst und ist für sich genommen vielschichtig angelegt.350 Novalis fügte in ihr sein Europabild in ein Triadenschema, das auf dem Gedanken basierte, an einer Schwelle zu stehen nach deren Überschreiten eine Einheit Europas entstehen könnte. Diese Einheit sei durch wesentliche Elemente des Christentums gespeist, allerdings ohne auf die Autorität der Kirchen angewiesen zu sein. Nicht christliche Minderheiten wurden in der Rede nicht berücksichtigt, ein durch die Aufklärung negativ konnotiertes Mittelalterbild wurde hier positiv umgedeutet.351 Vor dem Hintergrund dieser Nichtberücksichtigung der jüdischen Minderheit im christlichen Europa des Mittelalters nahm al-Andalus als Gegenbild eine wichtige Funktion bei jüdischen Intellektuellen im Umkreis der Wissenschaft des Judentums ein. Die Einbindung von Juden als eine von mehreren religiösen Gruppen in die Geschicke al-Andalus’ ermöglichte die Ausgestaltung einer Form kultureller Vermittlung, die sich kulturell besonders deutlich darin ausdrückte, dass die Juden hier zwar das Arabische ihrer Umgebung sprachen, darüber hinaus aber auch in der hebräischen Sprache zur Meisterschaft gelangt seien. Das „Konzept einer offenen Kultur“352 ging bei Graetz auf al346 347 348 349 350

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 336. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 196. Graetz:Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 12. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 336. Zur Wirkungsgeschichte des Novalis und seines Europa-Gedankens vgl.: Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. 351 Novalis: Die Christenheit oder Europa, in: Mähl (Hg.), Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 50–62. 352 Homi K. Bhabha: Introduction to Locations of Culture. In: Ders., The location of culture, S. 1–18. Hier: S. 1. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Andalus bezogen so weit, dass er den Arabern unterstellte, sie selbst seien stolz auf die hebräischen Dichtungen gewesen und hätten diese in der Originalsprache gelesen.353 Wenn Graetz einzelne sephardische Juden als „Fürsten unter den Juden“354 und Kulturträger interpretierte, geschah dies immer, um ihre zeitlich und räumlich über die Vertreibung hinausgehende Wirksamkeit hervorzuheben.355 Nur die sephardischen Juden seien in der Vergangenheit in der Lage gewesen, ausgehend von ihrer Funktion als „Lehrer des in Barbarei steckenden Europas“356 als „Kulturträger für Europa“ wirksam zu werden.357 Ihre konstante Liebe zur spanischen Heimat sei nur deshalb zustande gekommen, weil die iberischen Juden an den kulturellen Entwicklungen in diesem Lande insbesondere unter arabischer Herrschaft als gleichberechtigte Bürger teilhaben konnten und infolgedessen Spanien auch nach der Vertreibung als „ererbtes Vaterland“ wahrnahmen. Damit ging Graetz wieder auf seine in der „Konstruktion der Jüdischen Geschichte“ gemachte Interpretation der Idee der Einheit im Judentum zurück. Dieser Deutung lag bezogen auf die jüdische Geschichte in al-Andalus eine Innen- und Außenperspektive zugrunde. Den Außenbereich stellte die arabische Mehrheitsgesellschaft dar, die „dem Judentum ein fruchtbarer Boden“ wurde, auf dem dieses „die schönsten Blüten treiben konnte.“358 Bedingt durch diese äußeren Rahmenbedingungen habe das Judentum eine innere Gestaltungskraft aus sich selbst heraus entwickeln können. Auf der Grundlage der Synthese beider Perspektiven sei es dem iberisch-sephardischen Judentum möglich gewesen, kulturell zwischen innen und außen zu vermitteln und damit gleichsam in die allgemeine Kultur zu wirken. Auf dieser Grundlage konnte sich eine ganz bestimmte Form von Zugehörigkeit ausbilden, die neben der Adaption der Mehrheitskultur und Integration in diese der jüdischen Tradition treu blieb. Graetz stellte die Juden dabei den Muzarabern gegenüber. Muzaraber bezeichnete die Gruppe christlicher Bewohner auf der Iberischen Halbinsel, die nach dem Zusammenbruch des Westgotenreichs (ab 711) unter maurische Herrschaft gekommen war und sich in der äußeren Lebensform den neuen Herren anpasste. Die Auseinandersetzung mit arabischer Sprache und Bildung führte Graetz zufolge dazu, dass die Muzaraber 353 Norman A. Stillman: The Judeo-Islamic Historical Encounter: Visions and Revisions. In: T. Tarfitt (Hg.), Israel and Ishmael. Studies in Muslim-Jewish Relations, Richmond 2000, S. 1–12. Hier: S. 5–6. 354 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 2. 355 Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 295. 356 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 1. 357 Margarete Schlüter: Heinrich Graetzens Konstruktion der jüdischen Geschichte - Ein Gegenentwurf zum Begriff einer Wissenschaft des Judentums. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 24 (1997), S. 107–127. 358 Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, 196f. 224

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sogar „ihre Muttersprache […] vergaßen.“ Den Juden sei ihr hoher Grad an Assimilation jedoch niemals zu eigen gewesen, vielmehr hätten sich „bei zunehmender Bildung nur noch mehr Vorliebe und Begeisterung für ihre urheimatliche Sprache, ihr heiliges Schrifttum und ihre angestammte Religion“ ausgedrückt und somit die Verbindung zum Judentum vertieft.359 Dies bedeutete jedoch nicht, dass eine Anpassung an die arabische Kultur und Wesensart bei den Juden nicht erfolgte. Am Beispiel der Stadt Cordova führte Graetz aus, in welchem Maße die Juden sich äußerlich an die Mehrheitskultur der Araber anpassten: „Cordova zählte an die tausend wohlhabende Familien, die an Prachtliebe mit den Arabern wetteifern konnten. Sie kleideten sich in Seide, trugen kostbare Turbane und fuhren in Prachtwagen. Sie ritten hoch zu Ross mit wallenden Federbüschen und eigneten sich ein ritterliches Wesen und eine Grandezza an, die sie vor den Juden anderer Länder vorteilhaft auszeichnete.“360

Durch die erfolgreiche Aneignung von Attributen und Verhaltensweisen der Mehrheitskultur gelang es Juden, mit den Arabern zu wetteifern. Wie auch die Araber trugen sie kostbare Kleidung und bewegten sich auf exklusive Weise fort. Ihr Gebaren war herrschaftlich. Graetz hingegen setzte die Juden in Spanien anstelle der Araber als Ritter. Ausgehend von der Freiheit der Juden unter islamischer Herrschaft, die sich besonders auch in deren produktiver Tätigkeit in den Wissenschaften und Künsten niederschlug, wurden auch die christlichen Reiche in Spanien von einer toleranten Grundhaltung gegenüber den Juden beeinflusst. Auch hier konnten Juden in herausragender Position dem Staat ihre Kenntnisse zur Verfügung stellen, der diese gerne nutzbar machte. Im Wesentlichen widmeten sich die Juden jedoch der Wissenschaft und konnten in den ersten Jahrzehnten auch unter dem Kreuz geschützt und respektiert leben.361 Für Graetz ging das sephardische Judentum auf der Iberischen Halbin359 „Aber während die Muzaraber ihre Eigentümlichkeit an das arabische Wesen so weit aufgaben, dass sie ihre Muttersprache, das gotische Latein, vergaßen, ihre Bekenntnisschriften nicht mehr verstanden und sich des Christentums schämten, empfanden die Juden Spaniens bei zunehmender Bildung nur noch mehr Vorliebe und Begeisterung für ihre urheimatliche Sprache, ihr heiliges Schrifttum und ihre angestammte Religion.“ (Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 297). 360 Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 308. 361 „Das Beispiel der mohammedanischen Höfe wirkte auf die christlichen Staaten. Auch sie nahmen ausgezeichnete Juden in den Staatsdienst und zogen von deren Gewandtheit, Brauchbarkeit und Treue einen nicht geringen Gewinn für das Wachstum ihrer Macht. Daher blieb die Stellung der spanischen Juden anfangs von den Fortschritten der christlichen Waffen und der allmählichen Auflösung der mohammedanischen Fürstentümer unangetastet. Sie fühlten sich in Spanien unter der Herrschaft des Kreuzes ebenso wohl wie unter Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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sel eine fruchtbare Symbiose mit der arabischen Mehrheitsgesellschaft ein, die sich als Produkt einer gemeinsam ausgeübten Sittlichkeit verstand und auch für eine jüdische Leserschaft in der Gegenwart von großem Wert sei. „Es war nicht müßige Gelehrsamkeit, sondern Herzensdrang, den augenscheinlichen Beweis zu führen, dass das Judentum zu allen Zeiten mit der Gesittung Hand in Hand ging. Die jüdischspanische Geschichtsepoche übte eine besondere Anziehungskraft auf die jüdischen Forscher aus. Sie zeigte, was die Juden in Gedankenreichtum und schöner Formgestaltung geleistet haben und zu leisten vermögen.“362 Unter „Gesittung“ verstand Graetz eine hohe moralische Einstellung. Ein gesittetes Wesen ließ auf Wohlerzogenheit und Bildung schließen. Kriterien, die für nach Integration strebenden deutschen Juden von zentralem Wert waren. Diese Verhaltensweise war Bestandteil der Forderung nach einer bürgerlichen Verbesserung der Juden. Allerdings wurde Sittlichkeit von jüdischer Seite auch als universale Botschaft des Judentums an die Welt verstanden, den Monotheismus zu verbreiten. In Anknüpfung an Kants kategorischen Imperativ wurde Sittlichkeit in eine universalistische Position gegossen. 363 Diese positive Einschätzung der Lebensbedingungen der Juden in Spanien unter moslemischer und christlicher Herrschaft stand derjenigen in Frankreich und Deutschland gegenüber, wo Juden – solange sie nicht ganz vertrieben worden waren – stets unter christlicher Herrschaft gelebt hatten. Dies habe zu einer geistigen Armut unter den Juden geführt.364 Die Politik gegenüber den Juden radikalisierte sich auch im christlichen Spanien und führte schließlich zur Vertreibung der Juden von 1492 aus Spanien und 1497 aus Portugal. Dieses in der Folge von Graetz charakterisierte „dunkle Mittelalter“ oder „Zeitalter der Finsternis“ wurde als eine von außen an das Judentum herangetragene Gefahr interpretiert. Allerdings verwandten bereits in der Haskalah die Maskilim Beschreibungen wie „Finsternis“ und „dunkles Mittelalter“, auch um sich gegen das in den Augen der Maskilim rückständige aschkenasische Judentum zu wenden. Diese Abgrenzung von der „deutsch-polnische[n] Barbarei“ als Bild einer rückständigen jüdischen Kultur wurde bereits von Leopold Zunz 1823 in der „Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums“ konstatiert.365

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dem Halbmonde, und konnten ihrem Drange nach Forschung ungehemmt folgen.“ (Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 336). Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 577. Pyka: Graetz, S. 259. „In der Zeit, als Spanien eine Fülle ausgezeichneter Persönlichkeiten erzeugte, waren Frankreich und Deutschland arm an bedeutenden schöpferischen Männern. [...] Es fehlte ihnen aber höherer Sinn und Schwung.“ (Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 342–343). Zunz: Über die in den hebräisch-jüdischen Schriften vorkommenden hispanischen Ortsnamen, in: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums. Berlin 1823. Bd. 1, S. 114–176. Hier: S. 127. 226

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Graetz führte diesen Ansatz fort. So griff er Juden in herausragenden Positionen, die „Granden“366, im christlichen Spanien Ende des 14. Jahrhunderts aufgrund ihrer vollständigen Assimilation scharf an. Ihr Abfall vom Judentum habe sie für die sich am Horizont abzeichnende Vertreibung mitverantwortlich werden lassen. Sowohl neoorthodoxe als auch zionistische Autoren griffen diese Position im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auf, wiewohl sich ihre Schlussfolgerungen von denen Graetz’ unterschieden. Bei seiner Auseinandersetzung mit der Vertreibung wird nochmals deutlich, wie sehr Graetz die Rekonstruktion der iberisch-sephardischen Juden als „Kulturträger für Europa“367 im Rahmen einer europäischen Kulturtradition ausrichtete. Er stellte der Dominanz des Christentums ein eigenständiges Potenzial entgegen, das sich in der Etablierung eines Topos vom Goldenen Zeitalter in al-Andalus als Abgrenzung von einem als dunkel aufgefassten christlichen Mittelalters in Aschkenas ausgestaltete. Die Vertreibung interpretierte Graetz als eine Geschichte des Verlustes für Spanien selbst, wenn er beklagte: „Spanien verlor damit den zwanzigsten Teil seiner gewerbefleißigsten, betriebsamsten, gebildetsten Bewohner, überhaupt seinen gesunden Mittelstand, diejenige Volksklasse, welche den Landesreichtum nicht bloß schuf, sondern ihn auch wie das Blut im Organismus in steter Bewegung hielt.“368 So wie die Juden einst mit den Arabern die Kultur nach Europa gebracht hätten, nähmen sie diese nun fort aus Spanien. „Der schwungvolle Geist, die Rührigkeit und die blühende Kultur wanderten mit den Juden aus Spanien aus“, ja schlimmer noch: Spanien „ging der Barbarei entgegen.“369 In diesem Verständnis wurde die Bedeutung der sephardischen Juden auch im Exil konserviert. Die Niederlande wurden zum Zentrum eines neuen geistigen Europas, in dessen Mittelpunkt wiederum ein „neues großes Jerusalem“370 errichtet werden konnte. Graetz zog hier eine direkte Verbindung zur Vertreibung der Juden, denn nun würden die Verluste der Vertreibung für Spanien einer neuen, besseren Heimat der Juden zufließen. Ihre Duldung wurde dadurch erleichtert, dass sie „die pompös klingenden Adelsnamen“ mitbrachten und darüber hinaus über eine „gebildete Sprache, Haltung und Manieren“371 verfügt hätten. Aber diese Kompatibilität mit ihrer christlichen Umgebung führte zumindest in den ersten Jahren der Ansiedlung zu einer wieder erstarkten Religiosität, der Graetz’ wohlwollend gegen366 367 368 369 370 371

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 8, S. 378. Schlüter: Heinrich Graetzens Konstruktion der jüdischen Geschichte, S. 107–127. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 8, S. 349. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 8, S. 351. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 1. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 58. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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überstand, weil sie durch eine ehrliche Hingabe gekennzeichnet gewesen sei.372 Die Vertreibung der sephardischen Juden führte nicht zu einer Wahrnehmung von Exil, das mit Verzweiflung gleichzusetzen war. Die sephardischen Juden waren vielmehr in der Lage, aufgrund ihrer ruhmreichen Vergangenheit, ihrer Integration in eine nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft und ihrer erfolgreichen Partizipation an derselben, sich auch im Exil anzupassen. Dennoch müsse auch auf den bestehenden Hochmut der sephardischen Juden nach ihrer Vertreibung verwiesen werden. Diese hätten nämlich nach ihrer Vertreibung dem Glauben angehangen, aufgrund ihrer gegenwärtigen Situation von Gott eine Sonderstellung erhalten zu haben: „Aber gerade die Riesenhaftigkeit des Elendes, das sie erduldet, hob das Bewusstsein des sephardischen Juden zu einer Höhe, welche an Hochmut streifte. Wen Gottes Hand so wuchtig schwer, so nachhaltig getroffen, wer so unsäglich viel gelitten, der müsste eine Sonderstellung haben, müsste ein besonders Auserwählter sein, dieser Gedanke oder dieses Gefühl lebte in der Brust aller Übriggebliebenen mehr oder minder klar. Sie betrachteten ihre Vertreibung der pyrenäischen Halbinsel als ein drittes Exil und sich selbst als besondere Lieblinge Gottes, die er gerade wegen seiner größeren Liebe zu ihnen nur umso härter gezüchtigt habe.“373

Aus dieser so empfundenen Sonderstellung habe sich eine Überlegenheit den anderen Juden gegenüber aufgebaut: „Alles hatten sie verloren, nur ihre spanische Grandezza, ihr vornehmes Wesen nicht. So demütig sie auch waren, verließ sie ihr Stolz nicht, und sie machten ihn überall geltend, wo ihr wandernder Fuß einen Ruhepunkt fand. Sie hatten auch einigermaßen die Berechtigung dazu, [...] so waren sie doch den übrigen Juden aller Länder an Bildung, Haltung und auch an innerem Gehalt bei Weitem überlegen, wie sich in ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Sprache zeigte.“374

Bei aller gegebenen Überheblichkeit seien diese Juden jedoch für ganz Europa bedeutsam gewesen, weil sie das spanische Wesen nach Europa brachten. Und dieses Wesen drückte sich bei Graetz als Sinnbild von Kultur insbesondere durch die Sprache aus. „Sie brachten die spanische Sprache, die spanische Würde und Vornehmheit nach Afrika, der europäischen Türkei, nach Syrien und Palästina, nach Italien und Flandern und überall mit, wohin sie verschlagen wurden, hegten und pflegten dieses spanische Wesen mit so viel Liebe, dass sie sich unter ihren Nachkömmlingen bis auf den heutigen Tag lebendig erhalten hat.“375

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Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 8. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 11–12. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 12. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 12. 228

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Allerdings vertrat Graetz auch die Ansicht, dass es sich im Amsterdamer Gemeinwesen insbesondere nach der Zulassung der deutschen (1636) und polnischen Juden (1648), die in der Zusammenführung in einer gemeinsamen Gemeinde mündete, nur um eine vordergründige Überdeckung der Gegensätze zwischen aschkenasischen und sephardischen Juden handelte: „Eine weite Kluft trennte die Stamm- und Religionsgenossen portugiesischer und deutscher Zunge voneinander. Jene sahen auf diese mit Stolz wie auf Halbbarbaren, und diese erkannten jene nicht als vollbürtige Juden an.“376 Was Graetz hier bezogen auf die Situation in Amsterdam schilderte, formuliert in konzentrierter Form die gegensätzlichen Deutungsmuster von iberisch-sephardischen und polnischen Judenheiten in seinem gesamten Geschichtswerk. Die sephardischen Juden verachteten die deutschen Juden wegen ihrer nicht vorhandenen Bildung, wie sich in der Formulierung „Halbbarbaren“ ausdrückt. Im Gegensatz dazu betrachteten die deutschen Juden die sephardischen Juden als Nachfahren von Marranen nicht als halachisch einwandfreie, „vollbürtige Juden“ an. Beiden Gruppen war damit ein Makel hinsichtlich deren Authentizität eingeschrieben. Die polnischen Lebenswelten bei Heinrich Graetz Die Gegenüberstellung von iberisch-sephardischen und polnischen Lebenswelten gestaltete sich bei Graetz nicht einfach in einer Schwarz-Weiß-Kontrastierung, sondern war sehr vielschichtig angelegt und wurde immer mit dem Blick auf die gegenwärtige Situation der Juden analysiert. Somit konstruierte Graetz im Rückblick eine höherwertige Lebensqualität für die Juden in Spanien, die er streng von den Lebensbedingungen in Polen abgrenzte: „Unter den deutschen Juden hatte das Judentum durch die Aufnahme des verwilderten, polnischen Wesens einen barbarischen Anstrich und unter den portugiesischen und italienischen Juden durch Isaak Lurja und Chajim Vital ein kabbalistisches Gepräge angenommen. Diese Erstellung des Judentums in dem jüdisch-romanischen Kreise bei äußerlicher Anständigkeit und noch mehr die Verwilderung desselben in den polnisch-deutschen Gemeinden traten ganz besonders hervor. [...].“377

Im siebten Band seiner „Geschichte der Juden“ verstand er die Leistungen der polnischen Juden auf ökonomischem Sektor als „unersetzlich.“378 Juden fungierten in 376 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 701. 377 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 409. 378 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 7, S. 138. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Polen auf Grundlage des Arenda-Systems als Mittler zwischen Adel und ländlicher Bevölkerung, der sie zu Pächtern und Verwaltern machte. Angriffe der Kirche auf diese Verhältnisse blieben aufgrund ihres noch zu geringen politischen Einflusses wirkungslos. Nicht allein einzelne Juden konnten in einer geschützten Situation in Polen leben, vielmehr erhielten alle Juden nach der Thronbesteigung König Kasimirs im Jahre 1334 Rechtssicherheit und eine eigene Gerichtsbarkeit. Die Juden wurden den Ruthenen, Sarazenen und Tartaren gleichgestellt, allerdings nicht den römisch-katholischen Bewohnern. Diese Gleichstellung sei auch von der römischkatholischen Geistlichkeit hingenommen worden. Der rechtlich geschützte Status ließ Graetz zu der Einschätzung gelangen: „Jedenfalls hatten es die Juden in Polen viel besser als in Deutschland.“379 Diesem Umstand trägt Graetz im achten Band seiner „Geschichte der Juden“ Rechnung, wenn er verdeutlicht, weshalb Polen ein sicherer Ort für die Juden sei. So heißt es hier: „Polen war nämlich seit langer Zeit eine Zufluchtstätte für alle gehetzten, verfolgten und mühebeladenen Juden geworden. Die Verbannten aus Deutschland, Österreich und Ungarn fanden an der Weichsel eine günstige Aufnahme.“380 Polen erhielt dadurch den Stellenwert einer sicheren Zufluchtstätte für jene Juden zugewiesen, die aus Deutschland, Österreich und Ungarn nur noch mit ihrem Leben davongekommen waren. In Polen angekommen, übernahmen die hierher geflüchteten Juden schnell die Rolle von Mittlern, indem sie in Polen „den mangelnden Bürgerstand vertraten“ und „die toten Kapitalien des Landes in Fluss brachten“. Dadurch wurden sie „noch unentbehrlicher als in den übrigen Teilen des christlichen Europas.“381 Diese herausragende Stellung der Juden brachte die polnische Wirtschaft zur Blüte. Ihre Situation wurde noch dadurch begünstigt, dass die katholische Kirche erst in späteren Jahrhunderten auch in Polen judenfeindlich eingestellt war. Zudem erneuerte König Kasimir IV. die von seinem Vorgänger erlassenen Privilegien und erlaubte ausdrücklich den gesellschaftlichen Kontakt von Juden und Christen, auch jenseits geschäftlicher Beziehungen, beispielsweise in Form eines Aufeinandertreffens im gemeinsamen Bad. Beide Faktoren, die wirtschaftlichen Möglichkeiten und das offene Klima zwischen Christen und Juden, ermöglichten es diesen, sich vielseitig zu entfalten. Neben Handel und Pacht verdienten die Juden ihren Lebensunterhalt auch als Handwerker. Dieser Umstand bedient besondere Berücksichtigung, da er eine weitgehende Integration nachdrücklich vertritt.

379 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 7 S. 350. 380 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 8, S. 199f. 381 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 8, S. 200. 230

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Darüber hinaus bestimmte der König jene Würdenträger, die sich für die Aufbringung der Steuern unter den Juden verantwortlich zeichneten. Es war jedoch nicht deren wirtschaftliche Rolle, sondern die religiös-spirituelle, die entscheidend für Graetz’ vielschichtiges Bild vom polnischen Juden war. Als die Juden im Verlauf des 14. Jahrhunderts aus Deutschland vertrieben wurden und ihre Zuflucht in Polen suchten, brachten sie auch ihre Art und Weise des Talmud-Studiums mit. Graetz kritisierte zwar den traditionellen Pilpul als „Haarspalterei”. Allerdings habe diese traditionelle Art des Talmud-Studiums „zugleich Staunen und Lächeln erregt.“382 Unter Pilpul wird eine Methode des Talmudstudiums bezeichnet, die durch logische Analyse alle möglichen Aspekte einer Auslegung berücksichtigt. Sie war in Polen beliebt, blieb aber nicht darauf beschränkt, sondern wurde im 15. Jahrhundert in ganz Europe praktiziert. Der Begriff Pilpul wurde von vielen Gelehrten abgelehnt und der Begriff Pilpul durchaus kritisch benutzt, wenn es darum ging, aufzuzeigen, dass diese Art des Studiums nur der Spitzfindigkeit diene. Diese Art des TalmudStudiums wurde von aufgeklärten Juden insbesondere abgelehnt, weil diese Methode in deren Verständnis keine klaren wissenschaftlichen Regeln befolgte. Der Talmud war für Graetz ein legitimes und wichtiges Instrument zur Bewahrung des Judentums und sein Verständnis war dabei durchaus von orthodoxen Vorbildern beeinflusst. Graetz lehnte jedoch ab, was er als bloßes intellektuelles Spiel ohne Nutzen für das religiöse Selbstverständnis interpretierte. Demnach nahm der Talmud eine zentrale Funktion für das Verständnis von Juden in Polen in ihrer Rolle als Vermittler ein. Die aus den deutschen Ländern nach Polen Geflohenen bezeichnete Graetz als Vermittler von Kultur, indem sie zwei Dinge mit nach Polen brachten: Zum einen sei die „deutsche Talmud-Kunde [...] von jüdisch-deutschen Flüchtlinge[n] nach Polen verpflanzt“ worden. Mit diesem Hinweis ruft Graetz dem Leser ins Gedächtnis, dass aufgrund der Judenverfolgungen insbesondere während des Hochmittelalters Juden von den Städten am Rhein nach Polen auswandern mussten. Erst dadurch konnte das traditionelle Judentum überhaupt überleben, nachdem der Hass gegen die Juden und die Verfolgungen in Deutschland im Verlauf des Hochmittelalters immer mehr zugenommen hatten. Zum anderen hätten diese aus Deutschland vertriebenen Juden „auch die deutsche Sprache – in ihrer damaligen Beschaffenheit“383 nach Polen gebracht. Der deutschen Sprache kommt hier ein zentraler Stellenwert zu. Diese „impften sie den eingeborenen Juden ein und verdrängten nach und nach aus deren Munde die polnische oder ruthenische Sprache.“384 Graetz kleidete die nach Polen geflüchteten deutschen Juden ganz in das 382 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 54. 383 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 71–72. 384 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 61. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Gewand einer kulturell höher stehenden Elite, deren Einflussnahme sich durch das Verb „impfen“ ebenso wie die Zuschreibung „eingeborene Juden“ drastisch für die polnischen Juden ausdrückte. An dieser Stelle integrierte Graetz die sephardischen Juden in seine Betrachtung der Situation in Polen. Wie bereits gezeigt, stellte Graetz anschaulich die Situation der Juden in Spanien während der islamischen Herrschaft dar und demonstrierte, dass diese sowohl das Arabische ihrer Umgebung gesprochen als auch im Hebräischen zur Meisterschaft gelangt seien. Die sephardischen Juden waren demnach ein ideales Beispiel für eine gelungene und erfolgreiche Integration durch das Erlernen der Mehrheitssprache, also einer Forderung, die auch für Dohm als notwendige zu erbringende Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration und „Verbesserung“ der Juden erforderlich war. Nun setzte Graetz die iberischsephardische und die polnische Lebenswelt in einen direkten Zusammenhang. Er bezog sich dabei auf die Situation der nach der Vertreibung 1492 in der Türkei ausgesiedelten iberisch-sephardischen Juden und der nach Polen emigrierten deutschen Juden, ohne jedoch bei letzteren ein konkretes Datum anzugeben. Man kann jedoch aufgrund des chronologischen Ablaufs der Darstellung davon ausgehen, dass wir es mit deutschen Juden aus dem 15. Jahrhundert zu tun zu haben. Graetz stellt also die Bedeutung beider Gruppen gegenüber, wenn er schreibt: „Wie die spanischen Juden einen Teil der europäischen oder asiatischen Türkei in ein neues Spanien verwandelten, so machten die deutschen Juden Polen, Litauen und die dazu gehörigen Landesteile gewissermaßen zu einem neuen Deutschland.“385 Graetz leitete daraus als Konsequenz die Aufteilung der jüdischen Welt im Wesentlichen auf „spanisch redende und deutsch sprechende“ ab. Ähnlich wie bei den iberisch-sephardischen Juden, die vollkommen in der arabischen Sprache als Umgangssprache aufgingen, darüber jedoch das Hebräische pflegten, galt den deutsch-jüdischen Immigranten die deutsche Sprache „nächst dem Hebräischen als eine heilige Sprache.“386 Bezogen auf die Situation in Polen nannte Graetz jene Komponenten, die Juden zu Vermittlern gemacht hätten: zum einen die deutsche Sprache und zum anderen das Studium des Talmuds. Die das Talmud-Studium nach Polen bringenden deutschen Juden stießen hier auf eine inspirierende Situation, die Graetz insbesondere mit der in Polen herrschenden Lebensfreude erklärte. Im Kapitel über „Die Juden in Polen“ im neunten Band der „Geschichte der Juden“ macht Graetz jedoch auch deutlich, dass hier dem Talmud und Texten der jüdischen Mystik, namentlich dem Sohar, den er selbst als „Ausgeburt des Lügengeistes“ bezeichnete, zu viel Stellenwert beigemessen wurde. Als Beispiel für den alles übertreffenden Einfluss des Talmud-Studiums in Polen verwies Graetz auf die nicht hinreichend gewürdigte 385 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 61. 386 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 62. 232

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Lebensleitung des deutsch-jüdischen Universalgelehrten David Gans (1541–1613) aus Westfalen, der den Talmud in Krakau studierte, sich mit Naturwissenschaften befasste und außerdem „ein bedeutender Geschichtsschreiber (Historiker) des Judentums“ wurde. Nach seinem Tod sei er jedoch als ein sich nicht allein auf den Talmud konzentrierender Gelehrter vollständig vergessen worden, so dass Graetz zusammenfasste: „Das Talmud-Studium, wenn auch nur gedächtnismäßig betrieben, gab damals mehr Ruhm als jedes auch noch so tief erfasste Wissensfach.“387 Diese Vorherrschaft des Talmud-Studiums blieb nicht auf Polen beschränkt, sondern erfasste die gesamten europäischen Judenheiten bis ins 18. Jahrhundert hinein und teilweise auch darüber hinaus. Das intensiv betriebene Talmud-Studium entfaltete sich „zum Nachteile der natürlichen Entwicklung des Geistes.“388 Diese kritische Einordnung blieb nicht auf das Verständnis des Talmuds als bloße „unfassliche Haarspaltungen“ beschränkt. Vielmehr konstatierte Graetz, dass die deutsch-jüdischen Einwanderer in Polen das kostbarste Gut ihrer kulturellen Sendung preisgaben: die deutsche Sprache als Kultursprache. Dieser wurde somit der Status einer weiteren heiligen Sprache neben dem Hebräischen verliehen. Durch das intensive Studium des Talmuds habe sich die Sprache zum „lacherregenden Kauderwelsch“ und „zu einem hässlichen Gelalle“389 entwickelt und die Merkmale einer Kultursprache gänzlich verloren. Diese hier beschriebene Degeneration habe jedoch auch das bis dato gute Verhältnis zur nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft nachhaltig verschlechtert. Denn aufgrund ihres „Kauderwelschs“ hätten sich die Juden in Polen dem „Gespötte und der Verachtung der nicht jüdischen Kreise“ ausgesetzt. Das Studium habe in der Summe dem „Judentum keinen Nutzen gebracht“, der Ehrgeiz der Talmud-Gelehrten und ihrer Schüler habe einzig darin bestanden, etwas Besonderes zu präsentieren. Und dieses Besondere bestand Graetz zufolge in „unfassliche[n] Haarspaltungen“390, die ganz im Dienste einer neumodischen Idee gestanden haben. Es sei versäumt worden, den Kern des Judentums durch die Vermittlung von Kenntnissen der hebräischen Bibel zu verdeutlichen. Stattdessen habe das Studium des Talmuds nicht allein exzessive Ausmaße angenommen, sondern das Studium der Bibel sei gänzlich vernachlässigt worden. Dies sei umso bedauerlicher, da die Bibel das nationale Epos der Juden sei und deren Inhalt im Wesentlichen Poesie. Diese Neigung zum ausschließlichen Studium des Talmuds und zur Vernachlässigung der Bibel führte dazu, dass die polnischen Juden an den allgemeinen Entwick387 388 389 390

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 423. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 424. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 425. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 425. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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lungen der Zeit keinen Anteil mehr nahmen und als ökonomische und, viel wichtiger, als kulturelle Mittler nicht mehr in Frage kamen. Die polnischen Juden im 16. und 17. Jahrhundert hätten im Gegensatz zu den iberisch-sephardischen Juden, die auch noch nach ihrer Vertreibung patriotisch eingestellt gewesen seien, einen „Staat im Staate“391 gebildet – wobei Graetz die Formulierung Fichtes zur Kennzeichnung dieser Tendenz verwendete – und seien so zum Gegensatz einer vermittelnden Kultur geworden. Graetz scheute sich an dieser Stelle nicht, die berüchtigte negative Beschreibung des Judentums als „Staat im Staate“ zu übernehmen. Er tat dies, um ein in seinen Augen rückständiges traditionelles Judentum in Polen zu kritisieren. Diese Beschreibung wurde im Jahre 1648 noch bedeutsam für sein Verständnis der durch Bogdan Chmelnicki herbeigeführten Pogrome. Bereits im Vorfeld dieser Ereignisse zeigte sich der nun bereits als charakteristisch geltende Zustand des polnischen Judentums. Zu Beginn des dritten Kapitels im zehnten Band seiner „Geschichte der Juden“ wiederholte Graetz seine Einschätzung, die Juden in Polen hätten einen „Staat im Staate“ gebildet. Allerdings machte er auch auf die gesunde wirtschaftliche Verfassung der Juden in Polen aufmerksam, indem er diese mit der Situation der Juden in Amsterdam, Hamburg und Livorno verglich. So heißt es hier: „Der Reichtum der polnischen Juden war zwar nicht groß, wenigstens hielt er keinen Vergleich mit dem der portugiesischen Juden in Amsterdam, Hamburg und Livorno aus; aber dafür gab es auch keine niederbeugende, vertierende Armut“392 wie in vielen anderen Gegenden Europas und auch unter den aschkenasischen Juden in Amsterdam. Mit „vertierender“ Armut wählte Graetz eine sehr drastische Formulierung. Aufgrund ihrer verzweifelten wirtschaftlichen Situation seien die asckenasischen Juden hier im Vergleich zu den Sephardim entmenschlicht und zu Tieren geworden. Graetz lehnte sich an seine Ausführungen an, die er zu Beginn seiner Charakterisierung der Juden in Polen gemacht hatte, dass diese nämlich in Polen einen sicheren Ort gefunden und sich dort schnell in sicheren wirtschaftlichen Verhältnissen wiedergefunden hätten – eine Situation, die keinen Vergleich mit der Lage vor ihrer Vertreibung aus Deutschland, Österreich und Ungarn scheuen musste. Die Juden verkörperten hier etwas, das im 19. Jahrhundert das Bürgertum wurde: eine Mittelklasse auf solider ökonomischer Grundlage. Hier konnten die Juden die „vertierende“ Armut hinter sich lassen. Als ein weiteres Charakteristikum der polnischen Lebenswelten gab Graetz die hier praktizierte Mildtätigkeit als Teil der innerjüdischen Fürsorge an, die auch den Ärmsten ein Auskommen habe sichern können.

391 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9 , S. 426. 392 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 52. 234

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Unter der Oberfläche hätten sich jedoch die faulen Früchte des Talmud-Studiums gezeigt. Graetz führte den deutschen Oberrabbiner von Prag und Rabbiner von Krakau, Lipmann Heller (1579–1654), an, den er als „von Sittlichkeit und deutscher Gradlinigkeit durchdrungen“393 beschrieb und der auf die Beseitigung von Missbräuchen in Polen gedrungen habe. Einer dieser Missbräuche sei die Käuflichkeit von Rabbinatsstellen gewesen. Während zu Beginn der deutsch-jüdischen Einwanderung nach Polen die deutsch-jüdische Kultur und Sprache nach Polen kam, musste nun ein deutscher Jude, wenn auch erfolglos, auf die Änderung von Missständen drängen. Aber einmal mehr gab der existierende Zustand der polnischen Juden Anlass dazu, die Art und Weise des Studiums und der Interpretation des Talmuds in Polen – und nicht den Talmud als grundlegenden Text der jüdischen Schrifttradition – prinzipiell zu kritisieren. Das Studium des Talmuds sei eine „kniffige Lehrweise und die damit verbundene Wahrheits- und Rechtsverdrehung“ habe zu einem „Krebsschaden“394 innerhalb des polnischen Judentums geführt. Graetz charakterisierte das Talmud-Studium als „Verkehrtheit“, die dazu geführt habe, dass „die Sprache der deutschen Juden wie der polnischen in ein widriges Lallen und Stammeln, und ihr Denken in eine verdrehende, aller Logik spottenden Rechthaberei und Disputierlust [ausgeartet sei].“395 Die ausschließliche Auseinandersetzung mit dem Talmud war für Graetz der Grund dafür, dass die Juden in Polen nicht allein ihre Sprache verloren, sondern sich auch „dem Gespötte und der Verachtung nicht jüdischer Kreise“396 ausgesetzt hätten. Aber diese Diagnose rührte nicht allein von der Kritik am Talmud her. Vielmehr habe auch die „Schwärmerei der Kabbala” zu einer Spekulationsgläubigkeit geführt, die sich den zentralen Lehren des Judentums verschlossen habe. Erneut benannte Graetz das seines Erachtens nach wichtigste Problem der unzureichenden Kenntnis von Tenach und Midrasch. Denn die Bibel wurde in den Talmud-Schulen nicht gelehrt und stattdessen habe ein „dünkelhafter Hochmut“397 auf das talmudische Wissen vorgeherrscht. Bibelkenntnis war jedoch bei Graetz auch ein Zeichen dafür, sich mit Poesie auseinanderzusetzen, die im wichtigsten nationalen Epos der Juden, der hebräischen Bibel, par excellence vorgeführt werde. Und die Poesie war genau die Fertigkeit, mit der Graetz zufolge die iberisch-sephardischen Juden die islamische Mehrheitsgesellschaft erreichten, als kulturelle Vermittler wirkten und höchstes Ansehen unter Moslems und Christen erlangten. Doch diese geistigen Fähigkeiten 393 394 395 396 397

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 56. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10. S. 57. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 297. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 426. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 59. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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waren bei den Juden um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Polen nicht mehr anzutreffen. Die Juden seien hier nicht willens gewesen, sich in Polen zu integrieren, ganz im Gegenteil. Ihr Hochmut habe sie gänzlich von den Christen abgesondert. Auf deren anderen Seite hätten die Christen die geistige Überlegenheit der Juden anerkennen müssen und sie „empfanden zu ihrem Schaden diese Überlegenheit des talmudischen Geistes der polnischen Juden.“398 Graetz attestierte den Juden in Polen eine Selbstgefälligkeit, die sich auch im rücksichtslosen Verhalten gegenüber den Kosaken gezeigt habe. Dadurch seien sie mitveranwortlich für deren Haß gegen die Juden und auch für die aufkommenden Verfolgungen. Die messianischen Erwartungen, die sich aufgrund von Auslegungen des „Lügenbuches Sohar“ mit dem Jahr 1648 verbanden, verleiteten Graetz zufolge die Juden dazu, sich noch „rücksichtsloser und sorgloser“ als „Herren” zu benehmen. Als Reaktion sei die „blutige Vergeltung“ nicht ausgeblieben und habe die „Unschuldigen mit den Schuldigen“399 getroffen. Graetz verstand die Massaker unter der Führung von Bogdan Chmielnicki demzufolge als Strafe für einen der Rolle der polnischen Juden nicht entsprechenden Umgang mit den Nichtjuden, als eine Provokation seitens der Juden. Einmal mehr verglich Graetz die Situation iberisch-sephardischer und polnischer Judenheiten, wenn er die Massaker mit geistesgeschichtlichen Ereignissen während des 17. Jahrhunderts miteinander in Verbindung setzte: „Gerade im Jahrhundert Descartes und Spinozas, als die drei zivilisierten Völker, Franzosen, Engländer und Holländer, dem Mittelalter den Todesstoß versetzten, brachten die jüdisch-polnischen Emigranten, die von Chmielnickis Banden Gehetzten, ein neues Mittelalter über die europäische Judenheit, das sich mehr als ein Jahrhundert in Vollkraft erhalten hat und zum Teil noch in unsere Zeit fortdauert.“400 Während sich im Westen Europas bereits erste Anzeichen der Aufklärung zeigten, wurde es für die Juden im Osten Europas wieder dunkel und ein „neues Mittelalter“ breitete sich aus. Die aufgrund der Massaker aus Polen geflohenen Juden besetzten im Westen Europas Ämter als Rabbiner und wurden hier mit ihrem Wissen „tonangebend und unterjochend.“401 Ihnen oblag die Erziehung der Kinder, die sie in ihrem Talmud398 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 59–60. 399 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 61. 400 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 76. Zu Graetz’ Spinoza Bild vgl. Carsten Schapkow: „L’œuvre et la vie de Spinoza comme paradigme scientifique et fondement d’une identité juive sécularisée chez Heinrich Graetz et Jacob Freudenthal“. In: Revue Germanique Internationale. Nr. 17/2002. Références juives et identités scientifiques en Allemagne. Press Universitaires de France 2002. S.193–202. 401 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 76. 236

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Studium unterwiesen. Die polnischen Juden seien sehr stolz auf ihre talmudische Bildung gewesen und hätten die deutschen, portugiesischen und italienischen Rabbiner verachtet.402 Der negative Einfluss dieser talmudischen Gelehrsamkeit habe sich Graetz zufolge sogar auf die portugiesischen Juden ausgewirkt. Diese „hielten sich zwar von dem hässlichen Mauscheln fern, blieben [aber] von dem verkehrten Denken, welches die Zeit beherrschte, nicht unangesteckt.“403 Das Mauscheln bezieht sich hier sowohl auf das Jiddische als Jargon als auch auf die Beschreibung des Talmud-Studiums, insbesondere im Cheder. Dieses „verkehrte Denken“ war nicht auf die polnischen Juden beschränkt und Graetz widmete den als „Wühler“ bezeichneten Juden ein ganzes Kapitel im zehnten Band seiner „Geschichte der Juden“.404 Allerdings zeigte sich eine auffällige Tendenz, Entwicklungen innerhalb des polnischen Judentums als nicht kompatibel mit den rationalistischen Tendenzen innerhalb der nicht jüdischen und jüdischen Welt zu sehen, wie sie sich in Amsterdam trotz aller Verwirrungen auszubreiten begannen. Es war daher nur konsequent für Graetz, im Frankismus und Chassidismus lediglich weitere Zeichen der geistigen Verwilderung der Juden Polens zu erkennen, die er stark kritisierte. So betrachtete Graetz den Stifter des Chassidismus, Israel ben Elieser (1700– 1760), genannt Bescht, mit großem Vorbehalt. Die vorwiegend talmudische Erziehung des Bescht habe in „dunklen, engen, schmutzigen Löchern, die man in Polen Schulen nannte“ erfolgt, und er habe nichts gelernt als „das Alphabet der Naturlaute verstehen.“ Seine einzige Funktion sei die eines „Wunderdoktors“405 gewesen, der keinerlei rationalistischen Strömungen und Gedanken gegenüber offen gewesen sei. Graetz betrachtete ihn als ein Symbol dieses neuen Mittelalters und bedauerte den Erfolg seiner Lehren sehr. Diese Kritik am traditionellen jüdischen Lehrwesen war eine zentrale Ebene der kritischen Wahrnehmung des polnischen Judentums seit der Haskalah. Besonders wirkungsreich, insbesondere für eine nicht jüdische Leserschaft, war Salomon Maimons Lebensgeschichte aus dem Jahre 1786.406 Einzig in der Gestalt des Wilnaer Gaon (1722–1797) fand Graetz im polnischen Judentum eine Gegenposition zu den chassidischen Lehren des Bescht und seiner Schüler. Es war für Graetz wichtig, mit dem Gaon einen Zeugen aus dem polnischen Judentum anführen zu können, der seine eigene Kritik teilte. So „verab402 403 404 405 406

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 76. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 297. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 10, S. 114–154. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 97. Salomon Maimons Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt. Zwi Batscha (Hg.). München 1984. Vgl. dazu Schapkow, Freiheit zu philosophieren, S. 84–91. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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scheute“ der Gaon in Graetz’ Worten „die verderbliche Methode seiner Landsleute, sich in Haarspaltereien, Spitzfindigkeiten und Künsteleien zu ergehen.“407 Gemeint ist damit auch der Pilpul. Anders als die Vertreter des Chassidismus habe für den Gaon die hebräische Bibel eine zentrale Rolle für sein religiöses Verständnis gespielt. Zudem habe er sich „auch mit der Formenlehre der hebräischen Sprache vertraut“ gemacht, sei also als ein rational denkender Kopf zu verstehen. Graetz würdigte den Gaon als einen „Profanwissenschaftler“.408 Er stellte für ihn einen Vermittler zwischen jüdischem und nicht jüdischem Wissen dar. Dessen tiefe Religiosität sei mit rationalen Elementen versehen gewesen, wie er anhand seines Studiums der hebräischen Grammatik bewiesen habe. Dies wiederum habe ihn von einem fehlerhaften Verständnis des Talmuds als einzige bindende Quelle des Judentums wohltuend vom Bescht unterschieden. In der Hervorhebung dieser rationalistischen Tendenzen im Werk des Gaon gab Graetz seiner grundsätzlichen Einschätzung Ausdruck, dass es im polnischen Judentums im Allgemeinen keine klare Kenntnis der hebräischen Sprache gegeben habe, was zu einer großen Unwissenheit unter den Juden geführt habe. Der Gaon stellte für Graetz somit die Ausnahme unter den als unzivilisiert und unkultiviert geltenden polnischen Juden dar. Wirkungsgeschichte seit Mendelssohn Die Wechselwirkung zwischen den iberisch-sephardischen und den polnischen Lebenswelten im Geschichtswerk von Heinrich Graetz erfuhr zusätzliche Aktualität, indem Graetz die jüngere jüdische Geschichte seit dem Auftreten Moses Mendelssohns diskutiert und auf diese beiden jüdischen Lebenswelten bezog, diese also mit der „Jetztzeit“ in Beziehung setzte. Neben vielen anderen wichtigen Interpretationen der Rolle Mendelssohns, sah Graetz in ihm einen Gegenpol zum Chassidismus. Während er die Chassidim als eine Sekte fernab der Rationalität betrachtete, erkannte er in Mendelssohn den maßgeblichen Ideengeber einer neuen Zeit, die eine „Wiedergeburt“ des jüdischen Volkes auf den Grundlagen von Rationalität und gelebtem Judentum mit sich brachte. Wie bereits Isaak Markus Jost vor ihm, ging auch Graetz davon aus, die Rolle der iberisch-sephardischen Juden als Vermittler und Kulturträger sei mit dem Auftreten Mendelssohns auf die deutschen Juden übergegangen. Jüdische Geschichte in Spanien wurde als die andere jüdische Geschichte begriffen – als diejenige, die sich von den als rückwärtsgewandt wahrgenommenen polnischen Judenheiten absetzte. Aber 407 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11 S. 111. 408 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 112. 238

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diese Wahrnehmung musste als Prozess verstanden werden. Sie ermöglichte es Graetz, eine Tradition aufzuzeigen, die nur durch die spirituelle Einheit des Judentums eine kulturelle Vermittlung in die Mehrheitskultur ausbilden konnte. Es habe sich „ein innerlich und äußerlich geknechtetes Volk zur Höhe der Poesie und Weltweisheit emporgeschwungen.“ Die daraus entstandene „Verjüngung“409 des Judentums habe nicht allein die deutschen Juden, sondern auch die Juden Polens miteingeschlossen. Es seien „deutsche Judenheiten“ gewesen, die „auch unverkennbar die Verbreitung und Verallgemeinerung des gebildeten Bewusstseins in christlichen Kreisen gefördert“410 hätten, und somit in diesem Verständnis auch als Beiträger für eine Vermittlung von Kultur in die Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden konnten. Mendelssohn trug neben seinen vielseitigen Verdiensten auch maßgeblich dazu bei, den Juden die Schönheit der hebräischen Bibel wieder näherzubringen. Wie bereits gezeigt, wurde diese Schönheit durch die Einflussnahme polnischer Juden und deren Konzentration auf das Talmud-Studium lange Zeit in ganz Europa vernachlässigt. Unter den Zeitgenossen Mendelssohns, die seiner Übersetzung des Pentateuch kritisch gegenüberstanden, nannte Graetz insbesondere polnische Juden wie Raphael Cohen, Hirsch Sanow und den Oberrabbiner von Prag und prominenten Gegner des Sabbatianismus Ezechiel Landau (1713–1793), die diese Übersetzung ablehnten, weil sie, so die Vermutung von Graetz, die „Formschönheit und Sprachreinheit“411 eines Mendelssohn eben nicht besessen hätten. Dass sich hier wohl auch Kritik an der Übersetzung der Heiligen Schrift in die Profansprache verbarg, wurde von Graetz nicht weiter diskutiert. Polnische Juden und selbst Kritiker des im polnischen Judentums verbreiteten Talmud-Studiums wie Salomon Maimon wurden von Graetz allgemein als „verwildert“412 und als unfähig erachtet, sich den Schönheiten der deutschen Sprache zu öffnen. Graetz vertrat die Ansicht, dass die iberisch-sephardische und die deutsch-jüdische Kultur nach ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 bzw. den deutschen Ländern während des Mittelalters in ihren neuen Heimatländern eine ökonomische und kulturelle Blüte herbeigeführt habe. Wie die sephardischen Juden die Türkei „in ein neues Spanien verwandelt haben“413, so brachten die deutschen Juden die deutsche Sprache nach Polen und Litauen, hätten sie den hier „eingeborenen Juden

409 410 411 412

Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 95. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 143. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 41. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 133–134. So heißt es auf Maimon bezogen, dieser sei ein „Sohn des Elends und der Verwilderung“ gewesen. 413 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 61. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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eingeimpft“ und Polen „zu einem neuen Deutschland“414 gemacht. Der hier implizierte Vorgang der Veredelung umfasste auch eine kulturelle Bereicherung. Diese zeichnete sich als Vormachtstellung der deutsch-jüdischen über die polnisch-jüdische Lebenswelt seit Mendelssohn ab. Damit war auch ein Wendepunkt erreicht, in dessen Folge der Einfluss des Talmuds und der jüdischen Mystik zurückdrängt und die Juden wieder in die Mitte Europas zurückführt wurden. Darüber hinaus ist es an dieser Stelle wichtig, „Graetz’ Abneigung gegen die Mystik nicht nur als eine Art jüdisch-christlichen Kulturkampf ” zu deuten, „sondern ebenso in den durch rationalistische Paradigmen bestimmten Emanzipationskampf einzuordnen.“415 Dies zeigte sich hervorragend daran, wie Graetz Vertreter des deutschen Judentums, etwa den in Berlin wirkenden Rabbiner Michael Sachs (1808–1884), der zugleich Autor des Buches „Die religiöse Poesie der Juden in Spanien“ war, in dieses Streben nach Emanzipation einordnete. Sein Buch erschien im Jahr 1845 und damit einige Jahre nach dem Erscheinen von Delitzsch’ „Zur Geschichte der jüdischen Poesie“. Darin vertrat Delitzsch die These einer ungebrochenen Kontinuität hebräischer Poesie von den Anfängen bis zur Haskalah. Sachs’ Darstellung ist in zwei Teile unterteilt: Im ersten Teil stellte er religiöse Dichtungen von Salomo ben Gabirol bis Moses ben Nachman in seiner eigenen Übersetzung vor. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der „Geschichtliche[n] Entwicklung der religiösen Poesie der spanischen Juden im Mittelalter“, dabei werden die im ersten Abschnitt diskutierten Dichter herangezogen. Wie auch später Graetz, folgte Sachs in der Abhandlung der Theorie eines intakten Organismus, der von nicht jüdischem und jüdischem Wissen gespeist worden sei.416 Graetz setzte Michael Sachs an die Stelle der historischen sephardischen Juden, indem er die Person Sachs zum Sephardim stilisierte. Ismar Schorsch hat auf die Vorbildfunktion hingewiesen, die Sachs für Graetz darstellte.417 Sachs’ Werk galt als 414 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 61. 415 Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 323. 416 „Auch gehört wenig Geist und Willen dazu, die – wenn im Ganzen gesehen und ihrem Zusammenhang erfasst – noch ganz anders sich darstellenden Stücke aus ihrem Organismus zu reißen und zu verrenken.“ (Michael Sachs: Die religiöse Poesie der Juden in Spanien. Berlin 1845. S. 145). 417 “Above all, Graetz wrote the kind of history for which Sachs had been pleading. In the hands of both men ‘Wissenschaft’ became a vehicle for the recovery of self-respect and a force for the preservation of the Jewish people. Both repudiated an approach to Jewish history that studied the past mainly to escape from its tutelage. The historian had the sacred task to fire his people with a love for the drama and glory for its past in order to strengthen its sense of unity and its resolve to survive.” (Schorsch: Thinking Historically. In: From Text to Context, S. 288). 240

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eine zentrale Quelle der Inspiration für Heinrich Heines „Romanzero“ und sein Gedicht „Jehuda Halevi“.418 Graetz selbst setzte Jehuda Halevi ein Denkmal, indem er ihn als „würdigen Juden“ und „spanischen Nationalhelden“ feierte und seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass Spanien endlich – nachdem die Dominanz der Kirche verschwunden sei – seine geschichtlichen Größen würdigen werde: „Licht umflossen hat ihn der Himmel entsendet, und er blieb während seiner irdischen Laufbahn unbefleckt vom irdischen Staube. Er war eine abgerundete volle Persönlichkeit, ein vollendeter Dichter, ein vollendeter Denker, ein würdiger Sohn des Judentums, das er durch Dichten und Denken verklärt und idealisiert hat. Wenn einst Spanien seine Vorurteile besiegt haben und seine geschichtlichen Größen nicht mit kirchlichem Maßstabe messen wird, so wird es in seinem Pantheon Jehuda Halevi einen Ehrenplatz anweisen.“419

Diese Stilisierung erfolgte bei Graetz über eine Abgrenzung zum Vertreter des Reformjudentums, Samuel Holdheim (1806–1860), in dem Graetz einen klassischen Vertreter für das „jüdisch-polnische Wesen“ sah, das durch die talmudische Dialektik „hochgeschraubt“ wurde. Sachs hingegen erinnerte Graetz an „die jüdischen Abkömmlinge der pyrenäischen Halbinsel“, die eine „begeisterte Anhänglichkeit an das Judentum mit ihrer Vorliebe für poetische oder philologische Bescheinigungen zu vereinen wussten.“420 Sachs habe „durch klassische Formen und ästhetischen Sinn veredelt; er ähnelte dem edlen Isaak Cardoso oder Isaak de Pinedo oder den vielen anderen Dichtern und Forschern von marranischer Abkunft, […] in Holland und Italien.“ Graetz stand dem konservativen religiösen Selbstverständnis von Michael Sachs nahe.421 Selbst den Geburtsort Sachs’, das schlesische Glogau, beschrieb Graetz als einen lichten Ort, in dem eine echte Frömmigkeit vorgeherrscht und keine primäre Auseinandersetzung mit dem Talmud stattgefunden habe. Stattdessen habe eine Symbiose dieser jüdischen Frömmigkeit mit der Philosophie des Abendlandes stattgefunden, wurden „Sophokles und Plato […] ebenso Vertraute seines [d. i. Michael Sachs’] Geistes wie Mose und Jesaia.“422 In der historischen Figur Michael Sachs’ sah Graetz beide Komponenten vereint, die auch den Vertretern der iberischsephardischen Kultur zu eigen gewesen seien: die gelebte jüdische Religiosität und 418 Sachs vermittelte sein Bild der Sephardim beispielsweise in seinem zweibändigen Werk „Stimmen vom Jordan und Euphrat“. Dieser Band wurde von Graetz ausdrücklich als Jugendbuchlektüre empfohlen. 419 Graetz: Volkstümliche Geschichte, Bd. 2, S. 362. 420 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 539. 421 Vgl. dazu die Monografie von: F. Lucas/H. Frank, Michael Sachs - der konservative Mittelweg: Leben und Werk des Berliner Rabbiners zur Zeit der Emanzipation. Tübingen 1992. 422 Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 539. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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die fundierten Kenntnisse säkularer Philosophie. Nur in der Verbindung beider Ebenen, der religiösen und der säkularen, folgerte Graetz, sei die Integration der Juden inmitten aller anderen europäischen Kulturnationen auch in der Zukunft möglich. Iberisch-sephardische Geschichte bei Abraham Geiger   als Gegengeschichte Abraham Geiger (1810–1874) entstammte einer orthodoxen jüdischen Familie. Nach Privatstudien bezog er die Universität Frankfurt, wo er sich von 1829 an den klassischen Sprachen nebst historischen, philosophischen und arabischen Studien widmete. Als Geiger die Universität Bonn besuchte war er einer von zehn Juden unter 422 Studenten, die sich im Studienjahr 1829/1830 immatrikulierten. Geigers wissenschaftliche Interessen waren vielseitig ausgerichtet. Er stellte Untersuchungen zur Bibel, der Mischnah, zur historischen, philosophischen, exegetischen, apologetischen und poetischen Literatur des Mittelalters und der späteren Zeit an. Der Literaturgeschichte kam innerhalb seines Interesses für die jüdische Geschichte eine zentrale Bedeutung zu. Hier wiederum nahm die Auseinandersetzung der jüdischen Lebenswelten mit denen des Islam eine wichtige Rolle ein. Dieses Thema fand sich bereits in Geigers Dissertation von 1832 mit dem Titel „Was hat Muhamed aus dem Judentum genommen“, die einen Preis der philosophischen Fakultät seiner Alma Mater in Bonn gewann. Geiger ging in der Dissertation von einer starken Einflussnahme des Judentums in religiöser und kultureller Hinsicht auf den Islam und das Christentum gleichermaßen aus. 423 Beeinflusst wurde Geiger von dem durch Leopold von Ranke begründeten Historismus. Dieser hatte sich zur Aufgabe gesetzt, eine größtmögliche Objektivität bei der Wiedergabe und Interpretation historischer Begebenheiten walten zu lassen. Beispiele dieser wissenschaftlichen Anschauung finden sich in der von Ranke von 1833 bis 1836 herausgegeben „Historischen Zeitschrift“. Hier habe die Weltgeschichte im Christentum seinen Repräsentanten gefunden, wie es Hans Liebe-

423 Zu Geigers Verhältnis zum Christentum vgl. Susannah Heschel: Abraham Geiger and the Jewish Jesus. Chicago 1998. Susannah Heschel: Revolt of the Colonized: Abraham Geiger‘s Wissenschaft des Judentums as a Challange to Christian Hegemony in the Acadamy. In: New German Critique 77 (1999), S. 61–85. Außerdem von Interesse ist hier der bereits im ersten Kapitel diskutierte Beitrag von James Pasto: Islam’s Strange Secret Sharer: Orientalism, Judaism and the Jewish Question. In: Comparative Studies of Society and History 40 (1998). S. 437–474. 242

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schütz einmal ausdrückte.424 Dabei spielte die Philosophie Hegels eine entscheidende Rolle für die Vertreter der historischen Schule. „Hegel ist nicht weniger als Ranke ein Urheber der historischen Denkart im Deutschland des 19. Jahrhunderts gewesen.“425 Ranke zufolge sei die Rückwendung zum Abendland, verbunden mit einem positiven Interesse an der hebräischen Bibel, der zentrale Gegenstand universalhistorischen Verständnisses. Beides zusammen bildete die Grundlage für Rankes kritische Evaluierung der Aufklärung.426 Ranke schrieb im Wesentlichen politische Geschichte, über Spanien und die Osmanen schrieb er politische Staatengeschichte.427 Bezogen auf die Juden sei es jedoch „offensichtlich, dass diese Weltansicht dem Programm eines christlichen Staates entsprach, der gegenüber den Außenseitern bürgerliche Toleranz erlaubte, solange nicht der Charakter des Ganzen dadurch gefährdet war.“428 Sowohl bei Ranke als auch bei seinem Schüler Sybel findet sich eine Vielzahl von Belegen der Wertschätzung, bezogen auf das Volk des Alten Testaments. Es wurde dennoch vorausgesetzt, dass der Staat der Gegenwart christlich sein müsse.429 Geigers Verständnis von Geschichte und ihren Quellen unterscheidet ihn von den Vertretern der historischen Schule in Deutschland. „Für die historische Schule erwächst die Moderne aus mittelalterlichen Wurzeln, für Geiger entsteht sie eigentlich aus dem Nichts.“430 Geiger war davon überzeugt, in der jüdischen und nicht jüdischen Welt den gleichen Anteil westlicher Kultur vorzufinden,431 wobei er den Prinzipien der Aufklärung stets verbunden blieb.432 Geigers wissenschaftliche Tätigkeit und seine wissenschaftlichen Publikationen sind von seiner Funktion als der maßgeblicher Ideengeber des Reformjudentums in Deutschland nicht zu trennen. 1832 wurde Geiger als Rabbiner nach Wiesbaden berufen. In den Jahren von 1835 424 425 426 427

428 429 430 431

432

Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 63. Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 80. Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 79. Leopold von Ranke: Die Osmanen und die Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin 1877. Hier bemerkte Ranke über die Limpieza de Sangre: „Adelsstolz mit einem gewissen Religionsstolz verknüpft.“ (Ebd. S. 198). Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 75. Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 77. Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 128. „Für ihn stand fest, dass der westliche Kulturgehalt im Judentum wie in der nicht jüdischen Welt der gleiche ist, oder es wenigstens werden soll in Erfüllung einer überzeitlichen Ordnung.“ (Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 129). Liebeschütz: Judentum, S. 132. Hier habe Geiger auch seinem Verständnis Ausdruck verliehen, die Pharisäer als „demokratische Nationalpartei“ (Liebeschütz: Judentum im deutschen Geschichtsbild, S. 130) zu begreifen. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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bis 1838 und erneut von 1842 bis 1847 gab er in Wiesbaden die „Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie“ heraus. Die Zeitschrift wurde in christlichen und jüdischen Kreisen rezipiert und vom „Verein jüdischer Gelehrter“ finanziell unterstützt. Zu diesem Verein zählten Gelehrte wie Leopold Zunz, Isaac Jost und Solomon Rapoport. Sie und andere waren im Wesentlichen sowohl in jüdischen Studien als auch in säkularen Wissenschaften ausgebildet und die Mehrzahl unter ihnen führte einen Doktortitel. Außerdem verfasste Geiger als Autor Beiträge für die „Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“. Darüber hinaus sahen die 1830er-Jahre insofern eine Veränderung in der jüdischen Sozialstruktur, weil zahlreiche orthodoxe Rabbiner, die die Reform kritisiert hatten, starben und zudem mit dem Auftreten Gabriel Riessers ein stärkeres politisches Selbstbewusstsein sich auszubreiten begann.433 Das Jahr 1830 markierte auch für Geiger einen Wendepunkt, der „Riesser und ein kräftigeres Selbstbewusstsein der Juden“434 hervorgebracht habe. Riessers eindringliches Eintreten für die Emanzipation der Juden wurde auch für Geiger ein zentrales Anliegen, das er in unterschiedlicher Weise und auch in der Auseinandersetzung mit christlichen Gelehrten betrieb. Aus diesem Grunde ist es notwendig, die Bedeutung Gabriel Riessers hier zu vertiefen. Gabriel Riesser (1806–1863) forderte die vorbehaltlose Gleichsetzung der Juden in Deutschland, insbesondere in seiner Schrift von 1830 „Über die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland“.435 Riesser stammte aus einem gelehrten gesetzestreuen Elternhaus. Er studierte Jura und als sowohl seine akademischen Pläne als auch die Hoffnung auf eine Advokatur in seiner Vaterstadt Hamburg scheiterten, war er erst als freier Schriftsteller tätig bevor er 1840 Notar in Hamburg wurde. Auch wenn Riesser sich selbst nicht als Angehöriger des traditionellen Judentums bezeichnete, stand er den rationalistischen Prinzipien der Maskilim skeptisch gegenüber. Seiner Meinung nach hatten diese durch die Aufgabe des Zeremonialgesetzes das Judentum mehr und mehr entschlackt und an das Christentum herangeführt. Als Herausgeber der 1832 erstmals erschienenen Zeitschrift „Der Jude“, die sich zentral für die Emanzipation der Juden in Deutschland und gegen jede spezielle Judengesetzgebung einsetzte, wurde Riesser ein populärer Kämpfer für die Emanzi-

433 Abraham Geiger: Nachgelassene Schriften. Hildesheim 1999 (OA Berlin 1875).Bd.  5, S. 263. 434 Ebd. Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 263. 435 Vgl. Gabriel Riesser: Bemerkungen über das Verhältnis der Juden. Berlin 1844. Ders.: Besorgnisse und Hoffnungen. Hamburg 1842. Ders.: Der Jude. Ein Journal für GewissensFreiheit. 1835. Ders.: Kritische Beleuchtung der Emanzipation der Juden. 244

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pation der Juden in Deutschland.436 1848 wurde Riesser als Kandidat der gemäßigt Liberalen, die sich für die konstitutionelle Monarchie einsetzten, in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt; in seiner „Kaiserrede“ am 21.3.1849 setzte er sich für das konstitutionelle, erbliche Kaisertum ein. Er gehörte der Delegation an, die König Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone antrug, die von ihm jedoch abgelehnt wurde. Seine Maxime „Wir sind entweder Deutsche, oder wir sind heimatlos“ nahm innerhalb der Diskussionen um die vorbehaltlose Gleichberechtigung der Juden eine zentrale Rolle ein und er kritisierte scharf die existierende Politik gegenüber den Juden. Nach 1848 blieb Riesser seinen liberalen Prinzipien treu und konnte in Hamburg eine breite Wirksamkeit als Vizepräsident der Hamburger Bürgerschaft und als erster jüdischer Obergerichtsrat und jüdischer Richter in Deutschland überhaupt erzielen. Geiger wurde durch Riessers vielfältiges Engagement für die Emanzipation der Juden beeinflusst und nahm es selbst zum Anlass, den Blick auch auf die innerjüdische Welt zu lenken, indem er unter Bezugnahme auf die Vorstellung vom „Organismus“ schrieb: „In dem Kampfe für das Recht erwachte auch wieder die Liebe, und die Liebe muss teils das Liebenswerte hervorheben, teils den Wunsch zur Ausscheidung des Tadelnswerten steigern.“437 Dieser Blick in das Selbstverständnis des Judentums war entscheidend für das Wechselspiel zwischen dem ‚eigenen‘ jüdischen Anteil und der ‚Allgemeinheit‘, wie Geiger an einer ganzen Reihe von Gegensatzpaaren zwischen einem von ihm so aufgefassten modernen Judentum und den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft ausführte.438 Geiger setzte den Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung der Juden als ein gewissermaßen universales Paradigma der Befreiung ein, wobei „die bürgerliche Gleichstellung

436 Gad Arnsberg: Gabriel Riesser als deutsch-jüdischer Intellektueller und liberaler Ideologe. In: Menora 2, Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschiche 1991. S. 81–104. 437 Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 263. 438 „Nun wollte man aber als Jude in die Zeit eingehen und konnte sich doch als solcher nicht in der derselben heimisch fühlen, man wollte von den Rechtanschauungen der Gegenwart Gebrauch machen und musste doch fühlen, dass das Judentum nicht in der Gegenwart frisch pulsierte, [stattdessen, Hervorhebung von mir, C. S.] in dem Fanatismus des Mittelalters wurzelte, die Trennungen aufgehoben haben und alle absondernden Erschwerungen in sich dulden, als Jude auf der Höhe der Zeit, der Bildung stehen, und die Repräsentation des Judentums, die Synagoge, entbehrte alles ästhetischen Sinnes, als Jude auf der Höhe der Wissenschaft stehen und doch als unantastbare Verkünder des Judentums aus der Vergangenheit die Verächter der Wissenschaft, Männer der krassesten Unwissenheit verehren und als gegenwärtige Lehrer desselben nicht minder Unwissende betrachten, im Vaterlande leben und überall auf den Orient hingewiesen sein und die Rückkehr dorthin erflehen.“ (Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 263–264). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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[...] „noch nicht die gleiche Anerkennung“439 in sich trage. Diese Anerkennung sei erst „durch die Macht errungen, welche das Prinzip des Judentums zu entfalten im Stande“ sei.440 Die universale Botschaft erklärte sich Geiger zufolge durch das Streben nach Emanzipation als ein Menschenrecht. Geiger wurde zu dem herausragenden Vertreter des Reformjudentums in Deutschland, das auch mit dem Entstehen der Wissenschaft des Judentums eng verbunden war. „Geiger fühlte sich lange Zeit hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, die Kontinuität des Judentums zu bewahren, einem Wunsch, den er als Rabbiner durch den homilitischen Gebrauch des Midrasch ausdrückte, und dem Bedürfnis, unbarmherzig die historische Wahrheit mit allen ihren Folgen aufzudecken, was er als kritischer Forscher durch die Wissenschaft tat.“441 Er erreichte einen Punkt, an dem er sich gegen eine Spaltung von traditionellen und aufgeklärten Juden wandte und sich „bemüht, das Judentum von solchen Überzeugungen und Praktiken zu reinigen, die seines Erachtens nicht von Gott kommen konnten, weil sie der Vernunft des Menschen widersprachen.“442 Geiger unterschied in seinen Schriften zwischen den religiös universalen Werten und den konkreten Geboten und Ritualgesetzen in der jüdischen Religion. Letztere waren für ihn historisch bedingt und sollten an die Gegenwart angepasst werden, was auch die Bedeutung des Talmuds mit einschloss. Anders als die Vertreter der Orthodoxie war Geiger nicht der Ansicht, die im Talmud enthaltenen Vorschriften enthielten für alle Juden verbindliche Gebote. Stattdessen stellte er die ethischen Grundsätze von Gerechtigkeit und Gleichheit in den Mittelpunkt der jüdischen Religion. Die religiösen Gebote und Ritualgesetze verstand er lediglich als menschliche, d.  h. veränderbare Bestimmungen. Damit die Juden ihre Eingliederung in die Gesellschaft und damit ihre Emanzipation, ihre Gleichstellung, verwirklichen könnten, müssten auch ihre religiösen Gebote der modernen Gegenwart angepasst werden. Zu den ersten und radikalsten Änderungen der Reformbewegung gehörten die Einführung neuer Gebetsordnungen, die Übersetzung der Gebete ins Deutsche und die Errichtung einer Orgel in der Synagoge. Geiger wandte sich gegen Gebete, die eine Rückkehr nach Zion formulierten. Außerdem ließ er die Beschneidung nur

439 Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 272 440 Geiger, Jüdische Geschichte von 1830, S. 272. 441 Meyer: Jüdisches Selbstverständnis, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. 2. Bd., S. 148. 442 Meyer: Jüdisches Selbstverständnis, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. 2. Bd., S. 148. 246

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gelten, solange sie als Ritual das innere Band im Judentum festige und das religiössittliche Gefühl belebe.443 1838 wurde Geiger als zweiter Rabbiner nach Breslau berufen und die Spannungen zwischen ihm und seinem orthodoxen Gegner Salomon Tiktin (1791–1843) repräsentierten den Konflikt zwischen Reform und Orthodoxie bei den deutschen Juden. Geiger wünschte sich zwar ein gemäßigtes Tempo bei der praktischen Umsetzung der Reform, allerdings trat er sehr wohl für eine entschiedene Reform ein.444 Als intellektueller Kopf der Reformbewegung hatte Geiger bereits 1837 eine Rabbinerversammlung reformorientierter Rabbiner einberufen, die 1844 in Braunschweig, 1845 in Frankfurt und 1846 in Breslau erneut zusammenkamen. Geigers Überlegungen zur Reform publizierte er später in der „Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben“ (1862–1875). Er trat für eine Anpassung des Zeremonialgesetzes an die veränderten Begebenheiten der modernen Zeit ein, wobei es ihm auch hier darum ging, das Judentum behutsam an die seiner Meinung nach notwendigen Reformen heranzuführen. Dabei habe Geiger „das Recht der Wissenschaft und historischen Kritik in der jüdischen Theologie nachdrücklich vertreten und die Idee der Entwicklung auf das Judentum angewendet.“445 Als Geiger nicht wie gewünscht Direktor des 1854 in Breslau gegründeten „Jüdisch-Theologischen Seminars“ wurde, wechselte er von Frankfurt nach Berlin und wurde neben seinem Amt als Rabbiner Dozent an der neu gegründeten „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“. Geigers Forschungsarbeiten erstreckten sich auch während seiner dortigen Tätigkeit auf eine große Anzahl von Gebieten im Bereich der neu entstehenden Wissenschaft des Judentums. Geiger wendete neue wissenschaftliche Arbeitsweisen auch auf das Studium des Judentums an und „in seiner wichtigsten Schrift ‚Urschrift und Übersetzung der Bibel‘ (1857) führt er die Methoden der protestantischen Bibelkritik in die Wissenschaft des Judentums ein.“446 Von Anfang an war Geigers Position gegenüber dem Christentum von Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der einen Seite begriff er das Christentum als intolerant gegenüber dem Judentum, war aber auf der anderen Seite von der systematischen Theologie der Christen angetan.447 Geigers selbstbewusste Stellungnahme gegen 443 Meyer: Jüdisches Selbstverständnis, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. 2. Bd., S. 158. 444 Max Joseph: Abraham Geiger. In: Jüdisches Lexikon. Bd. II. Sp. 940–943. Hier: Sp. 941. 445 Joseph: Abraham Geiger, Sp. 943. 446 Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 59. 447 “From the outset, Geiger’s attitude toward Christianity is divided. On the one hand, he paints the religion of Christianity negatively, as intolerant, superstitious, filled with personal animosity toward Jews, and as theology rooted in historical error. On the other hand, he exIberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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ein Christentum, dessen Prinzipien auf dem Vorurteil gründeten, zeigte sich beispielsweise in seinem Beitrag „Kampf gegen christliche Theologen“ in der von ihm herausgegeben „Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie“. In diesem Beitrag verdeutlichte Geiger am Beispiel herausragender christlicher Theologen der Zeit, dass unter diesen das Vorurteil gegenüber den Juden noch immer fortlebe und deren Handeln bestimme. Deshalb sei es geboten, von jüdisch-theologischer Seite dagegen Stellung zu beziehen. Geiger nennt Michaelis als Beispiel, weil dessen vorurteilsbelastete Position gegen Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ ihn zu einem Mann der Vergangenheit und des bestehenden Vorurteils gemacht habe. Doch diese Einstellung unter christlichen Theologen der Vergangenheit finde sich auch bei herausragenden christlichen Theologen der Gegenwart. So erklärte der Historiker und protestantische Theologe Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), der Isaak Markus Jost zur Abfassung seiner „Geschichte der Israeliten“ ermutigte,448 „die moralische Verschlechterung der Juden“449 sei von diesen selbst herbeigeführt worden. Die Vorstellung einer spezifisch jüdischen „Verderbtheit“450 wurde in der Konsequenz dazu verdichtet, die Unmöglichkeit einer bürgerlichen Gleichstellung der Juden anzuführen. Geiger wandte sich entschieden gegen dieses vorherrschende Vorurteil unter den zeitgenössischen christlichen Theologen und versuchte, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Die Grundlagen für den Wunsch nach einem Dialog zeigten sich auch in Geigers Überlegung, Christentum und Islam hätten sich bei der Gestaltung ihrer eigenen Religionen aus dem Fundus des Judentums bedient. Dieser Ansatz Geigers kann durchaus als eine „Gegengeschichte“ aufgefasst werden,451 wobei Geiger der jüdischen Kultur einen hohen Grad an Vermittlung zuschrieb, der sich nach außen und nach innen richtete, was er an der Geschichte der Juden in Spanien aufzeigte. Die sephardischen Juden hätten dort von dem hohen Niveu der Bildungseinrichtungen im islamischen Spanien profitiert und das damit einhergehende kulturelle

448 449

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pressed envy for the sophistication of Christian systematic theology.” (Heschel: Jewish Jesus, S. 63). Meyer: Jüdisches Selbstverständnis, in: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. 2. Bd., S. 144. Abraham Geiger: Kampf gegen christliche Theologen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie. Heft 1 (1835), S. 52–67. Hier: S. 56. Die Abhandlung wird in Heft 3 (1835), S. 340–357 fortgesetzt. Geiger: Kampf gegen christliche Theologen, S. 60. Susannah Heschel: Abraham Geiger. In: Andreas B. Kilcher/Ottfried Fraise (Hg.): Metzler Lexikon Jüdischer Philosophen. Stuttgart 2003. S. 244–247. Hier: S. 244–245. 248

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Selbstverständnis habe selbst bei einer zunehmenden Intoleranz auch unter den islamischen Herrschern zu einer Stärkung des innerjüdischen Lebens geführt.452 Wie viele seiner Vorläufer orientierte sich auch Geiger an der iberisch-sephardischen Kultur, wenn es ihm darum ging, eine Analyse des zeitgenössischen deutschsprachigen Judentums zu unternehmen. Geiger ging über die Konstruktion einer Vorbildfunktion der iberisch-sephardischen Kultur hinaus, indem er unter Einbeziehung des zeitgenössischen sephardischen Judentums in den Niederlanden und im Osmanischen Reich die gesamte geistige Entwicklung des iberisch-sephardischen Judentums im Exil in seine Analyse miteinbezog. In seinen im Winter 1849/50 gehaltenen Vorlesungen „Jüdische Geschichte von 1830 bis zur Gegenwart“ in Breslau wollte Geiger aufzeigen, dass die Juden über eine Geschichte verfügten, die sich im Austausch mit der allgemeinen Geschichte abbilde: „Ihre Stellung wird von der größeren und geringeren Freiheit der allgemeinen politischen und religiösen Entwicklung bedingt.“453 Eine kulturelle Entwicklung sei hingegen nur möglich, wenn ein Austausch zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur stattfinde, diese also in „Wechselbeziehung“ miteinander treten.454 Jüdische Geschichte nehme auch deshalb bei den drängenden Fragen der Gegenwart eine zentrale Funktion ein, weil sich nur durch sie ein „Gradmesser für die Gesundheit der staatlichen Grundsätze“ und gleichzeitig „ein Stachel für die modernen romantischen Staatskünstler“455 festlegen lasse. Dabei ging Geiger davon aus, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein Bildungsgedanke ausbreitete, der „ein Gefühl der vollen Ehrenbürtigkeit [mit den Christen, C. S.], auch das Gefühl 452 “Among the first of the many modern Jewish historians to cultivate the image of a flourishing Jewish culture under medieval Islam, Geiger attributed the productive existence of Jews within the Muslim realm to the superior level of education and culture achieved by Muslim society, in contrast to medieval Christianity. Even the subsequent developments in Islam that aroused intolerance toward Jews, Geiger writes, stimulated an inwardness and self-reflection among the Jews that proved highly constructive, producing, among other achievements, a classic medieval work concerning inner Jewish religious life, Hovot Ha-Levovot.” (Susannah Heschel: Abraham Geiger and the Jewish Jesus. Chicago 1998. S. 56–57.) 453 Geiger: Jüdische Geschichte von 1830 bis zur Gegenwart. Vorlesungen gehalten zu Breslau, Winter 1849/50. In: Abraham Geiger: Nachgelassene Schriften. Bd. 2. Hildesheim 1999 (OA Berlin 1875). S. 246–273. Hier: S. 247. 454 „Ein Kreis, welcher ganz abgesperrt ist, hat im Grunde gar keine Geschichte, er erstarrt, seine Lebenstätigkeit, Entwicklungsfähigkeit verkümmert; nur insofern er in Wechselbeziehung tritt, hat er eine solche; bloß den höheren bewegenden Faktor anerkennen wollen, und nicht wie er sich in den einzelnen Richtungen äußert, lässt die geschichtliche Erkenntnis nicht lebendig werden.“ (Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 247.) 455 Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 247. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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der vollen Deutschheit“456 hervorbrachte. Diesen Juden sei zwar die religiöse Fundierung, die Geiger als Essenz des Judentums wahrnahm, abhanden gekommen, dennoch blieb die „Liebe zu den Angehörigen bestehen.“457 Das Gefühl der Zugehörigkeit zum deutschen Kulturbereich sei vonseiten der Juden völlig ungetrübt gewesen, wenn „auch bei den Liberalen ein herber Beigeschmack von Deutschtümelei vorhanden“458 gewesen sei. An dieser Stelle zeigte sich Geigers Vorstellung von Assimilation, aber auch die Notwendigkeit, die jüdische Geschichte als Gegengeschichte zur allgemeinen Geschichte zu etablieren, die gleichzeitig deutlich machen sollte, in welchem Maße die christliche Mehrheitsgesellschaft von der falschen Annahme geprägt war, die beste Religion zu haben, ohne die es nicht möglich gewesen sei, bürgerliche Tugenden zu entwickeln. Das „andere“ als Gewinn anzuerkennen und aufzunehmen, war Geiger zufolge dabei bislang von der christlichen Mehrheitsgesellschaft nicht erkannt worden.459 Geiger in der Wissenschaft des Judentums Geiger’s Dissertation „Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen?“ (1833) etablierte das Judentum und nicht das Christentum als Fundament der westlichen Zivilisation.460 Geiger verstand das Judentum als eine religiöse und kulturelle 456 457 458 459

Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 251. Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 251. Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 252–253. „Vonseiten der Christen war eigentlich schon längst die einzige Waffe genommen, die in ihrer Borniertheit eine gewisse Macht hat – der Fanatismus; denn die Besorgnis des Christentums, seine Allmacht zu verlieren, die die Idee des christlichen Staates erzeugte, sowie die tiefer pietistisch gefärbte Ansicht von der Beherrschung aller Lebenssphären durch den christlichen Geist war noch nicht durchgedrungen; – in ruhigen Zeiten wird der Bürger rationalistisch und eine civilisierte Regierung aufgeklärt, – allein doch betrachtete man es als sich von selbst verstehend, dass das Christentum die beste Religion sei, der Mangel desselben bürgerliche und sittliche Tugenden erzeuge, dass dieselben unter den Juden vorhanden und diesem Umstande zuzuschreiben seien; man hatte überhaupt Respect vor dem Bestehenden, und je weniger die Kraft der Eigentümlichkeit in einer großen Idee vorhanden ist, um so mehr flößt das Fremdartige ein; das Leben eines Staatsorganismus, der auch das Widerstrebende, wenn es namentlich in solcher Minorität da ist, sich assimiliert, war noch nicht einmal in der Idee erkannt, viel weniger in der Wirklichkeit empfunden.“ (Geiger: Jüdische Geschichte von 1830, S. 252). 460 Das „war ein erster Schritt in Geiger’s größerem intellektuellem Projekt zu zeigen, dass das Judentum und nicht das Christentum das Fundament der westlichen Zivilisation bilde.“ (Heschel: Geiger, in Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, S. 245). 250

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Instanz, die über die eigenen religiösen und kulturellen Grenzen hinausgehend Einfluss ausgeübt habe. Diesen Einfluss verortete Geiger sowohl auf den Islam als auch auf das Christentum. Es war eine zentrale These Geigers, dass „was Gutes am Islam ist, was als ein haltbarer Gedanke in ihm erscheint, das ist ihm aus dem Judentum überkommen.“461 Dieser Gedanke manifestiere sich, so Geiger, in einem Monotheismus, den der Islam von den Bewohnern des Sinai, den Juden, übernommen hätte und dessen politische Aussage den Islam als erobernde Kraft wahrgenommen hätte. Dies sei der „einzige fruchttragende und Welt überwindende Gedanke, welchen der Islam in sich trug.“462 Nachdem die Araber ihre Eroberungen abgeschlossen hätten, seien diese bestrebt gewesen, sich „einem neuen geistigen Leben“463 hinzugeben. An der sich hier entwickelnden blühenden Kultur sollten dann auch Juden partizipieren, allerdings mussten sich dazu erst die Rahmenbedingungen ändern. Die Rolle der Juden als kulturelle Vermittler zeige sich in dem Umstand, dass diese nicht wie die Araber auf den eigenen inneren Kreis von Glaubensgenossen beschränkt blieben, sondern „überall hin tragen sie diese Werke und streuen die Saat der Kultur weithin.“464 Die Analyse der Lebensbedingungen von Juden im Herrschaftsbereich des Islam ermöglichte es Geiger, wie Susannah Heschel es beschrieben hat, eine jüdische Gegengeschichte zu formulieren. Voraussetzung dafür, dass die Araber viele Einflüsse von den Juden übernahmen, sei erst durch die vorbildliche Integration der Juden in die arabische Gesellschaft in al-Andalus möglich geworden. Michael Brenner bezeichnete diese Ansicht Geigers mit den Worten, „dass die nachbiblische jüdische Geschichte einer politischen Geschichte entbehre und daher jüdische Geschichtsschreibung in erster Linie Literaturgeschichte sei.“465 Und tatsächlich hatten für Geiger die Juden nach der Zerstörung des zweiten Tempels und dem Verlust der Eigenstaatlichkeit aufgehört, ein politisch zu verortendes Volk zu sein. Stattdessen habe es sich dann bei den Juden vielmehr ausschließlich um eine Religionsgemeinschaft gehandelt.466 Die Literatur über den Gottesdienst bei den Juden, vor allem bei Leopold Zunz, habe das Werdende und Wachsende dabei stets betont. Der Kultus der Juden müsse zusammen mit dem „ganzen religiösen

461 462 463 464 465 466

Abraham Geiger: In der Zerstreuung. Berlin 1866. S. 148. Geiger: Zerstreuung, S. 149. Geiger: Zerstreuung, S. 149. Geiger: Zerstreuung, S. 149. Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 61. Abraham Geiger: Das Judentum und seine Geschichte. Breslau 1864. S. 66–72. (Zit.in: Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni und Nils Römer (Hg.). München 2003. S. 167–170). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Organismus“467 verstanden werden. Der Begriff „Organismus“ taucht bei Geiger an vielen Stellen seines Werkes auf. Er soll auch bei ihm verdeutlichen, dass sich das Judentum immer im Austausch mit den nicht jüdischen Gesellschaften befunden habe. Daher könne, so Geiger, auch nicht von einem essentialistischen Verständnis oder Konzept von Judentum gesprochen werden. In seinem Beitrag „Der Formenglaube in seinem Umwerte und in seinen Folgen“, zuerst 1839 in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift für Jüdische Theologie“ veröffentlicht, verdeutlichte Geiger sein Konzept von Organismus, das in der Kritik an dem „inneren Geistesleben“ der Juden mündete, die das Gesetze durch Zeremonien ersetzt hätten.468 Es müsse darum gehen, das Judentum mit den Werten der nicht jüdischen Außenwelt zu verbinden. Hier käme dem Schriftsteller als dem „Priester der wahren Wissenschaft“469 eine besondere Mittlerfunktion zu. Der jüdisch-theologische Autor „muss es unumwunden bekennen, dass die Judenheit als solche eine für sich selbst bedenkliche Stellung einnimmt, dass sie durch das innere Leben, welches sie in ihrer früheren Getrenntheit entwickelt und von dem sie sich erfüllt hat, nicht zu der vollen Harmonie hat, mit der sie außerhalb ihrer befindlichen Kreise gelangen kann, und dass sie daher, ohne ihre Eigentümlichkeit aufzugeben, die Einseitigkeiten fahren lasse müsse, um friedlich ein Glied in dem menschlichen Organismus sein zu können.“470 Die Juden hätten trotzt Unterdrückung und ohne eigenes Staatswesen ihre Einheit bewahrt. „Die Einheit der jüdischen Geschichte lag in der Treue der Juden zur Idee des Monotheismus und im Freihalten ihres Glaubens von jeder politischen Verflechtung.“ Dennoch verband Geiger mit dieser Idee des Judentums auch die zentrale Botschaft: „Das historische Wesen der Juden stand nicht im Widerspruch zu ihrer völligen politischen und kulturellen Integration.“471 Dies habe die Juden dazu prädestiniert, volle Emanzipation zu erfahren. Das Judentum habe im Verlauf 467 Abraham Geiger: Der Hamburger Tempelstreit. In: Nachgelassenene Schriften. 1. Bd. S. 113–196, hier: S. 193. (Zuerst Breslau 1842 erschienen) 468 „Als aber die freie sittliche Kraft sich zurückzog, da wurden die Mittel in den Vordergrund gestellt, die Zeremonien wurden Gesetze, und sie wurden immer weiter ausgedehnt; ihr inneres Geistesleben war erstorben, und der zersetzende Verstand konnte sich nicht genug tun, das tote Skelett zu zerteilen und jedes abgelöste Glied zu einem neuen selbständigen Organismus zu machen.“ (Abraham Geiger: Der Formenglaube in seinem Umwerte und in seinen Folgen. In: Abraham Geigers Nachgelassene Schriften, Bd. 5, S. 477–487. Hier: S. 487–488. Zuerst in der Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie, Heft 1, 1839, S. 1–12 erschienen). 469 Abraham Geiger: Die zwei Betrachtungsweisen: Der Schriftsteller und der Rabbiner. In: A. Geigers Nachgelassene Schriften, Bd. 5, S. 492–504. Hier: S. 495. 470 Geiger: Betrachtungsweisen, S. 495–496. 471 Meyer: Jüdisches Selbstverständnis, S. 144–145. 252

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seiner Geschichte im Zusammenleben mit unterschiedlichen Mehrheitsgesellschaften eine stetige Weiterentwicklung durchlaufen. Diese Fähigkeit, sich an veränderte Situationen anzupassen, würde das zeitgenössische Judentum ebenfalls dazu prädestinieren, sich den Reformen der Gegenwart zu stellen. Abraham Geigers Sohn Ludwig fasst die Überzeugung seines Vaters so zusammen, dass die Teilhabe an der allgemeinen Bildung der Zeit es den Juden möglich gemacht habe, in der Philosophie Bedeutendes zu leisten. Die Philosophie konnte auf den Glauben wirken, ohne dass zu diesem Zeitpunkt ein Spannungsverhältnis bereits Grundlage späterer Probleme – namentlich die Aufweichung des religiösen Prinzips des Judentums – gewesen wäre.472 Es war nicht verwunderlich, dass Geiger insbesondere der Romantik als einer geistesgeschichtlichen Bewegung mit politischer Sendung kritisch gegenüberstand. In seiner Abhandlung „Alte Romantik, neue Reaktion“, die 1862 in der von ihm neu herausgegebenen Zeitschrift „Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben“ (1862–1875)473 erschien, formulierte Geiger seine Kritik. Er beschrieb die Romantik als das Gegenteil von rationaler Philosophie, als ein Prinzip von „Genialität“ auf Grundlage von „Geistessprüngen“, die alle in der Vorstellung eines „ehrwürdigen Mittelalters mündeten, das ganz und unverdorben Heil verspreche.“474 Geiger begriff die Romantik als eine rückwärtsgewandte und verwirrte Epoche und erklärte „sie arbeitete im Interesse der Leichen.“475 In ihr herrschten „Impotenz, sterile Unfrucht472 „Die Teilnahme der Juden an der allgemeinen Bildung in den Reichen des Islam machte eine Entwicklung ihrer Wissenschaft möglich, bewirkte ein Vorherrschen der Philosophie, die ihre Ansprüche auch gegenüber Bibel und Talmud geltend machte, und die so weit eingedrungen war, dass der Zwiespalt in seiner Schärfe nicht bemerkt, dass ein Versöhnung noch nicht versucht wurde.“ (Ludwig Geiger: Abraham Geiger, S. 334). 473 Weitere Beiträge Geigers in der Zeitschrift befassen sich mit dem Lessing Denkman (Zum Lessing Denkmal), wo es heißt: Das „deutsche Volk huldigt Lessing“. (In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, 1862), die Orgel, (1862), die Semitentafel (1862), die Rabbiner der Gegenwart (1862, S. 165f.) wo Geiger konstatiert, dass sich die Kämpfe der 1830er- und 1840er-Jahre zwischen Reform und Orthodoxie gelegt hatten. 474 „Das Gesetz einer besonnen Prüfung, des ruhig fortschreitenden Gedankenganges ward verspottet; Geistessprünge bürgten, so barock sie auch sein mochten, gerade als Stempel der Genialität, für die Ächtheit und Ursprünglichkeit der Behauptung. Das Mittelalter ward gerade weil es träumte, umso ahnungsvoller, weil es nicht mit der Verstande zersetzte, umso ehrwürdiger, umso wahrhafter. Gegenüber dem Zerstückelten, das eine jede Gegenwart darbietet, erschien die Vergangenheit als ganz, unzerbröckelt, der man sich auch wieder kopfüber in die Arme werfen müsste.” (Abraham Geiger: Alte Romantik, neue Reaktion. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben. Abraham Geiger (Hg.). 1862–1875. Band 1862, S. 245–252. Hier: S. 247). 475 Geiger: Alte Romantik, S. 248. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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barkeit vor,“476 wie sich am Beispiele Savignys, Görres und Chateaubriands zeigen lasse. Insbesondere der Protestantismus habe der Romantik zu Füßen gelegen und deren „Orakelsprüchen” über die Vergangenheit gelauscht. Das Romantische war für Geiger in erster Linie nicht schöpferisch. In seinem Beitrag aus dem Jahr 1864 „Die Schulen im Orient in der Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben“ legte Geiger diese Tendenz auch in Bezug auf eine Figur aus der iberisch-sephardischen Kultur dar: Jehuda ha-Levi. In diesem Beitrag schrieb er: „Erst als die Bildung marklos wurde und zur Romantik umzuschlagen begann, begegnen wir der krankhaften Sehnsucht bei Jehuda ha-Levi, und wie erscheint er allen seinen Zeitgenossen als ein Schwärmer, den sie hoch achten und lieben, den sie aber gar nicht begreifen können.“477 Das Schwärmerische in seinen Dichtungen sei den aschkenasischen Juden Nordfrankreichs fremd geblieben, weil es unter ihnen keinen Wunsch nach Auswanderung gegeben habe. Sie hätten sich in Frankreich eingerichtet. Insbesondere die Unsicherheit über die eigene politische Situation als Juden in der Mehrheitsgesellschaft hätte die mystische Sehnsucht verstärkt und sei immer dann zutage getreten, „wenn die Heimat unsicher wird.“478 Geiger zufolge musste das Judentum ein geeigneter Partner in der Weltgeschichte werden. In diesem Sinne war es nur folgerichtig, dass Geiger sich kritisch gegenüber dem bestehenden „Palästina-Rausch“479 äußerte und stattdessen patriotisches Verhalten bezogen auf Deutschland anmahnte. In seinen 1864–1865 erschienenen „Vorlesungen über Judentum“, die auch teilweise Eingang in die Schrift „Das Judentum und seine Geschichte“, publiziert 1864 in Breslau, fanden, verdeutlichte Geiger einmal mehr die Möglichkeiten des Judentums, sich umfassend zu integrieren, sofern die Mehrheitsgesellschaft ein Klima schaffe, das von den Juden als einladend genug begriffen werden könnte. Am Beispiel der griechischen Kultur der Antike führt er diese Möglichkeit erstmals vor. Als sich der griechische Geist unter Alexander dem Großen aufgrund der von ihm erzielten Eroberungen immer mehr ausbreitete, konnte das Judentum hier reagieren: „Überall, wo eine neue Bildung sich erzeugt, wo der Geist ungehemmt sich entwickelt, ein frisches Volkstum, eine frische geistige Entwicklung sich bemerkbar macht, schließt sich das Judentum rasch an, nehmen seine Bekenner bald die neue Bildung in sich auf, verarbeiten sie, und sie erkennen in diesem Lande, das ihnen

476 Geiger: Alte Romantik, S. 250. 477 Abraham Geiger: Die Schulen im Orient. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben. 1864. S. 148. 478 Geiger: Schulen im Orient, S. 148. 479 Geiger: Schulen im Orient, S. 149. 254

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das Höchste bietet, geistige Freiheit, geistigen Aufschwung, ihre Heimat.“480 Geiger verstand das Judentum als gesunde Pflanze, ein Bild, das er mit den kulturellen Implikationen von Integration und Einbürgerung verband. Diese gesunde Pflanze Judentum benötigte von der Umgebung „Luft und Licht“ – nicht um zu überleben, sondern um sich als Teil des Ganzen integriert zu fühlen: „Luft und Licht verlangt es, und wo sie ihm geboten werden, ist seine Heimat, da fühlt es sich wie im Vaterland, als wäre es seit Jahrhunderten daselbst eingebürgert.“481 Bereits in Babylon hätte die Juden das Land als ihr Vaterland begriffen. Sie gebrauchten auch hier die Sprache der Umgebung, in diesem Fall das Aramäische. Im Perserreich wurde Aramäisch als eine der offiziellen Reichssprachen anerkannt, es galt als eine allgemein gebrauchte Verkehrssprache des ganzen Nahen Ostens. In Geigers Augen bewies das Judentum durch seine Geschichte, dass es sich ideal integrieren konnte, in diesem Zusammenhang benutzte er den Begriff „akklimatisieren“. Akklimatisation oder auch Akklimatisierung meint die individuelle physiologische Anpassung eines Organismus an sich verändernde Umweltfaktoren, wobei diese Anpassung selbst wieder umkehrbar ist. Geiger verwendete den Begriff für sein Verständnis einer aktiven Kulturvermittlung: „Überall vermag es sich zu akklimatisieren, überallhin seine Saaten zu tragen und Anteil zu nehmen an dem dortigen Volksleben, namentlich da, wo tiefere Bildung auch den Boden zu einem geistigen umzugestalten weiß.“482 Diese Anteilnahme drückte sich am eindringlichsten in der Verwendung des Griechischen als Volks- und Religionssprache aus. Die griechische Sprache wurde „ihre Sprache.“483 Abraham Geiger und das iberisch-sephardische Vorbild In seinem Essay „Die wissenschaftliche Ausbildung des Judentums in den zwei ersten Jahrhunderten des Zweiten Jahrtausends bis zum Auftreten des Maimonides“ beleuchtete Geiger das erste Mal umfassend die arabisch-jüdische Kulturepoche auf der Iberischen Halbinsel. Der Essay erschien im ersten Heft des ersten Jahrgangs der „Wissenschaftlichen Zeitschrift für Theologie“ im Jahre 1835. Hier setzte Geiger das Judentum erneut mit der umgebenden Gesellschaft in Verbindung. Solange den Juden äußere Freiheit gewährt würde, könnten sich diese ganz frei der Wissenschaft 480 Abraham Geiger: Vorlesungen über Judentum: Griechentum, Sadducäer und Pharisäer, in: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, S. 1–14. Hier: S. 3. 481 Geiger: Griechentum, Sadducäer und Pharisäer, S. 3. 482 Geiger: Griechentum, Sadducäer und Pharisäer, S. 3. 483 Geiger: Griechentum, Sadducäer und Pharisäer, S. 3. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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widmen, was sich in ihrem geistigen Leben ausdrücke. Wurden sie jedoch unterdrückt, dann war ihr eigenes geistiges Leben ebenfalls von Rohheit gekennzeichnet.484 Das hier beschriebene Klima einer geistigen Kälte habe auch negativ auf die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft ausgestrahlt. Der Islam als Religion habe es mit sich gebracht, dass „ihre höchsten Glaubenssätze das Licht der freien Forschung nicht zu scheuen“485 brauchten. In jenem der Wissenschaft zugeneigtem Klima waren die Juden integriert, was in dieser Form im christlichen Herrschaftsbereich während des Mittelalters nicht anzutreffen gewesen sei. Geiger stellte im Folgenden die Entwicklungen im Judentum in Spanien und Frankreich gegenüber. Die in Frankreich herrschende weniger tolerante und dadurch auch wissenschaftsfeindlichere Umgebung habe die Juden dazu gebracht, sich verstärkt mit dem Studium des Talmuds auseinanderzusetzen. Geiger diskutierte nicht allein die Bedeutung und das Aufkommen säkularer Wissenstraditionen im Judentum, sondern für ihn stand fest, dass die „Wissenschaft des Judentums“ als ein Transfer von Wissen die Geschichte der Juden von Anbeginn an geprägt habe.486 Als weiterer Umstand, der für die Besonderheit dieses Transfers von Wissen sprach, kam hinzu dass Geiger auch auf „die niemals unterbrochene Verbindung mit Babylon“ hinwies. Diese Verbindung habe die iberisch-sephardische Kultur auch während der Herrschaft der Araber mit einer zusätzlich religiösen Legitimationsebene versehen. Die Bedeutung von Sprache hinsichtlich der Ausbildung und dem Verständnis von Identität nahm hier einen sehr großen Stellenwert ein. Sephardische Juden wurden in dem Moment zu Vorbildern, in dem sie Regeln aus der arabischen Sprache für ihre eigenen Arbeiten in arabischer Sprache ableiteten.487 Die arabisch schreibenden Autoren wurden hier klar gegenüber den nicht arabisch 484 „Lebten die Juden in freier Verfassung, ungekränkt und ungedrückt, vom Lichte der Wissenschaft beleuchtet, dann war auch in ihnen ein freies Streben sichtbar; lastete hingegen die eiserne Hand des bürgerlichen Druckes auf ihnen, waren die Völker (wie dies gewöhnlich war), die die Zuchtrute über sie schwangen, selbst roh, so ward selbst der europäische Geist im Dumpfe eingeschüchtert.“ (Abraham Geiger: Die wissenschaftliche Ausbildung des Judentums in den zwei ersten Jahrhunderten des Zweiten Jahrtausends bis zum Auftreten des Maimonides. In: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie. Heft 1 (1835). S. 13–38. Hier: S. 15). 485 Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 15. 486 „Die Wissenschaft des Judentums, wie sie in Persien galt, hatte sich schon früher nach Afrika und mit der Einwanderung der Araber auch nach Spanien verbreitet und fand von nun an dort ihre Hauptpflege.“ (Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 17). 487 Geiger führte hier den Grammatiker Juda ben David Abn Ehiug aus Fez, den Lexikografen Jona oder Merinos (Merwan) ben Chasdai Abn Gannach (Abulwalid) an. Die „Grammati256

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sprechenden Juden favorisiert, wie das Adjektiv „unvollkommen“ anzeigt. Darüber hinaus konnten die arabisch schreibenden Juden zu „Führern der Spanier“ werden. Geiger verstand hier unter Spaniern die Mehrheit der Bevölkerung, die selbst nicht des Arabischen kundig war.488 Das Vorbild der arabischen Sprache wirkte auch auf das Hebräische, indem sich eine spezifische Form der Sprachbildung ausgestaltete, die jedoch die Reinheit des Hebräischen stets hochhielt.489 Diese Gegenüberstellung von Arabisch und Hebräisch verdeutlichte überdies, dass die von den Juden gebrauchte reine arabische Sprache die von den Arabern verwandte schwülstige arabische Sprache an Reinheit und Stilsicherheit übertraf. Bezogen auf die sich bereits auf der Iberischen Halbinsel ausgestaltende „Wissenschaft des Judentums“ ermittelte Geiger ein breites Spektrum an Wissensfeldern, die von Juden ergriffen wurden. Er benannte die Naturwissenschaften und die Philosophie, wie sie von den Arabern betrieben wurden, verwies jedoch auf den Umstand, dass man auch der Theologie zugeneigt geblieben sei.490 So konnte Geiger ein Gesamtbild der iberisch-sephardischen Kultur ausrichten, das den Juden als kulturelle Vermittler die zentrale Funktion innerhalb der spanischen Gesellschaft einräumte, in der Geiger sie als Spanier verstand. „Bei den Spaniern geht es rasch [vorwärts] in jedem wissenschaftlichen Streben, ein jeder Zweig vervollkommnet sich unter der Hand der Juden.“491 Geiger hebt hier drei Person hervor: Bechai ben Joseph d. Ältere, Juda ben Samuel Halewi, Abraham ben Meir, berühmt unter dem Familiennamen Ibn Esra. In dem Wirken dieser drei habe die Vermittlung von griechischer Philosophie – im Wesentlichen die des Aristoteles – und positiver Offenbarungsglaube ein positives Judentums hervorgebracht.

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ken und lexicographischen Arbeiten der Araber ermunterten auch die Juden zu ähnlichen Versuchen.“ (Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 18). „Sie, die ihre Werke in arabischer Sprache verfassten, dienten von nun an den Spaniern zu Führern, während die nicht arabisch redenden Juden sich mit den unvollkommneren aber rabbinisch geschriebenen Werken des Menachem und seines Kritikers Donasch begnügen mussten.“ (Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 19). „Die Sprachbildung stieg wunderbar, man wandte die arabische Metrik mit Modifikationen auf die hebräische Sprache an und dichtete auf diese neue Weise zwar nicht gerade im Geiste der Bibel, aber doch in einer reinen Sprache, mit hohem Schwunge und glänzender Phantasie, die dennoch nicht in die hohe Schwulst arabischer Bilder ausartete.“ (Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 20). Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 20. Geiger: Ausbildung des Judentums, S. 32. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Die Funktion von Dichterbildern bei Geiger Geigers Verständnis der iberisch-sephardischen Epoche in der jüdischen Geschichte teilte sich zentral über Dichter wie Gabirol und Juda ha-Levi mit, indem er die Betrachtung dieser Kultur mit den Geschehnissen der Emanzipation der Juden in Deutschland verknüpfte. Der Funktion von Sprache kam hierbei die entscheidende Bedeutung zu. Geiger verwies auf den Umstand, dass im vollständigen Gegensatz zum übrigen Europa, wo Juden und Christen keine gemeinsame Sprache gesprochen hätten, die iberisch-sephardischen Juden das Arabische sogar im liturgischen Zusammenhang, beispielsweise in Responsen, als Kultursprache gewählt hätten.492 Die Verwendung der arabischen Sprache als Kultursprache blieb somit nicht auf den säkularen Bereich beschränkt. Geiger interpretierte den Philosophen und Dichter Salomon ibn Gabirol (1021–1058) als Hervorbringer einer Liturgie, die in der Tradition der Psalmen stand. Bereits in seiner Abhandlung „Jüdische Dichtungen der spanischen Schule“ aus dem Jahre 1856 bezeichnete Geiger Gabirol als Hauptrepräsentanten „der Periode der Kraft, des stürmischen Dranges.“ Die Zeit nach Gabirol habe hingegen nicht mehr über „ureigene Schöpferkraft“ verfügt. Die Hochzeit einer ureigenen Kreativität sei bereits im Erloschen begriffen. Abu-Harun Moses ben Esra habe dieser Künstlichkeit der Form „Geist und Sprache [ge]opfert.“493 Diese dichterische Kraft Gabirols basierte sowohl auf dem Judentum als auch auf seiner Zugehörigkeit zur arabischen Kultur, die sich über die Vermittlung griechischen Wissens, insbesondere in der Philosophie, auszeichnete. Auf Grundlage dieser beiden Komponenten komme Gabirol eine herausragende Bedeutung zu. Diese sei jedoch nicht einer Konzeption von Hybridität verpflichtet, vielmehr hob Geiger die nationale Identität Gabirols hervor. „Aber er war der erste unter den Arabern, und zwar nicht bloß unter den jüdischen Philosophen, und blieb fast der Einzige, der mit aller Kraft des Geistes dieses System nach seiner ganzen Konsequenz verarbeitete.“494

492 “In the Middle Ages, Arabic speaking rabbis wrote their responsa on religious law, their books on Jewish theology, and certainly all books dealing with pure philosophical and scientific subjects in Arabic. In Islamic Spain, only secular and religious poetry or ornate prose were written in Hebrew.” (Raymond P. Scheindlin: Hebrew Poetry in Medieval Spain. In: Convivencia. Jews, Muslims, and Christian in Medieval Spain. Edited by Vivian B. Mann u.a. New York 1992. S. 35–59. Hier: S. 50). Zu Gabirol vgl. K. Dreyer: Die religiöse Gedankenwelt des Salomon ibn Gabirol. Leipzig 1930. 493 Geiger: Jüdische Dichtungen, S. 229. 494 Abraham Geiger: Salomo Gabirol und seine Dichtungen. Leipzig 1867. (=  Schriften hg. vom Institute zur Förderung der israelitischen Literatur. Zwölftes Jahr 1866–67). S. 88. 258

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Tatsächlich war Gabirol innerhalb seines philosophischen Systems durchaus von der Erkenntnis eines „Dazwischen“ geprägt. Nach außen gab er dem Druck nach, hielt jedoch innerhalb seiner Werke ein eigenständiges Denken stets hoch.495 Die Bedeutung Gabirols, so Geiger, habe sich in der Rezeption nachfolgender Generationen gezeigt. Bei der Wahrnehmung seiner religiösen Schriften sehe es hingegen anders aus, da der Denker von dem Dichter Gabirol getrennt werden müsse.496 Vor allem die Rezeption seiner philosophischen Werke sei von einer großen Ambivalenz gekennzeichnet gewesen und keinesfalls auf das 11. und 12. Jahrhundert in Spanien beschränkt. In al-Andalus sei allerdings durch die Vermischung von verschiedenen Kulturen eine Grundlage geschaffen worden, aus der eine Figur wie Gabirol überhaupt erst hervorgehen konnte. Das Gleiche habe in den Niederlanden im 17. Jahrhundert für Baruch Spinoza gegolten. Bezogen auf die Figur Gabirols habe sich bereits nach dessen Tod eine Abwärtsbewegung innerhalb der Dichtkunst der Zeit feststellen lassen. Geiger setzte in seiner Beschreibung einen Schwerpunkt auf die Dichtkunst des „Castiliers Abu’ l-Hassan“, dieser wies auf die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse, die sich in Spanien ausgebreitet hatten und diesen Ort einzigartig machten, hin. Die gemeinsame Kultur von Arabern, Juden und Christen habe lange Zeit jede religiöse Intoleranz unmöglich gemacht. „Spanien war namentlich seit dem zehnten Jahrhundert der Hauptsitz dieser herrlichen Geistesentwicklung unter den Juden. Castilien, trotzdem dass es im elften Jahrhundert bereits christlich war, blieb für Juden dennoch noch ganz eine 495 „Gabirol kennt den Widerspruch, in welchem er sich mit der gangbaren Lehre des Judentums befindet und beruhigt sich einfach dabei; er ist kein Mann des ‚Oder‘ und ‚Vielleicht‘ er bleibt bei seiner Überzeugung stehen und lässt alles Andere neben liegen. Gabirol mag, wie das im Mittelalter kaum anders denkbar ist, sich allen Anforderungen, die das damalige Judentum damals stellte, praktisch gefügt haben, aber aus seinem Denken hat er dieselben offenbar ausgeschlossen.“ (Geiger: Gabirol, S. 93). 496 „Der Denker Gabirol hat den inneren Zusammenhang mit derjenigen Gestaltung der Religion gelöst, welche auf geschichtlichen Tatsachen beruht; anders der Dichter Gabirol. Der Mann, der als Denker nur der einfachen gestaltlosen Einheit huldigt, sich nur bei der Zertrümmerung aller Erscheinungen wohlfühlt, sich selbst mit versenkt in den Urstrom, aus dem das ganze Weltdasein entfließt: derselbe Mann hüllt sich, wenn die Muse ihn umspielt, in das falten- und farbenreiche Gewand der Dichtung und wandelt mit sinnlicher Glut seine Ideen in greifbare, liebenswerte Gestalten um. Wohl schwingt er sich empor zur Höhe des Unendlichen und Vollkommenen, um dort in Verzückung anzubeten, aber er senkt auch den Blick zum unvollkommenen Menschen, in Buße der eignen Schwäche inne werdend, er umfasst auch mit Liebe sein Israel, sonnt sich in denen, die von ihm ausgegangen, klagt über dessen Leiden, ersehnt seine zu neuer Herrlichkeit erblühende Zukunft und versäumt auch nicht, mit seiner Verse Pracht die Bräuche und Vorschriften des Judentums zu schmücken.“ (Geiger: Gabirol, S. 96). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Stätte arabischer Bildung.“497 Die Juden konnten sich trotz der kämpferischen Auseinandersetzungen geistig weiter entfalten, wobei sich ihre Anhänglichkeit an die arabische Kultur weiter ausgeprägt habe. Bezogen auf die Juden in Aschkenas zeichnete Geiger ein anderes Bild. Diese wären „durch den christlichen Kampf [zu] noch mehr innerlicher Tiefe als ihre unter Arabern lebenden Brüder“498 gelangt. Nach dieser Einleitung stellte Geiger Juda ha-Levi vor, indem er dessen Leben in mehrere Abschnitte unterteilte: der Jüngling, der Arzt, der Freund, der Mann, Unlust am Dichten, der religiöse Dichter, der Philosoph, der Pilger, sowie ein abschließender Anhang mit dem Kapitel „Die Nachwelt“. Der Jüngling „trug, wie die unter den Arabern lebenden Juden, neben seinem jüdischen auch einen arabischen Namen.“499 Schon für den Heranwachsenden stellte sich also durch die doppelte Namensgebung ein vieldeutiges Verständnis von Zugehörigkeit her. Es handelte sich hier um ein spezifisches Verständnis von Zugehörigkeit, das sich sehr wohl in zwei Sprachen und Kulturen ausdrücken konnte. Es sei nicht notwendig, so Geiger, ein Bekenntnis zu einer Sprache und einer Kultur zu geben, um Zugehörigkeit auszudrücken. Geiger bezeichnete Juda und die anderen Dichter als „jüdische Dichter unter den Arabern.“500 Sie blieben jedoch immer auch Juden, weil sie der Unsittlichkeit der Araber widerstanden hätten. Diese bildete die Grundlage für Geigers Reserviertheit gegenüber der Adaption der arabischen Dichtungen.501 Geiger machte dies am Genre der Hochzeitslieder deutlich, welche Juden in anderen Ländern gänzlich unbekannt gewesen seien. Aber die Hochzeitslieder hätten auch nicht der arabischen Unsitte, mehrere Frauen zu ehelichen, entsprochen. „Es ist ein Ehrendenkmal für die Juden, dass sie bei allem Eifer, mit welchem sie arabische Sitte aufnahmen, doch deren Unsitte zu widerstehen vermochten, selbst ohne dass bindende Gesetzte sie ihnen verboten.“502 Dies habe sich in dem jungen Juda dadurch gezeigt, dass seine Gedichte „unbefangen, wahr und innig“503 gewesen seien. Damit habe er sich von Dichtern wie Salomo ibn Gabirol und AbuHarun unterschieden, die entweder schon von frühester Jugend an umdüstert oder aber deren Gedichte nicht authentisch, sondern stilisiert gewesen seien. Beispielhaft zeige sich dies in den Dichtungen Juda ha-Levis, der aus einem „Gefühl romanti497 Abraham Geiger: Diwan des Castiliers Abu’l-Hassan Juda ha-Levi nebst Biografie und Anmerkungen. Breslau 1851. (In: Abraham Geigers Nachgelassene Schriften. Ludwig Geiger (Hg.). Berlin 1876. Hier: Bd. 3. Juda ha-Levi, S. 97–177. Hier bes. S. 104). 498 Geiger: Diwan, S. 104. 499 Geiger: Diwan, S. 105. 500 Geiger: Diwan, S. 111. 501 Cole: Dream of the Poem, S. 144. 502 Geiger: Diwan, S. 114. 503 Geiger: Diwan, S. 106. 260

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scher Sehnsucht, als schmerzliche Wehmut“ auftrete.504 Das eigentlich Ursprüngliche der Dichtung sei immer dann im Absinken begriffen, wenn „zu sehr der Künstlichkeit der Form“ Bedeutung geschenkt werde. Im Kapitel „Der Arzt“ erfährt der Leser mehr über den Bildungshintergrund Juda ha-Levis. Seine Gedichte seien von einer „edlen Unabhängigkeit“505 gekennzeichnet. Diese hänge zentral mit seiner genossenen Bildung zusammen, die Geiger als „Wissenschaft des Judentums“ bezeichnete. Bezogen auf die Lebensgeschichte Juda ha-Levis zeigte Geiger den Einfluss dieser Wissenschaft des Judentums mit seiner fundierten Vermittlung von jüdischem Wissen deutlich auf, wodurch Juda „ein tiefes Eindringen in den Geist des Judentums“ möglich gewesen sei.506 Diese Vermittlungsfähigkeit habe sich durch die Kenntnis zweier Sprachen, des Arabischen und des Kastilischen, besonders wirksam gezeigt.507 Die dichterische Inspiration Judas gründete auf seiner tief empfundenen Religiosität, die Geiger im Kapitel „Der religiöse Dichter“ näher beleuchtete. „Er weihete seine Leier Gott,“ und seine Dichtungen seien nicht allein der schöngeistigen Betrachtung verpflichtet gewesen, sondern seine Dichtungen „erhielten bald die Bestimmung für den öffentlichen Gottesdienst.“ Dies sei nicht erst seit Juda ha-Levi im Judentum üblich gewesen.508 Diese Tradition sei vielmehr bereits in Palästina und Ba-

504 Abraham Geiger: Jüdische Dichtungen in der spanischen Schule. Leipzig 1856. (= Abraham Geigers Nachgelassene Schriften. Ludwig Geiger (Hg.). 3. Bd. Leipzig 1876. S. 225– 251. Hier: S. 224–225). 505 Geiger: Diwan, S.115. 506 „Früh lag er der Wissenschaft des Judentums, ob, und ihr verdankt er die Meisterschaft in künstlerischer Handhabung der hebräischen Sprache, die genaue Bekanntschaft mit der talmudischen Literatur und ein tiefes Eindringen in den Geist des Judentums. (Geiger: Diwan, S. 116). 507 Die Wissenschaft des Judentums zu Zeiten Judas habe sich demnach in drei Wissensfeldern ausgeprägt. 1. (Hebräische) Sprache, 2. Kenntnis der talmudischen Literatur, 3. Kenntnis in den Geist des Judentums. Neben diesen innerjüdischen Bereichen machte Geiger klar, dass der Gedanke von Wissenschaft eben nur dann funktioniere, wenn die Wissenschaft der Mehrheitskultur miteinbezogen werde. So habe Juda ha-Levi „mit gleicher Liebe den damals unter den Arabern mit Eifer gepflegten Zweigen der Wissenschaft“ angehangen. Diese Eigenschaft brachte es mit sich, dass er sich in mehreren Sprachen bewegen musste. „Er hatte das Arabische und Castilische inne, schrieb und dichtete darin. Er machte sich mit allen Zweigen der Philosophie vertraut, welche nach dem umfassenden Begriff der damaligen Zeit auch die Naturkunde, die Heilkunde, Mathematik, Sternkunde u.s.w. einschloss.“ (Geiger: Diwan, S. 116). 508 „Schon lange war es üblich unter den Juden, dass die gefeiertesten Männer mit Dichtungen die herkömmlichere Liturgie bereicherten.“ (Geiger: Diwan, S. 138). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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bylonien begründet worden und habe sich von dort nach Westen ausgebreitet. Juda war also diesem Verständnis nach ein integriertes Glied einer langen Traditionsreihe. Geiger betrachtete diese Vertreter der iberisch-sephardischen Kultur immer im Hinblick auf die Situation der Juden in Deutschland. Bereits in einem Brief an Samson Raphael Hirsch in Oldenburg aus Bonn vom 6. April 1831 zeigte Geiger auf, wie stark eine Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen deutschsprachigen Judentum durch das historische Exempel der iberisch-sephardischen Kultur an Bedeutung gewann: „Möchten doch die Juden des ganzen Deutschland endlich ihrer schmählichen Knechtschaft durch Bemühungen jeder Art ein Ende machen, und wahrlich sie können es in der jetzigen freisinnigen, sich kräftig entwickelnden und voranschreitenden Zeit! Halten Sie diese Angelegenheit nicht für weltlich und Ihrem Stande nicht angemessen, denn hängt nicht geistige und körperliche Freiheit aufs Genaueste zusammen, und hat uns nicht die Geschichte in ihrer Hinweisung auf die Blühte der Juden in Spanien und auf die mittelalterliche Finsternis derselben in Deutschland hinlänglich belehrt?“509 Und in seinen „Literaturbriefen“ aus dem Jahr 1853 wies Geiger auf den gewichtigen Umstand hin, dass der Gebrauch der arabischen Sprache bei den Juden auch in liturgischen und theologischen Texten ein Indikator dafür sei, dass die hebräische Sprache als eine reine und durch die Umgebung geprägte Kultursprache aufzufassen sei, wenn er in seinem ersten Brief aus Breslau am 7. Juli 1853 schreibt: „Darin erkennt man auch den mächtigen Unterschied zwischen unserer gegenwärtigen Bildung und der des spanisch-arabischen Mittelalters. Die Schriftsteller des genannten Zeitraumes schrieben alle ihre Werke, mit Ausnahme von Dichtungen, also auch die von streng talmudischem Inhalte, arabisch; sie standen demnach in ihrer Zeit und dachten zugleich rabbinisch, die Bildung der Zeit vertrug sich mit der rabbinischen Orthodoxie, während in unseren Tagen der Gebrauch der vaterländischen Sprache für solche Gegenstände fast unmöglich ist.“510

Die deutsche Sprache eigne sich als „vaterländische Sprache“ nicht dazu, sich mit den heiligen Texten des Judentums zu beschäftigen. Im Herrschaftsbereich der Araber hätten sich Juden allerdings des Arabischen als Bildungs- und Kultursprache bedient und sogar religiöse Abhandlungen auf Arabisch geschrieben. Geiger verstand dies als Umstand für eine spezifisch jüdisch-arabische Identität. Auffällig ist, dass sich Geiger an der iberisch-sephardischen Kultur als Vorbild orientierte, wenn es ihm darum ging, eine Analyse des zeitgenössischen deutschsprachigen Judentums herzuzustellen. Dabei interpretierte er die iberisch-sephardische Kultur als eine 509 Brief Abraham Geigers an Rabbiner Hirsch in Oldenburg, Bonn, 6. April 1831. In: Abraham Geiger’s Leben in Briefen. Ludwig Geiger (Hg.). Berlin 1878. S. 49. 510 Abraham Geiger’s Nachgelassene Schriften. Ludwig Geiger (Hg.). 2. Bd. Berlin 1875. S. 286. 262

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„edle Bepflanzung [...], die aus gesundem Leben sich erzeugt“511 habe. Er erklärte dies besonders an den Beiträgen der iberisch-sephardischen Juden als die wissenschaftliche und zugleich schöngeistige Literatur der Zeit. In Spanien sie es zu einer fruchtbaren Verbindung von geistiger und körperlicher Freiheit gekommen, wohingegen in Deutschland noch „mittelalterliche Finsternis“ herrschte und zwar sogar noch in der gegenwärtigen „freisinnigen, sich kräftig entwickelnden und voranschreitenden Zeit“. Für Geiger hatten die sephardischen Juden „aus den Quellen des geistigen Lebens unter den Arabern gierig geschöpft und den Boden befruchtet, aber auch im christlich gewordenen Spanien [...] haben sie die vaterländische Literatur gepflegt, als ächte Spanier sich gefühlt und gewirkt.“512 Charakteristisch an den sephardischen Juden war also ihre Zugehörigkeit zu den Spaniern. Sie wurden durch ihre kulturelle Vermittlertätigkeit in das spanische Volk aufgenommen, das Land begriffen sie als Vaterland. Scharf grenzte Geiger hingegen diese Lebensbedingungen einer Integration in die islamische Gesellschaft in alAndalus von der politischen Situation unter christlicher Herrschaft ab. Zwar seien auch unter der Herrschaft christlicher Fürsten Juden noch als kulturelle Vermittler aufgetreten, allerdings hätte es bereits Tendenzen zur Assimilation der iberischen Juden gegeben, die um den Preis der Macht und des Reichtums ihr Judentum am Ende aufgegeben hätten und zum Christentum übergetreten seien. Dies sah Geiger jedoch eindeutig als den falschen Schritt an und kritisierte die doppelseitig ausgerichtete Identität als spanischer Edelmann und Jude der iberisch-sephardischen Juden im christlichen Herrschaftsbereich scharf: „Sie lebten als stolze spanische Hidalgos und waren zugleich spanische Juden mit dem vollen Bewusstsein alten Adels und Einflusses.“513 Die Kategorie „Volk“ nahm auch in Geigers Verständnis eines zeitgenössischen Wissenschaftsbegriffs eine aufschlussreiche Rolle ein. In seiner „Allgemeinen Einleitung in die Wissenschaft des Judentums“, ursprünglich als Vorlesung an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin 1872–1874 gehalten, gab Geiger ausführlich Auskunft über sein Verständnis von Wissenschaft mit einem Wissenschaftsbegriff, den er eng mit seiner Auffassung von Volk in Verbindung setzte: „Des Judentums Kraft ist es eben, dass es aus einem vollen Volksleben hervorgegangen, eine Sprache und eine Volksgeschichte hat; sein Gedanke war ein allgemein umfassender und musste, um nicht als schwebender Schatten zu erscheinen, als gesunde Volksindividualität 511 Abraham Geiger: Jüdische Dichtungen der spanischen und italienischen Schule, Leipzig 1856, S. 7. 512 Abraham Geiger: Isaak Da Costa. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben vom 8. Februar 1862, S. 223–232. Hier: S. 224. 513 Geiger: Isaak Da Costa, S. 227. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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sich ausprägen, die einerseits die Menschheit ganz in sich realisiert sieht, und dennoch die ganze Menschenwelt außer sich zu umfassen trachtet.“514

Das Christentum unterscheide sich in dieser Hinsicht im Verlauf seiner Geschichte fundamental vom Judentum. Es sei zwar „allgemein“ aufgetreten, „aber gerade in dieser Volks- und Sprachlosigkeit beruht seine Schwäche.“515 Daran anknüpfend konnte Geiger auch seinen Vorwurf gegenüber dem Christentum als romantisch wiederholen: „Das Christentum ist die echte Mutter der Mystik und Romantik, das Judentum hingegen ist klar, konkret, lebensfrisch, lebensfroh, Geist durchdrungen, die irdische Welt nicht verleugnend, sondern verklärend, ein unbestimmtes Volk mit seiner Sprache und Geschichte sich anlehnend, und die Menschheit umfassend.“516 Geiger zufolge habe das Konzept einer Wissenschaft des Judentums auf der Grundlage eines Austausches von jüdischen Quellen mit denen der nicht jüdischen Welt bereits seit den Anfängen des Judentums bestanden. Das Judentum habe auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Ausprägung „nicht abgeschlossen und entlegen gewirkt“, sondern es habe „vielmehr fast allezeit in Mitten der mächtigsten welthistorischen Geistesströmungen, in den Brennpunkten maßgebender Kulturentwicklung“517 gestanden. Juden hätten Impulse außerhalb der innerjüdischen Welt empfangen, weil sie diesen offen gegenübergestanden hätten. Darüber hinaus seien Juden inmitten der geistigen Bewegungen der Zeit als Vermittler tätig gewesen, ohne sich jedoch zu assimilieren, was sie in die Lage versetzt habe, „selbstständige Lebenskräftigkeit“ erlangt zu haben.518 Diese „selbstständige Lebenskräftigkeit“ habe das Geistesleben der Weltgeschichte maßgeblich mitgestaltet, es sei geradewegs durch diesen jüdischen Anteil daran „herausgeboren“519 worden. Geiger machte dies an drei Beispielen fest, die sein Verständnis der zentralen Bedeutung des Judentums hervorheben. Als erstes habe das Judentum „das Christen-

514 Abraham Geigers Allgemeine Einleitung in die Wissenschaft des Judentums. Ludwig Geiger (Hg.). Sonderdruck aus A. Geigers Nachgelassenen Schriften. Bd. II. Berlin 1875. S. 5–6. 515 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 6. 516 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 7. 517 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 7–8. 518 „Schon dass sie für die Anregungen von diesen Centralstätten der Bildung empfänglich, sich ihnen nicht verschlossen, aber in ihnen nicht aufgegangen, sondern sie in sich nach ihrer Weise verarbeitet, zeugt für ihre selbstständige Lebenskräftigkeit.“ (Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8). 519 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8. 264

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tum herausgeboren,“520 darüber hinaus habe es „den Islam hervorgerufen.“521 Diese Einflussnahme des Judentums sei jedoch keinesfalls auf die beiden anderen monotheistischen Religionen beschränkt geblieben, sondern habe schließlich auch die Philosophie der Neuzeit ins Leben gerufen. Das Judentum habe „in der Neuzeit den Anstoß zur Umgestaltung der philosophischen Anschauung gegeben, indem es Spinoza ausgerüstet hat.“522 Geiger schloss hier einen Philosophen in seine Überlegung mit ein, dessen kritische Haltung zum Judentum und der damit verbundene Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde in Amsterdam ihn halachisch nicht als Mitglied des Judentums gelten ließ. Geigers Absicht war, ihn als Ideengeber der modernen Philosophie zu präsentieren. Der aktive Anteil der Juden an den Geistesbewegungen der jeweiligen Zeit habe zu dieser kulturellen Produktivität geführt, die Juden als Vermittler auftreten ließ, ohne in der Mehrheitskultur aufzugehen. Dies nahm ihren Ausgang bereits in der griechischen Diaspora, wo das Judentum sich mit dem Griechentum „vermählt“ habe, und es sich von Kulturstufe zu Kulturstufe weiterentwickelt und immer auch Errungenschaften von der Mehrheitsgesellschaft in das Judentum integriert habe.523 Geigers Mittelalterbegriff grenzte sich hier klar von den Vertretern der Romantik ab, die wie Novalis von einem monolithisch geprägten Mittelalterbegriff ausgegangen waren, ohne nicht christliche Gruppen überhaupt zu berücksichtigen. Bei Geiger galten die Juden als maßgebliche Ideengeber. Sie waren es, die das kulturelle Erbe Europas – basierend auf dem Fundament griechischer Kultur – durch die von ihnen angestellten Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische überhaupt erst wieder nach Europa zurückbrachten. Für Geiger stand es außer Frage, diesen Begriff von Wissenschaft und die Rolle der Juden als Vermittler auch für die Gegenwart anzuführen.524 Da sich historisch gesehen die Wissenschaft des Judentums – Geiger bringt dafür den Beweis in seiner Darstellung – aus sich selbst erschaffen habe, sei es nun notwendig, das Studium der Wissenschaft des Judentums systematisch zu betreiben, und zwar in den drei Hauptbereichen Sprachwissenschaft, Literaturgeschichte und Philosophie. Bezüglich der Sprachwissenschaft wurde Geiger 520 521 522 523

Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8. „Mit dem Griechentum sich vermählend, den Alexandrinismus erzeugte, später mit den Arabern im engsten Vereine, in sich selbst zu einer hohen Blüte sich entfaltete, mildtätig war und der gesamten Geistesbewegung, dem ganzen christlichen Mittelalter die unter den Arabern geretteten geistigen Erbstücke aus dem Altertum wieder vermittelte.“ (Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8). 524 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 8. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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sehr konkret. Anhand seines Studiums des Pentateuch habe sich gezeigt, dass sich das Hebräische zwischen dem Aramäischen, das Geiger als „abgelebten Greis“ bezeichnete und dem Arabischen, „dem Jüngling“, in einer besonderen Mittlerfunktion befunden habe, die Geiger mit den Worten „in der Mitte den jugendfrischen Mann“525 interpretierte. Von den Arabern hätten die Juden die „wissenschaftliche Auffassung“526 der Sprache genommen. Diese Grundlage, basierend auf den Prinzipien von Kultur und Wissenschaftlichkeit, habe dazu geführt, dass „die trefflichsten Werke der jüdischen Literatur arabisch geschrieben sind.“527 Zudem sei „eine hebräische Sprachwissenschaft“528 durch die Araber angeregt worden. Dieser Verweis auf die gegenwärtige Situation impliziert, dass das Studium der jüdischen Geschichte nur an jüdischen theologischen Seminaren unterrichtet wurde und von der christlichen Mehrheitsgesellschaft nicht nur nicht gewünscht, sondern sogar als der bürgerlichen Verbesserung der Juden als entgegengesetzt aufgefasst wurde. Während Geiger an verschiedenen Stellen die iberisch-sephardischen Juden als kulturelle Vermittler pries, die sich nicht von der arabischen Mehrheitskultur in Spanien distanzierten, sondern im Gegenteil die griechische Philosophie über arabische Übersetzungen auch ins lateinische Mittelalter eindringen ließen, zeigt sich seine Auffassung des Christentums an dieser Stelle durchaus vielseitig interpretierbar. Dies ist deshalb möglich, weil Geiger zwischen dem Christentum als Religion und den christlichen Völkern unterschied: „Wenn auch nicht das Christentum, so lassen doch die christlichen Völker die Wissenschaft in sich eindringen; sie erstarken an der Erweckung der alten Kultursprachen, des Griechischen und Hebräischen. Diese erlernen sie von den Juden.“529 Juden gelten hier nicht allein als Vermittler von Kultur, sondern als Lehrer der Christen. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts sei es unter den christlichen Völkern jedoch zu einer Stagnation gekommen, die Geiger mit dem Begriff der „phantastischen Mystik“530 versah; einer Zuschreibung, die Geiger auch auf die spätere Epoche der Romantik anwendete. Dass Geiger die historische Verortung der Wissenschaft des Judentums mit selbstbewusstem Blick auf die Gegenwart und die Mehrheitskultur im Deutschen Reich vor Augen hatte, zeigte sich immer wieder. Die Vorlesung wurde unmittelbar nach der Reichsgründung 1871 gehalten und mit Blick auf das Ereignis einer sich einigenden deutschen Nation hielt Geiger fest: „Wir wollen dem neuen Reiche mit seinem Kaisertum wünschen, dass ihm ähn525 526 527 528 529 530

Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 18. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 19. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 20. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 19. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 28. Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 27. 266

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liche Großtaten gelingen,“ nämlich eine „Weltliteratur aus sich herausgeboren“531 zu erschaffen. Dies sei dem Judentum nachweislich bereits gelungen, da es organisch gewachsen sei und sich verschiedenen Einflüssen ausgesetzt habe.532 Dieses organische Prinzip im Judentum bildete sich Geiger zufolge in vier Perioden ab, die er wie folgt charakterisierte: Die Zeit der Offenbarung bis zum Abschluss der biblischen Zeit, gefolgt von der Periode der Tradition vom Abschluss der Bibel bis zum Abschluss des babylonischen Talmuds, an die sich die Periode der starren Gesetzlichkeit vom Abschluss des babylonischen Talmuds bis 1750 anschloss, die dann in die letzte Periode, die „Zeit der Befreiung“533 überging. Die Periode der starren Gesetzlichkeit war die Epoche der „Kasuistik.“534 Für Geiger war dieser Begriff mit der Vorstellung von „Spitzfindigkeit“ und damit mit einer Kritik am Pilpul verbunden. Die Zeit der Befreiung zeichnete sich „durch Vernunftgebrauch und geschichtliche Forschung“ aus, die Geiger als Charakteristika für „die neuere Zeit“535 verstand. In der zweiten Periode habe sich die jüdische Nationalität auch jenseits Palästinas ausgebreitet, so geschehen in den griechischen Kolonien rund ums Mittelmeer. Schon drei Jahrhunderte vor der Entstehung des Christentums sei dies der Fall gewesen.536 Der Talmud habe allerdings das genaue Gegenteil dieses „scharf ausgeprägten Nationalbewusstseins“537 und dem sich hierin gestaltenden Verständnis von Wissenschaft verkörpert. Vom Ende des 5. Jahrhunderts an habe der Talmud jeden Ausdruck eines wissenschaftlichen Geistes unterbunden. „Es hielt und hält der Talmud seit vierzehn Jahrhunderten das Judentum umklammert, so oft auch die Wissenschaft an ihm rüttelt, und er wird, so lange das Mittelalter nicht überhaupt überwunden ist, seine Herrschaft nicht ganz einbüßen.“538 Ohne Frage stelle der Talmud eine wichtige Quelle des Judentums dar, diese müsse jedoch kritisch beleuchtet werden und die aktuelle Forschung dazu müsse weitergehen. Erst dann werde der Geist des Mittelalters sich auflösen, scheint Geiger hier sagen zu wollen. Der Geist des Mittelalters sei jedoch keinesfalls nur auf die christ531 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 30. 532 Es finden sich verschiedene Bezüge zu den Begriffen organisch und Organismus in dieser Sammlung der Vorlesungen. So heißt es auf Seite 39: „Den festern Organismus, den Benjamin geschaffen, nimmt Juda, nachdem jenes zurückgedrängt worden, auf.“ Und auf S. 90 heißt es „in dem gegenwärtigen Organismus.“ (Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 39 bzw. S. 90) 533 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 32. 534 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 32. 535 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 32. 536 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 56–57. 537 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 95. 538 Geiger: Einleitung in die Wissenschaft des Judentums, S. 95. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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lichen Reiche beschränkt geblieben. Auch unter der Herrschaft des Islam habe es Rückschläge bei der freien Entfaltung von Wissenschaft und Kultur gegeben, wie Geiger am Beispiel der Berbereinfälle in Spanien deutlich machte. Diese Einfälle schlugen die Christen auf ihrem Weg südwärts zwar zurück, sie schädigten aber auch nachhaltig die Wissenschaft in Spanien, wie das Schicksal Maimonides, der gezwungen war Spanien zu verlassen, deutlich zeige. Geigers Verständnis von Wissenschaft ruhte auf den Säulen einer starken Volkskultur. In einem Brief an einen anonymen christlichen Theologen brachte Geiger diesen Gedanken ins Spiel, indem er ihn mit der lange währenden Kultur der Juden verband: „Das Judentum hat eine große dreitausendjährige Geistesgeschichte, in der die edelsten Lebensfrüchte gereift sind, eine Geschichte von deren Ernte immer neue Nahrung ausgeht und ausgehen soll.“539 Das Judentum sei in seiner Geschichte mit dem Volksgefühl aufs Innigste verbunden und sei es noch immer. Das Christentum und der Islam seien beide aus dem Judentum hervorgegangen und „innerhalb des Judentums muss daher auch die neue religiöse Umbildung sich vollziehen.“540 Dies sei nur durch eine „dauerhafte Reform“ des Judentums möglich wie bereits in seiner „Urschrift“ und „Übersetzung der Bibel“ (1857) sowie in „Das Judentum und seine Geschichte“ (1864, 1865, 1871) dargelegt wurde. Da jedoch der Verfasser dieser Werke Jude war, seien diese nicht von christlichen Gelehrten rezipiert worden. Der Platz für Wissenschaft und Reform sei „gegenwärtig der fruchtbarste Boden für solche Zwecke [in] Deutschland. Das ist keine nationale Eitelkeit, das ist Tatsache geschichtlicher Kulturbewegung. Einst war der Mutterboden geistiger Anregung für die Juden Spanien, dann Nord- und Südfrankreich, dann Italien, dann Polen, dann Holland, seit einem Jahrhundert und darüber ist Deutschland der geistige Mittelpunkt, von dem aus die Strömung nach allen Erdteilen geht.“541 Das eindringlichste Beispiel für diese Entwicklung sei in der Gründung der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin zu sehen. Trotz ihrer eingeschränkten rechtlichen Stellung konnten insbesondere die Juden auf der Iberischen Halbinsel eine hohe moralische und intellektuelle Leitfunktion für ihre Umwelt aufbauen, die Geiger für so bedeutsam erklärte, dass diese auch nach der Vertreibung noch als eine starke kulturelle Einschreibung bestehen blieb. „Sehen Sie hin auf die Juden, die in Spanien unter den Mauren lebten! Da blühte Kunst und Wissenschaft in hohem Grade, da lebten Männer, von echt philosophischem Geiste beseelt, und wären nicht Ferdinand und Isabella, jene grausamen Ver539 Abraham Geigers Brief an L. R. Bischoffsheim, Berlin, 8. Oktober 1872. In: A. Geigers Leben in Briefen, Ludwig Geiger (Hg.). Hier: S. 349. 540 Geiger an Bischoffsheim, S. 349. 541 Geiger an Bischoffsheim, S. 351. 268

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breiter der Religion der Liebe, so lieblos gegen sie verfahren, sie wären zu einem Punkte gelangt, der dem Namen der Juden ewige Achtung verschafft hätte.“ Die mehr als 1000-jährige Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel sei einem blinden Religionseifer, der „züngelnden Glaubenswut“542 zuzuschreiben gewesen, die neben den Menschen auch die Wissenschaft vertrieben habe. Es sei also hier in Spanien für die Juden möglich gewesen, „ewig Achtung“ von der nicht jüdischen Außenwelt zu erfahren. Diese Ewigkeit hätte jedoch auch einen sehr diesseitigen Charakter, weil die Juden nämlich gemeinsam mit den Mauren an den gemeinsamen kulturellen Werten gearbeitet hätten. Blinder Religionseifer, der nicht mit den Prinzipien der Wissenschaft in Einklang zu bringen gewesen sei, habe diese gemeinsam geschaffenen kulturellen Werte zerstört. Geiger erwähnte ausdrücklich das spanische Herrscherpaar, das er für die Vertreibung der Juden verantwortlich sah. Und diese Vertreibungswelle in Spanien habe dazu geführt, dass die Wissenschaft „vor der züngelnden Glaubenswut“543 geflüchtet sei. Als eine Konsequenz daraus blieb in Spanien eine wissenschaftliche und kulturelle Ödnis zurück. Die Vertreibung wurde also auch bei Geiger insgesamt als ein Verlust für die Kultur in Spanien aufgefasst. Allerdings interpretierte Geiger auch die sephardischen Juden in ihren neuen Heimatländern, wobei er sowohl die sephardischen Juden in den Niederlanden als auch diejenigen im Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches untersuchte. Letztere fanden in Geigers Augen keinerlei Genugtuung. Die vertriebenen Juden im Osmanischen Reich konnten „den unfruchtbaren Stamm der Osmanen nicht zu höherer Bildung erziehen.“544 Für Geiger waren Juden als Erzieher maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass sich Kultur und Wissenschaft ausbreiten konnten. Damit richtete er sich gegen die grundsätzliche Annahme, Juden seien über ihre religiöse Identität nicht in der Lage, an der allgemeinen Kultur zu partizipieren, ganz zu schweigen davon, diese weiterzubringen. Dies beschreibt er unter Bezugnahme auf die portugiesischen Juden im Exil, die gegenwärtig noch über „einen schönen Kulturstand“ verfügten.545 Die Vertreibung von der Iberischen Halbinsel hatte also zunichte gemacht, was fast abgeschlossen gewesen wäre, aber tatsächlich doch noch nicht abgeschlossen war: die vollständige Integration der Juden in die Gesellschaft und ein damit einhergehendes Verhalten, das auf Respekt gründete. Die Konzentration auf die gegenwärtigen 542 543 544 545

Geiger: Zerstreuung, S. 152. Geiger: Zerstreuung, S. 152. Geiger: Zerstreuung, S. 152. „Selbst jetzt noch zeichnen sich die Nachkommen jener Vertriebenen, unter dem Namen der portugiesischen Juden bekannt, durch einen schönen Culturstand aus.“ (Brief an Schulrath Rossel in Aachen, Bonn, 30. Mai 1831, ebd. S. 52). Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Verhältnisse war für Geiger der entscheidende Faktor. Anders als bei Leopold Zunz, dessen Wanderer noch gehalten war zurückzuschauen, konnte Geigers Wanderer bereits „aus der frischen Gegenwart [...] schöpfen und sie verwerten.“546 Er forderte diesen Wanderer auf, sich zu der neuen Heimat im Exil zu bekennen. Er führte, um sein Ansinnen zu unterstreichen, den pharisäischen Rabbiner Hillel (30 v. Chr–9 n. Chr.) an und verwendete dessen Leitsatz „Wenn ich nicht für mich, wer dann für mich“547 als eine Aufforderung nach Integration die Gesellschaft. „Du lieber Wanderer“, lässt Geiger Hillel sprechen, „lege das Panzerhemd, das stachelige, die Berührung ist keine feindliche mehr, tue ab die Binden, die Dich umhüllen und entstellen, es weht Dich nicht mehr ein eisiger, trotziger Hauch an, es will Liebe überall erblühen, Du hast ein warmes Herz und daran soll die ganze Menschheit sich legen, Du sollst frisch die Gesamtheit umfassen.“548 Das Judentum sei bereit für neue Taten, es sei noch nicht „eingesargt“549, sondern nehme im Gegenteil aktiven Anteil an der politischen Emanzipation: „Die Zeit wird kommen, dass Judentum hat seine Mission noch nicht beendet. Das Judentum schließt die Weltgeschichte nicht ab, nicht vor achtzehn Jahrhunderten, nicht am heutigen Tage, es wandert mit [Hervorhebung von mir, C. S.] der Menschheit auf ihrem fliegenden Gange und verklärt sie mit mildem Strahle.“550 Geigers Verständnis von Judentum als einem ethischen Universalismus findet sich auch in seinem Verständnis von Exil und Vertreibung in der jüdischen Geschichte. In seinen zwölf Vorlesungen „Das Judentum und seine Geschichte“ vertiefte er diese Überlegungen hinsichtlich einer politischen Geschichte der Juden noch.551 Besonders die zwölfte Vorlesung mit dem Titel „In der Zerstreuung“ ist hierbei von zentraler Bedeutung.552 Geiger drückte darin sein Verständnis einer Geschichte der Juden in Spanien aus, indem er die Juden mit dem Bild des Wanderers versah. Allerdings seien diese einmal mehr von einer Mehrheitsgesellschaft umgeben gewesen, deren geistige Einflussnahme auch die Juden kulturell „überschwemmt“ habe. Das Adjektiv „verschlangen“ ist dem Duden zufolge als ein ineinander- oder umeinanderschlingen zu verstehen, das in diesem Zusammenhang die Bedeutung von „schlucken“ aufnimmt. Es waren die Juden, die Spanien zu Sepharad machten, indem sie den biblischen Namen auf diese Region bezogen, diese somit 546 Geiger: Zerstreuung, S. 154. 547 Pirke Avot, 1,14. In: Sidur Sefat Emet. Mit deutscher Übersetzung von Rabbiner Dr. Bamberger. Basel 1987. S. 151 548 Geiger: Zerstreuung, S. 154. 549 Geiger: Zerstreuung, S. 154. 550 Geiger: Zerstreuung, S. 155. 551 Abraham Geiger: Das Judentum und seine Geschichte. In zwölf Vorlesungen. Nebst einem Anhange: Ein Blick auf die neuesten Bearbeitungen des Lebens Jesu. Breslau 1864. 552 Geiger: Judentum und seine Geschichte, S. 142–155. 270

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mit Leben erfüllten. Die Iberische Halbinsel hatte damit die Funktion und Bedeutung von Babylon als einem Zentrum religiösen und kulturellen Lebens der Juden übernommen. Im Anschluss drückte Geiger das patriotische Gefühl aus, dass die Juden gegenüber ihrem Heimatland Spanien empfanden. Es wurde zu ihrer neuen Heimat, in der der jüdische Wanderer heimisch werden konnte. „Ganz besonders war es Spanien, das gleichfalls von Moslemen überschwemmt war, aber bei dieser Überschwemmung auch geistig befruchtet worden, namentlich war es Spanien, in dem zahlreiche jüdische Gemeinden sich vollkommen verschlangen mit den Bewohnern des Landes, das geistige Leben in sich aufnehmend, den Boden als heimischen ehrend und veredelnd, mit ihrem Schweiße ihn befruchtend, durch ihre Kraft ihm die verschiedenartigsten Früchte entlockend. Mit Stolz nannten sie sich, gleichfalls sich anlehnend an eine, ebenso wenig wie die früher von Babylon erwähnte berechtigte Erklärung eines Bibelverses: Die vertriebenen Juden, welche in Sefarad wohnten; Sefarad sollte Spanien sein.“553 Und dieser Stolz zeigte sich in den Literatur, in der Spanien als neue Heimat der Juden von diesen gefeiert wurde: „Mit edlem Stolze blickten sie auf ihr Spanien hin, feierten es in Dichtungen, wussten seine Vorzüge hervorzuheben, hingen an ihm mit aller Glut des Herzens. Der müde Wanderer hatte eine neue schöne Stätte gefunden und blickte nicht mehr zurück, er liebte seine Gegenwart. Und als sie von dort vertrieben waren, waren ihre Erinnerungen doch stets nach Spanien und Portugal gerichtet und sind es zum Teil noch bis auf den heutigen Tag.“554

Geiger manifestierte hier ein Bild von Juden und Judentum, das sich durch eine tiefe Heimatverbundenheit ausdrückt. Die Liebe zur Heimat richtet sich an das Vaterland Spanien und nicht an ein religiöses Vaterland in Palästina. Dieser Bezug wird noch dadurch hervorgehoben, dass der „müde Wanderer“ seine Gegenwart liebe, er also mitnichten daran denke, seine Heimat an einem anderen Ort zu suchen, weder an einem realen geografischen Ort noch in einem im Studium der heiligen Texte manifestierten imaginiertem Heimatbegriff. Wie bereits bei Zunz illustriert, nahm das Bild des Wanderers bei der Interpretation der iberisch-sephardischen Kultur eine zentrale Funktion ein. Geiger zeigte ihn als jemanden, der auch nach der Vertreibung stets positiv über seine spanische Heimat reflektieren konnte. Darüber hinaus verlieh Geiger diesen Juden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit in die Mehrheitsgesellschaft eine besondere Rolle, da der Wanderer heimisch geworden sei und nur zur

553 Geiger: Judentum und seine Geschichte, S. 147–147. 554 Geiger: Judentum und seine Geschichte, S. 146–147. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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Mehrheitsgesellschaft spreche.555 Diese Form der Erinnerung blieb sogar konstitutiv für die sephardischen Juden bis in Geigers Gegenwart – und diese Einschätzung erfolgte über die Berücksichtigung einer starken Abgrenzung von einem als assimilatorisch verstandenen Judentum. Eine Tendenz zur Abgeschlossenheit erkannte Geiger auch bei den zeitgenössischen sephardischen Juden, die diese in seinen Augen gänzlich ungeeignet für eine Integration in das niederländische Staatswesen erscheinen ließen. Die Zugehörigkeit der sephardischen Juden zur ehemaligen Heimat auf der Iberischen Halbinsel hatte über die Jahrhunderte Bestand, sie wurde jedoch von Geiger als Hindernis aufgefasst, an den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten zu partizipieren, sich also in die niederländische Republik vollständig zu integrieren. Die Ambivalenz ihres Identitätsentwurfes zeige sich in der Erwartungshaltung den sephardischen Zeitgenossen gegenüber, die den realen Auseinandersetzungen um die Emanzipation der Juden keinerlei Impulse geben könnten. So kritisierte Geiger deren Teilnahmslosigkeit „bei allen Fragen der bürgerlichen wie der religiösen Wiedergeburt,“ „statt mit ihren glanzvollen Erinnerungen, ihren reichen Mitteln, der in ihrem Kreise ererbten Bildung und gebildeten Sitte sich der lebensvoll strebenden jüdischen Gemeinschaft anzuschließen, ihr als Führer zu dienen.“556 Diese Juden, so Geiger, verfügten also nicht mehr über ein jüdisches Selbstverständnis und ständen deshalb abseits der geistigen Entwicklungen im Judentum und innerhalb der allgemeinen Kultur. Bei den sephardischen Juden habe keinerlei Auseinandersetzung mit den Ereignissen der Gegenwart stattgefunden.557 Formen der Zugehörigkeit seien hier ausschließlich auf die Vergangenheit in Spanien bezogen: auf das Selbstverständnis eines spanischen Edelmannes und eines sephardischen Juden. Dieser Identitätsentwurf habe einer Integration in die Niederlande vollständig entgegengestanden. Die Existenz der sephardischen Juden in den Niederlanden bezeichnete Geiger als rückwärtsgewandt, sie habe sich oftmals nur in dem Selbstmitleid über die verlorene Heimat und den damit verbundenen Glanz ausgedrückt. Der Wanderer akzeptierte also in diesem Beispiel seine neue Heimat nicht, sondern hing nostalgischer Verklärung nach. Geiger erkannte in den zeitgenössischen sephardischen Juden gänzlich unbewegliche Charaktere, die allein in ihrer Vergangenheit lebten. Mit den geistigen Entwicklungen im Judentum und in der sie umgebenden Gesellschaft der Niederlande konnten und 555 „Ja der Wanderer fühlte es, dass seine Bestimmung es war, nicht bloß die Menschheit eilenden Fußes zu durchziehen, sondern dass er sich auch eine dauernde Stätte gründe, um mit der Menschheit und in derselben zu leben und auch für sie zu wirken.“ (Geiger: Zerstreuung. Berlin 1866. S. 147). 556 Geiger: Zerstreuung, S. 228–229. 557 Geiger: Isaak Da Costa, S. 226–227. 272

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wollten sie hingegen nicht Schritt halten. Für Geiger galt der mangelnde Patriotismus bezogen auf das niederländische Staatswesen als das zentrale Erklärungsmuster dafür, dass die sephardischen Juden nicht mit aktueller Schaffenskraft auftraten, sondern sich einzig über ihre Vergangenheit definierten und somit nur zu nostalgischer Rückbetrachtung fähig waren. Sie „blieben steif in ihrer ererbten Orthodoxie und haben diese auch nach England und Nord-Amerika geführt.“558 Die sephardischen Juden in Amsterdam bezeichnete Geiger „als verkommene Adlige“ und grenzte sie scharf „gegenüber dem aufstrebenden intelligenten deutsch-jüdischen Bürgertume“559 ab. Geiger zufolge hätten die sephardischen Juden aufgrund ihrer Geschichte die Aufgabe gehabt, allen Juden als Vorbild voranzugehen. Diese kulturellen Güter ihrer Geschichte beruhten einerseits auf Grundlage ihrer „glanzvollen Erinnerungen“, andererseits jedoch besonders auf dem Fundament ihrer „ererbten Bildung und gebildeten Sitte“. Die Erinnerungen an die glorreiche Vergangenheit sollten also helfen, die neue Zukunft auszugestalten. Statt sich jedoch „der lebensvoll strebenden jüdischen Gesamtheit anzuschließen, ihr als Führer zu dienen auf dem Wege der Entwicklung, mit ihnen zusammen sich einzuleben in die neue Zeit, blicken sie verdrossen auf die Nivellierung, die ihre bevorzugte Stellung verdunkelt, bleiben sie teilnahmslos bei allen Fragen der bürgerlichen wie der religiösen Wiedergeburt.“560 Von einer „bürgerlichen wie religiösen Wiedergeburt“ seien die sephardischen Juden auch deshalb so weit entfernt gewesen, weil sie es versäumt hätten, sich der allgemeinen Kultur der Gegenwart anzuschließen. An dieser Stelle setzte Geiger die zeitgenössischen deutschen Juden als „neue Sephardim“ ein. Diese Kritik an den zeitgenössischen Juden findet sich auch bei Meyer Kayserling, wie im Abschnitt D noch gezeigt wird. In dessen Opus magnum „Sephardim“ gab er den Juden eine nicht unerhebliche Mitschuld an der Verschlechterung ihrer Situation während der Reconquista, wenn er erklärte: „Ihr Reichthum beförderte ihren Sturz, ihren Ruin“ und der sich über den sozialen Status abzeichnende „Hochmut“ zerstörte ihre positiven Anlagen: „Nirgends fehlte der Jude, allenthalben war er der erste, am Hofe der erste, in der Handelswelt und auf dem Markte der erste, an den öffentlichen Plätzen der erste, wo Vergnügen und Lust sich fand, war sicher auch der Jude zu finden.“561 Diese Vorbehalte gegenüber der exponierten Stellung der Juden ließen ein gewünschtes Aufgehen in der Gesellschaft unmöglich erscheinen, da die Juden erkennbar blieben. Der Vergleich mit gegenwärtigen Ereignissen 558 559 560 561

Geiger: Isaak Da Costa, S. 228. Geiger: Isaak Da Costa, 229. Geiger: Isaak Da Costa, 229. Moritz Meyer Kayserling: Sephardim. Romanische Poesie der Juden in Spanien. Ein Beitrag zur Literatur und Geschichte der spanisch-portugiesischen Juden. Leipzig 1859. S. 15. Iberische Juden als Träger einer europäischen Kulturtradition

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blieb ein durchgängiges Interpretationsmuster, wie die beiden folgenden Beispiele aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verdeutlichen. So verglich im Anschluss an den Berliner Kongress von 1878 der neo-orthodoxe Schriftsteller Markus Lehmann (1831–1890) die Situation der Juden zu Zeiten der „Culturperiode des Islam“ mit der Gegenwart und kam zu dem Schluss, dass der „Niedergang der weltlichen Macht“ eine Verschlechterung der Situation der Juden mit sich gebracht hätte.562 Die Bezugnahme auf aktuelle politische Entwicklungen war indessen nicht neu, lässt jedoch die Rezeption in einem anderen Licht erscheinen. Mit dieser Einschätzung korrespondierte häufig, wie bei Geiger gezeigt wurde, die Wahrnehmung einer hoffnungslos rückständigen Mehrheitsgesellschaft wie die der Osmanen.

562 Marcus Lehmann: Die Juden im Oriente. In: Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum (20) 1879, S. 529–532. Hier: S. 530. 274

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m 19. Jahrhundert galten die deutschen Juden, was den Grad ihrer Orientierung an die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft anbelangte, als Vorbild für andere, insbesondere osteuropäische Judenheiten. Erst als den Juden im Zuge der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Wilhelminischen Kaiserreiches 1871 in Deutschland und mit dem Ausgleich in Österreich und Ungarn 1867 die bürgerliche Gleichstellung zuerkannt wurde, war der Prozess der Emanzipation der Juden zu seinem formalen Ende gekommen. Damit ging eine langwierige 100-jährige, von Theorien zur „bürgerlichen Verbesserung der Juden“ geprägte Diskussion, wie sie der preußische Staatsrat Christian Wilhelm von Dohm 1781 am wirksamsten formulierte, zu Ende. Der Schlusspunkt markierte auch die radikale Wandlung des Selbstverständnisses der in Deutschland lebenden Juden. Deren „Deutschsein“ wurde nun „mindestens ebenso wesentlich für die Identität nahezu aller Juden im deutschsprachigen Europa wie ihr Judesein“1 und hatte die Dominanz einer religionsbezogenen Definition jüdischer Identität verdrängt. Bereits ab dem Jahre 1848 setzte zudem ein Urbanisierungsprozess ein, der die Juden vom Land und aus den kleineren Städten in die größeren Städte zog. Die innerjüdische Diskussion um die religiöse Reform des Judentums im Verlauf der 1840er Jahre verband Fragen zum Judentum mit dem Wunsch nach Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Unterschiedliche Positionen hierzu wurden auf den Rabbinerkonferenzen der 1840er-Jahre auch vor einem breiteren Publikum teils leidenschaftlich diskutiert. Religiöse Reformen wurden hier befürwortet und auch in Form von Lehren und Praktiken institutionalisiert. Eine Vielzahl nicht orthodoxer Gebetbücher wurde beispielsweise in den Gemeinden eingeführt, der Gottesdienst wurde verkürzt, Gebete und Lieder auf Deutsch abgedruckt und Gebete nach einer Rückkehr ins Gelobte Land getilgt, da diese in den Augen der Reformer dem Wunsch nach Integration in die deutsche Gesellschaft widersprachen. Die größten Widersprüche entzündeten sich daran, ob eine Orgel in der Synagoge eingeführt werden sollte oder nicht. Diese Punkte zeigen, dass die Aufforderung zur eigenen Verbesserung von jüdischer Seite durchaus selbstbewusst aufgefasst wurde. Sie wurde als eigenständiges jüdisches Projekt verstanden und im Verlauf des Jahr1 Michael A. Meyer, Schlußbetrachtung. In: ders. (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. In 4 Bänden. Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996, S. 356–359. Hier: S. 359. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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hunderts in Form der ständigen Forderung an die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft weitergegeben, dafür Sorge zu tragen, dass die Kriterien eines aufgeklärten und fortschrittlichen Zeitalters eingehalten würden.2 Die deutsch-jüdischen Autoren begleiteten diesen an die jüdische wie auch die nicht jüdische Öffentlichkeit adressierten Fortschrittsgedanken in wissenschaftlicher und zunehmend auch populärer fiktionaler Darstellungen sehr eindringlich. Besonders den Auffassungen innerhalb der Diskussionen um die Emanzipation als universale Notwendigkeit und nicht nur als eine jüdische Angelegenheit kam hierbei eine Schlüsselfunktion zu. Die stockende Entwicklung der Emanzipation seit dem Wiener Kongreß führte dazu, dass sich deutsch-jüdische Autoren gerade auch mit dem Blick auf die Verbesserung der allgemeinen Verhältnisse engagierten und damit die Forderung nach einer Emanzipation der Juden als integralen Bestandteil des allgemeinen liberalen und demokratischen Forderungskatalogs verstanden. So gilt in der heutigen Forschung unumstritten, „dass das in den 1840er-Jahren klar zum Ausdruck kommende Eintreten der liberal und demokratisch gesinnten Kreise für die vollständige Emanzipation der Juden zu einem gewissen Fortschritt in deren Rechtslage und vor allem zu einer Einbeziehung der ‚Judenfrage‘ in die freiheitlichen Bestrebungen insgesamt geführt hat.“3 Nicht zuletzt über die Erinnerung an das so genannte Goldene Zeitalter der jüdischen Geschichte, insbesondere über die Orientierung an der iberisch-sephardischen Kultur, konnten Juden auch aus der Vorstellung einer Verbesserung ihres Zustandes eine Form selbstbestimmter Identität gewinnen. Wie im Abschnitt B gezeigt wurde, ging es den Herausgebern der Zeitschriften „Sulamith“ und „Jedidja“, die den Beginn der deutsch-jüdischen Publizistik am Beginn des 19. Jahrhunderts markieren, noch darum, die Bildungselite der jüdischen Aufklärer zu erreichen. In den Beiträgen für diese Zeitschriften wurde die Notwendigkeit von Erziehungskonzepten innerhalb des Judentums diskutiert, die es Juden ermöglichen sollten, einen eigenen Weg in die Moderne zu beschreiten und sich in die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“4 richtete sich hier nicht nur an die bereits mit den Ideen der Aufklärung in Berührung gekommenen Juden, sondern sie wollte mit ihren Anregungen und Vorschlägen hinsichtlich der „Verbesserung“ auch das nicht jüdische Publikum erreichen. Konkret ging es darum, den preußischen Staat dazu zu bewegen, bestehende Restriktionen den Juden gegenüber aufzuheben. Der Gedanke 2 Vgl. dazu Andreas Gotzmann: Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit. Leiden 2002. 3 Stefi Jersch-Wenzel: Rechtslage und Emanzipation. In: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 2. S. 15–56. Hier: S. 56. 4 Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 276

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der inneren Verbesserung wurde zum Motor eines Fortschrittsglaubens, aus dem die Emanzipation der Juden als zentrale Konsequenz abgeleitet wurde. Innerhalb einer Generation war auf diesem Wege der Typus des deutschen Juden entstanden, der Deutsch sprach und sich ganz an die deutsche Kultur akkulturiert hatte. Die jüdische Religion hatte für ihn den Charakter einer Privatangelegenheit angenommen, was in der Konsequenz eine Emanzipation durch die Erziehung zur säkularen Wissenschaft greifbar nah erscheinen ließ. Eine zentrale Funktion nahmen in den frühen Zeitschriften der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, Lebensbeschreibungen bedeutender jüdischer Persönlichkeiten aus der Vergangenheit ein. In diesen Beiträgen wurde herausgestellt, dass es in der Vergangenheit möglich gewesen sei, den religiösen Traditionen des Judentums verpflichtet zu bleiben und gleichzeitig nicht allein an einer säkularen Welt teilzuhaben, sondern auch Gesprächspartner der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft zu sein.5 Im Unterschied zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich in dessen weiterem Verlauf auch eine stärkere Verbreitung historischer Themen durchgesetzt, die in Form von Zeitschriftenartikeln und Monografien nicht nur einem engeren Kreis von gebildeten Juden offenstanden, sondern in popularisierenden Darstellungen auch breiteren Bevölkerungsschichten. Es bestand der Wunsch unter den jüdischen Bildungsbürgern nach einer „konfessionsspezifischen Belletristik“.6 Die Vorstellung, mit der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft in einem Dialog zu stehen, verstärkte sich hierbei noch, wie sich beispielsweise an einem selbstbewussten Ton in der seit 1837 einmal wöchentlich erscheinenden „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ nachweisen lässt. Der deutsch-jüdischen Novelle kam diese hier in herausragender Funktion zu, zudem sie für die Leser mit einem aktuellen Bezug versehen war, wenn beispielsweise der Konversions-Thematik nachgegangen wurde.7 Die Novelle stellte auch ein bedeutendes Potenzial hinsichtlich der Ausbildung von sozialen Gemeinschaften dar. Sie offenbarte den Grad der Integration bzw. formulierte den Wunsch danach.8 Dies zeigte sich in den Worten Benedict Andersons in der Konstruktion ei5 Nachricht an das Publikum – Erste Zugabe zu der hebräischen Monatsschrift der Sammler. In: Ha-Me’assef 1 (1783/84), Januar 1784, S. 20. 6 Michael Nagel: Motive in der deutschsprachigen jüdischen Kinder- und Jugendliteratur von der Aufklärung bis zum Dritten Reich. In: Zeitschrift für Geistesgeschichte 3 (1996). 7 Florian Krobb: Kollektivautobiographien – Wunschautobiographien. Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman. Würzburg 2002. 8 Dann ist mit einer gewissen Berechtigung auch Saul Friedländers Diktum von der kämpfenden Nation auf die Juden im Prozess der Emanzipation anzuwenden, die sich einer starken Geschichte rühmten, um die Kompatiblität mit der allgemeinen Geschichte und damit verbunden der Fähigkeit zu Integration Ausdruck zu verleihen. „Die kämpfende Nation benöVerwandlungen des iberischen Vorbildes

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ner „imagined community“, die exemplarisch in der Novelle ausgestaltet wurde.9 Die Novelle als literarische Gattung oder Genre trug einen besonderen Grad der Vermittlung in sich. Themen aus der volkstümlichen Literatur konnten die Sehnsucht nach einer jüdischen Identität stillen. Sie sollte gleichermaßen belehren und unterhalten, wobei sephardische Themen eine zentrale Rolle spielten. Es kam ihr zudem die Funktion zu, Auskunft über das (bürgerliche) Selbstverständnis der Juden innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu geben. Dies geschah unter der Verwendung bestimmter kultureller Codes und Zuweisungen, so dass sich die historische Novelle zu einem zentralen Schauplatz der modernen jüdischen Identitätsbildung entwickelte.10 Deren fiktionaler Erzählhintergrund erhielt dabei einen entscheidenden Stellenwert. Deutsch-jüdische Autoren schrieben als Mitglieder einer Minderheit nicht gegen die Werte der Mehrheitsgesellschaft, sondern bedienten sich ganz im Gegenteil literarischer Vorbilder aus eben dieser und bezogen sie auf ihre eigene Situation als Minderheit.11 Deren Verständnis von nationaler Identität erfuhr eine Erweiterung eines eigentlich recht eng begriffenen Verständnisses von Nation. Deutsch-jüdische Autoren konnten dabei zwischen Vorbildern aus der hohen Literatur, wie Lessings „Nathan der Weise“, und der populären Literatur, wie Scotts „Ivanhoe“, wählen. Am Vorbild von Walter Scotts Novelle „Ivanhoe“ tritt dieser kulturelle Transfer zwischen hoher und populärer Kultur, zwischen England und Deutschland, besonders deutlich hervor. Deutsch-jüdische Autoren adaptierten Scott, dieser wiederum war tigte eine Geschichte des Heldentums, den Aspekt der Gewura als mythische Struktur. Sie konnte keine Erzählung ertragen, die es bei Passivität und Vernichtung beließ.“ (Saul Friedländer: Die Shoah als Element der Konstruktion isralischer Erinnerung. In: Babylon. Heft 2/1987. S. 10–22. Hier: S. 17). 9 Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983. S. 30. 10 Jonathan Skolnik: “Who learns history from Heine?”: the German-Jewish historical novel as cultural memory and minority culture, 1824–1953. Diss.: Columbia University 1999. Jonathan Skolnik: Writing Jewish History between Gutzkow and Goethe: Auerbach’s Spinoza and the Birth of Modern Jewish Historical Fiction. In: Prooftexts 19 (1999), S. 101–125. 11 “The German-Jewish historical novel adapted popular cultural forms such as melodrama and the historical romance in order to carve out a space for a new minority identity. Instead of subverting the dominant cultural paradigms, German-Jewish minority writers such as Philippson and Lehmann contributed to their expansion by participating in the creation of a minority niche within the contemporary field of cultural production.” (Skolnik: Who learns History from Heine, S. 92.) Vgl. hierzu auch seinen Beitrag Heine and Haggadah: History, Narration, and Tradition in the Age of “Wissenschaft des Judentums”. In: Renewing the Past, Reconfiguring Jewish Culture. From al-Andalus to the Haskalah. Edited by Ross Brann and Adam Sutcliffe. Philadelphia 2004, S. 213–225. 278

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von Goethe beeinflusst und Goethe zog indes seine Inspiration auch aus der Entdeckung Shakespeares im Sturm und Drang.12 Die Verfasser der genannten Novellen konnten die bestehenden und weiterverbreiteten negativ konnotierten Bilder von Juden und Judentum wesentlich durch die „Erfindung“ einer sephardischen Geschichte positiv umwandeln und mit einer jüdischen Geschichte in Verbindung setzen, auf die es sich lohnte, stolz zu sein. Die jüdisch-historische Novelle im 19. Jahrhundert richtete sich primär an ein jüdisches Publikum13 und sollte als Lektüre bei der Erziehung jüdischer Kinder eine zentrale Funktion einnehmen. Ziel war es, die gängige Vorstellung von Juden und Judentum, wie sie besonders in „Ghetto-Geschichten“ und „Dorf-Geschichten“ zugrunde gelegt wurden, abzulösen.14 Die Novelle als literarische Gattung bezeichnete eine Erzählung in Prosa, deren real vorstellbares Ereignis den Anspruch auf Neuheit erhob. Die ihr eigene komprimierte Form mit einer häufig geschlossenen Handlung eignete sich hervorragend für den Abdruck in Zeitschriften. Dadurch wurde eine hohe Verbreitung garantiert, auch wenn „the German-Jewish historical novel reflects the need to reshape thinking patterns concerning the past, to ‘update’ tradition and to alter the Jewish image, both in Jewish and in non-Jewish eyes.”15 Die Novelle erhielt hier auch einen eminent politischen Charakter, da sie einen Bezug zu den Geschehnissen in Deutschland herstellte. Verschiedene Verfasser von Novellen setzten sich für die Verbesserung der sozialen und rechtlichen Stellung der Juden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa ein. Dies zeigte sich eindringlich in dem später noch detailliert geschilderten Versuch Ludwig Philippsons, die spanische Regierung direkt aufzufordern, die Wiederzulassung der Juden auf der Grundlage religiöser Freiheit zuzulassen. Die Novelle bekam demnach die Aufgabe zugewiesen, eine Aufwertung der jüdischen 12 Skolnik: Who learns History from Heine, S. 103. 13 Nitsa Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit. Der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Entstehung einer neuen jüdischen Nationalliteratur. Aus dem Hebräischen von Dafna Mach. Tübingen 2006. Nitsa Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 9. 14 Demgegenüber oder ergänzend als eigenes literarisches Genre wächst die Ghetto-Geschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts heran. Diese ist, so der Literaturhistoriker Gustav Karpeles, „die wirksamste Gegenüberstellung und harmonische Ausgleichung der Contraste des altjüdischen und des modernen Lebens [als] Muster einer Ghetto-Geschichte.“ (Gustav Karpeles: Literarische Jahresrevue. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 2 (1899), S. 35). 15 Nitsa Ben-Ari: 1834. The Jewish historical novel helps to resphape the historical consciousness of German Jews. In: Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096–1996. Edited by Sander L. Gilman and Jack Zipes. New Haven and London: Yale University Press 1997. S. 143–151. Hier: S. 144. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Tradition auszudrücken und zu verdeutlichen, dass sich das Judentum durchaus den Anforderungen einer verändernden Zeit anpassen und ihren Kern bewahren könne. Die deutsch-jüdischen Autoren orientierten sich bei der Ausarbeitung an den Vorbildern aus dem Korpus des deutschen historischen Romans, der sich zu dieser Zeit enormer Beliebtheit erfreute. Aufseiten der jüdischen Autoren bestand Anlass zur Sorge, dass sich die jüngeren Leser auf lange Sicht ausschließlich den deutschen historischen Romanen zuwendeten und sie somit gänzlich ohne explizit jüdischen Hintergrund blieben. Vor der Etablierung eines jüdischen historischen Romans wurde seitens jüdischer Aufklärer der Wert von Romanen als minderwertig betrachtet.16 Die Entstehungsgeschichte dieser Erzählungen geht auf die 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts zurück und als erstes Beispiel dieser Gattung wird Phöbus Philippsons „Die Maranen“ aus dem Jahre 1837 zugrundegelegt.17 Ein besonderes Merkmal der Novelle ist – neben dem Umstand, sich am deutschen historischen Roman zu orientieren –, dass diese Romane auf Deutsch geschrieben und in Zeitschriften und Sammelbänden in Fortsetzung veröffentlicht wurden.18 Obwohl die Veröffentlichungsorte in Deutschland lagen, erfreuten sich diese Romane auch großer Beliebtheit in Osteuropa, wobei ihnen ein besonders wichtiges Charakteristikum zu eigen war. „Der jüdisch-volkstümliche historische Roman erschien einerseits als (verspätete) Reaktion auf die ungeheure Beliebtheit, die diese literarische Gattung in der deutschen und europäischen Literatur erlangt hatte, anderseits als Erwiderung auf den jüdischen (und deutschen) Gegenwartsroman im Stile der ,Ghetto-Geschichten‘ von Aaron Bernstein, Leopold Kompert und Karl-Emil Franzos.“19 Die im Roman geschilderten Figuren wurden von der historischen Rahmenhandlung geformt und der Leser konnte an diesen Veränderungen Anteil nehmen. Darüber hinaus war der historische Roman auch Ausdrucksmittel für den Aufstieg des Bürgertums im Verlauf des 19. Jahrhunderts.20 Der deutsche historische Roman kam bereits nach der Reichsgründung 1871 zum Erliegen, während der deutsch-jüdische historische Roman sich auf dem Höhepunkt befand.21 Tatsächlich nahm der historische Roman als eine Form von populärer Literatur insbesondere durch seine vielseitigen Verbreitungsformen bei der Ausbildung eines 16 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 17. 17 Phöbus Phlippson trat auch als Autor der Abhandlung „Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal“ in Erscheinung, die im Israelitischen Predigt und Schulmagazin 1834–36 abgedruckt wurde. 18 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 7. 19 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 8. 20 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 13. 21 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 19. 280

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deutschen Nationalbewusstseins eine große Rolle ein. „Die Idee des historischen Romans und den allgemeinen Rahmen dieses Modells hatte der deutschen Kultur entlehnt; aber da der deutsche historische Roman zu jener Zeit inhaltlich immer stärker national bestimmt war, suchten die jüdischen Schriftsteller jüdische Gehalte, die den neuen Anforderungen entsprechen sollten, ohne national zu sein.“22 Die Jahre nach der Reichsgründung brachten den Juden in Deutschland die ersehnte Emanzipation. Die literarische Form der Novelle konnte auf die unterschiedlichen Strömungen im deutschen Judentum vielfältig Bezug nehmen. Die ersten Novellen, die sich mit der iberisch-sephardischen Kultur beschäftigten, wurden von liberal gesinnten, dem Reformjudentum nahestehenden Autoren verfasst. Sie blieben jedoch keine Domäne der liberalen Kräfte, schon bald darauf folgten ihnen Vertreter der Neoorthodoxie.23 Dies geschah mittels eines veränderten Verständnisses von Geschichte; später als bei den Reformern wurde nun auch hier die Erforschung herausragender Vertreter des Judentums angestellt.24 Die hier existierende literarische Nische ermöglichte es, dem bestehenden inneren und auch äußeren Druck, der auf den deutschsprachigen Juden jener Zeit lastete, ein Gegengewicht in Form einer Interpretation der iberisch-sephardischen Kultur entgegenzusetzen. Die Auseinandersetzung mit der iberisch-sephardischen Kultur im Roman vermittelte überdies seinen jüdischen Lesern das Bewusstsein, Judentum sei ein zentraler Bestandteil europäischer Kultur und Geschichte. Darüber hinaus waren die transportierten und häufig wiederkehrenden Ideale bürgerlicher Kultur und deren Prinzipien von Familie, Vaterlandsliebe und bürgerlicher Arbeit von zentraler Bedeutung hinsichtlich einer Wiedererkennung in den Romanen. Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung nahm die deutsch-jüdischen Autoren hingegen nur sehr eingeschränkt war.25 Die Rezeption kennzeichnete gleichzeitig eine Leerstelle. Wie Skolnik nachgewiesen hat, wurden die Werke von Lehmann, Philippson und Rispart in zwar literarischen Zeitschriften rezensiert.26 In diesen Rezensionen wurde von nicht jüdischer liberaler Seite gelobt, wenn es einen huma22 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 48. 23 Für die neoorthodoxen Autoren hat das Jonathan Hess nachgewiesen. Vgl. Jonathan Hess: Fiction and the Making of Modern Orthodoxy, 1857–1890: Orthodoxy and the Quest for the German-Jewish Novel. In: Leo Baeck Institute Yearbook LII (2007), S. 49–86. Außerdem ist von grundsätzlicher Bedeutung Nitsa Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit. Der deutsch-jüdische historische Roman des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Entstehung einer neuen jüdischen Nationalliteratur. Aus dem Hebräischen von Dafna Mach. Tübingen 2006. 24 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 53. 25 Skolnik: Who learns History from Heine, S. 108. 26 Skolnik: Who learns History from Heine, S. 110. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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nistischen Aspekt hervorzuheben gab. Allerdings wurde jede als ,jüdisch‘ aufgefasste Position hingegen abgelehnt, auch wenn es sich dabei um eine jüdisch inspirierte Kritik an der Inquisition handelte.27 Der Ausgangspunkt: Phöbus Philippsons „Die Marannen“ Die Lebensbeschreibungen von Marranen – von häufig unter Zwang zum Christentum übergetretenen Juden, die heimlich noch immer dem Judentum anhingen  – nahmen eine dominierende Stellung innerhalb der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausprägenden unterschiedlichen literarischen Genres von Roman, Novelle und dramatischem Gedicht ein. Deren Identität wurde in diesen fiktionalen Darstellungen auf der Grundlage einer Kombination von Versatzstücken aus der jüdischen Tradition und modernen säkularen Quellen entworfen. Dieser vieldeutige Identitätsentwurf zeigte sich zuerst in Phöbus Philippsons (1807–1870) Novelle „Die Marannen“28 aus dem Jahre 1837, die zuerst in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ abgedruckt wurde und ein großes Interesse hervorrief. Phöbus Philippson war Mediziner und Schriftsteller und der Bruder von Ludwig Philippson. Vor dem Hintergrund der Rückeroberung Granadas von den Arabern durch die Heere der katholischen Könige konzentrierte sich die Novelle auf die Hauptfigur Jehuda Abrabanel. Jehuda hatte sich um die Waise Dinah gekümmert, deren Pflegevater, der Arzt David Arama, unter der Folter der Inquisition gestorben war. Arama war angeklagt worden, Dinahs Übertritt zum Christentum durch Verunglimpfung der christlichen Religion vereitelt zu haben.29 Demgegenüber äußerte Arama ein Bekenntnis, alle Religionen zu respektieren, was er als Liebe an der „Menschheit“ verstand.30 Aus diesem Grund wurde er als Ketzer betrachtet. Dinah wies selbst einen aschkenasischen Hintergrund auf.31 Die Ausweisung der Juden konnte der Vater Jehudas, der Philosoph, Exeget und Politiker Isaak Abrabanel (1437–1508), der als historische Figur zur Zeit der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel gelebt hatte, nicht verhindern. In der Novelle kümmert sich 27 Skolnik: Who learns History from Heine, S. 111. 28 Phöbus Philippson: Die Marannen. In: Ludwig Philippson: Saron. Gesammelte Dichtungen. Erster Teil: Novellenbuch von Phöbus und Ludwig Philippson. Bd. 1, 3. Aufl. Leipzig: Wallerstein 1857 [1837]. S. 3.124. Phöbus Philippson veröffentlichte u. a. im „Israelitischen Predigt- und Schulmagazin“ (Magdeburg 1834–36) einen Beitrag zur „Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal“. 29 Phöbus Philippson: Marannen, S. 70. 30 Phöbus Philippson: Marannen, S. 74–75. 31 Florian Krobb: Kollektivautobiographien - Wunschautobiographien, S. 61. 282

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sein Sohn Jehuda um die in Spanien verbleibenden Marranen. Die ganze Familie wird schließlich glücklich auf der Insel Korfu wieder vereint. Letztere Familienzusammenführung ist fiktiv. Die Hauptcharaktere existierten allerdings auch als historisch bedeutende Figuren. Isaak Abrabanel wird bei Phöbus Philippson als moderner Charakter beschrieben, der gleichermaßen auch der jüdischen Tradition verpflichtet war. Der historische Abrabanel fungierte als Finanzpächter des königlichen Hofes, war Höfling, jüdischer Gemeindeführer und Wohltäter zugleich. Die Herkunft der Familie war für deren wegweisende Rolle von großer Bedeutung. „Abrabanel entstammte einer hoch angesehenen Familie, die ihre Abkunft auf das davidische Königshaus zurückführte und nach einer allerdings sagenhaft klingenden Überlieferung nach der Zerstörung des ersten Tempels in Spanien eingewandert sein und sich in Sevilla niedergelassen haben soll.“32 Sensibilisiert durch die Erfahrungen der Vertreibung, setzte sich Isaak Abrabanel in seinem „Kommentar zum Buch Daniel“ mit dieser aktuellen Krise im Judentum auseinander. Diese Interpretation warf auch Fragen des Messianismus und der Prophetie auf. Das Werk ist in erster Linie als Tröstung zu verstehen und kam vor allem aufgrund der Ereignisse der Vertreibung zu einer größeren Leserschaft. Isaak Abrabanel war jedoch keineswegs ein primär säkularer Denker. Vielmehr war er davon überzeugt, ein Zuviel an Philosophie schade der Religion und mache die Zweifelnden zu Gottes- und Religionsleugnern.33 In seinem Kommentar zu den „Büchern der Könige“ deutete Isaak Abrabanel die nationale Einigung Spaniens als eine brutale Vereinnahmung auf Prinzipien des Christentums. Abrabanel machte in seinem Kommentar deutlich, dass die Durchsetzung dieses Anliegens auf einem Glaubenskrieg basierte, der in der Vertreibung der Juden gipfelte.34 Die Juden stünden dem Wunsch nach religiöser und nationaler 32 Jacob Guttmann: Die religionsphilosophischen Lehren des Isaak Abrabanel. Breslau 1916. S. 3–4. 33 Vgl. hierzu: Marianne Awerbuch: Zwischen Hoffnung und Vernunft. Geschichtsdeutung der Juden in Spanien vor der Vertreibung am Beispiel Abrabanels und Ibn Vergas. Berlin 1985. 34 „Da er (das ist König Ferdinand) die Eroberung seinem Gott zuschrieb, sagte er zu sich selber: wodurch könnte ich wohl meinem Gotte, der mich mit Kraft ausgerüstet zum Kriege, wohlgefälliger erscheinen, wie dankbarer mich erweisen meinem Schöpfer, der diese Stadt in meine Gewalt gegeben, als indem ich unter seinen Schutz bringe das Volk, welches im Finstern wandelt, die zerstreute Herde Israels, die abtrünnige Tochter zu seinem Glauben oder sie hinwegtreibe in ein anderes Land, dass sie nicht ferner in meinem Lande wohnen, und nicht bestehen vor meinem Augen?“ (Leone Ebreo: Dialoghi D’Amore. Hebräische Gedichte. Herausgegeben mit einer Darstellung des Lebens und des Werkes Leones. Bibliographie, Register zu den Dialoghi, Übertragung der hebräischen Texte, Regesten, Urkunden und Anmerkungen von Carl Gebhardt. Heidelberg 1929, S. 12.) Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Einheit in einem christlichen Spanien entgegen. Deshalb seien sie, so Abrabanel, vertrieben worden. Dies betraf ihn selbst unmittelbar und er und seine seit Generationen in Spanien lebende Familie mussten emigrieren. In Philippsons Novelle fungierte Abrabanel als ein so genannter „mittlerer Held“ zwischen Königshof und Ghetto-Gasse, der somit alle Merkmale eines Vermittlers in sich trug.35 Philippson stellte Spanien als Heimat der Juden dar, nur aufgrund der Anfeindungen der christlichen Gesellschaft sei diese zunichte gemacht worden. Im Plädoyer Isaak Abrabanels vor den katholischen Herrschern in Anbetracht der bevorstehenden Ausweisung aus Spanien, wurde diese Heimatverbundenheit eindrucksvoll ausgedrückt.36 Neben einem Strang, der das nationale Selbstverständnis der Juden in Spanien als das von Spaniern beschrieb, wurden in der Rede die Konflikte zwischen den Befürwortern und Gegnern einer Reform des Judentums aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts in das Spanien des 15. Jahrhunderts verlagert. Das Bild einer integrierten Minderheit in Spanien wurde in der Rede Abrabanels verbunden mit Begriffen wie Vaterland, Bürger, Kultur und Rechtschaffenheit im Geschäftsverhalten. Die Juden in Spanien seien „spanische Juden“ gewesen. Diese in der Rede Abrabanels benutzten Begriffe waren in den Debatten um die bürgerliche Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert in Deutschland mit ihren Forderungen nach rechtlicher und staatsbürgerlicher Gleichstellung von zentraler Bedeutung. Es habe im Verlauf der jüdischen Geschichte in Europa zwar Länder und historische zeitliche Abschnitte gegeben, in denen die Juden nicht Anteil an der Kultur und den Wissenschaften genommen hätten, dies habe jedoch, so Abrabanel mit dem ihnen gewährten Status zusammen gehangen. Die spanische Mehrheitsgesellschaft wurde 35 Hartmut Eggert: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts. In: Handbuch des deutschen Romans, Helmut Koopmann (Hg.), Düsseldorf 1983, S. 342–353. Hier: S. 345, 355. 36 „Wir sind nicht Fremdlinge in einem uns fremden Land, wir sind Söhne Spaniens. […] So alt ist unser Geschlecht auf dem Boden, den wir jetzt verlassen sollen. Wo ist ein Land, das uns solche Erinnerungen darböte, als das Vaterland? Wo die Nation, an die sich eine tausendjährige Geschichte knüpfet, als die hispanische? Und, verzeihe mein König den Worten seines Knechtes, – wir waren nicht unwürdige Bürger dieser Königreiche; nicht vergebens war das Zusammenleben meiner Nation mit dem edelmütigen und tapfern Volk dieses Landes. Wenn anderswo Israel, unter der Bedrückung barbarischer Völker in den Schlamm der Unwissenheit und des Aberglaubens versunken, sein Leben mit niedrigen Handlungen befleckte und den Schmutz der Sklaverei mit sich herumtrug, es war bei uns anders. Wir haben die Wissenschaften und Künste gepflegt, die den Geist des Menschen veredeln, mag er den höchsten Gott in dieser oder jener Gestalt anbeten. […] Der spanische Jude, mein König, verabscheut das niedere Gewerbe des Wuchers und das eigennützige Streben nach kleinlichem Gewinn.“ (Phöbus Philippson: Marannen, S. 90). 284

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von ihm in der Rede gepriesen und es wurde darauf verwiesen, dass Juden und Christen in diesem Staatsgefüge organisch miteinander verwachsen seien. Diese Stellungnahme für ein gleichberechtigtes Miteinander von jüdischer Gemeinschaft und christlicher Mehrheitsgesellschaft war zentral für den Handlungsverlauf. Philippson postulierte das Ideal der religiösen Toleranz, das keine Überlegenheit einer Religion über die andere zuließ. Insbesondere das Schicksal der Familie Abrabanel „the Spanish setting, and, most importantly, the thematization of persecution and conversion, thin veils for the questions of integration and anti-Semitism which confronted nineteenth-century German Jewry“37 gab der Novelle genügend Potenzial zur Reflexion für seine Leser. Und diese Leserschaft war insbesondere die jüdische Jugend, der Philippsons Novelle als Modell und moralisches Beispiel an die Seite gestellt wurde.38 In der Novelle vertrat Phöbus Philippson ein Verständnis von jüdischer Geschichte als konstitutiven Bestandteil der Weltgeschichte. Die Vertreibung nannte er in einem Atemzug mit der Entdeckung der Neuen Welt und der bevorstehenden Reformation. Die Vertreibung galt somit nicht als marginales Ereignis, sondern musste mit anderen zeitgleich verlaufenden Entwicklungen oder Ereignissen aus der nicht jüdischen Geschichte verstanden werden. Die zentrale Forderung Philippsons richtete sich in diesem Verständnis einer allgemeinen Verantwortung an die Politiker des 19. Jahrhunderts, nämlich die Integration der jüdischen Minderheit in Deutschland vorzunehmen, um dadurch das welthistorische Unrecht der Vertreibung von 1492 aufzuheben. Es zeigte sich in der Novelle die Absicht, die besondere Erfahrung der sephardischen Juden als Bestandteil einer allgemeinen Emanzipationsgeschichte zu verstehen. Dieses Ansinnen ist einer Vielzahl von deutsch-jüdischen Autoren im Verlauf des Jahrhunderts gemein. Ihnen ging es nicht nur darum, zu unterhalten, sondern sie traten aktiv für eine Veränderung des Status der Juden ein – und dies durchaus auch in politisch aggressiver Form. Ludwig Philippson Noch deutlicher zeigte sich die Absicht, allgemeine Emanzipationsgeschichte zu schreiben, in den belletristischen und wissenschaftlichen Werken von Phöbus Philippsons Bruder Ludwig (1811–1889). Ludwig Philippson war eine der großen Gestalten des liberalen Judentums im 19. Jahrhundert und unter anderem Mitbegründer der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin. Als vielseitig 37 Skolnik: German-Jewish historical novel, S. 85. 38 Skolnik: German-Jewish historical novel, S. 86–87. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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interessierter Schriftsteller galt er als einer der bedeutendsten Autoren zur Verbreitung der iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur in Deutschland. Während seines Studiums in Halle war Philippson mit moderner Historiografie in Berührung gekommen. Er hatte bei Hegel, Savigny und Gans Vorlesungen besucht und mittelalterliche Geschichte bei Friedrich von Raumer und August Bökh studiert. Seine liberalen Ideen zeigten sich besonders nachdrücklich in der von ihm von 1837 bis zu seinem Tode herausgegeben „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ (AZJ). Das Ziel der Zeitschrift war nicht primär, die Wissenschaft des Judentums zu befördern. Vielmehr verstand sie sich als ein Organ, das sich für die Schaffung eines lebendigen Bewusstseins von zeitgenössischer jüdischer Geschichte einsetzte. Ihr Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Ludwig Philippson stand dem gemäßigten Flügel der Reformbewegung nahe. Philippson, 1811 in Dessau geboren, besuchte das Gymnasium und den „Beth Hamidrash“ in Dessau und studierte hier und in Berlin klassische Wissenschaften und jüdische Theologie. Er veröffentliche noch als Student in der Zeitschrift „Der Freimütige“ und wurde Mitglied der „Jenaer Literaturzeitung“. Nach Abschluss seiner Studien in Berlin wurde Philippson Prediger und Rabbiner in Magdeburg. Dort setzte er sich für die Etablierung des Chorgesanges ein, baute die Religionsschule nach dem Muster der allgemeinen Schulen um und verfasste selbst eine Anzahl von pädagogischen Werken für den Schulunterricht. Der Vorläufer der 1837 gegründeten „AZJ“ war das „Israelitische Predigt- und Schulmagazin“, das in den Jahren 1834 bis 1836 bereits ausdrückte, was später in der „AZJ“ für 53 Jahre unter Philippsons Federführung Programm des liberalen Judentums in Deutschland werden sollte. Neben Beiträgen zur politischen, religiösen, kulturellen und sozialen Situation der Juden in Deutschland und der Welt, trat Philippson in einer Vielzahl von bedeutenden Monografien in Erscheinung. Darüber hinaus erzielte er durch seine vielseitigen belletristischen Arbeiten eine große Wirksamkeit. Philippsons verstand sich als Deutscher und Jude. Beide Bereiche waren untrennbar mit seinem Identitätsentwurf als deutscher Jude verbunden. Sein Bekenntnis „wir wollen Deutsche sein und auch Juden“39 unterstrich dieses Ansinnen eindringlich. Bezogen auf seine politischen Überzeugungen urteilte sein Biograf Meyer Kayserling: „Er vertraute dem deutschen Genius, erwartete das Heil nicht von außen, sondern von Deutschland selbst, aus der Mitte des deutschen Volkes.“40 Diese Einstellung fand sich auch in seinem Verständnis der deutschen Kultur als 39 Protocolle der ersten Rabbiner-Versammlung, abgehalten zu Braunschweig vom 12. bis zum 19. Juni 1844. S. 61. 40 In seiner Biografie machte Meyer Kayserling außerdem darauf aufmerksam, dass Philippson seine umfangreiche Korrespondenz vernichtet habe und er auf die „spärlich erhaltenen Reste 286

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der maßgeblichen Kultur seiner Zeit.41 Da sich Philippson selbst als Deutscher verstand, war es für ihn selbstverständlich politisch aktiv zu sein. Daher ist es auch begreiflich, dass er in die Ereignisse um die Juli-Revolution im Jahre 1830 selbst mit eingriff. Diese von Frankreich ausgehende Revolution stärkte die Bestrebungen nach liberalen und demokratischen Reformen in ganz Europa. Zu diesem Anlass der Juli-Revolution verfasste er das Gedicht „Der Sturm der Zeit“, das von der Zensurbehörde nicht zugelassen wurde, das sich Meyer Kayserling zufolge jedoch durch eine „loyale, nationale, preußische Gesinnung“42 ausgezeichnet habe. Eng verbunden mit seinem Engagement für die Revolution war während dieser Zeit seine publizistische Auseinandersetzung zu Fragen des Bürgerrechts der Juden in der Vergangenheit beispielsweise seine unter dem Pseudonym Ludwig Schragge verfasste Schrift „Wie verloren die Juden das Buergerrecht im West- und Oströmischen Reiangewiesen“ sei, „welchem sich noch in seinem Nachlasse vorfanden.“ (Meyer Kayserling: Ludwig Philippson. Eine Biographie. Leipzig 1898. S. III.) 41 „In der herrlichen Vision ‚Die Vergangenheit Germaniens‘ preist er ‚den am Himmel leuchtenden hellen Sternenkranz, der an Glanz immer wächst, während die Lüfte leise um den Betrachter rauschen. Das ist Germaniens Kranz der Vergangenheit, und das Wehen des edelmütigen, kräftigen Genius erfüllt melodisch die Lüfte.‘ Auch an der Zukunft darf der Deutsche nicht verzweifeln: ,werden die Larven doch weichen und die Geister und den Edelsteinen an Brust und Stirn –‘, die Repräsentanten der verschiedenen Zeitalter deutscher Vergangenheit ‚werden bleiben und dem Enkel erscheinen als helle Sternlichter in dunkler Nacht.’ Dieselben Gedanken treffen wir in einer anderen Arbeit aus jener Zeit wieder, nämlich in einer Abhandlung, in der die gegensätzlichen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs erörtert werden. ‚Es gab eine Zeit in der deutschen Literatur‘, heißt es hier, ‚wo der französische Genius sich in ihr breit machte und sich opfern und räuchern ließ. Da zerhieb das Schwert eines Lessing die Bande und der deutsche Genius trat aus seiner Erniedrigung hervor und fuhr gleichsam in den Himmel; so herrlich offenbarte er sich in seinen freien Regungen. Auch jetzt vergisst man wieder die große Wahrheit, dass der Deutsche nicht Franzose ist, dass der Deutsche etwas ganz anderes bedarf als der Franzose! Und so möge denn wieder ein Lessing erstehen, der den Deutschen zeige, was deutsch ist, nicht etwa um altem Rumpelwerke neuen Firnis zu geben, um den jetzigen Deutschland das alte wiederherzustellen, wie es war zu den Zeiten des guten Kaiser Rudolf, sondern nur um dem deutschen Genius wahrhaftig! Schimpfliche Fesseln zu lösen, dass er sich auf seine Weise im Staatwesen zu zeigen und seine eigenen Erzeugnisse zu gebären vermöge! Mögen glücklichere Geister ermuntert werden, noch heller ans Licht zu stellen, dass es ein deutsches Element gebe, welches, nicht gallisch, besser imstande ist, deutsche Völker zu beglücken und das eitle Träumen der Deutschen in das französische Wesen hinein so am besten zu zerstreuen.‘ Wie sich aus diesen Auslassungen ergibt, war Philippson ein Deutscher ganz und gar, ein deutscher Jude, voll Patriotismus, voll inniger und liebevoller Hingebung an das deutsche Wesen, was zu beobachten wir noch öfter Gelegenheit haben werden.“ (Meyer Kayserling: Ludwig Philippson, S. 29–30). 42 Moritz Meyer Kayserling: Ludwig Philppson, S. 27. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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che“, erschienen in Berlin im Jahre 1832. Die Diskussionen um die Emanzipation der Juden begleitete Philippson bereits Anfang der 1830er-Jahre selbst publizistisch und blieb diesem Engagement zeit seines Lebens treu.43 Ein Hauptziel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ war es, die Emanzipation der Juden in den deutschen Staaten publizistisch zu begleiten und nach Möglichkeit zu fördern. Es wurden aber auch häufig Judenheiten vorgestellt, deren rechtlicher Status besonders unbefriedigend war. Den deutschen Juden sollte auf diesem Wege das Bewusstsein dafür vermittelt werden, an der Spitze der aufgeklärten Juden Europas zu stehen. Wie einst die sephardischen Juden, waren nun die deutschen Juden zu diesen Vorbildern geworden. Was ihnen im Vergleich zu den iberisch-sephardischen Juden jedoch noch fehlte, war die vollständige Gleichstellung mit ihren christlichen Nachbarn. Die zentrale Institution zur Verbreitung von Philippsons Ideen war das „Institut zur Förderung der israelitischen Literatur“, das er 1855 zusammen mit Adolph Jellinek (bis 1856) und Isaak Marcus Jost (bis 1860) gründete und das bis 1873 mit Sitz in Leipzig bestand. Das Institut verstand sich als ein Buchclub, der Bücher vertrieb, die sich mit jüdischer Geschichte und Kultur auseinandersetzten und ein breites Publikum, Laien und Gelehrte, gleichermaßen ansprechen wollte. Der Jahresbeitrag für Subskribenten war mit zwei Talern relativ gering und trug dazu bei, dass das Institut auf diesem Wege auch wissenschaftliche Literatur vertreiben konnte, die sich ohne die populärwissenschaftliche Ausrichtung nur schwerlich rentiert hätte. Ab 1859/60 gab das Institut dann das bedeutende „Jahrbuch für die Geschichte der Juden und des Judentums“ heraus.44 „1865 konnte Philippson den Anspruch erheben, 182.000 Bände unter die Leute gebracht zu haben; in den besten Zeiten umfasste die Liste 3.600 Namen. Die Mitgliedschaft im Institut war besonders für die Juden in mittleren und kleinen Gemeinden attraktiv, während Juden in größeren Städten, die die ersten Zentren der Haskalah und der Reformbewegung gewesen waren, vergleichsweise sehr wenig Interesse zeigten.“45 Philippsons Arbeit war eine somit breite Aufmerksamkeit gewiss, weil er institutionell gut eingebunden war und seine Schriften breit gefächert vertrieben wurden.46 Die Leserschaft war international und nicht allein auf deutschsprachige Juden beschränkt. Roemer zufolge habe das Institut den deutsch-jüdischen Buchmarkt der Zeit monopolartig kontrolliert.47 Insgesamt wurden 87 Werke aus den Bereichen jü43 Michael Brenner: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. S. 26–27. 44 Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum, S. 502. 45 Michael A. Meyer: Jüdische Identität in den Jahrzehnten nach 1848. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 2. S. 343. 46 Nils Roemer: Jewish scholarship, S. 73. 47 Nils Roemer: Jewish scholarship, S. 75. 288

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dischen Geschicht (inklusive der sieben Bände von Graetz’ „Geschichte der Juden“) und Literaturgeschichte, der Apologetik und Belletristik herausgegeben.48, Allerdings war das Institut mangels Nachfrage an jüdischen Themen schließlich 1873 gezwungen, seine Tätigkeit einzustellen. Zusammen mit seinem Bruder Phöbus hatte Ludwig Philippson sich bereits seit 1843 für die Belange einer jüdischen Belletristik konzentriert in einem jüdischen Literaturverein stark gemacht, wie sich in den sechs Bänden des vom Institut herausgegeben Publikationsreihe „Saron“ ablesen lässt. Der Titel „Saron“ bezeichnet eine durch üppige Vegetation ausgezeichnete Ebene Palästinas. Die Weiterführung der Wissenschaft des Judentums blieb zeit seines Lebens eines der zentralen Anliegen Ludwig Philippsons. So nahm er in den letzten Abschnitten seines Lebens noch regen Anteil an der Gründung der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und hielt die Festrede bei der Eröffnungsfeier. Publikationen zur Geschichte und Kultur der sephardischen Juden in Spanien und Portugal nahmen in Form von historischen Romanen, Novellen und Erzählungen breiten Raum ein. Hier wurden sephardische Juden als Politiker, Krieger und Entdecker der Neuen Welt eingeführt,49 denen eine starke gestalterische Kraft gegeben war. Philippson wusste um die Bedeutung des historischen Romans. So wehrte er sich wiederholt gegen die sich in den Ghetto-Geschichten der Zeit ausbreitende Tendenz, Juden nur als Karikaturen ihrer selbst darzustellen, ohne ihnen ein eigenständiges Potenzial und einen Stolz auf ihre jüdische Identität an die Seite zu stellen.50 Auch wenn die anspruchsvollste und angesehenste Gattung für ihn die Lyrik darstellte, war er sich über die Möglichkeiten, die der Roman bezüglich der Darstellung einer positiven Vergangenheit, die helfen konnte, ein positiveres Bild von Juden und Judentum darzustellen, besaß, durchaus bewusst. In diesem Verständnis setzte er dieses Medium bewusst ein.51 Und so bekam der Roman eine doppelte Zielsetzung: „Nach außen ruft der Roman auf zu einer Veränderung der Vorstellung von 48 Nils Roemer: Jewish scholarship, S. 74. 49 Zum Bild des Entdeckers vgl. hierzu Moritz Meyer Kayserling, Teilnahme von Juden an portugiesischen Entdeckungen, Jahrbuch für die Geschichte der Juden und des Judenthums. (= Schriften herausgegeben vom Institute zur Förderung der israelitischen Literatur unter der Leitung von Ludwig Philippson, Isaak Markus Jost und Arthur Goldschmidt. Fünftes Jahr 1859–1860). Hier: 3. Bd., S. 305–317. 50 AZJ Nr. 23 (1859), S. 95f. 51 „Das Judentum ist bei Juden und Nichtjuden dadurch besonders in eine gewisse Verachtung gesunken, dass es stets in einem unästhetischen, neuerer Bildung nicht konformen Gewande in die Öffentlichkeit trat. […] Hiermit muss es anders werden! […] Dadurch, dass die Lehren, die Geschehnisse, und der ganze Geist des Judentums sich in poetischer Gestalt, in ästethischem Überzuge darstellen, steigt die Geltung deselben ungemein, und die gewinnt die verloVerwandlungen des iberischen Vorbildes

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Juden und Judentum unter Nichtjuden; nach innen plädiert er für einen Gestaltwandel des Juden, für die Schaffung eines neuen Juden.“52 Um diesen neuen Juden zu schaffen, ging es Ludwig Philippson einerseits um die religionspädagogisch motivierte Förderung jüdischer Belletristik, andererseits um die apologetische Auseinandersetzung mit Werken nicht jüdischer oder vom Judentum abgefallener Autoren.53 Die fiktionalen Darstellungsformen, mittels derer die iberisch-sephardische Kultur in den Mittelpunkt gerückt wurde, waren für Philippson nur dann auch religionspädagogisch gerechtfertigt, wenn sie hinsichtlich der Gesamtentwicklung des Judentums auch dessen idealistischen und humanistischen Kern deutlich in sich trugen. Mithilfe des historischen Romans konnte jüdische Geschichte neu geschrieben werden, indem er die Konzepte der Gegenwart auf das historische Judentum bezog.54 Es sei die europäische Kultur und nicht der Geist des Christentums gewesen, an der sich die Juden orientieren konnten, um selbst eine zeitgemäße jüdische Identität auszubilden. Was die Juden von der europäischen Kultur erfuhren, gaben sie in der Weiterentwicklung an diese Gesellschaften zurück. Dabei wurde das Christentum einer säkularen europäischen Kultur gegenübergestellt. Westeuropa unterweist in Philippsons Verständnis gegenwärtig Osteuropa und die Juden, die durch die säkulare europäische Kultur befreit worden waren, erweisen sich als dankbar für diese Wohltat.55

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renen Seelen wieder.“ (Ludwig Philippson: Über die Grundsätze der Redaktion: In: AZJ Nr. 1 (1837), S. 367). Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 135. Hans Otto Horch: Jüdische Literaturdebatten im 19. Jahrhundert am Beispiel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 5. Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse. Tübingen 1986. S. 109. „Ludwig Philippson erachtete den historischen Roman für geeignet zur Aktivierung der Geschichte, faktisch zum Neuschreiben der Geschichte mit einer Freiheit, die sich der Historiograph nicht erlauben dürfte. Um ein neues Verständnis der Vergangenheit herauszukristallieren, greift Philippson auf die Philosophie der Haskala zurück; so macht er sich etwa die hegelianische Sicht der Vergangenheit als Kontinuum zu eigen und behauptet wie die Haskala, dass dadurch das Rätsel des wunderbaren Fortbestehens des jüdischen Volkes zu lösen und neuer Mut für die Zukunft zu gewinnen sei. Unter diesem Vorzeichen projiziert er die Vorstellungswelt seiner Gegenwart in die Vergangenheit hinein und fand so die neuen Vorstellungen der jüdischen Reformbewegung vom Aufstand gegen die römische Weltmacht, vom Auszug in Exil und Diaspora.“ (Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 103). „Wir könnten also sagen, dass das Judentum des 19. Jahrhunderts nicht vom Christentume, sondern von der europäischen Kultur gelernt und den Anstoß zu Klärung und Bildung erhal290

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Das Christentum hingegen habe dem Judentum im Verlauf des 19. Jahrhunderts nichts vermitteln können, was den Juden auf dem Wege ihrer „bürgerlichen Verbesserung“ nützlich gewesen wäre. Dienlich waren den Juden hierbei jedoch die säkularen Werte der europäischen Kultur. Mit Blick auf Spanien machte Philippson an dieser Stelle deutlich, dass die Juden während der dortigen arabischen Herrschaft selbst zu Arabern geworden seien. Aufgrund der einladend wirkenden arabisch dominierten Mehrheitsgesellschaft fühlten sich die Juden im hohen Maße angesprochen, sie schrieben arabisch und adaptierten die arabische Lebensweise. Und diese war in Philippsons Verständnis säkular und habe sich nicht über die Religion des Islam definiert. Philippson zufolge habe die spezifische Vermittlertätigkeit der Juden, insbesondere bei den zahlreichen Übersetzungen ihrer Arbeiten aus dem Arabischen ins Hebräische, dies noch zusätzlich gefördert.56 Das Judentum habe im direkten Umfeld mit dem kulturell hoch stehenden Volk der Araber in Spanien deren Kultur aufgenommen oder aber wie im Exil in den Niederlanden an der ten habe. In der Tat möchten die Juden in den morgenländischen Staaten von den dortigen Christen nichts profitieren können, und müssen in den osteuropäischen Ländern die Christen so gut wie die Juden erst von den west- und mitteleuropäischen Völkern Unterweisung und Anleitung erhalten. Indes wollen wir dies nicht allzu genau nehmen und gern gestehen, dass wir Juden von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an durch die europäische Kultur aus den engen Grenzen unseres Geisteslebens befreit worden, und dadurch auch das Judentum zu neuer lebenskräftiger Entwicklung gedieh. Wir wollen uns dafür als zu Dank verpflichtet anerkennen, wenn nicht diese Dankbarkeit dadurch etwas geschmälert würde, dass man uns vorher mit der drückendsten Gewalt von aller Teilnahme am Geistesleben der Menschheit abgehalten hatte, einer Teilnahme, die wir überall, wo uns Raum gegönnt worden, in Alexandrien und Antiochien, in Rom und Spanien so kräftig und originell bewiesen haben, und die selbst in Holland schon im siebzehnten Jahrhundert in Spinoza der modernen Philosophie einen ihrer genialsten Schöpfer gegeben hatte. Geradezu verneinen müssen wir aber die Behauptung, dass auch inhaltlich das Judentum des 19. Jahrhunderts vom Christentume irgendetwas entlehnt habe.“ (Ludwig Philippson: Vergleichende Skizzen über Judentum und Christentum. In: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1. Leipzig 1911. S. 199–324. Ebd. S. 205). 56 „Denn gerade die bedeutendsten Männer der so genannten spanischen Schule waren Araber und haben arabisch geschrieben und zwar nicht bloß ihre philosophischen, medizinischen, mathematischen und astronomischen, sondern auch ihre rabbinischen Schriften, so dass sie erst ins Hebräische übersetzt werden mussten; so hat Saadja die erste Religionsphilosophie in arabischer Sprache geschrieben, aber auch seine rabbinischen Rechtsgutachten; so hat Maimonides mit Ausnahme seiner ‚Jad hachasakah‘ und einiger kleiner Werke nur arabische Schriften verfasst, und sogar seine Einleitung und seinen Kommentar (und) zur Mischnah in dieser Sprache geschrieben. Die spanischen Juden haben sich in ihrer Landessprache auf allen Gebieten versucht, und selbst noch in Holland bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts eine ausgedehnte spanische Literatur betrieben.“ (Ludwig Philippson: Weltbewegende Fragen I. In: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1. Leipzig 1911. S. 163–164). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Fortentwicklung der spanischen Literatur gearbeitet. Wo die Mehrheitsgesellschaft nicht so einladend wie im arabisch dominierten Spanien oder so tolerant wie in den Niederlanden gewesen sei, hätten Juden eine eigene, von der Umwelt unabhängige Kultur, wie in Babylonien, geschaffen.57 In Europa hingegen habe sich das Judentum in einen arabisch-spanischen und einen deutschen Zweig völlig unterschiedlich entwickelt.58 Wie wir schon gesehen haben, verstanden Rezipienten im Verlauf des 19. Jahrhunderts die deutschen Juden häufig als die neuen sephardischen Juden. In seinem Aufsatz „Parallelen“ aus dem Jahre 1851 stellte Philippson verschiedene geografische Räume gegenüber, so auch „das alte und das neue Spanien.“59 Einleitend wies Philippson auf den Umstand hin, dass sich das Zentrum einer Kultur anderen geografischen Zielorten als dem Ursprungsort zuwandte. Dies sei auch für die jüdische Kultur relevant, die sich von Asien nach Griechenland und dann nach Rom und von dort auf die Iberische Halbinsel ausgerichtet habe. Aber auch von hier wandten sich die Juden wieder anderen Orten zu. „Und so verließen sie auch Spanien, als es altersschwach sich dem Fanatismus und der Faulheit in die Arme warf.“60 Bevor es dazu kam, hätte sich in Spanien die Kultur jedoch über die Jahrhunderte hinweg geradezu angesammelt. Vor dem Eintreten der Inquisition, die in der Vertreibung der Juden und Mauren gipfelte, lebten 13 Millionen Menschen auf der Halbinsel – zum Zeitpunkt der Niederschrift des Beitrags im Jahre 1851 seien es nur noch 7 Millionen Einwohner gewesen. An die Stelle eines „regen Kulturlebens“ seien „Wüsten“ getreten.61 Die Durchsetzung des kompletten Gegenteils sei dem religiösen Fanatismus geschuldet, wie Philippson in deutlichen Worten aufführte: „Dieses Sinken begann, als dem Reiche der Mauren der Todesstoß beigebracht worden, als der Fanatismus der nun herrschenden Religion die Mauren und Juden in Millionen über das Meer jagte; als der Despotismus die kräftigsten Söhne aussandte, fremde Länder zu unterwerfen; als der unersättliche Metalldurst die eigenen Fluren veröden ließ, um überseeische mit Goldräubern zu bevölkern. Und dieser glühende Pesthauch 57 Philippson: Weltbewegende Fragen, S. 167. 58 „Als sie ihren Mittelpunkt in Spanien verloren, trieben sie noch eine Zeit lang in den gedachten Ländern ihr vaterländisches Leben fort, wie die vielen Druckschriften in Konstantinopel und Amsterdam erwiesen, aber nach und nach starb er ab. Desto energischer wuchs der deutsche Zweig heraus.“ (Philippson: Weltbewegende Fragen, S. 167). 59 Ludwig Philippson: Parallelen (1851). In: ders.: Weltbewegende Fragen in Politik und Religion. Aus den letzten dreißig Jahren. Erster Teil: Politik. Leipzig 1868 (= Schriften herausgegeben vom Institut zur Förderung der israelitischen Literatur. Dreizehntes Jahr 1867–1868). S. 348–362. Hier: S. 355. 60 Philippson: Parallelen, S. 357. 61 Philippson: Parallelen, S. 357. 292

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tötete das Leben, wohin Spanien drang, Mexiko und Peru geben traurige Zeugnisse davon.“62 Bedeutsam ist hier Philippson Bezugnahme auch auf die spanischen Besitzungen in Südamerika, wo der Geist der religiösen Intoleranz seine Spuren bei der indigenen Bevölkerung hinterlassen habe. Vor der Vertreibung der Juden, bedingt durch religiöse Intoleranz und Fanatismus, seien die Juden integraler Bestandteil insbesondere der arabischen Kultur auf der Iberischen Halbinsel gewesen.63 Aber auch an dieser Stelle begegnet dem Leser eine Einschätzung Philippsons, die das Leid der Juden als relativ betrachtet. Die vollständige Verarmung Spaniens in geistiger und ökonomischer Hinsicht, die dem Land im 16. und 17. Jahrhundert noch bevorstand, hätte auch die Juden erreicht. Daher sei deren Ausweisung kein so großes Unheil gewesen.64 Unter Bezugnahme auf die Situation im Osmanischen Reich kam Philippson zu der Einschätzung, dass die Juden heute dort ihr Dasein als Bettler fristen würden. Aber auch unter Bezugnahme auf das gegenwärtige Spanien war er davon überzeugt, dass im nördlich davon gelegen Mitteleuropa, die Stellung der Juden eine bessere als in Spanien sei, weil hier die Emanzipation auf dem Vormarsch und die Religion im Rückschritt begriffen sei. Den Faden seiner Argumentation weiterspinnend verwies Philippson darauf, dass Holland und die Türkei die Juden nach deren Vertreibung aus Spanien aufgenommen hätten und von der jüdischen Einwanderung profitiert hätten. Diese Tat habe sich für diese Länder durchaus ausgezahlt, denn nun konnten die Kenntnisse und Fertigkeiten der Juden diesen Staaten nützlich sein. Philippson war jedoch auch davon überzeugt, dass es die Pflicht der Mehrheitsgesellschaften 62 Philippson: Parallelen, S. 357. 63 „Aber glücklicher als die arabischen Gelehrten, hat Israel aus der glänzenden Reihe der arabisch- und spanisch-jüdischen Heroen nicht allein damals, sondern immerfort, und gegenwärtig noch den herrlichsten Gewinn gezogen. Wir erwerben immer noch aus den Geistesschachten des Maimonides, Juda Halevis, Aben Esras, Kimchis, Albos, Abrabanels usf. Das war die Frucht der freiern Stellung, der Achtung, der Duldsamkeit.“ (Philippson: Parallelen, S. 358). 64 „So mag es immerhin ein trauriger Augenblick gewesen sein, als 300,000 Juden den Boden des Vaterlandes, eine nicht mindere Zahl den Boden der väterlichen Religion verließen – aber in den Zeiten, die für Spanien kommen sollten, war es doch kein Unglück für sie; sie hätten dort mit dem Volke verkümmern müssen; welchen Druck hätten sie auszustehen gehabt, wenn der herbste, aber doch nur augenblickliche Schlag der Verbannung nicht auf sie gefallen wäre! Und was wäre es, wenn eine halbe Million jüdischer Bettler wie in Persien und Syrien jetzt dort wohneten! Ein Blick auf Spanien genügt, um jene Verbannung nicht als das Härteste erscheinen zu lassen. Im Norden wurden sie gedrückt, aber der Druck ist verschwunden, und der Jude erhob sich aus dem Staube; in Spanien wäre der Druck noch heute geblieben, so gut wie in Rom, und woran sollte der Jude sich in Spanien erheben?“ (Philippson: Parallelen, S. 358). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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gewesen sei, die Rahmenbedingungen für eine friedliche Existenz der Juden zu schaffen, so wie es in der Türkei, aber auch in der toleranten niederländischen Gesellschaft geschehen sei, wo sich die exilierten Juden bestens integrieren und damit auch für den Staat von großem Nutzen sein konnten.65 Die iberisch-sephardische Geschichte in den belletristischen   Arbeiten Ludwig Philippsons In Ludwig Philippsons historischen Erzählungen nahmen Themen zur iberischsephardischen Geschichte einen zentralen Stellenwert ein. Dazu gehörten aus dem Zeitraum des 12. Jahrhunderts „Hispania und Jerusalem“ (AZJ, 1848), die dem 14. Jahrhundert zugeordnete Novelle „Die drei Leidenschaften“ ( Jüdisches Volksblatt 1855), die Novellen „Die Zerstreuten“ (Saron, Bd. IV) und „Die drei Brüder“ (Saron, Bd. V), die, ebenso wie der Roman „Jakob Tirado“ (186766) und die Novelle „Die Trennung“ (Saron, Bd. IV) im 17. Jahrhundert spielen. Mit seiner Art der Darstellung stand Philippson in der Tradition der Haskalah, seine Schlussfolgerungen waren jedoch weitaus politischer angelegt und schlossen sogar direkte Interventionen, um die Situation der Juden und damit stets verbunden die allgemeinen Menschenrechte zu verbessern, nicht aus.67 Philippson wollte seinen Lesern mit seinen belletristischen Arbeiten vor Augen führen, dass das Judentum und die Juden unter schlechten Lebensbedingungen gelitten haben und auch Verfolgungen hätten erdulden müssen. Gleichwohl habe es in der jüdischen Geschichte auch bedeutende und positive Persönlichkeiten gegeben. Letztere seien besonders in der iberisch-sephardischen Kultur anzutreffen gewesen. „Der Jude war nicht bloß der verkommene Bewohner des deutschen und slawischen Ghettos; er war auch der edle Andalusier, der reiche Handelsheer, der forschende Rabbi; er wohnte frei und wirksam am Euphrat und am Nil, er wirkte auf den Gang 65 „Da waren nur zwei Länder in Europa, die sich gastlich ihnen öffneten, Holland und – die Türkei. Hat es dir geschadet, Holland, dass Du Deine Häfen den Unglücklichen öffnetest? Oder kam nun erst recht die Zeit deiner anwachsenden Größe, deines außerordentlichen Verkehrs, deines Gewerbefleißes? Freilich, wolltest Du nicht wie Spanien durch die toten Schätze Perus und Golsondas Dir Glanz und Pracht und Genuss schaffen, sondern allein durch Fleiß und emsige Schaffen und kühnes Wagen und kluges Berechnen.“ (Philippson: Parallelen, S. 359–360). 66 Ludwig Philippson: Jakob Tirado. Geschichtlicher Roman aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Leipzig 1867. Phöbus Philippson: Die Marranen. In: Saron. Gesammelte Dichtungen in metrischer und prosaischer Form. 2 Bde. Magdeburg 1844. S. 1–151. 67 Nitsa Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 114. 294

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der Weltereignisse ein, und die großen Strömungen des Geistes flossen vielfach aus den Quellen seines Genius.“68 Nur auf der Grundlage ihrer verbrieften Rechtssicherheit konnten Juden in Freiheit leben und dadurch aktiv in die Weltereignisse eingreifen und auch für die Mehrheitsgesellschaft von Nutzen sein. Philippson war bemüht, diese Themen aus der jüdischen Geschichte in einen universalen Zusammenhang zu setzen und dem Leser auch mögliche Lehren aus eben dieser Vergangenheit für die eigene Gegenwart aufzuzeigen. So führte er unter Bezugnahme auf die gescheiterte Revolution von 1848 in der Novelle „Hispania und Jerusalem“ zwei starke jüdische Helden, Jehuda ha-Levi und Abraham ibn Esra, ein, um, den fiktiven Gehalt der Novelle kommentierend, zu fragen: „Waren sie dann nicht so, nun konnten sie doch so gewesen sein.“69 Durch die Konstruktion von historischer Erfahrung wurde den Lesern eine Projektion für Identitätskonzepte angeboten. Diese Novelle wurde über einen jüdischen Leserkreis auch in der Triercher und der Verdener Obergerichts-Zeitung abgedruckt und hatte somit den klarer eingegrenzten Bereich der jüdischen Presse verlassen.70 Verortungen einer jüdischen Teilhabe an der allgemeinen Kultur in al-Andalus sollten einer weit verbreiteten Wahrnehmung jüdischer Geschichte als Leidensgeschichte entgegentreten und den jüdischen Lesern vor Augen führen, dass die Integration in den Staat als gleichberechtigte Staatsbürger das vordergründige Ziel bleiben müsse. Philippsons Novellen wiesen immer wieder darauf immer wieder hin. Die literarische Form der Novelle ermöglichte es ihm wie seinen Kollegen, sich mit der jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen und dabei stets die eigene Situation als Jude vor Augen zu haben. Dadurch war es Philippson71 möglich, durch sein literarisches Schaffen Entwicklungsmöglichkeiten für eine zeitgenössische jüdische Identität abzubilden. So konnte er ein Gegengewicht zu einer vergleichsweise umfangreicheren Publikation von Ghetto- und Dorf-Geschichten aufbauen. In seinem 1882 verfassten Rückblick in einem Beitrag für die „AZJ“ deutete Philippson selbst diese literarische Epoche, die mit der Erzählung „Die Marannen“ seines Bruders Phöbus begonnen hatte, auch als Vermächtnis. Die deutsch-jüdische Literatur habe 68 Philippson: Einleitung zu Saron, Bd. 5, S. VIII. 69 Philippson: Hispania und Jerusalem. Novelle aus dem zwölften Jahrhundert, Allgemeine Zeitung des Judentums, Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse in Betreff von Politik, Religion, Literatur, Geschichte, Sprachkunde und Belletristik, Dr. Ludwig Philippson (Hg.), Jg. 12 (1848), Nr. 47, S. 677–683f. 70 Kayserling: Philippson, S. 198. 71 Eine Würdigung des Volksschriftstellers Ludwig Philippson nimmt Felner vor: Joseph Felner: Ludwig Philippson. Sein Leben und sein Werk. Ein Buch für jung und alt. Berlin 1912. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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demzufolge zwei Richtungen eingeschlagen: „Die eine stellte sich zur Aufgabe, die geschichtlichen Erscheinungen des Judentums und der Juden in poetischer Gestaltung aufzufassen, zum Bewusstsein und in ihrem ethischen Gehalte zur Geltung zu bringen. Die andere befasste sich mit der Tendenz, das Judentum und die Juden, wie sie in der letzten Periode vor der Berührung mit der modernen Kultur und vor ihrer Umgestaltung durch diese waren, fühlten und dachten, und wie dies in entlegenen Kreisen noch jetzt der Fall ist, zu zeichnen, psychologisch darzustellen und zu erklären und mit dem Dufte der Poesie zu umgeben, gewissermaßen auch in ihrer Existenz, die ja auf Jahrhunderte zurückreichte, zu rechtfertigen.“72 Bezeichnenderweise ging Philippson davon aus, in der Ausgestaltung des historisch-heroischen Genres dem allgemein vorherrschenden literarischen Geschmack entgegengekommen zu sein. Gerade im Zeitalter der Emanzipation sei, so Philippson, eine enge Übereinkunft von jüdischer und allgemeiner Literatur zu verzeichnen gewesen, „in welche Judentum und Juden in allen Epochen ihrer Geschichte mit den zeitgeschichtlichen Verhältnissen gerieten, also besonders zu den Epochen, wo jene mit der allgemeinen Kultur der Zeit in engere Berührung und Wechselwirkung gekommen sind. Es sollte hiermit der historische Faden dieser weltgeschichtlichen Kontakte bis zu den analogen Erscheinungen der Gegenwart ausgesponnen, und der Zusammenhang zwischen allen diesen Perioden poetisch reproduziert werden.“73 Die Etablierung einer deutsch-jüdischen Belletristik war für Philippson nur dann religionspädagogisch und ethisch zu rechtfertigen, wenn sie stets die Gesamtentwicklung des Judentums als Realisation des jüdischen Monotheismus in seinem humanen und idealistischen Wesen ausdrücke. In diesem Zusammenhang war es für Philippson bedeutsam, auf die sephardischen Juden in Spanien zu verweisen, die er als älteste Nation auf spanischem Boden begriff. Die sephardischen Juden hätten schon vor der Ankunft der Christen und der Muslime dort gesiedelt und deren kulturelle Bedeutung habe sich in den Wissenschaften, der Poesie und in der Übersetzung nachdrücklich gezeigt. Philippson verstand die sephardischen Juden somit als Vermittler von Wissen in die Mehrheitsgesellschaft. In seiner Novelle „Die drei Nationen“ aus dem Jahre 1862 nahm das Verständnis von Vertreibung und Exil bei den Juden eine zentrale Rolle ein. Die Vertreibung 1492 wurde häufig als Abschluss eines Szenarios von lebensbedrohender Gefahr präsentiert, dem die Leiden unter der Inquisition, die Zwangskonversion zum Christentum oder dem Verleugnen des jüdischen Glaubens als Marranen vorangingen. Philippson zog das Beispiel der Vertreibung heran, um zu erklären, mit welchen Mitteln es der jüdischen Gemeinschaft gelungen sei, zu überleben. Der Familie als kleinster Zelle innerhalb der jüdischen 72 AZJ Nr. 46 (1882), S. 750. 73 AZJ Nr. 46 (1882), S. 750. 296

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Nation kam dabei eine Schlüsselfunktion zu. Diesen Umstand stellte Philippson in seiner Novelle „Die drei Nationen“ heraus, indem er die Juden von zwei anderen Völkern abgrenzte, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts ebenfalls von der allgemeinen politischen Situation in Mitleidenschaft gezogen wurden: die Indianer und die Polen. Dieser Vergleich verdient hier hinsichtlich Philippsons universalem Verständnis zitiert zu werden: „Der Indianer ist untergegangen, weil der rohe und unbefähigte Stamm untergehen muss vor der siegreichen Gewalt der Zivilisation, der er sich nicht beugen will, die er zu bekämpfen wagt. Der Pole ist untergegangen, weil er einen Staat wieder herstellen will, der zu den verlebten gehört, den er selbst verraten und verkauft hatte. Aber der Jude besteht auf immer, weil er keinen Staat und keinen Stamm, weil er nichts will, als seinen Gedanken bewahren, diesen frei bekennen, üben und lehren in der Mitte der Völker – weil er das Göttliche will, das für alle Menschen.“74 Philippsons Argument ist hier politisch und universell ausgerichtet. Der Jude wird als Mittler begriffen, der nicht abseits steht, sondern als Teil der Allgemeinheit und der allgemeinen Kultur bzw. Zivilisation fungiert, was ihn von Indianern und Polen unterscheide. Der Bedeutung der externen Faktoren, wie sie sich den Indianern in Amerika und den Polen als Teil des Zarenreichs entgegenstellten, wird von Philippson keinerlei Bedeutung beigemessen. Philippson hebt die allgemeine Bedeutung bzw. allgemeine Fähigkeiten der Juden heraus, um den damit verbundenen Wert für das einzelne Staatswesen darzustellen. Diese waren den Marranen in seiner Wahrnehmung jedoch nicht mehr gegeben.75 Philippson kam in seinem erzählerischen Werk immer wieder auf die Bedeutung des jüdischen Familienlebens zurück. Dieses habe eine starke Einheit verkörpert, die es überhaupt erst möglich machte, die Verfolgungen in Spanien besonders während des 15. Jahrhunderts zu überstehen. Dadurch wurde der weit verbreiteten Vorstellung seiner Zeitgenossen, Juden seien den externen Faktoren lediglich schutzlos ausgeliefert gewesen, ein Gegengewicht in Form eines starken kollektiven Zusammenhalts gegenübergestellt. Dies zeigte sich besonders hinsichtlich der Vertreibung von 1492 aus Spanien, die eng mit der eigenen Situation der Juden in Deutschland verbunden war. Bei seiner Interpretation der Ereignisse, insbesondere der Vertreibung, setzte sich Philippson in seinen fiktionalen Darstellungen bewusst 74 Ludwig Philippson: Die drei Nationen. In: Saron. 2., gänzlich umgestaltete und vermehrte Ausg. 1. Teil: Novellenbuch. Leipzig 1863. S. 3–73. (= Schriften herausgegeben vom Institut zur Förderung der israelitischen Literatur. 8. Jahr 1862–1863). Hier: S. 73. 75 Vgl. seine Analyse des inneren Verfalls des Judentums unter den Kryptojuden. Ludwig Philippson: Die drei Brüder. In: Saron. 2., gänzlich umgestaltete und vermehrte Ausg. 1. Teil: Novellenbuch. 3. Bd. Des ganzen Werkes fuenfter Band. Leipzig: Oskar Leiner 1863. S. 215– 261. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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von Leopold Zunz ab, dessen Konstruktion jüdischer Geschichte als eine Leidensund Gelehrtengeschichte ebenso wie die nach objektiven Kriterien ausgerichtete Geschichtsdarstellung von Isaak Markus Jost seinen Vorstellungen entgegenstand. In Philippsons erzählendem Gedicht „Der Jude in Granada“ endet die Geschichte der Juden in Spanien mit deren Vertreibung: „Auch in Spaniens Landschaft/ machten sie traurigen Schicksals Bekanntschaft/ denn sie hatten hier Friedenssitze/ in fröhlichem Besitze/ aber mit der Verbannung Blitze/ aus der erbarmungslosen Hand/ schleuderte sie der katholische Ferdinand/ aus dem Vaterland.“76

Die Erinnerung an das einschneidende Ereignis der Vertreibung wird hier nicht isoliert aufgegriffen, sondern der Verlust der Juden auch mit der spanischen Nation in Verbindung gebracht: „Ha! Ihr unbebauten Küsten,/ Spaniens trümmerreiche Wüsten,/ Zeugen der Vergangenheit,/ Fried und Glück sind euch entschwunden,/ Da ihr Achtung nie empfunden/ Vor des Menschen Glück und Leid [..]/. Wenn der Jude hier wird landen,/ Frei zu gastlich heitern Banden,/ Dann ist dir gelöst der Fluch!“77

Die „unbebauten Küsten“ Spaniens stehen hier sinnbildlich für die geistige Verarmung im Land nach der Vertreibung der Juden. Philippson vertrat die Ansicht, erst mit einer Wiederansiedlung der Juden könne sich der Fluch, der bedingt durch die durchgeführte Vertreibung auf Spanien lastet, lösen. Dem sephardischen Juden wird hier als einem Importeur von Kultur die zentrale Bedeutung zugeschrieben. Neoorthodoxe Erwiderungen Neben Diskutanten aus dem liberalen Lager nahmen auch Vertreter der Neoorthodoxie in Deutschland regen Anteil an der Debatte innerhalb der deutsch-jüdischen Belletristik. Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ darauf wurde bereits hingewiesen – versuchte, ein positives Judentum zu entwickeln, das zu keiner bestimmten Lebensform verpflichtete. Einig war man sich bei den Vertretern der Wissenschaft des Judentums jedoch in der Ablehnung aller Formen eines so verstandenen rigorosen traditionellen Judentums, dem so genannten Rabbinismus, was natürlich aufseiten der Orthodoxie zu einer starken Gegenwehr führte. So bezeichnete beispielsweise der Begründer der Neoorthodoxie in Deutschland, Samson Raphael Hirsch, die Wissenschaft des Judentums als „System zur theoretischen Beschöni76 Ludwig Philippson: Der Jude in Granada, AZJ 5 (1841), Nr. 24f. Hier: Nr. 27, S. 377. 77 Philippson: Der Jude in Granada. AZJ, Nr. 32 vom 26.6.1841, S. 463. 298

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gung des praktischen Abfalls“78 vom Judentum. Für Hirsch war es hingegen eine Notwendigkeit auf die Beibehaltung der Halacha zu drängen und sie nicht einem Glauben an Fortschritt zu opfern. Hier nahm die Beibehaltung der hebräischen Sprache für das Gebet und auch die Unterweisung in den jüdischen Fächern eine zentrale Funktion ein. Diese neoorthodoxe Lebensführung mit den Anforderungen eines modernen Lebens in Einklang zu bringen, war für Hirsch das zentrale Anliegen. Den Typus dieses aufgeklärten und die religiösen Gebote beachtenden Juden bezeichnete Hirsch als „Jissroel-Mensch“.79 Neoorthodoxe Schriftsteller nahmen im erheblichen Umfang gestaltenden Anteil an der schöngeistigen Literatur und dies nicht allein in Form von Übersetzungen und Übertragungen aus dem Hebräischen ins Deutsche, sondern auch durch das Verfassen eigener literarischer Werke. Den Vertretern der Neoorthodoxie ging es dabei nicht darum, die Vergangenheit zu idealisieren, sondern immer auch die gegenwärtige Situation in ihre literarischen Darstellungen konkret mit heranzuziehen und daraus hervorgehend eine Vorbildfunktion für die Leser abzubilden. Dass sich eine breite dichterische Produktion einstellen konnte, hing auch mit einer erweiterten Auffassung von Orthodoxie zusammen, die in der Literatur tatsächlich auch die Möglichkeit sah, bei den Lesern das Bekenntnis zur Tradition wachzuhalten. Je ergreifender und fesselnder die Darstellungen angelegt waren, desto größer war deren möglicher „Erfolg“ beim Publikum. Die Vertreter der Neoorthodoxie hatten sich bereits frühzeitig mit dem modernen Pressewesens vertraut gemacht. Zunächst wurde die jüdische Presse maßgeblich von dem liberalen Judentum nahe stehenden Herausgebern bestimmt. Dies änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Anschluss an die Rabbinerversammlung in Braunschweig 1844 entschieden neoorthodoxe Kreise, eine eigene Zeitung mit einer klaren Zielsetzung gegen die Reform zu etablieren. Die erste Zeitschrift war der „Treue Zionswächter“ von Jakob Ettlinger80, gefolgt von Samson Raphael Hirschs 78 Hirsch spricht von der Wissenschaft des Judentums als einem „System zur theoretischen Beschönigung des praktischen Abfalls“. (Vgl. Jeschurun 4 (1858), S. 231. Dazu auch Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Frankfurt/Main 1986. 164). 79 „Das großartige Ideengerüst S. R. Hirschs blieb für viele seiner Verehrer, die selbst innerlich naiv-fromm geblieben waren, eigentlich nur ein Abwehrschild gegen den Rationalismus der Aufklärung des Liberalismus.“ […] „Seine Abkehr von der Philosophie des Maimonides, wie überhaupt von der spanisch-jüdischen Schule, trug viel dazu bei, dass man in orthodoxen Kreisen die einst so fruchtbare Auseinandersetzung über die Grundthemen der klassischen jüdischen Philosophie fast gänzlich vernachlässigte und im allgemeinen viel vertrauter mit der Philosophie des deutschen Idealismus war.“ (Breuer: Jüdische Orthodoxie, S. 152). 80 Jakob Ettlinger, Rabbiner und theologischer Schriftsteller (1798–1871), „einer der ersten orthodoxen Rabbiner in Deutschland, die mit jüdischem Wissen allgemeine Bildung vereiVerwandlungen des iberischen Vorbildes

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„Jeschurun“ in den Jahren 1854 bis 1870 und Markus Lehmanns Wochenzeitschrift „Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum“, die er seit 1860 herausgab. Markus Lehmann wurde 1831 geboren, besuchte das Gymnasium und studierte anschließend an der Eisenstädter Jeschiwa Esriel Hildesheimers und in Prag bei Salomon Rapaport. In Prag wurde er auch zum Rabbiner ordiniert. Lehmann studierte anschließend Philosophie und Philologie in Berlin, Prag und Halle, wo er auch zum Dr. phil. promoviert wurde. Im Anschluss an seinen Studienabschluss arbeitete er als Rabbiner der orthodoxen israelitischen Religionsgemeinschaft in Mainz. Diese Gemeinde wurde als gesetzestreue Separatgemeinde als Erwiderung auf die Einführung von deutscher Predigt und Orgelmusik durch den Mainzer Rabbiner Joseph Aub (1805–1888) gegründet. Die 1860 gegründete Zeitschrift „Der Israelit“ wurde von Lehmann drei Jahrzehnte lang als Chefredakteur maßgeblich geprägt und sollte als neoorthodoxes Organ das Gegenwicht zur liberalen „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ bilden. Seit 1870 war der „Jeschurun“ mit dem „Israelit“ verbunden. Im „Israelit“ wurden zahlreiche Beiträge zur iberisch-sephardischen Kultur veröffentlicht. Die Mehrzahl der Erzählungen Lehmanns wurde später in sechs Bänden unter dem Titel „Aus Vergangenheit und Gegenwart“ (1872–1888) erneut herausgegeben. Lehmann war als Vertreter der Neoorthodoxie in der zweiten Generation von Samson Raphael Hirsch (1808–1888) und Esriel Hildesheimer (1820–1899) beeinflusst worden.81 Neben Hirsch und Hildesheimer wurde Lehmann zum wichtigsten Vertreter des neoorthodoxen Judentums, der in einer Reihe von Erzählungen und Romanen in Erscheinung trat und dessen belletristische Werke sich großer Beliebtheit erfreuten. Breuer zufolge war eine Neuigkeit nur dann von Bedeutung, wenn sie im „Israelit“ gedruckt erschien.82 Mit dem Rückgang der Auflagenzahlen bei der „AZJ“, besonders nach dem Tod Ludwig Philippsons, wurde der „Israelit“ die zahlenmäßig stärkste jüdische Zeitschrift.83

nigten“, er begründet in Mannheim eine Jeshiva und S. R. Hirsch wurde einer seiner Schüler. 1836 ging er als Rabbiner nach Altona, dort zählte E. Hildesheimer zu den Schülern seiner Jeshiva. Ettlinger kämpfte gegen die Reformbewegung in Deutschland. Er legte an der Spitze von 73 Rabbinern 1844 entschiedenen Protest gegen die Rabbinerversammlung der Reformer in Braunschweig ein, die nach seiner Auffassung eine Gefahr für den Fortbestand des Judentums bedeutete. 1845 gründete er den „Zionswächter“ als Zeitschrift für das gesetzestreue Judentum. (Vgl. Jakob Renzer: Jakob Ettlinger. In: Jüdisches Lexikon, Bd. 2, S. 540). 81 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 52–53. 82 Breuer: Jüdische Orthodoxie, S. 160. 83 Steven M. Lowenstein: Die Gemeinde. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 3. S. 128. 300

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Die Romane aus der Feder neoorthodoxer Autoren erschienen 30 Jahre später als die aus dem reformorientierten oder liberalen Lager. Und „während die historischen Erzählungen der jüdischen Reform in einer Phase des Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, entstand der neoorthodoxe historische Roman zu einer Zeit des erstarkenden Antisemitismus infolge des wirtschaftlichen Niedergangs nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871.“84 Darüber hinaus gelangten Vertreter der Neoorthodoxie zu der Überzeugung, den historischen Roman als Weiterführung der in der Haskalah eingeführten Biografie herausragender Persönlichkeiten zu verstehen.85 Als vorbildlich verstandene Figuren des Judentums wurden mit bürgerlichen Tugenden des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, die sich auf die drei Bereiche „Liebe zum Vaterland, zur Arbeit und zur Familie“86 bezogen. Das nationale Selbstverständnis der Zeit verstand die Liebe zur Nation häufig in einer Weise, die die Nation als erweiterte Familie auffasste.87 Während Philippson sein Publikum noch mit den historischen Rahmenbedingungen zur Geschichte der iberischen Juden vertraut machen musste, konnte Lehmann schon weitaus differenzierter die historische Situation spiegeln – und blieb doch, was die Differenzierung in unterschiedliche individuelle Entwicklungsschritte anbelangte, dahinter zurück. Anders als bei Philippson stellte die Weltgeschichte bei ihm keine absolute Größe mehr dar, und bezogen auf die Juden wurden diese wie noch bei Philippson nicht als Volk verstanden.88 Anders als die Brüder Philippson kritisierten neoorthodoxe Autoren häufig die schlechte wirtschaftliche und soziale Situation bei den zeitgenössischen sephardischen Juden im Osmanischen Reich. Dabei wurde beobachtet, wie es den sephardischen Juden nach dem Berliner Kongress von 1878 im Osmanischen Reich erging. Insbesondere Lehmann konstatierte eine weitgehende Diskriminierung in den Ländern des islamischen Machtbereiches. Dies war bereits durch den Herausgeber der Zeitschrift „Jedidja“, Jeremias Heinemann (1778–1855) formuliert worden, indem er trotz einer kulturellen Übereinstimmung zwischen Arabern und Juden feststellte, dass letztere von den Arabern wie Sklaven angesehen würden. Lehmann verfasste zahlreiche Romane und Novellen zu jüdischen Themen und war besonders aufgrund seiner volkstümlichen Sprache, verbunden mit großer Frömmigkeit, für die orthodoxen Kreise in Deutschland ein wichtiger Ansprechpartner. In drei Romanen und über 20 umfangreicheren Novellen, die teilweise der 84 85 86 87 88

Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 56. Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 56. Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 59. Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 96. Krobb: Kollektivautobiographien – Wunschautobiographien, S. 85. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel nachgehen, wurde er einem breiteren Publikum bekannt. In seinen Werken folgte Lehmann nicht der literarischen Tradition der weitverbreiteten Ghetto-Geschichte, sondern thematisierte die entlegene Vergangenheit bzw. aktuelle Ereignisse. Bei einer Analyse seiner Publikationen fällt auf, dass das Ghetto-Milieu in einem wesentlich geringeren Umfang bearbeitet wird als bei seinen liberalen Antipoden Karl Franzos und Leopold Kompert oder auch bei dem orthodoxen Schriftsteller Salomon Kohn, der mehr als 60 Novellen und Romane verfasste und als der „Ghetto-Dichter“ per se angesehen wurde. Kohns „Gabriel“ aus dem Jahre 1853 erlangte Weltruhm, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und erfreute sich auch in orthodoxen Kreisen einer großen Beliebtheit. Lehmann hingegen sparte die Ghetto-Zeit weitgehend aus und stellte in seinen literarischen Werken besonders zeitlich vor dieser Periode oder danach liegende Ereignisse vor. Es ging in diesen literarischen Darstellungen darum, ein von äußeren und inneren Konflikten heimgesuchtes Judentum letzten Endes als den Stürmen der Zeit siegreich widerstehend darzustellen. Mögliche Reflexionen über orthodoxe Zuschreibungen von Identität sucht man bei ihm allerdings vergebens, zu sehr ist der apologetische Charakter bestimmend, der sich zentral in der Rückkehr des vom Judentum abtrünnig gewordenen ins Judentum finden lässt. Die Qualität der Werke Lehmann stand, wie auch orthodoxe Kritiker anmerkten, hinter denen anderen Autoren zum historisch-jüdischen Genre weit zurück.89 Dennoch waren seine belletristischen Werke sehr beliebt – nicht zuletzt deshalb, weil sie versuchten zu vermitteln, weshalb es sich lohnte, in der jüdischen Tradition zu leben. Von zentraler Bedeutung ist auch die Verortung des orthodoxen Milieus als ein in erster Linie kleinbürgerlich geprägtes, das weitgehend abgeschieden von der nicht jüdischen Umgebung existierte.90 Lehmanns Erzählung „Die Familie y Aguillar. Eine Erzählung von jüdischem Heldenmut zur Zeit der spanischen Inquisition“91 aus dem Jahre 1873 handelte von bereits zum Christentum konvertierten Juden und machte deutlich, dass das Thema der Marranen und deren ambivalenter jüdischer Identität nicht dem liberalen Lager überlassen werden sollte. Das Buch erschien nicht an abseitiger Stelle, sondern stieß als Sonderbeilage der Zeitschrift „Israelit“ auf eine breite Resonanz. Während es in Phöbus Philippsons „Marannen“ von 1837 zentral um die Flucht von Spanien nach Amsterdam geht, um dem möglichen Verlust der jüdischen Glaubensintegrität zu entgehen, setzte sich 89 „In literarischer Hinsicht blieb die Modernität der Orthodoxie als Moderne der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stehen.“ (Breuer: Jüdische Orthoxie, S. 147–148. Hier: S. 148). 90 Breuer: Jüdische Orthodoxie, S. 153. 91 Markus Lehmann: Die Familie y Aguillar. Eine Erzählung von jüdischem Heldenmut zur Zeit der spanischen Inquistion. Erzählung. Mainz 1892 (Gratisbeilage zum Israelit). 302

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Lehmann mit der Wiedergewinnung freier Glaubensausübung auseinander. Anders als beim Erscheinen von Philippsons Novelle war nun – im Jahre 1873 – die bürgerliche Gleichstellung der Juden im Kaiserreich formal abgeschlossen, deren Umsetzung verlief jedoch hochgradig schleppend. Genau vor diesem Hintergrund muss auch die Erzählung gelesen werden. Lehmann vertrat die Ansicht, dass ein Vaterland dort ist, wo der Glaube ohne Verstellung ausgeübt werden könne. Als Marrane verdeckt dem Judentum treu zu bleiben, war für ihn keine Alternative zur sichtbar gelebten jüdischen Identität. Damit wandte sich Lehmann auch gegen die Vorstellung, den Marranen sei die Ambivalenz der jüdischen Identität zu eigen gewesen. Bereits in seiner Erzählung „Eine Sedernacht in Madrid“92 (1868) hatte Lehmann die Conversos scharf verurteilt. Sie waren in seinen Augen Verräter am Judentum, die ihre Nachfahren im Unglück zurückließen, da sie selbst „im Augenblick der Gefahr den Mut nicht gefunden, für die Heiligung des göttlichen Namens zu sterben, sondern es vorgezogen hatten, um den Preis der öffentlichen Verleugnung des Gottes der Väter das Leben zu erhalten.“93 Bei Lehmann trat klar die Vorstellung hervor, dass ein handelnder Gott sich für die von der Inquisition geschundenen Protagonisten einsetzen müsse. Zeigten sich diese als gottergeben und fromm, tritt ein Erdbeben zu ihrer Errettung auf den Plan, waren sie jedoch von Überheblichkeit gekennzeichnet wie der marranische Bischof, der sich seiner Machtfülle brüstet, erreichte ihn im unmittelbaren Anschluss an diese Szene die Nachricht vom Tod seiner Fürsprecherin, der Königin. Lehmann wandte sich in seinen belletristischen Arbeiten deutlich gegen Assimilationsvorstellungen, wie sie in Teilen deutschen jüdischen Bürgertums ausgeprägt waren. Der Weg der Assimilation war für ihn nicht dazu angehalten, um eine jüdische Identität auf der Basis der Religion zu erhalten. Übereinstimmung mit Philippson erzielte Lehmann allerdings darin, dass das Ausharren in lebensbedrohlichen Situationen dem zeitgenössischen Judentum auch Stolz auf die Leistungen von Juden in der Geschichte vermitteln könnte. Die Toleranz gegenüber anderen Religionen tritt bei ihm allerdings auch zurück, wenn er beispielsweise christliche Riten voller Ironie schildert.94 Die historischen Novellen hatten also in den beiden dominierenden Ausrichtungen des deutschen Judentums während des 19. Jahrhunderts die Aufgabe, ein 92 Markus Lehmann: Eine Sedernacht in Madrid. Mainz 1894. (Gratisbeilage zu Jg. 23 des Israelit). 93 Markus Lehmann: Die Familie y Aguillar, S. 186. 94 So bemerkt er zur christlichen Heiligenverehrung: „Wie freuen sich doch die guten Bewohner von Valencia, dass sie so einen geschickten Heiligen haben!“ (Lehmann: Familie y Aguillar, S. 75). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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jüdisches kollektives Selbstbewusstsein auf liberaler und neoorthodoxer Seite auszubilden. Diese Darstellungen kamen dem Erwartungspotenzial der Leser sehr entgegen und bedienten somit auch Hoffnungen, die einer Disharmonie in nicht literarischen Texten entgegenstand, die vor allen Dingen eine pragmatische Integration in die Mehrheitsgesellschaft formulierte. Während die deutsche Novelle des 19. Jahrhunderts mit der Reichsgründung von 1871 aufhörte zu existieren, sollte sich die Novelle innerhalb der deutsch-jüdischen Erzählliteratur erst noch ihrem Höhepunkt nähern. Anders als die Reichsgründung hatte dieses Ereignis zwar die Staatsbürgerrechte für die Juden, aber noch immer nicht deren vollständige Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit sich gebracht. Auch aus diesem Grunde wurde die iberisch-sephardische Erfahrung als Teil einer glorreichen Vergangenheit angeführt, zumal sich bei aller Beliebtheit von Themen aus dem Umkreis des Mittelalters gerade die historische Erfahrung von Juden in Mitteleuropa geradezu ausschloß. Die Damaskus-Affäre: Ausgangspunkt für die politische Initiative Ludwig Philippsons in Spanien Nach ihrer Vertreibung aus Spanien fanden die Juden im Osmanischen Reich eine neue Heimat. Der portugiesische Converso Samuel Usque hatte rühmend von den Möglichkeiten für die Juden gesprochen, denen es gestattet war, dort in Freiheit zu leben. Der sunnitische Islam der Hanafi-Ausrichtung verhielt sich pragmatisch gegenüber nicht islamischen Gruppen im Reich und regierte diese nicht auf Basis der Religion, sondern auf der Grundlage von demografischen, politischen und wirtschaftlichen Erwägungen. Als Dhimmis profitierten die Juden insbesondere während der Expansion des Reiches von dieser Offenheit und siedelten in den wichtigen Städten Istanbul, Saloniki, Izmir und Edirne.95 Hier lebten sie wie zuvor in Spanien stets im Kontakt mit der islamischen und anderen Bevölkerungsschichten. Allerdings bildete sich im Osmanischen Reich keine Haskalah aus und daher existierte auch keine neoorthodoxe Gegenbewegung. Dennoch wurden Anregungen aus der nicht jüdischen Welt als positive Erweiterungen angesehen und von der rabbinischen Elite nicht bekämpft. Bedingt durch den Niedergang des Osmanischen Reiches im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts, verdeutlichte Mitte des 19. Jahrhunderts dann die Formu95 Ester Benbassa, Aron Rodrigue: Sephardi Jewry. A history of the Judeo-Spanish Community, 14th–20th Centuries. University of California 2000. 304

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lierung des russischen Zaren Nikolaus I. vom „Kranken Mann am Bosporus“, dass vom Glanz des einst mächtigen Imperiums nicht mehr viel übrig geblieben und es zum Spielball der europäischen Mächte geworden war. Russland war bemüht, sich Teile des Osmanischen Reiches einzuverleiben. Dem stand insbesondere England gegenüber, das teilweise gemeinsam mit Frankreich bestrebt war, Russlands Expansionsdrang einzudämmen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten etwa 150.000 Juden im Osmanischen Reich, die bis 1912 auf 250.000 anwachsen sollten.96 Infolge der Krise im Osmanischen Reich erfolgte auch eine Destabilisierung der Stellung der Juden. Beginnend mit dem Ende des 18. Jahrhunderts errichteten die europäischen Mächte Konsulate, um ihre Staatsbürger zu schützen. Im Jahre 1839 wurde ein Reformwerk, das „Tanzimat“, verabschiedet, das gleiche Rechte für Nichtmuslime garantierte, allerdings das althergebrachte Millet-System nicht verabschiedete. In der Folge existierte eine Reihe von Gesetzen und Rechtsauffassungen im Reich.97 Diese hatten jedoch keinen Einfluss auf Syrien, einschließlich Palästinas, das zwar de jure noch zum Osmanischen Reich gehörte, aber de facto unter der Herrschaft Mehmet Alis von Ägypten stand. England und Frankreich kämpften beide um die Vorherrschaft in Ägypten, das aber zum Zeitpunkt der Damaskus-Affäre noch unter französischem Einfluss stand. Die Briten gewährten dem Osmanischen Reich Militärhilfe gegen Mehmet Ali und dieser musste 1841 Syrien und Palästina räumen. In dieses Machtvakuum hinein ereignete sich die Damaskus-Affäre. Im Februar 1840 verschwand ein Kapuziner Mönch, Pater Thomas, während des Passah-Festes und wurde ermordet aufgefunden. Prominente Juden der Gemeinde in Damaskus wurden beschuldigt, sein Blut für rituelle Zwecke verwendet zu haben. Einige dieser inhaftierten Juden gestanden unter Folter, die Tat verübt zu haben. Insbesondere der französische Konsul in Damaskus, Ratti-Menton, forcierte die Anschuldigungen gegen die Juden, indem er Verleumdungen gegen die Juden ins Arabische übersetzen ließ und dadurch eine antijüdische Stimmung provozierte.98 Die Damaskus-Affäre 96 Vgl. Sarah Abrevaya Stein: Making Jews Modern: The Yiddish and Ladino Press in the Russian and Ottoman Empires. Bloomington 2006. 97 Howard N. Lupovitch: Jews and Judaism in World History. London 2010. S. 171. Hinsichtlich der Veränderungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Bezug auf die jüdischen Gemeinden vgl. Aron Rodrigue: Jews and Muslims: Images of Sephardi and Eastern Jewries in Modern Times. University of Washington Press 2003. Bezogen auf die Entwicklungen auf dem Balkan vgl. Esther Benbassa: Questioning Historical Narratives – The Case of Balkan Sephardi Jewry. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts II (2003). Dan Diner (Hg.). München 2003, S. 15–22. 98 Vgl. Heinrich Graetz: Blutanklage von Damaskus im Jahre 1840. In: ders.: Geschichte der Juden. Bd. 11.2. Auflage 1900. S. 481–510. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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von 1840 hatte, wie Jonathan Frankel gezeigt hat, die Juden weltweit elektrisiert und ein Netz an Unterstützung ausbilden lassen, das zur Gründung der „Alliance Israélite Universelle“ im Jahre 1860 führte. Diese erste moderne philanthropische Organisation brachte neben Prinzipien europäischer Aufklärung auch westliche Bildung in die Länder Nordafrikas und des Osmanischen Reiches. Auch die nicht jüdische Presse berichtete über diese Ereignisse, wobei nicht ausgeschlossen wurde. dass orientalische Juden zu einem solchen Verbrechen fähig sein könnten. Hierfür verantwortlich gemacht wurde in erster Linie ein so verstandenes rückständiges Judentum, das sich auf das Studium des Talmuds konzentrierte und von Aufklärung und Moderne nichts gehört habe. Gegen diese Vorwürfe wandten sich deutsch-jüdische Autoren. So vertrat Heinrich Graetz die Meinung, Frankreich habe der Aufklärung keinen Dienst geleistet, vielmehr hätten katholische Fanatiker die Juden denunziert. Nur England habe sich vorbildlich verhalten und die bislang zurückhaltenden englischen Juden hätten in der ersten Reihe gegen dieses Unrecht gekämpft. Darüber hinaus nahm auch der österreichische Konsul in Damaskus Einfluss in dieser Richtung. Dennoch waren es nicht deutsche, sondern französische Juden wie Adolphe Cremieux, Vizepräsident des französischen Zentralkonsistoriums, oder britische Juden wie Nathanael Rothschild und Sir Moses Montefiore, die gegen dieses Unrecht protestierten und schließlich auch die Freilassung der Gefangen erwirken konnten. Sie nahmen gemeinsam mit den deutschen Juden Solomon Munk und Louis Loewe an einer Delegation teil, die direkt nach Damaskus reiste und dort auch den Sultan traf. Sie verstanden das Unrecht gegen die Juden in Damaskus als universalen Verstoß gegen die Menschenrechte. Die damit verbundenen Ereignisse ließen den Eindruck entstehen, dass mittelalterlicher Judenhass auch unter aufgeklärten Nationen noch immer weit verbreitet war, während die Emanzipation der Juden nicht wirklich näherrückte. Neben anderen deutsch-jüdischen Autoren hatte der Orientalist und Journalist Julius Fürst in eigenen Beiträgen für seine Zeitschrift „Der Orient“ auf die besondere Situation hingewiesen, die durch die Damaskus-Affäre entstanden war. In Damaskus war nicht nur die alte „Ritualmord-Legende“ wieder aktiviert worden; es waren Juden ermordet worden, die Synagoge geschändet und all das ohne nennenswerte Intervention der „zivilisierten Mächte“. Auch wenn die Ereignisse von Damaskus von den Juden als „mittelalterlich“ bezeichnet wurden, sahen sie in ihnen zuallererst den Gegensatz zum eigenen als fortschrittlich verstandenem Zeitalter. In den Worten Julius Fürsts konnten wie zuvor im Mittelalter „nur auf der Folter […] Juden die Morde zugeben“.99

99 Der Orient 17 (1840), 25.04.1840, S. 128. 306

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Heinrich Heines Entschluss von 1819, den „tausendjährigen Schmerz“100 der Judenverfolgungen zu verarbeiten, markierte eine zentrale Bedeutung für die Ausbildung seines jüdischen Selbstverständnisses. Eine Lesart dieser Geschichte der Verfolgungen, 1819 durch die „Hep-Hep-Unruhen“ wieder präsent geworden, ist im Widmungsgedicht „An Edom zum Rabbi von Bacherach“ vorangestellt.101 Heine hatte den „Rabbi“ als Auftragswerk für den Verein umfassend vorbereitet.102 Das erste und zweite Kapitel stellte er in einer ersten Rohfassung 1826 fertig. 1840 überarbeitete Heine das zweite Kapitel und verfasste das dritte Kapitel; der „Rabbi“ wurde schließlich im vierten Band seines „Salons“ aufgenommen. Ende 1825 oder Anfang 1826 brach Heine das Fragment ab. Drei Jahre später erfolgte dann die Ausarbeitung der Druckfassung unter dem Einfluss der Ritualmordbeschuldigung von Damaskus. die er ausdrücklich dazu verstand, die Lösung der „Weltblutfrage“ zu erörtern.103 In Heines Augen war das „Martyrium“ der sephardischen Juden in Syrien104 wiederholt worden und es erinnerte ihn „an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters“105. Erbost berichtet er darüber in der „Lutetia“:

100 Heinrich Heine: Schriften, Band I, S. 271. 101 Heinrich Heine: Schriften, Band I, S. 271. 102 Karlheinz Fingerhut spricht davon, dass sich Heine „Spanische Spiegel“ zusammengebogen habe, auch um seine eigene Situation in der Fremde und als Jude und Außenseiter zu reflektieren. „Immer wieder steht also im Zentrum von Heines spanischen Texten der Repräsentant einer unterdrückten Minderheit – der Jude, der Moslem, der Dichter, der Intellektuelle – auf der Suche nach Lebens- und Verhaltensmustern, die ihm ein Überleben gestatten.“ (Vgl. Karlheinz Fingerhut: Spanische Spiegel. Heinrich Heines Verwendung spanischer Geschichte und Literatur zur Selbstreflexion des Juden und Dichters. In: Heinrich-Heine-Jahrbuch. Joseph a. Kruse (Hg.). Bd. 31 1992. S. 106–136. Hier: S. 107). Heine formt besonders auf Spinoza bezogen charakteristische Stilisierungsmuster, wie Gabriele von Glasenapp deutlich gemacht hat. Gabriele von Glasenapp: Spielarten jüdischer Identitätsbestimmung im frühen 19. Jahrhundert. Berthold Auerbachs Spinoza-Roman. In: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Hanna Delf, Julius H. Schoeps, Manfred Walter (Hg.). Potsdam 1994. S. 289–304. 103 „Was sich bei jener Damaszener Blutfrage am betrübsamsten herausstellte, ist die Unkenntnis der morgenländischen Zustände, die wir bei dem jetzigen Präsidenten der Konseils bemerken, eine brilliante Unwissenheit, die ihn einst zu den bedenklichsten Missgriffen verleiten dürfte, wenn nicht mehr jene kleine syrische Blutfrage, sondern die weit größere Weltblutfrage, jene fatale, verhängnisvolle Frage, welche wir die orientalische nennen, eine Lösung oder Anstalten zur Lösung erfordern möchten.“ (Heine: Schriften, Bd. 5, S. 285). 104 Petra C. Bartnik: Syrien. In: Neues Lexikon des Judentums. Julius H. Schoeps (Hg.). Gütersloh 1992. S. 444. 105 Heine: Schriften, Bd. 5, Lutetia erster Teil, IX, S. 148. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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„Wahrlich wir würden die Juden von Paris eher loben als tadeln, wenn sie, wie die erwähnten norddeutschen Blätter meldeten, für ihre unglücklichen Glaubensbrüder in Damaskus einen so großen Eifer an den Tag legten und zur Ehrenrettung ihrer verleumdeten Religion keine Geldopfer scheuten. Aber es ist nicht der Fall. Die Juden in Frankreich sind schon zu lange emanzipiert, als dass die Stammesbande nicht sehr gelockert wären, sie sind fast ganz untergegangen, oder, besser gesagt aufgegangen in der französischen Nationalität. [...] Bei den französischen Juden, wie bei den übrigen Franzosen, ist das Gold der Gott des Tages und die Industrie ist die herrschende Religion.“106

Heine konstatierte den Mangel einer jüdischen Solidarität mit den Juden in Damaskus. Er verwies auf den französischen Politiker, Historiker und einen der Wortführer des politischen Liberalismus in Frankreich, Adolphe Thiers, der die Ansicht vertrat, dass die Juden sehr wohl „Christenblut am Paschafeste söffen, chacun à son gôut, alle Zeugenaussagen hätten bestätigt, dass der Rabbiner von Damaskus den Pater Thomas abgeschlachtet und sein Blut getrunken.“107 Heine fährt polemisch fort: „Hörte man ihn so reden, so konnte man am Ende wirklich glauben, das Leibgericht der Juden sei Kapuzinerfleisch.“108 Für den Dichter stand außer Frage, dass die Politik die Juden zu Sündenböcken machen wollte. An diesen Geschehnissen in Damaskus ausgerichtet, die die Wiederaufnahme der Arbeit am „Rabbi“ erst initiierten, verstand sich Heines Ansatz, die Lösung der „Weltblutfrage“ zu erörtern,109 indem er bestehenden Judenhass attackierte. Der „Rabbi“ stellte eine Solidarität mit den Juden als Volk aus der historischen Notwendigkeit heraus her.110 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Jahr 1840 bei den deutschen wie auch bei den französischen und englischen Juden einen tiefen Einschnitt hinsicht106 107 108 109

Heine: Schriften. Bd. 5, S. 274. Heine: Schriften, Bd. 5, S. 283. Heine: Schriften, Bd. 5, S. 285. „Was sich bei jener Damaszener Blutfrage am betrübsamsten herausstellte, ist die Unkenntnis der morgenländischen Zustände, die wir bei dem jetzigen Präsidenten der Konseils bemerken, eine brilliante Unwissenheit, die ihn einst zu den bedenklichsten Missgriffen verleiten dürfte, wenn nicht mehr jene kleine syrische Blutfrage, sondern die weit größere Weltblutfrage, jene fatale, verhängnisvolle Frage, welche wir die orientalische nennen, eine Lösung oder Anstalten zur Lösung erfordern möchten.“ (Heine: Schriften, Bd. 5, S. 285). 110 Veit macht darauf aufmerksam, dass Heine auch im Zuge der Romantik und deren Verklärung Spaniens seine eigene Iberische Halbinsel entdeckte, wie die Figuren Almansor und Jehuda ben Halevy späterhin beweisen sollten: “Axiomatically contemporary Jewish historians considered Sephardic culture superior to an imputedly atrophied rabbinic tradition dominating Aschkenazic Jewry. Supposledy more attuned to the needs and aspirations of modern Jews, the Hispano-Jewish experience was to provide the guidelines for a revitalization of Judaism.” (Veit: Marrano pose, S. 147). 308

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lich der Wahrnehmung der eigenen Situation markierte. Einerseits drohte der Glaube an eine rasch zu erzielende Emanzipation in den verschiedenen deutschen Staaten an der restriktiven Politik den Juden gegenüber zu zerbrechen, andererseits ließ die Damaskus-Affäre von 1840 auch längst vergessen geglaubte, mittelalterliche Beschuldigungen wiederaufleben.111 Die zeitgenössische deutsch-jüdische Publizistik kritisierte diese Affäre scharf als Zeichen einer vermeintlich überwundenen Epoche. Gerade indem sie sich für diejenigen Juden einsetzte, die im Vergleich zu den mitteleuropäischen unter schlechteren Rahmenbedingungen leben mussten, konnte die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ dem zunehmend fragmentierten deutschen Judentum ein Gefühl von Einheit und Stärke vermitteln und es zur Solidarität mit jenseits der deutschen Schlagbäume lebenden Juden animieren. Die Damaskus-Affäre bedingte auch eine Verschiebung der Wahrnehmung von Juden unter islamischer Herrschaft, die eng mit den politischen Entwicklungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts, besonders mit dem Zerfall der politischen Macht des Osmanischen Reiches, zusammenhingen.112 Die daran anknüpfende negative Interpretation des Islam findet sich in der Folge auch bei der Wahrnehmung der sephardischen Juden im Osmanischen Reich. Am Ende der Damaskus-Affäre konnte davon gesprochen werden, dass die europäische Öffentlichkeit „zu einer Appellationsinstanz geworden [war], für die Nichteuropa – in diesem Fall Ägypten und Syrien, also der Orient – eine Bedrohung von Zivilisation und Fortschritt darstellte.“113 Gegen diese Bedrohung wandten sich auch die beschriebenen jüdischen Persönlichkeiten, die der Affäre erst ein Ende bereiteten. Es war ihnen außerdem ein Anliegen, den Juden im Osmanischen Reich moderne westliche Bildung zu vermitteln, auch um einer so in der westlichen Öffentlichkeit verstandenen Rückständigkeit zu entgehen. Dies führte 1860 letztendlich zur Gründung der „Alliance Israélite Universelle“. Die Strategie, die Emanzipationsdebatte in Deutschland durch die Berücksichtigung der Lage nicht europäischer Judenheiten zu schärfen und dadurch den Gedanken der Einheit im Judentum zu fördern, wurde zu einem verbindenden Element. Bestimmt 111 Zu den Dimensionen der Damaskus-Affäre vgl. Jonathan Frankel: The Damascus Affaire. “Ritual Murder”, Politics, and the Jews in 1840. New York 1997. 112 „Der Vorwurf eines ‚Orientalismus’ im Sinne Edward Saids mag insoweit berechtigt sein, als die These nicht gänzlich zurückzuweisen ist, protestantische Gelehrsamkeit und das im 19. Jahrhundert vorherrschende protestantische Interesse am Alten Testament als Historie, etwa bei Julius Wellhausen, sei für die Juden und ihr sich neu definierendes Selbstverständnis nicht folgenlos geblieben.“ (Dan Diner: Historische Anthropologie nationaler Geschichtsschreibung. In: Michael Brenner, David N. Myers (Hg): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloss Elmau-Symposium. München 2002. S. 207–216. Hier: S. 214. 113 Guesnet: Strukturwandel, S. 56. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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wurde die Handlung der deutschen Juden von der Erkenntnis, einem universalen Unrecht entgegenzutreten. Dadurch konnten sie ein Netzwerk transnationaler Solidarität ausbilden, das dem Wunsch nach Emanzipation in Deutschland nur scheinbar entgegenstand. Tagespolitik und das iberisch-sephardische Vorbild   bei Ludwig Philippson Auch wenn reformorientierte und neoorthodoxe Autoren nachweislich die iberischsephardische Kultur als Spiegelbild für das zeitgenössische Judentum heranzogen, war es immer wieder Ludwig Philippson, der das historische Beispiel der iberischsephardischen Juden auch in seinen Äußerungen zur Tagespolitik zum Ausdruck brachte. Die Damaskus-Affäre war für ihn der Auslöser, sich stärker auch als politischer Schriftsteller für die Emanzipation der Juden auszusprechen. Beispiele aus der iberisch-sephardischen Geschichte zog er zu diesem Zweck immer heran. In seinem Aufsatz „Judentum und Deutschtum“ von 1865 wandte er sich der Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel als einem historischen Beispiel zu. Der Beitrag setzte sich kritisch mit einem Aufsatz des Freiherrn von Loëns mit dem Titel „Aus dem Kulturleben der Gegenwart“, erschienen in der „Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung“ am 26. April 1865 auseinander.114 Philippson bezeichnete den Verfasser nicht als Judenfeind, zeigte sich jedoch mit dessen Darstellung der Juden bezüglich des kulturellen Lebens der Gegenwart nicht einverstanden. Philippsons Auseinandersetzung mit Loëns Artikel ist gleichwohl eine Entgegnung auf die vorurteilsgeprägten Ansichten des Verfassers, die dieser auch bezogen auf die Geschichte der iberisch-sephardischen Juden geäußert hatte. Für Philippson waren Juden hingegen immer an der europäischen Kultur beteiligt gewesen. Dies habe sich in der Vergangenheit in Spanien gezeigt und sei jetzt wieder in Deutschland zu beobachten. Auch wenn judenfeindliche Stimmen immer wieder erklängen, sei es doch keine Frage, dass deutsche Juden tief in der deutschen Kultur verankert seien und als deutsche Patrioten handelten: Sie „denken, sprechen und handeln deutsch.“115

114 Ludwig Philippson: Judentum und Deutschtum. In: AZJ 1865 S. 448–458. 115 „Wir deutsche Juden sind Deutsche seit mehr als anderthalb Jahrtausenden; wir haben die deutsche Entwicklung in Licht und Schatten, in Gutem und Bösem mit durchgemacht; wir haben deutsches Wesen und deutschen Geist in uns. Die ist es, was wir Deutschland verdanken; hierdurch sind wir mit tausend Banden an Deutschland geknüpft, halten uns für ganz ebenso gute deutsche Patrioten wie der Verfasser sich kennzeichnet, denken, sprechen 310

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Philippson zufolge hängt dies eng mit der Geschichte des jüdischen Volkes als Kulturvolk zusammen. „Der jüdische Stamm war von seinem Beginne an ein Kulturvolk.“116 Und weiter: „Ein Kulturvolk ist dasjenige, welches seinen nationalen und staatlichen Bestand auf Recht und Gesetzt begründet und zugleich der Entwicklung fähig ist und obliegt.“117 Dies sei im eigenen Staat möglich gewesen, habe jedoch auch nach dessen Zerstörung weiterhin Bestand in den neuen Heimatländern gehabt. Die Grundlagen des Judentums als Kulturvolk blieben auch im Exil weiterhin erhalten, wodurch das Judentum seine Botschaft unter die Völker senden, sich aber auch in die Kultur des Gastlandes vertiefen konnte.118 Diese Charakterisund handeln deutsch.“ (Philippson: Judentum und Deutschtum“, zit. in: Ludwig Phlippson: Gesammelte Abhandlungen. Bd. 1, S. 161–170. Hier: S. 162. Leipzig 1911). 116 Philippson: Judentum und Deutschtum. In: AZJ 1865 S. 448–458. Hier: S. 454. 117 Philippson: Judentum und Deutschtum. In: AZJ 1865 S. 448–458. Hier: S. 454. 118 „Wo es nach der Zerstreuung auf ein Kulturvolk stieß, versenkte es sich in dessen Geist, und schuf eine sich ihm anschließende Literatur, wie die umfassende hellenistische. Wo es mitten in Völker versetzt ward, die zu dieser Kategorie nicht gehörten, entwickelte es sich in seiner eigenen Art, wie der große talmudische Aufbau gerade in Babylonien erweist. – Nach Europa verpflanzt, und zwar schon lange Zeit vor Beginn der christlichen Ära, schuf es sich zwei große Herde, um die es sich sammelte, und von denen es sich ausbreitete, der eine der arabisch-spanische, der andere der deutsche. Wer diese beiden Zweige des jüdischen Stammes umt Sachkenntnis vergleicht, der erkennt nicht allein ihre Verschiedenheit, wie sie sich im Gebetkult, in der Aussprache des Hebräischen und in der Studienmethode ausprägt, sondern wie beide sich in Geist, Wesen und Charakter, in Leben, Sitte und Haltung an die beiden großen Völkerstämme völlig anschließen, in und mit denen sie lebten. Vom spanischen Herde gingen sie nach Südfrankreich, Holland, England und Nordamerika // (Seitenumbruch, S. 455) und vereinigten sich mit den Italienern nach der Türkei, Nordafrika und Asien zurück. Als sie ihren Mittelpunkt in Spanien verloren, trieben sie noch eine Zeit lang in den gedachten Ländern ihr vaterländisches Leben fort, wie die vielen Druckschriften in Konstantinopel und Amsterdam erweisen, aber nach und nach starb es ab. Desto energischer wuchs der deutsche Zweig heraus. Er breitete sich massenhaft in den polnischen, czechischen und ungarischen Ländern aus, ging nach Dänemark und Schweden, zog vom Elsass aus nach Paris, wanderte in Holland und England ein und bevölkerte in großer Zahl Nordamerika, während vom spanischen Stamme auf deutschem Gebiete nur eine kleine Kolonie in Hamburg-Altona sesshaft wurde. Dieser jüdische-deutsche Stamm, dessen erste Ansiedlungen mit den Legionen Roms amd Rheine und im südwestlichen Deutschland vor sich gingen, entwickelte von Anfang an ein starkes, intensiv deutsches Leben, das sich insonders in der Schöpfung des jüdisch-deutschen Dialekts erwies, der sich allerdings auch nach den verschiedenen deutschen Landschaften modifizierte. Wer sich hierüber Gewissheit verschaffen will, studiere das bekannte Werk des gewiss unparteiischen Avé-Lallemant. Dieser jüdisch-deutsche Dialekt ist völlig ein Gebilde des deutschen Geistes, denn er hebraisierte nicht etwa das deutsche Element, sondern er germanisierte die hebräischen Wörter, deren Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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tika einer deutschen Identität unter den Juden im deutschsprachigen Raum prädestinierte sie dazu, als Botschafter deutscher Sprache und Kultur über den deutschen Kulturraum hinausgehend zu wirken. Was in der Vergangenheit die iberisch-sephardische Kultur dargestellt habe, sei nun auf die deutschen Juden übergegangen, deren Identifikation sich insbesondere durch die Verwendung der deutschen Sprache ausdrücke.119 Die deutsche Sprache wurde in Philippsons Verständnis „überall” von den Juden neben dem Jüdisch-Deutschen als Kultursprache behandelt. Auf Grundlage dieses „deutschen Wesens“ der Juden entgegnete Philippson dem Freiherrn von Loëns: „Fürwahr, einem so großartigen, historischen Faktum gegenüber erscheint es doch ungerecht und anmaßend, wenn der Freiherr von Loën die deutschen Juden auffordert, Deutsche zu werden! Wir waren, sind und werden Deutsche sein, wie nur irgend Glieder der deutschen Nation es sind.“120 (Hervorhebung im Text, C. S.) Diese Verortung wurde zur Zeit der Niederschrift sicherlich von einer Mehrheit der deutschen Juden klar befürwortet. Philippson verweist darüber hinaus auf die universale Aufgabe des Judentums, die sich nicht auf das bloße Aufgehen in der Idee des Nationalismus reduzieren lasse, sondern sowohl das Christentum als auch den Islam aus sich hervorgebracht habe.121 Jude zu sein bedeutete für Philippson keinesfalls, ausschließlich für die bürgerliche Gleichstellung der Juden in Deutschland zu kämpfen. Er vertrat vielmehr die Ansicht, dass man sich als Jude universal um Gerechtigkeit zu bemühen habe. Deutscher Jude zu sein bedeutete somit für ihn

er sich bediente, er flektierte z. B. diese, setzte die deutsche Endung an die hebräische usf. So nahmen auch in ältester Zeit schon die Juden deutsche Namen an und germanisierten die geringe Zahl derer, die sie aus der hebräischen Schrift beibehielten. Die meisten Namen, die man jetzt als altjüdische verspottet, sind nichts als altdeutsche.“ (Philippson: Judentum und Deutschtum. In: AZJ 1865 S. 448–458. Hier: S. 454–455). 119 „Wie sehr dieses deutsche Wesen in den Deutschen seit ältester Zeit lebte, ersieht man daraus, dass sie überall, wo sie hinkamen, in allen Ländern, wo sie sich ansiedelten, die deutsche Sprache als ihre Familiensprache konservierten, und von der Ukraine bis zu den Küsten des stillen Ozeans die deutsche Sprache erklingen ließen, wenn auch in den verschiedenen Ländern sich nach den dortigen Zungen modifizierend, so dass erst in den neuesten Zeiten der ungarische, polnische, russische, dänische, schwedische usf. Jude sich anschickte, die Nationalsprache sich anzueignen, immer noch seine Bildungselemente aus deutscher Wurzel zieht.“ (Philippson: Judentum und Deutschtum. In: AZJ 1865 S. 448–458. Hier: S. S. 455). 120 Philippson: Judentum und Deutschtum. In: AZJ 1865 S. 448–458. Hier: S. Hier: S. 456. 121 „Die Zeit war daher gekommen, wo die religiöse Idee aus dem engen Rahmen des jüdischen Volkes in die gesamte Menschenwelt hinaustrete. Sie tat es vermittels des Christentums in die abendländische, sechs Jahrhunderte später vermittels des Islam in die morgenländische Welt.“ (Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 178). 312

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„an allen Nöten, an allem Elend, wo sich irgend in der Menschheit kundtun, den innigsten und tatkräftigsten Anteil zu nehmen, um Abhilfe zu schaffen.“122 Und so ist es nur folgerichtig, Philippsons Arbeit eher als eine Vorstellung von Erziehung durch Literatur als mit der Tätigkeit eines Historikers zu vergleichen.123 Neben der Aufgabe, seinen Lesern ein positives Bewusstsein der eigenen jüdischen Geschichte zu vermitteln, ging es ihm darum, die Gründe für das Überleben des jüdischen Volkes durch den Gang der Geschichte zu erörtern.124 So machte Philippson in seinem Roman „Sepphoris und Rom“ darauf aufmerksam, dass der Untergang des Römischen Reiches nicht allein in einem universalen Verständnis grundlegende Umwälzungen mit sich brachte, sondern auch für die jüdische Geschichte. Die Zerstörung der jüdischen Eigenstaatlichkeit habe zur Diaspora-Existenz der Juden geführt. Nun seien die Juden dazu angehalten, die ethischen Lehren des Judentums, so Philippson, unter den Menschen zu verbreiten. Die jüdische Religion stehe hierbei in keinem Widerspruch zur nationalen Zugehörigkeit als Deutscher. In seinem Aufsatz „Das Nationalitätenprinzip“ von 1859125 stellt Philippson fest, dass im Namen der Religion schon viel Unheilvolles durchgesetzt worden sei, was sich nicht im Nationalitätenprinzip wiederholen dürfe. Einzig „im Recht und in der Humanität“126 könne sich die Menschheit weiterentwickeln, ansonsten käme es lediglich zu „niedrigen Leidenschaften.“127 Für Philippson stand außer Frage, dass die Botschaft der Juden nicht allein an die Juden selbst gerichtet war, sondern auch die nicht jüdischen Gesellschaften berühren sollte. In seinem Beitrag „Die Industrielle Mission der Juden“128 aus dem Jahre 1861 kommt Philippson erneut auf diesen Gedanken zurück, wenn er den Juden als Fürsprecher des allgemeinen Menschenrechts versteht und deutlich formuliert: „Der Jude hat nun von der Weltgeschichte die Rolle übernommen, überall das Mittel der Prüfung für die wirkliche Existenz der persönlichen Freiheit, des Menschenrechts und der Menschenwürde zu sein. Dies ist die zweite soziale Mission der Juden und gibt dem Emanzipationskampfe, unter dem wir aber nicht bloß den legislatorischen verstehen, eine weltgeschichtliche Bedeutung.“129 122 Ludwig Philippson: Der jüdische Separatismus (1866). In: ders.: Weltbewegende Fragen. S. 393–407. Hier: S. 405. 123 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 104. 124 Ben-Ari: Romanze mit der Vergangenheit, S. 107. 125 Ludwig Philippson: Das Nationalitätenprinzip (1859). In: ders.: Weltbewegende Fragen. S. 24–30. 126 Philippson: Das Nationalitätenprinzip, S. 29. 127 Philippson: Das Nationalitätenprinzip, S. 29. 128 Ludwig Philippson: Die industrielle Mission der Juden. In: Ders.: Weltbewegende Fragen. S. 378–392. 129 Philippson: Die industrielle Mission der Juden, S. 392. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Dieser Gedanke begleitete Philippsons Schaffen, in seinem Aufsatz „Die drei Stadien des Emanzipationskampfes“ aus dem Jahre 1863 griff er ihn erneut auf. Er schreibt hier, die „bürgerliche Gleichberechtigung der Juden“ müsse auf die Grundlage „des unveräußerlichen Menschenrechts gestellt“ werden. Philippson berief sich auf Gabriel Riesser, der immer wieder darauf hingewiesen habe, „dass die ganze Frage eine reine Rechtsfrage sei, von allen weiteren Elementen befreit bleiben müsse.“130 Der Staat habe nicht das Recht, auf der Basis konfessioneller Erwägungen Beschränkungen gegen eine oder mehrere Gruppen im Staat auszusprechen und die Mitglieder dieser Gruppe von der Gleichberechtigung fernzuhalten. Die Realität sah jedoch anders aus und Philippson wies auf die Bemühungen der deutschen Juden hin, als Religionsgemeinschaft so integrationsfähig wie möglich zu erscheinen, was durch die Einführung der deutschen Sprache bestens dokumentiert sei. Allen, die hören könnten, sei zumal deutlich gemacht worden, dass im Judentum keine „antisozialen Grundsätze“131 zu finden seien. Die Juden bildeten auch keine „abgesonderte Nation“132, wie Philippson unter Verweis auf Ave-Lallemants Buch „Das deutsche Gaunertum“133 anführt. Ganz im Gegenteil sei die „providentielle Mission vorgezeichnet schon von den Propheten“134, deren „Erkenntnis der gesamten Menschheit zu übergeben und aufzubewahren sei.“135 So hätten die Juden „vom Beginne an in Deutschland [sich] germanisiert“, und „die deutsche Sprache als Muttersprache“136 sich angeeignet. Für Philippson galt es als erwiesen, dass die Juden in Deutschland im ersten Jahrtausend integriert waren und erst dann durch zunehmenden religiösen Fanatismus aus dem öffentlichen Leben Deutschlands gedrängt wurden. „Das Mittelalter und seine Folgen“ Den Gefahren religiösen Fanatismus ging Philippson auch bei seiner Analyse der Vertreibung der Juden aus Spanien nach. Er wandte sich hierbei scharf gegen ein positiv gezeichnetes Bild vom Mittelalter, wie es insbesondere von Autoren der Romantik vertreten und für deren nationales Verständnis instrumentalisiert wurde. In

130 131 132 133 134 135 136

Philippson: Die industrielle Mission der Juden, S. 440–443. Philippson: Die industrielle Mission der Juden, S. 441. Philippson: Die industrielle Mission der Juden, S. 442. Christian Benedikt Avé-Lallement: Das deutsche Gaunertum. Theil III. Leipzig 1862. Philippson: Die industrielle Mission der Juden S. 441. Philippson: Die industrielle Mission der Juden S. 442. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 443. 314

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seinem Artikel „Das Mittelalter und seine Folgen“137 aus dem Jahre 1861 richtete er sich gegen jede verherrlichende Rezeption dieser Epoche. Philippson begann darin mit einer Bestandsaufnahme dessen, was die römische Antike architektonisch vom Mittelalter unterschied. Hier klare und großzügige Plätze, dort lebten die Menschen in „engen, schmutzigen und dunstigen Gassen“138, die kein Wind rein zu waschen vermochte. Philippson ging der Frage nach, was zu dieser Veränderung im Leben der „reichen und verschwenderischen römischen Bürger“139 mit ihren großzügigen Stadtanlagen führen konnte und was seine Bewohner dazu bewog, „in solche freiwillige Gefängnisse sich zu begeben und vom Genusse des frischen Naturlebens sich abzuschließen.“140 Die Antwort fand Philippson in der neu heranbrechenden Zeitepoche des Mittelalters, die durch „Gewalttätigkeit“ und das „Faustrecht“ bestimmt gewesen sei.141 Aufgrund dieser Situation einer Gesellschaft im Kampf wurden die Städte eng verschachtelt gebaut und mit Mauern gegen feindliche Angriffe versehen, was wiederum freie Plätze wie unter römischer Herrschaft unmöglich machte. Tatsächlich sei jedoch die gesamte mittelalterliche Gesellschaft von Hierarchien geprägt gewesen, die zum Teil bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt Bestand hätten.142 137 138 139 140 141

Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 170. Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 166. Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 166. Ludwig Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 166. „Das ist das Mittelalter, und seine Folgen liegen noch heute drückend auf den Menschen und werden ihnen eine Bürde sein noch viele Jahrhunderte. Dieses Mittelalter, das einige törichte Schwärmer und viele Freunde alter Zwingherrschaft für die Zeit des Geistesschwunges, der Gefühlsinnigkeit und der Treue ausgeben, während es keine Zeit gab, welche mehr vom geraden Gegenteil aufzuweisen hat, dieses Mittelalter hat auch unsere Städte und Städtchen gebaut. […] Es war eine Zeit unbeschränkter Gewalttätigkeit über die Menschen gekommen, eine Zeit, wo das Schwert der Richter in allen menschlichen Dingen war, wo Groß und Klein gegen- und untereinander auf Leben und Tod kämpfte, und nur die Blutarbeit sich eines Lohnes freute, die Zeit des Faustrechts.“ (Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 167). 142 Die Menschen seien mit „Mauern und Wällen von Privilegien und Vorrechten zu umschließen und zu gegenseitigem Kampfe zu bewaffnen. So ist die Hierarchie des feudalen Adels, die Hierarchie der Priester, die Hierarchie der Stände, die Hierarchie der Zünfte und Gewerbe, die Verbarrikadierung nicht bloß der Staaten gegeneinander, sondern der Provinzen, der Kreise, der Städte, ja der Stadtviertel in einem und demselben Staate gegen einander. Wie lang und wie furchtbar ist der Kampf bereits gegen alle diese Fesseln und Schranken? Und immer noch halten sie Stand, und immer noch drücken sie im Großem und Kleinem auf uns. Hier erlauben die feudalen Junker nicht, dass die Juden schmachvoller Eidesnormen ledig werden; dort gestatten die feudalen Priester nicht, dass die Tiroler Berge von fleißigen Protestanten bewohnt werden.“(Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 169). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Hierarchien bestanden zwar auch bei den Römern, allerdings hätten diese die Juden nicht aufgrund ihrer Religion ausgegrenzt. Dies geschah erst mit der Akzeptanz des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich. Obwohl das Christentum und der Islam gleichermaßen ihre Wurzeln im Judentum hätten, seien die Christen mit religiösem Fanatismus gegen das Judentum und die Juden gezogen. Der Hass gegen die Juden habe dazu geführt, dass sich das Judentum selbst ausgeschlossen habe. Es sei eine Tendenz entstanden „sich immer weiter zu verschanzen, jeden Zugang, jede Öffnung zu vermauern, und von der ganzen Welt abgeschlossen, ein enges Kerkerleben zu führen, in welchem allein der Blick nach oben in den unendlichen Himmel offen stand. Das war das Mittelalter – und wer bemerkt seine Folgen nicht noch heute?“143 Philippson beschrieb hier eine zunehmende Radikalisierung, ja Militarisierung der Gesellschaft, christlich wie islamisch, die auf dem Prinzip der Intoleranz jede Art von ziviler Gesellschaft unmöglich machte. Der weitherhin bestehende Einfluss des Mittelalters auf die Geschehnisse der Gegenwart war zentral für Philippson. Dies zeigte sich beispielsweise in seinem Beitrag „Warum die Junkerpartei überall so judenfeindlich ist“ aus dem Jahre 1854. Hier griff Philippson die Kontinuität wieder auf und arbeitete die Gründe für den Judenhass der Junkerpartei in Preußen heraus.144 Philippson zufolge förderte der hohe Adel während des Mittelalters die Niederlassung der Juden in ihren Territorien, nicht zuletzt deshalb, weil sie dadurch feste Einnahmen gewinnen konnten. Die Juden nutzten dem hohen Adel also dazu, den eigenen Lebensstandard zu finanzieren, indem sie „Steuern bezahlten, und durch Verkehr die Einnahmen steigerten.“145 Sie waren dadurch ein bestimmender und auch integrierter Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaften des christlichen Abendlandes. Dies stellte sich beim niederen Adel anders dar. Er geriet in Schulden und aufgrund der mittelalterlichen Zunftordnung waren die Schuldner in erster Linie Juden – eine Tatsache, durch die der Hass gegenüber den Juden noch gesteigert wurde.146 Auch wenn sich die Situation im Verlauf der Jahrhunderte grundlegend änderte, verschwand der Hass auf die Juden nicht. Philippson begründete diesen damit, auch

143 Philippson: Das Mittelalter und seine Folgen, S. 169–170. 144 Ludwig Philippson: Warum die Junkerpartei überall so judenfeindlich ist (1854). In: Philippson: Weltbewegende Fragen. S. 412–415. 145 Philippson: Warum die Junkerpartei überall so judenfeindlich ist, S. 413. 146 „Man kann daher dreist sagen, ohne der Unwahrheit oder Übertreibung gezeiht zu werden, dass drei Viertel der Verfolgungen, Verbannungen, Konfiskationen, usw, welche die Juden im Mittelalter erlitten, lediglich vom verschuldeten kleineren Adel angeregt wurden, der damals das Ohr der Fürsten belagerte, während der hohe Adel selbst souverän auf seinen Schlössern lebte.“ (Philippson, Junkerpartei: S. 414). 316

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gegenwärtig in den Juden eine „gegnerische Macht“147 zu erkennen. Diese Macht äußere sich in dem Anspruch der Juden, die gleichen Rechte wie die Christen zu besitzen. Dies mache sie zum Fürsprecher eines modernen Staates, der ihnen und ihren Kindern mehr Rechte verleiht und somit die bestehende alte Welt in Frage stellt.148 Philippson zufolge hätten die Junker eigentlich erkennen müssen, dass, sobald die Juden die gleichen Bürgerrechte wie alle anderen Bewohner des Staates erhielten, auch deren Interesse an den staatlichen Vorgängen schwinden würde und sie von da an loyale Staatsbürger seien. Die Junker hingegen sahen nur die alte Ordnung und wähnten ihre eigene Rolle in diesem Gefüge, die aus dem Mittelalter herübergerettet wurde, in Gefahr. Diese Einstellung fand sich unter denjenigen, „die über eine große Bildung und gesellschaftliche Tournure“ verfügten. Philippson verwies verbunden mit dieser Feststellung „dass sehr viele Heroen der Wissenschaft und Kunst aus ihr hervorgegangen und nicht minder eine bedeutende Zahl der erleuchtetsten Staatsmänner und Administratoren.“149 Es sei also auch unter den gebildetsten Mitgliedern der Gesellschaft davon auszugehen, dass den Juden mit Ressentiment begenet würde. Die Junkerpartei, der Klerus und der Pöbel seien diejenigen gewesen, die am stärksten gegen die Juden in der Geschichte und Gegenwart agitierten. Es sei einzig dem „religiösen Fanatismus“ geschuldet, dass sich das einst friedliche Verhalten der Christen den Juden gegenüber veränderte. Dies gelte nicht nur für den höheren Adel, sondern schließe das Volk ausdrücklich mit ein. „Nachdem aber behufs der Kreuzzüge ein fürchterlicher religiöser Fanatismus im Volke von den Priestern angefacht worden und dieser zu einer Höhe gelangte, von der alle Andersgläubigen zu Teilnehmern der Hölle, zu auszurottender Ketzerbrut wurden, wurzelten Hass und Vorurteil gegen die Juden im Volk und schlugen bei jeder Veranlassung, die meist sehr geflissentlich herbeigeführt wurde, in vernichtende Flammen aus.“150 147 Philippson: Warum die Junkerpartei überall so judenfeindlich ist, S. 414. 148 „Wahr ist es, man kann sich in dem Glauben an eine Macht, wenigstens über ihre Stärke irren, aber eben so wahr ist, dass der, wem man Ansprüche zutraut, auch ein Recht auf diese besitzt. Weil also die Juden ein Recht besitzen, und darum Ansprüche machen, im modernen Staat gleich allen Bürgern nicht ausgeschlossen zu werden, und weil man ihnen eine Macht, teils materielle, teils intellektuelle, zutraut, diese Ansprüche geltend zu machen – darum dieser Hass gegen die Juden bei allen Denen, welche diesen modernen Staat als ihnen nachteilig, ihre Vorurteile und Vorrechte beeinträchtigend bekämpfen. Sie glauben, weil die Juden mehr als irgend ein Teil der bürgerlichen Welt persönlich hierbei beteiligt sind, denn es geht sie und ihre Kinder in ihren persönlichen Verhältnissen an, darum werden sie am meisten dafür einsetzen.“ (Philippson: Junkerpartei, S. 414–415). 149 Philippson: Warum die Junkerpartei überall so judenfeindlich ist, S. 414. 150 Ludwig Philippson: Die ultramontan- und pietistisch-feudale Partei (1862). In: Philippson: Weltbewegende Fragen. S. 416–424. Hier: S. 417. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Auch hier verwies Philippson darauf, dass den Juden lediglich der Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung wichtig war, keinesfalls jedoch der Anspruch einer Sonderstellung. Dennoch kommt es Philippson auch an dieser Stelle erneut gelegen, auf den größeren Zusammenhang einer Emanzipation aller Bewohner zu verweisen. „Es gilt die Emanzipation des ganzen Volkes von aller feudalen Herrschaft, und darin ist die Emanzipation der Juden nur ein Glied.“151 Die reaktionären Kräfte seien hingegen bemüht, die Gesellschaft in Stände aufzuspalten und nicht an die Bewilligung gleicher bürgerlicher Rechte zu denken. Für diese gehe es einzig darum, in den Juden die Gefahr einer Verkörperung des modernen Staates mit seinen Veränderungen zu erkennen. Wie an anderer Stelle dieses Kapitels noch gezeigt wird, nahm für Philippson die Freiheit des religiösen Kultus in Spanien einen so großen Stellenwert ein, dass er sogar die spanische Regierung um die Rücknahme des Vertreibungsedikts bat. Sein Argument lautete, dass nicht allein die Juden unter der Vertreibung gelitten hätten, sondern auch die christlichen Spanier. Verantwortlich für die Vertreibung machte Philippson die christlichen Fanatiker. „Diesem ganzen weltlichen Apparat des Priesterstandes ein Ende zu machen, ist aber eine Richtung der Neuzeit, die nicht mehr zu verkennen ist.“152 Philippson bezog diese Aussage auf die Ereignisse im Kirchenstaat, wo das Volk gegen die weltliche Machtfülle des Papstes protestierte und dieser nur mithilfe französischer Truppen nach Rom zurückkehren konnte. Anders als zu Zeiten Napoleons I, der die kirchliche Gewalt von außen bekämpfte, sei es nur das Volk selbst gewesen, das sich gegen priesterliche weltliche Macht erhob. Gleichwohl erkannte Philippson auch eine Veränderung hinsichtlich der Artikulation des Judenhasses in der gegenwärtigen Gesellschaft. So konstatierte er in seinem Beitrag „Der Judenhaß“ von 1865, dieser habe sich in die Bereiche der schönen Literatur, insbesondere der Romanliteratur geflüchtet. Philippson kritisierte darin die Rolle von Juden, die nicht über Karikaturen hinausreichte. Als Beispiel dafür wählte er Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“, erschienen 1864 in Berlin in drei Bänden. Im Roman seien die beiden Protagonisten, ein Christ und ein Jude, in starkem Gegensatz zueinander aufgestellt. „Der Christ wird zum Träger aller Tugenden, aller Pflichttreue, aller Unschuld und Naivität, des redlichen Strebens, des gewissenhaftesten Vollbringens, der höchsten Gefühle und Gedanken. Der Jude wird zum Träger des schnödesten Egoismus, der furchtbarsten Niederträchtigkeit, 151 Philippson: Die ultramontan- und pietistisch-feudale Partei, S. 418. 152 Ludwig Philippson: Blicke auf die gegenwärtige Weltlage und politische Briefe. Am 20. Januar 1861. Die geistliche Herrschaft. In: Philippson, Weltbewegende Fragen, S. 214–218. Hier. S. 215. 318

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des Verrates, der Ausschweifung, der Käuflichkeit.“153 Für Philippson stand außer Frage, dass diese holzschnittartig gehaltenen Charakteristika jedem Literaturkundigen widerstreben mussten, die Masse der Leser jedoch nicht über die notwendige Bildung verfügte und das Dargestellte für bare Münze nahm. Überdies mache sich eine Tendenz zur Gehässigkeit breit, die den Juden stets mit einer Folie des Vorurteils überzogen.154 Die vorurteilsgeprägte Wahrnehmung war nicht allein in belletristischen Werken zu finden, sondern auch in Buchbesprechungen jüdischer Autoren durch christliche Rezensenten. Philippson bezog sich auf die Rezension von Leopold Komperts „Geschichten einer Gasse“, erschienen 1865 in Berlin und besprochen in der „Kölnischen Zeitung“ vom 20. August 1865.155 Die Fähigkeit, Geschichtsschreibung zu betreiben, wurde Juden von christlicher Seite rundweg abgesprochen, eben weil sie keine Christen seien. In seinem Aufsatz „Die Geschichtsschreibung vom Standpunkte des Judentums“ aus dem Jahre 1861 trat Philippson der kritischen Rezeption von „protestantisch-pietistischen und ultramontanen Blättern“ gegenüber seinem Werk „Über die Resultate in der Weltgeschichte“, erschienen in Leipzig 1860, entgegen.156 In der ursprünglich im Winter 1847 gehaltenen Vorlesungsreise behandelte Philippson in seiner ersten Vorlesung auch die Frage, was die zivilisierte Welt sei. Die Zentren der Zivilisation hätten sich im Laufe der Geschichte immer wieder verschoben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt seien unweigerlich mehrere Orte als solche Zentren zu verstehen. Keinesfalls sei es jedoch so, dass im christlichen Einflussbereich notwendigerweise auch die Zivilisation anzutreffen sei. „Spanien und Portugal, diese Lebensmittelpunkte der mittelalterlichen Kultur, ist aus ihnen das Herz der Zivilisation nicht längst entwichen? Die Kultur ist nach Norden gegangen, in Europa wie in Amerika, aber sie hat hinter sich nicht fruchtbares Land, sondern Wüste und Trümmer gelassen.“157 Und in direkter Bezugnahme auf das Christentum heißt es: „Die christliche Welt hat es nur an wenigen Plätzen über die mohammedanische vermocht, selbst die alte Braminenkultur ist vor ihr bestehen geblieben, wenn auch unterwürfig, und die Europäer können noch lange an die Pforten des ‚Himmlischen Reiches‘ klopfen, bevor sie Einlass erzwungen haben, Einlass und Niederlassung.“158 Philippson verband das Aufkommen religiöser Intoleranz mit dem Aufkommen der positiven Religionen, wobei er dem Christentum hier eine Schlüsselfunktion zuwies. Dieses sei von einer selbst verfolg153 154 155 156 157 158

Ludwig Philippson: Der Judenhaß. In: Philippson: Weltbewegende Fragen, S. 433. Philippson: Der Judenhaß, S. 433. Philippson: Der Judenhaß, S. 435. Philippson, Weltbewegende Fragen, S. 444–447. Ludwig Philippson: Über die Resultate in der Weltgeschichte. Leipzig 1860. S. 8. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte. S. 10. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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ten zu einer verfolgenden Religionsgemeinschaft mutiert. „Die Heiden wurden mit Feuer und Schwert überwunden, die Juden durch eine lange Reihe von Dekreten und Novellen aus allen bürgerlichen Rechten verdrängt, und unter die härtesten Ausnahmegesetze niedergedrückt.“159 Spätestens mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges machte Philippson jedoch ein Abflauen der religiösen Dominanz aus. Noch seien allerdings vereinzelt Menschen ihrer Religion wegen hingerichtet oder vertrieben worden. Spanien habe hier eine prominente Stelle eingenommen, denn „die Autodafés, die fort und fort in Spanien loderten“160, warfen einen dunklen Schatten bis in die jüngere Vergangenheit, „brannte doch erst 1828 der letzte Scheiterhaufen in Spanien für einen armen Schulmeister.“161 Der religiöse Fanatismus hatte der Juden ihrer bürgerlichen Rechte entäußert und dieser Zustand hatte bis in die jüngere Gegenwart Bestand. Die Juden wurden von Philippson als Symbol für vergangene Unterdrückung und zukünftige Freiheit angeführt. „In der Gleichstellung der Juden aber liegen keine politischen Motive, kein Drang entscheidender Verhältnisse vor – sie ist der reine Sieg des Prinzips, als solcher wird sie gefordert, als solcher gewährt.“162 Rechtspflege und die Einhaltung von Rechtsnormen seien die Grundbedingungen für die Einhaltung der Sittlichkeit im Staat.163 Daher gehe es in der modernen Geschichtsschreibung auch darum „das Leben des Menschengeschlechts“ auf der Grundlage „der sittlichen Wahrheiten und des intellektuellen Strebens“164 zu beschreiben und „die fortschreitende Entwicklung [der] geschichtlichen Forschung“ in ihren „wesentlichen Ergebnissen“165 zu gewährleisten. Die notwendige Objektivität sei den Juden darüber hinaus gegeben. „Aus der innersten Überzeugung können wir aussagen, dass die Juden von nachhaltigem Hasse und Widerwillen gegen keine Nation, z. B. nicht einmal gegen die Spanier, etwas in ihrem Herzen tragen, dass sie vielmehr eher gegen ihre eigenen Stammesgenossen vorurteilsvoll sind, und dass von einer nationalen Parteilichkeit bei ihnen gar nicht die Rede ist.“166

159 160 161 162 163 164 165 166

Philippson: Resultate in der Weltgeschichte. S. 104. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte. S. 106–107. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte. S. 107–108. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 107. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 112. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 446. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 446. Philippson: Resultate in der Weltgeschichte, S. 447. 320

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Philippsons Petition von 1854 Die Ereignisse von Damaskus 1840 markierten entsprechend Jonathan Frankels Analyse auch das zentrale Ereignis, auf das die jüdische Presse insgesamt und über nationale Grenzen hinweg reagierte. Darüber hinaus waren viele deutsche Juden enttäuscht über die fehlgeschlagene Revolution von 1848, verbunden mit der Hoffnung, die bürgerliche Gleichstellung zu erlangen. Allerdings darf die Enttäuschung über die Revolution von 1848 nicht darüber hinwegtäuschen, dass europäische Juden – und unter ihnen die deutschen – ein gestärktes Selbstbewusstsein davontrugen. Sei engagierten sich zunehmend politisch. Durch politische Interventionen, im Wesentlichen durch französische Juden, war es gelungen, die eingekerkerten Juden in Damaskus schließlich freizulassen. Dieses Ereignis stärkte auch das Selbstverständnis der jüdischen Publizisten und sollte auch auf die zeitgenössische spanische Geschichte unmittelbare Folgen haben. In Spanien war die Inquisition zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch immer offiziell im Einsatz, auch wenn die staatlichen Stellen nicht mehr zwingend kooperierten.167 Ein königliches Dekret vom 15. Juli 1834 erklärte die Inquisition in Spanien für ungesetzlich. Dennoch kam es in der Folge nicht zur Gewährung von Religionsfreiheit, offiziell war das einzige religiöse Bekenntnis im Lande der Katholizismus. Das Konkordat von 1851 bestätigte diesen Zustand. Spanische Historiker setzten sich in diesen Jahren zum ersten Mal mit der Vertreibung der Juden auseinander. So beurteilte Adolfo de Castro (1823–1898) in seiner „History of the Jews in Spain“ die durch die spanischen Herrscher angeordnete Vertreibung der Juden als “acted in direct opposition to the rules of justice and the honor of the Gospel.”168 Die Position Amador de los Rios (1818–1878), die später noch genauer beleuchtet wird, war hier von einer größeren Ambivalenz getragen. Bereits im Vorfeld seiner Petition an die Cortes hatte Philippson in der „AZJ“ immer wieder auch über die Situation in Spanien berichtet. So schrieb er beispielsweise darüber, dass es bekennenden Juden nicht gestattet sei, durch Spanien zu reisen.169 Und in einem Bericht vom 20. Oktober 1851 hieß es, zwei deutsche Juden seien ausgewiesen worden.170 Die in die Sprache der Dichtung gefasste Kritik an der staatlich verordneten Vertreibung der Juden aus Spanien, die Philippson in „Der Jude in 167 “Strict enforcement of the previous orders was demanded” [im Jahre 1816] „the secular officials seemed slow to cooperate.” (Cesar C. Aronsfeld: The Ghosts of 1492: Jewish Aspects of Struggle for Religious Freedom in Spain 1848–1976. New York 1979. S. 2.) 168 Aronsfeld: The Ghosts of 1492, S. 3. 169 AZJ vom 20.3.1850, S. 158. 170 AZJ vom 10.10.1851, S. 512. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Granada“, formulierte, richtete der Politiker Ludwig Philippson 1854 selbst in einer Petition an die liberale spanische Regierung. In den Jahren 1855 und 1868 wurde die Wiederansiedlung in der deutsch-jüdischen Presse und in Spanien erneut diskutiert. Dies geschah nicht allein in der „AZJ“, sondern auch in den publizistischen Organen der Neoorthodoxie. Selbstbewußt und engagierte setzte sich Philippson für ein Wiederansiedlungsrecht der Juden in Spanien ein. Das „Memoire“ erschien in spanischer Sprache unter dem Titel „A las Cortes constituyentes de la Nacion Espanola“ in Berlin.171 Der Text der Petition mit dem Titel „Der Wiedereintritt der Juden in Spanien“ wurde in der „AZJ“ im Jahre 1854 abgedruckt. Philippsons Biograf Meyer Kayserling machte darauf aufmerksam, dass die liberalen Wandlungen in Spanien von Philippson aufmerksam registriert und zur Niederschrift seines Textes genutzt wurden. Auch habe Philippson jedem Mitglied des Parlaments ein Exemplar, „höchst elegant gedruckt“, der Petition zukommen lassen.172 Für die Übersetzung sei durch den königlich spanischen Vizekonsul an der spanischen Botschaft zu Berlin gesorgt worden. Bereits am 11. August 1854 hatte Philippson in seinem Leitartikel „Die pyrenäische Halbinsel“ unter Verweis auf den Besuch des portugiesischen Königs in verschiedenen europäischen Städten auf die Möglichkeit einer Wiederansiedlung der Juden auf der pyrenäischen Halbinsel hingewiesen. Philippson gab die Aussage des portugiesischen Königs wieder, der nach einem Besuch der portugiesischen Synagoge in Amsterdam den dortigen Parnassim mitgeteilt hatte, die Erlaubnis zur Rückkehr nach Portugal zu veranlassen. Anders als in Spanien hätten sich in Portugal schon Juden niedergelassen, ohne die offizielle Aufhebung des Vertreibungsedikts von 1496 abzuwarten. Für Spanien erkannte Philippson eine Veränderung des politischen Klimas und er erhoffte sich, „unter der Herrschaft der liberalen Prinzipien Ruhe und Ordnung wieder hergestellt“ zu sehen und „auch in Spanien die Aufhebung der Verbannungsdekrete zu erlangen.“173 Bereits an dieser Stelle deutete Philippson an, die Konsistorien in Marseille und Bordeaux in seinen Bestrebungen zu integrieren, die Wiederansiedlung der Juden in Spanien zu ermöglichen. In der nächsten Ausgabe gab er den Inhalt des Briefes an die Konsistorien wieder. In dem Brief machte er auf die in Spanien veränderte politische Situation mit einem neuen, liberalen Profil nach langen unruhigen Jahren aufmerksam. „So haben doch jedenfalls die liberalen Grundsätze Europas die Herrschaft in Spanien erlangt, und es trägt sich daher, ob nicht der große Zeitpunkt gekommen, wo den 171 Ludwig Philippson: A las Cortes constituyentes de la Nacion Espanola. Berlin 1854. Meyer Kayserling: Ludwig Philippson. Eine Biographie. Leipzig 1898, S. 243. 172 Ludwig Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien. In: AZJ Nr. 46 (1854), S. 577. Vgl. außerdem Meyer Kayserling, Ludwig Philippson. Eine Biographie, S. 244. 173 Ludwig Philippson: Die pyrenäische Halbinsel. In: AZJ Nr. 34 vom 21.8.1854, S. 424. 322

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Israeliten die Genugtuung, die Sühne für das 1492 ihnen geschehene große Unrecht werden kann, dass ihnen Spanien, aus dem sie mit roher Gewalt ausgetrieben worden, Spanien, in welchem sie wohnten, schon bevor das Christentum und der Islam die iberischen Küsten betraten, wieder geöffnet werde?“174 Philippson machte hier unmissverständlich deutlich, dass die Juden das älteste Volk auf spanischem Boden waren, noch bevor Christentum und Islam überhaupt existierten und sich hier ausbreiten konnten. Als Vertreter des deutschen Judentums oder genauer als Vertreter des Teils des deutschen Judentums, das die Prinzipien der Aufklärung für sich reklamierte, verstand Philippson auch seinen Auftrag, auf ein bestehendes Unrecht hinzuweisen und eine Veränderung herbeizuführen. „Im Namen des deutschen Israels kann ich es wohl aussprechen, dass wir diese Aufhebung als ein herrliches Erzeugnis unserer Zeit begrüßen würden, und dass wir daher entschlossen sind, was irgend möglich ist, dafür zu tun.“175 Es war ihm jedoch nicht daran gelegen, eine isolierte diplomatische Intervention zu starten. Vielmehr suchte er nach Verbündeten und hoffte, diese in den französischen Juden gefunden zu haben, die er in privaten Korrespondenzen um ihre Zustimmung und Unterstützung seiner geplanten Petition nachsuchte. Unter den Adressaten befanden sich der Großrabbiner Cahen und der Consistorialpräsident Delpuget in Marseille sowie außerdem der Großrabbiner Marx und der Konsistorialpräsident Léon in Bordeaux. Philippson merkte an, dass ihm zur Niederschrift der Denkschrift die Werke spanischer Schriftsteller zur Verfügung ständen.176 Auf diesen Quellenhintergrund wies auch sein Biograf Meyer Kayserling hin.177 Die sich verändernde politische Situation verstärkte in Philippson den Wunsch nach Veränderung, den Meyer Kayserling wie folgt beschreibt: „Diese Gelegenheit ließ sich Philippson nicht entgehen, auch in Spanien seine Stimme für Glaubensund Gewissensfreiheit zu erheben. Er war der erste Jude, überhaupt der Erste, der im neunzehnten Jahrhundert Schritte tat, den Juden den Eintritt in das ihnen Jahrhunderte lang verschlossene Land zu ermöglichen.“178 Daraus sei eine Kooperation unterschiedlicher jüdischer Gemeinden und Organisationen entstanden, die alle ein gemeinsames Ziel, nämlich die Beseitigung der religiösen Unfreiheit in Spanien, vor Augen hatten. „Zu diesem Zwecke trat [er] mit den israelitischen Konsistorien 174 175 176 177

Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien. In: AZJ Nr. 35 vom 28.8.1854. S. 437. Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien. In: AZJ Nr. 35 vom 28.8.1854. S. 437. Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien. In: AZJ Nr. 35 vom 28.8.1854. S. 438. „Zu diesem Zwecke trat er mit den israelitischen Konsistorien in Bordeaux, Marseille und Bayonne oder St. Esprit in Verbindung; die beiden letzteren erklärten sich bereit, sich der von ihm gegebenen Initiative anzuschließen.“ (Meyer Kayserling: Philippson, S. 242.) 178 Meyer Kayserling: Philippson, S. 242. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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in Bordeaux, Marseille und Bayonne oder St. Esprit in Verbindung; die beiden letzteren erklärten sich bereit, sich der von ihm gegebenen Initiative anzuschließen. Das Konsistorium in St. Esprit schrieb ihm am 8. September 1854: ,Sicher ist es nicht möglich, vom israelitischen Standpunkt aus ein größeres, ein edleres und mit dem Geiste der Zeit übereinstimmenderes Streben zu unternehmen, und Sie können auf unsere eifrigsten Anstrengungen rechnen, um dahin zu gelangen, jene barbarische Gesetzgebung zum Falle zu bringen, welche ein Werk der Finsternis und des Hasses, so grausame Leiden unsern Vätern auferlegt und für alle Zeiten die Schande derer bleiben wird, welche sie erwirkt haben.‘“179 Diese Argumentation wurde von Philippson ebenfalls geteilt. Er sprach davon, dass ein barbarisches Unrecht existiere, das von Finsternis und Hass gekennzeichnet sei. Dieses Unrecht sei für alle Juden ein Schicksal gewesen, wie das Personalpronomen „unseren“ deutlich macht. Nun sei jedoch die Zeit gekommen, dieses Unrecht zu beseitigen. Philippson richtete sein Schreiben an den Vorsitzenden der Regierung, Marschall Expartero, Herzog von Vittoria, sowie an die Cortes, indem er diese ersuchte „in das Grundgesetz Spaniens die Freiheit der Kulte als eins der Hauptprinzipien aufzunehmen und das Edikt vom 31. März 1492, durch welches Ferdinand und Isabella die Juden aus Spanien verbannten, aufzuheben.“180 Der Ton des Memoire ist von Selbstbewusstsein geprägt, es argumentiert nicht so sehr aus der Perspektive jüdischer Emanzipationsabsicht, sondern ist von der Mission beseelt, ein gegen die Humanität ergangenes Unrecht aufzuheben. So heißt es weiter: „Wohlan! Ihr spanischen Gesetzgeber, die Ihr von der Nation in einem feierlichen Augenblick gewählt seid, ihr ein neues Staatsgrundgesetz zu geben, an Euch ist es, diesen Hauptgrundsatz der neuern Gesellschaft, dieses wesentliche Prinzip der Humanität: um des Glaubens willen niemand auszuschließen, um seiner Religion willen niemand zu verfolgen, das Land für alle zu öffnen, welche den Gesetzen des Staates genügen wollen, und sie ihren Kultus frei üben zu lassen, auch für Spanien zu sanktionieren; an Euch ist es, besonders das Verbannungsdekret vom 31. März 1492 aufzuheben und dadurch eine alte, aber nicht verjährte Schuld zu sühnen.“181 Diese Verlautbarung stieß jenseits einer jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland, aber auch international und in Spanien selbst auf großes Interesse. Philippson zitierte „das Votum des Wahlkörpers zu Irun“ das „la libertat de cultos“ als Hauptprinzip des zu schaffenden Staatsgrundgesetzes aufstellte.182 In diesem Votum wurde 179 180 181 182

Meyer Kayserling: Philippson, S. 243. Zit. nach Kayserling: Philippson, S. 243. Zit. nach Kayserling: Philippson, S. 243. Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 489. 324

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festgehalten, dass der Verfall im Lande aufgrund der bestehenden religiösen Intoleranz in Spanien verstanden werden müsse. „Spanien verdankt seinen Verfall einem entgegengesetzten Prinzip: der religiösen Intoleranz, welche dem Lande gewaltsam die ganze arbeitsame Klasse der Handelstreibenden, Industriellen und Arbeiter entriss, und alsdann die unbilligste Verfolgung gegen die in den Wissenschaften, in der Literatur, in den Zünften usf. ausgezeichnetsten Männer bewirkte.“183 Bemerkenswert ist der nachfolgende Satz, der ein Verständnis von Spaniern vertritt, das sich eben nicht auf das katholische Bekenntnis allein erstreckt: „Es ist Zeit jetzt, dass die Pforten so vielen Vertriebenen der spanischen Race sich öffnen, welch durch die ganze Welt zerstreut sind und den Reichtum der Länder fördern, in welchen sie wohnen.“184 Die Juden wurden hier nicht als Rasse verstanden, wie es Amador de los Rios als Kriterium der Ausschließung aus Spaniens Gesellschaft beschrieben hatte, sondern als Beiträger zur spanischen Kultur, die jetzt wieder zugelassen werden müssten. Philippson erwähnte die Initiativen des Consistoire von Bayonne, das Central-Consitoire in Paris und den Board of Deputies in London dazu zu bewegen, Druck auf die spanische Regierung auszuüben und das Memoire in Empfang zu nehmen. Um auf die grundsätzliche Übereinstimmung mit seiner Petition hinzuweisen und um deutlich zu machen, dass er damit nicht allein stand, zitierte Philippson das Consitoire von Marseille. „Wir wollen uns freudig Ihres edlen [Aufrufs] hinsichtlich des Widerrufs jener schrecklichen Dekrete, welche unsere Väter von der spanischen Halbinsel vertrieben, anschließen; wir glauben auch, dass die Cortes von Spanien, bewogen durch edle Gefühle, dem jüdischen Stamme, aber um besser zu sagen, der Menschheit, diese späte Wiederherstellung gewähren werden.“185 Auch in diesem Schreiben der französischen Juden findet sich die Interpretation, die Vertreibung der Juden als Geschichte „unserer Väter“ zu verstehen, in diesem Fall verstärkt durch den Umstand, in Marseille tatsächlich Nachfahren der sephardischen Juden antreffen zu können, was bei den deutschen Juden mit Ausnahme der sephardischen Gemeinde in Hamburg nicht der Fall war. Darüber hinaus wird auch im Brief an die französischen Juden der Umstand hervorgehoben, in der Aufhebung des Vertreibungsedikts die Wiedergutmachung eines Unrechts an der Menschheit ungeschehen machen zu können. Bestärkt durch diese Unterstützung erklärte Philippson die Notwendigkeit des öffentlichen Handelns. In Spanien sei 183 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 489. 184 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 489. 185 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 490. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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durch Diplomatie nichts zu erreichen, sondern nur durch die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung. Es sei erforderlich, nicht durch die finanzielle Macht, sondern auf Grundlage des „besseren Nationalgeistes“186 diese Änderung einzufordern. Philippson zitierte im Anschluss den Text der Petition, wie sie an die Abgeordneten der Cortes übersandt wurde: „An die constutuierende Cortes der spanischen Nation. Erhabene Versammlung! Wenn wir, die Israeliten Deutschlands, in unserm und aller Glaubensgenossen Namen bittend vor den erlauchtesten Vertretern der spanischen Nation erscheinen, so ist es nimmer ein eigennütziges, nimmer ein persönliches Interesse, welches uns dazu treibt. Weit entfernt von der Iberischen Halbinsel, einem andern schönen und geliebten Vaterlande, einem andern herrlichen und geschätztem Volke angehörend, erheben wir unsere Stimme allein im Dienste jenes großen und erhabenen Prinzips, für dessen wirkliche Geltung allerdings wir Juden in allen Staaten die wahren Prüfsteine geworden sind, im Dienste der Freiheit aller Kulte; erheben wir unsere Stimme zugleich, von den Vertretern einer hochherzigen Nation die Sühne eines alten Unrechts zu verlangen, Gerechtigkeit für eine große, geschichtliche Gewalttat, die zwar in alter finstrer Zeit geschehen, aber deren Folgen noch bis heute andauern. Wir, Israeliten, vor die erlauchten constituierenden Cortes treten, und von ihnen bittend fordern: ,in das Grundgesetz Spaniens die Freiheit der Kulte (Hervorhebung L. Ph.) als eines der Hauptprinzipien aufzunehmen‘ – so könnte es fürwahr anmaßend, verwegen erscheinen, wie wir dazu kommen, den weisen und von ihrer Nation berufenen Gesetzgebern eines uns fremden Staates uns zu nahen, und die Annahme eines so tief eingreifenden Prinzips, und welches bis jetzt der spanischen Gesetzgebung am weitesten fern lag, anzuraten, ja abzuverlangen. Aber waren wir, Israeliten, es nicht, welche durch die Annahme des entgegen gesetzten Grundsatzes, der religiösen Ausschließung, der fanatischen Verfolgungssucht, ja der Mordlust Andersgläubiger seitens der spanischen Könige im fünfzehnten Jahrhundert am meisten litten, so dass viele hunderttausende unserer Väter ihr Vaterland, ihren Herd, die Gräber ihrer Eltern, ihre Habe, ihr Leben, verloren? Sind wir nicht dadurch heute noch, selbst auf den kürzesten Versuch, gesetzlich von den Grenzen Spaniens ausgeschlossen? Wem die Intoleranz schon so viel gekostet, wie uns, Israeliten, durch fünfzehn Jahrhunderte hindurch, der kann wohl für deren Tilgung aus dem Schoße einer edelherzigen Nation ein bittendes Wort sprechen, ohne der Zudringlichkeit beschuldigt zu werden.“187 […]

Philippson wies auf die wirtschaftlichen Probleme in Spanien hin, die durch die religiöse Verfolgung der Juden erfolgt seien.

186 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 490. 187 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 490. 326

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„Wenn wir auf den Fluch, der an die Sohle der religiösen Verfolgung sich heftet, hinweisen wollten, wenn wir die außerordentlichen materiellen Nachteile, welche unabweisbar im Gefolge der Unduldsamkeit erscheinen und sich in allen industriellen, finanziellen, kommerziellen, gewerblichen, künstlerischen und landwirtschaftlichen Beziehungen von erdrückender Wucht zeigen, hervorheben wollten. Nein! Sie können und werden dies Alles selbst ermessen. Die Jahrhunderte haben zu laut ihre Erfahrungen gepredigt, die Menschheit hat gesprochen, und wenn die Gegenpartei auch lange noch nicht ihre Macht verloren hat, ja, sie immer wieder zu gewinnen weiß, so ist sie doch – verstummt, und vermag nicht mehr mit Gründen zu streiten.“188

Philippson wies auf die anderen zivilisierten modernen Staaten hin, die die Freiheit der Kulte verfassungsgemäß eingeführt hätten. „Wo die Beispiele Amerikas, Frankreichs und Belgiens, Hollands und Englands, Deutschlands und Dänemarks sprechen, wo erst vor wenigen Jahren das allein von Protestanten bewohnte Norwegen den § 2 seines Staatsgrundgesetzes tilgte und den Katholiken und Juden sein, bis dahin diesen strengstens untersagte Gestade ohne Bedingungen öffnete – da können wir sagen: die Menschheit hat gesprochen, und die Forderung dieser Freiheit der Kulte ist unabweisbar geworden für jeden Staat, der zu den civilisierten, für jedes Volk, das zu den humanen gerechnet sein will und muss.“189

Philippson ließ es jedoch nicht darauf beruhen, die Freiheit der Kulte als ein gewissermaßen allgemeines Menschenrecht einzufordern. Er wies außerdem auf die Notwendigkeit hin, das Vertreibungsedikt selbst aufzuheben. „Wir müssen Sie darum angehen, mögen Sie es für angemessen finden, jenen allgemeinen Grundsatz der Freiheit der Kulte in das spanische Grundgesetz aufzunehmen oder nicht; wir müssen diese Aufhebung der Verbannungsdekrete vom 31. März 1492 in bestimmter Weise darum erbitten, einerseits, weil damit eine alte Schuld der spanischen Nation vor dem Angesicht der Geschichte gesühnt wird, und andererseits, weil wir es oft genug erlebt haben, dass spätere Administratoren einem allgemeinen Artikel des Grundgesetzes unter dem Vorwande zuwider handeln, dass entgegenlaufende Spezialgesetze noch nicht aufgehoben seien.“190

Philippson fuhr fort, indem er die Ursachen für Verbannungsedikt näher beleuchtete, nicht ohne die tiefe Verwurzelung der Juden in Spanien hervorzuheben. „Es ist eine bekannte Tatsache, dass Bekenner der israelitischen Religion in Spanien gewohnt, in Spanien ihr Vaterland gehabt und geliebt haben, lange bevor sowohl das Christentum als der Islam die iberischen Küsten betraten. Segelten doch Schiffe des König Salomo und sei188 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 491. 189 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 491. 190 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 491. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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ner Nachfolger schon in regelmäßigen dreijährigen Pausen nach Tarschisch (Tortosa); haben doch Männer von großer Gelehrsamkeit und hoher Autorität behauptet, dass die Israeliten seit der Zeit Nebuchadnezars in Spanien ansässig waren, und Städte wie Toledo, Escalona, Maqueda, Vepes, Roves, el Serro del Aguilla, Templeque und la Guardia von den Israeliten gegründet und nach Ascalon, Maquedah, Joppe usf. benannt worden seien; ist es doch erwiesen, dass in Toledo die Juden lange vor der Geburt des Stifters der christlichen Religion gewohnt haben; geben doch Strabo und Philo Zeugnis für die jüdischen Kolonien in Spanien zu ihrer Zeit; und enthalten die Beschlüsse des Concilio Iliberitano wider die zahl- und einflussreichen Juden.“191

Die Juden seien die ältesten Bewohner Spaniens, was von zeitgenössischen Historikern bezeugt werden könne. Sie seien schon länger dort als die beiden weiteren monotheistischen Religionen: Islam und Christentum. Philippson gab an dieser Stelle seine Hauptquelle mit Amador de los Rios „Estudios sobre los Judios de Espana“ angibt. Amador de los Rios ist für ihn ein integrer Beweisführer für die Leistungen der Juden in Spanien. „Wir führen Belege für diese und alle folgenden historischen Sätze nicht aus jüdischen, nicht aus fremden Autoren, sondern aus dem Schriftwerk eines nur unparteiischen, neuesten spanischen Schriftstellers an.“192 Ausgehend von der langen Geschichte der Juden in Spanien, die für Philippson sogar mit dem Babylonischen Exil beginnt, erkannte Philippson einen „Rechtsanspruch der spanischen Juden auf die Heimat in Spanien“ an, weil diese an der Geschichte und Entwicklung des Landes maßgeblichen Anteil genommen hätten.193 Diese letzte Ausführung belegt Philippson mit der Seite 23 aus Amador de los Rios „Magnus Opus“. Diese Leistung habe sich also nicht allein auf die moslemisch regierten Reiche eingeschränkt, vielmehr seien gerade unter christlicher Herrschaft Juden besonders hervorgetreten. „Ja, sie waren den Christen unentbehrlich, weil diese damals allein das Schwert führten, alle Künste und Gewerbe verachteten, welche die Juden nun 191 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 491. 192 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 491. 193 „Sie wie aber unsere Väter hierdurch frühzeitig einen Rechtsanspruch auf die Heimat in Spanien besaßen, so ist es nicht minder historische Tatsache, dass die spanischen Juden den lebhaftesten Anteil an der Geschichte und Entwicklung Spaniens hatten. Wir wollen nicht nur ganz allgemein geltend machen, dass sie von den Kämpfen und Leiden, von denen das schöne Spanien seit ältester Zeit heimgesucht war, ihren großen Teil getragen. Aber schon zur Zeit der Herrschaft der Westgoten übten sie von Zeit zu Zeit einen großen Einfluss; unter der Herrschaft des Islam war ihr Handel und ihre Gewerbstätigkeit von eminentem Umfang; bei der Wiedereroberung durch die Christen ließ man die Juden lieber in den Städten, als die Muselmänner, weil man ihrer Treue gewisser war und weil sie den christlichen Heeren große Dienste leisteten.“ (Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 491–492). 328

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übten. […] Noch mehr, die Juden waren es, welche in einer durch ritterliche Tapferkeit ausgezeichneten Zeit die Wissenschaften in Spanien von den Arabern zu den Christen verpflanzten.“194 Aufgrund ihrer Verdienste habe sie der spanische König besonders begünstigt. Insbesondere die Wissenschaften und die Kultur in Spanien seien von Juden nun dominiert worden.195 Die Funktion der Juden als Vermittler war vielseitig: als Übersetzer vom Arabischen in die kastilische Volkssprache oder als originäre Autoren in der kastilischen Volkssprache. Auch die politische Dimension von Philippson Erklärung ist beachtenswert. Für ihn wirkten die Juden sogar maßgeblich an der Reconquista mit, galten also in diesem Verständnis als loyale Staatsbürger des christlichen spanischen Staates und hätten auf dieser Grundlage gar keinen Anlass zu ihrer Vertreibung bieten dürfen. Der einzige Vorwurf, den man ihnen machen konnte, war der, dass sie „ihrem Glauben unerschütterlich treu bleiben wollten.“196 Selbst de los Rios habe diese „Undankbarkeit der katholischen Könige“197 anerkannt. Entscheidend blieb für Philippson das Deutungsmuster der religiösen Intoleranz, das die Vertreibung der Juden gefordert habe. „Vielmehr war und bleibt die Verbannung der Juden im März 1492 lediglich das Werk der Inquisition, welche Spaniens Boden noch Jahrhunderte mit Blut tränkte; Spaniens Luft mit Seufzern der Gefangenen und Gemarterten füllte.“198 Philippson bemühte sich, spanische und zeitgenössische nicht notwendigerweise jüdische Autoren anzuführen, wenn es darum ging, die Dimensionen der Vertreibung für die spanische Gesellschaft und insbesondere deren Wirtschaft hervorzuheben. „Dagegen sind die gewissenhaftesten Schriftsteller auch darin einig, dass 194 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AJZ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 492. 195 „Die Akademie zu Cordoba befand sich in den Händen und Quartieren der Rabbis, Schatzmeister und Leibärzte der christlichen Könige gingen in großer Anzahl aus der Reihe der Israeliten hervor; in allen wissenschaftlichen Zweigen zeichneten sie sich literarisch aus, in den Naturwissenschaften, wie in Astronomie, Chemie, in allen medizinischen Fächern, sie übertrugen Schriften fremder Zunge ins Kastilische, schrieben Originalwerke in dieser Sprache, ja auch sehr bedeutende poetische; und noch die Pragmatica König Juan II. (1443) erweist die außerordentliche Wichtigkeit der spanischen Juden in allen mechanischen Künsten und Gewerben, ihren Fließ, ihre Geschicklichkeit.“ (Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 492). 196 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 492. 197 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 492. 198 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 492. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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diese Verbannung der Juden die nachteiligsten Wirkungen für Spanien selbst hatte, den Ruin des Handels, den Verfall der Staatseinkünfte, den Verlust vieler Schätze, welche die Juden trotz aller Beraubungen mitnahmen, so dass der Sultan Bajazeth ausrief: ,Was ist das für eine Politik des Königs von Spanien, sein Land verarmen und das unsrige zu bereichern!‘ ,Mit der Vertreibung der Juden‘, ruft Los Rios aus, ,schwanden die wahren Quellen des Wohlstandes der Städte, Handel und Gewerbe erlitten einen tödtlichen Schlag (un golpe mortale)!‘“199 Es sei dem aufkommenden religiösen Fanatismus geschuldet, der „den völligen Verfall der Wissenschaft“ mit sich brachte und in der Konsequenz die „Verdummung des Volksgeistes zur unausweisbaren Folge“200 hatte. Und nichts war schlimmer als diese Verdummung, die immer die Gewalt mit sich führte. Für Philippson war die Vertreibung der Juden „eine ungeheure Ungerechtigkeit, da die Juden damals mehr als anderthalb Jahrtausende in Spanien ansässig waren, und dem Lande zu aller Zeit große Dienste geleistet hatten.“ Des Weiteren beschrieb er die Vertreibung als „Unrecht“, „Gewalttat“, „Unklugheit für Staat und Volk von den traurigsten Schäden.“201 Auch hier führte Philippson als zentrales Erklärungsmuster die entstandenen Folgen für den spanischen Staat und das spanische Volk an. Die Liebe der vertriebenen Juden zur ihrer spanischen Heimat sei jedoch niemals erloschen. Ganz im Gegenteil seien die sephardischen Juden nach der Vertreibung „der spanischen Nationalität bis heute treu geblieben“.202 Dies zeigte sich insbesondere durch den Umstand der Sprache. „Noch ist im Orient ihre Volkssprache das Spanische – wenn auch in verdorbener Mundart – noch sind, auch im Okzident, alle Teile ihres Kultus, welche nicht hebräisch sind, spaniolisch, noch tragen ihre Gebetbücher auf der Kehrseite die spanische Übersetzung, noch erinnern ihre Vor- und Familiennamen an die edelsten Namen Spaniens.“203 Die Verwurzelung mit Spanien ging also so weit, dass selbst die Gebetbücher spanische Übersetzungen der hebräischen Texte in sich trugen. Dieses Beispiel erinnert an die Situation der reformorientierten Juden in Deutschland, deren Gebetbücher das Hebräische ersetzten sollten. Unter erneuter Bezugname auf de los 199 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 492. 200 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 201 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 202 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 203 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 330

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Rios hob Philippson die Bedeutung der spanischen Juden bei der Verwendung ihrer Sprache hervor, die dem „älteren Kastilisch treu geblieben“204 sei. Auch dies wurde als Zeichen der Verbundenheit mit der alten spanischen Heimat verstanden. Unter Bezugnahme auf andere europäische Staaten, die ebenfalls die Vertreibung der Juden erwirkt und dann wieder zurückgenommen hatten, rief Philippson die spanischen Parlamentsmitglieder dazu auf, diesen Schritt ebenfalls zu vollziehen, um zu den zivilisierten europäischen Nationen zurückzukehren. Für diese Ideen der Humanität und Zivilisation galt Philippson auch als ein moderner Shtatlan und keinesfalls als ein politischer Aktivist, der Besitztümer für die Juden zurückverlangte. „Wir kommen nicht, um den Grundbesitz wieder zu fordern, der unseren Vätern genommen worden, um Ersatz für die unschätzbaren Güter zu verlangen, die uns entrissen worden, nicht einmal um die alten Tempel wieder unser zu nennen, welche eins uns geheiligt waren, und die ihre Zinnen noch heute erheben – wir kommen nur, um die Schmach der Verbannung auszulöschen, um freien Eintritt denen unseres Glaubens zu erwirken, welche davon Gebrauch machen wollen – es kostet Euch nichts als – ein Wort, aber ein teures Wort, denn es ist ein Wort der Liebe, der Humanität, der Gerechtigkeit, der Zivilisation.“205 Der Segen für Spanien und das spanische Volk sei so groß, dass nicht nur Handel, Industrie, Landwirtschaft und die Wissenschaften davon profitieren dürften, sondern das Land selbst werde aus „der Isolierung herauskommen.“206 All das, was an negativen Aspekten mit der Vertreibung der Juden einhergegangen sei, könne nun ins Positive gewendet werden. Philippson präsentierte hier die Wiederzulassung als ein Allheilmittel für alle Probleme Spaniens, was einer sehr diesseitigen Problemlösung entgegenkam, ohne dem Gedanken der Schuld der spanischen Nation zu viel Raum einzuräumen. Gleichzeitig lehnte Philippson die Möglichkeit ab, Spanien könne sich nun zu einem neuen Einwanderungsland für die Juden en masse entwickeln. Der Zusammenklang von der Vertreibung der Juden als Ausdruck eines mittelalterlichen, religiösen Fanatismus wurde dabei den mit den Entdeckungen der Neuen Welt aufkommenden Hoffnungen entgegengesetzt. Diese Hoffnungen drückten sich dadurch aus, dass in der Neuen Welt neue Einwanderungsländer für die Juden zu erkennen waren, Länder in Europa hingegen an Attraktivität einbüßten, was auch für Spanien zutreffen sollte, sobald die Wiederzulassung der Juden auf dem Papier erfolgte. „Am 2. August 1492 204 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 205 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 206 Philippson: Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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war der Tag ihres Abzuges aus Spanien und am 3. August 1492 schiffte sich Kolumbus ein, um eine neue Welt zu finden, nach dieser ist jetzt die Strömung auch der auswandernden Juden gerichtet, und kein Land der alten Welt steht noch in Gefahr, von den Juden überschwemmt zu werden. Norwegen bezeugt dies.“207 Bereits bei der Niederschrift dieser Petition schien sich Philippson im Klaren darüber gewesen zu sein, dass es eines langen Atems bedurfte, die Situation in Spanien durch massive Meinungsbeeinflussung zu verändern. Er war jedoch davon überzeugt, dass dieses Ziel bei genügender Ausdauer erreicht werden konnte.208 Ausdauer zeigte er auch in seiner Stellungnahme vom 4. Dezember 1854, in der er optimistisch die Berichterstattung in spanischen Zeitschriften in Reaktion auf seine Petition kommentierte. So zitierte er den Brief von Dr. Tiburcio Faraldo an ihn und veröffentlichte dies in der Allgemeinen Zeitung des Judentums am 22. Januar 1855. „Ich habe mit der tiefsten Bewegung das Exposé gelesen, welches Sie der constituierenden Versammlung im Namen der Israeliten Deutschlands vorgelegt haben, die Aufhebung der Pragmatika vom 31. März 1492 fordernd. Alle aufgeklärten Spanier stimmen darin, dass die Ordonanz, welche den Juden den Aufenthalt auf dem Boden des Vaterlandes untersagte, und sie der Verbannung unterwarf, ein Akt der Ungerechtigkeit war, eine Verletzung der Menschen und Bürgerrechte und eine schändliche Undankbarkeit, und alle Spanier unserer Zeit werden jenen Tag als den Anfang unseres Verfalls betrachten.“209 (Hervorhebung, L. Ph.) Allerdings sei es, so Feraldo, noch ungewiss, inwieweit und vor allem zu welchem Zeitpunkt das Prinzip des non persecuendo von Nichtkatholiken greife. Philippson zog an dieser Stelle eine wichtige Parallele, die auch sein Selbstverständnis als moderner Shtatlan unterstrich, wenn er unter Bezugnahme auf Menasseh ben Israel schrieb: „Wird übrigens in der Verfassung das Prinzip des non persecuendo ausgesprochen, d. h., dass den Nichtkatholiken der Aufenthalt im Lande gestattet und sie nicht der Strafverfolgung unterworfen werden sollen – so ist damit faktisch der erste, d. h. der wichtigste Schritt geschehen. Ein Anderes wurde für den Eintritt der Juden in England durch die Bemühungen der holländischen Juden unter persönlicher Leitung Manasseh ben Israels auch nicht erlangt, und führte dem ungeachtet bis zu dem heutigen Standpunkt der englischen Juden.“210

207 Philippson, Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 494. 208 Philippson, Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 39 vom 17. September 1854, S. 493. 209 Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ, Nr. 4 vom 22.1.1855. S. 41. 210 Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ, Nr. 4 vom 22.1.1855. S. 41. 332

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Philippson glaubte jedoch in der gegenwärtigen Entwicklung eine schnellere Veränderung des Status als seinerzeit in England annehmen zu dürfen. „In unserer Zeit dringen die Ideen schneller durch, und es kommt nur auf Beharrlichkeit an. Auch in Norwegen bedurfte es fünfmaligen Antrags bei dem Storthings, um den § 2 ihres Staatsgrundgesetzes, welcher den Juden und Katholiken den Eintritt in das Land unter schweren Strafen untersagte, zu beseitigen. Und welch‘ größere Wichtigkeit hat Spanien für uns, namentlich für unsere Glaubensbrüder in Italien und Südfrankreich!“211 Diese liberale Stimmung während der Veröffentlichung und Versendung der Petition an die spanischen Parlamentsabgeordneten hatte nur für kurze Zeit Bestand. Philippson gab das in der Pariser Zeitung „Die Presse“ verbreitete Gerücht wieder, 50.000 deutsche Israeliten wollten sich in Spanien niederlassen.212 Dieses Gerücht stieß auf tiefe Besorgnis und Angst auf Konkurrenz. Philippson verwies darauf, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits Menschen anderer Nationen, so beispielsweise Franzosen, mit unterschiedlichem religiösen Bekenntnis in Katalonien wohnten. Es seien auch vereinzelt Juden im Lande anzutreffen, so sei der Bevollmächtigte des Pariser Hauses Rothschild ein Jude.213 Weiterhin verwies Philippson auf die Entgegnung des Redakteurs der „Archives Israelites“, Isidore Cahen (1826–1902), gegenüber der Presse, diese Gerüchte für unberechtigt zu erklären. Abschließend hielt dieser bezogen auf den Brief in der Zeitschrift „Die Presse“ fest: „Wir schließen daher aus dem ganzen Briefe, dass es eben nur wieder die Gespensterfurcht des erbärmlichen Brodneiders ist, die uns auch in Spanien entgegentreten will. Es ist aber sicher gut, dass die ,Judenfrage‘ auch in Spanien so ,große Verhältnisse‘ angenommen, denn umso mehr wird auch dies Mal ein Prüfstein der Freisinnigkeit und des Fortschritts, die Frage der allgemeinen Glaubensfreiheit.“214 Auch Cahen argumentierte also von einem menschlichen Standpunkt aus. Philippson griff diese Argumentationslinie zwei Wochen später in seinem Beitrag „Die Cultusfrage in Spanien“ in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ erneut auf. „So ist denn auch in Spanien die ,Judenfrage’ der Prüfstein der Echtheit und Wahrhaftigkeit dessen, was jüngst dort vorgegangen, gewesen und gerade sie hat gezeigt, dass es sich daselbst nur um die Selbstsucht der Parteien, um den Ehrgeiz und den Eigenmut der Personen handelt.“215

211 212 213 214 215

Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ, Nr. 4 vom 22.1.1855. S. 41. Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 7 vom 12.2.1855, S. 78. Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 7 vom 12.2.1855, S. 79. Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 7 vom 12.2.1855, S. 79. Ludwig Philippson: Die Cultusfrage in Spanien. In: AZJ Nr. 9 vom 26.2.1855, S. 103. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Meyer Kayserling machte dafür ebenfalls das Gerücht verantwortlich, „fünfzigtausend deutsche Juden hätten sich vereinigt, sich sofort in Spanien niederzulassen und allen Handel an sich zu reißen. Dadurch entstand eine Panik unter den spanischen Kaufleuten und Krämern. Diese stachelten die Geistlichen auf, gegen die zu bewilligende Religionsfreiheit entschieden aufzutreten; alle reaktionären Kräfte schlossen sich ihnen an. Die Königin erklärte, niemals ein Gesetz unterzeichnen zu wollen, das die Alleinherrschaft der katholischen Kirche beeinträchtigen könnte.“216 Am Ende dieser Debatten sei Artikel 2 der neuen Verfassung verabschiedet worden, der die katholische Kirche als alleinige Staatsreligion bestätigte, jedoch allen anderen Bekenntnissen, seien sie von Spaniern oder Ausländern befolgt, Toleranz entgegenbrachte, so lange diese nicht „öffentlich durch ihre Handlungen die Religion beleidigten.“217 Philippson wertete dies als einen Anfang, Gewissensfreiheit und – wenn auch eingeschränkt – Freiheit des religiösen Bekenntnisses zuzulassen; eine Einschätzung, der auch sein Biograf Meyer Kayserling folgte.218 Philippson glaubte außerdem, eine Zulassung religiöser Freizügigkeit mache einen Bürgerkrieg in Spanien wahrscheinlich, weil der Katholizismus nicht freiwillig seine Vormachtstellung im Lande räumen würde. „Accordingly, the Cortes referred the German-Jewish plea to a parliamentary committee, and on February 28, 1855 they produced a charter, Article 2 of the Constitution, which however was never promulgated.“219 Allerdings habe sich im Anschluss daran die verstärkte Tendenz innerhalb der spanischen Regierung ausgebreitet, sich für den Schutz der Juden insbesondere in Nordafrika einzusetzen.220 Die Ablehnung zeigte sich auch im Werk eines spanischen Autors, das Philippson selbst rezipierte: Die Rede ist von Amador de los Rios „Estudios históricos, políticos y literarios sobre los judíos de Espana“.221 Diese Studie war der erste Versuch, eine Geschichte der Juden in Spanien aus spanischer Perspektive zu verfassen. Amador de los Rios reagierte ablehnend auf Philippsons Petition, da er sich für eine Freiheit des religiösen Bekenntnisses nicht erwärmen konnte und Spanien für ihn ein katholischer Staat war. Doch tatsächlich ging es um mehr, wie Michal Friedman aufzeigte. Amador de los Rios verstand die Vertreibung der Juden aus Spanien als Beweis dafür, dass sie nicht in das Land passten und hier nicht leben konnten.222 216 217 218 219 220 221

Zit. nach Meyer Kayserling: Philippson, S. 244. Ludwig Philippson: Wiederzulassung. In: AZJ Nr. 5 vom 29.1.1855, S. 53. Meyer Kayserling: Philippson, S. 244. Aronsfeld: The Ghosts of 1492, S. 6. Aronsfeld: The Ghosts of 1492, S. 7. Amador de los Rios: Estudios históricos, políticos y literarios sobre los judíos de Espana. Madrid 1848. AZJ, 28.8.1854. 222 “While Philippson’s reading of the ‘Estudios’ focused on the favorable situation of the Jews in Spain, Amador’s reading of his own text in the context of the debate completely ignored 334

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Außerdem verwies Amador de los Rios auf den Umstand, dass Philippson nicht wie er selbst über einen kastilischen Nachnamen verfügte. Zudem sprach er nicht im Namen der vertriebenen Juden, was ihn doppelt disqualifizierte.223 Amador de los Rios war der Meinung, allein den katholischen Königen sei die Entstehung der spanischen Nation zu verdanken. Die Herstellung der religiösen Einheit, einhergehend mit den Vertreibungen, sei notwendig gewesen, um diese Nation zu gründen. Außerdem seien dadurch Spanischsprecher in andere Regionen Europas vertrieben worden, was einer Mehrung des Ruhmes für Spanien gleichkomme.224 Alles, was die national-religiöse Einheit in Frage stelle, somit auch die von Philippson initiierte Religionsfreiheit, sei nicht in der Lage, diese Einheit zu erhalten. Vielmehr würde ein Aufweichen des Absolutheitsanspruchs der katholischen Kirche in Spanien zu sozialem Unfrieden führen. Während Philippson und die Mehrheit der deutschen Juden die Etablierung des Zionismus als eine Gegenperspektive zur Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft eindeutig favorisierten und davon ausgehend sogar von einer Vermittlertätigkeit der Juden in die allgemeine Gesellschaft und Kultur gesprochen werden konnte, schloss Amador de los Rios dies kategorisch mit dem Hinwies auf die unterschiedliche Rassenzugehörigkeit der Juden aus.225 Die Juden seien nur durch königliche Protektion in Spanien wohlgelitten gewesen, vonseiten des Volkes habe es keinerlei Sympathie für sie gegeben, vielmehr hätten religiöse Antipathie und Verfolgungen dominiert. Aufgrund eines in seinen Augen bestehenden großen Unterschiedes zählte Amador de los Rios die Juden ausdrücklich nicht zu den Spaniern wie es Philippson und andere deutsche Juden noch ausdrücklich getan hatten. „It is through this particular challenge that Amador ‚re-claimed’ his authority over the use of Spain’s Jewish

this narrative. Rather, Amador now insisted the ‘Estudios’ should be read as a narrative of Jewish persecution and incompatibility with Spain. […] Finally, what also emerges from Amador’s response is an attempt to re-claim authority over the writing, interpretation and use of Spain’s Jewish past in accord with his particular vision of Spain, and as part of a project of writing ‘Historia Patria.’” (Michal Friedman: Jewish History as “Historia Patria”: Amador de los Rios and the History of the Jews of Spain. Phil. Diss. New York: Columbia University 2009. S. 36–37. Zur Funktion Amador de los Rios vgl. außerdem Norbert Rehrmann: Das schwierige Erbe von Sefarad. Juden und Mauren in der spanischen Literatur. Von der Romantik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2002. S. 270). 223 Friedman: Jewish History as Historia Patria, S. 37. 224 Friedman: Jewish History as History Patria, S. 58. 225 Amador de los Rios: Revista espanola de ambos mundos, 3 (1855), S. 195. Zit. in Friedman, Jewish History as Historia Patria, S. 39. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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past for contemporary politics, as well as part of a greater project of writing Spain’s ‚Historia Patria.’”226 Philippson hinterfragte kritisch den in Spanien geltenden Absolutheitsanspruch der Religion und forderte in seiner Eingabe die Aufhebung des Vertreibungsedikts von 1492 und uneingeschränkte Religionsfreiheit. Philippsons Intervention muss im Kontext seiner Bemühungen gesehen werden, die Emanzipation der Juden voranzubringen. Allerdings ist diese Einmischung nicht von Philippsons Engagement hinsichtlich der Juden im Osmanischen Reich am Beginn des Krim-Krieges (1854– 1856) und der der Kritik an den deren Lebensbedingungen in Russland zu trennen. Philippson verwies in diesem Zusammenhang auf andere europäische Länder, in denen die Freiheit des religiösen Bekenntnisses längst realisiert wurde. Gleichzeitig verdeutlichte er, wie sehr Spanien durch die Vertreibung auch in wirtschaftlicher Hinsicht an Einfluss verlor. Diese Kampagne sollte jedoch ohne Folgen bleiben. Philippsons Ton war hier von seinem großen Selbstbewusstsein gekennzeichnet. So verlangte er „die Sühne eines alten Unrechts“ und „Gerechtigkeit für eine große, geschichtliche Gewalttat, die zwar in alter finstrer Zeit geschehen, aber deren Folgen noch bis heute andauern“. Er nahm die Vertreibung nicht zum Anlass für eine resignative Rückbesinnung auf das Goldene Zeitalter, sondern versetzte sich als deutscher Jude in die Position eines Nachfahren der vertriebenen sephardischen Juden. Diese hätten unter „der fanatischen Verfolgungssucht, ja der Mordsucht Andersgläubiger seitens der spanischen Könige im fünfzehnten Jahrhundert am meisten gelitten.“ Gerade unter diesen Umständen sei es ihm zu gestatten „einer edelherzigen Nation ein bittendes Wort zu sprechen, ohne der Zudringlichkeit beschuldigt zu werden.“227 Die sephardischen Juden verstand Philippson als älteste Nation auf spanischem Boden, die schon vor der Besiedlung durch Christen und Muslime nachgewiesen wurde und deren kulturelle Bedeutung sich in den Wissenschaften, der Poesie und in der Übersetzung, d. h. als Vermittler von Wissen von einem Kulturbereich in den nächsten, hervortat. Die Vertreibung fasste er somit als eine universale Erfahrung auf und von Bedeutung nicht allein für die jüdische Geschichte. Er porträtierte die Inquisition als Instrument der katholischen Kirche sowie als machtvolle Institution, die dem Staate Maßnahmen diktierte, die dieser einzig aus Schwäche zuließ. Philippson ließ keine Gelegenheit aus, dies zu kritisieren, hoffte jedoch, den modernen spanischen Staat dazu bewegen zu können, die Fehler der Vergangenheit und den Fana226 Friedman: Jewish History as Historia Patria, S. 40. 227 Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien. In: AZJ Nr. 18 (1854), S. 437–438, S. 489–494, S. 516, S. 577–587. In seinen hier getroffenen Ausführungen orientierte sich Philippson an José Amador de los Ríos: Los Judíos de Espana. Madrid 1848. 336

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tismus rückgängig zu machen. Als möglichen und idealen Gesprächspartner für die jüdische Minderheit setzte er einen sich in religiösen Dingen neutral verhaltenden spanischen Staat ein, der seinerseits daran erinnert wurde, dass die Gewährleistung der Religionsfreiheit auch für die Juden nur in seinem Interesse lag. Philippson führte sowohl ökonomische als auch kulturelle Faktoren an. Immer wieder verwies er darauf, dass es Juden gewesen seien, die im regen Austausch mit ihrem nicht jüdischen Umfeld den Staaten zu Reichtum und intellektueller Schaffenskraft verholfen hätten, wobei er auch auf die „Alliance Israélite Universelle“ als nichtstaatliche Instanz einging. Philippson erklärte, die religiöse Toleranz, die Juden vor der Vertreibung in Spanien erfuhren, zeige, dass vor dem Auftreten des Religionshasses religiöse Freiheit (libertad de cultos) bestand und gut funktionierte. Des Weiteren argumentierte er, die spanischen Herrscher hätten keine Recht gehabt, die Juden auszuweisen, da diese bereits unter römischer Herrschaft das Bürgerrecht verliehen bekommen hätten. „Die Juden erhielten zuletzt, wie alle besiegten Nationen, das römische Bürgerrecht, und begannen nach und nach selbst am öffentlichen Leben teilzunehmen. Erst als das Christentum den römischen Thron bestiegen hatte, fing der Kampf von neuem an, der in politischer Beziehung mit der völligen Isolierung und Ausstoßung der Juden aus der bürgerlichen Gesellschaft endete.“228 Der negative Einfluss des Christentums sei auch bezogen auf Spanien nachweisbar. Die Goten als Arianer waren noch nicht Bestandteil der späteren katholischen Ausschließbarkeit gegenüber Andersgläubigen, folgerte Philippson. Erst als die Goten katholisch wurden, habe sich deren Intoleranz in Spanien spürbar ausgebreitet.229 Verständlicherweise „sahen daher die Juden die Mauren als Retter erscheinen, die ihnen Sicherheit und Ruhe erteilten.“230 Was sich in Spanien abspielte, habe jedoch eine europäische Dimension in sich getragen, überall habe der christliche Fanatismus die Juden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sie von allen bürgerlichen Berufen ferngehalten und auf den Geldhandel eingeschränkt. Auch seien sie „in geistigem Verkehr von der ganzen Welt abgeschlossen [gewesen], ganz allein von der talmudischen For228 Ludwig Phlippson: Die Entwicklung der religiösen Idee im Judentum, Christentum und Islam. In 12 Vorlesungen über Geschichte und Inhalt des Judentums. Leipzig 1847. Hier: 6. Vorlesung. Der zweite Tempel. Der Ursprung des Talmudismus. S. 89. 2. Aufl. Leipzig 1874. Hier auch die 2. Abteilung „Vorlesungen über die Religion der Gesellschaft“. 229 „In Gallien und Spanien genossen die Juden unter den Goten völliges Bürgerrecht; umso natürlicher war es, dass die katholischen Franken die Juden als Feinde betrachteten, und sie nach Verdrängung der Goten rechtlos machten, ja überall auf Andringen der Geistlichkeit, ihre Religionsübung verkümmerten, in ihr Besitztum eingriffen, gewaltsame Taufen versuchten.“ (Philippson: Entwicklung der religiösen Idee, S. 136–137). 230 Philippson: Entwicklung der religiösen Idee, S. 137. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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schung eingezwängt.“231 Überlebt habe das Judentum nur aufgrund seines starken Gemeinschaftsgefühls, das sich in den jüdischen Gemeinden und im Familienleben ausgestalten konnte. In der Konsequenz habe dies das Überleben des Judentums überhaupt ermöglicht und dazu geführt, dass Juden nicht zum Christentum oder Islam konvertiert seien.232 Die Ausschließung von der Gesellschaft habe die Juden durch die Geschichte hindurch auch zu einem moralischen Lebenswandel geführt, der sich von den Lastern der Zeit wohltuend unterschieden habe. Ausschweifungen jeder Art seien dem Judentum fremd gewesen und „seine Stellung, Isolierung, Ausschließung, Verstoßung verhinderten sein Aufgehen in die Nationen.“233 Die Mission des Judentums sei somit wirklich ein nationales Phänomen, denn im gesamten Judentum habe die „Wahrheit“ gelebt und deshalb sei das Judentum auch von kirchlicher und politischer Gewalt von außen besiegt worden. Das Judentum habe überlebt und in der gegenwärtigen Zeit, wo diese Ausschließung der Vergangenheit angehört werde, werde das Judentum seiner Mission wieder nachkommen können und aus seiner „Ausschließung und Isolierung wieder in die allgemeine Menschenwelt eintreten.“234 Anders als viele Autoren im Umfeld der Wissenschaft des Judentums ordnete Philippson das Talmud-Studium sehr viel positiver ein. Er glaubte, dass das Studium des Talmuds das Überleben des Judentums überhaupt erst ermöglicht habe. Von seiner eigenen Perspektive als deutscher Jude, gab es kein Interesse an der Wiederansiedlung in Spanien. „Wir ,deutsche Israeliten‘ haben das geringste materielle Interesse daran. Die spanische Nation hat viel mehr Interesse daran als wir.“235 Philippson bemühte Bilder aus der Aufklärung, um gleichzeitig auf den universalen Charakter seiner Botschaft zu verweisen. „Es gilt hier eine Sache, die allein ihren Wert hat, wenn sie im Lichte des Jahrhunderts, im Lichte der Aufklärung und Gerechtigkeit, im Lichte der Grundsätze des europäischen Staatslebens geschieht.“ […] „Wohl! So klopft denn das Jahrhundert auch an Spaniens Pforte, und

231 232 233 234

Philippson: Entwicklung der religiösen Idee, S. 138–139. Philippson: Entwicklung der religiösen Idee, S. 139. Philippson: Entwicklung der religiösen Idee, S. 140. Und Philippson fährt fort: „Der Inhalt dieser anderthalb Jahrtausende war also: die christliche Kirche wollte die Juden, als ihren Gegensatz tragend, vernichten, und da sie es, wegen deren Zerstreuung nicht vermochte, schloss sie die Juden unverdienter Weise zuerst durch die römischen Kaiser, alsdann durch den Feudalstaat und der Gesellschaft aus. Die Juden aber bekämpften alle Hindernisse der Fortexistenz, verharrten innerhalb des Talmudismus bei der religiösen Idee, und erstanden beim Anbruch einer neuen Zeit gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, von Neuem, hier in die Menschenwelt nach allen Bezügen wieder eintreten.“ (Philippson: Entwicklung der religiösen Idee, S. 141). 235 Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 46 (1854), S. 578. 338

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ruft: öffnet sie: der Gerechtigkeit und der Duldung.“236 Dabei handele es sich nicht um eine revolutionäre Absicht, sondern vielmehr um „Restauration“, zu der Gott seinen Segen gebe.237 Im Anschluss an die Übermittlung der Petition erhielt Philippson Dankesschreiben von zahlreichen jüdischen Gemeinden in Deutschland, Frankreich, Italien und aus Jerusalem.238 Wie Meyer Kayserling feststellte, sei Philippson noch 1867 „von einem hochgestellten Spanier selbst angegangen, sich neuerdings mit einem Gesuche an die Cortes zu wenden; ein Beweis, dass sein erstes Auftreten nicht in Vergessenheit geraten war.“239 In Deutschland und international wurde Philippson für sein Engagement gefeiert und vielfältig gewürdigt. Dennoch änderte sich die Situation der Juden in Spanien vorerst nicht. Am 20. Oktober 1868 erinnerte Philippson in der „AZJ“ seine Leser an das 1854 in spanischer Sprache verfasste und an die Cortes geleitete Memorandum „in dem wir von den Cortes forderten“,240 die Freiheit der religiösen Kulte zu gewährleisten und die Aufhebung des Edikts vom 31. März 1492 zu erlassen. Voller Selbstbewusstsein verwies Philippson auf das Aufsehen, was das Memorandum in der spanischen Öffentlichkeit erregte. So schrieben ihm Spanier, welche die an den Juden begangenen Ungerechtigkeiten bereuten. Dabei wurde verschiedentlich der Wunsch geäußert, der Fluch der Vertreibung solle von Spanien genommen werden. Die von Samson Raphael Hirsch herausgegebene Zeitschrift „Jeschurun“ widmete sich in den Jahrgängen 1854/55 und 1855/56 ebenfalls den Vorgängen in Spanien, für das Jahr 1868 lassen sich keine Einträge finden. So heißt es im Dezember 1854 in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag mit der Überschrift „Spanien“, der aber von Hirsch geschrieben sein könnte: „Das Gesuch der Israeliten um Wiedereinsetzung in ihre Rechte erhält auf vielen Punkten der Halbinsel volle Zustimmung.“ Die Municipalbehörde von Irun habe ein „insbesondere den Israeliten günstiges Votum abgegeben, in Betracht, wie es in diesem Votum heißt, der großen Anzahl jüdischer Männer, die sich in der Wissenschaft, der Literatur und der Industrie auszeichnen.“ Auch habe die spanische Presse den Wunsch nach Wiederansiedlung positiv aufgenommen. „Las Novedadas“ vom 20. Oktober 1854 besprach 236 Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 46 (1854), S. 578. 237 Philippson: Der Wiedereintritt der Juden in Spanien, in: AZJ Nr. 46 (1854), S. 578. 238 So heißt es hier: „Es ist daher mit Recht, dass man Sie, ehrwürdiger Herr, in die Zahl ihrer berühmten Verfechter rechnet, Sie, die Sie Ihre großen Talente ihr gewidmet, die Sie außerdem für den israelitischen Orient und für Spanien so viel Beredsamkeit, Geist und Herz entfaltet haben.“ (Meyer Kayersling: Ludwig Philippson, S. 245–246). 239 Zit. nach Meyer Kayserling: Philippson, S. 245. 240 Ludwig Philippson: Spanien. In: AZJ, Nr. 43 vom 20.10.1868. S. 852. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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den Gegenstand mit viel Wohlwollen und schloss mit der Bemerkung, dass es in der Tat keinen plausiblen Grund gebe, das Gesuch der Israeliten unberücksichtigt zu lassen. Schon aus ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet, würde ihre Wiederaufnahme in Spanien beträchtliche Vorteile bringen. Vermehrung der Bevölkerung und der Kapitalien würden sofort eines der bedeutenden Resultate dieser Maßregel sein.“241 Allerdings zeichneten sich innerhalb der Presse unterschiedliche Positionen zu einer möglichen Rücknahme des Edikts von 1492 ab: „Die ‚Esperanza‘ vom 21. Oktober 1854 hat einen langen Artikel darüber. Sie ist im Prinzipe der Zulassung der Israeliten nicht entgegen; sie stutzt jedoch über eine ‚in Betracht‘ gegebene Bemerkung des betreffenden Gesuches, dass nämlich Spanien früher von Juden bewohnt gewesen, bevor es den Christen gegeben. Sie gibt sich den Anschein, darin einen Anspruch auf den Besitz Spaniens zu erblicken, und meint, dass in solchem Falle unter solchem Zugeständnisse, die Christen ihr Bündel schnüren und Spanien wieder verlassen müssten. ‚Il clamor Publico‘ vom 24. Oktober 1854 antwortet darauf ausführlich, und macht sich geistreich über eine so sonderbare Furcht lustig. In die Frage eingehend bemerkt er, dass Spanien nie in größerem Verfall gewesen, als so lange die volle und ausschließende Religionseinheit dort geherrscht, und schließt, indem er Spanien das Zuströmen von Kapitalien aus dem Fleiß und der Tätigkeit den Juden verheißt.“242 Die Gewährung der Religionsfreiheit würde die Zuwanderung der Nachkommen der einst vertriebenen Juden mit sich bringen, deren Kapital und Fleiß Spanien zugute kommen würden. Wie Philippson nahm auch sein literarischer Gegenpart aufseiten der Neoorthodoxie, Markus Lehmann, eine Analyse der gegenwärtigen spanischen Verhältnisse vor. In einer Reihe von Artikeln diskutierte Lehmann in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Israelit“ die Verfassung von 1868, die zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Spaniens das Prinzip religiöser Toleranz integrierte. Lehmann führte die Anfänge jüdischer Besiedlung in Spanien bis zur römischen Herrschaft über die Iberische Halbinsel zurück. Er betonte – wie vor ihm bereits Philippson – die historischen Bedingungen, die Juden vor Christen und Moslems dorthin geführt hatten. Ein wesentlicher Unterschied zu Philippson bestand jedoch darin, dass Lehmann nicht ausdrücklich auf den Reichtum der iberischen Juden hinwies. Für ihn war es stattdessen wichtiger, die Kontinuität jüdischer Gelehrsamkeit hervorzuheben, die dort bis zur Vertreibung Bestand hatte. Ausdrücklich erwähnte er das Studium des Talmuds und eine geistreiche hebräische Literatur. „Vor zwei Jahrtausenden, als der heilige Tempel in Jerusalem noch stand und die pyrenäische 241 Anonymos : Spanien. In: Jeschurun, Heft 3 (Dezember 1854), S. 179–180. Hier: S. 179. 242 Anonymos: Spanien. In: Jeschurung, Heft 3 (Dezember 1854), S. 179–180. Hier: S. 180. 340

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Halbinsel ein römisches Besitztum war, schon damals, lange bevor ein Christentum existierte, waren viele Juden nach der schönen Hispania gewandert und hatten sich dort dauernd niedergelassen. […] Dies schöne Land wurde der Hauptsitz talmudischer Gelehrsamkeit.“243 Lehmann listete eine Reihe talmudischer Gelehrter wie Samuel Hanagid, Maimonides, Gabirol und Ibn Esra auf, die er alle mit dem Ehrentitel „Rabbi“ versah.244 Auch Lehmanns Verständnis der Rolle des Christentums in Spanien unterschied sich von dem Philippsons. Für Lehmann war entscheidend, dass religiöser Fanatismus im Christentum nicht erst durch die Inquisition befördert wurde, sondern von Anbeginn ein zentraler Faktor in der christlichen Religion war. Dies verdeutlichte Lehmann unter Hinweis auf die westgotische Herrschaft in Spanien. „Mit der Eroberung Spaniens durch die christianisierten Goten begann für die Israeliten eine lange Leidenszeit, die erst durch die Eroberung der Mauren ein Ende nahm.“245 Die maurische Eroberung habe dieser Willkür ein Ende gesetzt, um mit dem Vordringen der Inquisition schließlich noch größeres Leiden über die spanischen Juden zu bringen. „Und mit einem Schlage hat der grausamste Fanatismus dieser reichen Geistesblüte ein Ende gemacht! Eine Million braver, fleißiger, edler, betriebsamer, gebildeter Bürger wurde von Isabella, der Katholischen, im Jahre 1492 aus dem Lande ins Elend getrieben.“246 Lehmann verwendete den aktuellen Begriff Bürger, um auf den hohen Grad von Integration hinzuweisen, die beigefügten Adjektive erinnern eher an eine Auflistung deutsch-bürgerlicher Tugenden. Eindeutig ist Lehmanns Interpretation hinsichtlich der Rolle der Königin Isabella, ohne deren Gatten Ferdinand zu nennen. Sie sei mitnichten unschuldig an der Vertreibung, sondern habe diese selbst vorangetrieben und somit könne sie auch nicht als Werkzeug der Inquisition gelten. Die Vertreibung deutete er zudem zusammen mit der Entdeckung der Neuen Welt. Aller Reichtum dieser Entdeckungen würde den Verlust niemals wettmachen können, den die Vertreibung der Juden mit sich brachte. In einem weiteren Beitrag verdeutlichte Lehmann seine Position, dass zwischen dem Prinzip religiöser Toleranz und dem noch in Kraft stehenden Vertreibungsedikt Unterschied bestünde. „Denn in der Tat steht dem noch das Verbannungsdekret von 1492 entgegen, welches nicht nur die Ausübung der jüdischen Religion in Spanien verbietet, sondern auch die Söhne des jüdischen Stammes von diesem Land 243 Markus Lehmann: Spanien. In: Der Israelit. Ein Central-Organ für das orthodoxe Judentum. 21.10.1868. S. 793. 244 Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 21.10.1868, S. 793. 245 Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 21.10.1868, S. 793 246 Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 21.10.1868, S. 793. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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fernhält.“247 Die Existenz von Marranen, insbesondere nach 1492, nahm in Lehmanns Werk gleichwohl eine zentrale Funktion ein. Die Schilderung der Marranen ist nicht von negativen Charakteristika gekennzeichnet, sondern weist auf die Komplexität der religiösen Identität hin, die diese Marranen immer habe Juden bleiben lassen. Die Inquisition war also in letzter Konsequenz nicht erfolgreich. Lehmann wandte sich daraufhin schriftlich an ein Regierungsmitglied, dessen Anonymität gewahrt blieb, der ihm jedoch entgegnete, das Vertreibungsedikt sei noch nicht aufgehoben. Über die Gründe konnte Lehmann nur mutmaßen. „Sollte die Regierung etwa fürchten, durch die Aufhebung jenes Dekrets sich unpopulär zu machen, sollte in der Masse der spanischen Bevölkerung Hass oder Abneigung gegen die jüdische Nation herrschen?“248 Von Bedeutung ist hinsichtlich der möglichen Ansiedlung von Juden in Spanien die Annahme, es würden sich alle Juden und nicht bloß sephardische Juden für eine Niederlassung in Spanien interessieren. „Wenn Spanien immer mehr in die Reihe der civilizierten Nationen eintritt, so werden sich bald Verbindungen mit anderen Ländern anknüpfen, die für manche Israeliten eine Übersiedlung dorthin wünschenswert erscheinen lassen müssen.“249 Wie Philippson agierte auch Lehmann auf diplomatischem Parkett. Das anonym bleibende Regierungsmitglied forderte Lehmann nun selbst auf, eine Petition an die Cortes zu verfassen.250 Hier verschob sich die Perspektive im Vergleich zur Petition Philippsons, indem nun ein spanisches Mitglied der Regierung das Wort ergriff. Lehmann erwähnte die zunehmende Erkenntnis unter Mitgliedern des Parlaments, die negativen Konsequenzen der Inquisition für Spanien zu formulieren, wenn er mit dem 2. November 1868 notierte: „Nach ihm [dem Abgeordneten Echegaran, C. S.] sprach unter anderen noch Chamorro, der die unseligen Folgen des Jesuitismus und der Inquisition in den lebhaftesten Farben malte und geradezu auf einen wohltätigen Einfluss hinwies, den in anderen Staaten der Verkehr der Katholiken mit Juden und Protestanten auf die Civilization und Gewissensfreiheit ausgeübt habe.“251 Die Gründe für das Vertreibungsedikt lagen Lehmann zufolge in dem von der katholischen Kirche kritisierten zu engen Kontakt zwischen Neuchristen, denen immer die Treue zum Judentum unterstellt wurde, und den Altchristen. Implizit verstärkte er seine These, die Neuchristen seien als Marranen tatsächlich immer Juden geblieben. Sei die Vertreibung ohne Protest von außen geschehen, müsse sich 247 248 249 250 251

Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 11.11.1868, S. 849. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 11.11.1868, S. 850. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 11.11.1868, S. 849. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 11.11.1868, S. 850. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 11.11.1868, S. 850. 342

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Spanien nun jedoch gewiss sein, dass die zivilisierte Welt auf Spanien blicke. „Spanien, das Land, an das sich für uns so viele freudige, erhebende und große, aber noch mehr schmerzliche Erinnerungen knüpfen, zieht gegenwärtig die Augen der ganzen civilizierten Welt auf sich. In Spanien ist die Religionsfreiheit, die Freiheit und Gleichheit der Confessionen proklamiert.“252 Bevor Lehmann jedoch die Petition abfassen konnte, meldete der „Telegraph“ am 6. November 1868: „,Madrid, 6. November. Zahlreiche israelitische Familien von London und Lissabon fragten bei der provisorischen Regierung an, ob dieselbe die früheren Gesetzte, welche ihre Verbannung aussprach, aufgehoben habe. Die Regierung antwortete bejahend.‘ Sollte sich diese Nachricht bestätigen, so wäre es allerdings nicht mehr nötig zu petitionieren.“253 In seinem Leitartikel „Spanien“ vom 25.11.1868 zitierte Lehmann die Eingabe der in London ansässigen sephardischen Juden an die provisorische Regierung in Spanien, das Verbannungsdekret vom 30. März 1492 zu widerrufen. Sobald dieses aufgehoben sei, könne die spanische Regierung „auf den tätigen Eifer und die erfolgreiche Mitwirkung unserer Gemeinde zur Beförderung von Spaniens Glück und Ruhm zählen.“254 Im Anschluss an den Abdruck des Textes in deutscher Übersetzung fragte Lehmann nach den Gründen für das Vertreibungsedikt. Seine Begründung konzentrierte sich auf die religiöse Deutungsebene. „Sie wurden nicht des Wuchers, nicht des Betruges angeklagt; man ersann nicht die Fabel vom Blute gemordeter Christenkinder wie so oft in Deutschland; man klagte auch nicht ob geschändeter und entweihter Hostien – und sagte nur, die Neuchristen werden durch die Juden in ihrer Neigung zum Judentum bestärkt, und das genügte, um eine halbe Million der tüchtigsten Bürger aus einem Lande zu treiben, in welchem sie fünfzehnhundert Jahre und länger ansässig waren.“255 Daran anschließend folgte vor dem Abdruck des Vertreibungsedikts noch die Einschätzung, die nahelegte, wie weit entfernt Lehmann eine solche Handlungsweise von dem gegenwärtigen aufgeklärten Zeitalter sah. „So verblendet war man damals, so sehr war in jener Zeit der Sinn für Recht und Gerechtigkeit abhanden gekommen!“256 Die Ungerechtigkeit der Vertreibung stand für Lehmann außer Frage. Der Umstand, keine Finanzmittel auszuführen, steigerte noch die Wahrnehmung des erlittenen Unrechts gegenüber den „fleißigsten und besten Bürgern Spaniens“.257 Gott habe sich jedoch ihrer erbarmt und „bereitete unsern 252 253 254 255 256 257

Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 21.10.1868, S. 793. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 11.11.1868, S. 850. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 5.11.1869, S. 885. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 886. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 886. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 887. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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gepeinigten Glaubensgenossen neue Heimatstätten.“258 Wie Philippson und die Mehrzahl deutsch-jüdischer Autoren im 19. Jahrhundert, sah auch Lehmann den durch die Vertreibung erlittenen Schaden für Spanien. „Spanien musste für die Vertreibung der Juden schwer büßen. Für kurze Zeit erhob es sich zwar zu Macht und Ansehen, bald aber verfiel es in Zerrüttung, Verarmung, Verdumpfung.“259 Selbst auf der persönlichen Ebene mussten die katholischen Herrscher für die Vertreibung Buße tun. „Der einzige Sohn Ferdinands and Isabellas starb in jungen Jahren, ihre einzige Tochter, die Erbin ihrer Länder, verfiel in Wahnsinn.“260 Deutlicher als Philippson im Ton, wenn vielleicht auch nicht in der Zielrichtung, war Lehmann davon überzeugt, nur durch die Zurücknahme dieses Unrechts würde auch in Spanien wieder „eine neue Ära des Glücks und des Wohlstandes anbrechen, wenn es sich dazu verstehen wird, die Gewissensfreiheit zu proklamieren und das grässliche, an unseren Stammesgenossen verübte Unrecht endlich zu sühnen.“261 Der Begriff der Sühne nimmt ebenfalls ein religiöses Motiv auf, und benutzt damit eine Sprache, die Philippson vermieden hatte. Philippson selbst sprach von einer Schuld des spanischen Volkes und nicht allein der damals herrschenden Klassen, wenn er ebenfalls am 20. Oktober 1868 schrieb: „Die spanische Nation [hat] eine schwere Schuld an der Menschheit zu sühnen. So hat sich unter den Völkern der neuern Zeit keines versündigt wie das spanische.“262 Diese Schuld wog so schwer, dass sie ohne Vergleich mit anderen Missetaten herausgehoben erschien. Und einmal mehr wurde das zentrale Argument bemüht, die Vertreibung sei nicht allein gegen die Juden gerichtet gewesen, sondern habe der ganzen Menschheit gegolten und weise somit eine universale Dimension auf. Dieser Zustand habe bis auf den heutigen Tag bestand. Einen Monat später nahm Philippsons Euphorie bereits wieder ab, wenn er erklärte, die Zeit sei noch nicht reif für eine Rücknahme des Vertreibungsedikts.263 Die Verfassung von 1869 verabschiedete im Artikel 21 die Freiheit des religiösen Bekenntnisses. Dieses existierte gleichsam nur auf dem Papier und die Vorstellung der religiösen Vormachtstellung der katholischen Kirche als dem einzigen religiösen Bekenntnis dominierte die Diskussion und Realität. Allerdings sei in der Folge der Revolution von 1868 eine Ansiedlung der

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Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 887. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 887. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 887. Lehmann: Spanien. In: Der Israelit vom 25.11.1869, S. 887. Philippson: Spanien. In: AZJ, 20.10.1868, S. 853. Ludwig Philippson: Spanien, in: AZJ Nr. 48 vom 24.11.1868, S. 961–962. Hier: S. 962. 344

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Juden im kleineren Umfang erfolgt.264 Allerdings musste Philippson im Jahre 1881 konstatieren, von einer Wiederansiedlung der Juden könne keine Rede mehr sein, vielmehr sei die „Sache im Sand verlaufen.”265 Vor dem Hintergrund des sich verstärkenden Antisemitismus in Deutschland kritisierte Philippson die antisemitische Stimmung auch innerhalb der spanischen Presse und charakterisierte die spanische Gesellschaft als korrupt.266 Nicht vor 1917 sollte die erste Synagoge in Spanien offiziell eingeweiht werden. Jüdische Literatur und deutsche Nationalliteratur:   iberisch-sephardische Autoren als interkulturelle Vermittler Die Literatur gab und gibt Themen für eine Reihe von gesellschaftlichen Diskursen vor und die Rezeption literarischer Werke trug im Verlauf der Geschichte auch zu gesellschaftlichen Veränderungen mit bei. So erhoffte sich Herder anhand des Beispiels der Literatur eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Was noch im 18. Jahrhundert unter der Rubrik „Belles Lettres“ Memoiren, populärwissenschaftliche Bücher und Romane einschloss, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts poetische Nationalliteratur genannt. Im Zuge dessen wurden auch Lehrstühle für deutsche nationale Philologie eingerichtet. Die Literaturgeschichte half dabei entscheidend mit, eine deutsche nationale Geschichte auszubilden. Für jüdische Philologie oder Geschichte wurde der Wunsch nach Einrichtung solcher Lehrstühle jedoch von offizieller staatlicher Seite negativ beschieden. Fächer wie jüdische Geschichte, Literatur und Kultur wurden nur an jüdisch-theologischen Seminaren unterrichtet, weil der Staat für eine Emanzipation der Juden deren Assimilation wünschte und somit keinen so verstandenen jüdischen Sonderweg über die Errichtung eigener Lehrstühle an deutschen Universitäten genehmigen wollte. Im Diskurs um eine nationale Identität bei jüdischen und christlichen Deutschen kam im Verlauf des 19. Jahrhunderts insbesondere der sich ausgestaltenden Nationalliteratur eine wegweisende Funktion zu. Fragestellungen zu eigenen und fremden Anteilen an dieser Nationalliteratur wurden intensiv diskutiert. Dabei nahmen auch jüdische Literaturwissenschaftler eine wichtige Rolle ein. Die sich ausbildende Nationalliteratur stellte einen Literaturkanon auf und entschied somit, 264 „The census of 1877 identified 406 – 276 males and 130 females – in a population of 17 million. […] About the year 1900 the estimate for the whole country was 2,000.“ (Aronsfeld: The Ghosts of 1492, S. 18) 265 Ludwig Philippson: Spanien. In: AZJ Nr. 33 vom 16.8.1881, S. 544. 266 Ludwig Philippson: Spanien. In: AZJ Nr. 33 vom 16.8.1881. S. 544. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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was als nationale Literatur verstanden werden durfte. Im Verlauf des Jahrhunderts erarbeiteten deutsch-jüdische Literaturwissenschaftler einen Kanon zur jüdischen Literatur, der als eine Antwort auf die zögerliche Emanzipation der Juden und die damit verbundenen Hürden hinsichtlich einer Integration von Juden in die deutsche Gesellschaft zu verstehen war. Einerseits geschah dies, um deutlich zu machen, dass eine jüdische Literatur die allgemeine Literatur beeinflusst hat, jüdische Autoren also als Vermittler in die nicht jüdische Literatur gewirkt hatten. Darüber hinaus wurde auch ein Stolz auf den eigenen Beitrag bei den jüdischen Lesern hervorgerufen. Die Erzeugnisse deutsch-jüdischer Literaturgeschichtsschreibung und einer deutsch-jüdischen Literatur wurden zwar primär von Juden gelesen, dennoch standen diese Werke auch in einem Dialog mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft, indem diese einen jüdischen Beitrag für die allgemeine Gesellschaft formulierte. Insbesondere die popularisierende Darstellung von Themen zur jüdischen Geschichte und Kultur in literarischen Texten trug im Verlauf des 19. Jahrhunderts, insbesondere seit den 1830er-Jahren, dazu bei, Bezugspunkte für eine kollektive deutsch-jüdische Identität anzubieten. Die populären Darstellungen gründeten auf den Erkenntnissen, die Vertreter der Wissenschaft des Judentums erarbeitet hatten. Sie nahmen jedoch auch zahlreiche Anregungen aus der europäischen Literatur mit auf. Viele Beispiele aus der jüdischen Vergangenheit, zu großen Teilen auch aus der jüdischen Geschichte in Spanien, wurden für die Gegenwart herangezogen und ließen die Juden dadurch keinesfalls als eine Gruppe in Deutschland erscheinen, die sich lediglich nostalgisch und isolationistisch verhielt. Die literarischen Kulturgüter wurden vielmehr als eine Art von Gegenwartsarbeit verstanden, um zu verdeutlichen, dass Juden in der Vergangenheit in die Mehrheitsgesellschaft integriert waren und als Vermittler von Kultur agierten. Der hier erwachsende Dialog kam in erster Linie den partizipierenden deutschsprachigen Juden zugute, er muss jedoch auch als Vermittlung eines jüdischen Anteils in die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. Im Zuge dieser Auseinandersetzung bildeten sich jenseits der eingeschliffenen Ausrichtungen auf die Parameter „jüdisch“ und „deutsch“ am Beispiel der iberischsephardischen Kultur hybride Formen der Zugehörigkeit aus. Diese definierte eher die Vorstellung einer Vermittlung von „jüdischem“ Anteil in die „allgemeine“ Kultur und umgekehrt auch die Orientierung der „allgemeinen“ Kultur an einem „jüdischen“ Beitrag. Jüdische Literaturhistoriker führten iberisch-sephardische Autoren als interkulturelle Vermittler an und nannten diese als historisches Beispiel, deren Beitrag und Selbstverständnis in diesem Sinne von deutsch-jüdischen Autoren weiter geführt werden sollte. Der Korpus an deutsch-jüdischen literarischen Texten sei nicht allein Beispiel für einen jüdischen Beitrag an der deutschen Literatur, sondern 346

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auch ein herausragendes Exempel für die Kontinuität einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Partizipation der Juden an der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft, in der Vergangenheit in Spanien und gegenwärtig nun in Deutschland. Die Vorstellung einer vermittelnden Funktion von Literatur ist von zentraler Bedeutung für die deutsch-jüdische Geschichte, nicht allein weil Juden in der deutschen Literatur als Autoren und Wissenschaftler besondere Verdienste erworben hatten, sondern weil es ihnen gelungen war, Anteile einer jüdischen Literatur in die deutsche Nationalliteratur miteinzubringen. In „Grimms Wörterbuch“ findet sich unter dem Stichwort „vermitteln“ folgende Definition: „Vom Begriff des Vermittelns, tritt die Bedeutung des Vereinigens, Zusammenbringens, in Berührung bringen hervor“; „durch Einschieben eines Mittelstückes auseinander liegendes, -gehendes einigen, zugänglich machen; übertragen: befreunden, ausgleichen, ebnen.“267 Das Prinzip der Vermittlung wurde von deutsch-jüdischen Literaturhistorikern in den literarischen Manifestationen der iberisch-sephardischen Autoren auf den Anteil an einer so verstandenen allgemeinen Literatur der jeweiligen arabischen oder christlichen Mehrheitsgesellschaft bezogen. Zentral für diese Wahrnehmung war die Auffassung, dass sich die iberisch-sephardische Kultur im Zentrum einer europäischen Geschichte befand, die auch jenseits einer Dominanz des Christentums einen jüdischen Erinnerungsort in ein interkulturelles Bezugssystem einbezog und als Kommentar zum Vorgang der Emanzipation interpretierte. Die Rezeptionsgeschichte der iberisch-sephardischen Kultur im 19. Jahrhundert zeigt zudem, „dass übersetzte Literatur besonders dann eine innovative Rolle in einem literarischen Polysystem spielen kann, wenn es innerhalb der Zielliteratur den Eindruck gibt, die eigene Literatur stagniere und [könne] selbst nicht genügend Impulse zur Erneuerung hervorbringen.“268 Die Vorstellung einer vermittelnden Funktion von Literatur half im Zeitalter der Emanzipation im 19. Jahrhun267 Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm. Bd. 25, Sp. 877. Zit. nach Florian Krobb; Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Literaturvermittlung um 1900. Fallstudien zu Wegen ins deutschsprachige kulturelle System. Amsterdam 2001. S. 7–22. Hier: S. 10. 268 Florian Krobb: Literaturvermittlung um 1900, S. 17. Außerdem fährt Krobb bezogen auf die unterschiedlichen Vermittlungsinstanzen von Literatur fort: „In der Art der Begegnung werden Vorentscheidungen über Vermittlungsmodalitäten und das Vermittlungsprodukt getroffen; politische, soziale und kulturelle Faktoren, Vorverständnis, Erwartungshorizont, ‚Image‘ der fremdsprachlichen Kulturen beeinflussen die Initiierung des Vermittlungsprozesses, seinen Verlauf und sein Ergebnis. Die zielsprachliche kulturelle Situation des Untersuchungszeitraumes ist eine der beispiellosen Polyphonie: vermittelte Literatur und die verschiedensten Vermittlungsaktivitäten sind Teil dieser kulturellen und literarischen Viestimmigkeit.“ (Krobb Literaturvermittlung um 1900, S. 22) Vgl. Itamar Even-Zohar: The Position of Translated Literature within the Literary Polystystem. In: James S. Holmes et Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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dert „Countermodels of Deutschtum“269 auszubilden. Diese Gegenmodelle am Beispiel der iberisch-sephardischen Geschichte und Kultur repräsentieren eine Alternative zu den bestehenden Konzepten einer kulturellen Homogenität von nationaler Gemeinschaft, indem sie auf ein stärkeres Potenzial der Vermittlung oder auch der Vorstellung einer Übersetzung von Kultur in Kultur aufbauen. „Hybrid“ bezeichnet nicht den oppositionellen Begriff einer „Gegenkultur“, sondern beschreibt die Versuche, eine „deutsche Kultur“ auszugestalten, sie nicht als Teil von traditionellen, essentialistischen Konzepten zu fassen, sondern als eine in sich selbst hybride Kultur zu verstehen.270 „Die Uneindeutigkeit der Bedeutungen, Werte und Zeichen erfordert daher in jeder kulturellen Begegnung im weitesten Sinne eine Übersetzungsleistung aller Beteiligten.“271 Homi Bhabha zufolge findet diese Übersetzung in einem Zwischenraum statt, den er als „Third Space“ bezeichnet, in dem das Authentische einer Kultur nicht mehr rekonstruiert werden könne und somit gleichzeitig auch deren Leerstellen eingeordnet werden müßten.272 Auch die deutsche Literatur setzt sich nicht monolithisch zusammen, sondern aus unterschiedlichen Versatzstücken der europäischen Literaturen und steht somit selbst in der Tradition eines Kulturtransfers. Die deutsch-jüdischen Autoren faßten die iberisch-sephardischen Autoren in der arabischen und christlichen Mehrheitsgesellschaft genau in diesem Sinne auf. Bereits im 18. Jahrhundert wurden Konzepte einer Nationalliteratur entwickelt, die bei der Ausbildung eines bürgerlichen Selbstverständnisses entscheidenden Anteil nahmen. Herders Entwurf für eine Literaturtheorie forderte eine Nationalliteratur aus dem Bewusstsein der Spannung ästhetischer und politischer Perspektiven, klassischer und moderner Elemente und aus dem Wissen um die charakteristischen Eigenschaften einer nationalen Sprache. Diese sei, so Herder, in ihrer Literatur erkennbar, die nationale Verhältnisse, Impulse und Energien als spezifische Leistung ausdrückte. Vor allem seit den Befreiungskriegen und dem daraus hervorgehenden wachsenden Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert bezog sich der Begriff einer

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al. (Hg.): Literature and Translation. New Perspectives in Literary Studies. Leuven 1978. S. 117–127. Hier: S. 119. Steven E. Aschheim: German History and German Jewry: Boundaries, Junctions and Interdependence. In: LBI Yearbook XLIII (1998), S. 315-322. Hier: S. 319. Bronfen; Marius: Hybride Kulturen, in: Elisabeth Bronfen; Benjamin Marius; Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen, S. 1–29. Werner Suppanz: Transfer, Zirkulation, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen. In: Federico Celestini; Helga Mitterbauer (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kulturellen Transfers. Tübingen 2003 (= Stauffenburg Discussion. Studien zur Inter- und Multikultur. Bd. 22). S. 21–35. Hier: S. 26. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 151ff. 348

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Nationalliteratur auf das Verständnis einer Literatur, die in der „Muttersprache“ Wesenszüge eines unverwechselbaren und in diesem Verständnis typischen „Nationalcharakters“ ausgestaltete. Goethe erweiterte die vergleichsweise enge Perspektive einer Nationalliteratur um die Idee einer Weltliteratur. Nationalliteratur werde zur Weltliteratur, indem sie nach einem gegenseitigen Kennenlernen und Bezugnehmen die großen Aufgaben einer gemeinsamen Welt – d. h. das naturwissenschaftliche, gesellschaftliche und historische Wissen der Zeit – umfassend und formal erhellend darstelle, um gesellschaftlich zu wirken.273 Die verschiedenen Nationalliteraturen wirkten neben- und miteinander und könnten so Weltliteratur ausbilden. Goethes Einschätzung sollte sich jedoch in der deutschen Literatur nicht durchsetzen und es wurde insbesondere bereits vonseiten der Jungdeutschen abgelehnt.274 Dennoch nahm die sich im 19. Jahrhundert weiter ausgestaltende Nationalliteratur beständig Fragestellungen zu eigenen und fremden Anteilen an den so verstandenen Nationalliteraturen auf. Insbesondere die deutsch-jüdischen Literaturwissenschaftler betonten den Umstand, dass zahlreiche Juden im Verlauf des Mittelalters als Vermittler zwischen arabischer und klassischer Philosophie und auch zwischen der Scholastik und dem Judentum agiert hätten. Hilfreich war dabei der Umstand, dass sie sich der notwendigen Sprachen, besonders Arabisch und Latein, aber auch der romanischen Sprachen, bedienten. Die Ausdehnung des politischen Herrschaftsbereichs des Islam als kulturelles Phänomen teilte sich über die arabische Sprache mit, die zur Handels- und Kultursprache erhoben und von den hier lebenden Juden nicht nur angewandt, sondern meisterhaft beherrscht wurde. Die Invasion der Almoraviden im Jahr 1090 leitete das Ende des Goldenen Zeitalters der Juden ein, die Machtübernahme der Almohaden in den 1140er-Jahren zerstörte die gesellschaftliche Freizügigkeit. Am Ende des 14. Jahrhunderts wurden Juden im sich ausbreitenden christlichen Herrschaftsbereich zwangskonvertiert und die neue gesellschaftliche Schicht der Neuchristen brachte das Phänomen der Kryptojuden mit sich. Im Gegensatz zu Aschkenas, in dem Ju273 Im Gespräch mit Eckermann gab Goethe seinen Eindruck auf das kommende Zeitalter der Weltliteratur wieder: „Nationalliteratur will nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ (Gespräch mit Eckermann. 31. Januar 1827. In: Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Literatur. In: ders.: Werke. Hier: Bd. 12. Schriften zur Kunst und Literatur, Maximen und Reflexionen. München 1998. S. 362. Weitere Literatur hinsichtlich eines Konzepts von Weltliteratur vgl. Ernst Rober Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Bern 1948. Erich Auerbach: Philologie der Weltliteratur. O. o. 1948. 274 Walter Jens: Nationalliteratur und Weltliteratur – von Goethe aus gesehen. Essay. München 1988. S. 32. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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den und Christen Latein nicht als Verkehrssprache verwandten, benutzten Juden auf der Iberischen Halbinsel das Arabische im liturgischen und theologischen Zusammenhang.275 Diese Jahre wurden als eine Periode des Übergangs wahrgenommen. Es wäre jedoch zu einseitig, nur während der islamischen Periode eine literarisch produktive Zeit anzunehmen, denn auch während der Reconquista wurden Literatur und die schönen Künste auch von christlichen Herrschern gepflegt, wie sich herausragend am Beispiel Alphons X. dem Weisen (1252–1282) zeigen lässt. Während seiner Regentschaft existierte eine rege literarische Aktivität, die sich besonders auch an Übersetzungen in der Übersetzerschule von Toledo nachweisen lässt. Der Gedanke der Toleranz wird auch am einzig vollständig erhaltenen spanischen Epos, dem „Poema de Mio Cid“ sichtbar – entstanden etwa 50 Jahre nach den erzählten Ereignissen. Die Dichtkunst wurde zum gesellschaftlichen Kommunikationsmittel. Auch nach der Vertreibung 1492 lebte eine starke Identifizierung mit der „andalusischen Herkunft“,276 auch in den literarischen Manifestationen der Exilzeit fort. Am Beispiel von zwei deutsch-jüdischen Literaturhistorikern, Moritz Meyer Kayserling und Gustav Karpeles, soll nun verdeutlicht werden, in welcher Weise die Bedeutung der iberisch-sephardischen Kultur für ihre Überlegungen hinsichtlich des Konzeptes einer „Weltliteratur“ nutzbar gemacht wurde. Beide Literaturhistoriker verstanden die literarischen Arbeiten jüdischer Autoren als den gelungenen Versuch einer Vermittlung von jüdischen kulturellen Anteilen in die als allgemeingültig verstandene iberisch-sephardische Kultur. Der Beitrag von sephardischen Juden für die spanische Literatur wurde von Meyer Kayserling und Karpeles in Verbindung mit dem zeitgenössischen Beitrag von deutschen Juden an der deutschen Literatur gebracht. Anders als in Deutschland seien die sephardischen Juden jedoch vollständig von der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft als Vermittler anerkannt und gewürdigt worden. Meyer Kayserling und Karpeles erhofften sich, dass dies auch noch in Deutschland geschehen werde. Die schöngeistige Literatur nahm bei ihnen den Stellenwert eines Seismografen für die gesellschaftliche Integration ein.

275 “In the Middle Ages, Arabic speaking rabbis wrote their responsa on religious law, their books on Jewish theology, and certainly all books dealing with pure philosophical and scientific subjects in Arabic. In Islamic Spain, only secular and religious poetry or ornate prose were written in Hebrew.” (Raymond P. Scheindlin: Hebrew Poetry in Medieval Spain. In: Convivencia. Jews, Muslims, and Christian in Medieval Spain. Edited by Vivian B. Mann u. a. New York 1992. S. 35–59. Hier: S. 50). 276 Scheindlin: Hebrew Poetry, S. 51. 350

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Moritz Meyer Kayserling Moritz Meyer Kayserling wurde 1829 in Hannover als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren. Hier besuchte er das Gymnasium. In Halberstadt studierte er an der dortigen „Jeschiwa Gerson Josaphats“ Talmud und widmete sich weiteren rabbinischen Studien. Im Anschluss daran studierte Meyer Kayserling gemeinsam mit Samson Raphael Hirsch (1808–1888) in Nikolsburg, mit Salomon Juda Rapoport (1807– 1878) in Prag und mit Seligmann Bär Bamberger (1807–1878) in Würzburg an der damals größten Talmud-Schule Deutschlands. Erst nach diesen intensiven Studien der jüdischen Fächer belegte er die Universitäten in Würzburg und Berlin. In Berlin war er ein Schüler Leopold von Rankes. Unter dessen Förderung wandte er sich der Geschichte der spanischen Juden zu und erlernte auch die spanische Sprache. Als Ranke ihn jedoch zur Konversion zum Christentum bewegen wollte, zog Meyer Kayserling nach Halle, wo er eine Dissertation zum Thema „Moses Mendelssohns philosophische und religiöse Grundsätze mit Hinblick auf Lessing“ verfasste, auf der seine Mendelssohn-Biografie fußte.277 Sein 1859 erschienenes Werk „Sephardim. Romanische Poesien der Juden in Spanien“ und die 1861 publizierte „Geschichte der Juden“ in zwei Bänden waren neben einer Sammlung von Sprichwörtern der spanischen Juden, „Proverbia espanoles de los judios espanoles“, Meyer Kayserlings wichtigste Beiträge auf diesem Gebiet.278 Als Rabbiner von Budapest starb er 1905 und galt zu diesem Zeitpunkt als einer der wichtigsten Autoren zur iberisch-sephardischen Kultur. Seine Beiträge 277 Moritz Meyer Kayserling: Moses Mendelssohn. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1862. 278 Neben seinem Hauptwerk „Sephardim. Romanische Poesien der Juden in Spanien. Ein Beitrag zur Literatur und Geschichte der spanisch-portugiesischen Juden. Leipzig 1859, waren dies u. a.: Moritz Meyer Kayserling: Ein Feiertag in Madrid. Moritz Meyer Kayserling: Zur Geschichte der spanisch-portugiesischen Juden. Berlin 1859. Moritz Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Navarra, den Baskenländern und auf den Balearen oder Geschichte der Juden in Spanien. Berlin 1861. Moritz Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Portugal Berlin 1867. Moritz Meyer Kayserling: Refranos é Proverbios de los Judios Españoles. Budapest 1889. Moritz Meyer Kayserling: Biblioteca Española-Portugueza-Judaica. Dictionnaire Bibliographique Strasburg 1890. Moritz Meyer Kayserling: Die Jüdische Litteratur von Moses Mendelssohn bis auf die Gegenwart. Moritz Meyer Kayserling: Die Jüdische Litteratur seit Abschluss des Kanons. Treves 1896. Moritz Meyer Kayserling: Die Juden als Patrioten. Ein Vortrag. Berlin 1898. Moritz Meyer Kayserling: Die Juden von Toledo. Ein Vortrag Leipzig 1901. Moritz Meyer Kayserling: Isaak Aboab III. Sein Leben und Seine Dichtungen. Moritz Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Spanien und Portugal. Bd. 1. Erster Teil. Die Juden in Navarra, den Baskenländern und auf den Balearen. Repographische Darstellung der Ausgabe Berlin 1861 Hildesheim: Gerstenberg Verlag Hildesheim 1978. (engl. New York 1894, hebr. Warschau 1895). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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fanden in der „Jewish Encyclopedia“ auch in englischer Sprache Verbreitung. Sein Engagement für die Geschichte der Juden in Spanien wurde auch von spanischer Seite durch die Verleihung der Mitgliedschaft der königlichen Akademie zu Madrid gewürdigt. Meyer Kayserlings bedeutendes „Lehrbuch der jüdischen Geschichte und Literatur“ war sehr populär und erreichte in zehn Auflagen eine hohe Wirksamkeit, wobei er hier den den geistigen Errungenschaften der sephardischen Juden ebenfalls ein Denkmal setzte. Meyer Kayserlings Schaffen erreichte eine Bedeutung, die über die deutschsprachige Rezeption weit hinausging, indem sie selbst in die aktuelle spanische Politik bzw. in die Gedächtnisgeschichte spanischer Geschichte aktiv eingriff. Meyer Kayserling verfasste auf Veranlassung der spanischen Regierung die Schrift „Christoph Columbus und der Anteil der Juden an den spanischen und portugiesischen Entdeckungen“. Darin hob er den Umstand hervor, dass Juden an den Entdeckungen in der Neuen Welt maßgeblichen Anteil genommen hätten, was der aktiven und gestaltenden Rolle dieser jüdischen Entdecker im Dienste der spanischen Krone zusätzliche Bedeutung gab.279 Die politische Dimension seines Denkens und Handelns fand sich in Meyer Kayserlings grundlegendem Verständnis wieder, dass eine jüdische Literatur in der Vergangenheit fester Bestandteil der allgemeinen Literatur gewesen sei. Mit dieser Auffassung stand Meyer Kayserling in der Tradition der Wissenschaft des Judentums. Meyer Kayserlings bedeutende Abhandlung zur „Geschichte der Juden in Spanien“ trägt eine Widmung an Albert Cohn (1814–1877) in Paris. Cohn verwaltete dort die philanthropischen Werke Baron James de Rothschilds. Von 1845 bis 1847 unternahm Cohn Reisen nach Algerien und Tunesien und gründete Schulen in Bŏne, Constantine und in Jerusalem. Ein Empfang beim Sultan Abd al-Majid führte dazu, dass den Juden in der Türkei die gleiche Rechtsstellung wie den Christen eingeräumt wurde. Cohn war Mitglied des Zentralkomitees der „Alliance Israélite Universelle“ und Ritter der französischen Ehrenlegion. In der Widmung von Meyer Kayserling an Cohn heißt es: „[...] dass Sie wiederum den Gefahren einer Reise sich ausgesetzt haben, um unseren bedrängten Brüdern im Maroccanischen 279 Christoph Columbus und der Antheil der Juden an den spanischen und portugiesischen Entdeckungen: nach zum Teil ungedruckten Quellen / bearb. von Meyer Kayserling. Berlin: Cronbach, 1894. – VII, 162 S. Hier: S. XII. Vgl. zu diesem Gesichtspunkt exemplarisch Meyer Kayserling: Teilnahme von Juden an portugiesischen Entdeckungen. In: Jahrbuch für die Geschichte der Juden und des Judenthums. (= Schriften hg. vom Institute zur Förderung der israelitischen Literatur unter der Leitung von Ludwig Philippson, Isaak Markus Jost und Arthur Goldschmidt. Fünftes Jahr 1859–1860) Hier: 3. Bd. S. 305–317. Vgl. hierzu auch die englische Übersetzung: Christopher Columbus and the Participation of the Jews in the Spanish and Portuguese Discoveries. Berlin 1894. (New York 1894) 352

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Reiche Rettung und Hilfe zu schaffen. Schon sehen Sie Ihr unermüdliches Streben von den glücklichsten Erfolgen gekrönt: die Geschichte der Juden in Spanien, die seit nahezu vierhundert Jahren abgeschlossen ist, beginnt von Neuem und Ihr Name wird stets unter Denen in vordersten Reihen glänzen, welche durch Wort und Tat diesen Sieg herbeigeführt haben.“280 Das Handeln Cohns wurde von Meyer Kayserling ausdrücklich begrüßt und er stellte ihn als jüdischen Politiker, als modernen Shtatlan, vor. Auf der Grundlage der positiven Aufnahme seines 1859 erschienenen Sephardim-Buches sah sich Meyer Kayserling veranlasst, zur Fertigstellung des Werkes „Geschichte der Juden in Spanien und Portugal“ beizutragen. Sein Hauptgedanke, die Juden seien auch deshalb gesellschaftlich anerkannt und integriert gewesen, weil sie im engeren Austausch mit den Arabern gestanden hätten und eng mit den Herrschern verbunden gewesen seien, zieht sich wie eine Leitschnur durch die Darstellung.281 Allerdings seien die sephardischen Juden auch während der christlichen Herrschaft für eine lange Zeit gleichberechtigt gewesen. Meyer Kayserling machte dies an dem Umstand aus späterer Zeit deutlich, dass der Zweikampf zwischen Juden und Christen im 12. Jahrhundert eine verbreitete gesellschaftliche Interaktion dargestellt habe. Die Kämpfer auf christlicher und jüdischer Seite seien gleichberechtigt gewesen und kämpften mit identischen Waffen.282 Als besonderes Charakteristikum der Juden hob Meyer Kayserling deren Sittlichkeit hervor, was den Juden ermöglicht hätte, dem Klima der Zeit gegenüber immun zu bleiben. Er führte diesen Gedanken weiter, wenn er darauf aufmerksam machte, dass die jüdische Bevölkerung nicht abseits in al-Andalus gestanden habe, sondern stattdessen vollständig in diese Kultur integriert gewesen sei, wie sich besonders am Beispiel der Wissenschaft zeigte, in der Juden gemeinsam mit den Mauren tätig waren. So plädierte er im Vorwort zu seinem Buch „Sephardim“ für die seiner Ansicht nach

280 Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Spanien, S. VI–VII. 281 „Wie gestaltete sich damals die politische Lage der Juden Navarra’s? Das Verhältniss, in welchem die ersten Könige des Landes zu den Mauren standen, die häufigen Beziehungen, welche, freundlich und feindlich, zwischen ihnen obwalteten, die Stellung, welche die Juden unter den Chalifen einnahmen – hatte doch der jüdische Minister Chasdai ben Schaprut die Königin Tota von Navarra als Kriegsgefangene nach Cordova geführt – das lange Schwanken der Bevölkerung zwischen Katholizismus und Arianismus: Alles lässt uns vermuten, dass die Juden mit ihrer Stellung unter den ersten Königen zufrieden sein konnten. Die Nebel der Vermutung und der Ungewissheit, in denen die Geschichte bisher gehüllt war, schwinden mit dem Ende des zehnten Jahrhunderts und erst da betreten wir das lichtere, sichere Gebiet wirklicher Historie.“ (Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Spanien, S. 7). 282 Meyer Kayserling: Geschichte der Juden in Spanien, S. 67–69. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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notwendige Vereinigung von „Geschichte und Geschichten“283 und damit für eine Verbindung von Geschichte und Literatur: „Geschichte lässt sich ebenso wenig von Literatur trennen, wie Literatur von Geschichte: ein Grundsatz, welcher besonders von allen Historikern jüdischer Geschichte und Literatur beherzigt werden sollte.“284 Dieser weit verbreiteten Rezeption folgend konnten die iberisch-sephardischen Juden als Modell für eine moderne deutsch-jüdische Identität herangezogen werden. Die Vermischung inhaltlicher Ebenen und Bezüge, das Nebeneinander von historischer Wahrheit und fiktionaler Deutung, förderte eine Konstruktion der iberisch-sephardischen Erfahrung in vielfältiger Form. Der Aufbau dieser Konstruktion wird am Beispiel der Rezension des Buches „Sephardim“ von Zacharias Frankel (1801–1875), Begründer des konservativen Judentums, in der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ deutlicher. Hier beschrieb Frankel die besondere „Magie“ der iberisch-sephardischen Kultur in Worten: Deren Bewohner seien bedingt durch die positiven äußeren Bedingungen trotz aller Entbehrungen „ritterliche Gestalten“ und „Geistesriesen geblieben“ und deren Existenz werde nur von der biblischen Geschichte überstrahlt.285 Damit half Frankel selbst, diesen Mythos von al-Andalus auszugestalten. Darüber hinaus bezeichnete er die geografischen Bedingungen in Spanien als ideal, was dazu geführt habe, dass die jüdischen Bewohner auch gerade wegen der erlittenen Leiden „ritterlich“ und geistig hochstehend in Erscheinung treten konnten. Auch wenn Meyer Kayserling eine starke Idealisierung der iberisch-sephardischen Geschichte betrieb, war für ihn deren politischer Zustand immer von besonderer Bedeutung. Seine Darstellung war eng mit der Vorstellung einer von Juden und Nichtjuden gemeinsam getragenen Literatur verbunden. Am Schluss seines Vorwortes dankte Meyer Kayserling den noch lebenden spanischen Dichtern und Gelehrten, die sich durch ihre Teilhabe an der iberisch-sephardischen Literatur auch 283 Meyer Kayserling: Sephardim, S. VIII. 284 Meyer Kayserling: Sephardim, S. VIII. 285 „Es gibt außer der eigentlich biblischen Geschichte keinen Abschnitt in der wechselvollen Geschichte der Juden, der auf den Leser einen wichtigeren Reiz auszuüben im Stande wäre, der von vorne herein das lebhafteste Interesse erregte und im weiteren Verlaufe immer mehr steigerte, als das Capitel über die Schicksale der Juden auf der pyrenäischen Halbinsel. Das herrliche Land mit seinen Orangenhainen und dem ewig lachenden Himmel, die Bewohner, die bei all’ ihrem Unglücke und allen ihren Lastern doch echt ritterliche Gestalten bleiben, tragen nicht wenig dazu bei, einen fast magischen Einfluss auf den Beobachter auszuüben als in noch höherem Grade jene Geistesriesen, die dem Judentume dort erwuchsen und die Martyrerglorie, die seine jüdischen Bewohner für alle Zeiten umfließt.“ („Rezension zu Meyer Kayserlings Sephardim“. In: MGWJ, VIII (1859), S. 41–44, vermutlich vom Herausgeber der Zeitschrift, Zacharias Frankel, verfasst. Ebd. S. 41–42). 354

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an die allgemeine Kultur in Spanien erinnert hätten. Daran schloss sich die Erinnerung an die Verstorbenen an, die „meinen Brüdern und Glaubensgenossen des spanischen-portugiesischen Geschlechts“286 gewidmet war.287 Meyer Kayserlings Beitrag ist also nicht allein als Geschichtswerk oder Erinnerungsbuch zu begreifen, sondern stellte einen Bezug zur gegenwärtigen sephardischen Literatur und ihrer Vertreter her. Das erste Kapitel seines Buches trägt die Überschrift „Übersichtliche Geschichte der Juden in Spanien bis zum Tode Alphons XI“. Für Meyer Kayserling waren die Juden das „seit Urzeit her zum Wandern bestimmte Nomandenvolk“288, das in alle Teile der damals bekannten Welt drang. Auch wenn er vom eigentlichen Beginn der jüdischen Besiedlung der Iberischen Halbinsel mit der Zerstörung des jüdischen Staates im Jahre 70 ausging, vermutete er eine bereits früher erfolgte Ansiedlung. Diese Niederlassung war für ihn die erste jüdische Ansiedlung in Europa. Mit der Zerstörung des zweiten Tempels und des Verlustes der Eigenstaatlichkeit seien die Juden nach Spanien „verpflanzt“ worden.289

286 Meyer Kayserling: Sephardim, S. X. 287 „Dem Heimatslande der Dichter und Märtyrer, welche in dieser Schritt vorgeführt und ins Leben zurückgerufen werden, dem lieblichen Spanien und dem gesegneten Portugal mit ihren reichen Bibliotheken und zum Teil unbenutzten Schätzen, dem emsigen Pflegern der Literatur und Geschichte de los Rios, Gayangos, Pidal, Herculano u.a., so wie allen meinen Brüdern und Glaubensgenossen des spanisch-portugiesischen Geschechts sende ich zum Schlusse meinen Gruß!“ (Meyer Kayserling: Sephardim, S. X) 288 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 3. 289 „Nächst den beiden sich in der Weltherrschaft ablösenden Städten, Sparta und Rom, welche sich in den allerfrühesten Zeiten Abkömmlinge dieser orientalischen Familien in ihren Mauern als Gesandte oder vor den Triumpfwagen der stürmischen Welteroberung erblickten, war es in Europa besonders die hesperische Halbinsel, welche wohl zuerst Juden zu Einwohner hatte. Ob Salomo dorthin seinen Schatzmeister schickte, um Steuern zu erheben, wie ein mit jüdischer Inschrift versehener Inschrift es glauben machen will; ob zur Makkabäerzeit die Juden dort schon weilten, wie die erst jüngst in dem alten Tarracona aufgefundenen Münzen vermuten lassen und ob unter Herodes in Toledo schon eine jüdische Gemeinde sich gebildet hatte, welche in einem Briefe an den Hohenpriester Eleazar und den hohen Senat zu Jerusalem von der Kreuzzigung des Stifters der christlichen Religion abgeraten haben soll, – diese Fragen lassen wir hier unbeantwortet und begnügen uns mit dern Annahme, dass Titus, dass Hadrian die aus dem Vaterland verjagten Juden dorthin verpflanzten. Genug, als asiatische Flüchtlinge oder als von den römischen Verwüstern der heiligen Zionsstadt verbannte Colonisten fanden sie früh unter sich selten wölkenden Himmel Spaniens, in diesem, ihrer einstigen geliebten Heimat so ähnlichen Klima Ruhe und Erholung von ihrem Leiden.“ (Meyer Kayserling: Sephardim, S. 1–2). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Meyer Kayserling bezeichnete die Juden, die ihre Heimat verloren, als „asiatische Flüchtlinge“. Diesen Begriff verwendete bereits Dohm, um die diasporische Situation der Juden zu charakterisieren. Ferner stellte Meyer Kayserling eine Beziehung zwischen den ähnlichen klimatischen Verhältnissen in Palästina und Spanien her. Mit der Konversion des Gotenkönigs Reccared im Jahre 587 zum Katholizismus ging die Zeit der Toleranz zu Ende und Verfolgungen der Juden wurden fester Bestandteil des Lebens. Diese Jahre religiöser Intoleranz ließen staatliche Einheit in weite Ferne rücken. Meyer Kayserling verdeutlichte dies am Nichtvorhandensein einer Kultursprache in der Mehrheitsgesellschaft.290 Die Juden selbst seien aufgrund der nicht mehr existierenden Verbindung nach Palästina und Babylon und den dort bestehenden Lehranstalten von ihrer jüdischen Identität, ihrer Religion abgeschnitten worden.291 Als sich die Situation für die Mehrheit der Bevölkerung unter der Herrschaft der Westgoten zusehends verschlechterte, seien die Araber von eben dieser Mehrheit zur Hilfe gerufen worden, um der Herrschaft der Goten ein Ende zu setzen. Innerhalb weniger Jahre konnten die Araber ihre Herrschaft auf der gesamten Iberischen Halbinsel festigen und die Juden erlebten eine „neue Blütezeit.“292 Dies hing mit der kulturellen Nähe zwischen Juden und Arabern zusammen. Meyer Kayserling charakterisierte die Araber diesem Verständnis folgend als „stammverwandte Nation“293 der Juden. In den folgenden Jahren wurden die Araber nicht nur die „Väter der Unterdrückten, die Befreier ihrer geknechteten Stammesgenossen“, der Juden, sondern auch „die Lehrmeister der unterworfenen Völkerschaften“, einschließlich der Juden, deren „in der Knechtschaft eingeschlafenen Geist der geistestätigen Juden [sie] wieder erweckten.“294 Die Araber selbst gelten hier als ideale Vermittler, die es verstanden 290 „Ja die Sprache, das eigentliche Element des staatlichen Selbstbewusstseins, war ihnen als solche abhanden gekommen, und statt des schönen, kunst- und kraftvollen Latein, dieses alten Bindemittels der occidentalischen Völkerschaften, hatten sich einzelne barbarische Dialekte in den verschiedenen Gegenden der Halbinsel eingebürgert.“ (Meyer Kayserling: Sephardim, S. 2). 291 „Hatten die Juden der durch ihre natürliche Lage auf Abgeschlossenheit wirkenden hesperischen Halbinsel selbst die ihnen geheiligte Sprache des Stammlandes verlernt, ihre eigenes Gesetz nicht zu befolgen gewusst und nur noch den bloßen Rahmen ihrer Religion, die mit der Muttermilch eingesogene Liebe zum Judentume, jene Liebe bewahrt, die noch gern jedes Opfer willigt bringt. Auch ihr Culturleben war gleich dem der übrigen Völkerschaften gesunken und durch die Strenge der gegen sie decretierten Beschlüsse, die Grundpfeiler der feuerschnaubenden Inquisition, in Verfall geraten.“ (Meyer Kayserling: Sephardim, S. 3). 292 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 3. 293 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 3. 294 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 4. 356

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hätten, den Reichtum der eigenen Herkunft mit den Schätzen der eroberten Länder zusammenzuführen.295 Auch wenn Meyer Kayserling zugestand, dass die Araber zu Beginn ihrer Eroberung der Halbinsel noch ganz der Zerstörung von Kultur verschrieben gewesen seien, habe sich dies innerhalb eines Jahrhunderts gewandelt und die Araber seien Kulturmenschen geworden. „Dieses Nomadenvolk […] war nun von der leidenschaftlichsten Liebe zu Künsten und Wissenschaften ergriffen und hatte sich mit aller Kraft auf die Veredelung und Verpflanzung der Geistesprodukte geworfen.“296 Möglich sei dies vor allem dadurch geworden, weil eine Vielzahl von wissenschaftlichen Akademien mit umfangreichen Bibliotheken gegründet worden seien, die zudem dem öffentlichen Gebrauch offen gestanden hätten, „und das in einer Zeit, wo das übrige Europa in Finsternis, ohne Kultur, ohne Bildung, in der größten Unwissenheit lebte.“297 Dieser Gegensatz wurde im Verlauf seiner Literaturgeschichte immer wieder hervorgehoben. Auffällig ist jedoch der Umstand, den Meyer Kayserling der politischen Rolle der Juden zuwies. Er ging davon aus, dass die Juden „als Lohn für die den Arabern bei der Eroberung des Landes geleistete Hilfe [in] ihrem sie ganz beglückenden und beseligenden Glauben leben konnten.“298 Aufgrund dieser rechtlichen Sicherheit, verbunden mit der freien Religionsausübung, hätte sich auch eine geistige Offenheit gegenüber anderen kulturellen Einflüssen manifestiert. Die Juden „stürzten sich […] mit neuer jugendlicher Kraft auf die ihnen gereichten, geistigen Schätze, verarbeiteten sie selbstständig und machten sie zu ihrem Eigentum.“299 Diese Blütezeit zeichnete sich auch durch eine politische Rolle der Juden in den arabischen Herrschaftsbereichen aus. So wurde „Cordova erstürmt und den Juden zur Bewachung übergeben, Granada öffnete seine Tore und Toledos jüdische Bevölkerung jubelte dem sehnsuchtsvoll erwarteten Retter entgegen.“300 Dieser Wille der sephardischen Juden in Spanien, sich in die Mehrheitsgesellschaft einzubringen, machte es möglich „dieses jetzt von einer ganzen Kette innerer Kämpfe zerrissene Land zu einem Sitze ernster Forschung und hellen Denkens

295 „Sie waren ja die Inhaber der ältesten Schatzkammer menschlichen Wissens: das lächelnde Klein-Asien, die Wiege aller Poesie und aller Künste, gehorchte ihrem Zepter und die Meeresküste des durch den Gürtel der Glutzone von aller Verbindung abgeschlossenen Erdteils, die Heimat des feinsten Geistes und der ungestümsten Beredsamkeit war ihnen untertänig.” (Meyer Kayserling: Sephardim, S. 4.) 296 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 4. 297 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 4. 298 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 3–4. 299 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 5. 300 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 3. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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umgestalten“301 zu können. Am Ende dieser Entwicklung stand die Bewunderung Meyer Kayserlings für diese kulturellen Leistungen, wenn er aus der Perspektive des deutschen Juden in der Wir-Form schrieb: „Mit stets neuer Bewunderung und neuem Staunen betrachten wir die Leistungen der Juden aus dem spanisch-portugiesischen Geschlechte.“302 Dieser Anteil an der allgemeinen Kultur war für Meyer Kayserling nicht auf ein ausschließlich geistiges Gut beschränkt, sondern Bestandteil der politischen Geschichte, weil diese „Künste des Friedens“ das Land in den Wirren zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder zu einen verstanden hätten. Eine vermittelnde Funktion kam bei Meyer Kayserling besonders der neuhebräischen Literatur zu, die als „ein Verbindungsglied [zwischen] der maurischen und christlichen Literatur und Poesie“ fungiert habe und somit als „Verbindungsglied zweier feindlicher getrennter Völker“303 anzusehen sei. Auch das Studium des Talmuds gewann wieder mehr an Bedeutung – ein Umstand, den Meyer Kayserling nicht als positiv bezeichnete, spricht er an dieser Stelle doch davon, der Talmud sei wieder „durchgebrochen“, es habe sich „eine Pflanzstätte des jüdischen Lebens und Wissens gebildet“ und „ängstlich scharrte sich das jüdische Häuflein und das sie durch alle Zeiten und Stürme geführte Kleinod, ihr Gesetz.“304 Ungleich stärker als das Studium des Talmuds habe die arabische Philosophie auf die sephardischen Juden gewirkt und mit dazu beigetragen, herausragende kulturelle Zeugnisse hervorzubringen. Meyer Kayserling bezeichnet an dieser Stelle die Philosophie als „Geliebte“ der Juden: „Diese brennende Liebe zu einer dem Judentume fremden Pflanze hat der Wissenschaft herrliche Früchte gebracht und eine Zeit erzeugt, die einzig ihrer Art in der Geschichte der Juden dasteht.“305 Voraussetzung für eine kreative und schöpferische Literatur war die Verbindung mit der nicht jüdischen Gesellschaft. „Durch die Nähe der Araber, mit denen sie [die Juden, C. S.] wetteiferten, [wurden sie] stets zu tüchtigen Leistungen angetrieben.“306 301 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 6. 302 Moritz Meyer Kayserling: Thomas de Pinedo. Eine Biographie. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Unter Mitwirkung mehrerer Gelehrten. Zacharias Frankel (Hg.). 7. Jg. (1858). S. 191–202. Hier: S. 192. 303 Samuel Meklenburg: Rezension zu: Leopold Dukes: Moses ben Esra aus Granada. Darstellung seines Lebens und literarischen Wirkens, nebst hebräischen Beilagen und deutschen Übersetzungen. In: Israelitische Annalen. Ein Centralblatt für Geschichte, Literatur und Cultur der Israeliten aller Zeiten und Länder. Isaak Markus Jost (Hg.). Frankfurt/Main, Nr. 4, 24.1.1840, S. 63–64. Hier: S. 39. 304 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 5. 305 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 6. 306 Meyer Kayserling: Sephardim, S. X. 358

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Dieser Wettbewerb der Kulturen schuf eine Atmosphäre, die eine europäische Kulturtradition mitauszubilden half. Die sephardischen Juden seien als Pioniere einer allgemeinen Kultur in Erscheinung getreten, die ihren Ausgang in der arabisch dominierten Welt auf der Iberischen Halbinsel nahm, dann jedoch ins christliche Europa überwechselte, indem „die alten Klassiker wirksam in [den] lateinischen Schulen der Christenheit verbreitet“ wurden und „durch ihre Studien dem übrigen Europa im Allgemeinen genützt“307 hätten. Für Meyer Kayserling hatte genau dieser „jüdische Beitrag“ in die allgemeine Literatur es möglich gemacht, Jude zu bleiben und nicht zum Christentum zu konvertieren. Meyer Kayserling interpretierte in seinem Buch die von den sephardischen Juden getragene Kultur innerhalb der islamischen Mehrheitskultur als ausschlaggebend dafür, dass die Juden gesellschaftlich nicht isoliert gewesen seien. In Verbindung mit den Mauren seien sie in der Wissenschaft aktiv für die Friedenssicherung im Lande verantwortlich gewesen und konnten „dieses jetzt von einer ganzen Kette innerer Kämpfe zerrissene Land zu einem Sitze ernster Forschung und hellen Denkens umgestalten.“308 Kayserling versah die Juden somit mit einer aktiven, politischen Funktion. Durch die ihnen innewohnende Grandezza, einen italienischen Ausdruck für Größe, den auch Heinrich Graetz benutzte, hoben sich auch die ärmsten unter den sephardischen Juden immer von der christlichen Unterschicht ab. Dies zeigte sich besonders in dem Umstand, dass sie Regierungspositionen in moslemischen, aber auch in christlichen Staaten bekleiden konnten. Die herausragende Stellung erklärte Meyer Kayserling mit einer Verankerung in der allgemeinen Kultur, besonders jedoch mit der Fähigkeit, über eine eigene „jüdische“ Sprache zu verfügen, die – verglichen mit einer anderen jüdischen Sprache: dem Juden-Deutsch oder Jiddisch – einen höheren Stellenwert einnehme. In seinem Beitrag für die “Jewish Encyclopedia” aus dem Jahre 1906 schrieb Meyer Kayserling folgerichtig: “it must be remembered that Judeo-Spanish, or Ladino, is in no wise as corrupt a language as in the Judeo-German.”309 Damit steht Meyer Kayserling in der Tradition deutsch-jüdischer Autoren, beginnend in der Haskalah, die Jiddisch als Jargon und nicht als Kultursprache verstanden. Der Funktion von Sprache kam innerhalb der Vermittlung von Kultur eine entscheidende Funktion zu, wenn Meyer Kayserling an dieser Stelle davon ausging, die sephardischen Juden hätten ein reineres und ursprünglicheres 307 Isaak Markus Jost: Geschichte und Literatur der spanischen Juden. In: Israelitische Annalen. Nr. 27 vom 2.7.1841, S. 211–212. Hier: S. 211. 308 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 6. 309 Moritz Meyer Kayserling: Sephardim. In: The Jewish Encylopedia. Vol. XI. ND 1964. S. 197–199. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Hebräisch als die osteuropäischen Juden gesprochen. Meyer Kayserling verstand deren Verwendung der Sprache als einen Garanten dafür, sephardische Juden an unterschiedlichen europäischen Orten zu entdecken. Es sei ihnen überdies gelungen, ihre Grandezza auch unter ärmlichen Lebensumständen aufrechterhalten zu können: “This sense of dignity which the Sephardim possessed manifested itself in their general deportment and in their scrupulous attention to dress. Even those among them whose station in life was low, as, for example, the carriers in Salonika, or the sellers of the ‘pan de Espana’ in the streets of Smyrna, maintained the old Spanish Grandezza in spite of their poverty.”310 Meyer Kayserling definierte hier eine Würde auf Grundlage einer ethnischen Höherwertigkeit der sephardischen Juden, die in keinerlei Zusammenhang zu den äußeren ärmlichen Lebensbedingungen gestanden habe. Auch unter den christlichen Herrschern seien die Juden zu unentbehrlichen Vermittlern geworden. Obwohl sie von den „übelgesinnten Spaniern“311 gehasst wurden, hätten sie sich durch ihre Kenntnisse unentbehrlich gemacht. Sie seien die Einzigen gewesen, „welche sich auf dem Labyrinthe der Sprachen und Dialekte verstanden“,312 einschließlich der Kultursprache Arabisch, die auch unter christlichen Herrschern anfangs noch als eine solche verstanden wurde. Unter der Herrschaft Alfons  VI. (1040–1109) wurden Juden in herausgehobenen Stellungen als Schatzmeister und Leibarzt mit Privilegien versehen. Es wurde zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen, dass Juden wegen ihrer Kenntnisse in den Wissenschaften, der Medizin oder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Kontakte an den christlichen Höfen Stellungen einnahmen. Solange die Kriegshandlungen gegen die Moslems Bestand hatten, konnte sich auch keine Nationalliteratur auf Kastilisch ausbilden. Sobald jedoch das Land unter christlicher Herrschaft gestanden habe, hätten die Juden in der kastilischen Landessprache hervorragend als kulturelle Vermittler gewirkt.313 Die Stellung der Juden in Spanien verschlechterte sich jedoch nicht allein wegen des wachsenden religiösen Fanatismus aufseiten der Christen gegenüber den Juden. Erschwerend kam hinzu, dass die viele Besitzungen und Güter an Juden verpfändet wurden. Die christlichen Schuldner umgingen die Rückzahlung von Krediten da310 311 312 313

Meyer Kayserling: Sephardim. In: The Jewish Encylopedia. Vol. XI, S. 197. Meyer Kayserling, Sephardim, S. 7. Meyer Kayserling: Sephardim, S. 7. „In einer überraschenden Weise nahmen die Juden an der Ausbildung der castilianischen Sprache und der Begründung der spanischen Literatur in der Regierungszeit Alphons X., das astronomischen Königs, Teil und es ist nicht unwahrscheinlich, dass mehrere der dem Könige selbst zugeschriebenen Werke – wir nennen nur beispielhalber den Abriss der jüdischen Geschichte, die flores de Filosofia – von seinen gelehrten Juden verfasst worden sind.” (Meyer Kayserling: Sephardim, S. 11). 360

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durch, dass sie Ablass aus Rom erhielten. Auch wenn König Alfons XI. (1311–1350) sich gegen diese Praxis verwehrte, blieben die Juden Außenseiter in den christlichen Mehrheitsgesellschaften auf der Iberischen Halbinsel, wenn der König festhielt: „Ihr Reichtum beförderte ihren Sturz, ihren Ruin. Nur zu bald vergaßen sie, obwohl sie täglich und stündlich daran erinnert wurden, dass sie trotz ihrer sie anlächelnden Kisten und Kasten nur Geduldete, Knechte, Leibeigene der Könige wären. Ihr Luxus und, was gewöhnlich in seinem Gefolge ist, der Hochmut kannte keine Grenzen. Sie kleideten sich in Sammet und Seide gegen den hohen Befehl, ‚ihre Frauen gingen wie die Maulesel der Päpste’314 und durch den Glanz der goldnen Ketten, durch das Funkeln der ihren Busen bedeckenden Diamanten machten sie sich schon von fern bemerkbar; ihre Kinder wurden gleich Fürstenkindern im Fechten und Ringen unterrichtet, wiewohl vom Militärdienst sie als Juden ausgeschlossen blieben.“315

Auch sei in ihren Häusern immer Musik erklungen, wobei auch jüdische Sänger und Sängerinnen beteiligt gewesen seien. „Nirgends fehlte der Jude, allenthalben war er der erste, am Hofe der erste, in der Handelswelt und auf dem Markte der erste, an den öffentlichen Plätzen der erste, wo Vergnügen und Lust sich fand, war sicher auch der Jude zu finden.“316 Durch die zunehmende Verweltlichung der Juden seien diese von ihrer angestammten Religion mehr und mehr entfremdet worden und stattdessen habe sich Hochmut ausbreiten können. An die Stelle des Studiums der heiligen Schriften seien philosophische Betätigungen getreten. Es habe sich dabei jedoch nicht um wahrhaftige Wissenschaft gehandelt, sondern lediglich um „jenes schale Vernüfteln.“317 Denn die wahre Wissenschaft lasse sich sehr wohl mit der Religion vereinen. Diese fruchtbare Periode sei unwiederbringlich mit der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel abgeschlossen. Die Erfahrung der Vertreibung habe die Juden gleichermaßen von allen anderen Völkern weit abgehoben. „Solche Leiden wie das jüdische Volk hat anderes ertragen! Solche Wanderungen waren über keine andere Nationalität verhängt.“318 Die sephardischen Juden wiesen in Meyer Kayserlings Oeuvre allerdings keine hybriden Charakterzüge auf. Sie waren für ihn beides: religiöse Juden, die an der allgemeinen Kultur teilhatten und insbesondere in den Wissenschaften partizipierende Bürger eines Staates, der ihnen Schutz gewährte. Meyer Kayserling erwähnte nicht den Umstand, dass Juden natürlich keine rechtliche oder bürgerliche Gleich314 Der zitierte Teilsatz findet sich bei Salomo ibn Verga: Sefer Schevet Jehuda. Edition Wiener. Hannover 1856. S. 26. 315 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 15. 316 Meyer Kayserling: Sephardim: S. 15. 317 Meyer Kayserling: Sephardim: S. 16. 318 Meyer Kayserling: Sephardim: S. 109. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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stellung innehatten, wie es für die Juden in Deutschland ab 1871 der Fall war. Vielmehr waren sie in Spanien durch die Herrscher geschützt. Als Beleg für diese Lebensumstände wurden die vielfältigen literarischen Produktionen der sephardischen Juden herangezogen. Das Ende dieser allgemeinen Kultur begann mit der Ausbreitung der Inquisition. Meyer Kayserling brachte dieses Ereignis der spanischen Geschichte in Zusammenhang mit der Reformation in Deutschland. Während „an allen Enden Spaniens [...] die Flammen der Scheiterhaufen gen Himmel“ gestiegen seien, wurden „die Juden […] in corpore et in effige verbrannt“. Im selben Zeitraum seien „im deutschen Reich die unschuldigen Schriften des göttlich Werk vollbringenden Luther“319 ebenfalls verbrannt worden. Hier zog Meyer Kayserling eine Parallele zwischen der Inquisition in Spanien und der Gegenreformation in Deutschland, der die Schriften Luthers zum Opfer fielen. Wann immer die Religion zu dominant werde, komme es zu Exzessen gegen die Menschlichkeit. Luther war zumindest zu Beginn seiner Tätigkeit als Reformator daran interessiert, mit den Juden ins Gespräch zu kommen. Dies macht seine Abhandlung „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ aus dem Jahre 1523 deutlich. Dafür würde er auch von zeitgenössischen Juden in Deutschland geschätzt. Als sich die Juden jedoch der Konversion zum protestantischen Christentum verweigerten, wurde Luthers Ton schärfer und seine Haltung gegenüber den Juden war in den folgenden Auseinandersetzungen nicht mehr von Sympathie geprägt. Diese Kultur der Vermischung bestand ebenfalls, wenn auch unter anderen Vorzeichen, in den christlichen Ländern. Am Beispiel der Marranen im Spanien des 16. Jahrhunderts manifestierte Meyer Kayserling, dass Juden erst dann wieder an der Kultur teilhaben könnten, wenn sie sich wieder ganz als Juden begriffen und sich nicht etwa als Marranen eher dem christlichen Bekenntnis zuneigten. Auch dies ist eine Absage an die Assimilation und ein Plädoyer dafür, dem Judentum verbunden zu bleiben.320 Dieser Hinweis war auch mit Blick auf die jüdischen Leser im 19. Jahrhundert gedacht. Die Marranen hielten Kayserling zufolge die spanische Sprache und Literatur in höheren Ehren als es „spanische Autoren“ wie Lope de Vega (1562–1635) und Gongora taten. Meyer Kayserlings Buch war als eine Be-

319 Meyer Kayserling: Sephardim, S. 148–149. 320 „Der geheime, verkappte Jude sang nicht und dichtete nicht im Lande. Dichter und Sänger mussten den Wanderstab ergreifen und in anderen Gegenden ein Plätzchen für ihre Leier suchen. Hatten sie ihren Glauben wieder errungen, so nahm auch ihr Geist einen erhabenen Flug und herrliche Lieder strömten von ihren Lippen.“ (Meyer Kayserling: Sephardim, S. 153). 362

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kenntnisschrift verfasst, die aufzeigen sollte, „welche Stellung die Juden in dem poetischen Theile der spanischen Literatur einnehmen.“321 Als viele Marranen beschlossen, Spanien zu verlassen, um in den Niederlanden wieder ins Judentum zurückzukehren, d. h. ihre bestehende kryptojüdische Identität wieder in ein reines jüdisches Bekenntnis zu verwandeln, blieb ihnen der Verlust ob ihres „verlorenen Vaterlandes“322 auch im Exil stets gegenwärtig. Der Verlust der Heimat wurde durch die Dichtung kompensiert und „die Dichtung bot [ihnen] Trost, Ruhe und Erleichterung.“323 Auch nach dem Verlust der Heimat in Spanien konnten sich die sephardischen Juden insbesondere an den spanischen Dichtungen wieder aufrichten. Politischen Ersatz für die verlorene Heimat fanden die Marranen im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts besonders in der protestantischen Stadt Amsterdam. Hier fehlte es nicht „an Gelehrten, dem Schmuck jeder Gemeinde“, dabei hatten „Wissenschaft und Bildung [...] die Flüchtlinge mitgebracht“ und für Pflanzstätten der Wissenschaft hatten sie Sorge getragen.“324 Allerdings war dieser Sichtweise die zentrale Perspektive eingeschrieben, dass die Marranen ins Judentum zurückgekehrt seien. Außerdem beschränkte sich Meyer Kayserling nicht darauf, das Schicksal der Vertriebenen vorzustellen. Er wies vielmehr darauf hin, in welchem Maße Spanien durch die Vertreibung der Juden in ökonomischer und kultureller Hinsicht gelitten habe. Spanien „hatte seine Freiheit verloren, der allgemeine Vertreibung der Juden, die Einziehung ihres Vermögens war das Signal zur Ungerechtigkeit, zu unerlaubter Selbstsucht, zur Befriedigung der ungezügelsten Leidenschaften, zu Raub, Mord und Plünderung.“325 Die Vertreibung der Juden brachte Fremde ins Land, die an die Stelle der vertriebenen Juden traten. „Das ganze Mercantilwesen befand sich, seitdem die Juden das Land hatten räumen müssen, in den Händen der Fremden, denn die Spanier waren weder Handelsleute noch Fabrikanten, sie verstanden es nicht, die reichen Schätze, die aus der Neuen Welt ihnen zugeführt wurden, zu erhalten und dienten nur dazu, fremde Königreiche zu bereichern.“326 Das Gegenteil zu den Fremden sah Meyer Kayserling in den Juden, die er als Einheimische auffasste. Zentral ins Auge fällt bei ihm, dass Untersuchungen zum kulturellen Selbstverständnis der sephardischen Juden immer im Zusammenhang mit einer politischen Agenda gelesen wurden, die darauf abzielte, die Lebensbedingungen unter den Juden zu verbessern, nämlich 321 322 323 324 325 326

Meyer Kayserling: Sephardim, S. VII. Meyer Kayserling: Sephardim, S. 155. Meyer Kayserling: Sephardim, S. 155. Meyer Kayserling: Sephardim, S. 169. Meyer Kayserling: Sephardim, S. 149. Meyer Kayserling: Sephardim, S. 150. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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diese als Staatsbürger in die Gesellschaft zu integrieren. Als ein Beispiel nannte er die Marranen, die in den Niederlanden die Anwesenheit Karl V. im Land dazu nutzen wollten, ihn gegen eine Geldzahlung von 800.000 Goldtalern davon zu überzeugen, den Juden vor Ort Religionsfreiheit zu gewähren. Lediglich aufgrund der Intervention des Kardinals Ximinez sei der sich nicht abneigend zeigende Monarch von diesem Schritt abgehalten worden. Auch wenn sich eine Verbesserung des Status hier zerschlug, diente diese Darstellung Meyer Kayserlings doch dazu, den aktiven Willen der Juden zur Veränderung ihrer Situation zu illustrieren. Geschichte der Juden in Spanien im „Handbuch der jüdischen   Geschichte und Kultur“ Popularisierenden Handbüchern zur jüdischen Geschichte, die auch in jüdischen Lesehallen gelesen wurden, kam im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine immer größer werdende Rolle zu.327 In dem weit verbreiteten von Meyer Kayserling und Emmanuel Hecht (1821–1862) herausgegebenen „Handbuch der jüdischen Geschichte und Kultur“, das Hecht erstmals 1855 veröffentlichte328, wurden die Lebensbedingungen der Juden unter arabischer Herrschaft in Spanien ebenfalls als günstig interpretiert.329 Unter Bezugnahme auf die Geschichte der Juden in Spanien heißt es hier: „Glücklicher als in irgend einem Lande lebten die Juden in Spanien unter den maurischen Herrschern.“330 Damit verwies Meyer Kayserling auf ein Beispiel aus der Vergangenheit, um wiederum bei seinen Lesern Stolz auf die jüdische Geschichte zu vermitteln. Auch hier war die Botschaft deutlich formuliert: Juden waren unter 327 Roemer: Jewish Scholarship, S. 133–141. 328 Roemer: Jewish Scholarship, S. 192. 329 Meyer Kayserling benutzte so unterschiedliche Literatur wie Leopold Zunz: Die Synagogale Poesie des Mittelalters (1855), Zur Geschichte und Literatur (1845), Gustav Karpele: Die Zionsharfe (1889), D. Rosin: Reime und Gedichte des Abraham ibn Esra, S. Heller: Die echten hebräischen Melodien. David Kaufmann (Hg.) (1893–1887), David Cassel: Das Buch Kusari des Jehuda ha-Levi (²1869), U. Siach: Maimonides. Ein Beitrag zum jüdischen Geschichtsunterrichte an Mittelschulen (1900), ders.: Raschi. Ein Beitrag zum jüdischen Geschichtsunterrichte an Mittelschulen (1908), Max Wiener: Schebet Jehuda (1856) und Heinrich Graetz: Geschichte der Juden in vier Bänden (1908). 330 Handbuch der Jüdischen Geschichte und Literatur von der Zeit des Bibel-Abschlusses bis zur Gegenwart. Für Schüler jüdischer Lehranstalten, höherer Bürgerschulen und Gymnasien, für Familien und Schulbibliotheken. Ursprünglich von E. Hecht bearbeitet, seit der 3. Aufl. von Dr. Meyer Kayserling, 7. Aufl. Leipzig 1900, S. 73. 364

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nicht christlicher Herrschaft besser integriert als unter christlicher. Besonders die Art und Weise, wie die arabische Kultursprache als signifikanter Bestandteil ihrer Grandezza auch unter ärmlichen Bedingungen Verwendung fand, verlieh den Sprechern eine besondere Würde. Ein weiteres Kriterium für den Charakter der Sprache als das national einigende Bindeglied bestand für Meyer Kayserling in dem Umstand, dass – bezogen auf das Osmanische Reich – die Gepäckträger in Saloniki und die Straßenhändler in Smyrna gleichermaßen Ladino sprachen.331 Auch hier verstand Meyer Kayserling Ladino als jüdische Kultursprache und Lingua franca. Meyer Kayserling begann seine Darstellung der Geschichte der spanischen Juden mit der Herrschaft der Ostgoten. Währenddessen seien Juden wohlgelitten gewesen und ein Zwang der Konversion zum Christentum sei zu Zeiten Theoderich des Großen und seiner unmittelbaren Nachfolger nicht ausgeübt worden. Vielmehr sei es während dieser Zeit üblich gewesen, dass Juden und Ostgoten sich gemeinschaftlich gegen gemeinsame Feinde verteidigt hätten, wie dies beispielsweise im Jahre 536 gegen die Streitkräfte Justinians geschehen sei. Dabei hätten sich die Juden durch herausragende Tapferkeit ausgezeichnet, selbst als bereits weite Teile der Stadt in feindliche Hand gelangt sei.332 Die gute Stellung der Juden habe auch für das westgotische Spanien gegolten und ging sogar so weit, dass Christen die jüdischen Feiertage mitgefeiert hätten.333 Den Juden standen nicht nur alle Berufszweige offen und ihnen wurde Religionsfreiheit gewährt, Meyer Kayserling versah deren Status sogar mit den Schlagworten des 19. Jahrhunderts wie bürgerlicher und politischer Gleichheit. Diese gleichberechtigte Stellung sollte sich erst mit der zunehmenden Stärkung des Katholizismus ändern. Beginnend mit dem Konzil von Toledo im Jahre 590 sei „die Geistlichkeit zur Herrschaft gelangt und die Juden für unfähig erklärt worden, öffentliche Ämter zu bekleiden.“334 Diese religiös fundierte Intoleranz hatte zur Folge, 331 “This sense of dignity which the Sephardim possessed manifested itself in their general deportment and in their scrupulous attention to dress. Even those among them whose station in life was low, as, for example, the carriers in Salonika, or the sellers of the ‘pan de Espana’ in the streets of Smyrna, maintained the old Spanish Grandezza in spite of their poverty.” (Meyer Kayserling: Sephardim, in: Jewish Encylopaedia, Vol. XI, S. 197). 332 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 78. 333 „Hier wohnten die Juden seit Jahrhunderten in großer Anzahl als Ackerbauer, Handwerker und Kaufleute. Sie erfreuten sich allgemeiner Beliebtheit, so dass viele Christen ihre Feldfrüchte von den Juden einsegnen ließen, den Sabbat statt des Sonntags und das Pessachfest feierten. Unter den Westgoten lebten die Juden in glücklicher Ruhe; sie genossen bürgerliche und politische Gleichheit und völlige Religionsfreiheit.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 79). 334 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 79. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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dass Juden, sollten sie sich nicht bis Jahresende taufen lassen, zur Auswanderung gezwungen wurden.335 Wegen der intoleranten Behandlung der Juden unter der späteren westgotischen Herrschaft wurden die Araber von Meyer Kayserling als Befreier bezeichnet, denen die Juden nur dankbar sein konnten. Ihm ging es jedoch nicht darum, die Situation der Juden unter christlicher Herrschaft grundsätzlich als negativ zu charakterisieren. Es sei zwar richtig, dass die Juden in Aschkenas über eine sehr schlechte Bildung verfügt und weit hinter den Juden in Spanien und Italien zurückgelegen hätten. Im deutsch-fränkischen Reich sei ihre Stellung hingegen relativ gesichert gewesen und unterschiedliche Berufszweige, einschließlich des Handels und Ackerbaus, hätten ihnen offengestanden. Die politische Schwäche der Karolinger habe nach dem Tod Karls des Kahlen jedoch die Geistlichkeit in ihren judenfeindlichen Positionen gestärkt „und die Fürsten und das Volk zur Verfolgung angestachelt, so dass die Juden bald wie Leibeigene behandelt wurden.“336 Das genaue Gegenteil sei für die Geschicke der Juden auf der Iberischen Halbinsel vorzufinden gewesen. Die günstigen Bedingungen hier rührten von einer schützenden und toleranten Haltung der arabischen Herrscher und einem religiösen Selbstverständnis, welches das Judentum nicht als minderwertige Religion wahrnahm. Dies half gleichzeitig Kräfte zu bündeln und „als unter den Kalifen Kunst und Wissenschaft neu erblühten, nahmen die Juden, mit der arabischen Sprache vertraut, an allen wissenschaftlichen Bestrebungen eifrig Anteil und taten sich als Gelehrte und Staatsmänner hervor.“337 Die Tätigkeit der Juden sei auf beide Bereiche gleichermaßen verteilt gewesen und diese Interpretation Meyer Kayserlings gab ihrer politischen Funktion ein zusätzliches Gewicht. Sie zeigte die Juden nicht als passiv, sondern als aktiv im gesellschaftlichen Leben integriert. Dadurch drückte er implizit aus, was er sich auch von zeitgenössischen Juden wünschte: eine politisch aktive Rolle in der Gesellschaft. Eine besondere Bedeutung maß Meyer Kayserling der Rolle Chasdai ibn Schapruts (vermutlich 915–970) als politischer Vermittler bei. Eigentlich als Arzt bei Hofe tätig, wuchs Chasdai als Vorsitzender der Zollbehörde in Cordoba in die Rolle eines bedeutenden politischen Vermittlers. So pflegte Chasdai diplomatische 335 „Die Juden Spaniens wurden zu Sklaven gemacht, verschenkt und durch das Land verteilt, die Kinder unter sieben Jahren den Eltern entrissen und frommen Christen zur Erziehung übergeben. Es ist daher begreiflich, dass die Juden dem mohammedanischen Eroberer Tarik zujubelten (711) und ihn auf seinen Siegeszügen unterstützten; denn die Araber brachten den Juden Erlösung von jahrhundertelanger Knechtschaft.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 79). 336 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 80-81. 337 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 81. 366

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Beziehungen des Kalifats mit dem griechischen Ostrom, aber auch mit christlichen Herrschern in Spanien. Neben seiner politischen Tätigkeit betätigte sich Chasdai auch auf kulturellem Gebiet herausragend als Vermittler. „Bei dieser Gelegenheit förderte Chasdai die Wissenschaft, indem er ein medizinisches Werk, das der byzantinische Kaiser dem Kalifen zum Geschenk gemacht hatte, mit Hilfe eines griechischen Mönches ins Arabische übersetzte.“338 Als weiteren Aspekt führte Meyer Kayserling die Tätigkeit Chasdais als Vermittler und Berater jüdischer Gemeinden und Gemeinderepräsentanten an. Chasdai wirkte insofern als Befreier der Juden, indem er sie „von dem Abhängigkeitsverhältnis, in welchem sie zu Babylonien standen [befreite] und ermöglichte ihnen in talmudisch-wissenschaftlicher Beziehung Selbstständigkeit und freie Entwicklung.“339 Damit verwies Kayserling auf den Umstand, dass das islamische Spanien Babylon als geistiges Zentrum des Judentums ablöste. Diese bedeutende Veränderung führte in der Konsequenz durch die Zuwanderung von Studierenden nach Córdoba zu einem Transfer von Wissen, dieser blieb jedoch nicht auf jüdische Studenten beschränkt. „Aus ganz Spanien, wohl auch aus Afrika, strömten bald lernbegierige Jünglinge nach Córdoba, das allmählich ein zweites Sura wurde. Hier ging das Studium des Talmuds mit der allgemeinen Wissenschaft Hand in Hand.“340 Das Zentrum der Gelehrsamkeit im Judentum war demnach erfolgreich von Babylon nach Spanien gewandert und dadurch konnte sich die Iberische Halbinsel zum neuen geistigen Zentrum des Judentums entwickeln und die geistige Kontinuität im Judentum gewährleisten.341 Davon scharf getrennt hob sich die Zeit des christlichen Mittelalters ab – als religiöser Fanatismus zu wüten begann, der von Übel für die Situation der Juden war.342 Der Fanatismus der Priester sei insbesondere dafür verantwortlich, dass die Juden vom Rest der Gesellschaft abgesondert und dem Hass willkürlich preisgegeben wurden. Trotz dieser erschwerten Bedingungen sei es den Juden gelungen, als Vermittler von Kultur in Europa zentral in Erscheinung zu treten. Als Beweis für diese Annahme berief sich Meyer Kayserling auf die Schrift des christlichen deutschen 338 339 340 341

Meyer Kayserling: Handbuch, S. 81. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 82. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 83. „Spanien wurde nun nach Palästina und Babylon das klassische Land der jüdischen Wissenschaft, die sich hier zu ungeahnter Blüte entfaltete. Die jüdisch-spanische Glanzperiode beginnt mit Chasdai und erreicht in Maimonides ihren Höhepunkt.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 83). 342 „Die Zeit vom 11. bis zum 16. Jahrhundert ist die traurigste im Leben der Juden in den christlichen Staaten. Was menschlicher Aberglaube, Vorurteil und Glaubenswut, was der Fanatismus der Priester, die Barbarei der Fürsten und des Pöbels jemals an Verbrechen verübten, haben die Juden erdulden müssen.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 85). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Botanikers Jakob Mathias Schleiden (1804–1881) „Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter“, den er wie folgt zitierte: „Ganz Europa hat sein Mittelalter gehabt, eine Zeit der Rohheit, des geistigen und sittlichen Verfalls, wie er trauriger nicht gedacht werden kann, nur die Juden machten davon eine Ausnahme. Trotz Zerstreuung und Unterdrückung, die ihnen oft die einfachsten Bürgerrechte, ja selbst die Berechtigung zum Leben raubte, haben sie sich bis zum Ende des Mittelalters ununterbrochen in ihrem geistigen Leben fort entwickelt und den übrigen Völkern die Grundlagen der Sittlichkeit und des geistigen Lebens bewahrt und überliefert.“343

Damit interpretierte dieser bedeutende protestantische Wissenschaftler Juden als kulturelle Vermittler und Lehrer Europas und der Menschheit insgesamt. Mit dieser Einordnung konnte sich auch Meyer Kayserling identifizieren, verstand er doch die Lehren des Judentums als eine universale Botschaft. Die Juden hätten durch ihre kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen „an der Entwicklungsgeschichte der Menschheit“ entscheidenden Anteil genommen.344 Eine den Juden zugestandene „Liebe zur Wissenschaft war vereint mit Liebe zur Religion.“345 Und gerade durch diese kombinierte Liebe zum Judentum konnten unterschiedliche Gefahren während vieler Jahrhunderte überstanden werden. Herausragend war die Stellung der Juden zu Beginn der arabischen Herrschaft über die Iberische Halbinsel. „Glücklicher als in irgendeinem Lande lebten die Juden in Spanien unter den maurischen Herrschern, die neben großer Duldung, die stets Erzeugnis einer hohen geistigen Bildung ist, ein besonderes Mitgefühl für einen Volksstamm hatten, dessen reiner Monotheismus ihnen Bewunderung einflößte. Die Juden wurden im Genusse bürgerlicher Freiheit nur selten gestört und konnten darum mit Hingebung die Wissenschaften pflegen und eine staunenswerte Geistestätigkeit entfalten. Sie erforschten ihr eigenes Schrifttum, wendeten sich aber auch dem Studium der Philosophie mit Eifer zu.“346 Aufgrund ihrer Verdienste stiegen einzelne Juden in Spanien in den Staatsdienst auf. Den sephardischen Juden in Spanien gelang es, die Religion 343 Moritz Meyer Kayserling: Handbuch, S. 86. 344 „Die Juden haben das unendlich große Verdienst, den abendländischen Völkern die köstlichen Früchte alter Geisteskultur zugänglich gemacht zu haben; denn sie allein verstanden die Sprachen, in denen der Geist der Alten sich mitteilte. Den Juden verdankt das Abendland die ersten Kenntnisse der Philosophie, der Medizin, der Astronomie, der Grammatik und der heiligen Sprache. Der Anteil der Juden an der Kultur und an der Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist somit von hoher Bedeutung.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 86). 345 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 86. 346 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 86. 368

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und das Streben nach Bildung idealtypisch zusammenzuführen. „Ihr religiöses Leben wurde durch die Bildung verklärt: Echte Religiosität ging mit reichem Wissen Hand in Hand.“347 Meyer Kayserling sah zudem eine Analogie in Bezug auf die politische Existenz der Juden in Spanien und in Deutschland. Wie den Juden in Spanien wurde 1871 auch den Juden in Deutschland die bürgerliche Gleichstellung gewährt und so konnten auch sie sich wie zuvor die Sephardim in Spanien ganz der Wissenschaft und Kultur hingeben. Allerdings hätten die Deutschen für die Juden nicht so viel Bewunderung wie einst die Mauren gehegt. Es ist die Kombination von gelebter Religiosität und Streben nach säkularer Bildung, die die von Meyer Kayserling vorgestellten politischen und religiösen Persönlichkeiten auszeichneten. Die Wirksamkeit eines Salomo ibn Gabirol stellte er durch das Paradigma der Vermittlung seiner philosophischen Schriften in die nicht jüdische Welt vor. So sei Gabirols Hauptwerk „Mesor Chajim“ (Lebensquell) „in arabischer Sprache abgefasst und hat auf die mittelalterliche Philosophie einen bedeutenden Einfluss ausgeübt. Das Buch wurde unter dem Titel ‚fons vitae‘ ins Lateinische übertragen.“348 Meyer Kayserling begriff dieses Werk als einen Beitrag zur Weltliteratur. Neben seinen philosophischen Werken sei Gabirol jedoch auch ein „gottbegnadeter Dichter“349 gewesen, dessen religiöse Lieder und Gebete über den Tod hinaus nicht zuletzt durch die Übersetzungen ins Deutsche eine große Wirkung erzielt hätten.350 Auch der Dichter und Politiker Samuel ha-Nagid, auf Arabisch Samuel ibn Nagrela (993 – nach 1056), galt für Meyer Kayserling als der Inbegriff des Idealtypus eines gebildeten Juden. Negative Charakterzüge hob er immer dann hervor, wenn den Juden ihre Bescheidenheit im Auftreten abhanden kam. Der Sohn Samuel ha-Nagids, Joseph, habe in seiner Funktion als Wezir und Rabbiner ebenfalls über eine fundierte Kenntnis in den allgemeinen Wissenschaften verfügt und sei gelehrt gewesen, allerdings hätten ihn seine persönlichen Verhaltensweisen disqualifiziert. „Durch sein herrschsüchtiges Benehmen und seine Prachtliebe erregte er den Hass der maurischen Bevölkerung, der sich bald zu offener Feindschaft und Empörung steigerte.“351 Diese Empörung gipfelte in der Ermordung Josephs und der gesamten 1500 Familien zählenden jüdischen Gemeinde zu Granada im Jahre 1066. „Das Gemetzel in Granada war seit der Herrschaft des Islam die erste Judenverfolgung auf

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Meyer Kayserling: Handbuch, S. 87. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 89. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 89. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 89. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 88. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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der pyrenäischen Halbinsel“352 und wurde durch das ungebührliche Auftreten und Verhalten Josephs ausgelöst. Mit diesem Beispiel drückte Meyer Kayserling die Notwendigkeit der Zurückhaltung der Juden innerhalb der Gesellschaft aus. Mit der spätestens im Verlauf des 13. Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel sinkenden Macht des Islam gestaltete sich auch die Stellung der Juden als nicht mehr ganz unangefochten. Als der kastilische König Alfonso der Große die „der Sage nach von Juden gegründete Stadt Toledo“353 zu seiner Hauptstadt machte, wählte er trotz päpstlichem Verbot jüdische Berater und Diplomaten und die Juden genossen auch weiterhin „alle bürgerlichen Rechte.“354 In diese Situation der sich festigenden christlichen Macht wurde „der gefeierte Liebling der Nation“,355 Jehuda haLevi, hineingeboren. Meyer Kayserling nahm eine Charakterisierung ha-Levis vor, die ihn als Vertreter der jüdischen und der spanischen Nation einführte. Er war für Meyer Kayserling der außerordentlichste „unter den spanischen Dichtern“356 Sein Bildungshintergrund wurde ähnlich umfassend wie bei den anderen bereits vorgestellten Persönlichkeiten des sephardischen Judentums auf der Iberischen Halbinsel vorgestellt und setzte sich auch bei ihm aus religiösen und weltlichen Versatzstücken zusammen. „In der Alfasis trieb er talmudische Studien, befasste sich aber auch mit Philosophie, Mathematik, Astronomie und Naturwissenschaften. Er beherrschte meisterhaft die arabische, die castilische und die hebräische Sprache. Von Beruf war er Arzt und war mit Glücksgütern reich gesegnet.“357 Der religiöse Dichter habe in seinen „Zioniden“ der Zionssehnsucht Ausdruck verliehen und seine religiösen Lieder seien Bestandteil des jüdischen Ritus geworden. In seinem religionsphilosophischem Werk etwa um 1140 entstandenen „Kusari“ habe er das Judentum auf eine geschichtliche Grundlage und gleichzeitig die Religion über die Philosophie gestellt. Dieses Werk verstand Meyer Kayserling als „eines der bedeutendsten Bücher der mittelalterlichen Literatur“358, das die Bekehrung der Chazaren zum Judentum thematisiert. Es habe zudem die Botschaft der Zerstreuung Israels unter die Völker kundgetan, „damit es überallhin die reine Gotteserkenntnis verbreite.“359 Wichtig sei dieses Werk zudem für das gesamte Mittelalter geworden. Es wurde in zahlreiche

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Meyer Kayserling: Handbuch, S. 88. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 90. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 90. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 90. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 90. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 90. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 91. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 91. 370

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Sprachen übersetzt und erfüllte dabei auch den Charakter eines originär jüdischen Beitrags zur Weltliteratur. Meyer Kayserling vertrat jedoch auch entschieden die These, dass, wenn immer die Religion sich radikalisierte, die Juden die ersten Leidtragenden waren. Aufgrund der Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 wurden Juden im christlichen Mittelalter gesellschaftlich ausgeschlossen und zum Tragen einer besonderen Kennzeichnung, dem so genannten Judenfleck, verpflichtet. Die religiöse Radikalisierung der Christen machte auch vor der öffentlichen Verbrennung des Talmuds in Gegenwart weltlicher christlicher Herrscher nicht halt.360 Eine Reaktion auf diese zunehmende Ausgrenzung und Gewalt durch die christliche Mehrheitsgesellschaft stellte auch für ihn die Ausbreitung der Kabbala bei den Juden dar. Die Beschäftigung mit mystischen Texten war für Meyer Kayserling, genau wie bei vielen Vertretern der Wissenschaft des Judentums, nicht mit den Idealen eines Golden Zeitalters in Spanien, basierend auf den Fundamenten rationaler Philosophie, in Einklang zu bringen. Die Hinwendung zum Talmudstudium und der Auseinandersetzung mit mysthischen Texten sei nur zustande gekommen, wenn sich die Gewalt gegen die Juden richtete. Trotz der sich auch in Spanien im Verlauf des 13. und 14. Jahrhunderts verschlechternden Situation waren die Lebensbedingungen der iberischen Juden im Vergleich zur Situation der Juden in Aschkenas noch gesichert.361 Dies sollte sich jedoch zum Ende des 14. Jahrhunderts ändern. Bis zu diesem Zeitpunkt schätzte Meyer Kayserling die Situation der Juden mit dem Wort „erträglich“362 ein, insbesondere weil die Juden von den christlichen Herrschern in der Finanzadministration als „Schatzmeister und Steuereinnehmer verwendet“ wurden.363 Zudem seien die Juden überwiegend von höchster Stelle im kastilischen Staatsrat geschützt worden, so beispielsweise durch den Erzbischof von Toledo, mit der Begründung, dass die Juden dem Staat immer nur Nutzen gebracht hätten.364 Diese Ämter allein seien nicht dafür verantwortlich gewesen, dass sich der Hass gegenüber den Juden vonseiten der christlichen Bevölkerung verstärkt habe. Vielmehr habe es sich so ver-

360 „Die Lage der Juden in den christlichen Ländern war nämlich seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts ungünstiger geworden.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 101). 361 „Trotz der wachsenden Macht der Geistlichkeit und mancher gesetzlichen Beschränkungen war die Lage der Juden in Spanien im Vergleich zu der in anderen Ländern noch immer eine glückliche zu nennen. Man vertraute ihnen wichtige Ämter an, sie waren Schatzmeister und Leibärzte und hatten infolge ihrer Bildung, ihres Reichtums und ihrer Anzahl großen Einfluss.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 105–106). 362 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 107. 363 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 107. 364 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 107. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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halten, dass die Juden selbst „durch ihren Aufwand und durch ihr stolzes Benehmen den Hass des Volkes […] erregten.“365 Dieses Schutzverhältnis erläuterte Meyer Kayserling bezogen auf die Herrschaft Don Pedros (1350–1369) über Kastilien. Dieser wird in der Historiografie gemeinhin als ein tyranischer und grausamer Herrscher interpretiert. Meyer Kayserling hob jedoch dessen freundliche Haltung gegenüber den Juden positiv hervor. Aufgrund seiner Intervention habe sich die Situation grundlegend zum Positiven verändert und die Juden hätten als Vermittler zwischen der Krone und der jüdischen Gemeinde vielfältig tätig werden können. Als Beispiel gibt er Samuel Halewi Abulafia (1320–1360) als Schatzmeister auch ein enger Vertrauter des Königs und setzte seine Stellung für das Wohl der jüdischen Gemeinde ein.366 Während des Bürgerkriegs zwischen Don Pedro und seinem Halbbruder hätten die Juden loyal zu Don Pedro gestanden, nach dessen Tod verschlechterte sich ihre Situation nach und nach. Sie wurden jedoch weiterhin als nützlich für das Staatswesen erachtet, so dass sie zwar finanziell ausgebeutet, aber noch immer unter königlichen Schutz gestellt wurden.367 Dies führte gleichzeitig zu einer zunehmenden Ausgrenzung der Juden und wachsendem Hass ihnen gegeüber. „Die von ihm [d. h. Don Pedros Nachfolger] ernannten jüdischen Steuerpächter waren aber beim Volk verhasst, so dass die Cortes (1371) die Juden nicht allein von allen öffentlichen Ämtern ausschlossen, sondern sie auch in eigene Judenviertel verwiesen und zwangen, das entehrende Abzeichen zu tragen.“368 Erschwerend „zu diesen Erniedrigungen kamen noch die Religionsdisputationen“369 hinzu. Ausgewiesene Judenfeinde wie der Konvertit Abner aus Burgos hätten dabei ihre Kenntnisse „im jüdischen Schrifttum und in der jüdisch-arabischen Philosophie“370 gegen die Juden benutzt. Diese graduelle Ausgrenzung der Juden, verbunden mit einem zunehmenden Judenhass in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, ermöglichte die Ereignisse von 1391, die Meyer Kayserling als „das verhängnisvollste [Ereignis] in der Geschichte der Juden in Spanien“371 einordnete. Das nahende Ende des Gol365 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 107. 366 „Er verwendete seine großen Reichtümer zum Wohle seiner Glaubensgenossen, baute Gotteshäuser in verschiedenen Gemeinden und 1357 eine besonders schöne Synagoge in Toledo, welche später mehrere Jahrhunderte als Kirche (des Transito) benutzt wurde und jetzt als Nationaldenkmal eine Zierde der verfallenen Stadt bildet.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 108). 367 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 108. 368 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 108. 369 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 108. 370 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 107. 371 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 108. 372

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denen Zeitalters habe sich dadurch gezeigt, dass die Juden den Massen schutzlos ausgeliefert waren, die von „fanatischen Geistlichen“ angefeuert wurden.372 Was in Sevilla seinen Ausgang genommen hatte, breitete sich über ganz Spanien aus. Die Juden wurden ermordet, andere traten mehr zum Schein zum Christentum über und wurden deshalb von den Christen argwöhnisch beäugt. Meyer Kayserling beobachtete zwei Möglichkeiten, sich als Neuchrist zu verhalten: das Christentum nur dem Schein nach anzunehmen und durch die Einheirat in die altchristlichen Familien gesellschaftlich aufzusteigen. Oder sich von der alten Religion abzugrenzen und mit der christlichen Religion nicht nur der Form nach zu verschmelzen. Diese Entwicklungen und der Machtzuwachs des Klerus führten schließlich 1413–1414 zur Religionsdisputation in Tortosa. Hier traten niedrige Kleriker wie Vinzenz Ferrer an herausragender Stelle für die Bekehrung der Juden an. Ferrer sei es im Wesentlichen darum gegangen, die Juden zu demütigen, sie in Ghettos auszugrenzen, die Berufswahl zu beschränken und ihnen besondere Kleidung und ein Judenabzeichen zur Kenntlichmachung zu verordnen.373

372 „Während der Krönungsfeierlichkeiten für den neuen König ließ ein jüdischer Gerichtshof den bei den Christen sehr beliebten jüdischen Obersteuerpächter, der gegen seine jüdischen Feinde eine schwere Anklage erhoben hatte, als Angeber und Malsin (Verräter) verurteilen und enthaupten. Nichts war bei den Juden von jeher verächtlicher und strafwürdiger als Angeberei und Verrat. Der König hatte das Todesurteil bestätigt, ohne die Sache näher zu untersuchen und war später darüber derart erregt, dass er die Vollstrecker des Urteils hinrichten ließ und den Juden die peinliche Gerichtsbarkeit für immer entzog. Durch diesen Vorgang fand der Hass gegen die Juden neue Nahrung. Er wurde noch geschürt durch einen fanatischen Geistlichen, der seit mehreren Jahren die Juden zur Zielscheibe seines Hasses gemacht hatte. Er eiferte fortwährend das Volk an, die Synagogen zu zerstören und die Juden zu vertreiben. Die im März 1391 in Sevilla ausgebrochene Judenfrage wurde durch das Einschreiten der bewaffneten Macht unterdrückt; desto schrecklicher war die Verfolgung drei Monate später. Im Juni stürzte sich die mord- und raubgierige Bevölkerung Sevillas auf die Juden und vernichtete die ganze große Gemeinde; die meisten wurden getötet, die übrig gebliebenen zur Taufe gezwungen. Die zahlreichen Synagogen Sevillas wurden zerstört oder in Kirchen verwandelt.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 108–109). 373 „Eine starke, bewaffnete Mannschaft stand ihm bei seiner Judenbekehrung hilfreich zur Seite. Um die glaubensstarken Juden zu demütigen und sie zur Annahme des Christentums zu veranlassen, setzte er es durch, dass im Januar 1412 ein Gesetz erlassen wurde, wonach die Juden ausschließlich in Judengassen wohnten, keinerlei Handwerk treiben, keine ärztliche Praxis ausüben, überhaupt mit keinem Christen in geschäftliche Beziehung treten durften. Sie sollten lange Kleider von grobem Stoffe und das Judenabzeichen tragen und durften bei Verlust des Vermögens und der persönlichen Freiheit Spanien nicht verlassen.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 111). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Die in Spanien anlaufenden erfolgreichen Aktionen zur Bekehrung der Juden ermunterten Papst Benedikt XIII. darin, die Konversion der Juden zum zentralen Ziel seiner Politik zu machen. Obwohl er letztendlich abgesetzt wurde und Ferrers Initiativen vom Konzil in Konstanz verdammt wurden, zeigte sich doch die Empfänglichkeit für den Judenhass in Spanien. Auch wenn die Einführung der Inquisition auf starken Widerstand bei der Bevölkerung in Aragonien, Katalonien und Valencia stieß, wuchs diese unter Thomas de Torquemada seit dessen Ernennung zum Großinquisitor im Jahre 1484 zu einer großen Kampagne an, auf deren Autodafé zahlreiche Neuchristen ihr Leben ließen. „Nach wenigen Jahren loderten in ganz Spanien die Scheiterhaufen, auf denen Tausende von Marranen ihren Geist aufgaben.“374 Meyer Kayserling nahm auf den Umstand Bezug, dass die Inquisition von den katholischen Herrschern unterstützt wurde. Die Herrscher seien jedoch auch mit dem Vertreter der jüdischen Gemeinde Isaak Abravanel verbunden gewesen. Meyer Kayserling interpretierte Abravanel als umfassend gebildet, bereits in der Jugend studierte er die jüdischen und arabischen Philosophen, trat aber auch mit theologischen Schriften in Erscheinung. Erneut war es diese Wunschfolie einer gelehrten Persönlichkeit, die religiös und säkular gebildet war und damit als Ideal für die deutschen Juden herangezogen werden konnte. Ebenso wichtig war für Meyer Kayserling die Bedeutung, die Abravanel als Staatsmann zukam. So erregte Abravanel die Aufmerksamkeit von König Alfons V. von Portugal und wurde zum Schatzmeister in Portugal ernannt. Hier habe er sich des Schutzes des Königs erfreut, der auch den Juden wohlwollend gegenüber gestanden habe und im Palast Abravanels ein und ausgegangen sei. Der Funktion Abravanels als politischer Vermittler und mächtiger Fürsprecher der Juden wurde hier besonders Gewicht verliehen.375 Die Aussage Meyer Kayserlings ist hier deutlich auch mit dem Blick auf künftige Ereignisse formuliert: Nur wenn die Juden selbstbewusst auftreten, könnten sie etwas für die Schwächeren in der jüdischen und in der allgemeinen Gesellschaft bewirken. Dieses Schutzverhältnis gründete auf Gegenseitigkeit, denn auch der König schien sich an der Gegenwart Abravanels zu erfreuen. Meyer Kayserling hob die Verdienste hervor, die sich Abravanel um in Not geratene Juden erworben und die 374 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 113. 375 „‚Friedlich lebte ich in meinem ererbten Hause im gepriesenen Lissabon, daselbst hatte mir Gott Segen, Reichtum und Ehren gegeben. Ich hatte mir große Bauten und weite Säle angelegt. Mein Haus war ein Mittelpunkt für Gelehrte und Weise. Ich war beliebt im Palaste Alfonsos, eines mächtigen und gerechten Königs, unter dem auch die Juden Freiheit und Wohlstand genossen. Ich stand ihm nah, er verließ sich auf mich, und so lange er lebte, ging ich in seinem Palaste aus und ein.‘“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 114). 374

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er aus der Sklaverei gekauft habe.376 Damit stellte Meyer Kayserling Abravanel in eine Reihe mit anderen Shtatlan. Wie so häufig im Verlauf der mittelalterlichen jüdischen Geschichte verlor auch er nach dem Tode seines königlichen Herrn, König Alfonsos 1481, den königlichen Schutz und musste nach Kastilien flüchten, zudem wurde sein ganzes Vermögen von der portugiesischen Krone eingezogen. Diese Tatsache offenbarte einmal mehr die unsichere Rechtssituation der Juden, die nur durch eine grundsätzliche rechtliche Gleichstellung gesichert werden konnte. In Spanien angekommen, machte sich Abravanel sogleich an die Arbeit und wollte einen Kommentar zum Buch der Könige anfertigen. Aus diesem Gelehrtendasein wurde er jedoch durch die neue politische Aufgabe, königlicher Steuerpächter zu werden, herausgerissen. Diese Tätigkeit übte er von 1484 bis 1492 aus, bis das Vertreibungsedikt einen solchen Dienst unmöglich machte. Nach der Eroberung Granadas wurden alle Juden angehalten, binnen vier Monaten Spanien zu verlassen. Abravanel versuchte beim König zu intervenieren, dieser schien auch geneigt, dem Bitten nachzugeben, nur durch den Druck des Großinquisitors Torquemada blieb es bei dem Vertreibungsedikt. In der Darstellung Meyer Kayserlings war es also einmal mehr religiöser Fanatismus, ausgedrückt durch den höchsten Vertreter der Inquisition, der den weiteren Verbleib der Juden unmöglich machte. Die Vertreibung brachte jedoch einmal mehr die wahren Charakterzüge des Judentums zur Geltung. So blieben die Juden trotz des vollständigen Verlustes ihres Besitzes und ihrer „lieb gewonnenen Heimat“377 ihrem Glauben treu. Sie „bewährten sich als Glaubenshelden. Nur wenige bekannten sich aus schnöder Geld- oder Ehrsucht zum Christentum.“378 Die Vertreibung sah Kayserling zufolge am 2. August 1492 300.000 Juden das Land verlassen, am Tag darauf brach Columbus zu seiner Reise in die Neue Welt auf. Diesen hoffnungsvollen Strang der Geschichte bezog Meyer Kayserling auch auf die Lebensgeschichte Abravanels. Dieser war zwar gezwungen, häufiger den Wohnort zu verlassen und die Heimat aufzugeben, ihm wurde jedoch das Verdienst zuteil, sich als Politiker für die Geschicke der Juden eingesetzt zu haben, was ihn als Shtatlan und als „furchtbaren Schriftsteller“379 wirken ließ. Er galt diesem Verständnis folgend auch als Vermittler von jüdischem Wissen ins lateinische Mittelalter, weil er christliche Autoren für seinen Bibelkommentar heranzogen habe, so wie auch christliche Wissenschaftler ihn zahlreich rezipierten und ins Lateinische übersetzten hätten. Damit zählte auch Abravanel zu einem Vertreter, der Weltliteratur geschaffen habe. 376 377 378 379

Meyer Kayserling: Handbuch, S. 114. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 114. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 115. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 115. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Von grundsätzlicher Bedeutung in Meyer Kayserlings Deutung dieser Ereignisse ist jedoch der Umstand, der die zunehmende Tendenz zur Assimilation unter den Juden die Ablehnung durch die Christen nur verstärkt habe, die sich am zur Schau gestellten „Reichtum“ und der angenommenen „Verschwendungssucht“ der Juden aufgerieben hätten.380 Er verwies auf die herrschende „Gleichgültigkeit“ unter den Juden gegenüber der jüdischen Religion, die zu einem Verlust des religiösen und sittlichen Anstandes geführt habe381 und das Judentum von innen ausgehöhlt habe. Darauf aufbauend sei es ein leichtes für die christlichen Geistlichen gewesen, das Volk mit hasserfüllten Ideologien zu manipulieren. Als nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 etwa 120.000 Juden nach Portugal kamen, „forderte das von den Geistlichen fanatisierte Volk ungestüm die schleunige Entfernung der Eingewanderten.“382 Die Situation stellte sich auch in Portugal nicht grundsätzlich anders dar. Hier waren die Juden erst seit dem 12. Jahrhundert ansässig geworden. Auch hier existierte eine enge Bindung der Juden zum Monarchen. So wurde das Amt des Oberrabbiners zentral vom Königshof eingesetzt. Die Juden hingegen arbeiteten in ganz unterschiedlichen Berufszweigen. Die „Juden beschäftigten sich mit Wein- und Landbau, betrieben die verschiedensten Handwerke und einen ausgebreiteten Handel mit Waren und Handelsprodukten.“383 Doch seien sie von den Christen „gesellschaftlich getrennt“384 und auch einer drückenden Steuerlast ausgesetzt gewesen. „Trotz dieser drückenden Steuern hatten die Juden Portugals allen Grund, mit ihrer Lage zufrieden zu sein. Sie wurden von den Königen geschützt und auch im Staatsdienste verwendet.“385 Diese Sonderstellung führte schließlich fast zur Gleichstellung mit den Christen und zum Bekleiden öffentlicher Ämter. Dennoch machten die judenfeindlichen Verfolgungen auch vor den Juden in Portugal nicht Halt. Es kam auch hier zu massiven Verfolgungen, an deren Ende sich kein Jude mehr in Por-

380 „Am meisten erregte der Reichtum und die Verschwendungssucht der Juden den Neid und den Hass des Volkes, der besonders von der Mitte des 15. Jahrhunderts an in den CortesVersammlungen lauten Widerhall fand.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 116). 381 „Diese bevorzugte Stellung übe aber auf ihr religiöses und sittliches Verhalten einen sehr ungünstigen Einfluss aus. Die Sabbate und Feste wurden nicht mehr allgemein gefeiert, in den Synagogen herrschte Unordnung, die Reichen waren stolz und herzlos und standen der Religion und den jüdischen Gelehrten gleichgültig gegenüber.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 116). 382 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 117. 383 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 116. 384 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 116. 385 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 116. 376

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tugal aufhielt. Als die Inquisition in Portugal schließlich im Jahre 1536 eingeführt wurde, richtete sie sich in erster Linie gegen die dort lebenden Neuchristen. Anders als im durch den Katholizismus dominierten Spanien und Portugal zeichneten sich jedoch auch Staaten aus, die den vertriebenen sephardischen Juden wohlgesonnen waren.386 So bot ihnen das Osmanische Reich eine sichere Heimat. „Die freundliche Aufnahme fanden die spanischen Exulanten in der Türkei, wo die Sultane ihnen gerne ein Asyl und mancherlei Freiheiten einräumten.“387 Meyer Kayserling verstand die Juden als Teil der spanischen Nation, die er als „spanische Exulanten“388 bezeichnete und die diese Zugehörigkeit auch noch im Exil pflegten. Im Osmanischen Reich sei ihnen freie Religionsausübung bewilligt worden und die Juden organisierten sich hier nach ihren Herkunftsregionen in „kastilianische, aragonische, portugiesische, toledanische, cordubanische, eine griechische und ungarische Gemeinde.“389 Diese Gemeindestrukturen bildeten ihre Stärke und vertieften das Verbundenheitsgefühl. Die Einordnung erfolgte hier also nicht bezogen auf die Religion, sondern basierte auf der Kultur. Auch wenn Meyer Kayserling den rechtlichen Status der Juden korrekt mit dem der Duldung erklärte, verband sich für ihn daraus hervorgehend auch eine große Dankbarkeit gegenüber dem den sephardischen Juden Asyl gewährenden Osmanischen Reich. „Die Juden, die bei den Moslemen religiöse Duldung fanden, die sie bei den damaligen Christen vergeblich suchten, machten sich dem Staate in jeder Weise nützlich. Sie dienten als Dolmetscher und Ärzte, trieben Handel im Großen und Kleinen, waren Handwerker und Künstler. Sie erlangten auch bald Einfluss auf die staatlichen Angelegenheiten.“390 Sowohl das Adjektiv „nützlich“ als auch das Verb „dienen“ beschreiben Sekundärtugenden, die seit Dohms Ruf nach einer bürgerlichen Verbesserung der Juden von den deutschen Juden angenommen wurden. Damit wollten sie sich und ihrer nicht jüdischen Umwelt beweisen, wie sehr sie bestrebt waren, sich zu integrieren und ein als Makel verstandenes Judentum hinter sich zu lassen. Auch die deutschen Juden zeigten ihren Patriotismus durch ihre Verbundenheit mit den Idealen von deutscher Kultur und Sprache. Anders als in den Staaten unter christlicher Herrschaft wurden sie in einem moslemischen Land gastfreundlich aufgenommen, denn hier wurde der nützliche Charakter der Juden für das Staatswesen erkannt. Aufgrund dieser existie386 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 141. 387 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 141. 388 „Die freundliche Aufnahme fanden die spanischen Exulanten in der Türkei, wo die Sultane ihnen gerne ein Asyl und mancherlei Freiheiten einräumten.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 141.) 389 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 141. 390 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 141. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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renden positiven Rahmenbedingungen waren sie erst in der Lage, sich „nützlich“ zu machen und dem Staat zu „dienen“. Aber auch im Exil nahmen herausragende Figuren des sephardischen Judentums bei Kayserling eine zentrale Funktion ein. Die Bedeutung Don Joseph Nasis (1524– 1579) beruhte auf zwei Säulen: Er war Politiker im osmanischen Staat, setzte sich für die Juden ein und war ein Förderer der Wissenschaften.391 Don Joseph Nasi „wirkte zum Wohl der Juden und seines neuen Vaterlandes“392 und „ausgezeichnet durch körperliche und geistige Vorzüge“393 erwarb sich Nasi die Gunst christlicher und moslemischer Herrscher gleichermaßen. Von Sultan Selim II. (1524–1574) wurde Nasi „zum Herzog von Naxos und den zykladischen Inseln“394 nobilitiert. „Joseph stieg bei Selim in Gunst und Ansehen immer höher und nahm an den wichtigsten Staatsgeschäften teil. Er empfing die auswärtigen Gesandtschaften und vermittelte ihren Verkehr mit dem Sultan.“395 Als der Sultan starb, zog sich Nasi von den Regierungsgeschäften zurück. Umso intensiver setzte er sich jedoch dann für die Belange verfolgter Juden ein und versuchte auch die Einführung der Inquisition in Portugal zu verhindern, wobei er Meyer Kayserling zufolge viele Juden vor dem Tod rettete. Meyer Kayserling zeichnete aber keineswegs das Bild des Landes am Bosporus, das für die Juden die Fortsetzung des Goldenen Zeitalters darstellte. Vielmehr sei die innere Verfassung der Juden ganz vom Gegenteil geprägt gewesen: „Die Einwanderer waren freudlos und tief gebeugt; es regte sich in ihnen die Sehnsucht nach besseren Zuständen. Dazu kam die orientalische Phantasie, die noch durch die Nähe des heiligen Landes genährt wurde.“396 Mit „orientalischer Phantasie“ verwies Meyer Kayserling kritisch auf „messianische Hoffnungen“, die „der Kabbala zur Herrschaft“397 verhalfen. Wie schon bei der Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung der Juden aus Palästina, hätten sich auch nach der Vertreibung aus Spanien einzelne Juden – von Meyer Kayserling gleich Heinrich Graetz als „Schwärmer“398 bezeichnet – betätigt. Er erwähnte hier die messianischen Bewegungen eines David 391 „Er war ein Förderer der jüdischen Wissenschaft, errichtete neue Lehrhäuser und unterstützte zahlreiche jüdische Gelehrte. Nachdem Joseph vom Sultan die Trümmer der Stadt Tiberias zum Geschenk erhalten hattte, ließ er die Stadt neu aufbauen und trug sich mit der Idee, dort eine jüdische Kolonie zu gründen, was ihm jedoch nicht gelang.“ (Meyer Kayserling: Handbuch, S. 143). 392 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 142. 393 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 142. 394 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 143. 395 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 143. 396 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 143. 397 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 143. 398 Meyer Kayserling: Handbuch, S. 146. 378

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Reuveni (1485–1538) und eines Salomo Molcho (1500–1532).399 Insbesondere Molchos Übertritt zum Judentum und sein Martyrium am Lebensende seien „nicht ohne Einfluss auf die Ausbreitung der Kabbala gewesen,“400 die ihren Weg von Palästina über die Türkei, Italien und Deutschland bis nach Polen nahm und in Isaak Luria (1534–1572) den Begründer dieser „neuen Kabbala“401 fand. Der tatsächliche Höhepunkt dieser Studien gipfelte im Auftreten Sabbatai Zwis (1626–1676),402 dessen Übertritt zum Islam nicht Meyer Kayserlings Zustimmung finden konnte. Diejenigen, die der jüdischen Mystik zuneigten, wurden von Meyer Kayserling, wie schon bei anderen Vertretern der Wissenschaft beobachtet, als antirationalistisch begriffen, die dem Judentum dadurch schadeten und die Juden von der Mehrheitsgesellschaft entfernten. Ein Beitrag Meyer Kayserlings in der von Samson Raphael Hirsch herausgegeben Zeitschrift „Jeschurun“ über „Jüdische dramatische Dichter in Spanien“ machte sein Verständnis über die Vertreibung der Juden deutlich. In seinem Artikel stellte Kayserling den „Heldendichter“ Miguel de Silvenra vor und breitete ein Panorama vor dem Leser aus, das den ökonomischen und intellektuellen Reichtum in Spanien ins Zentrum seiner Darstellung rückte. So führte Meyer Kayserling aus, dass den gegenwärtigen kaum dreizehn Millionen Einwohnern die dreifache Anzahl während des Mittelalters und vor der Einsetzung der Inquisition und der Vertreibung von Juden und Moslemen gegenüberstand. Alle Bewohner lebten ein zufriedenes Leben und „die Bewohner waren glücklich und zufrieden in dem Lande mit seinen Naturschönheiten, seinen Palmenwäldern, seinen glühenden Orangengärten, in dem Lande der Poesie, der Ritter und Damen, der Tänze und Gesänge, in dem Lande der Schönheit und des Genusses.“403 Aufgrund dieses Wissentransfers und der zentralen Rolle der sephardischen Juden als Vermittler, habe das Land Spanien von dem regen Austausch, der zwischen der christlichen und moslemischen Welt bestand, profitiert. Auch hier überwiegt die generalisierend positive Einschätzung. „Aus weiter Ferne, aus Italien, Frankreich, und selbst dem entlegenen Deutschland strömten damals die Jünger der Wissenschaft herbei, um in den Schulen, Bibliotheken und namentlich auf der alten maurischen, jetzt in ein Kloster verwandelten Universität Cordova und den Hochschulen von Valencia und Salamanca griechische und arabische Literatur, Na399 400 401 402 403

Meyer Kayserling: Handbuch, S. 146. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 146. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 147. Meyer Kayserling: Handbuch, S. 147. Moritz Meyer Kayserling: Jüdische dramatische Dichter in Spanien. In: Jeschurun [Alte Folge], 2. November 1856, S. 79–87. Hier: S. 79. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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turwissenschaften und aristotelische Philosophie zu studieren.“404 Meyer Kayserling skizzierte die Macht Spaniens am Ausgang des 15. Jahrhunderts, die nicht allein auf Spanien beschränkt blieb, sondern die erste politische Macht der Welt wurde. Auf die Frage, was denn Spanien von dieser machtvollen Position gestürzt habe, führte Meyer Kayserling die geschilderten Konsequenzen und den noch anhaltenden Zustand der Verarmung mit der Vertreibung der Juden an.405 Die Vertreibung der Juden stellte für ihn einen Akt der Willkür und des Unrechts dar, in dessen Folge alle Türen für weiteres Unrecht geöffnet und die positiven Eigenschaften des spanischen Volkes für immer ins Gegenteil gekehrt wurden. Spanien wurde vernachlässigt und Habgier zog seine Bewohner in die Kolonien, wo sie das mitgebrachte Gold nur noch mehr von den ursprünglichen Tugenden entfernte. Die allmächtige Inquisition habe „Misstrauen, Furcht, Verschlossenheit“ verbreitet „und Hoffnungen auf bessere Zeiten schwanden.“406 Dieser Zustand beschränkte sich nicht auf Spanien, sondern wich einem universalen Unrecht – eine Entwicklung, die sich auch auf die Poesie negativ auswirkte. Dies zeigte Meyer Kayserling exemplarisch an der Heldendichtung. Diese sei nun nicht mehr originell gewesen und habe Literatur aus sich heraus geschaffen, sondern ahmte das italienische Vorbild nach. Bezogen auf dieses Beispiel hatte die Vertreibung der Juden nicht allein für die Juden eine katastrophale Wendung zur Folge; sondern auch Spanien habe dadurch verloren und sei kulturell zum Abstieg verurteilt gewesen. Gustav Karpeles Gustav Karpeles wurde 1848 in Eiwanowitz-Loschitz in Mähren geboren. Sein Vater, der Rabbiner Elias Karpeles, hielt ihn zum Talmud-Studium an. Er wurde jedoch auch in den säkularen Wissenschaften unterrichtet. Ab 1865 besuchte Karpeles in Breslau das jüdisch-theologische Seminar und die Universität, wo er auch promovierte. Herausragende Bedeutung erlangte Karpeles als Journalist, wobei er nicht allein für jüdische Zeitschriften schrieb. So wurde er Herausgeber der „Jüdischen Presse“, redigierte 1872 die „Breslauer Nachrichten“ und übernahm 1890 die Redaktion der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“. Zusammen mit Albert 404 Meyer Kayserling: Jüdische dramatische Dichter, S. 79. 405 „Die Vertreibung der Juden, dieser dort im Reichtum lebenden, das ganze Finanz- und Merkantilsystem leitenden und verwaltenden Nation, zog die verderblichen Folgen nach sich und schlug dem gesegneten Lande eine Wunde, von der es sich bis auf den heutigen Tag noch nicht erholt hat.“ (Meyer Kayserling: Jüdische dramatische Dichter, S. 80). 406 Meyer Kayserling: Jüdische dramatische Dichter, S. 81. 380

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Katz rief er den „Verband der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur“ ins Leben und übernahm dessen Vorsitz. Der Verband wurde 1893 in Hannover von den Delegierten der „Vereine für jüdische Geschichte und Literatur“, die zur Förderung der jüdischen Volksbildung entstanden waren, gegründet. Als Begründer des Vereins forderte Karpeles die Fortsetzung des Gedankens eines traditionellen jüdischen Lehrhauses, des Bet Hamidrash, in einer modernen Form. In den Vereinen wurden Vorträge über die verschiedensten Themen aus dem Gebiet des jüdischen Lebens der Vergangenheit und Gegenwart gehalten und so eine Einführung in die Gedankenwelt und Literatur des Judentums gegeben. Ziel dabei war es, bei den Zuhörern und über diese hinausgehend ein Interesse an jüdischer Geschichte und Literatur zu wecken. Dem Verband waren vor dem Ersten Weltkrieg mehr als 200 Vereine angeschlossen, das Jahrbuch erreichte teilweise eine Auflage von mehr als 5000 Exemplaren. Der Verband stand für ein selbstbewusstes Judentum und wandte sich gegen die Assimilation. Karpeles gelang es in seiner Funktion als Vorsitzender, zwischen liberalen und neoorthodoxen Juden zu vermitteln, ohne eine der beiden Gruppen vor den Kopf zu stoßen und sich dadurch absoluter politischer und religiöser Neutralität verpflichtet zu fühlen.407 Das Jahrbuch des Vereins vermittelte in diesem Sinne Orientierungspunkte und war maßgeblich an einer Verbreitung von jüdischer Geschichte in literarischer Form beteiligt. Seinen Lesern sollte ein Bewusstsein für die wechselvolle Geschichte der Juden vermittelt werden, immer jedoch mit dem Anspruch verbunden, keine Leidensgeschichte zu erzählen. Vielmehr wurde die Verbreitung des ethischen Monotheismus als Aufgabe des Judentums verstanden. Wie Meyer Kayserling nahm auch der Literaturhistoriker Karpeles eine Würdigung der iberisch-sephardischen Kultur auf Grundlage jener „versunkenen Herrlichkeit der Maurenherrschaft in Spanien“408 vor. Erst durch das Bestreben, „die Würde der Wissenschaft des Judentums“ unter den Juden im Bewusstsein zu halten, war es laut Karpeles möglich „zu jener Emanzipation [zu] gelangen, welche ein Leopold Zunz erhofft und ersehnt“ habe.409 Auch bei Karpeles nahm die Rolle sephardischer Autoren innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung eine besondere Funktion hinsichtlich der Ausbildung mehrdeutiger Formen von Zugehörigkeit im Zeitalter der Emanzipation ein. Allerdings nahm er als politischer Schriftsteller weit deutlicher als beispielsweise Meyer Kayserling Einfluss und versah seine Rezeption der iberisch407 Roemer: Jewish Scholarship, S. 125–126. 408 Gustav Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur. 2 Bände, Berlin 1886, 2. Aufl. 1909. Hier: Bd. 1. S 368. 409 Gustav Karpeles: Literarische Jahresrevue. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur, o. O. 1898. S. 14. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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sephardischen Kultur mit einer betont kämpferischen und auf die Gegenwart bezogenen Perspektive: Er forderte eine bedingungslose Emanzipation der Juden, denn die Geschichte der Juden in Spanien hätte gezeigt, dass die Integration der Juden in der Vergangenheit für die jüdische und die allgemeine Gesellschaft von Vorteil gewesen sei. Ebenso wie den sephardischen Juden sei auch den Juden in Deutschland die Orientierung an Kultur und Sprache der Mehrheitsgesellschaft zu eigen. Gleichwohl würden noch immer eine Vielzahl von Problemen hinsichtlich der Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft bestehen und auch im Bewusstsein der christlichen Deutschen sei nicht verankert, was die Juden als Vermittler von Kultur in der Vergangenheit und in der Gegenwart in Deutschland geleistet hätten. Das Beispiel von Autoren der iberisch-sephardischen Kultur sollte den deutsch-jüdischen Lesern zeigen, dass nur ein hohes Maß an Bildung eine vollständige Integration in die deutsche Gesellschaft möglich machte, die deutschen Juden dadurch aber auch das Recht erworben hätten, selbstbewusst – wie die historischen Sephardim – für ihre Rechte einzutreten. Gleichzeitig sollte es jedoch auch einer deutschen Leserschaft Auskunft über die vergangenen Leistungen und die Möglichkeiten geben, um diese auch für die Zukunft der Juden in Deutschland nutzen zu können. Auch Karpeles wirkte an der Schnittstelle von Literatur und Geschichte, indem er sich im besonderen Maße mit der Bedeutung der iberisch-sephardischen Literatur als Vorbild für die deutschsprachigen Juden auseinandersetzte. Besonders seine Überlegungen in der „Allgemeinen Literaturgeschichte“ und der „Geschichte der Jüdischen Literatur“ machen es möglich, Karpeles’ Verständnis von einer jüdischen Literatur als festen Bestandteil der allgemeinen Literatur zu verstehen. Für ihn nahm die jüdische Literatur durch ihre vermittelnde Funktion einen zentralen Stellenwert innerhalb der allgemeinen Literatur ein. Diese allgemeine Literatur verstand Karpeles als Nationalliteratur.410 Karpeles ging es auch nicht darum, Literaturwissenschaft im Sinne einer „jüdischen Philologie“ zu betreiben, sondern „Karpeles wollte an der deutschen Literaturwissenschaft mitarbeiten.“411 In seiner Tätigkeit für das „Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur“ in den Jahren 1898 bis zu seinem Tod 1909 konnte er die410 Vgl. Renate Heuer (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. München 1993. [Eintrag Karpeles]. Gustav Karpeles: Leopold von Sacher-Masoch: Ausgwählte Ghetto-Geschichten. Leipzig 1918. Gustav Karpeles: Die Zionsharfe. Eine Anthologie der neuhebräischen Dichtung in deutschen Übertragungen. Leipzig 1889. 411 Jeffrey L. Sammons: Zur ausgeklammerten Heine-Rezeption. Beobachtungen zur ersten großen Zeit der Heine-Philologie. In: Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Wilfried Barner, Christoph König (Hg.). Göttingen 2001. S. 111–128. Hier: S. 115. 382

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ses Anliegen ebenfalls umsetzen.412 Darüber hinaus widmete sich Karpeles in seinen Studien dem deutschen Drama, so geschehen in seinen Schriften „Deutsches Leben“ (1873), „Deutsche Liebe“ (1874) und „Im Foyer“ (1876) sowie in den einzelnen Schriften anderer deutscher Dichter wie Eichendorff und Lenau. Besonders stechen hier seine Arbeiten zu Heinrich Heine hervor. Außerdem nahm Karpeles auch eigene Dramatisierungen vor, beispielsweise Grabbes „Don Juan und Faust“ (1877). Karpeles steht also für die idealtypische Beschreibung eines Intellektuellen, der sowohl jüdische und allgemeine literarische Themen bearbeitete und als Herausgeber bedeutender Zeitschriften auch eine große Reichweite seines Schaffens erzielte. Besonders intensiv setzte sich Karpeles mit Heinrich Heine auseinander, dessen Werke er in den Jahren 1885, 1887, 1888 und 1902 herausgab und darüber hinaus zu Heine selbst zahlreiche Abhandlungen veröffentlichte.413 In der neueren Forschung existiert sogar die Vorstellung, Karpeles habe in Heine einen Verwandten gesehen, „der als Jude – ohne das Judentum als positive Religion anzuerkennen – seinen Beitrag zur deutschen und Weltliteratur geleistet hat.“414 Diesen Beitrag herauszustellen und Heine von einem verfemten Schriftsteller zu einem anerkannten Dichter werden zu lassen, war nicht zuletzt auch Karpeles’ Verdienst.415 Wie auch für Abraham Geiger waren die Autoren der Romantik für Karpeles nicht daran interessiert, die in der Aufklärung gemachten universalen Prinzipien weiter auszubauen; sie kehrten diese vielmehr ins Gegenteil um: Die romantische Schule „war eigentlich ein Kind der Verzweiflung und des politischen Jammers, der nach der großen Französischen Revolution sich aller Gemüter bemächtigt hatte“ und die Wiederentdeckung der Literatur des Mittelalters sei tatsächlich nur „durch ihre Ironie zur Schleppträgerin des Katholizismus“ ausgewachsen.“416 Daraus hervor ging auch ein wieder erstarkender Judenhass, der 1819 in den „Hep-Hep-Unruhen“ gegen die Juden insbesondere im Südwesten Deutschlands einen Höhepunkt fand.

412 Sitz des Verbandes wurde Berlin, der Vorsitzende war Gustav Karpeles von 1893–1909, von da an Ismar Elbogen. Als Schriftführer des Verbandes fungierte von 1893–1923 Albert Katz. Nach dem Ersten Weltkrieg sank die Bedeutung des Verbandes jedoch kontinierlich. 413 Gustav Karpeles: Heinrich Heine und das Judentum, 1887. Ders.: Heinrich Heine und der Rabbi von Bacherach, 1895. Ders.: Heinrich Heines Autobiographie, 1898. Ders.: Heinrich Heine: Aus seinem Leben und aus Seiner Zeit, 1899. 414 Horch: Erzählliteratur, S. 23. Vgl. auch Hans Otto Horch: Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Juden als Träger der bürgerlichen Kultur in Deutschland. Julius H. Schoeps (Hg.). Stuttgart und Bonn 1989. S. 45–47. 415 Sammons: Heine-Rezeption, S. 115. 416 Karpeles: Heinrich Heines Biographie. Hamburg 1885. S. 53–57. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Es ist daher bedeutsam darauf zu verweisen, dass Karpeles’ Definition der mittelalterlichen Kultur nicht nur auf den Grundpfeilern Christentum und Germanentum417 basierte. Für ihn war es entscheidend, darauf zu verweisen, dass die Literatur des Mittelalters aus unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzt war, was sich im „ersten Ritterroman der Weltliteratur“, dem „Ruodlieb“ zeige.418 Dieses auf die Mitte des 11. Jahrhunderts zurückgehende lateinische Versepos sei „aus drei Bestandteilen zusammengesetzt [...], aus einem novellistischen, einem geschichtlichen und einem der Heldensage nahestehenden. Mit großem Geschick hat man aus dem novellistischen Bestandteil des Romans nachgewiesen, dass fremde, namentlich orientalische Novellen schon im elften Jahrhundert in Deutschland bekannt gewesen [...] und dass der Dichter Züge aus der lebendigen Heldensage in sein Gedicht verwebt hat.“419 Diese Integration vielseitiger Einflüsse erkannte Karpeles auch in der Literatur Osteuropas. Anders als bei Meyer Kayserling wurde hier ein bedeutsames Potenzial für die jüdische Literatur angenommen. Allerdings war diese mehr von Offenheit gegenüber dem osteuropäischen Judentum geprägte Wahrnehmung auch von der Erkenntnis gekennzeichnet, dass der Grad der Assimilation der Juden in Deutschland zu hoch sei. So verzeichnete Karpeles bezogen auf das osteuropäische Judentum, hier sei „eine große Regsamkeit auf dem Gebiet der hebräischen Poesie und Belletristik zu konstatieren. Es erscheinen Romane, Novellen, Erzählungen, Biographien, Dramen, Gedichte, Übersetzungen fremder Meister, Volksbücher in [...] vortrefflicher Übertragung. Diese Literatur hat sich dem Geist der Zeit angeschlossen. Sie ist keine exotische Blume mehr, sie greift in das soziale Leben ein und weiß dessen Kontraste geschickt zu schildern, dessen Bedürfnisse zu erfassen.“420 Die Vorstellung einer Teilhabe der jüdischen Literatur an der allgemeinen Literatur fand Karpeles jedoch idealtypisch am Beispiel der Literatur auf der Iberischen Halbinsel realisiert. Die Literatur konnte laut Karpeles besonders unter der Herrschaft der Araber eine große Produktivität entfalten. Deren Wirksamkeit sei niemals auf eine literarisch gebildete Avantgarde beschränkt geblieben, sondern habe einen Synergieeffekt bedingt, „in dem alle Kräfte eines Volkes, wie von einer geheimen 417 Karpeles: Literarisches Wanderbuch. Berlin 1898. S. 4. 418 Gustav Karpeles: Der erste Ritterroman der Weltliteratur. In: Literarisches Wanderbuch. S. 69–86. Zum Roman Ruodlieb vgl. Gerlinde Weber: Ruodlieb. In: Bayerische Literaturgeschichte in ausgewählten Beispielen. Mittelalter. Eberhard Dünninger, Dorothee Kiesselbach (Hg.). München 1965. S. 87–98. 419 Karpeles: Der erste Ritterroman der Weltliteratur, S. 77. 420 Gustav Karpeles: Literarische Jahresrevue. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 4 (1901). S. 42f. 384

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Inspiration beflügelt, sich plötzlich zu entfalten beginnen.“ Es habe sich „ein reicher Blütensegen [...] über die Literatur“ ergossen; „es sprießt und keimt; und dann kommt der Tag der Ernte, wo die Früchte hineingetragen werden, an denen noch ferne Geschlechter ihre Zehrung haben.“421 Zentral war für Karpeles die Vorstellung eines wechselseitigen Wirkens von „jüdischem“ Anteil mit einer als „allgemein“ verstandenen Kultur, die wiederum in der Literatur ihr Zentrum gefunden hatte. Die Juden hätten „die gesamte europäische Wissenschaft und die Poesie des Occidents in sich“ aufgenommen und diese wiederum „organisch mit ihrem eigenen Geistesleben“ verarbeitet.422 Diese Wahrnehmung des Organischen drückte Karpeles auch mit den hier verwandten Bildern von Wachsen und Fruchtbarkeit aus. Auch die Vorstellung, dass Araber und Juden eine gemeinsame Kultur geschaffen hatten, deren Wirksamkeit nicht auf die eigene Generation beschränkt blieb, sondern auch von großer Bedeutung für zukünftige Generationen war, spielte bei Karpeles eine entscheidende Rolle. Das Zusammenfließen aller Leistungen von Juden in der Geschichte mündete schließlich im „Meer der Weltliteratur“.423 Konzepte von Weltliteratur hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts Konjunktur und wurden in der deutschen Literatur besonders durch Goethe beeinflusst. Dieser verstand die kulturelle Sendung europäischer Kultur als Bestandteil der Weltliteratur.424 Karpeles folgte dieser Überlegung, indem er in der Verschmelzung von arabischer, christlicher und jüdischer Literatur ein Indiz für eine gemeinsame kulturelle Identität sah. Diese habe sich im spanischen „Volksgeist“425 ausgedrückt, der wiederum die Spanier als „Mischvolk“426 verstand. Damit bezog Karpeles klar Stellung gegen die vorherrschende Vorstellung im Umfeld und Nachwirken der Romantischen Schule einer eindeutig zu bestimmenden spanischen Identität, die ganz ohne Einflüsse von Westgoten, Römern, Juden und Mauren zustande gekommen sei.427 Seinen Lesern wollte Karpeles gerade diese unterschiedlichen literarischen Traditionen vor Augen führen. Fester Bestandteil dieses Spaniertums waren laut Karpeles auch die sephardischen Juden, die in der Literatur Zuflucht suchten – sowohl vor einem christlich 421 422 423 424

Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Band I, S. 460. Gustav Karpeles: Geschichte der orientalischen Literatur in alter Zeit. Berlin 1898. S. 102. Gustav Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Band I, S. 453. Zit. nach Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1930. Vgl. Paul Mendes-Flohr: German Jews. A Dual Identity. Yale 1999. S. 118. Vgl. auch die Ausführungen zu Benjamin, Bildung, „Literaturjuden“ in Mendes-Flohr. 425 Gustav Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur von ihren Anfängen bis auf die Gegenwart, 2. Bde., Berlin 1901, Bd. 2, S. 9. 426 Gustav Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, Bd. 2, S. 3. 427 Vgl. Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993. Hier bes. S. 27–32. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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definierten Nationalismus als auch vor einer rigorosen Auslegung der jüdischen Religiosität. Auch wenn der arabische Anteil an dieser nationalen spanischen Literatur Karpeles zufolge gering war, „dürfte [sich] die Einwirkung maurischer Sitte und Denkweise auf das spanische Leben [weit eher] nachweisen lassen.“428 Die Funktion der iberisch-sephardischen Juden ging auch Karpeles‘ Meinung nach auf die arabische Herrschaft über Spanien zurück. Juden seien als Vermittler zwischen „den arabischen und den europäischen Wissenschaften“429 in Erscheinung getreten. Allerdings definierte er die Juden in dieser Gesellschaft als Spanier, ohne deren jüdische Identität besonders hervorzuheben. Ihr dadurch erworbenes Wissen ermöglichte es ihnen, „gleichberechtigt im Kreis der Spanier“430 aufgenommen und zu Funktionsträgern politischer Macht zu werden. Jeder Bewohner, der sich die Kultur und die Sprache des Landes zu eigen machte, musste als nationaler Bewohner des Landes Spanien angesehen werden – ob Moslems, Juden oder Christen. Juden seien hier in ihrem habituellen Selbstverständnis als niedrige Adlige oder Bürger gänzlich in die Gesellschaft integriert gewesen. Der Jude „nahm Teil am Turnier, an ihren Waffenübungen, er diente im Heere, er war angesehen am Hofe, und bei den Sängerwettstreiten traten auch jüdische Dichter in der Alhambra auf.“431 In diesem Bild einer gelebten und gleichzeitig absoluten Gleichberechtigung mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft drückte Karpeles sein Verständnis von Teilhabe, das nicht auf Assimilation gründete, zentral aus. Es war seine Überzeugung, dass auf Grundlage dieses Prinzips auch die Juden in Deutschland Deutsche sein müßten und von den Deutschen als solche angesehen werden sollten. Im Kern dieser Wahrnehmung steckte die Auffassung, dass sich die iberischsephardische Kultur im Zentrum einer europäischen Geschichte befand, die auch jenseits einer Dominanz des Christentums einen jüdischen Erinnerungsort in ein interkulturelles Bezugssystem integrierte und als Kommentar zum Vorgang der Emanzipation interpretieren konnte. So betonte Karpeles in der Vorbemerkung zur ersten Auflage seiner viel beachteten „Geschichte der jüdischen Literatur“, dass diese Darstellung als ein Baustein zum Gebäude der Weltliteratur anzusehen sei.432 Die Verbundenheit mit der alten Heimat, die die Juden gezwungenermaßen 1492 428 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, Bd.2 , S. 6. 429 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 461. 430 Gustav Karpeles: Sechs Vorträge über die Geschichte der Juden. Gehalten in Berlin im Winter 1895/96. Großloge für Deutschland (Hg.). Berlin 1896. Hier: S. 33. 431 Karpeles: Sechs Vorträge, S. 33. 432 Zit. nach Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ (1837–1922). Frankfurt/Main 1985. S. 23. Vgl. Außerdem Albert Katz: Gustav Karpeles. In: AZJ Nr. 73 (1909). S. 361f. Ders.: Zum 21.Juli. In: AZJ Nr. 74 (1910). S. 337–339. 386

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verlassen mussten, sei auch nach der Vertreibung nicht erloschen – ganz im Gegenteil: Ihr Patriotismus sei noch immer stark ausgeprägt gewesen. Und „obwohl ihrer dort nur Kerker und Scheiterhaufen harrte[n] und obwohl sie dieses Vaterland von sich gestoßen hatten, [blieben diese Juden] auch in der Fremde noch drei Jahrhunderte hoch und heilig, mit jener innigen Liebe, der der geliebte Gegenstand um so teurer gilt, je schwieriger sein Erringen, je gefahrvoller sein Besitz ist, je heftiger er selbst gegen diese hingebende Liebe sich sträuben mag.“433 Mit diesem Abschnitt drückte Karpeles aus, was über eine rückwärtsgewandte Vaterlandliebe weit hinausreicht. Dies zeigte sich auch hinsichtlich seiner Wahrnehmung der Reconquista. Diese Epoche der Rückeroberung Spaniens wurde von ihm nicht etwa verworfen und aus der Perspektive der am Abschluss dieser Bewegung stehenden Vertreibung der Juden verstanden. Vielmehr sah er die Reconquista als „das Heldenzeitalter der Nation“ und „glorreiche Periode ihres Glaubenskampfes gegen die Mauren.“434 Auch in diesem Prozess wurde der Literatur ein erheblicher Anteil zuteil, der sich in der Bildung der spanischen Einheitsmonarchie auf „volkstümlicher Basis“435 manifestiert habe. Dieses Verständnis machte es möglich, die Reconquista als eine politische Bewegung aufzufassen, bei der keinerlei religiösen Unterschiede von Bedeutung waren. Alle gegen die verbleibenden Mauren kämpfenden Männer im Süden des Landes bezeichnete Karpeles als Spanier. Diese Auffassung weicht von der historischen Realität insofern ab, als dass die Reconquista eine politische Bewegung auf der Grundlage des Christentums war, der es vor allem um die Vereinheitlichung des religiösen Bekenntnisses und somit gegen einen Pluralismus oder ein Miteinander der Religionen ging. Dennoch stand für Karpeles außer Frage, dass die nationale Einigung Spaniens keine Unterschiede geltend machen wollte, wenn er in seiner „Allgemeinen Geschichte der Literatur“ schrieb: „Bei der Rückeroberung des Landes trug ein jeder Spanier die Waffen und ein Genosse stand dem anderen gleich; nicht edle Abkunft, nur Tapferkeit und Ruhm konnten die Führerschaft erwerben. Jeder Spanier war wehrhaft; der Bürger, welcher sich als Reiter ausrüstete, galt für ritterbürtig, und der Kern des Volkes wurde der Träger seiner edelsten Gefühle.“436 Juden wurden hier zwar nicht explizit benannt, sie waren jedoch für Karpeles – wie bereits an anderer Stelle gezeigt – Bestandteil des ganzen spanischen Volkes.

433 Gustav Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, 2. Bd., Berlin: 2. Aufl. 1909. Hier: S. 305. 434 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 9. 435 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 5. 436 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 19. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Den Kampf gegen die Moslems verstand er als konstitutiv für den „Grundtypus des altspanischen Nationalcharakters“.437 Insbesondere der „Cid“ konnte hier alle christlichen Eigenschaften auf sich vereinen: „Das christliche Element verbindet alle diese Eigenschaften zu einem bestimmten Ganzen; der Kampf gegen die Ungläubigen ist das bestimmende Moment des Gedichts; Tapferkeit, Selbstgefühl und Ehre erscheinen als die Tugenden des Helden, der das Ideal des spanischen Volksgeistes, der Lieblingsheld der Nation bis auf den heutigen Tag geblieben ist.“438 Dennoch trug der sich ausbreitende Nationalismus nicht nur positive Implikationen in sich. Er habe neben der von außen formulierten Ausgrenzung auch zur innerjüdischen Hinwendung zur Mystik geführt. „Die Dichtung floh vor dem Eisenhauch des Nationalismus und vor der Grabesnacht der Kabbala. Da wendeten sich die besseren unter den spanischen Juden der nationalen Poesie zu.“ Dennoch erkannte Karpeles auch in der nationalen Dichtung des christlichen Spaniens Ideen von Vermittlung, wenn er davon ausging, dass „ein christlicher Geist weht, welcher in Verbindung mit dem Nationalen zu einer besonderen Eigenart sich entwickelt.“439 Dieser „christliche Geist“ verbarg sich im besonderen Maße in der Romanze und dem Ritterroman, zwei Genres, die für die Vertreter der Romantik in Deutschland von herausragender Bedeutung waren. Für Karpeles kam die Ausbildung einer nationalen Poesie in Spanien also unter der Einbeziehung christlicher Einflüsse zustande. Dennoch seien auch Juden, genauer gesagt konvertierte Juden, daran beteiligt gewesen, wie Karpeles am Beispiel des ansonsten von der Wissenschaft des Judentums vollständig ignorierten aragonesischen Hofarztes und Konvertiten zum Christentum Petrus Alfonsi (1062–1110) zeigte. Alfonsi hatte arabische Erzählstoffe in die Volkssprache, ohne christliche Moralvorstellungen zu übernehmen, integriert. Karpeles würdigte Alfonsi darauf aufbauend als großen Ideengeber für alle romanischen Literaturen. Er verstand ihn als Juden, der sich der „nationalen Poesie“ zuwandte und in Form der „Disciplina Clericalis“ „ein berühmtes Volksbuch“ verfasste. Es sei „die erste Sammlung von Rahmenerzählungen im orientalischen Geiste und zugleich das Vorbild des didaktischen Novellenbuchs von Don Juan Manuel gewesen.“440 Das Werk zählt zu den ältesten Exempla-Sammlungen des Westens und ihm war ein dauerhafter Erfolg in der europäischen Literatur beschieden. Auch waren es Exempla-Sammlungen, die, 437 438 439 440

Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 9. Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 9. Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 32. Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 19–20. Zum Begriff Volksbuch und seiner erstmaligen Verwendung vgl. Johann Joseph Görres: Die deutschen Volksbücher. 1807 388

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ausgerichtet auf bedeutende Personen, religiöse Sprichwörter mit positiven und negativen Eigenschaften zur Belehrung versahen. Sie wurden im Hochmittelalter auch von Mönchen der Bettelorden den Gläubigen vorgetragen. Der Einfluss Alfonsis lässt sich bis ins „Dekameron“ Boccaccios verfolgen. Die „Disciplina Clericalis“ wurde im Laufe des Mittelalters dreimal ins Französische übersetzt. Außer einer Prosaübersetzung Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts, setzten zwei französische Versfassungen, die man als zwei Fassungen des „Chastoiement d’un père à son fils“ kennt, Anfang des 13. Jahrhunderts das Werk des Petrus als Roman um. Es handelt sich dabei mehr um Adaptationen als um getreue Übersetzungen. Die ältere ist von großer literarischer Bedeutung und rückte vor allem einen der originellsten Aspekte der „Disciplina Clericalis“ ins Licht: eine höchst subtile Definition von Weisheit und ihrer Rolle. Wie ihre Vorlage zeichnet auch sie die Gelehrsamkeit als Praxis des Wissens, die dem Schüler, der sich ihr unterwirft, Kompetenzen im geistlichen wie im weltlichen Bereich vermittelt. Der Weise weiß sich in Gesellschaft zu betragen, aber er kettet sich deswegen nicht an die Güter dieser Welt. Trotz eines gewissen philosophischen Ehrgeizes, lässt dieses klerikale Werk nicht die literarischen Strömungen seiner Zeit außer Acht und deutet dies durch häufige intertextuelle Anspielungen auch an.441 Neben dem Werk eines Petrus Alfonsi machte Karpeles besonders den Einfluss der italienischen Dichter(schule) für die Weiterentwicklung innerhalb der spanischen Nationalliteratur verantwortlich. Auch dadurch konnte er sie als Teil der Weltliteratur verstehen. Karpeles differenzierte zwischen kreativer Einbindung von Literatur bzw. literarischen Vorbildern und Anwandlungen „sklavischer Nachahmung“.442 In diesem „Die neue Zeit“ untertitelten Kapitel „erzählten die spanischen Dichter von der Vertreibung der Mauren und der Juden, von den Zügen und Heldentaten Karl V. und von den Wundern der Entdeckung Amerikas.“ Karpeles kritisierte an dieser Literatur deren nur auf die bloße Nachahmung eingeschränkte Darstellungsform, so dass er folgerte: „Ihre Dichtungen bieten nicht mehr viel als chronologische, wohlgeordnete Geschichts- und Kriegsberichte, welchen auch ein warmer Patriotismus kein poetisches Leben einzuhauchen vermochte.“443 Eng verbunden mit seiner Vorstellung von Weltliteratur war die Rolle der sephardischen Juden als Vermittler, die an mehreren Orten aufzufinden waren. Nach der Vertreibung aus Spanien konnten jedoch nicht alle Juden gute Voraussetzungen, wie sie beispielsweise in den Niederlanden gegeben waren, finden. Es war vielmehr so, „dass die Nachkommen jenes großen Kulturvolks, das als der Lehrmeister Euro441 John Victor Tolan: Petrus Alfonsi and his medieval readers. Gainsville 1993. 442 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 43. 443 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 43. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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pas in vielen Wissenschaften gelten muss, nunmehr als Nomaden in den afrikanischen Wüsten umherwandern.“444 Mehr noch: Karpeles’ Überzeugung, die europäische Literaturen seien durch unterschiedliche Einflüsse gespeist gewesen, war für seine Vorstellung einer Weltliteratur konstitutiv, wie er am Beispiel der griechischen Philosophie hervorhob: „Die Juden waren sogar die Vermittler zwischen den Indern und den Arabern, wie später zwischen den Arabern und der christlichen Kulturwelt. Ein großer Teil aller Fabeln, Märchen und Erzählungen ist durch sie in die neue Literatur eingeführt worden.“445 Die Juden traten als Vermittler zwischen „den arabischen und den europäischen Wissenschaften“446 auf. Deren bedeutendstes Medium siedelte Karpeles in der Poesie an, die aus der engeren zeitlichen Maßgabe, der Herrschaft der Araber über die Iberische Halbinsel, hinausging: „Zuletzt, doch nicht als die letzte, sei die Poesie genannt, die einen weiten Kreis der Blüte und Reife in diesen drei Jahrhunderten beschreibt, in dem alles Große und Schöne aufsprießt, das die Weltpoesie gezeitigt.“447 Die Bezeichnung „Weltpoesie“ stellte deutlich den allgemeinen, die unterschiedlichen Kulturen verbindenden Kern dar. Dabei machte Karpeles den inneren Zusammenhang zwischen Arabern und Juden geltend, der im Bild der Zerschmelzung zusammenfließt, wenn es heißt, dass „der in Spanien unter dem Chalifat der Abbasiden sogar zu einer Verschmelzung mit dem Geistesleben der Nation führte, welche für die arabische wie für die jüdische und in ihren Resultaten auch für die allgemeine Literatur bedeutungsvoll geworden ist.“448 Hier kommt der Literatur also nicht allein eine die arabische und die jüdische Geisteswelt verbindende Instanz zu, sondern im besonderen Maße wird hier die Bedeutung für die Allgemeinheit als „Weltpoesie” hervorgehoben. Seine Vorstellung von Allgemeinheit mündete in Karpeles’ Definition von Nation als eine Verschmelzung von arabischer und jüdischer Kultur zu einer gemeinsamen kulturellen Identität. Diese Zuschreibung ist deshalb so bedeutsam, weil sie den Vorstellungen von Nation im späten 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte Erweiterung an die Seite stellte und gerade nicht Parameter von einer einheitlichen Kultur und Sprache ohne ergänzende, also fremde Impulse, formulierte. Karpeles erteilte der Forderung nach Assimilation eine Absage, wie es sich bereits im Bild des Wachsens gezeigt hatte. Karpeles Auffassung von Allgemeinheit war niemals auf eine innerjüdische Allgemeinheit reduziert, vielmehr wurde eine europäische Tradition kultureller Werte vertreten, die bei Karpeles die Bezeichnung 444 445 446 447 448

Karpeles: Geschichte der orientalischen Literatur in alter Zeit. Berlin o. J. [1891] S. 116. Karpeles: Literarisches Wanderbuch, S. 19. Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 461. Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 461. Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 462. 390

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„Weltliteratur“ erhielt, wenn es in seiner „Geschichte der jüdischen Literatur“ heißt: „Mannigfach verschiedene und wirr durcheinander fließende Strömungen treffen in dem Bilde zusammen, das der verjüngte jüdische Stamm in der Wissenschaft und Poesie dieser Periode [gemeint ist die iberisch-sephardische, C. S.] darbietet. Alle diese Strömungen aber münden in das große Meer der Weltliteratur; alle diese Richtungen setzten die Arbeit der Geschlechter der Vergangenheit fort und spinnen den Faden weiter.“449 Ausgewählten Figuren des sephardischen Judentums kam dabei eine zentrale Funktion zu, wie sich am Beispiel Jehuda ha-Levis zeigen lässt, von dem Karpeles sagte: „In ihm hat die Entwicklung des in der jüdischen Nationalliteratur maßgebenden Prinzips ihren Höhepunkt erreicht; er ist das dichterisch verklärte Bild der Volksseele in ihrem politischen Empfinden, in ihrem geschichtlichen Ringen, in ihren patriotischen Stammesgefühlen und in ihrem weltgeschichtlichen Martyrium.“450 Diese „jüdische Nationalliteratur“ habe auf der Grundlage eines Transfers von Wissen von Ost nach West stattgefunden, den Karpeles selbst dichtend zu beschreiben versucht: „Als der Sänger Chor hörte auf zu singen,/Begann Hispania’s Lyra zu erklingen;/Als Ostens Söhne keinen Ton mehr fanden,/Da sind des Westens Dichter aufgestanden.“451 Auf Grundlage eines Verständnisses von Wissens- und Kulturtransfer wird auch Karpeles Bewunderung für Jehuda ha-Levi deutlich. In der „Morgenröte der Erkenntnis“ erblickte er nicht allein die Möglichkeit, die Scham über das Judentum und Judesein zu verdecken, „sondern ein Spiegelbild der Vergangenheit, ein Trostbild der Gegenwart“452 zu schaffen. Von dieser Prämisse ausgehend trug Karpeles sein Programm für eine deutsch-jüdische Literatur vor, das auch ein Programm der Freiheit formulierte: „Im Hinblick auf ein so reich blühendes poetisches Leben durfte das Judentum wohl die Hoffnung hegen, die schon der erste Historiker der jüdischen Poesie ausgesprochen, dass im Gegensatz zu der mittelalterlichen, die die Urkunde von der Freiheit des Volkes in der Sklaverei, und zu der neuern, die die Sklaverei des Volkes mitten in der Freiheit bezeichne, die jüdische Poesie der Zukunft‚ das Lebensbild von der Freiheit des Volkes in der Freiheit’ sein möge: jüdisch-deutsch.“453 449 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 2. Bd., S. 453 450 Karpeles: Illustrierte Allgemeine Geschichte der Literatur, 1. Bd., S. 420. (Mit Jehuda haLevi befassen sich S. 420–436 dieses Bandes). 451 Gustav Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur. 1. Bd., 2. Aufl. Berlin 1909. [EA Berlin 1909] (= Vierte Periode: Die jüdisch-arabisch-spanische Literatur. Bd. I. Die jüdisch-arabische Literatur in Spanien) S. 368. 452 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 1, S. 444. 453 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 1, S. 449. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Dieser Freiheitsgedanke findet sich auch in Karpeles’ Bestreben, die Wirkung des iberisch-sephardischen Vorbildes für die Geschehnisse in Deutschland heranzuziehen. Insbesondere in Lessings „Nathan“ erkannte er im Kern, dass dieses Stück auf die „Blüteperiode der maurisch-jüdischen Kultur in Spanien hinweist.“454 Damit wird der Bezugspunkt insofern deutlich, als dass ein für die deutsche Literatur der Aufklärung zentrales Werk seine Ursprungsidee im moslemischen Spanien hatte. Dadurch war auch eine explizite Position gegen den Mythos einer allein auf dem Fundament des Christentums gründenden Europa-Idee formuliert. Das kulturelle Selbstverständnis der Juden mit dem Wunsch nach Bildung hatte Karpeles zufolge eine religiösen Orientierung abgelöst, wenn er davon sprach, dass die Juden in der Zerstreuung zuerst Schulen gründeten, „denn sie wissen, dass das Einzige, was sie erhalten hat in ihrer Verbannung und Zerstreuung, der Geist gewesen ist, welcher aus der Schule hervorging.“455 Wie bereits gezeigt wurde, nahm die Existenz der Juden in Spanien hinsichtlich ihrer Leistungen in Wissenschaft und Kunst einen zentralen Stellenwert ein, der sich besonders auch hinsichtlich der Reichweite in einen allgemeinen europäischen Raum definierte. Karpeles begriff einen so verstandenen Kulturtransfer, indem er nicht allein die bereits als bekannt vorauszusetzenden Wege des Wissenschaftstransfers der griechischen Philosophie mittels der arabischen Übersetzungen von Juden in die europäische Kulturtradition hervorhob, sondern über diesen Raum hinausging und die Literatur der Inder und Perser ausdrücklich miteinbezog.456 Für Karpeles blieb die von ihm so verstandene Vermittlung von Kultur keineswegs auf den wissenschaftlichen Bereich beschränkt. Er hob den Umstand hervor, dass die Juden zur Zeit der islamischen Dominanz über die Iberische Halbinsel alle fromm waren, also nicht mit Zwängen konfrontiert wurden, ihren Glauben zu verlassen und zum Islam zu konvertieren. Auf der Grundlage rechtlicher Gleichstellung schufen Juden, indem sie Juden blieben, Güter für die allgemeine Kultur und nicht nur für eine jüdische Kultur. Karpeles‘ Gleichung lautete: Unter den Arabern ging es den Juden, von gelegentlichen Eintrübungen einmal abgesehen, gut. Unter der sich 454 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur. Bd. 2, S. 397. 455 Gustav Karpeles: Sechs Vorträge über die Geschichte der Juden. Gehalten in Berlin im Winter 1895/96. Großloge für Deutschland (Hg.). VIII. Berlin 1896. S. 26. 456 „Hervorragende Werke der Poesie sind erst durch die Hilfe der Juden aus den Schätzen Indiens, Persiens und Arabiens auf unsere Literatur gekommen, so dass ein neuerer Forscher mit Recht behauptet, dass der Grundstock aller Romane, Novellen, Fabeln, Märchen und Balladen ihren Urgrund und ihre Wurzeln in jenen wenigen Büchern habe, vielleicht sechs bis acht, welche damals durch Araber und Juden aus der sonnigen Pracht des Orients, aus den blumengeschmückten Fluren Indiens und Persiens nach Europa gebracht und so vor der Vergessenheit gerettet wurden.“ (Karpeles: Sechs Vorträge, S. 33). 392

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ausdehnenden christlichen Herrschaft sei es ihnen, auch wenn die von den Arabern verbreitete Vorstellung von Toleranz anfänglich auch bei den christlichen Eliten ihre Wirkung hinterließ, immer schlechter ergangen.457 Karpeles nahm einen entscheidenden Einfluss der Juden auf die spanische Literatur an, wenn er seine These formulierte: „An der Wiege der spanischen Literatur haben Juden gesessen“458. Allerdings sei es der spanischen Literaturgeschichtsschreibung gelungen, den Einfluss, selbst das Vorhandensein dieser Juden, zu leugnen und sie als nicht existent zu bezeichnen. So seien der „Cid“ und die „Celestina“, die beide auf jüdischen Quellen beruhten, den Lesern im Spanien des 17. Jahrhunderts bereits nicht mehr bekannt. Insbesondere der Romanze kam bei der Ausbildung einer nationalen spanischen Literatur eine große Bedeutung zu, wie es Karpeles bezogen auf die literarische Figur des „Cid“ „im Heldenzeitalter der Nation“ hervorhebt.459 Außerdem fanden diese Romanzen auch ihren Weg in die jiddische Literatur, womit auch sie das Kriterium der Weltliteratur erfüllten. Die Situation der Neuchristen stimmte Karpeles pessimistischer als die der vertriebenen Juden, auch wenn erstere in der spanischen Gesellschaft in teilweise herausragender Stellung als Staatsdiener oder Professoren wirken konnten. Karpeles verwies darauf, dass besonders der spanische Adel jüdische Vorfahren vorweise – eine Annahme, die Karpeles sicherlich auch deshalb anführte, weil dadurch den Juden eine gesellschaftliche Stellung eingeräumt wurde, die sie inmitten der spanischen Gesellschaft zeigte. So konnte er die Erinnerung der Marranen an Spanien in seiner „Geschichte der jüdischen Literatur“ als konstitutiv begreifen: „Vaterland und Mutterland hielten diese Marranen, obwohl ihrer dort nur Kerker und Scheiterhaufen harrte und obwohl sie dieses Vaterland von sich gestoßen hatten, auch in der Fremde noch drei Jahrhunderte hoch und heilig, mit jener innigen Liebe, der der geliebte Gegenstand umso teurer gilt, je schwieriger sein Erringen, je gefahrvoller sein Besitz ist, je heftiger er selbst gegen diese hingebende Liebe sich sträuben mag.“460 Für Karpeles orientierten sich die Marranen besonders in Amsterdam an der allgemeinen humanistischen Bildung der Zeit, die sie befähigen sollte, sich in das 457 Karpeles: Sechs Vorträge, S. 36. 458 Karpeles: Sechs Vorträge, S. 38. 459 „In ihren historischen Romanzen haben die Spanier alle bedeutsamen Momente ihrer Geschichte besungen, alle Ereignisse und Großtaten haben dort ihren poetischen Widerhall gefunden. Er [Der Cid, C. S.] knüpft an das Heldenzeitalter der Nation an, nämlich an jene glorreiche Periode ihres Glaubenskampfes gegen die Mauren, der auf das Gemüt und die Phantasie der Spanier einen lebhaften, unverwischbaren Eindruck hervorrief.“ (Karpeles: Allgemeine Geschichte der Literatur, Bd. 2, S. 9). 460 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, 2. Bd. S. 305. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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niederländische Staatswesen zu integrieren.461 In Amsterdam war es den Marranen möglich, ihre Liebe zu Spanien weiter zu pflegen und dennoch in einer Bürgergesellschaft integriert zu werden. Diese Integration richtete Karpeles an den zentralen Parametern „Vaterland“ und „Muttersprache“ aus. Der Bildungshintergrund der Marranen gründete auf deren spezifischen Erfahrungen, die jüdische Identität im Verborgenen zu leben, und nahm gleichzeitig auch Vorstellungen der kulturellen Leistungen der sephardischen Juden mit auf, „die einst in Spanien der Poesie eine neue Heimstätte bereitet haben.“462 Dieses Erbe konnte der sephardischen Juden sich jedoch nicht im gleich hohen qualitativen Maße bei den marranischen Nachfahren fortsetzen, denn Karpeles erkannte nunmehr Mittelmaß und keine originellen Gedanken, da sich die poetischen Darstellungen nur um die eigene Leidensgeschichte während der Inquisition drehten.463 Die Auseinandersetzung mit den realen Lebensumständen machte es den Marranen in der Regel unmöglich, sich mit geistiger Tätigkeit in dem Maße zu exponieren, dass von einer hohen Güte der Produktionen gesprochen werden könnte. Dennoch gab es Ausnahmen. So verkörperte Menasseh ben Israel das Ideal eines politischen Vermittlers oder Shtatlan, der sich konkret für die Wiederansiedlung der Juden in England engagierte, indem er sich direkt an den Lordprotektor Oliver Cromwell wandte. Karpeles erkannte zwar die Überlegenheit Menasseh ben Israel den anderen Marranen in Amsterdam gegenüber an. Trotzdem sah er ihn nur als „einen geschickten Kompilator, als einen merkwürdigen Vielwisser“, „der viele Sprachen beherrschte und in allen sich gleich gut auszudrücken wusste, dem aber jeder originelle Gedanke und vor allem jede tiefere wissenschaftliche Einsicht fehlte.“464 Es war die Fähigkeit der Marranen zur interkulturellen Kommunikation, auf deren Grundlage sie als ernst zu nehmende Mitbürger wahrgenommen wurden, wenn Karpeles festhält: „Der Einfluss und die Tätigkeit solcher Männer hob natürlich die jüdische Gemeinde zu Amsterdam in den Augen der christlichen Zeitgenossen.“465 So suchten christliche Gelehrte und Politiker den Kontakt zu Menasseh, weil sie ergründen wollten, wie dieser über die christliche Religion dachten. Der Aspekt 461 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, S. 285. 462 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 286. 463 „Das Leid Israels in der Diaspora, die Vertreibung der Juden aus Spanien, die Qualen der Marranen unter der Inquisition, das war die ganze, allerdings wenig abwechslungsreiche, aber darum nicht minder tragische Stoffwelt dieser Dichter.“ (Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd.2, S. 286). 464 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 287. 465 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 290. 394

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der Vermittlung zeigte sich jedoch klar bestimmend auch bei denjenigen Marranen, die ihr traditionelles jüdisches Wissen mit den neuen wissenschaftlichen Methoden zu verbinden suchten, ohne dabei ihr Judentum in Frage zu stellen. Die jüdische Identität wurde hier hinsichtlich ihres Grades an Integration Grundlage einer beide Seiten berücksichtigenden kommunikativen Struktur. Als ein Beispiel für dieses Wissenschaftsdenken führte Karpeles David Cohen de Lara an. In seiner lexikografischen Arbeit „Kether Kehunna“ (Die Krone des Priestertums) übertrug er „die neue kritische Methode der großen holländischen Philologen auf die rabbinischen Studien“.466 Die Leistungen Einzelner täuschten jedoch nicht darüber hinweg, dass Karpeles Amsterdam zwar als das geistige Zentrum im europäischen Judentum des 17.  Jahrhunderts klar benannte, die dort herrschende Vielfalt jedoch seinen Vorstellungen von Originalität und echter wissenschaftlicher Klarheit nicht entsprach. Stattdessen habe „leichtes Tändeln mit Gefühlen und Ideen“467 die wissenschaftliche Arbeit dominiert. Eine Ausnahme stellte Spinozas Philosophie dar, die Karpeles als originell bezeichnete, weil sie Grundlage eines „Denkprozesses”468 gewesen sei, der Spinoza als Teil der Menschheit erklärte. Spinoza „gehörte“ folglich nicht mehr dem jüdischen Volk, sondern stattdessen der gesamten Menschheit.“469 Für Karpeles fand das iberisch-sephardische Beispiel jedoch in der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Literatur ihre gegenwärtige Entsprechung. Der Wunsch nach Erkenntnis löste auch hier die Fesseln des Mittelalters, bedingt durch die Errungenschaften der Aufklärung konnte sich eine Wissenschaft des Judentums ausbilden. „Erst als die Periode der Scham und der Verachtung vorüber und die Morgenröte der Erkenntnis wie der Selbstachtung heraufgestiegen war, als bedeutende Forscher das Bild der jüdischen Geschichte und der jüdischen Lehre von dem Staub, der sich darauf gelagert, reinigten, erst da erfüllte sich auch die Poesie mit neuem Inhalt.“470 Insbesondere Autoren, die sich mit dem sephardischen Judentum identifizierten und dies auf die gegenwärtige Situation in Deutschland anwendeten, verstand Karpeles als Vorbilder. So ordnete er den Maskil Napthali Herz Wessely diesem Verständnis folgend auch ein: „In Wessely vereinigten sich schon im Blute sephardische Anmut und polnische Gelehrsamkeit. [...] Sein Eifer für Bildung und Erziehung der jüdischen Jugend hat in weiten Kreisen erhebend und läuternd eingewirkt.“471 466 467 468 469

Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 291. Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 297. Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 295. „Spinoza gehört der Menschheit an“. (Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, S. 297). 470 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, Bd. 2, Bd. 2, S. 445. 471 Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur, 2. Bd. S. 400. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Zionismus als Gegengeschichte zum iberisch-sephardischen Ideal Bis zu ihrer Vertreibung aus Spanien im Jahre 1492 hatten Juden seit Anbeginn des ersten christlichen Jahrhunderts auf der Iberischen Halbinsel gelebt, andere Einschätzungen verorteten erste Spuren jüdischer Besiedlung sogar bereits zur Zeit des Ersten Tempels. Die Wahrnehmung der jüdischen Besiedlung in Spanien wurde geprägt durch die Idee eines Goldenen Zeitalters, in welchem die Juden hier nicht nur integriert, sondern auch aktive Ideengeber und Vermittler waren, insbesondere während der islamischen Periode, aber auch noch während der ersten Jahrhunderte der sich ausbreitenden Reconquista in den christlichen Staaten. Vor allem die Vertreter der Wissenschaft des Judentums und deren Nachfolger wiesen im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausdrücklich auf den Umstand hin, dass die Juden in Spanien eine Heimat gefunden hätten. Das Exil in Spanien wurde als eine wünschenswerte Form des Zusammenlebens mit der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft illustriert, die auch für die eigene Situation in Deutschland im Verlauf des 19. Jahrhunderts Vorbildcharakter einnahm. Die Vertreibung von der Iberischen Halbinsel nahm auch aufgrund dieser Tatsache innerhalb der historiografischen Darstellungen sowie der literarischen und publizistischen Debatten keine zentrale Bedeutung ein. Wurde die Vertreibung thematisiert, bestand ein grundsätzliches Prinzip der Wahrnehmung darin, hervorzuheben, dass die Vertreibung der Juden den spanischen Staat in die Rückständigkeit geworfen habe, von der sich dieser bis in die Gegenwart nicht erholen sollte. So wurde die Inquisition nicht vor 1808 offiziell in Spanien abgeschafft und das Vertreibungsedikt des Jahres 1492 erst im Dezember 1968 offiziell durch den spanischen Staat zurückgenommen. Erst auf dieser Basis konnten sich religiöse und kulturelle Institutionen legal in Spanien etablieren. Und erst im Jahre 1992 entschuldigte sich König Juan Carlos II. offiziell für die Vertreibung bei jüdischen Repräsentanten anlässlich der 500-Jahr-Feier zur Erinnerung an die Vertreibung. Die Intervention des deutschen Rabbiners Ludwig Philippson an die Cortes, die Freiheit des religiösen Kultus zu ermöglichen, sorgte für Aufsehen in Deutschland und Spanien – auch wenn dieses Eingreifen eines deutschen Juden nicht zu einem direkten Erfolg führen sollte. Allerdings wurde es den Juden bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gestattet, als Individuum – wenn auch nicht organisiert in einer jüdischen Gemeinde – in Spanien zu leben. Diese Möglichkeit bestand, seitdem die Verfassung von 1869 die Prinzipien religiöser Toleranz eingeführt hatte.472 Deutsche Juden wanderten im Verlauf des 19. Jahrhunderts allerdings nur in geringer Anzahl aufgrund der ihnen in Spanien gewährten reli472 EJ, Vol. 15, S. 244. 396

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giösen Freiheit aus. Bei der Volkszählung von 1877 bekannten sich lediglich 416 Personen zum Judentum. Anders als im restlichen Europa, in dem der Antisemitismus seit den 1880er-Jahren zunahm, verlief die Entwicklung in Spanien in einer umgekehrten Richtung. Ein seit Jahrhunderten im Lande manifestierter Antisemitismus – auch ohne jüdische Einwohner – wich nun einer politisch initiierten Kampagne zur Rückkehr der sephardischen Juden, vornehmlich aus dem Balkan, die Philosephardismus genannt wurde. Nach dem verloren gegangen Krieg gegen die USA 1898 und dem Verlust der spanischen Kolonien in Übersee waren Überlegungen zur Rückgewinnung der Sephardim nach Spanien auch als Kompensation dieses Verlustes zu verstehen. Insbesondere der Arzt und liberal-konservative Politiker Angel Pulido Fernández (1852–1932) setzte sich für den Kontakt zwischen Spaniern und den sephardischen Juden, die nun auf dem Balkan lebten und noch immer das Judenspanische sprachen, auf kultureller und ökonomischer Ebene ein. Auf der Grundlage von Befragungen von Ladino Sprechenden erstellte Pulido Fernández eine Abhandlung über die Verbreitung des Judenspanischen und diskutierte darin auch die Abweichung vom kastilischen Spanisch.473 Unter Forschern seiner Generation existierte die verbreitete Auffassung, das von den Sephardim gesprochene Spanisch habe deren Assimilation an die Kultur der Balkanstaaten verhindert.474 Die sephardischen Juden hätten ihre spanische Identität sowie spanische Gebräuche über die Jahrhunderte im Exil bewahrt und als „Elite der jüdischen Rasse“475 einen patriotischen Akt als Spanier begangen. Pulido Fernández‘ Engagement mündete in der Hispanismo-Bewegung, die 1910 zur Gründung der „Alianza Hispano-Israelita“ unter der Schirmherrschaft des spanischen Königs Alfons XIII. führte. Die sephardischen Juden wurden dabei als eine Gruppe verstanden, die die spanische Sprache und Kultur über die Jahrhunderte hinweg bewahrte. Darüber hinaus versuchte man, von der wirtschaftlichen Bedeutung der Sephardim für den spanischen Staat zu profitieren. Die außerhalb Spaniens lebenden Sephardim konnten 1924 in ein Schutzverhältnis zum spanischen Staat treten. Um sich diese Elite für die spanischen Interessen zunutze zu machen, wurde ein Austausch spanischer Lehrer in die sephardischen Zentren des Balkans in Gang gesetzt. Der Versuch, Schulen nach dem Vorbild der „Alliance Israélite Universelle“ zu gründen, musste jedoch als gescheitert angesehen werden. 473 Angel Pulido Fernández: Espanoles sin patria y la raza sefardí. Madrid 1905. 474 Bernd Rother: Spanien und der Holocaust. Tübingen 2001. S. 36. 475 Ernesto Giménez Caballero: Mi regreso a Espana. In: Gaceta Literaria 72 (15.12.1929), S.  1. Zur Bedeutung von Rasse und der sephardische Jude vgl. John M. Efron: Scientific Racism and the Mystique of Sephardic Racial Superiority. In: Leo Baeck Institute Yearbook 38 (1993), S. 75–96. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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„Der Philosephardismus der vergangenen Jahrzehnte gipfelte in der frühen republikanischen Periode in einigen Ankündigungen, das neue politische System werde das Vertreibungsedikt von 1492 widerrufen.“476 Und tatsächlich erhielten in der Zweiten Republik (1931–1939) Juden die volle bürgerliche Gleichstellung. Auch wenn sich zahlreiche Vertreter des Philosephardismus später in der Falange Francos organisieren sollten, verschlechterte sich die Lage der Juden in Spanien drastisch. Die Hilfsaktionen des Franco-Regimes zur Rettung der sephardischen Juden in Saloniki, bei denen die spanische Regierung mit spanischen Pässen versorgt wurde, um sie vor dem Zugriff der deutschen Autoritäten zu schützen, ließen sich durch die fortdauernde Atmosphäre des Pro-Sephardismus erklären. Eine derartige Wahrnehmung der Rolle der Juden als Bewahrer der kulturellen Identität eines Nationalstaates entwickelte sich in der Mehrzahl der europäischen Länder eher gegensätzlich. Vor dem Hintergrund einer stockenden gesellschaftlichen Akzeptanz und einer Zunahme des Antisemitismus seit den 1880er-Jahren in vielen europäischen Länder erschien die vollständige Assimilation keine zeitgemäße Empfehlung mehr zu sein. Die Wurzeln für eine kritische Bestandsaufnahme der iberisch-sephardischen Kultur und die damit einhergehende Assimilation in die Mehrheitsgesellschaft liegen bereits vor dem Aufkommen zionistischer Positionen. Der erste Autor, der bei aller Hochachtung vor den iberischen Juden in Spanien eine radikale Kritik der zeitgenössischen iberisch-sephardischen Kultur formulierte, war Abraham Geiger. Geiger war kein Gegner der Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft, sah er die deutschen Juden sogar in der Nachfolge der Sephardim als Vorbilder für andere Judenheiten in Europa an. Aus diesem Grund kritisierte er insbesondere die Lethargie der zeitgenössischen sephardischen Juden in den Niederlanden, aber auch im Osmanischen Reich, die sich nicht in die Mehrheitsgesellschaft einfügen wollten und sich nur hochmütig und nostalgisch verklärend auf ihre sephardische Herkunft besannen. Geiger zog deren Beispiel heran, um zu zeigen, wie eine gewünschte Integration in einen modernen Nationalstaat nicht funktionierte. Die ersten zionistischen Vertreter sollten die Wahrnehmung der jüdischen Geschichte auf der Iberischen Halbinsel bei ihren jüdischen Lesern radikal verändern. Der sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausprägende Zionismus begann als eine klare Außenseiter-Ideologie, erhielt jedoch durch antisemitische Vorfälle wie die Pogrome in Russland seit 1881 und die Dreyfusaffäre von 1896 regen Zulauf und wuchs schließlich zu einer Alternative für die Juden Ost- und Westeuropas heran. Der Zionismus blieb dabei zumindest in Westeuropa bis über den Ersten Weltkrieg hinausgehend vorerst eine Option für Minderheiten. Die Opposition der so genannten „Protestrabbiner“ gegen die Einberufung eines Zionistenkongresses 476 Manfred Böcker: Antisemitismus ohne Juden. Frankfurt/Main: 2000. S. 135. 398

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in Deutschland war jedoch so erheblich, dass dieser nicht in München stattfinden konnte und stattdessen Basel als Austragungsort gewählt wurde.477 Auch dies war ein Beleg dafür, dass sich die überwältigende Mehrheit der Juden in Deutschland nicht nur nicht mit dem Zionismus anfreunden konnte, sondern ihn als Widerspruch zum Wunsch nach Assimilation auffasste. Dies sollte sich erst allmählich ändern.478 Den zionistischen Interpreten war gemein, dass sie Konzepte von Assimilation und Teilhabe der Juden an der allgemeinen Kultur ablehnten. Für sie waren insbesondere die sephardischen Juden in einer Weise an die Mehrheitsgesellschaft assimiliert, die es ihnen unmöglich machte, zu erkennen, dass sie nicht in diese integriert und geschützt waren, sondern sogar ihr Leben massiv bedroht war. Die aus ganz anderen Gründen von Abraham Geiger kritisierte Passivität der zeitgenössischen Juden griffen zionistische Autoren auf und wiesen ebenfalls auf die Uneinsichtigkeit aller assimilierten Juden hin, nicht zu erkennen, was die Stunde geschlagen habe. Der zionistische Geschichtsbegriff ging zudem von einer Negation des Exils aus. Er sah die jüdische Geschichte primär als Verfolgungsgeschichte und plädierte von diesem Standpunkt für die Aufhebung der Galut.479 Von seiten einer zionistischen Geschichtsschreibung wurde die iberisch-sephardische Kultur wegen ihres hohen Grades der Assimilation abgelehnt und die Rolle der Juden als Vermittler insbesondere eine klare Absage erteilte. Stattdessen rückte die Vertreibung ins Zentrum der Betrachtung. Der zionistische Geschichtsbegriff trat für eine Loslösung oder Dissimilation vom Einfluss der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaften ein und sah die Erfüllung der jüdischen Geschichte in der Auflösung der Diaspora, durch die Etablierung eines jüdischen Staates. Bereits der frühe zionistische Autor Moses Hess hatte 1862 an prominenter Stelle in seinem Buch „Rom und Jerusalem“ festgestellt, dass „die spanisch-jüdische Kulturepoche“ gezeigt habe, „wie man zugleich nationaler, patriotischer Jude [...] bleiben und sich dennoch an dem Kultur- und Staatsleben des Landes, dessen Bürger man ist, so sehr beteiligen kann, dass dieses Land ein zweites Vaterland wird.“480 Hess gab den Gedanken nicht auf, die Juden hätten in Spanien ein Zuhause gefun477 Michael Brenner: Warum München nicht zur Hauptstadt des Zionismus wurde – Jüdische Religion und Politik um die Jahrhundertwende. In. Zionistische Utopie – israelische Realität. Religion und Nation in Israel. Michael Brenner, Yfaat Weiss (Hg.). München 1999. S. 39–52. 478 Mark H. Gelber: Melancholy pride: nation, race, and gender in the German literature of cultural Zionism. Tübingen 2000. David N. Myers (Ed.): Re-inventing the Jewish past: European Jewish intellectuals and the Zionist return to history. Oxford 1995. 479 Brenner: Propheten des Vergangenen, S. 230. 480 Moses Hess: Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage. Leipzig 1862. ND Jerusalem 1935. Hier: S. 73. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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den, ohne zu assimilieren. Er betonte zudem deren nationaljüdisches Verständnis, das sich beispielsweise durch die Dichtung erhalten habe. In seiner Analyse des zeitgenössischen Judentums kam Hess wie auch später Theodor Herzl zu dem Schluss, der Antisemitismus mache eine Integration und Akzeptanz der Juden unmöglich. Das Buch von Hess hob die Bedeutung des Nationalismus, der bereits Ländern wie Italien einen Nationalstaat brachte, ausdrücklich hervor. Auch den Juden sei es möglich, einen eigenen Staat zu haben, in dem sie ohne Unterdrückung und Hass leben könnten. Besonders vor dem Hintergrund einer stockenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Juden seitens der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland erschien die vollständige Assimilation der iberischen Juden keine zeitgemäße Empfehlung mehr zu sein. Infolgedessen trat auch die Idealisierung dieser Kultur, wie sie besonders von der Wissenschaft des Judentums betrieben wurde, zurück. Diese Abwendung von der Vorbildfunktion der iberisch-sephardischen Kultur soll am Beispiel von Max Nordau abschließend betrachtet werden. Max Nordau: Repräsentation der iberisch-sephardischen   Geschichte und das zeitgenössische Spanien Max Nordau wurde 1849 in der ungarischen Stadt Pest als Sohn des Rabbiners Gabriel ben Asser Südfeld geboren. Er erhielt eine traditionelle jüdische Erziehung und besuchte bis 1862 eine katholische Schule. In diesem Jahr wechselte er auf eine calvinistische Schule, weil auf der katholischen Schule im Rahmen der Magyarisierung Ungarisch zur Unterrichtssprache erhoben wurde.481 Bis zu seinem 18. Lebensjahr blieb Nordau ein observanter Jude. Danach entwickelte er sich zu einem radikalen Naturalisten und Vertreter von Darwin’s Evolutionstheorie. Im Jahre 1875 änderte er seinen Namen von Südfeld zu Nordau. Der Namenswechsel zeigte seinen starken Willen, sich in die Mehrheitskultur zu assimilieren. Das hierbei auch jüdischer Selbsthass eine Rolle spielte, wie Reizbaum vermutet, ist durchaus möglich.482 Zweifelsfrei war Nordau bereits als Heranwachsender von zwei wesentlichen Dingen geprägt worden: vom Erstarken des Antisemitismus und von der Magyarisierung in Ungarn. Im Jahre 1880 schloss Nordau sein Medizinstudium an der Universität in Pest ab und ließ sich in Paris nieder, wo er als Arzt praktizierte. Schon 481 N.N.: Die exemplarische Schulkarriere eines ‘deutschen’ Juden in Pest des 19. Jahrhunderts: Max Nordau. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. April 2002, Vol. 54, Issue 2, S. 138–152. 482 Vgl. Marilyn Reizbaum: Max Nordau and the Generation of Jewish Muscle. In: Jewish Culture and History, Vol. 6 (2003). S. 130–151. Hier: S. 132. 400

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früh erwarb sich Nordau Anerkennung und Prominenz als Journalist. Im Jahre 1867 wurde er Mitarbeiter des „Pester Lloyd“ und war Korrespondent bedeutender europäischer Zeitschriften. Nordau verbrachte viel Zeit auf Reisen in Russland, Skandinavien, England, Island, Frankreich, Italien und Spanien. Im Jahre 1873 bereiste er Spanien von Katalonien im Norden bis nach Andalusien im Süden. Seine Erfahrungen veröffentlichte Nordau in seiner zweibändigen Reisedokumentation „Vom Kreml zur Alhambra“ im Jahre 1880. Nordaus ambivalente Wahrnehmung der Rolle der Juden im mittelalterlichen und zeitgenössischen Spanien im Buch verdeutlicht seine Kritik an der Assimilation. Nordau bemerkt in seiner Reisebeschreibung „Vom Kreml zur Alhambra“ zu Beginn des Kapitels über Spanien, dass die jüdische Geschichte für die Besucher unsichtbar sei. Zufällig entdeckte er einen Teil eines Grabsteins als Pflasterstein mit einer hebräischen Inschrift.483 Er schreibt, „nichts ist von diesem unglücklichen Geschlechte übrig geblieben als die Erinnerung des großen Verbrechens, das Spanien an seinen treuesten Bewohnern begangen. Wie eine zu oberflächlich eingescharrte Leiche starrt dieses eingesargte Verbrechen mit den hundert Totenknochen alter Steine, halbzerstörter Inschriften und melancholischer Ruinen unter der Decke der Vergangenheit hervor und erhebt seine unverjährte Anklage in allen Städten und auf allen Landstraßen.“484 Dieses Unrecht gegen die loyalsten Bewohner Spaniens sei niemals gesühnt worden, allerdings würde die Klage noch immer erhoben.485 Das deutsche Adjektiv „eingesargt“ war im Verlauf der Emanzipation der deutschen Juden eine zentrale Metapher für die Ghetto-Existenz der Juden vor ihrer Emanzipation. Diese sei zumindest teilweise selbst auferlegt, weil die Juden jeden Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft und deren Ideen ablehnten. Nur in Spanien, so der übereinstimmende Tenor im 19. Jahrhundert, sei dies anders gewesen, und die Juden hätten als Vermittler an der allgemeinen Kultur partizipiert.486 Abraham Geiger hatte 1866 argumentiert, dass es den Juden nun vorbehalten sei, sich für die Emanzipation der Menschheit einzusetzen – die Sehnsucht danach wurde auch in Deutschland fünf Jahre vor der dortigen Emanzipation deutlich.487 483 484 485 486

Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 260. Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 260 Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 260–261. „In den Ghettos lebendig eingesargt, nährten die Juden ein eigentümliches, wissenschaftliches Leben, dessen Wesenheit während des ganzen Mittelalters - die arabische Periode ausgenommen - sich wenig zeigen konnte und durfte.“ (Berthold Auerbach: Das Judentum und die neueste Literatur. Kritischer Versuch. Stuttgart 1836). 487 Geiger: In der Zerstreuung, S. 154. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Für Nordau bedeutete der Zustand, „eingesargt“ zu sein, an dieses historische Verbrechen der Vertreibung der Juden aus Spanien zu erinnern. Er stellte dabei auch heraus, dass Spanien durch die Vertreibung bis auf den heutigen Tag unglücklich und ohne Kultur, aber von religiösem Fanatismus heimgesucht werde. Allerdings seien die spanischen Monarchen von jeder Schuld freizusprechen. Sie seien von fanatischen Geistlichen in diese Richtung gesteuert worden. Das Argument, auch noch in den christlichen Herrschern Beschützer der Juden zu sehen, ist sehr alt. Es wurde auch noch von Ludwig Philippson in seiner Petition von 1853 angeführt. Die Vertreibung habe also die Juden und den spanischen Staat negativ beeinflusst. Nordau wendet sich hier der Geschichte der Moriskos zu – Moslems die zum Christentum konvertiert waren –, um die Vertreibung als allgemeines Unrecht gegen die Menschheit zu erklären, sie somit dem Zusammenhang der engeren jüdischen Geschichte zu entziehen. Die Vertreibung der Menschen war für Nordau noch immer sicht- und spürbar. So wähnte sich der Reisende Nordau in Almeria in einem „Geisterschloss“, unheimlich und ausgestorben, das zahlreiche Geheimnisse in sich zu tragen scheint.488 Dieser verzweifelte Eindruck von Verlassenheit ändert sich für Nordau mit der Besichtigung der Alhambra. Voller Begeisterung äußert er sich über das islamische Spanien und die jüdischen Beiträge dazu. Die Alhambra war für ihn das Symbol für die glorreiche Vergangenheit Spaniens. Die Besichtung vermittelte ihm das Gefühl, sich nicht länger als Fremder zu fühlen, sondern von dem Land angenommen zu sein, das ihn zu einem der seinen gemacht hat: „Wie ich durch diese Schönheit und Glückseligkeit dahinschritt, da war es mir, als sei ich nicht mehr der Fremdling, sondern von diesem elysischen Lande adoptiert und dürfe mit seinen übrigen Kindern teilhaben and dem gemeinsamen Erbe von götterhaftem Daseinsbehagen und ungezählten Reichtümern der Natur.“489 Andalusien präsentierte sich für ihn als „das bezauberndste Land in Europa.“490 Die Erinnerungen und Assoziationen überwältigen Nordau, der glaubt, sich in einem Märchen zu befinden.491 In diesem Zusammenhang führte Nordau wiederum das Adjektiv „eingesargt“ an, wenn er die vergangene glorreiche Kultur mit der der 488 „Mir war’s als wandelte ich in einem Geisterschlosse; die Ausgestorbenheit rings um mich war mir unheimlich; ich wagte kaum aufzutreten, unholde Geheimnisse zu erwecken, die in diesem geborstenen Gemäuer schlummerten.“ (Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 264). 489 Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 268–269. 490 Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 268. 491 „Man konnte sich ein Märchenprinz zu sein dünken, der auf weichen Kissen von Seide ruht und dem junge Sklavinnen mit mächtigen Pfauenfächern die üppige, parfümierte Luft des Harems zuwehen.“ (Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 268). 402

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Gegenwart vergleicht, die nun nicht mehr einer Stadt, sondern einem „Mausoleum“ gleiche, „ein ungeheures Grabdenkmal über der alten maurischen Herrschaft, die hier eingesargt wurde.“ Die Gegenwart hingegen sei „beschämend und trostlos“. Diese Kultursymbiose gehörte der Vergangenheit an, nun bestimmten Verrohung und blinder Glaube das Leben in Spanien. „Die Plaza de Torros hat die Universität ersetzt und die unwissende Bevölkerung sucht in den Kirchen die Erleuchtung, die sie einst in der Wissenschaft fand.“492 Die Vertreibung, die nicht allein für die Juden dramatische Formen annahm, erhielt für Nordau universalen Charakter. Während seines Besuches der ehemaligen Moschee in Córdoba, die wie viele andere in eine Kirche umgewandelt wurde, beobachtet Nordau einen Mann in traditionell nordafrikanischer Kleidung, der meditierend in sich versunken ist. Nordau beschreibt den Mann aufgrund seiner Erscheinung und seines Auftretens als stolze Persönlichkeit. Als Nordau in anspricht, weigert dieser sich, ihm zu antworten. Diese Einstellung ändert sich in dem Moment, als der Mann begreift, mit Nordau keinen Spanier, sondern einen Fremden vor sich zu haben. Während der sich nun anschließenden Konversation gibt sich der Mann als Morisko zu erkennen, dessen Vorfahren 1617 wegen des Vorwurfs, noch immer dem Islam anzuhängen, aus Spanien vertrieben wurden. Die historischen Moriskos, auch Mudejars genannt, wurden trotz aller Garantien der Religionsfreiheit ihnen gegenüber zwischen 1609 und 1614 vollständig aus Spanien verbannt. Nur Christen konnten in Spanien bleiben. Mit diesem Beispiel machte Nordau deutlich, dass der christliche Fanatismus nicht nur die Juden, sondern auch die Nachfahren der Moslems in Spanien verfolgte und vertrieb. Begeistert unterhält sich Nordau mit dem Mann und fragt ihn: „So sind die Erinnerungen an Eure spanische Herrlichkeit bei Euch auch heute noch so lebhaft?“493 Dieser entgegnet, dass Erinnerungen an die glorreiche Vergangenheit im Allgemeinen nicht mehr existierten und nur bei den „Nachkommen der Vornehmen und Großen“ noch präsent seien.494 Auch der Mann scheint zu dieser Gruppe zu zählen, berichtet er im Folgenden von dem Schlüssel zum Haus, den seine Familie auch neun Generationen nach der Vertreibung in Erinnerung an die Heimat in Spanien immer aufbewahrt habe. Er führt Nordau zum Tor des Hauses, das sich seit 250 Jahren nicht verändert habe. Das Verhalten des Moriskos verkörpert für Nordau eine Möglichkeit, die Gegenwart mit der Vergangenheit in Verbindung zu setzen.495 Die 492 493 494 495

Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 314–315. Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 322. Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 322. „Diese vergessen auch in ihrer gegenwaertigen Erniedrigung nicht den Glanz ihrer Ahnen und sie pflegen treu jedes Andenken an die Vergangenheit.“ (Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 322). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Gegenwart des Mannes ist von Trostlosigkeit gekennzeichnet. Sein Dasein fristet er als Bettler, sein Überleben sichert er als Verkäufer von kleinen Waren an die „Räuber seiner Familie” in verschiedenen spanischen Städten.496 Obwohl sich seine Vorfahren bemühten, sich in die christliche Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren, konnte dies ihren gesellschaftlichen Absturz nicht verhindern. Wie der Wanderer den heimatlosen Juden symbolisiert, ist es bei Nordau der Morisko, der heimat- und ruhelos ist und nur die Erinnerung an die Vergangenheit hat. Die Tätigkeit als Zwischenhändler erinnert an die Mehrheit der deutschen Juden vor dem Eintritt ins Zeitalter der Emanzipation Ende des 18. Jahrhunderts sowie an die zeitgenössischen osteuropäischen Juden, die insbesondere bei der Niederschrift von Nordaus Reisebeschreibungen große Not leiden mussten. Obwohl die Familie des Moriskos sich assimilierte, blieb sie im Geheimen dem Islam treu. Deshalb wurde sie auf der Basis eines fanatischen, exklusiven und in der Konsequenz verbrecherischen Christentums vertrieben. Diese Geschichte erinnert stark an das Schicksal der Neuchristen nach 1391, die ebenfalls in den folgenden Jahrzehnten wegen des Vorwurfs des Judaisierens auf dem Scheiterhaufen der Inquisition landeten.497 Für Nordau hatten die Vertreibungen aus Spanien universalen Charakter eingenommen. Zudem benutzte er die Erinnerung der Moriskos als eine Projektion dafür, dass Assimilation nicht funktionieren könne und auch niemals funktioniert habe. Obwohl er während eines Besuchs in Sevilla, zu der Überzeugung gekommen war, dass jede Familie über maurisches und jüdisches Blut verfüge,498 war diese angenommene Hybridität den Juden nicht von Nutzen. „Die Juden waren immer nur Gebende, niemals Empfangende“499 Dies war für Nordau die Basis für seine spätere Überzeugung, im Zionismus die einzige Alternative für die Juden zu sehen. Nach der Publikation seiner Reiseerinnerungen entwickelte sich Nordau mehr und mehr zu einem Kosmopoliten, der mehrere Sprachen beherrschte und dem Judentum ambivalent gegenüberstand. In Paris beobachtete er die Gesellschaft des

496 Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 321. 497 „Als auch Granada fiel, da drohte man meinem Geschlechte mit der Vertreibung, wenn es nicht seinen Glauben aufgeben wollte. Es wurde äußerlich katholisch, blieb aber im Geheimen dem Glauben der Väter treu. Das dauerte so drei Generationen, dann trieb man meine Familie und alle Mauren, die noch in Spanien waren, eines Tages von Haus und Hof, raubte ihnen alles, was sie hatten, misshandelte sie und schickte diejenigen, die nicht getötet wurden, nach Marokko hinüber.“ (Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 323). 498 „Die Stadt, in der es kaum eine Familie geben duerfte, die nicht maurisches und juedisches Blut in den Adern haette.“ (Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 291). 499 Nordau: Vom Kreml zur Alhambra, S. 692. 404

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Fin de Siècle und veröffentlichte sehr erfolgreiche Bücher.500 Durch seine Rolle als kultureller Vermittler in seiner Tätigkeit als Journalist entfernt von Budapest wurde er zudem eher als Popularisierer von modernen Theorien wie Darwinismus, Neurasthenie, Degeneration und Hysterieforschung bekannt.501 Neben erfolgreichen Publikationen machte er sich einen Namen durch kulturkritische Veröffentlichungen, insbesondere durch die Schrift „Degeneration“ aus dem Jahre 1892. Dieses Buch nahm die Schriften Nietzsches wie auch die Theorien Charles Darwins auf. Hier beschrieb und analysierte Nordau auch die physischen und materiellen Bedingungen der Juden in Ost und West, was schließlich in seinen Überlegungen zur Regeneration des Judentums mit der Ausbildung eines „Muskeljudentums“ mündete.502 Neben dem Kosmopoliten Nordau existierte auch die Person Nordau, die sich stolz auf das sephardische Judentum besann, während sie dem nicht assimilierten, insbesondere osteuropäischen Judentum skeptisch gegenüberstand. In seinen „Erinnerungen“ gibt Nordau an, seine Familie habe Materialien zum Hause Abrabanel aufbewahrt. Nordau selbst verstand sich als Nachfahre dieser Familie, seine Herkunft wurde ihm auch über die Sprache mitgeteilt: „Er [der Vater] lehrte ihn auch das Judäisch-Spanische seiner Vorfahren, und zwar zu einer Zeit, wo die Abstammung dem Kleinen noch nicht begreiflich sein konnte. Doch der Knabe hatte schon sehr früh ein großes Interesse für die Geschichte der Juden und für den großen Abrabanel, von der er, wie er wusste, ein entfernter Spross war.“503 Inwieweit dieser Aspekt einer eigenen sephardischen Familiengeschichte Nordau in der Beschreibung Spaniens und in der späteren Tätigkeit als zionistischer Autor beeinflusste, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Erst im späteren Verlauf seines Lebens, nachdem er Theodor Herzl in Paris kennen gelernt hatte,504 sollte Nordau zu einem der führenden Vordenker des Zionismus werden. Eine klare Trennung zwischen Nordau als Autor von „Degeneration“ und als Propagator der Zionisten kann nicht gezogen werden.505 Bereits als Kulturkritiker fand Nordau Worte, die Assimilation der Juden im Westen Europas zu kritisie500 Michael Stanislawsky: Zionism and the Fin de Siecle. Cosmpolitism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky. Berkeley 2001. 501 Petra Zudrell: Der Kulturkritiker und Schrifsteller Max Nordau. Würzburg 2003. S. 273. 502 Todd Samuel Presner: Clear Heads, Solid Stomachs, and Hard Muscles: Max Nordau and the Aesthetics of Jewish Regeneration. In: Modernism/modernity, 2003, Vol. 10, No. 2, S. 269–296. Vgl. Marilyn Reizbaum: Max Nordau and the Generation of Jewish Muscle. In: Jewish Culture and History, Vol. 6 (2003), S. 130–151. 503 Nordau: Erinnerungen. Leipzig 1928. S. 12. 504 Jacques Kornberg: Theodor Herzl: From Assimilation to Zionism. Bloomington 1993. 505 George Mosse: Nordau, Liberalism and the New Jew. In: Journal of Contemporary History. Vol. 27.4 (1992), S. 565–581. Hier: S. 567. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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ren. Der beginnende Antisemitismus habe ihm gezeigt, dass nun die Juden vollends auf ihren Außenseiterstatus reduziert wurden.506 Theodor Herzl bekannte die große Übereinstimmung mit Nordau in seinen Tagebüchern, wenn er festhielt: „Auch darin waren Nordau und ich einig, dass uns nur der Antisemitismus zu Juden gemacht habe.“507 Bezogen auf den Antisemitismus in Europa konstatierte Nordau die universale Bedeutung, nämlich dass die „Judennot überall“508 herrsche. Wie auch Herzl ging es Nordau darum, einen Judenstaat zu schaffen, der zwar ganz auf den kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften Westeuropas aufbauen, aber eben ein unabhängiger jüdischer Staat sein sollte.509 Im Gegensatz zur Generation nach ihm hegte Nordau keinerlei nostalgische Sympathie für die Juden Osteuropas, auch ging es ihm nicht um eine jüdische Renaissance im Sinne eines Martin Buber. Nordau forderte hingegen eine praktische Veränderung der Juden in der Diaspora, was sich am eindringlichsten anhand seines Bildes vom „Muskeljuden“ zeigen lässt. In seiner Eröffnungsrede zum zweiten Zionistenkongress in Basel am 28. August 1898 verwendete Nordau den Begriff „Muskeljude“, um einen Wandel vom assimilierten zum selbstbewussten neuen Juden zu fordern.510 Nur der Zionismus werde die Juden erwachen lassen,511 ihre Situation zu erkennen, sich zum Zionismus zu bekennen und innerlich zum neuen Juden zu werden. Auf Grundlage dieses geforderten inneren Wandels werde die Galut-Existenz der Juden zu Ende gehen. Die Verbreitung des Antisemitismus war für Nordau die entscheidende Grundkonstante. So erinnerte er auf dem vierten Zionistenkongress im August 1900 an die rasante Ausdehnung des Antisemitismus über die ganze Welt. Nordaus eigene Rolle in der zionistische Bewegung stieß neben seiner großen Popularität auch auf kritische Stimmen, da er mit Anna Kaufmann eine Protestantin mit vier Kindern geheiratet hatte und die gemeinsame Tochter Maxa protestantisch hatte taufen lassen. Sein Plädoyer für ein „Muskeljudentum“ brachte zum Beispiel eine Gründungswelle jüdischer Sportclubs hervor, die es Juden ermöglichte, sich sportlich zu betätigen. Dies geschah vor dem Hintergrund eines weitverbreitet bestehenden Verbots, Juden in allgemeine Sportclubs aufzunehmen. Auch in der Kunst hielt der Zionis506 Ben-Horin Meier: Max Nordau. In: The Encyclopedia Judaica. Vol. 12, S. 1211–1214. 507 Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Bein, Greive, Schaerf, Schoeps (Hg.). Bd. I–VII. Hier: Bd. II. S. 21. 508 Max Nordau: Meine Selbstbiographie: In: ders.: Zionistische Schriften. 1909. S. 47. 509 Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt/Main 1997. S. 275. 510 Stenographische Protokolle der Verhandlungen des II. Zionisten-Congresses. Wien 1898. S. 14–27. Hier: S. 24. 511 Stenographische Protokolle des II. Zionisten-Congresses, S. 15. 406

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mus Einzug. So wurde in den Arbeiten des Malers E. H. Lilien ebenfalls ein Judentum repräsentiert, das sich starke und schöne jüdische Charaktere zu eigen machte. Diese neuen Helden benötigten nicht mehr die vermittelnden Charaktere aus der iberisch-sephardischen Geschichte. Nordau zufolge sei es „das Anwachsen und die Unausrottbarkeit des Antisemitismus [gewesen], der ihn wieder an sein Judesein und Ungelöstheit der Judenfrage erinnerte.“512 In seinen 1909 herausgegebenen „Zionistischen Schriften“ setzte er diesen aktuellen Antisemitismus in Verbindung mit der Vertreibung der Juden aus Spanien, der ebenfalls lange Diskriminierungen vorangegangen waren.513 In einem Vortrag von 1911 drückte er aus, dass zwischen den Juden und Christen in Europa tatsächlich niemals eine Verbindung bestanden habe. Lediglich „in den Ländern des Islam mit der maurischen Kultur“ seien Juden hoch geschätzt gewesen.514 Nordaus Kritik an den sephardischen Juden bezog sich auf deren vollständige Assimilation in die christliche spanische Gesellschaft, die deren Unkenntnis ihrer eigenen jüdischen Identität blind gemacht habe für die bevorstehende Vertreibung. Die Erfahrung in der Galut, so Nordau, habe die Juden ohne „organische Einheit“515 belassen. Zentral ist hierbei Nordaus Analyse der Assimilation der Juden, die diese ohne Gegenwehr gelassen habe, da ihnen eine innere Verbundenheit oder Solidarität gefehlt habe. Die Juden hätten nicht mehr über einen inneren Kern verfügt und jede Form von Assimilation habe sie weiter voneinander entfernt. Es ist entscheidend für Nordaus Hinwendung und Verständnis vom Zionismus, dass er nicht allein den sich ausbreitenden Antisemitismus dafür verantwortlich machte, sondern auch die Dekadenz des Fin de Siècle mit dem Aufkommen der Bewegung in Verbindung setzte.516 Für Nordau war der Antisemitismus ein Phänomen neben anderen der zeitgenössischen „Entartung“, die er in seinen kulturkritischen Werken häufig beschrieben hatte. Der Antisemitismus könne nicht ausgegliedert werden, er sei Bestandteil der gegenwärtigen Kultur und basiere somit auf einem „kulturellen Code“. Ein eigener jüdischer Staat würde den Antisemitismus nicht aus der Welt schaffen, allerdings böte er den Juden einen sicheren Schutz davor.

512 Schulte: Psychopathologie, S. 273. 513 Vgl. Adolph Kohut: Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit. Lebens- und Charakterbilder aus Vergangenheit und Gegenwart. Ein Handbuch für Haus und Familie. Mit zahlreichen Porträts und sonstigen Illustrationen. 2. Bd. Leipzig o. J. S. 59. Vgl. außerdem Max Nordau: Der Sinn der Geschichte. Berlin 1909. 514 Nordau: Vortrag 1911. In: Rehrmann: Sefarad, S. 692. 515 AZ, S. 323. 516 Schulte: Psychopathologie, S. 271. Schulte bezieht sich hier auf Moshe Halevi: Max Nordau. Haguto hazionit upoalo batenua hazionit (hebr. M. N. Seine zionistische Haltung und sein Wirken in der zionistischen Bewegung. Diss. phil. Tel Aviv 1988). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Nordaus Verneinung von Assimilation findet sich pointiert in seinen „Zionistischen Schriften“ aus dem Jahre 1909. Hier verbindet Nordau die Geschichte der Juden in Spanien mit der gegenwärtigen Situation der europäischen Juden, die beide vollständig assimiliert waren. Zudem verfügten sie aber nicht mehr über die Fähigkeit zu erkennen, dass die Assimilation der falsche Weg ist. Diese habe in Spanien zu Tod und Vertreibung geführt, was auch den zeitgenössischen Juden widerfahren werde. „Sie kennen zwar die jüdische Geschichte nicht, aber sie haben doch einmal etwas läuten hören, dass es […] in Spanien unter Ferdinand und Isabella jüdische Millionäre gab, die in Palästen wohnten, Hof- und Staatsämter bekleideten, den Adel des Landes mit Trüffelgastmählern bewirteten, und dass dann plötzlich, ohne Warnung, ein furchtbarer Tag anbrach, der diese lächelnden Millionäre in verstümmelte Leichen und die glücklicheren unter ihnen in landfahrende Bettler verwandelte, deren Nachkommen in den Judengassen Polens und Rumäniens verhungern und verkommen.“517

Nordaus Blick auf Spanien war von Ambivalenz geprägt. Ein zweiter Aufenthalt während des Ersten Weltkrieges brachte eine veränderte, positivere Sichtweise mit sich.518 Dies hing damit zusammen, dass Nordau zu Beginn des Ersten Weltkrieges als österreichischer Staatsbürger aus Paris flüchten musste und sich in Madrid niederließ. Dieser Umstand versetzte ihn in die Lage, sich ausführlicher mit den Gegebenheiten in Spanien auseinanderzusetzen.519 So nahm Nordau an Veranstaltungen des literarischen Zirkels „Athenee“ teil. Obwohl Nordau spanisch sprach, hielt er seinen Vortrag auf Französisch. Als Erklärung dafür führen die „Erinnerungen“ an: „Der veraltete Akzent, mit dem er das Spanische ausspricht – so wie es auch heute noch von den Juden in Saloniki geredet – macht ihn verlegen. Er hat das Idiom

517 Max Nordau: Zionistische Schriften. Herausgegeben vom Zionistischen Aktionskommittee. Köln 1909. Hier: Band 1, S. 298. 518 „Während der ‚junge‘ Autor vor allem die Leidensgeschichte der spanischen Juden herausstellt und ein Bild des Landes zeichnet, das von der europäischen Spanienkritik durchdrungen ist, markieren die Madrider Jahre des ‚späten‘ Autors einen deutlichen Wandel – hin zu Positionen, die zwar kritische Elemente beibehalten, den ‚Triumph‘ der Sephardenkampagne jedoch überschätzen und Ansichten zur spanischen Geschichte kolportieren, die einen hohen Grad an traditionalistischen Ideologien und argumentativen Widersprüchen aufweisen.“ (Norbert Rehrmann: Das schwierige Erbe von Sefarad. Juden und Mauren in der spanischen Literatur. Von der Romantik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2002: Sefarad, S. 699). 519 Vgl. zu Nordaus Vorstellungen von Spanien Norbert Rehrmann: Das schwierige Erbe von Sefarad. Juden und Mauren in der spanischen Literatur. Von der Romantik bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2002. S. 688–699. 408

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seiner Vorfahren als Knabe mit seinem Vater gelernt.“520 Allerdings nutzte Nordau auch die Zeit und besuchte das Haus seiner Vorfahren in Segovia.521 In Madrid traf sich Nordau mit Angel Pulido. Er bezeichnet den Vertreter des spanischen Phliosephardismus als “the champion of the Sephardic cause“ und als “a great Philo-Semite.”522 Sein unkritisches Lob für Pulido lässt sich wohl auf Nordaus Emigrantenstatus zurückführen. Seine Bekanntschaft mit Abraham Schalom Yahuda, der seit 1915 Professor für Hebräisch und rabbinische Literatur an der Madrider Universität war, veranlasste ihn ebenso, seine vormals negative Einschätzung gegenüber Spanien zu modifizieren. Dessen Lehrstuhl war aufgrund des freundlichen Klimas gegenüber den Sephardim und deren Kultur geschaffen worden. Neben seiner Bekanntschaft mit unterschiedlichen Mitgliedern der spanischen Gesellschaft wurde Nordau zum Mitglied der medizinischen Akademie in Madrid ernannt, nachdem Pulido und Cortezo dazu angeregt hatten.523 Seine aktuellen Wahrnehmungen diskutierte Nordau in der „Jewish Chronicle“ aus dem Jahre 1916, darin pries er die Toleranz und die Einsicht der spanischen Regierung gegenüber dem jüdischen Beitrag in der Geschichte Spaniens.524 Nordau vertrat in diesen Jahren die Auffassung, die Vertreibung der Juden sei durch die katholische Kirche initiiert worden. Wie seine Vorgänger im 19. Jahrhundert attestierte er den Monarchen, unschuldig an diesem Unrecht gewesen zu sein. Das spanische Volk verstand er als ein nicht religiöses Volk, das nur von den religiösen Eliten instrumentalisiert worden sei. Im Vorwort zu „El Alma Nacional“ von Marques de Dosfuentes aus dem Jahre 1915 hielt er der katholischen Kirche erneut ihre Verantwortung vor Augen, die bis zur Gegenwart eine „grandeza fuera“ und „miseria dentro“ mit sich gebracht habe.525 Das Buch von Dosfuentes basierte auf einer Vorlesungsreihe aus demselben Jahr. Hierin charakterisierte der Autor die Sephardim als Aristokraten unter den

520 Max Nordau: Erinnerungen erzählt von ihm selbst und von der Gefährtin seines Lebens. Leipzig/Wien 1928. S. 88. 521 Nordau: Erinnerungen, S. 275. 522 Nordau: Erinnerungen, S. 274. 523 Nordau: Erinnerungen, S. 286. 524 “Spain throws a veil over the piles of the Inquisition, dissipates their pestilent fumes and makes an official profession of tolerance, of human brotherhood, and of the recognition of Jewish merit.” ( Jewish Chronicle (1916), S. 12. Vgl. auch Rehrmann: Das schwierige Erbe, S. 694). 525 Max Nordau: Preface to Marqués de Dosfuentes: El Alma Nacional. Sus vicios y sus causas. Genealogia psicologica del pueblo espanol. Madrid 1915. S. 10. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Juden, die dem Wesen nach Spanier seien.526 Außerdem vertrat Dosfuentes die Ansicht, religiöser Fanatismus sei gegen den Willen des spanischen Volkes durch die Habsburger nach Spanien importiert worden. Auch Nordau teilte in seinem Vorwort die Einschätzung, das spanische Volk sei tatsächlich nur manipuliert worden und die Eliten hierfür die wahren Verantwortlichen. Fritz Yitzhak Baer Den auf Nordau folgenden zionistischen Interpreten war gemein, dass sie das Verständnis einer Teilhabe an der allgemeinen Kultur auf der Iberischen Halbinsel, die zugleich als Vorbild für die eigene Gegenwart dienen sollte, ablehnten. Nordaus ambivalente Haltung war ihnen nicht mehr gegeben. Nach Nordau sollte insbesondere der Gründer der Jerusalemer Schule an der Hebräischen Universität zu Jerusalem, Fritz Yitzhak Baer (1888–1980), das iberisch-sephardische Judentum in seiner Tendenz zur Assimilation und damit als „Fürstendiener“ kritisieren. Zentral war für Baer das Verständnis, sich kritisch mit dem Begriff Exil zu befassen. Neben Nordau war Baer erst die zweite Person und der erste Historiker, der selbst in Spanien gelebt hatte. Baer bereiste, ausgestattet mit finanziellen Mitteln der 1919 gegründeten Akademie für die Wissenschaft des Judentums, Spanien von Februar bis Juni 1925 und von November 1925 bis Februar 1926. Hier erforschte er die Archive und publizierte seine zweibändigen Schrift „Die Juden im christlichen Spanien“ im Jahre 1929 und 1936 in Deutschland.527 Baer verwies selbst außerdem auf die Bedeutung, in Spanien gewesen zu sein. My “deep feelings of gratitude to Spain, its scholars and its scholarly institutions” and moreover “the many months which I spent in the Spanish archives have remained imbedded in my heart as periods of happiness and profound spiritual satisfaction.”528 In seinem Vorwort zum ersten Band kritisierte Baer seinen beiden Vorläufer, Heinrich Graetz und Amador de los Rios, aufgrund ihrer selektiven Auswahl der Quellen „ohne eigentliches Verständnis für die historische Situation.“529 Dennoch seien deren Darstellungen lange Zeit unkritisch übernommen worden. Einzig Stein526 “Aristocracia hebrea, una especie de subraza que non es judia, que se llama Espanola.” (Marqués de Dosfuentes: Ateneo de Madrid. Madrid 1915. S. 10). 527 Fritz Baer: Die Juden im christlichen Spanien. Urkunden und Regesten. I Aragonien und Navarra. II Kastilien/Inquisitionsakten. Berlin 1929–1936. 528 Fritz Baer: History of the Jews in Christian Spain. From the Preface of the First Edition. Philadelphia 1971. Bd. 1, S. 1. 529 Baer: Die Juden im christlichen Spanien, Erster Teil, S. III. 410

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schneiders Darstellung „Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher“ aus dem Jahre 1893 hätte sich bemüht, die Darstellung zu erweitern, aber auch hier habe ein Verständnis für die besondere historische Situation der Juden im christlichen Spanien gefehlt. Erst durch eine systematische Erforschung der zentralen Archive sei es überhaupt möglich, diese Geschichte in ihren Facetten zu rekonstruieren. In Spanien selbst sei insbesondere durch die Berufung Professor Yehudas an die Madrider Universität ein verstärktes akademisches Interesse an der Geschichte und Kultur der Juden in Spanien eingetreten. Der zweite Band untersuchte die Inquistionsakten in Kastilien und wurde im Oktober 1935 in Jerusalem abgeschlossen, wo Baer seit 1928 eine Lehrtätigkeit an der Hebräischen Universität innehatte. Im Vorwort hier stellte Baer nochmals heraus, dass er sich der jüdischen Geschichte in Spanien zugewandt habe, um „einen Beitrag zur jüdischen Gesamtgeschichte zu liefern.“530 Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Deutschland verstand Baer diese Sammlung von Urkunden und Regesten auch dazu, „Stolz auf unser Schicksal“ zu sein und dadurch „den Glauben an unsere Zukunft gekräftigt“531 zu haben. Zwei weitere Bücher, die sich mit der Geschichte der spanischen Juden befassen, müssen ebenfalls vor diesem Hintergrund verstanden werden: der Essay „Galuth“ aus dem Jahr 1935/36 sowie „Jehuda ha-Levi und seine Zeit“ aus dem Jahr 1938/39.532 Für Baer stand außer Frage, dass die jüdische Geschichte von Beginn an eine organische Einheit darstellte.533 Die von Baer mitentwickelte „Organismus“-Metapher habe, so Michael Brenner, eine ganze Generation von israelischen Historikern der so genannten Jerusalemer Schule beeinflusst, die sich die Frage nach einem authentischen Judentum stellten. Diese Historiker kamen im Anschluss an Baer zu dem Schluss, dass ein authentisches Judentum durch den Einfluss des Christentums nicht habe existieren können. Die von Baer vorgenommene Abgrenzung vom sephardischen Judentum war in der Essenz eine Kritik an der Assimilation der sephardischen Juden, die zur Aufgabe der eigenen jüdischen Identität geführt habe. Sowohl unter moslemischer als auch unter christlicher Herrschaft seien Juden nicht gleichberechtigt behandelt worden. Der daraus resultierende Sonderstatus habe christliche und moslemische Herrscher in die Position versetzt, sich der Juden für ihre Zwecke zu bedienen, was sich in der Rolle der am Hof tätigen Juden am eindringlichsten und 530 Baer: Die Juden im christlichen Spanien, Zweiter Teil, S. XIII. 531 Baer: Die Juden im christlichen Spanien, Zweiter Teil, S. XIII. 532 Fritz Baer: Galut. In: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5696 (1935/36). Fritz Baer: Jehuda ha-Levi und seine Zeit. Aus dem Manuskript einer Geschichte der Juden im christlichen Spanien. In: Almanach des Schocken Verlags. 1938/39. 533 Fritz Baer: History of the Jews in Christian Spain. Philadelphia 1971. S. 1. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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wegen des Verlustes von jüdischer Identität am problematischsten gezeigt habe.534 Dieser Sonderstatus habe auch dazu geführt, dass die Juden die Gefahren, die in der Gesellschaft auf sie lauerten, nicht erkennen konnten.535 Für Baer war ein authentisches Judentum nur ohne den Einfluss des Christentums möglich. Auf diesen Umstand macht Yuval aufmerksam, wenn er schreibt: “He sought an ‘authentic’ Judaism, free of Christian influence yet European. (...) In contrast with his negative view of the role of philosophy in the world of mediaval Spanish Jewry, he considered the encounter between Judea and Greece in antiquity to have produced a new, authentic Judaism.”536 Diese Annahme versetzte Baer in die Lage, eine Analogie zwischen den iberischsephardischen Juden und den deutschen Juden der Emanzipationszeit herbeizuführen. Dabei kam dem Zusammenspiel zwischen einem nach innen als Konfession gelebtem Judentum und einem ausgeprägten deutschen Patriotismus eine gewichtige Funktion zu. „Dadurch konstruierte er ein Bild vom spanischen Judentum des Mittelalters, das sich [...] als ein analoges Narrativ zum Verhältnis des Ostjudentums zum Westjudentum seiner Zeit liest, in der osteuropäisches Judentum als authentisch für eine jüdische Identität verstanden wird.“537 Eine vermittelnde Funktion einzelner Juden zwischen der jüdischen Gemeinde und der christlichen Mehrheitsgesellschaft sei einhergegangen mit einer weitgehenden Assimilation, verbunden mit einem Verlust von Authentizität und der Preisgabe von jüdischer Identität.538 In diesem Verständnis wandte sich Baer auch scharf gegen die von der „Wissenschaft des Judentums“ vertretene These, das Judentum könnte 534 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 27–28. 535 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 2. 536 Israel Jacob Yuval: Yitzhak Baer and the Search for Authentic Judaism, The Jewish Past Revisted: Reflections on Modern Jewish Historians. David N. Myers (Hg.). New Haven 1998. S. 77–87. Hier: S. 84. 537 Dan Diner: Historische Anthropologie nationaler Geschichtsschreibung. In: Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloß Elmau-Symposium. Michael Brenner, David N. Myers (Hg.). München 2002. S. 207–216. Hier: S. 211– 212. 538 So heißt es bei Baer in seiner History of the Jews in Christian Spain dazu: “History brought one of the most creative Jewish communities of the Diaspora into collaboration with one of the most gifted peoples of Christian Europe, the Spaniards.” (Baer: History of the Jews in Christian Spain. In 2 vol. Philadelphia 1992. (OU 1978) Hier: Bd. 1, S. 2). Zur Bedeutung und Einordnung Baers vgl. außerdem: Israel Jacob Yuval: Yitzhak Baer and the Search for Authentic Judaism. In: The Jewish Past Revisted: Reflections on Modern Jewish Historians. David N. Myers (Hg.). New Haven 1998. S. 77–87. Hier bes. S. 84. David N. Myers: ReInventing the Jewish Past. European Jewish Intellecutals and the Zionist Return to History. New York 1995. (Zur Bedeutung Baers hier besonders S. 109–128). 412

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auch im Exil seine universale Botschaft verbreiten. Das Gegenteil war für Baer wünschenswert:, „die Auflösung der Diaspora-Gemeinden und die Auswanderung aller Juden in das Land Israel – als Schlussfolgerung historischer Analyse.“539 Und diesen Wunsch nach Rückkehr fand Baer in den unterschiedlichen jüdischen Gemeinden während des Mittelalters ausgedrückt durch den Wunsch ihrer Mitglieder nach eben einer solchen Rückkehr.540 Baer war in seiner Auffassung jüdischer Geschichte sowohl von romantischen Theorien zum Volk als auch von der Tradition deutscher Geschichtsschreibung, aus der er selbst stammte, beeinflusst.541 Eine so verstandene Authentizität im Judentum konnte er auch dadurch belegen, dass das Judentum sich aus der griechischen Antike herleiten lasse, was bedeutete, dass es nicht durch das Christentum beeinflusst wurde. Baer dekonstruierte dadurch den Mythos der iberisch-sephardischen Kultur von Anbeginn, der teilweise auf die Bibel selbst zurückging. Bereits der Gründungsmythos rief eine besondere Situation hervor und mündete in der Überzeugung der sephardischen Juden, direkte Nachfahren des Stammes Judah zu sein, die nach der Zerstörung des ersten Tempels 586 v. Chr. durch Nebukadnezar in Spanien Zuflucht fanden.542 Auch das Buch „Obadja“ und die hier erfolgte Benennung einer jüdischen Besiedlung der Iberischen Halbinsel war Baer zufolge mythischer Verklärung geschuldet. Die Anwesenheit einer Gemeinde von Judenchristen belegen laut Baer die Korrespondenzen zum Besuch des Apostel Paulus in Spanien. Der Brief des Severus, Bischof von Mallorca, aus dem Jahre 418 berichtete über die gewaltsame Konversion der Juden auf der Insel zum Christentum.543 Die hier angeführten Belege wertete Baer als Beweis für eine jüdische Besiedlung vor der Niederwerfung der Halbinsel durch germanische Stämme. Mit der Eroberung durch die Westgoten habe sich auch die Situation der Juden verschlechtert. Beginnend mit deren Rechtsstellung seien sie der Verfolgung und Unterdrückung ausgeliefert gewesen.544 Dieser Zustand habe, bezogen auf die damals bekannte Welt, eine universale Dimension enthalten.545 539 540 541 542

Brenner: Propheten, S. 230. Brenner: Propheten, S. 231. Brenner: Propheten, S. 231. “But originally the prevailing motive in the development of this legend was the conviction of the Spanish Jews that their descent from the tribe of Judah, exiled to Spain after the destruction of the first Temple, was responsible for their high level of culture.” (Baer: History of the Jews in Christian Spain. Hier: Bd. 1, S. 16). 543 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 17. 544 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 19. 545 “In 589 the Visigothic king changed his Arian faith for the Roman Catholic and proceeded to oppress the Jews in the manner practiced throughout the Catholic world.” (Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 19.) Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Mit der Invasion Spaniens durch die Araber im Jahre 711 habe sich die Stellung der Juden rasch verbessert. In Städten wie Cordova, Granada, Sevilla, Elvira und Toledo hätten sie sich angesiedelt und auch die Wehranlagen seien gemeinsam von Juden und Arabern besetzt worden. In dieser Zeit sei das arabische Spanien zur sicheren Zuflucht der Juden geworden.546 Allerdings sei diese Epoche keinesfalls als ein Goldenes Zeitalter zu betrachten.547 Dennoch nahm Baer die jüdische Kultur in Spanien aufgrund einer erstarkten hebräischen Kultur in Verbindung mit externen politischen Faktoren wahr, wie sie unter der Herrschaft des Kalifen Abdar-Rahman III (912–961) möglich war. Chasdai ibn Schaprut fungierte dabei in der Funktion des Hofarztes und jüdischen Diplomanten als idealer Vermittler zwischen arabischen und christlichen Höfen.548 Chasdai ibn Schaprut sollte als ein Vorbild für die folgenden jüdischen Staatsmänner in Diensten moslemischer und christlicher Herrscher angesehen werden.549 Baer verwies jedoch auch auf den Umstand, in ihm einen wichtigen Vermittler für eine jüdische Tradition zu sehen, die auf der hebräischen Sprache und jüdischer Gelehrsamkeit basierte. Diese habe die Juden in Spanien dazu in die Lage versetzt, geistige Führerschaft über alle Juden einzunehmen.550 Wie seine Vorläufer in der Wissenschaft des Judentums, stellte auch Baer einzelne Juden der iberisch-sephardischen Kultur heraus, um die ganze Epoche besser greifen zu können. Bei Baer nahm Samuel ha-Nagid (993 – nach 1056) eine zentrale Rolle ein. Er wurde einerseits als Politiker und Diplomat für das islamisch regierte Königreich Granada und andererseits als rabbinische Autorität vorgestellt. Zusammengehalten wurden beide Positionen bei Baer noch durch die Hervorhebung von Samuels herausragender Stellung als Dichter des Hebräischen.551 Samuels Poesie diente Baer als Quelle zur Rekonstruktion dessen Lebens. Baer wandte sich auf Grundlage dieser Lesart gegen die von Abraham ibn Daud (1110 – 1180) geprägte Wertung Samuel ha-Nagids als eines versierten Briefeschreibers, der deshalb zu seiner mächtigen Stellung gelangte. Für Baer hingegen war es ganz offensichtlich der 546 547 548 549 550

Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd, 1, S. 24. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 37. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 28. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 30. “Tradition also associates with the name of Hasdai and his times the beginnings of Hebrew literature in Spain, the establishment of new centers of learning independent of the authority of the gaonim of the East, and the awakening within this young community in Israel of a consciousness of its own political and cultural importance which entitled it to the position of leadership over the entire people.” (Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 30). 551 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 32. 414

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nachweisliche Reichtum Samuels, der es ihm ermöglichte, seinen Weg zu gehen.552 Und dieser brachte ihn bis zu seinem Tod im Jahre 1056 in die Position, die auswärtigen Angelegenheiten des berberisch regierten Königreichs Granada zu leiten. Im Rahmen dieser Tätigkeit verwendete er sich für die Juden in diesem und anderen Königreichen und verstand Granada als den Staat, dem diese Verteidigungsrolle zukam.553 Dieser aktive Einsatz wurde überdeckt durch die herrschenden Vorurteile orthodoxer Muslime darüber, dass ein Jude mit den außenpolitischen Angelegenheiten des Staates betraut wurde.554 Infolge der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den kleineren Staaten nahm die Situation der Juden eine Schlüsselfunktion ein.555 Im Rahmen der Kämpfe zwischen dem durch die Berber regierten Granada und dem von Arabern beherrschten Sevilla setzte sich Samuel für seinen Herrn mit allen Mitteln ein, weil er in Motadhid, den Kadi von Sevilla, auch den Feind der Juden sah. Damit zeigte Baer Samuel nicht nur als einen loyalen Diener seines Herrn, sondern auch als Juden, der sich für seine Landsleute einsetzte. Um seine Position aufrechterhalten zu können, wehrte sich Samuel mit grausamen Mitteln auch gegen Widerspruch von innen und ließ seine Feinde verfolgen und töten. In Gedichten feierte Samuel seine Siege und schickte diese auch an die Rabbiner in Kairawan und Fostat, an die Akademien in Babylon, an den Exilarchen in Bagdad und insbesondere auch an die jüdischen Gemeinden in Erez Israel. In seinem Brief an den Exilarch Hezekiah zeigte sich das Selbstverständnis Samuels als eines Verteidigers von ganz Israel.556 Dieser Typus der Hofjuden war später auch in den christlichen Reichen in Spanien anzutreffen. Die kleine Gruppe von Individuen befand sich im Wesentlichen neben der Masse der jüdischen Bevölkerung, die sich aus Bauern, Arbeitern und Handwerkern zusammensetzte. Die Befindlichkeiten der ersteren Gruppe, der jüdischen Oberschicht, sind insbesondere durch die hebräischen Dichtungen der Zeit auch der Nachwelt zugänglich. Das Studium von Talmud und hebräischer Grammatik erfolgte gemeinsam mit der Auseinandersetzung der griechischen Philosophie. Dies führte in den Augen Baers auf der einen Seite zu Desintegration und Häresie, auf der anderen Seite sei aber auch das national-jüdische Bewusstsein geför552 553 554 555 556

Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 33. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 33. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 33. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 34. “He fully believed that he was sent by Providence to defend Israel, the scattered sheep, humiliated and depressed, homeless and wandering, and to rescue the lambs from the mouths of the wolves.” (Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 35.) Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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dert worden.557 Es sei den spanischen Juden vorbehalten geblieben, anders als ihre Glaubensgenossen zur Zeit der Verfassung der Mischnah oder in Aschkenas, als die Juden auf den Scheiterhaufen starben, in Form einer nationalen Lyrik etwas Einzigartiges zu schaffen.558 In seiner Darstellung stellte Baer eine Analogie zwischen den Vertretern der jüdischen Oberschicht in al-Andalus und dem deutsch-jüdischen Bürgertum während der Emanzipations- und Postemanzipationszeit her. Baer wandte sich gegen die Vorstellung einer einseitigen Idealisierung der Lebensbedingungen der Juden unter arabischer Herrschaft, jedoch ohne die grundsätzlichen Unterschiede zu den Lebensbedingungen unter dem Christentum zu ignorieren. Assimilation der Juden habe sich auf der Iberischen Halbinsel durch Aufgabe der jüdischen Eigenheit gezeigt, die häufig in der Konversion zum Christentum mündete. Folglich konzentrierte sich Baer in seinen Darstellungen auf die Zeit der Reconquista, die in die Vertreibung der Juden kulminierte. Insbesondere die antijüdische Propaganda in Spanien seit etwa dem 12. Jahrhundert habe einen Nährboden für den radikalen Judenhass geschaffen, der dann in der Vertreibung von 1492 kulminierte.559 Die tatsächlich vorhandene Integration der sephardischen Juden, insbesondere von deren Oberschicht, habe jedoch zu einer Entfremdung von den religiösen Wurzeln des Judentums geführt, was Baer auf die Dominanz rationalistischer Philosophie zurückführte. Im Gegensatz dazu habe sich das aschkenasische Judentum um die Beibehaltung eben dieses Zentrums bemüht. Im zweiten Band seiner „Geschichte der Juden im christlichen Spanien“ kam der Vertreibung eine Schlüsselfunktion zu. Baer setzte Maßstäbe hinsichtlich der Deutung der Vertreibung als eine zionistische Interpretation der jüdischen Erfahrung. Für ihn nahmen die Vertreibungen der Juden, insbesondere derjenigen von der Iberischen Halbinsel, eine zentrale Funktion ein.560 Baer nannte Juden und Conversos in einem Atemzug, wenn es darum ging, deren einzigartigen Geist des Zusammenhalts zu beschreiben, der sich in der Sehnsucht nach einer nationalen Heimstatt im Land Israel gezeigt habe.561 Die Akten der Inquisition legten das geistige Band des Judentums in der Sehnuscht nach dem nationalen Heimatland in Erez Israel offen.562 Die Vertreibung der Juden aus Spanien 557 558 559 560

Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 37. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 37–38. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 23. Amnon Raz-Krakotzkin: Geschichte, Nationalismus, Eingedenken. In: Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloß Elmau-Symposium. Michael Brenner, David N. Myers (Hg.). München 2002. S. 181–206. Hier: S. 198. 561 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 2, S. 424–425. 562 Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 2, S. 424–425. 416

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sei ohnegleichen gewesen und könne lediglich hinsichtlich ihrer Radikalität und Endgültigkeit mit der Vertreibung der Juden aus England im Jahre 1290 verglichen werden.563 Was zur Vertreibung geführt habe, sei eine Vermischung von rassischen und religiösen Faktoren gewesen.564 Das spanische Herrscherpaar war für die Vertreibung direkt verantwortlich, motiviert durch eine Kombination von mittelalterlichen und modernen Beweggründen. Die Vertreibung im Jahr 1492 war nicht der ultimative Endpunkt jüdischer Geschichte in der Diaspora. Denn das jüdische Volk und seine Eliten wandten sich nicht gegen die eigene Diaspora-Existenz und schufen ein neues Narrativ. Dies zeigt sich beispielhaft an Salomon ibn Vergas „Schevet Jehuda“ (1552), dessen Analyse um das Umfeld der Vertreibung aus Spanien keine politischen Alternativen bereithält.565 Lediglich messinanisches und apokalyptisches Denken habe sich verstärkt ausgebreitet. Tatsächlich spielte sich in Spanien ab, was bereits zuvor in der griechisch-römischen Zivilisation, im frühen Christentum und in der Gegenwart geschah. Vertreibungen erhielten somit einen universalen Wert innerhalb der Geschichte der Juden – unabhängig von Zeit und Raum.566 Durch die von Baer vorgenommene Trennung von jüdischer Aristokratie und den breiten Bevölkerungsschichten in Sepharad konnte sich auch ein Gegengewicht zu einer Idealisierung dieser Epoche entwickeln. Insbesondere Vertreter der Wissenschaft des Judentums hatten sich dabei stets auf die herausragende Funktion der sephardischen Eliten konzentriert.567 Baer rekonstruierte das politische Selbstverständnis und die daraus resultierende Notwendigkeit christlicher Herrschaften, die Juden in ihren gewohnten politischen und administrativen Stellungen zu belassen 563 564 565 566

Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 2, S. 437. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 2, S. 435. Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 2, S. 442. “In Spain we see recapitulated, as it were, what took place – albeit against a wider historical backdrop – on two other occasions in the history of the Jew: once in the course of the drawnout struggle with the united powers of Graeco-Roman civilization and early Christianity, and again in our own times, that began with the call to assimilate among the nations of Europe and whose continuation may be seen in all that has happened to the Jewish people ever since, down to our own generation. Whether they are aware of it or not, the different ages – whatever their external form or motivating ideology – have struggled for the preservation of the same value whose depth cannot be plumbed in terms of time and place. Here is one of the great mysteries of the historical process.” (Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 2, S. 443). 567 “Hispano-Jewish Society was divided into an aristocracy pampered by the elegance of the wealth and Arabic culture, and thel bachward masses, primitive in their outlook and way of life.“ (Baer: History of the Jews in Christian Spain, Bd. 1, S. 97). Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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und sie auf dieser Grundlage auch unter christlicher Herrschaft zu nützlichen Gliedern des Staates werden zu lassen. Die Juden seien einerseits – so formulierte es Baer in seinem 1938/39 erschienenen Buch „Jehuda ha-Levi und seine Zeit“  – „einer realistischen fürstlichen Kolonisationspolitik“ ausgesetzt und nützlich gewesen, andererseits seien sie „dem religiös-nationalen Hass der christlichen Bevölkerung ausgeliefert“568 gewesen. Auf seiner Spurensuche nach Gründen für die Katastrophe der iberischen Juden, denen Baer nachsagte, ihnen fehle jeder „Geist des Martyriums“, machte er auf den Umstand aufmerksam, dass zeitgleich zum Vertreibungsedikt in Spanien die „Judengemeinden in Deutschland in den Opfertod“569 getrieben worden seien. In seinem Vergleich des iberisch-sephardischen mit dem aschkenasischen Judentum am Ende des Mittelalters benannte er Gründe, weshalb sich diese beiden Gruppierungen so maßgeblich bei der Anwendung und Ausführung des Kiddush Hashem unterschieden: „Waren die Gebildeten unter den spanischen Juden immer noch zu sehr in ihrem tiefsten Wesen verweltlicht? Oder wurde für die wahrhaft Frommen und für die einfachen Massen der Glaubenstod absurd, wenn die Fronten der Feinde ständig wechselten, wenn bei jedem Gegner nach dem Abklingen des Blutrauschs der religiöse Fanatismus nüchternen Erwägungen Platz machte? Aber der Entscheidungskampf zwischen Christentum und Islam, der sich vor aller Augen in Spanien abspielte und dessen Bedeutung für das Schicksal des heiligen Landes allen bekannt war, weckte die messianischen Hoffnungen, die seit dem letzten großen Ringen der beiden Weltmächte im 7. und 8. Jahrhundert geschlummert hatten.“570

Um diese Geschehnisse verstehen zu können, konzentrierte sich Baer auf Jehuda ha-Levi, indem er ausführt: „Die Taube Israel, die einst auf Adlersflügeln getragen wurde und an Gottes Busen ruhte, irrt verlassen in den Wäldern umher. Man legt ihr Netze und sucht sie zum Abfall zu verführen. Die Christen machen den Juden schöne Worte, um sie zu betören. Soll Israel Edom immer zum Raube fallen? Der Sohn der Magd (Ismael, der Sohn Hagars) bedroht Israel mit seinem Bogen. Und während es in Spanien so zugeht, ist der Tempel in Jerusalem im Besitz der Christen. Wann soll das ein Ende nehmen? Alle Berechnungen der Endzeit versagen. Der Dichter kehrt zu den eigenen Erlebnissen in Spanien zurück.“571

Jehuda ha-Levi habe vom nördlichen, dem bereits wieder unter christlicher Herrschaft stehenden Teil der Halbinsel, die Kämpfe zwischen Moslems und Christen verfolgen 568 Fritz Baer: Jehuda ha-Levi und seine Zeit. Aus dem Manuskript einer Geschichte der Juden im christlichen Spanien. In: Almanach des Schocken Verlags. 1938/39 – 5699. Berlin. 1938/39. S. 74–93. Hier: S. 76. 569 Baer: Jehuda ha-Levi, S. 77–78. 570 Baer: Jehuda ha-Levi, S. 78. 571 Baer: Jehuda ha-Levi, S. 83. 418

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können. Alle Gedichte enthielten dabei stets gleich lautende Beobachtungen: „Die Trauer und die verlorene Gottesnähe, die politische Lage in Spanien, die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer und die Frage nach der Zukunft.“572 Baer folgerte, dass diese Erlebnisses Jehuda ha-Levi zum „Zionisten“ gemacht hätten; eine Position, die sich nicht mit einem universalen Verständnis von Judentum deckt: „Aber im Tiefsten bedeutet Jehuda ha-Levis Zionssehnsucht eine Rückkehr zu vergessenen Idealen und eine Kritik: die Absage an die gesamte politische und geistige Verfassung des spanischen Judentums, die Absage an Sinnesfreude, philosophische Aufklärung, an die politische Tätigkeit im Dienste der Fürsten und an die vermeintliche ‚Erlösung’, die den Juden durch die Politik der ‚Gewirim‘ in fremden Ländern kommen soll. Damit beginnt Jehuda ha-Levi als erster die Kritik an Lebensformen, die dem spanischen Judentum in der Gedankenlosigkeit der letzten Generationen angeflogen waren und die man nun allen Ernstes nach dem Zusammenbruch der arabischen Staaten bei den Eroberern im Norden neu aufrichten wollte. Das spanische Judentum stand vor einer politischen Entscheidung, und diese Entscheidung trat den Zeitgenossen ins volle Bewusstsein, wie aus den Worten des großen Kritikers klar hervorgeht. Jehuda ha-Levi lehnte den Fürstendienst ab, der nicht nur ihm und seinen Freunden die äußere Lebensbasis verschafft hatte, sondern von dem nach Auffassung der Zeit die Existenz des jüdischen Volkes in der Galut überhaupt abhängig war.“573

In seinem wegweisenden Essay „Galut“ vertrat Baer die Ansicht, die Erfahrung der Juden im Exil sei durch die Geschichte gleichbleibend gewesen. „Politische Knechtschaft, Zerstreuung, Sehnsucht nach Befreiung und Wiedervereinigung, Sünde, Buße und Versöhnung: Das sind die großen Linien, die das Wesen der Galut bezeichnen.“574 Durch die Sendung des Judentums hätten also auch jenseits des jüdischen Staates in Erez Israel die Lehren des Judentums in der Welt verbreitet werden können. Allerdings ließ der tatsächliche Zustand der Versklavung und Rechtlosigkeit es nicht zu, diese Idee auch tatsächlich umzusetzen. „Ein wesentliches Merkmal der Galut ist schon jetzt Verfolgung, Schimpf und eine Rechtlosigkeit, die durch scheinbare Privilegien nicht aufgehoben wird.“575 Selbst der Antisemitismus existierte Baer zufolge bereits in der hellenistisch-römischen Diaspora.576 Der Knechtschaft zu entgehen und dafür zu sterben, nahm eine zentrale Funktion für die ganze Menschheit ein. „Selbst der Tod der Märtyrer des Bar-Kochba-Aufstandes wird als entsühnend für die ganze Menschheit betrachtet.“577 572 573 574 575 576 577

Baer: Jehuda ha-Levi, S. 84. Baer: Jehuda ha-Levi, S. 84. Fritz Baer: Galut. In: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5696 (1935/36). S. 15. Baer: Galut. In: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5696 (1935/36). S. 16. Baer: Galut, S. 16. Baer: Galut, S. 19. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Die europäische Kultur war nicht allein bezogen auf das religiöse Element vom Judentum geprägt. „Auch das Tiefste, was in Europa bis zum Zeitalter der Romantik über Nation und Geschichte ausgesagt worden ist, stammt aus jüdischer Quelle.“578 Durch die Dominanz des Christentums sei das Wissen über dieses jüdische Erbe verschüttet worden, ja, die Existenz des Judentums sei als bloßer Beweis für die Wahrheit des Christentums theologisch pervertiert worden.579 Und die Unterdrückung des Judentums sei nicht nur in Bezug auf das Christentum möglich gewesen, denn „da der Islam sein System der Behandlung der Ungläubigen vom Christentum übernahm, so wurde das jüdische Volk zu einer in der ganzen Welt politisch und religiös verfolgten Klasse.“580 Im Verlauf des Mittelalters bilde sich dann heraus, was bis in die Neuzeit bestehen bleibe: Das Judentum organisiert sich im Westen in Ortsgemeinden. „Im Süden ist das Leben sozial differenzierter, stärker bewegt durch die Einflüsse der philosophischen und politischen Kultur der Araber.“581 Eines jedoch halte die Juden in der Diaspora zusammen: „Dem Inhalt nach fühlen sich die Gemeinden überall als die zersprengten Glieder der in Palästina wieder zu vereinigenden Nation.“582 Auch wenn Baer einräumte, es habe Epikuräer gegeben, die diese Zionssehnsucht nicht in sich getragen hätten, sei die Mehrheit der Juden in der Diaspora dennoch von einer Sehnsucht nach Palästina und dem Messias geprägt gewesen. „Wie naiv in allen Volksschichten der nationale Glaube weitergetragen wurde, zeigen die Propagandaschriften über freie Stämme im fernen Osten, über mächtige zum Judentum bekehrte Reiche, das zeigen die messianischen Apokalypsen und die messianischen Volksbewegungen selber.“583 An jüdischen Feiertagen werde zudem an Palästina erinnert, was zeige, dass in der Seele eines jeden Juden diese Sehnsucht nach Heimat brenne. Als Entgegnung auf eine feindliche Umgebung, deren christliche Lehre das Judentum lediglich als Beweis für die Wahrheit des Christentums ansehe, hätten die Juden in Aschkenas sich bemüht, den inneren und spirituellen Kern des Judentums zu bewahren und zu verteidigen. „Darin liegt die zeitgeschichtliche Bedeutung eines Kommentators wie Raschi, dass er in wunderbarer Harmonie und Sicherheit seinen Zeitgenossen dasjenige feste Bild der Tradition zu geben wusste, das sich gegen alle Anfechtungen zu erhalten hatte.“584

578 579 580 581 582 583 584

Baer: Galut, S. 20-21. Baer: Galut, S. 22. Baer: Galut, S. 23. Baer: Galut, S. 24. Baer: Galut, S. 24. Baer: Galut, S. 25. Baer: Galut, S. 27. 420

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Die Konsequenz lautete für Baer: „Mit allen Mitteln suchte man die im Glauben Gefährdeten vor fremden Einflüssen und vor dem endgültigen Abfall zu bewahren.“585 Außerdem galt es, den Glauben auch in Zeiten großer Not und Verfolgungen aufrechtzuerhalten. Baers Blick auf die Märtyrer, die ihr Leben während der Kreuzzüge ließen und eher das Kiddush Hashem vollführten als zum Christentum zu konvertieren, zeigte heroische Persönlichkeiten, die sich von christlichen Märtyrern radikal unterschieden. Dieser Narrativ sollte für die zionistische Geschichtsschreibung von fundamentaler Größe werden.586 Die Darstellungen des Martyriums in „der religiösen-nationalen Poesie“587 würden darüber beeindruckendes Zeugnis ablegen und alle andere Lyrik verblassen lassen. Baer erkannte jedoch in den Dichtungen der aschkenasischen und sephardischen Juden des Mittelalters einen wesentlichen Unterschied. „Abweichend von diesen schweren Dichtungen [in Aschkenas, C. S.] weiß die leichtere sephardische Poesie der Sehnsucht des Volkes die tröstliche Antwort Gottes entgegenzustellen. In Spanien hatte man die Kämpfe zwischen Christentum und Islam unmittelbar vor Augen und erhielt auch direktere Kenntnis von dem Ringen der Weltmächte um den Boden Palästinas.“588 Im besonderen Maße habe sich diese Kenntnis in den Dichtungen Jehuda ha-Levis weiterverbreitet. Dieser habe, obwohl hoch gelehrt, es verstanden, in seinen Dichtungen die Zionssehnsucht auch dem einfachen Manne zu vermitteln. Den Geist des Judentums konnte er bei seinen jüdischen Zeitgenossen auch deshalb verbreiten, weil er sie vom Einfluss der arabischen Philosophie befreite und „seinen von der arabischen Philosophie angekränkelten Zeitgenossen die jüdische Tradition wieder lebendig zu machen“589 wußte. Jehuda ha-Levis Zionssehnsucht sei einzigartig unter den mittelalterlichen Juden gewesen. Sein um 1140 vollendeter „Kusari“, der den Glauben über die Philosophie stellte, habe deutlich gemacht, „Volk, Land und Thora, dazu auch die hebräische Sprache, die Ursprache der Menschheit, gehören zusammen.“590 In der Galut wurden diese Elemente auseinandergerissen, „aber auch den Teilen haftet noch die Schechina an und erhebt jeden 585 Baer: Galut, S. 27. 586 „Die Märtyrer sind keine nach dem Opfertod lechzenden oder ihn herausfordernden Heroen wie die alten Christen. Angriff und Tod kamen ungerufen. Die ganzen Gemeinde, alt und jung, Frauen und Kinder, sind gewollt oder ungewollt die Opfer. Aber zunächst wird um das Leben gekämpft. Vor den Mauern des bischöflichen Palastes oder der Burg, wohin sich die Juden geflüchtet haben, wird der Feind abgewehrt, so lange, bis eine Verteidigung nicht mehr möglich ist. Dann aber ist alles zum Martyrium bereit.“ (Baer, Galut, S. 28.) 587 Baer: Galut, S. 28. 588 Baer: Galut, S. 30. 589 Baer: Galut, S. 30. 590 Baer: Galut, S. 31. Verwandlungen des iberischen Vorbildes

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Juden zu einer Gottesnähe, wie sie keine klösterliche Abgeschiedenheit vermitteln kann.“591 Diese Nähe zu Gott sei der Schlüssel dafür, dass die Juden als Volk über die Jahrhunderte überlebt hätten. Allerdings müsse jeder Jude selbst dafür sorgen, die Einheit im Judentum beizubehalten, indem er nach Erez Israel auswandere.592 Dem „Kusari“ sei „eine bestimmte Tendenz von universeller Humanität” zu eigen, indem auch „den anderen Konfessionen und Völkern ihr Anteil an der Seligkeit und ihr Platz in dem geschichtlichen Heilsprozess zugestanden“593 werde. Basierend auf dieser Deutung sei es Jehuda ha-Levi gewesen, der gefragt habe, wer den Sinn der jüdischen Diaspora erfülle, „die im Namen der Religion kämpfenden Völker oder das im Namen der Religion leidende Volk.“594 Solange die ursprünglich „naiv erfassten religiösen Werte“ der „Galut“ „nicht philosophisch allegorisiert oder kabbalistisch übersteigert und damit stärker als früher dem Leben entzogen“ werden, haben „sich Idee und Träger in innerer Harmonie und in Übereinstimmung mit den allgemeinen Anschauungen und Verhältnissen der Zeit befunden.“595 Mit dem Ende des Mittelalters sei diese Einschätzung jedoch überholt gewesen und „die Tatsachen des Exils wurden immer schrecklicher oder immer nüchterner, immer mehr verbreitete sich Verzweiflung oder Skepsis oder Gleichgültigkeit. Die Gedanken aber, die nach erfolgter Emanzipation über den Sinn der Diaspora geäußert wurden, haben kaum ein paar leere Worte mit der alten Idee der ‚Galut‘ gemeinsam.“596 Die tatsächlich vorhandene Integration der sephardischen Juden, insbesondere von deren Oberschicht, habe zu einer Entfremdung vom Judentum geführt, was Baer auf die Dominanz rationalistischer Philosophie, aber auch auf die wirtschaftliche Wohlgelittenheit und Weltläufigkeit der sephardischen Juden zurückführte. Für Baer waren die sephardischen Juden in einer Weise an die Mehrheitsgesellschaft assimiliert, die es ihnen unmöglich machte, zu erkennen, dass sie nicht in diese integriert und von ihr geschützt waren, sondern – ganz im Gegenteil –, dass ihr eigenes Leben massiv bedroht war. Als Konsequenz daraus wurden in der Folge hybride Identitätsentwürfe durch zionistisch gedachte, essentialistische Konzepte des „Urjuden“, der sich der Assimilation widersetzte und somit als idealer Vertreter eines „gesunden“, authentischen Judentums herangezogen werden konnte, ersetzt. 591 Baer: Galut, S. 31. 592 „Jedoch die Einheit, die durch die Galut zerrissen ist, muss jeder Jude an seinem Teil herzustellen helfen, indem er nach Erez Israel übersiedelt und damit die volle Offenbarung der Schechina für Israel und für die ganze Menschheit vorbereitet.“ (Baer: Galut, S. 32.) 593 Baer: Galut, S. 32. 594 Baer: Galut, S. 33. 595 Baer: Galut, S. 33. 596 Baer: Galut, S. 33. 422

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Zusammenfassung

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ie vorliegende Studie analysiert auf welche Weise, deutsche Juden im Verlauf des 19. Jahrhunderts jüdische Geschichte auf der iberischen Halbinsel wahrgenommen und in unterschiedlichen wissenschaftlichen und literarischen Textgattungen verarbeitet haben. Das Buch setzt mit der Untersuchung dieses Phänomens bei den jüdischen Aufklärern im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein und endet mit dem Aufkommen des politischen Zionismus als Antwort auf einen sich ausbreitenden Antisemitismus vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre. Dabei ist eine zentrale These des Buches, dass jüdische Geschichte auf der Iberischen Halbinsel nicht ausschließlich als ein „Goldenes Zeitalter“ erinnert wurde, sondern es sind gerade die Brüche innerhalb der Erinnerung, die die Ausgestaltung einer modernen deutsch-jüdischen Identität entscheidend mit prägen sollten. Das Buch hat sich zur Aufgabe gesetzt, herauszustellen, aus welchen Gründen sich Juden in Deutschland der Geschichte der Juden auf der Iberischen Halbinsel zuwandten und in welchem Maße sie diese Geschichte auf die noch nicht erfolgte bürgerliche Gleichstellung der Juden in Deutschland als Referenzpunkt bezogen. Die deutsch-jüdischen Rezipienten verstanden die Juden auf der iberischen Halbinsel als Vermittler zwischen jüdischer Kultur und den moslemischen und christlichen Mehrheitskulturen auf der Iberischen Halbinsel. Dabei wurde das harmonische Bild einer Gesellschaft der drei Kulturen – moslemisch, jüdisch, christlich – hervor gehoben, das immer nur durch religiösen Fanatismus bedroht worden sei und deshalb im Jahre 1492 auf der Iberischen Halbinsel endgültig vernichtet wurde. Die Vertreter der Wissenschaft des Judentums nahmen dabei die moslemische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel zwar durchaus positiver als die christliche wahr, erkannten jedoch auch hier an, dass die Juden auch unter christlicher Herrschaft noch als Vermittler wirken konnten. Allerdings wurde die Wahrnehmung der iberisch-sephardischen Kultur ausdrücklich auch auf solche Regionen bezogen, in denen sich die iberischen Juden nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel wie beispielsweise in den Niederlanden niederließen. Zudem verdeutlicht die Studie abschließend, dass die Rolle der Juden als kulturelle Vermittler von einer zionistisch gedachten Perspektive nicht mehr wünschenswert sein konnte. Bei allen hier diskutierten Autoren lässt sich die Untersuchung dieses historischen Phänomens nicht von der Situation der eigenen Gegenwart trennen. Auch wenn der Wunsch nach bürgerlicher Gleichstellung und Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft sicherlich ein zentrales Anliegen war, ermöglichte das iberisch-sephardische Vorbild auch eine Kritik an den bestehenden VerhältnisZusammenfassung

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sen in Deutschland zu formulieren. Diese richtete sich zudem zentral an innerjüdische Instanzen als auch an die Eliten der Mehrheitsgesellschaft. Der Vorstellung von sephardischen Juden als kulturelle Vermittler kam dabei sicherlich eine zentrale Funktion zu, allerdings zeigte sich in der Analyse der Vertreibung auch in welchem Maße die Juden selbst dafür mitverantwortlich gemacht wurden. Insofern nimmt es auch nicht wunder, dass die Orientierung an herausragenden Vertretern des iberischen Judentums bereits vor zionistischen Deutungsmustern deutlich kritisch eingeordnet wurde. So wurde schon bei Abraham Geiger auf die geistige Isolation der zeitgenössischen Juden in Amsterdam hingewiesen, die sich gerade nicht als Vorbild für die Emanzipation der Juden eignete. Dann schon eher als Gegenbild und hier fanden sich häufig Konzepte, die nun die deutschen Juden als Nachfolger der iberischen Juden auffassten. Die Idee mit der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft auf der Iberischen Halbinsel zeitlebens in einem Dialog gestanden zu haben, der nun in Deutschland fortgesetzt werden sollte, scheiterte hier an der Einseitigkeit dieses Gesprächs. Davon unbeeindruckt entschieden sich einzelne Vertreter des deutschen Judentums wie Ludwig Philippson dafür, die spanische Regierung um Religionsfreiheit zu bitten und damit verbunden eine Rücknahme des Vertreibungsediktes von 1492 zu verlangen. Dies zeigte deutlich das große Selbstbewusstsein der deutschen Juden insbesondere vor dem Hintergrund ihrer noch nicht erfolgten bürgerlichen Gleichstellung. Es zeigte jedoch auch, wie wenig die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft in Deutschland an der Diskussion einer Rolle der Juden als kulturelle Vermittler im historischen Spanien und darüber hinaus interessiert war.

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Zusammenfassung

Danksagung

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ine Reihe von Personen und Institutionen haben während der Arbeit an diesem Buch Anteil genommen. Das diesem Buch zugrunde liegende Forschungsvorhaben wurde am Simon Dubnow Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig von 1999 bis 2005 bearbeitet. Ich danke insbesondere dem Direktor des Dubnow-Instituts, Dan Diner, für dessen Unterstützung. Während meiner Zeit dort ist das Forschungshaben außerdem für zwei Jahre mit einem Stipendium von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert worden, die auch die Druckkosten für das Buch übernommen hat. Dafür möchte ich mich bedanken. Seit dem Beginn meiner Tätigkeit an der Universität von Oklahoma im August 2005 hat man hier mein Forschungsprojekt bis hin zur Drucklegung im erheblichen Maß ideell und finanziell unterstützt. Ich möchte hier insbesondere dem Department of History und stellvertretend dem Department Chair Rob Griswold sowie dem Schusterman and Josey Chair in Judaic and Israel Studies Norman Stillman danken. Außerdem haben das Office des Vice President for Research, das College of Arts and Sciences, und der Research Council der Universität von Oklahoma über die vergangenen Jahre finanzielle Unterstützung für Forschungsreisen und Konferenzteilnahmen gewährt. Zudem hat mich die Ernst Reuter Gesellschaft der Freien Universität bei der Finanzierung des Lektorats unterstützt. Während der zurückliegenden Jahre habe ich zahlreichen Anregungen von den folgenden Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen erhalten. Aus diesem Grunde danke ich Esther Benbassa, Nicolas Berg, Nina Berman, Ray Canoy, Gisela und Gerd Dittert, Michal Friedman, Francois Guesnet, Gad Freudenthal, Jonathan Hess, Klaus Hödl, Thomas Kollatz, Ori Kritz, Alan Levenson, Steven D. Martinson, Paul Mendes-Flohr, Michael A. Meyer, Michael Nagel, Susanne Omran, Martin Przybilski, Jan Rauh, Dirk Sadowski, Grit Scheffer, Michael Shapiro, Shmuel Shepkaru, Karin Schutjer, Norman Stillman, Michael Studemund-Halevy, Adam Sutcliffe und Steven Uran. Ich danke ferner Cory Twitchell und Christina de Temple, die beide das vollständige Manuskript gelesen haben für ihre Anmerkungen und Hinweise. Bei Hanne und Martin Schapkow bedanke ich mich für ihre mannigfaltigen Formen der Unterstützung. Dieses Buch ist meiner Frau Jutta Wunder gewidmet. Trier, München, Juni 2011 Danksagung

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I 451

Index

Abrabanel, Isaak 83, 282–285, 293 Fn 63, 405 Abraham ibn Daud 19 Fn 27, 21, 27, 88, 414 Abraham ibn Esra 21, 126, 127, 257, 295, 341 Abdurraham III. 18, 22, 181–182 al-Andalus 15–23, 47, 79 Fn 102, 126, 129, 187, 212, 217–229, 251, 259, 295, 353, 354, 416 Alfons XIII. von Spanien 397 Alfons V. von Portugal 374 Alfons VI. von Leon und Kastilien 182, 360 Alfons VII. von Leon und Kastilien 182, 24 Alfons X. von Leon und Kastilien 25, 350 Alfons XI. von Leon und Kastilien 355, 361 Alhambra 9, 386, 401–402, 404 Alianza Hispano-Israelita 397 Alliance Israélite Universelle 306, 309, 337, 352, 397 Almansor 170, 171, 308 Fn 110 Almohaden 19–20, 86, 349 Almoraviden 19, 86, 349 Anderson, Benedikt 277, 278 Fn 9 Arnim, Achim von 147, 158 Ascher, Saul 141, 158, 163–166 Assmann, Aleida 39 Fn 90 Assmann, Jan 34, 37 Auerbach, Berthold 401 Fn 486 Avé-Lallemant, Friedrich Christian 314 Averroes 22, 181–182 Baer, Fritz Yitzhak 14–15, 18, 25, 118, 410–422 Bahya ben Asher 24 Bamberger, Seligmann Baer 351 Baras, Simon 90–92 Basnage, Jean 70 Fn 74, 111 Fn 226, 112 Fn 226, 112 Fn 227, 196 Beer, Peter 216 452

I

Index

Benedikt XIII. 25, 374 Benjamin, Walter 38–39, 41 Bernstein, Aaron 280 Bhabha, Homi 41 Fn 95, 41 Fn 96, 42 Fn 97, 42 Fn 98, 43, 223 Fn 352, 348 Blumenberg, Hans 34 Fn 72, 37 Bismarck, Otto von 9 Boeckh, August Wilhelm 177, 179 Bondi, Simon 132–133 Bourdieu, Pierre 31 Brentano, Clemens 147, 158 Brumlik, Micha 149–150, 152 Cahen, Isidore 333 Chasdai ibn Schaprut 18, 21, 366, 414 Chmielnicki, Bogdan 97, 236 Cid 143, 146, 350, 388, 393 Cohen de Lara, David 395 Cohn, Albert 352 Convivencia 23–25 Cortezo, José Maria 409 Creizenach, Michael 208 Cremieux, Adolphe 306 Cromwell, Oliver 96–99, 100, 102, 394 Damaskus-Affäre 304–310, 321 Darwin, Charles 400, 405 de Barrios, Daniel Levi 102 d’Aguilar, Moses Raphael 73, 81 Fn 107, 102 de Castro, Adolfo 321 de Castro, Orobio 81, Fn 107, 83, 102, 107 de Silvenra, Miguel 379 de los Rios, Amador 321, 325, 328, 330– 331, 334–335, 335 Fn 225, 336 Fn 227 Delitzsch, Franz 12 Fn 8, 240 Delmedigo, Joseph 73, 83 Dhimmi 17, 304 Dohm, Christian Wilhelm von 31, 58–72, 74, 79 Fn 103, 110, 116, 127, 131, 138, 159, 160 Fn 105, 194, 206, 232, 248, 275–276, 356, 377

Don Pedro 372 Dosfuentes, Marques de 409–410 Dukes, Leopold 210, 358 Fn 303 Eichhorn, Johann Gottfried 247 Fn 50, 248 Ehrenberg, Samuel Meyer 195 Eisenmenger, Johann Andreas 164 Ettlinger, Jakob 299, 300 Fn 80 Euchel, Isaak 84, 90, 107–122 Ewald, Johann Ludwig 159 Eybeschütz, Jonathan 74 Feiner, Shmuel 71 Ferdinand von Aragon 120, 163, 268, 344 Ferrer, Vinzenz 25, 373–374 Fichte, Johann Gottlob 138, 140, 148–152, 153, 158–159, 163, 165–166, 166 Fn 140, 167, 199, 234 Finn, James 211 Franco, Francisco 398 Fränkel David 123 Fn 273, 133–135 Frankel, Jonathan 306, 309 Fn 111, 321 Frankel, Zacharias 354 Franzos, Karl Emil 280, 302 Friedländer, David 54 Fn 6, 55, 75, 84, 108 Friedman, Michal 334 Friedrich II. von Preußen 54 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 171 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 157 Fries, Jakob Friedrich 158–159, 160 Fn 105, 161, 163, 176 Fürst, Julius 182, 306 Gabirol, Salomon 187, 204, 240, 258–260, 341, 369 Gans, David 233 Gans, Eduard 141, 158 Fn 95, 170, 171– 176, 179, 286 Gebrüder Grimm 147, 179 Geiger, Abraham 48–49, 141, 208, 216, 242–274, 383, 398–399, 401, 424 Gibbon, Edward 112, 196 Goethe, Johann Wolfgang 104, 110, 279, 349, 385 Grab, Walter 149

Graetz, Heinrich 46, 48, 103, 104 Fn 199, 141, 179, 195–196, 214–242, 289, 305 Fn 98, 306, 359, 364 Fn 329, 378, 410 Hadrian 13, 355 Hecht, Emmanuel 364 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 36, 138, 157 Fn 91, 168 Fn 148, 171–173, 179, 243, 286 Heller, Lippmann 235 Heine, Heinrich 25, 170–171, 307–308, 241, 383 Heinemann, Jeremias 128 Fn 293, 301 Heinrich II. von Frankreich 66 Herder, Johann Gottfried 82, 140–148, 154, 175 Fn 173, 177, 190, 345, 348 Herzl, Theodor 112 Fn 229, 400–401, 405–406 Heschel, Susannah 242 Fn 423, 248 Fn 447, 249 Fn 452, 250 Fn 460, 251 Hess, Jonathan 57 Fn 19, 59 Fn 23, 56 Fn 14, 59 Fn 24, 60 Fn 29, 68 Fn 67, 71, 105 Fn 201, 151, 166 Fn 140, 425 Hess, Moses 216, 399 Hezekiah 415 Hildesheimer, Esriel 300 Hillel 270 Hirsch, Samson Raphael 215, 262, 298– 300, 339, 351, 379 Hochschule für die Wissenschaft 247, 268, 285, 289 des Judentums Holdheim, Samuel 241 Honorius 61 Humboldt, Wilhelm von 157, 215 Innozenz III. 26 Isabella von Kastilien 26, 120, 163, 268, 324, 341, 344, 408 Israel ben Elieser, genannt Besht 237 Itzig, Daniel 55 Jacob Anatoli 182 Jakob II. 205 Jehuda ha-Levi 19, 80, 187, 210, 254, 295, 364 Fn 329, 370, 391, 411, 418, 419, 421, 422 Index

I 453

Jeitteles, Ignatz 131 Jellinek, Adolph 195, 288 Jiddisch 57, 59, 67, 108, 237, 359, 393 Johannes XXII. 205 Joseph II. 57, 74, 138 Joseph Nasi 378 Jost, Isaak Markus 44, 46, 141, 194–213, 219, 238, 244, 248, 288, 298 Juan Carlos II. 396 Karpeles, Gustav 350, 279 Fn 14, 380–395 Katz, Jakob 46, 56 Karl Martell 23 Kasimir IV. 230 Katz, Albert 380–381, 386 Fn 432 Kaufmann, Anna 406 Knoblauch, Eduard 9 König Badis 17 König Salomo 12 Kohn, Hans 137 Kohn, Salomon 302 Kompert, Leopold 280, 302, 319 Konstantin 13–14 Landau, Ezechiel 239 Lässig, Simone 10 Fn 6, 31, 51, 55, 77 Fn 95, 78, 125 Fn 283, 288 Fn 44 Lehmann, James 84, 89 Fn 136, 91 Lehmann, Markus 274, 281, 300–303, 340–344 Lessing, Gotthold Ephraim 105, 107, 154, 169, 278, 287 Fn 41, 351, 39 Leti Gregorio 102 Lewis, Bernard 20, 21 Fn 34, 22 Fn 44, 24 Liebeschütz, Hans 215 Fn 308, 219 Fn 326, 242 Lilien, Ephraim Moses 407 Lips, Michael Alexander 159 Loewe, Louis 306 Löwisohn, Salomo 126, 127, 129–132, 134 Lope de Vega, Félix 362 Luria, Isaak 379 Maimon, Salomon 108, 129 Fn 296, 237, 239 Maimonides, Moses 21 Fn 34, 51, 80, 81, 83, 84, 85–93, 108, 125, 187, 216, 255, 268, 454

I

Index

291 Fn 56, 293 Fn 63, 299 Fn 79, 341, 367 Fn 341 Marcus, Ivan G. 32 Meisl, Joseph 74, 214 Fn 299 Meklenburg, Samuel 210, 358 Fn 303 Menasseh ben Israel 93–104, 131–133, 216 Mendelssohn, Moses 57, 59, 90, 101, 108, 191, 238, 351 Mendes, David Franco 101–103 Meyer, Michael A. 83, 172 Fn 160, 193 Meyer Kayserling, Moritz 95 Fn 157, 94 Fn 153, 95 Fn 158, 195 Fn 238, 273, 273 Fn 561, 286, 289 Fn 49, 351–380 Michaelis, Johann David 70, 71, 73, 62, 104, 105 Fn 201, 112 Fn 227, 142, 248 Molcho, Salomo 379 Moldenhawer, Daniel Gotthilf 161, 163 Montefiore, Moses 306 Montesquieu 70 Fn 112, 111 Fn 225, 112 Morisko 402–404 Moses ibn Esra 19, 210, 210 Fn 289, 258, 358 Fn 303 Moses ben Nachman 187, 240 Moses ibn Esra 19, 210, 258 Motadhid 415 Munk, Solomon 306 Myers, David N. 40 Nagel, Michael 77, 277 Fn 6 Napoleon 47, 136, 138–140, 155, 156 Fn 90, 158–159, 168, 318 Nebukadnezar II. 12, 413 Nietzsche, Friedrich 104, 405 Nordau, Max 49, 400–410 Nordau, Maxa 406 Novalis, d.i. Friedrich von Hardenberg 153–157, 223 Osmanisches Reich, Osmanen 18 Fn 23, 19 Fn 30, 29–31, 38, 113, 210, 243, 249, 269, 274, 293, 301, 304–306, 309, 336, 365, 377, 378, 398 Palästina 11, 13, 19, 22 Fn 43, 65 Fn 47, 71, 86, 96, 99, 165, 204 Fn 268, 213 Fn 296, 221, 228, 261, 267, 271, 289, 305, 356, 367 Fn 341, 378, 420, 421,

Paulus 413 Petrus Alfonsi 388–389 Philippson, Ludwig 32, 49, 195, 278 Fn 11, 279, 281, 285–350, 396, 402, 424 Philippson, Phöbus 280, 282–285, 289, 295, 302 Polen, polnisch 65, 67 Fn 56, 76, 84, 90, 96 Fn 162, 98 Fn 176, 134–135, 160, 179, 189 Fn 218, 191, 197, 200, 201 Fn 257, 214–219, 222, 226, 229–241, 268, 297, 311 Fn 118, 312 Fn 119, 395, 397, 408 Preußen, preussisch 54, 57, 58, 71, 109, 131, 137–139, 151, 157, 159, 168, 171, 196, 316 Pryne, William 100 Pulido Fernandez, Angel 397, 409 Raabe, Wilhelm 318 Rabbi Schlomo ben Jizchak, gen. Raschi 83, 187 Fn 217, 191, 192, 193, 420 Ranke, Leopold von 215, 243, 351 Rapoport, Salomo Juda 244, 351 Reconquista 21, 23, 25, 27, 30, 114, 129, 145, 170, 182, 203, 205, 206, 273, 329, 350, 387, 396, 416 Rekkared I. 14 Reuveni, David 378–379 Riesser, Gabriel 244–245, 314 Rom, Römer, römisches Reich 12, 61, 118, 196, 219, 316, 341, 385 Rothschild, Nathanael 306 Royal Alliance 24 Rühs, Friedrich Christian 159, 160, 161, 162, 163 Fn 122, 165, 158, 160 Fn 105, 176 Sabbatai Zwi 96, 379 Sachs, Michael 204 Fn 269, 240–241 Sadowski, Dirk 81 Fn 107, 82, 83 Fn 111, 112–113 Saladin, Sultan 86 Salomon ibn Verga 111, 118, 417 Samuel ha-Nagid 17, 21, 203, 369, 414 Samuel Halewi Abulafia 372 Samuel ibn Nagrela 369 Samuel ibn Tibbon 87–88

Savigny, Friedrich Carl von 158 Fn 95, 254, 286 Schlegel, Friedrich 104, 148 Fn 52 Schleiden, Jakob Mathias 368 Schleiermacher, Friedrich 138, 153, 157 Fn 91 Schorsch, Ismar 32, 73, 97 Fn 170, 99 Fn 180, 169 Fn 149, 173 Fn 163, 179 Fn 184, 192, 193 Fn 228, 194 Fn 236, 197 Fn 249, 214 Fn 302, 220 Fn 330, 240 Schuckmann, Friedrich von 173 Scott, Walter 278 Selim II. 30, 378 Sepharad 12, 13 Fn 11, 15, 16, 18 Fn 24, 29 Fn 58, 79, 194, 216, 114, 270, 417 Severus 413 Sixtus VI 26 Skolnik, Jonathan 281 Sorkin, David 31, 32 Fn 64, 58 Fn 21, 60 Fn 27, 74 Fn 84, 75 Fn 89, 124 Fn 275, 124 Fn 276 Spinoza, Baruch 85, 95, 100 Fn 184, 236, 259, 265, 291 Fn 55, 307 Fn 102, 395 Steinschneider, Moritz 180–183 Steer, Martina 44 Stühler, August 9 Usque, Samuel 118, 304 van Rahden, Till 31 Theodosius 13, 61 Thiers, Adolphe 308 Tiktin, Salomon 247 Torquemada, Thomás de 374–375 Trajan 13 Treitschke, Heinrich von 36, Fn 77, 220 Varnhagen, Rahel 148 Verein für Cultur und Wissenschaft 72, 163–164, 168–169, 171 der Juden Wessely, Hartwig 74–77, 101, 395 Westgoten 14, 15, 63, 161, 224, 328 Fn 193, 356, 365 Fn 333, 385, 413 Wetzlar, Isaak 75 Index

I 455

Wilnaer Gaon 237, 238 Wolf, Immanuel alias Wohlwill 135, 167, 169 Wolf, Friedrich 177 Wolf, Joseph 123 Fn 272, 124–125 Wolff, Johann Christian 196 Yahuda, Abraham Schalom 409

456

I

Index

Yerushalmi, Yosef Hayim 12 Fn 7, 16 Fn 21, 19 Fn 28, 24 Fn 46, 36, 78 Fn 101, 111 Fn 126, 118 Zunz, Leopold 46, 48, 134, 141, 167, 175, 176–194, 195 Fn 239, 215, 222–223, 226, 244, 251, 270– 271, 298, 364 Fn 329, 381