Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten: Jenin, »Cinema Jenin« und das »Freedom Theatre« 9783839440094

Projects of cultural resistance reveal dynamics of political contra-diction in a fragmented society. In the face of the

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Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten: Jenin, »Cinema Jenin« und das »Freedom Theatre«
 9783839440094

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Ergänzung zum Vorwort
1. Einführung: Postkoloniale Verortungen – Israel, Palästina, Jenin
2. Voraussetzungen. Geschichtskonzeptionen und nationale Narrative
3. Grenzgänge(r): Mobilität und Mobilisierung von Grenzen
4. Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum
5. Theater-Räume und Film-Räume
6. Jenin. Reale und symbolische Widerstandsräume
7. Geteilte und teilbare Narrative
Literatur

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Anne Rohrbach Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten

Edition Kulturwissenschaft | Band 147

Anne Rohrbach (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Verbundforschungsinitiative »Worlds of Contradiction« an der Universität Bremen. Sie studierte Religionswissenschaft, Philosophie und Transkulturelle Studien.

Anne Rohrbach

Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten Jenin, »Cinema Jenin« und das »Freedom Theatre«

Veröffentlichung als Dissertation Universität Bremen 09.11.2016 Gutachter/Gutachterin: Prof. Dr. Dr. Christoph Auffarth & Prof. Dr. Gisela Febel Das Promotionsprojekt wurde gefördert von der bischöflichen Studienstiftung Cusanuswerk

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Anne Rohrbach, Ort: Jenin, Jahr: 2014 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4009-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4009-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 13 Ergänzung zum Vorwort | 15 1.

Einführung: Postkoloniale Verortungen – Israel, Palästina, Jenin | 17

Einleitung | 17 Postkoloniale Verortungen der Grenze im israelisch-palästinensischen Kontext | 21 1.3 Jenin, „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ | 36 1.3.1 „Cinema Jenin“: „Ein Kino für den Frieden“ | 43 1.3.2 Das „Freedom Theatre“: „Generating Cultural Resistance“ | 46 1.4 Forschungsstand und Methode | 48 1.5 Selbst-Verortung | 58 1.6 Zur Verwendung von Begriffen und Bezeichnungen | 61 1.1 1.2

2.

Voraussetzungen. Geschichtskonzeptionen und nationale Narrative. Europäische Kolonialpolitik und Zionismus im Wechselspiel mit palästinensischem Nationalismus | 65

2.1

„Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ – Zionistische Einwanderung in Palästina und die Staatsgründung Israels | 67 Zur Etablierung der palästinensischen Nationalbewegung und der israelischen Siedlerbewegung nach 1948 | 77 Das zweifach verheißene Land. Erinnerung und Gedächtnis im israelisch-palästinensischen Konflikt | 88 Zur Nationalisierung von (Erinnerungs-)Landschaften | 95 Shoah und nakba als Grundpfeiler israelischer und palästinensischer Identität. Zur politischen Instrumentalisierung von Opfer-Narrativen zur Absicherung territorialer Ansprüche | 98 Dritte Akteure: NGOs und die Rolle der internationalen Staatengemeinschaft | 105

2.2 2.3 2.4 2.5

2.6

3.

Grenzgänge(r): Mobilität und Mobilisierung von Grenzen | 113

3.1

Grenzgänge(r) und (Über-)Lebensräume: Normalität im Ausnahmezustand | 113 3.1.1 Beispiel: Israelische und palästinensische ID-Karten | 122 3.1.2 Beispiel: Checkpoints | 126 4.

Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum | 135

4.1

Über den Tod hinaus: Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum in den besetzten palästinensischen Gebieten | 135 4.2 „Sumud“ als Schlüsselstrategie des gewaltfreien Widerstandes in den palästinensischen Gebieten | 139 4.3 Widerstand: Gedächtnismedien und Erinnerungsinhalte | 147 4.4 Grenzgänger: Palästinensische Märtyrer | 156 4.4.1 Beispiel: Dichtung als Archiv des kulturellen Gedächtnisses: Mahmud Darwisch und die Ästhetisierung des Märtyrertums | 164 5.

Theater-Räume und Film-Räume | 171

5.1

Beautiful Resistance: Theater und Film als Medien des kulturellen Widerstands | 171 5.2 Theater-Räume: Kreative Frei-Räume, Grenzgänge(r) und die Kraft der Imagination | 175 5.2.1 Beispiel: Das „Alrowwad Theatre“ im Aida-Flüchtlingslager bei Bethlehem | 180 5.2.2 Beispiel: Das „Ashtar Theatre“ in Ramallah | 181 5.3 Film-Räume: Konstruktionen von Heimat im exilischen Zwischenraum | 184 5.3.1 Beispiel: Filmische Inszenierungen des „Battle of Jenin“ | 197 6.

Jenin. Reale und symbolische Widerstandsräume | 201

6.1

Jenin, April 2002: Zur Dialektik von Terrorismus und Widerstand. Konstruktionen gegenläufiger Erinnerungsdiskurse. Vom bewaffneten zum kulturellen Widerstand | 201 „Cinema Jenin“ | 207 „Cinema Jenin“: „Ein Kino für den Frieden“ | 207 „Cinema Jenin“ als Film-Ort: Die Jenin-Trilogie | 213 Die Jenin-Trilogie: Erinnerung und Widerstand | 248 Das „Freedom Theatre“: „Generating Cultural Resistance“ | 249 Märtyrer des kulturellen Widerstandes: Juliano Mer-Khamis | 254

6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1

6.4

Der „Freedom Bus“– to bear witness, to raise awareness, to build alliances | 261 6.4.1 Beispiel: „The Empire plays back“: Playback-Theater als Form des kulturellen Widerstandes | 265 6.5 Playback-Theater als Form des kulturellen Widerstandes | 269 6.6 Zur Bedeutung von Erinnerung, Trauma, Widerstand: „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ | 280 6.6.1 „Cinema Jenin“ und „Freedom Theatre“: Abschließender Vergleich | 280 6.6.2 Theater und Film als Erinnerungs- und Widerstandsmedien | 286 7.

Geteilte und teilbare Narrative | 289

7.1

Kultureller Widerstand: Geteilte und teilbare Narrative: Gemeinsame Widerstands- und Erinnerungsräume? | 289 Räume des translokalen Widerstandes: Israelische Menschenrechtsorganisationen | 295 Beispiel 1: „Machsom Watch“ – Women against the Occupation and for Human Rights | 296 Beispiel 2: „B’Tselem“– The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories | 297 Beispiel 3: „Breaking the Silence“– Israeli soldiers talk about the Occupied Territories | 299 Beispiel 4: „BDS“– Boycott, Divestment and Sanctions against Israel | 301 (Über-)Lebensräume | 303

7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3

Literatur | 311

Im Idealfall kann die Literatur uns die Gnade gewähren, die Kränkung der Entmenschlichung ein wenig zu überwinden, die das Leben in großen, anonymen, globalisierten Gesellschaften uns antut: Die Kränkung, selbst in einer ‚groben‘ Sprache beschrieben zu werden, in Klischees, Verallgemeinerungen

und

Stereotypen;

die

Kränkung unserer Verwandlung in einen – wie Herbert Marcuse sagte – eindimensionalen Menschen. (DAVID

GROSSMAN,

KORREKTUR)

DIE

KRAFT

ZUR

Für Paul, Frida und Leni

Vorwort

Ich beende meine Dissertation in Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Armut ins sichere Europa. Die meisten von ihnen kommen aus dem Nahen Osten. Doch das Europa, das seine Grenzen einst fallen ließ, errichtet nun neue reale und symbolische Grenzen. Tagtäglich begegnen uns auf die eine oder andere Art das Leid und die Verzweiflung der Geflüchteten. Und tagtäglich sind wir nicht nur mit einer großen Welle von Hilfsbereitschaft, sondern auch mit unverhohlenem Hass auf die Geflüchteten konfrontiert, der in seiner Selbstverständlichkeit unbedingt ernst genommen werden muss. Es ist längst nicht absehbar, wohin uns diese Herausforderung führt, doch scheint die Maus in Kafkas Parabel „Kleine Fabel“ Recht zu behalten. Die Maus, mit der lauernden Katze hinter sich und der zuschnappenden Falle vor sich, sagt: „Ach, die Welt wird enger mit jedem Tag.“1 In diesem Sinne erscheint die vorliegende Forschung aktueller denn je: Sie beschäftigt sich nicht nur mit unterschiedlichen Grenzerfahrungen und Erfahrungen des Flüchtens und des Exils, sondern in dem Zusammenhang mit der Bedeutung von Erinnerung und (kulturellem) Widerstand. Denn Widerstand gegen etwas impliziert immer die Erinnerung an etwas, das (einst besser) war. Erinnerung bedeutet immer Widerstand gegen das Vergessen. Mein größter Dank gilt meinem Mann Paul. Er hat immer an mich und meinen eingeschlagenen Weg geglaubt und mich mit Liebe und Aufmerksamkeit unterstützt. Ich danke ihm für seine kontinuierliche Motivation sowie für seine Geduld, mit der er mich durch manch schwierige Zeit begleitet hat. Meinen Töchtern Frida und Leni danke ich für zahllose glückliche Stunden, fürs Lachen und Herumtoben, was für das Fertigstellen der Arbeit nicht weniger wichtig und wertvoll war.

1

In: Hermes, Roger [Hrsg.] (1997), „Franz Kafka. Die Erzählungen“, Frankfurt/Main: Fischer 2011.

14 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND

Ein besonderer Dank gilt auch meiner Schwiegermutter Ulla, die mich stets unterstützt und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Meinen Eltern Resi und Charlie danke ich von Herzen für ihren bedingungslosen Zuspruch und ihren Rückhalt, für ihr Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten. Meine Eltern, ihre neuen Lebenspartner und meine Geschwister sind für mich immer Zufluchtsort und Anker. Großen Dank gebühre ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Christoph Auffarth für die geduldige, vertrauensvolle und konstruktive Betreuung – auch in Zeiten des Zweifelns und des (gefühlten) Stillstandes. Meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Gisela Febel danke ich für ihr geduldiges Ohr in persönlichen Gesprächen und ihre wertvollen, kritischen Anregungen. Nicht zu vergessen sind Katia Harbrecht, die sicherlich keine leichte Aufgabe mit der Korrektur hatte; Anne Kauhanen, Anna Ramella und Irina DrabkinaSow, denen ich für zahlreiche Gespräche und Diskussionen (und ein wertvolles Gläschen Wein in gemütlicher Kneipenatmosphäre) danke; Judith Dufek für ihr allzeit offenes Ohr und Herz; sowie all meinen Freunden und Bekannten auf beiden Seiten des Konfliktes, die „mit einer Kerze in der Hand durch einen gewaltigen Sturm […] gehen.“2 Ein besonderer Dank gilt schließlich dem Cusanuswerk, ohne dessen finanzielle wie ideelle Förderung die Promotion nicht möglich gewesen wäre.

2

Aus David Grossmans Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2010: http://m.tagesspiegel.de/kultur/friedenspreis-david-grossman-mit-der-kerze-durch-den -sturm/1953656.html?utm_referrer= (zuletzt aufgerufen: 24.05.2017).

Ergänzung zum Vorwort

Seit der Abgabe meiner Dissertationsschrift ist ein Jahr vergangen – mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt kann ein Jahr große Veränderungen und Umbrüche mit sich bringen. In meiner Arbeit geht es um die Bedeutung von Erinnerung und kulturellem Widerstand, um die Kraft der Imagination und Resilienz. Anhand von zwei zivilgesellschaftlich verankerten Projekten, dem „Freedom Theatre“ und „Cinema Jenin“ zeige ich, wie zentral künstlerische Ausdrucksformen im unbewaffneten Kampf gegen die israelische Besatzung sind, welche individuellen Ressourcen sie freisetzen und wie sie das (Über-)Leben in einer permanenten Ausnahmesituation unterstützen. Zugleich verweist meine Arbeit auf die Unvereinbarkeiten, die Grenzen und das Scheitern derartiger kultureller Projekte. Besonders dramatisch zeigt sich dies in der Schließung und Zerstörung von „Cinema Jenin“ Ende 2016. An seiner Stelle soll ein großes Einkaufszentrum errichtet werden. Das Gästehaus bleibt weiterhin bestehen, ob es dauerhaft erhalten werden kann, bleibt abzuwarten und hängt auch davon ab, wie sich der Tourismus in Jenin entwickelt. Nicht wenige Reisende wagten die beschwerliche Reise nach Jenin hauptsächlich, um das deutsch-palästinensische Projekt zu besuchen. Nachdem der erste mediale Hype vorüber war, gingen auch die Besucherzahlen zurück. Die schwierige finanzielle Lage seit 2014 und die ambivalenten Haltungen innerhalb der Bevölkerung, haben einen gut funktionierenden Kinobetrieb erschwert und letztendlich unmöglich gemacht. Einen Teil des Equipments übernimmt das „Freedom Theatre“. Langfristige Konsequenzen sind bislang noch nicht abzusehen, zahlreiche Menschen haben nicht nur ihren Arbeitsplatz verloren, sondern auch einen liebgewonnen Ort der Begegnung und des (inter-)kulturellen Austausches. Inwiefern das „Freedom Theatre“ und andere in Jenin verankerte Projekte die entstandene Lücke schließen können, bleibt abzuwarten.

1. Einführung: Postkoloniale Verortungen – Israel, Palästina, Jenin

1.1 E INLEITUNG Etwa 4,5 Millionen Palästinenser leben direkt oder indirekt unter israelischer Besatzung, die alle Bereiche ihres Lebens berührt. Hinzu kommen etwa 6 Millionen palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachfahren weltweit. Sowohl Geflüchtete als auch Menschen, die unter Besatzung leben, zählen zu den verletzlichsten Gruppen, mit denen man sich innerhalb der Wissenschaft beschäftigen kann. Arbeiten in diesem sensiblen und komplexen Bereich bergen auch für den Forscher respektive die Forscherin einige Risiken; „[…] from the actual physical dangers of witnessing and recording in an ‚ethnographic emergency‘ […]“1 bishin zu den Grenzen emotionaler Belastbarkeit. Sowohl physische als auch psychische Gewalt sind im Israel-Palästina-Konflikt immer anwesend: an den Checkpoints, in Gesprächssituationen, im Alltag, den man mit den Menschen erlebt. In Anlehnung an den Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung verstehe ich unter Konflikt Unvereinbarkeit und Widerspruch; es gibt Zielsetzungen, die unvereinbar miteinander sind. Eine Lösung ist nicht notwendigerweise vorhanden. Wenn es einen Konflikt und keine Lösung gibt, dann geht Polarisierung mit Enthumanisierung fast automatisch einher. Polarisierung heißt, dass man die Welt in zwei Teile teilt – dualistisch. […] Wenn man also polarisiert und enthumanisiert ist, wenn man den Glauben besitzt, dass Palästinenser keine eigentlichen Menschen sind und die Israelis Teufel, dann ist das gefährlich. Das bedeutet selbstverständlich, dass man eine Form von Frieden braucht, die in Humanisierung und Depolarisierung besteht, aber das ist nur ein Teil. Und

1

Peteet, Julie (2005), „Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps“, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. xi.

18 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND es arbeitet mehr auf der Wirkungsseite als auf der Ursachenseite. Es gibt keine Alternative zur Lösung der Unvereinbarkeit. Gewalt führt zu Traumata, diese Traumata kommen zurück als Zielsetzungen und es entsteht eine Spirale. Diese Spiralen finden ihre Nahrung auch in den tiefen kulturellen Strukturen. (Galtung 2007: 182)2

Ein wesentlicher Ansporn, doch kontinuierlich in diesem Konfliktgebiet zu forschen, begründet sich in der von mir beobachteten Fähigkeit der Palästinenser, diesen oft schwierigen Lebensalltag mit einer enormen Kreativität zu meistern. Dieses kreative Potenzial führte letztendlich dazu, mich intensiv mit der Bedeutung von Erinnerung und (kulturellem) Widerstand in den palästinensischen Gebieten auseinanderzusetzen. Das Ergebnis ist die vorliegende Forschungsarbeit. Im Jahr 2015 blickt Mahmud Abbas auf eine zehnjährige Amtszeit als Palästinenserpräsident zurück und kann vor allem diplomatische Erfolge verbuchen, insbesondere die Anerkennung des Staates Palästina von einer Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen. Anders als sein Vorgänger Yassir Arafat, der zu einem palästinensischen Nationalhelden avanciert ist, kann Mahmud Abbas die Mehrheit der Palästinenser aber nicht erreichen. Und auch ein selbstbestimmtes Leben der Palästinenser in den Grenzen von 1967, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, scheint ferner denn je. Politisch vertritt Abbas eine Haltung des Kompromisses und sieht in der Gewaltlosigkeit die einzige Option für eine friedliche Beilegung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Auch wenn er für diese Haltung in den eigenen Reihen vielfach kritisiert wurde und wird, erfährt der gewaltfreie Widerstand eine nicht zu unterschätzende Rolle innerhalb der palästinensischen Bevölkerung. Gewaltfreier Widerstand beinhaltet Aktionen, die bewusst auf Gewalt gegen andere verzichtet. Gene Sharp (2005)3 nennt diesbezüglich folgende Unterkategorien: Gewaltfreier Protest, Boykottaktionen und (politische) Nichtzusammenarbeit, Streikaktionen und gewaltfreie Intervention. Kultureller Widerstand ist gewaltfreier Widerstand mit künstlerischästhetischen Mitteln wie Theater und Film. Der gewaltfreie Widerstand in den

2

Galtung, Johan (2007), „Transformation des Israel/Palästina-Konflikts“, in: Meggle, Georg [Hrsg.] (2007), Deutschland, Israel, Palästina. Streitschriften, Hamburg: EVA, 181-193.

3

Sharp, Gene (2005), „Waging Nonviolent Struggle. 20th Century Practice and 21st Century Potential“, Manchester: Extending Horizons Books.

E INFÜHRUNG : P OSTKOLONIALE V ERORTUNGEN – I SRAEL , P ALÄSTINA, J ENIN

| 19

palästinensischen Gebieten und seine Bedeutung für die Aufarbeitung potenziell traumatischer Erfahrungen ist Hauptthema vorliegender Arbeit4: Es geht einerseits um den Zusammenhang von Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum im israelisch-palästinensischen Kontext, wobei potenziell traumatische Ereignisse auf individueller wie kollektiver Ebene eine Rolle spielen. Andererseits wird in dem Zusammenhang die Frage nach dem dialogfördernden Potenzial kultureller Widerstandsformen, speziell von Theater und Film, aufgeworfen. Theater und Film als Speicher- und Erinnerungsmedien verfügen über ein grenzüberschreitendes Potenzial und können in diesem Sinne zur Etablierung von (neuen) Erinnerungs- und Widerstandsräumen beitragen. Im Fokus stehen hier die beiden in der palästinensischen Zivilgesellschaft verankerten Projekte „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ in Jenin, im Norden der Westbank. Dabei spielen nicht nur die beiden Institutionen selbst eine Rolle, sondern auch die drei rund um das Kino entstandenen Filme „Das Herz von Jenin“ (2008), „Nach der Stille“ (2010) und „Cinema Jenin. Die Geschichte eines Traums“ (2011) sowie der „Freedom Bus“ und damit zusammenhängend Playback Theater, eine Form des improvisierten und interaktiven Theaters. Während der Forschung hat sich gezeigt, dass im israelisch-palästinensischen Konflikt Erinnerung nicht losgelöst von der Erfahrung der Grenze zu betrachten ist, wobei nicht nur die konkrete, physische Grenze gemeint ist, sondern die Grenze trägt gleichermaßen dynamische politische, soziokulturelle, religiöse, psychische und symbolische Konnotationen in sich. Die Grenze ist es, an dem sich der israelisch-palästinensische Konflikt und die mit ihm zusammenhängenden (nationalen) Identitäten, die unterschiedlichen Geschichtsverständnisse und die damit verbundenen, divergierenden Erinnerungen diametral spiegeln. Ursprünglich konzentrierte sich das Forschungsvorhaben auf die Entwicklung eines transnationalen dialogischen Erinnerungsmodells, welches das Leid der jeweils anderen Seite empathisch in die eigene Erinnerung integriert, um Erinnerungskonstruktionen entlang nationaler Grenzen aufzubrechen. Im Zuge mehrerer Forschungsaufenthalte in Israel und den palästinensischen Gebieten zeigte sich, dass dieses wohlgemerkt idealistische Vorhaben in dieser Form nicht realisierbar ist. Es wurde deutlich, dass aufgrund der höchst asymmetrischen

4

Wenn in meiner Arbeit von den (besetzten) palästinensischen Gebieten die Rede ist, beziehe ich mich auf die Westbank. Die Situation im Gazastreifen ist eine völlig andere und bedarf einer separaten Forschungsarbeit. Aufgrund der politischen Lage und den schwierigen Einreisebedingungen für Ausländer, blieb mir der Gazastreifen gänzlich verschlossen.

20 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND

Ausrichtung des Konfliktes, ein grenzüberschreitender Dialog auf Augenhöhe (als Grundvoraussetzung) derzeit gar nicht stattfinden kann. Oft wird vorschnell davon ausgegangen, dass es ausreiche, Menschen beider Seiten an einen Tisch zu bringen, um sich durch das Erzählen ihrer jeweiligen Geschichten versöhnlich die Hand reichen zu können. Das dies für die Empathiebildung sowie für das Verständnis der jeweiligen anderen Seite äußerst wichtig ist, steht außer Frage. Was jedoch bei den meisten derartigen Dialog- bzw. Versöhnungsprojekten ausgeklammert wird, sind die hegemonialen Strukturen der israelischen Besatzung, die aber den Kern des heutigen Konfliktes betreffen. So konzentriert sich die Forschung auf zwei konkrete, im gewaltfreien Widerstand verankerte Projekte, die einen translokalen Dialog5 zwar langfristig unterstützen können, die aber derzeit mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert sind. Ziel der Arbeit ist vor diesem Hintergrund, nicht nur die konträren Positionen und Perspektiven auf den Konflikt darzulegen, einzugrenzen und zu entgrenzen, sondern damit einhergehend die Zwischen-Räume aufzudecken. Denn nur durch das Aufzeigen mehrdeutiger Positionen lässt sich verstehen, dass an, in und über die diversen Grenzräume beider Gesellschaften hinaus widersprüchliche und ambivalente Praktiken und Verbindungen entstehen können. Grenzen und die an diese gekoppelten Erinnerungs- und Widerstandspraktiken pendeln zwischen Ort, Nicht-Ort, Zwischenräumen und (künstlich konstruierten) Erinnerungsorten. Trotz des Fokus’ auf eine palästinensische Stadt bzw. auf zweier im palästinensischen Widerstand verankerter Projekte, erhebt vorliegende Studie den Anspruch, nicht für eine Seite Partei zu ergreifen, indem die andere Seite abgewertet oder ihr ihre Legitimität abgesprochen wird. Es stellt sich die Frage, inwiefern dies zu realisieren ist: Jenin ist diskursives Feld beider auf potenziell traumatischen Ereignissen beruhender Narrative, an denen sich der Konflikt um die ‚einzig wahre Erinnerung‘ deutlich manifestiert. Bisherige Forschungen zu dieser Thematik gehen größtenteils von dem für den westlichen Forscher vertrauteren israelischen Ort aus, seltener finden derartige Studien ihre Verortung in den besetzten palästinensischen Gebieten, wenngleich sich langsam (auch in der deutschen akademischen Landschaft) eine Akzentverschiebung beobachten lässt. Ausgehend vom postkolonia-

5

In Gegenüberstellung zum Begriff der Transkulturalität bevorzuge ich den Begriff der Translokalität, weil dieser das Moment der Bewegung und des Übergangs stärker betont und der Gefahr einer Kulturalisierung von Phänomenen entgegenwirkt, die nicht allein kulturell bedingt und zu beschreiben sind.

E INFÜHRUNG : P OSTKOLONIALE V ERORTUNGEN – I SRAEL , P ALÄSTINA, J ENIN

| 21

len Anspruch, die Stimme der Anderen, die zwar sprechen, aber in der Regel nicht gehört werden (können), hörbar zu machen, nimmt mein Dissertationsprojekt den palästinensischen Raum, insbesondere Jenin, als Ausgangspunkt für die Untersuchung von Erinnerungs- und Widerstandsräumen. Denn Jenin ist realer und symbolischer Kristallationspunkt divergierender, traumatischer israelischpalästinensischer Narrative. Mit den Begriffen Widerstand, Erinnerung, Trauma und Grenze sind vier wichtige Kategorien genannt, die für das Verständnis des Israel-PalästinaKonfliktes elementar sind und die einander wechselseitig beeinflussen. Sie beschreiben und umschreiben ein komplexes Diskursfeld, das sich methodisch hervorragend mit den Erkenntnissen der postkolonialen Theoriebildung6 analysieren lässt.

1.2 P OSTKOLONIALE V ERORTUNGEN DER G RENZE IM ISRAELISCH - PALÄSTINENSISCHEN K ONTEXT Die sich verstärkt seit den 1960er-Jahren in Anlehnung, Erweiterung und Abgrenzung zu poststrukturalistischen Denkansätzen entwickelnden postkolonialen Studien, zeichnen sich durch eine radikale Konzeptionsänderung der Beziehung zwischen Nation, Kultur und Ethnizität aus und berühren damit immer auch das Thema der Grenze, der Grenz- und Zwischenräume. Diese können wiederum in Beziehung zu diversen Alteritäts- und Identitätskonzepten gesetzt werden. Der koloniale Diskurs, der tief in der westlichen Welt verankert ist, wird innerhalb postkolonialer Theorien infrage gestellt und dekonstruiert, um aktuelle gesellschaftliche hegemoniale Machtstrukturen zu reflektieren. Besondere Berücksichtigung findet dabei die gewaltvolle Repräsentation des Anderen. Im kolonialen Diskurs fungiert der Andere als notwendiger Bestandteil zur Konstruktion eines souveränen, überlegenden europäischen Selbst.7 Prozesse der individuellen wie kollektiven Identitätsbildung funktionieren immer wechselseitig, in einer doppelten Bewegung von Abgrenzung und Austausch. Der jahrhundertelange Prozess der Kolonisierung verlief nie uniform, sodass es sinnvoll ist, von einer Vielzahl einzelner Kolonialismen zu sprechen, um der

6

Eine gute Einführung bieten: Castro Varela, Maria do Mar; Dhawan, Nikita (2005),

7

Siehe auch: Castro Varela; Dhawan (2005).

„Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung“, Bielefeld: transcript.

22 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND

Vielfalt der Erscheinungsformen einigermaßen gerecht werden zu können.8 Trotz der Vielheit von Kolonialismen sowie ihrer Kontextabhängigkeit lässt sich sowohl die physische, psychische, militärische, als auch die epistemologische und ideologische Gewalt als gemeinsamer Nenner bezeichnen. Beschäftigt man sich mit den Auswirkungen kolonialer Praktiken, die sich wie im israelischpalästinensischen Konflikt bis heute in den Gesellschaften auswirken, muss auch die Bedeutung und Wirkung des antikolonialen Widerstandes in eine adäquate Analyse mit einfließen. In diesem Zusammenhang werden postkoloniale Theorien idealtypischerweise als transnationale Geschichtsschreibung(en) verstanden. Diese können die Widersprüche historischer Prozesse, die Brüche, die De- sowie Rekolonisierungsprozesse aufdecken. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern äußerst komplex und nur eine multiperspektivische Betrachtung, wie sie postkoloniale Theorien leisten, kann zu einer gerechten Einordnung und Analyse beitragen. Vorliegende Studie erhebt vor diesem Hintergrund einen transitorischen und transhistorischen Anspruch und rückt im Kontext von israelisch-palästinensischen Erinnerungs- und Widerstandskulturen insbesondere auch die Frage nach Grenz(räum)en, Zwischenräumen und (Ver)Ort(ungen) in den Fokus. Postkolonialismus verstehe ich mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt als Kontinuität, und nicht als einen Bruch zwischen der kolonialen und nachkolonialen Ära. Prinzipiell beschäftigen sich postkoloniale Theorien mit Identitätsformationen innerhalb des kolonialen Diskurses, wobei Ambivalenz eine wesentliche Konstituente darstellt. Das zentrale Problem der Identitätsfindung in der postkolonialen Situation ist ein komplizierter Prozess, der durch die widersprüchlichen Affekte des Verlangens nach und der Furcht vor dem Anderen gekennzeichnet ist. Postkoloniale Studien konzentrieren sich auf Verhandlungen und Aushandlungen über die koloniale Grenze hinweg, mit dem expliziten Ziel, Homogenisierungen und Totalisierungen zu vermeiden, indem eine Klärung des „Dazwischen“9 in den Fokus rückt.

8

Siehe auch: Osterhammel, Jürgen (2012), „Kolonialismus. Geschichte, Formen, Fol-

9

Für den postkolonialen Theoretiker Homi K. Bhabha sind Kulturen dynamische, sich

gen“, München: C.H. Beck. kontinuierlich wandelnde Entitäten. Bhabhas Konzept des „dritten Raums“ (third space) beschreibt eine Zone, in der Kulturen sich durch wechselseitige Beeinflussung wandeln. In diesem „Da-Zwischen“ lösen sich Hegemonien zugunsten von Ambivalenzen auf.

E INFÜHRUNG : P OSTKOLONIALE V ERORTUNGEN – I SRAEL , P ALÄSTINA, J ENIN

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Für den israelisch-palästinensischen Konflikt wird im Folgenden deutlich, dass die Grenze nicht losgelöst von den Räumen, die sie teilt, zu betrachten ist. Wie einleitend beschrieben, umfasst die Grenze nicht nur physische, sondern gleichermaßen politische, soziokulturelle, religiöse, psychische und symbolische Dimensionen. Durch die an Grenzziehungen gebundenen Raumstrukturen manifestieren sich Identität, Differenz und Territorialität des Eigenen und des Fremden, sowie der damit verbunden Deterritorialisierung, Dezentrierung, Entwurzelung und Entfremdung. Die Berücksichtigung der Raum/Ort-Kategorie ist für den vorliegenden Kontext elementar, aber nicht ausreichend. Zur adäquaten Einordnung des Konfliktes muss ebenso die Kategorie der Zeit Berücksichtigung finden, da die räumlichen Ansprüche beider Seiten immer auch an zeitliche Dimensionen gebunden sind (vgl. Kapitel 2). Beispielsweise sind die beiden Jahreszahlen 1948 und 1967 als zeitliche Etikettierungen zu verstehen, die für die Palästinenser den Beginn, für die Israelis das Ende von Exil (und Besatzung) markieren. Für den palästinensischen Kontext hält Julie Peteet (2005: 20 ff.)10 fest: These two defining moments – 1948 and 1967 – are metonyms for the loss and the subsequent transformation of Palestine and the fragmentation of its people. These dates are spatiotemporal reference points that in the present bind Palestinians, wherever they are, in the struggle to unite what was fragmented. […] A Palestinian narrative connecting various times and places by extension creates continuity between past and present.

Raum-Zeit Strukturen, Grenzen und ihre Ausrichtung im Raum sowie Erinnerung und Widerstand spielen eine besondere Rolle in der palästinensischen und der israelischen Erfahrungs- und Gefühlswelt und sind von ihren entsprechenden individuellen wie kollektiven Identitäten nicht zu trennen. In seinem ethnografischen Roman „Der gelbe Wind“ (1988)11 schreibt der israelische Schriftsteller David Grossman über einen Besuch im Flüchtlingslager Dheischeh bei Bethlehem: Ein merkwürdiges Leben. Doppelt und gespalten zugleich. Jeder, mit dem ich im Lager spreche, wird fast von Geburt an dazu erzogen, dieses Doppelleben zu führen. Sie sind hier – und sie sind zugleich dort, woher sie stammen. Sie wohnen hier im Lager, grausam

10 Peteet, Julie (2005), „Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps“, Philadelphia: University of Pennsylvania Press. 11 Grossman, David (1988), „Der gelbe Wind. Die israelisch-palästinensische Tragödie“, München: Kindler.

24 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND ernüchtert von den Entbehrungen, und gleichzeitig sind sie dort. Dort heißt: unter uns, unter den Israelis, in den Dörfern, in den Städten. Ich frage einen fünfjährigen Jungen, woher er kommt. Er antwortet sofort: „Jaffa.“ Aus dem Jaffa, das heute ein Teil von Tel Aviv ist. „Warst du schon einmal in Jaffa?“ „Nein, aber mein Großvater hat es gekannt.“ Sein Vater wurde offensichtlich in Dheischeh geboren, aber sein Großvater kam aus Jaffa. „Und ist Jaffa schön?“ „Ja. Dort gibt es Obstgärten und Weinberge und das Meer.“ Ich gehe weiter und treffe ein junges Mädchen, das auf einer Betonmauer sitzt und in einer Illustrierten blättert. Ich frage auch sie, woher sie kommt. Sie stammt aus Lod, nicht weit vom Ben Gurion International Airport. Aus dem Lod, das vor vierzig Jahren eine arabische Stadt war. […] Sie erzählt mir mit einem verlegenen Kichern von der Schönheit Lods. Von seinen Häusern, die so groß waren wie Paläste. „Und in jedem Zimmer ein handbemalter Teppich. Das Land war wunderbar. Und der Himmel immer blau.“

Dieses Zitat hebt deutlich die Zentralität von Zeit und Raum im israelischpalästinensischen Konflikt hervor; es verdeutlicht, wie sich sowohl die israelisch-palästinensischen Geografien als auch Vergangenheit und Gegenwart überschneiden. An diese Kategorien sind auch unterschiedliche Vorstellungen von Ort und Verortung gebunden. Dieser Arbeit liegt ein Verständnis von Ort einerseits als konkreter, gelebter sozialer Ort zugrunde, wobei dieser mit Bedeutungen und emotionalen Haltungen besetzt ist und den Rahmen für soziale Interaktionen bietet.12 Andererseits wird Ort im Sinne Marc Augés als Nicht-Ort verstanden. Während ein Ort ein in Zeit und Sprache festgelegter Raum ist, in dem die Beziehungen selbstverständlich sind, wo jeder seinen Platz hat und den des anderen kennt, beschreibt Augé den Nicht-Ort als einen dynamischen Raum, der durch das Fehlen von Geschichte, Relation und Identität charakterisiert ist: Der NichtOrt beginnt mit der Entwurzelung. Ort und Nicht-Ort sind in diesem Kontext als relationale Kategorien zu begreifen: Je nach Zeitpunkt, Gebrauch und Thematik kann ein Ort zu einem Nicht-Ort werden und umgekehrt:

12 Michel Foucault entwickelte beispielsweise das Konzept der „Heterotopie“. Er nimmt dabei an, dass es Räume gibt, die in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie diese repräsentieren, negieren oder umkehren. Foucault, Michel (1967), „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz [Hrsg.], Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, 5. durchgesehene Auflage, Leipzig: Reclam 1993. Ergiebig ist in dem Kontext auch: Ders. (1975), „Überwachen und Bestrafen. Die Geburt des Gefängnisses“, Frankfurt: Suhrkamp 1994 sowie: Agamben, Giorgio (1998), „Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Homo sacer III“, Frankfurt: Suhrkamp 2003.

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Ort und Nicht-Ort sind fliehende Pole, der Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verwirrende Spiel von Identität und Relation ständig aufs neue (sic!) seine Spiegelung findet. (Augé 1994: 94)13

Eine Vielzahl wissenschaftlicher Auseinandersetzungen befasst sich mit der Bedeutung von Orten und Nicht-Orten in urbanen und postmodernen Zusammenhängen, wie beispielsweise Flughäfen und Bahnhöfe. Relativ unbekannt ist die Betrachtung von Checkpoints und Flüchtlingslagern in der doppeldeutigen Bewegung zwischen Ort und Nicht-Ort, wie sie in Kapitel 3 detaillierter Erwähnung finden.14 Checkpoints und Flüchtlingslager tragen die Erfahrung der Entwurzelung in sich. Geplant als Transiträume, ohne in der historischen Zeit verankerten Geschichte und Identität, befinden sie sich heute in einer ‚permanenten Zeitweiligkeit‘, zwischen Entwurzelung und (Neu-)Verortung: […] Palestinian identity has unfolded in a spatiotemporal framework of betwixt and between, then and now, within a local and regional context. (Peteet 2005: 2)

Hier schließt sich das kulturtheoretische Konzept des „dritten Raumes“ und der „Hybridität“ von einem der zentralen Vertreter der postkolonialen Studien, Homi K. Bhabha an, dem es in seinen vorwiegend literaturtheoretischen Analysen um den Blick auf die Grenze und auf die von ihr produzierten Zwischenräume geht.15 „Hybridisierung“ meint bei Bhabha die prozessuale und kreative Neubildung von Identitäten, die die Spannung zwischen Kulturen nicht auflöst. Das heißt, dass die Neubildungen nicht aus zwei oder drei angenommenen Originalen bestehen, sondern sie müssen in einem „dritten Raum“ als tatsächlich neue Formen mit inhärenten Differenzen, Ambivalenzen und Widersprüchen gedacht werden. Im „dritten Raum“ fallen die Vorstellungen von Zeitlichkeit, kultureller Hybridisierung und Prozessualität zusammen. Er ist dabei nicht zwangsläufig als

13 Augé, Marc (1994), „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt: Fischer. 14 Siehe beispielsweise: Tawil-Souri, Helga (2009), „New Palestinian Centers. An Ethnography of the ‚Checkpoint Economy‘, in: International Journal of Cultural Studies Vol. 12 (3), 2009, S. 217-235; Dies. (2011), „Qalandia Checkpoint as Space and Nonplace“, in: Space and Culture, Vol. 14 (1), Winter 2011, S. 4-26. 15 Bhabha, Homi K. (1994), „The Location of Culture“, London: Routledge 2007. Siehe auch Fußnote 11.

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konkreter Raum zu begreifen, sondern als ein ästhetisches Verfahren von Dekonstruktion. In diesem Kontext markiert er einen Moment des Übergangs und ist folglich nicht festschreibbar. Laut Bhabha gibt es keine Identität, sondern lediglich Möglichkeiten der Identifikation auf dem Feld des Anderen. Das Individuum sei durch eine ihm immanente Ambivalenz gekennzeichnet, die es durch die Identifikation mit dem Anderen konstitutiv in sich trage.16 Für den israelisch-palästinensischen Konflikt sind darüber hinaus die diskurskritischen Analysen des in Palästina geborenen Literaturwissenschaftlers Edward Said (1935-2003) belangreich. Sein 1978 veröffentlichtes Werk „Orientalism“ gilt als Gründungsdokument der postkolonialen Studien.17 „Orientalismus“ fungiert mittlerweile als ein generischer Begriff, der verdeutlicht, wie sogenannte dominante Kulturen andere Kulturen repräsentieren und diese damit erst kreieren bzw. ‚erfinden‘.18 „Orientalismus“ beschreibt die diskursive Produktion des Orients durch Europa bzw. ‚den Westen‘. Diese ist als eine doppelte Bewegung zu begreifen, denn durch die asymmetrische Abgrenzung ist auch der Westen, der Okzident, als Konstrukt zu verstehen. Im westlichen Orientalismusdiskurs dient der Orient als Imaginations- und Projektionsfläche, der willentlich den westlichen Vorstellungen unterworfen wird. Mittels der foucaultschen Diskursanalyse macht Said deutlich, wie der Orient dazu instrumentalisiert wurde, die koloniale Herrschaft auf- und auszubauen. Das vermeintlich akademisch fundierte Wissen sogenannter „Orientexperten“ habe nicht nur der direkten Machtausübung gedient, sondern gleichzeitig der Legitimierung kolonialer Gewalt.19 Said nennt als sein Hauptanliegen, die seit Jahrhunderten etablierten Hierarchien und Binaritäten aufzulösen und damit zu einer Entkolonialisierung des Geistes beizutragen sowie für das gemeinsame koloniale Erbe einzustehen.20 In diesem Kontext ist auch die von Said beschriebene gewaltvolle Macht der Re-

16 Siehe auch: Bonz, Jochen; Struve, Karen (2006), „Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: ‚in the middle of differences‘“, in: Moebius, Stephan; Quadflieg, Dirk [Hrsg.] (2006), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag, S. 140-157; Struve, Karen (2013), „Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk“, Wiesbaden: Springer VS. 17 Said, Edward (1979), „Orientalism“, New York: Vintage Books. Siehe auch: Ders. (1994), „Culture and Imperialism“, New York: Vintage Books; Ders. (1981), „Covering Islam. How the Media and Experts determine how we see the rest of the world“, New York: Vintage Books 1997. 18 Castro Varela; Dhawan (2005), S. 31 ff. 19 Ebd. 20 Said (1994).

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präsentation zu verstehen, die eine Definitionsmacht mit einschließt.21 Der Orient wird also nicht nur von Europa beherrscht, sondern er wird von der westlichen Welt politisch, ideologisch und imaginativ produziert. Der Orientalismus konstruiert die Menschen im Orient als Gegenbild zu den Europäern. Der Orient wird dabei als weiblich, irrational, primitiv und zeitlos repräsentiert, während der Okzident als männlich, rational, fortschrittlich und dynamisch begriffen wird. Meron Benvenisti, israelischer Wissenschaftler und ehemaliger stellvertretender Bürgermeister Jerusalems unter Teddy Kollek (1971-1978), äußert für den israelisch-palästinensischen Kontext: This progress is not a continuation of the past but is built on the ruins of another civilization, violently destroyed. Who has the right to pass judgement on its ,backwardness‘? It is an elementary ploy to freeze the past of others while claiming dynamic progress for oneself. The Palestinian landscape for all its ,lack of modernity‘, was a whole world for those who lived in it and were comfortable there […]. This ,primitive‘ landscape, too, gave rise to a profusion of achievements and had the potential for change and modernization in the image of its inhabitants. It deserves our respect and appreciation, not our derision. (Benvinisti 2000: 6)

Ferner wird für die Bedeutung von Erinnerung in postkolonialen Kontexten immer wieder auf das französische Konzept der „lieux de mémoire“ von Pierre Nora verwiesen, welches nach den nationalen Selbstbildern, wie sie sich beispielsweise in Denkmälern und Ritualen manifestieren, fragt. Pierre Nora geht (für den französischen Kontext) davon aus, dass Erinnerungsorte die Kritstallationspunkte der lebendigen Erinnerung der Gesellschaft seien, diese Erinnerung aber durch die Schriftlichkeit und Archivierung der Historiker erkalte.22 Eine These, die durchaus auch hinterfragt werden kann. Christoph Auffarth (2015) verweist darauf, dass Erinnerungen an konkreten Orten durch gelenkte Erinnerung und geführte Reisen aktiv erzeugt werden, sodass völlig verschiedene Erinnerungen an

21 Siehe hierzu beispielsweise in Kapitel 2 die (Um-)Benennung von Ortschaften. Ausführlich hat sich Meron Benvenisti mit dieser Thematik auseinandergesetzt: Benvinisti, Meron (2000), „Sacred Landscape. The buried history of the Holy Land since 1948“, Berkeley, Los Angeles, London: California University Press. 22 Nora, Pierre (2005), „Erinnerungsorte Frankreichs“, München: C.H. Beck; Ders. (1998), „Zwischen Geschichte und Gedächtnis“, Frankfurt: Fischer; Francois, Etienne (2002), „Deutsche Erinnerungsorte“, München: C.H. Beck.

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dem gleichen, konkreten Ort aufeinandertreffen.23 Während Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte nationalstaatlich eingebettet sind, hebt Auffarth im Verlauf seiner religionswissenschaftlichen Analyse zu Auschwitz als einen europäischen, transnationalen Erinnerungsort deutlich hervor, dass sich die Herausforderung für die Erinnerungsarbeit aber dort ganz anders stelle, wo wir es mit massiven Grenzverschiebungen zu tun haben. Für den israelisch-palästinensischen Kontext ist interessant, dass der palästinensischen Bevölkerung vielfach der Zugang zu konkreten (Erinnerungs-)Orten verweigert wird, was etwas überspitzt formuliert einer Verweigerung aktiver Erinnerungspraktiken gleichkommt.24 Ich verstehe vor diesem Hintergrund IsraelPalästina als künstlich konstruierten und umkämpften ‚Erinnerungsort‘, an dem sich divergierende israelische wie palästinensische Erinnerungen und Narrative diametral spiegeln, aber immer zugunsten der Deutungshoheit Israels, die sich, wie Nina Klein es formuliert, auch als „Sinnbesatzung“25, bezeichnen lässt. So gibt es in Israel zum Beispiel das kleine Dorf Iqrit in der Nähe von Akko, das von christlichen Palästinensern bewohnt wurde. Im Zuge der Staatsgründung Israels wurden diese vertrieben. Bereits 1951 haben die Bewohner jedoch ihr Recht auf Rückkehr erkämpft und vom israelischen Gericht zugesprochen bekommen. Bis heute aber wurde eine Rückkehr der Nachfahren der Geflüchteten aus Gründen der Sicherheit praktisch nie umgesetzt. Die Häuser des Dorfes sind komplett zerstört, nur die Marienkirche sowie der Friedhof sind erhalten und

23 Auffarth, Christoph (2015), „Auschwitz: Der Gott, der schwieg, und vorlaute Sinndeuter. Eine Europäische Religionsgeschichte fokussiert auf einen Erinnerungsort“, in: Hermann, Adrian; Mohn, Jürgen [Hrsg.] (2015), Orte der europäischen Religionsgeschichte, Würzburg: Ergon Verlag, S. 463-503. Hier beschäftigt er sich mit Konzeptionen nationaler Selbstbilder und europäischen Erinnerungsorten. Er zeigt, wie diese zu Orten werden, die man aus zwei (oder mehreren) nationalen Perspektiven sehen kann. Auffarth zeigt dies auf religionswissenschaftlicher Ebene für den pluralen sowie mit divergierenden Erinnerungen belegten „Erinnerungsort Auschwitz“. In dem Zusammenhang ist es sein Anliegen, die Rolle der Religion innerhalb der europäischen Geschichtsschreibung stärker zu betonen. 24 Siehe auch: Benvinisti, Meron (2000) und Bardenstein Carol B. (1999), „Trees, Forests and the Shaping of Palestinian and Israeli Collective Memory“, in: Bal, Mieke; Crewe, Jonathan; Spitzer, Leo [eds.] (1999), Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, Hanover; London: University Press of New England, S. 148-171. 25 Zitiert in Auffarth (2015). Klein, Nina (1999), „Die polnische Erinnerung an Auschwitz: am Beispiel des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau“, Konstanz: Hartung-Gorre Verlag.

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sind zu einem Ort des Widerstandes geworden, um die Erinnerung an Iqrit zu erhalten und das Recht auf Rückkehr einzufordern. Seit 2012 leben Nachfahren der ursprünglichen Dorfbewohner auf dem Gelände und bieten Führungen durch die Kirche an.26 2013 gab es in Iqrit einen mehrtägigen Playback-TheaterWorkshop mit Aufführungen (Kapitel 6)27 Hier wurde insbesondere den ehemaligen Bewohnern bzw. deren Nachfahren die Möglichkeit geboten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Iqrit kann als hervorragendes Beispiel dafür betrachten werden, wie eng Erinnerung, die Auslöschung von Erinnerung und der Widerstand dagegen zusammenhängen. Erinnern kann als Kommunikation, als Dialog, als Austausch begriffen werden, doch auch in Situationen des transnationalen Austausches bleibt vielfach eine Verschränkung auf das Eigene, auf das Nationale, als wesentlicher Identitätsmarker bestehen. Dies zieht folglich eine Begrenzung und Verkürzung von Perspektiven nach sich, die, vereinfacht gesagt, in einem Geschichtsverständnis als ‚Geschichte der Sieger‘ resultiert. Derartige Perspektivverkürzungen gilt es zu überwinden, um idealerweise neue methodische Konzeptionen von Pluralität und Vielfalt zu eröffnen. Grenzen und die (Zwischen-)Räume, die sie produzieren, sind Orte permanenter transkultureller Interaktionen28, an denen binäre Weltsichten und nationale Stereotype aufeinandertreffen sowie unterschiedliche Sprachen kollabieren.

26 Siehe hierzu auch: http://wagingnonviolence.org/feature/demolished-palestinian-vill age-comes-back-life/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 27 Playback-Theater ist eine Form des improvisierten, interaktiven Theaters, das in den 1970er-Jahren von Jonathan Fox und seiner Lebensgefährtin Jo Salas entwickelt wurde. Siehe beispielsweise: Rowe, Nick (2007), „Playing the Other. Dramatizing Personal Narratives in Playback Theatre“, London; Philadelphia: Jessica Kingsley Publishers; http://www.playbacktheatre.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 28 Das Konzept der Transkulturalität vertritt in Abgrenzung zu Multi- und Interkulturalität die Annahme, dass sich durch verstärkte Wechselwirkungen nicht (mehr) von einzelnen Kulturen, sondern vielmehr von kultureller Vermischung sprechen lässt. Kulturen haben demnach keine homogene, in sich geschlossene Gestalt, sondern sind gekennzeichnet durch vielfältige Verflechtungen, innere Differenziertheit, einer Vielfalt von Lebensformen und Lebensstilen, Durchmischungen und Fusionen auch über nationale Grenzen hinweg. Statische Identitätskonzeptionen können abgelöst werden durch Konzepte der Identifikation und der Subjektpositionierungen. Siehe Wolfang Welsch, http://via-regia-kulturstrasse.org/bibliothek/pdf/heft20/welsch_transkulti.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Im Folgenden verwende ich eher den Begriff der Translokalität. Siehe auch Fußnote 7.

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Im israelisch-palästinensischen Konflikt können Grenzen als hochdynamische, flexible Entitäten begriffen werden, die wechselseitig ein- und ausschließen, jedoch auch höchst asymmetrisch sind: Es ist die israelische Seite, die zu ihrem Vorteil entscheidet, wo welche Grenzen liegen und wer sie wo, wie und wann überschreiten darf. Wir haben es so gesehen nicht allein mit festen territorialen Grenzen zu tun, sondern mit umstrittenen Grenzregionen, sodass Grenzen, wie bereits angedeutet, vielmehr als komplexes Diskursfeld begriffen werden müssen. Der israelische Architekt Eyal Weizman geht davon aus, dass eine ‚normale‘, zweidimensionale Kartografie nicht ausreiche, um den israelisch-palästinensischen Raum angemessen darzustellen und erweitert diese um eine dritte, vertikale Kategorie.29 Sabine Damir-Geilsdorf (2005: 159) fügt dem noch eine vierte, temporale Dimension hinzu, nämlich die Kategorie der Erinnerung, die sich in der Kartografie durch die Benennung und Markierung von Gebieten und Orten manifestiere, sich aber gleichzeitig im Raum durch den Kampf um sichtbare Spuren des eigenen Kollektivs zeige.30 Weizman spricht in seinem Werk zur Architektur der israelischen Besatzung31 in diesem Kontext von der „elastischen Geografie“ einer „unberechenbaren Besatzung“: Die Grenzziehungen zwischen Israel sowie innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete seien keineswegs starr, sie seien im Gegenteil äußerst dynamisch und in ständiger Transformation begriffen: Im Gegensatz zur Geografie stabiler, statischer Orte und der Balance, die durch lineare und feststehende Grenzen der Souveränität zwischen den Gebieten auf ihren beiden Seiten herrscht, zeichnen sich Grenzregionen durch räumliche Tiefe aus. Sie sind fragmentierte und elastische Gebiete, die sich verschieben können. (Weizman 2008: 10)

29 Weizman, Eyal (2003), „The Politics of Verticality: The West Bank as an Architectural Construction“, in: Franke, Anselm [Hrsg.] (2003), Territories, Islands, Camps and other States of Utopia, to Accompany the Exhibition Territories KW – Institute for Contemporary Art, Berlin, June 1 - August 25, Köln 2003, S. 65-118. 30 Damir-Geilsdorf, Sabine (2005), „Palästinensische Repräsentationen des Raums: Über die Produktion von Bild-Räumen, Macht-Räumen und erinnerten Räumen“, in: Dies.; Hartmann, Angelika; Hendrich, Béatrice [Hrsg.] (2005), Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster: Lit Verlag 31 Weizman, Eyal (2008), „Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung“, Hamburg: Nautilus.

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Weizman führt weiter aus, dass jede geografische Veränderung durch Techniken und Technologien der jeweiligen Zeit und im Austausch mit globalen Entwicklungen bewerkstelligt werde. Die Rechte der Palästinenser würden nicht nur regelmäßig durch Übergriffe seitens der israelischen Armee und der nationalreligiösen Siedlerbewegung verletzt werden, sondern gleichermaßen durch einen kontinuierlichen Prozess, der ihren Lebensraum in unvorhersehbare Weise umgestalte und sie dabei immer mehr einenge. Die Architektur elastischer Geografie sei nicht als materielle Verkörperung eines einzigen politischen Willens oder als Produkt einer einzigen Ideologie zu verstehen, sondern unterschiedliche staatliche Akteure mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Zielsetzungen seien an der Ausrichtung des geografischen Raumes, der eben gerade nicht losgelöst von psychischen, soziokulturellen, religiösen, politischen und symbolischen Facetten sei, beteiligt. Nämlich durch Siedler, das israelische Militär, kapitalistische Firmen, Menschenrechtsorganisationen, politische Aktivisten, bewaffnete und unbewaffnete Widerstandskämpfer, juristische und humanitäre Fachkräfte, Ministerien, internationale Unterstützergemeinden, Medienkonzerne – um nur einige zu nennen. Laut Weizman (2008: 13) lässt sich die Geografie der besetzten Gebiete als dreidimensionale Karte der Beziehungen zwischen allen Kräften, die auf sie einwirken, vorstellen, was er als „strukturiertes Chaos“ beschreibt: Die dynamische Morphologie der Grenzregion ähnelt einem unendlichen Meer, durchsetzt von Archipelen, die sich vermehren und aus ethno-nationalen Enklaven bestehen. Diese sind nach außen hin abgeschottet, nach innen homogen […].

Hier lässt sich eine Verbindung zu dem auf Martinique geborenen postkolonialen Literaturwissenschaftler Edouard Glissant32 (1928-2011) herstellen, der davon spricht, alles in einem (nicht hierarchisierten) Plural zu denken. Glissant macht sich stark für ein „zersplittertes Denken“, das er auch als „archipelisches Denken“ oder in Anlehnung an die Poststrukturalisten Gilles Deleuze und Félix Guattari als „rhizomatisches Denken“ bezeichnet. Dieses ist vielfältigen Ursprungs und vernetzt sich in der Begegnung mit anderen.33 Entsprechend bezieht es eine Pluralität von Erinnerungen mit ein. Während Weizman, der durch den konkreten Raumbezug eher das Trennende und Ausgrenzende hervorhebt, betont

32 Glissant, Edouard (1986), „Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen“, Heidelberg: Wunderhorn; Ders. (2005), „Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit“, Heidelberg: Wunderhorn. 33 Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1977), „Rhizom“, Berlin: Merve Verlag.

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Glissant in seinen Studien eher das positive Potenzial ‚zersplitterter Welten‘. Im israelisch-palästinensischen Kontext lassen sich kulturelle Widerstandsformen wie Playback-Theater beispielsweise mit diesem positiven Potenzial bezeichnen, da diese die Notwendigkeit eines ‚zersplitterten‘ bzw. multiperspektivischen Denkens betonen. Darüber hinaus spiegelt sich in den Begriffen auch der geografische Raum wieder: Israelische Grenzmarkierungen legen nicht nur den verfügbaren geografischen Raum einseitig und arbiträr fest, sondern begrenzen und entgrenzen gleichzeitig auch individuelle wie kollektive Identitäten. Mit anderen Worten findet sich eine doppelte Bewegung von Begrenzung und Entgrenzung. Eine Begrenzung findet vor allem auf der palästinensischen Seite statt. Hier wird der traditionelle Lebensraum der Palästinenser seit dem Krieg von 1967 kontinuierlich eingeschränkt: durch die Mauer und die Sperranalage, militärische Sperrgebiete und Checkpoints, durch den zunehmenden Siedlungsbau, durch die sogenannten „settler only roads“ und Sicherheitszonen, durch die als Naturreservate deklarierten „green zones“ und andere Gebiete, die nur für Israelis zugänglich sind.34 Die Fragmentierung der palästinensischen Landschaft und damit verbunden, der palästinensischen Gesellschaft, begünstigt einerseits die Entwicklung einer kollektiven palästinensischen Identität über die transgenerationale Weitergabe der Erfahrung der nakba35 und naksa36, zugleich wird die Entwicklung einer gemeinsamen Identität durch die Fragmentierung erschwert, weil nur wenig Austausch zwischen den einzelnen Gemeinschaften besteht. Diese räumliche Trennung versucht beispielsweise der „Freedom Bus“ mit seinen kulturellen Aktivitäten, insbesondere mit Playback-Theater, zu überwinden und Einigkeit im Kampf und die Selbstbestimmung zu erzielen (Kapitel 6). Auf israelisch-jüdischer Seite lässt sich von einer territorialen Entgrenzung sprechen, in dem sie allen Juden weltweit eine Niederlassung in Israel – als einzig jüdische Nation und Zufluchtsort – bedingungslos zusagt und jüdische Israelis (von der israelischen Regierung) gesetzte Grenzen in der Regel problemlos überschreiten können. Auf territorialer Ebene gibt es beispielsweise seit den Vereinbarungen von Oslo lediglich den dringenden Hinweis, die von der Palästi-

34 Siehe auch: Khalidi, Rashid (1997), Palestinian Identity. The Construction of Modern Consciousness“, New York: Columbia University Press. 35 Nakba (Katastrophe) bezeichnet die Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948. 36 Die Palästinenser bezeichnen die erneute Flucht und Vertreibung der Palästinenser im Zuge des Krieges von 1967 als naksa (Rückschlag).

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nensischen Autonomiebehörde (PA) kontrollierten Gebiete der „Area A“37 aus Sicherheitsgründen nicht zu betreten. Diese Empfehlung kann jedoch bei Bedarf flexibel ausgelegt werden, sodass derjenige Israeli, der sich in „Area A“ aufhält, keine ernsthaften Konsequenzen fürchten muss, ganz im Gegensatz zu Palästinensern, die sich beispielsweise unerlaubterweise in „Area C“ der besetzten palästinensischen Gebiete aufhalten. Helga Tawil-Souri (2012: 12) hält in diesem Sinne fest: In general […] Jewish-Israeli mobility is largely un-bounded either in Israeli or Palestinian spaces, whereas Palestinians are often forbidden from moving within their own spaces, let alone in/out of Israel. This policy should be understood as a means of fragmenting, separating and segregating Palestinians inside Israel and East Jerusalem from Palestinians in the West Bank and Gaza Strip, and between and within the latter two.38

In den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass die diversen Grenzziehungen nicht nur das Potenzial haben zu trennen, sondern auch Verbindungen herzustellen, die nicht immer bzw. nur bedingt von den jeweiligen Machtinstanzen kontrollierbar sind.39 Diese Verbindungen wiederum tragen auch ein enormes Konfliktpotenzial in sich. Grenzziehungen jedweder Art funktionieren immer wechselseitig. Insbesondere das hieraus resultierende hegemoniale Machtgefälle wird im Israel-Palästina Konflikt vor allem durch die Mauer symbolisiert. Wie Eyal Weizman spricht der deutsche Philosoph Bernard Waldenfels davon, dass Architektur eine bestimmte Form des Denkens sei40, sodass man

37 Als Ergebnis des Interimsabkommens (Osloer Verträge) 1995, wurde die Westbank in drei Zonen aufgeteilt, in denen die PA und das israelische Militär jeweils andere Befugnisse haben. Gebiete der „Area A“ stehen unter palästinensischer Verwaltung, diejenigen der „Area B“ sowohl unter palästinensischer als auch unter israelischer Verwaltung. Gebiete der „Area C“ unterstehen ausschließlich der israelischen Verwaltung. 38 Tawil-Souri, Helga (2012), „Uneven Borders. Coloured (Im)Mobilities: ID-Cards in Palestine/Israel, in: Geopolitics, online abrufbar: http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/14650045.2011.562944 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 39 Befreundete Palästinenser erzählten mir, dass es des Öfteren vorkomme, dass Israelis ihre Fahrzeuge aufgrund der niedrigeren Kosten in palästinensischen Werkstätten der „Area A“ reparieren lassen. 40 Gispert, Jürgen (2007), „Mauern als Denkform“, in: Meggle, Georg [Hrsg.] (2007), Deutschland. Israel. Palästina. Streitschriften, Hamburg: EVA, S.251-267.

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durchaus von der Mauer bzw. der gesamten Sperranlage als aktuelle Vergegenständlichung einer Denkform sprechen kann. Die implizierte, wechselseitige Fremdausschließung bedeutet konsequenterweise immer auch eine Art der Selbstausschließung: das Eigene ist letztendlich nicht nur dem Fremden, sondern auch sich selbst ausgeliefert. In Anlehnung daran spricht auch Benvinisti (2000: 8)41 von Landschaft als einer gedanklichen Leistung: The insight that ‚landscape is the work of the mind‘ prompted me to explore Israeli and Palestinian literary expressions concerning the dramatic changes that took place during and in the aftermath of the 1948 War and the transformation of their perceptions in the last fifty years. […] I read enough to follow Israelis and Palestinians in their long march toward a blank wall. The Israelis travelled from the quest to impose on the landscape their Zionist identity to its converse – its privatization, at the price turning the landscape into a desert of concrete and asphalt. The Palestinians came from the opposite direction, from the intimate communion with the land to perceptions of the homeland in abstract, ,nationbuilding‘ terms. This journey brought them to the blank wall of Oslo, which confronted them with the need to adjust their collective longings to political realities.

Auf meinen Reisen wird mir dieses wechselseitige Funktionieren der Fremdausschließung besonders immer dann ins Bewusstsein gerufen, wenn ich den „Qalandia Checkpoint“ zwischen Jerusalem und Ramallah passiere: Der überfüllte Bus fährt lärmend und eng an der Mauer entlang, auf der in großen, schwarzen Lettern ONE WALL – TWO PRISONS geschrieben steht. Ich denke daran, wie beunruhigend es für mich ist, dass viele meiner palästinensischen Bekannten von Israelis nur als Soldaten sprechen, ganz so als hätten sie ihr menschliches Antlitz verloren. Seit der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete, besonders seit den Osloer Abkommen in den frühen 1990er-Jahren, gibt es abgesehen von den meist gewaltvollen Begegnungen mit den Siedlern, kaum mehr Begegnungen in „zivil“. Ich denke an einen jungen Palästinenser aus Jenin, der mich fragte, ob es stimme, dass die Straßen in Tel Aviv von Hochhäusern und Palmen gesäumt seien, wie das Meer rieche und wie es klänge, wenn das Mittelmeer die Hafenmauer in Jaffa, die palästinensische Braut42, umarmt.

41 Benvinisti bezieht sich hier auf ein Zitat von Simon Schama: „Landscape ist he work of the mind. Its scenery is built up as much from strata of memory as from layers of rocks.“ Vgl. Schama, Simon (1995), „Landscape and Memory“, New York: Knopf, S. 7. 42 Jaffa wird von Palästinensern häufig als palästinensische Braut bezeichnet.

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„Qalandia“ ist nicht nur die Bezeichnung für eben diesen Checkpoint, sondern „Qalandia“ war vor 1948 ein kleines Dorf zwischen Ramallah und Jerusalem, seit 1949 ist es die Bezeichnung für ein von der UNRWA errichtetes Flüchtlingslager. „Qalandia“ war aber auch ein Flughafen, mit unterschiedlichen Namen unter jordanischer wie israelischer Kontrolle, bis er 2000 geschlossen und zu einer IDF43 Basis umfunktioniert wurde. Helga Tawil-Souri hat sich intensiv mit dem „Qalandia Checkpoint“ auseinandergesetzt und schreibt: In the old days, Qalandia was a small village off the main Ramallah-Jerusalem road, today home to about a thousand people. In 1949, Qalandia became synonymous with the UNRWA refugee camp, whose population today is over eleventhousand people, and within which is the first refugee women’s society. But Qalandia also used to be an airport. For a few short years in the 1930s this was the only airport in British Mandate Palestine used by the British military […]; it was also the only airport in Jordanian controlled territories (i.e. the Westbank and Jordan) post-1948 until Amman boasted its own. After the Jordanians took it over, they turned it into a civil airport and renamed it Jerusalem Airport in the 1950s. […] Israel re-opened it in 1969 and renamed it Atarot – after the nearby Atarot moshav [Hervorhebung im Orignial, A.R.] that had been evacuated in 1948. […] With the onset of the Second Intifada, the airport was shut down in October 2000 and turned into an IDF base.44

Interessanterweise höre ich auf beiden Seiten der Grenze immer wieder, dass das Leben wie im Gefängnis sei. Bei meinen Gesprächen mit Palästinensern in der Westbank wird Gefängnis beinahe synonym mit Besatzung verwendet. In Israel hingegen ist vom ‚gefangen sein in den eigenen Strukturen‘ die Rede. Hier findet sich vor allem immer wieder der Verweis auf die israelische Militärhörigkeit, die gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich postkoloniale Studien mit geteilten, verschränkten und umkämpften Vergangenheiten sowie mit komplexen, hybriden und widerständigen Erinnerungskonstruktionen in (post-) kolonialen Kontexten beschäftigen. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag im Bereich der transkulturellen und transnationalen Gedächtnisforschung, beispielsweise durch die Betrachtung sogenannter „lieux de mémoire“ (Pierre Nora) und Nicht-Orte (Marc Augé). Transkulturelle Erinnerungsräume können mit

43 IDF ist die Abkürzung für „Israeli Defensive Force“. In den besetzten palästinensischen Gebieten und von pro-palästinensischen Aktivisten wird auch die Bezeichnung IOF für „Israeli Occupation Force“ verwendet. 44 Tawil-Souri (2010), S. 26.

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Blick auf die unterschiedlichen dargestellten Grenzphänomene auch als Kontaktzonen der Erinnerung; als Erinnerung diesseits, jenseits und innerhalb von Grenzen verstanden werden, die (neue, dynamische und aushandelbare) Kommunikations- und Widerstandsräume eröffnen können. Aus der Perspektive einer transkulturellen Erinnerung heraus geraten dann nicht so sehr die statischen Erinnerungsorte in den Blick, sondern vielmehr ihre Mobilität, sprich die dynamischen Erinnerungsbewegungen innerhalb und außerhalb diverser Grenzräume: Erinnerung und Widerstand sind im israelisch-palästinensischen Kontext nur schwer voneinander zu lösen und beeinflussen sich wechselseitig.

1.3 J ENIN , „C INEMA J ENIN “ UND DAS „F REEDOM T HEATRE “ Das 1949 gegründete UNO-Flüchtlingshilfswerk UNRWA („United Nations Relief and Work Agency for Palestinian Refugees in the Near East“) unterstützt etwa 4,6 Millionen geflüchtete Palästinenser und deren Nachfahren in Jordanien, Syrien, Libanon, Gazastreifen und der West Bank.45 Die Palästinenser bilden in den einzelnen Ländern eine Minderheit und besitzen außer in Jordanien keine staatsbürgerlichen Rechte und werden vielerorts systematisch diskriminiert. Die Integration in die Bevölkerung wird in einigen arabischen Ländern, wie beispielsweise dem Libanon, politisch unterbunden, nicht zuletzt um ein Druckmittel, nämlich den ungeklärten Status der Flüchtlinge, gegenüber Israel aufrechterhalten zu können. Die Palästinenser werden so zu einem Spielball diverser machtpolitischer Interessen. Peteet (2005: 224 ff.) hält hier für die Palästinenser in libanesischen Flüchtlingslagern fest: Containment of and control over the Palestinian community in Lebanon, and the adamant refusal of their permanent settlement in Lebanon, are agreed upon by all sects and political factions. Harsh measures that deny the refugees basic rights to health, education, civil

45 Webseite der UNRWA, http://www.unrwa.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Die UNRWA wurde als temporäres Hilfswerk für die geflüchteten Palästinenser gegründet, um ihre Grundversorgung zu gewährleisten. Die Nothilfe belief sich auf die Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung, auf die Bereitstellung von Unterkünften sowie der Gewährleistung einer medizinischen Grundversorgung. Aufgrund der Langlebigkeit des Konflikts wurde es seit seiner Gründung regelmäßig um drei Jahre verlängert, sodass heute mehr als die Hälfte der Ausgaben in den Bildungs- und Gesundheitssektor fließen.

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rights, and security are designed to remind the international community of their responsibility for the Palestinians and keep them in a permanent state of crisis. Keeping alive the image of the camps as armed and dangerous – ticking time bombs, as they are called – serves the same purpose. […] In postwar Lebanon, the refugees have been spatially confined, legally marginalized, and socially outcast. One could characterize the fifty-year Palestinian refugee experience in Lebanon as a perpetual state of emergency. The initial trauma of dispossession, statelessness and exile was followed by war, sieges, and massacres. […] Spatial and legal marginalization ensures that the refugees remain isolated from the Lebanese population and signals an anticipation of emigration from Lebanon because of acute and prolonged misery.

Die Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen werden trotz ihrer Zugehörigkeit zur PA bis heute vom UNRWA mehrheitlich als Flüchtlinge geführt und sind damit faktisch staatenlos. In der Westbank leben rund 750.000 von der UNRWA registrierte Flüchtlinge und deren Nachfahren. Etwa ein Viertel von ihnen lebt in den 19 Flüchtlingslagern, die wie Jenin entweder direkt an größere Städte angeschlossen sind oder sich in ländlichen Gebieten befinden.46 Die UN hat das Land, auf dem die Flüchtlingslager errichtet wurden, für 100 Jahre gepachtet, was für die Bewohner schwierig ist, weil ihnen die Häuser, die sie dort bauen, eigentlich nicht gehören. Aus provisorischen Unterkünften sind im Laufe der Jahre fest Behausungen geworden, von einem ‚kurzfristigen Provisorium‘ ist nichts zu spüren. Daher dürfte der Begriff des Flüchtlingslagers eher von politischer Natur sein, um auf den ungeklärten Status der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Der Flüchtling, dessen Kennzeichen ein ‚vorübergehender Zustand‘ ist, ist in einem nicht freiwillig gewählten Raum sesshaft geworden. Eine deutlichere Symbolik für die Langlebigkeit des Konfliktes dürfte es kaum geben. Jenin liegt im Norden der Westbank und zählt 2014 offiziell etwa 44.000 Einwohner. Von ihnen leben etwa 16.000 im Flüchtlingslager, das sich an die Stadt angrenzend auf nur einem Quadratkilometer erstreckt.47 Von den Bewohnern wird es in der Regel nur als „Camp“ bezeichnet und ist eines der größten Flüchtlingslager innerhalb der Westbank. Das Flüchtlingslager Jenin wurde 1953 für die im Zuge des Krieges von 1948 geflohenen und vertriebenen Palästinenser

46 http://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 47 Webseite UNRWA, http://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/camp-profiles? field=12 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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gegründet.48 Die meisten von ihnen kamen aus der Region um Haifa und dem Carmelgebirge. Haifa ist nur knapp eine Stunde Autofahrt von Jenin entfernt. Fährt oder wandert man durch die umgebene hügelige Landschaft Jenins, kann man von manchen Punkten aus in der Ferne sogar das Mittelmeer bei Haifa schimmern sehen. Diese Nähe zu den Ursprungsorten erklärt auch den engen Bezug zwischen Raum und Erinnerung (Kapitel 2). Im Gespräch mit Bewohnern des Flüchtlingslagers erfahre ich das, dass einige von ihnen ursprünglich aus Tulkarm sowie aus Gaza kommen und seit Ende der 1970er-Jahre in Jenin sind. Mit der Etablierung der PA in den besetzten palästinensischen Gebieten in den 1990er-Jahren kamen auch einige Palästinenser aus Jordanien (zurück) nach Jenin. Einer der Bewohner erklärt, dass mehr als die Hälfte der Menschen im Flüchtlingslager zwischen 18 und 35 Jahren seien und darüber hinaus knapp 50 % der Bewohner von Jenin Stadt ebenfalls Flüchtlinge bzw. deren Nachfahren seien.49 Abbildung 1: Jenin, Blick vom Gästehaus „Cinema Jenin“

Foto: Anne Rohrbach

48 Webseite UNRWA, http://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/camp-profiles? field=12 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 49 Webseite UNRWA, http://www.unrwa.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Nach dem Krieg 1948 gehörte Jenin zu Jordanien, nach dem Krieg 1967 fiel es unter israelische Besatzung. Im Zuge der Oslo-Abkommen in den 1990er-Jahren fiel die Zuständigkeit Jenins an die PA. Seitdem zählt es zu „Area A“ der besetzten Gebiete. Ein Bewohner des Flüchtlingslagers erzählt mir, dass die Hauptstraße des Camps zu „Area C“ der besetzten Gebiete gehöre, sodass die israelische Armee offiziell mit ihren Militärfahrzeugen in das Camp kommen und Razzien – nicht selten in Zusammenarbeit mit der PA – durchführen können. Er erzählt ferner, dass es fast jede Nacht Angriffe auf das Flüchtlingslager gebe. Würde man vor 12 Uhr nachts Schüsse hören, sei das in der Regel die PA, nach 12 Uhr nachts seien es meist die Israelis. Fast jeder Bewohner habe Erfahrungen mit Verhaftungen und Gefängnis gemacht. Bei einem Forschungsaufenthalt 2012 werden im Camp 50 junge Männer verhaftet und es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am Morgen unterhielt ich mich mit einem der Mitarbeiter von „Cinema Jenin“ darüber: Weißt du Anne, das ist so schwierig hier. Wir haben es hier nicht allein mit einer Besatzung zu tun, sondern mit zweien. Die Verhaftungen haben in Absprache mit der PA stattgefunden. Wir können nicht einmal unseren eigenen Leuten trauen. Wie kann sich so überhaupt grundlegend etwas ändern?50

Während eines anderen Forschungsaufenthaltes im Frühjahr 2014 wird ein Freund des „Freedom Theatre’s“ bei einer nächtlichen Razzia erschossen. Gegen ihn lag der Verdacht vor, aktives Mitglied bei der Hamas zu sein und Verbindungen zum Gazastreifen zu unterhalten. Die israelische Regierung rechtfertigt die Razzien damit, dass sie terroristische Strukturen zerstören wollen. Des Öfteren sieht man israelische Militärfahrzeuge jedoch auch im Zentrum Jenins Patrouille fahren. Diese als Provokation empfundenen Vorfälle lösen unter den Bewohnern zusätzliche Wut und Verunsicherung aus. Insbesondere die jungen Männer bewerfen als Reaktion darauf die israelischen Fahrzeuge mit Steinen. Dies führt häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, Festnahmen, Verletzten oder gelegentlich sogar zu Toten. Jenin gilt inner- und außerhalb der Westbank als sehr konservativ und religiös. Aufgrund der noch genauer darzustellenden Rolle während der zweiten Intifada (Kapitel 5) erfährt Jenin eine ambivalente Reputation in den besetzten Gebieten, in Israel und international. Für den Besucher sind Jenin Stadt und Jenin

50 Aus einem persönlichen Gespräch mit einem jungen palästinensischen Mitarbeiter von „Cinema Jenin“. Übersetzung der Verfasserin.

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Camp augenscheinlich nicht voneinander zu trennen, denn die Übergänge zwischen Stadt und Flüchtlingslager sind fließend. Den Haupteingang51 in das Camp markiert seit 2003 ein großes Pferd aus buntem Metall. Es wurde auf Initiative des deutschen Künstlers Thomas Kilpper aus Autowracks und aus Teilen von Häusern gebaut, die während der israelischen Militärinvasion 2002 zerstört wurden.52 Faisal, einer der Schauspieler des „Freedom Theatre’s“ erklärt auf Nachfragen, dass das Pferd Kraft und Widerstand symbolisiere. Der Schlüssel im Maul des Pferdes wiederum sei Symbol für die Hoffnung auf eine Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimat. Er führt weiter aus, dass während der israelischen Militärinvasion 2002, in der Jenin über mehrere Tage belagert und das Zentrum des Camps vollständig zerstört wurde, einige Toten an der Stelle, wo jetzt das Pferd steht, provisorisch begraben wurden, weil die Menschen im Camp keinen Zugang zum Friedhof mehr hatten. Erst nach dem Ende der Belagerung konnten sie auf dem Friedhof beigesetzt werden. Befindet man sich im Camp, ist sofort die Enge spürbar. Dicht neben und übereinander drängen sich die Häuserfronten, die Gassen zwischen den Häusern sind teilweise so schmal und verschachtelt, dass man gerade eben so hindurchlaufen kann. Die Grenzen des Camps wurden zwar nach der Zerstörung 2002 etwas erweitert, dennoch herrscht enormer Platzmangel.53 Aus diesem Grund werden die Häuser nach oben hin aufgestockt und ausgebaut. Kleinere Geschäfte und Läden sind an vielen der Straßenzeilen zu finden, in vielen werden Gebrauchtwaren verkauft. Viele der gelben oder grauen Häuserfassaden sind mit arabischsprachigen Graffiti und mit langsam verbleichenden Märtyrerbildern überzogen: Männer, die in gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der israelischen Armee ums Leben kamen und als Märtyrer verehrt werden. Auf einigen Bildern sind Männer zu sehen, die sich in Gefangenschaft befinden und ebenso

51 Mit Haupteingang ist kein Tor oder ähnliches gemeint, sondern der Punkt, wo das Flüchtlingslager beginnt und der am häufigsten als Hauptweg in das Camp genutzt wird. 52 Webseite des Künstlers zu diesem Projekt: http://www.kilpper-projects.de/the-jeninhorse/gb/description.htm (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 53 Siehe auch: Tabar, Linda (2012), „The ‚Urban Redesign‘ of Jenin Refugee Camp: Humanitarian Intervention and Rational Violence“, in: Journal of Palestine Studies, Vol. 41, No.2 (Winter 2012), S. 44-61. Vor diesem Hintergrund erklärt auch ein weiterer Bewohner des Camps, dass die Israelis den Ausbau der Straßen des Flüchtlingslagers veranlasst hätten, damit sie für ihre großen Militärfahrzeuge besser passierbar seien.

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als Helden des Widerstands verehrt werden. Auf den meisten Bildern ist symbolisch der Felsendom in Jerusalem abgebildet, sodass sich hier eine enge Verbindung von religiösen und politisch-militärischen Motiven beobachten lässt (Kapitel 4). Seit 2006 befindet sich das „Freedom Theatre“ mitten im Flüchtlingslager.

Abbildung 2: Häuserzeile im Flüchtlingslager Jenin

Foto: Anne Rohrbach

Im Gegensatz zum Flüchtlingslager, wirkt Jenin Stadt etwas offener und großzügiger in seiner Bauweise. Einen zentralen Ort und Verkehrsknotenpunkt bildet die Bushaltestelle für die zahlreichen gelben Minibusse und deren Fahrer, die auf Fahrgäste in die umliegenden Dörfer oder nach Nablus, Ramallah oder Bethlehem warten. Ein dichtes, buntes, lebendiges, geschäftiges Treiben. Der Platz ist umgeben von diversen Geschäften und direkt angrenzend findet sich der große Jeniner Markt, auf dem außer am Wochenende oder an Feiertagen frisches Obst und Gemüse verkauft werden. Einer der Gemüsehändler erzählt, dass Jenin einst für den Anbau seiner Wassermelonen berühmt gewesen sei. Aufgrund der eingeschränkten Mobilität und der streng reglementierten Wasserpolitik Israels, sowie des daraus resultierenden günstigeren Anbaus innerhalb der israelischen Siedlungen, sei dieser einst florierende Wirtschaftszweig im wahrsten Sinne des Wortes verdorrt. Gegenüber der Haltestelle befindet sich das „Cinema Jenin“, in einem großen Gebäude im Bauhausstil, und nur wenige Meter davon entfernt das „Cinema Je-

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nin Guesthouse“, das mittlerweile viele internationale Gäste begrüßt. In unmittelbarer Nähe zum Kino liegt das „Al-Atin Kloster“, das mit seiner Schule und seinem Kindergarten zum lateinischen Patriarchat in Jerusalem gehört. Unweit des Marktes befindet sich die Altstadt mit der bekannten, aus dem 16. Jahrhundert stammenden „Fatima Khatun Moschee“, die von den meisten „Große Moschee“ genannt wird. Jenin ist bunt und lebendig, die Straßen sind überfüllt mit Autos und Menschen. Viele Geschäfte säumen die Straßen und an freien Tagen kommen viele Menschen aus der Umgebung nach Jenin um dort einzukaufen. Ayman, der Manager des Gästehauses, erzählt bei einem arabischen Kaffee auf dem Balkon, dass früher sogar Israelis regelmäßig nach Jenin gekommen seien. Das sei aber lange vor der schwierigen Situation gewesen. Heute würden die meisten Kinder und Jugendlichen keine „normalen“ Israelis mehr kennen, sondern nur noch Soldaten in Uniformen und Siedler. Auch wenn das Flüchtlingslager und die Stadt räumlich miteinander zu verschmelzen scheinen und ein täglicher Austausch auf verschiedenen Ebenen stattfindet, ist eine Unterscheidung für die Bewohner alles andere als überflüssig. Denn das Camp ist strukturell wesentlich mehr von den Ausmaßen der Besatzung betroffen. Damit zusammenhängend sind Armut, Arbeitslosigkeit, Marginalisierung und Gewalt wesentlich höher als in der Stadt. Vor allem also die Berufung darauf, im Flüchtlingslager zu leben, scheint vor diesem Hintergrund enorm identitätsstiftend zu sein und findet entsprechend vielfach in Abgrenzung zur Stadt statt. Infolgedessen ist der aktive Widerstand innerhalb des Camps von zentraler Bedeutung (Kapitel 5). Interessant ist in diesem Kontext, dass Jenin schon vor der israelischen Staatsgründung ein wichtiges Zentrum für den palästinensischen Widerstand gegen die Briten war und eines der Widerstandszentren während der Arabischen Revolte 1936-1939. Adam Shatz schreibt zur Bedeutung des Widerstands in Jenin: Jenin has had a reputation for defiance since the Ottoman era, when residents refused to pay taxes to the sultan. Seized from Jordan on the first day of the 1967 war, it soon became a centre of resistance to the Israeli occupation: the camp, which was set up in the early 1950s as a temporary shelter for refugees from Haifa and the neighbouring villages, was known to be especially militant.54

54 Online-Artikel von Adam Shatz: http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-lifeand-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Jenins Bild vom Zentrum des bewaffneten Widerstands, vor allem während der zweiten Intifada, wandelt sich heute zu einem Zentrum des gewaltfreien, zivilen Widerstands, wie anhand von „Cinema Jenin“ und dem „Freedom Theatre“ im Verlauf der Arbeit detailliert erörtert wird. Beide Projekte zielen auf sowohl auf die Stärkung des Einzelnen als auch der palästinensischen Gesellschaft ab. Im Folgenden werden beiden Projekte einleitend kurz vorgestellt. 1.3.1 „Cinema Jenin“: „Ein Kino für den Frieden“ 55 Es sollte vor allem ein Filmtheater sein! (MARCUS VETTER 2012)56

Das „Cinema Jenin“ wurde in den frühen 1960er-Jahren eröffnet und war eines der größten Lichtspielhäuser in der Westbank. Neben Filmen aus der arabischen Welt wurden hier vor allem US-amerikanische (Action-)Filme gezeigt. Während der ersten Intifada 1987 wurde es, wie zahlreiche andere palästinensische kulturelle Einrichtungen, geschlossen und zerfiel zusehends. Seitdem gab es in Jenin keinen öffentlichen Raum mehr, in dem Kinofilme zusammen geschaut und miteinander geteilt werden konnten. And while the nearest cinema in Nablus city is only 40 kilometers away, movement restrictions due the occupation render it (Nablus, Anmerkung A.R.) a place practically out of reach for many of Jenin’s inhabitants, leading to a situation where most citizens under the age of 20 have never seen a movie on a cinema screen. […] In this environment the cinema reborn will serve as a beacon of hope fostering the social and cultural reintegration and economic rehabilitation of Jenin.57

Hintergrund der Wiedereröffnung des „Cinema Jenin“ ist der Tod des 11jährigen Ahmed Khatib, der 2005 von israelischen Soldaten im Flüchtlingslager auf offener Straße erschossen wurde, als er mit einem Spielzeuggewehr spielte. Sein Vater Ismael Khatib beschloss zusammen mit seiner Familie, die Organe

55 Zitat zu finden auf dem Werbeflyer, online abrufbar: http://www.cinemajenin.org/new/project/Downloads/Flyer_Cinema_Jenin_Deutsch.p df (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 56 Aus einem Interview mit Marcus Vetter von Ulrike Rechel: http://www.tipberlin.de/kino-und-film/regisseur-marcus-vetter-uber-cinema-jenin (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 57 www.cinemajenin.org (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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seines Sohnes zu spenden, die auch das Leben von in Israel lebenden Kindern retteten, darunter einem jüdisch-orthodoxen Mädchen, einem drusischen Mädchen und einem beduinischen Jungen. 2007 machte Ismael Khatib sich auf die Reise nach Israel, um diese Kinder und deren Familien kennenzulernen. Begleitet wird er von einem Filmteam rund um den deutschen Filmemacher Marcus Vetter aus Tübingen. Der Film „Das Herz von Jenin“ (2008) erhält zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den „Cinema for Peace Award“ als wertvollster Dokumentarfilm (2009) und Deutschen Filmpreis als bester Dokumentarfilm (2010). Ein Jahr nach dem Tod seines Sohnes eröffnete Ismael Khatib das „Cueno Center for Peace“58 für die Kinder im Flüchtlingslager, um ihnen einen geschützten Ort zum Spielen abseits der Straßen Jenins zu ermöglichen. Als die Kinder dabei sind, ihre ersten eigenen Kurzfilme zu drehen, merken sie schnell, dass es keinen Ort gibt, an dem sie diese vorführen können. So entsteht während der Dreharbeiten zu „Das Herz von Jenin“ die Idee, das verfallene Kino im Herzen Jenins zu restaurieren und wieder zu eröffnen. Aus ihm soll nicht nur ein Kino, sondern ein Ort der Begegnung entstehen; ein Ort, an dem die Bewohner Jenins ihre eigenen Geschichten erzählen können. Die Idee war das Kino als eine kulturelle Einrichtung im weitesten Sinne zu etablieren, als Zentrum einer lokalen Filmindustrie, als Wirtschaftsmotor und im Sinne von Ismael Khatibs Geschichte als ein friedensförderndes Projekt. Marcus Vetter, Ismael Khatib, Fakhri Hamad59 und viele lokale, wie internationale Freiwillige halfen ab März 2008 dabei, dass das einzige Kino der Stadt 2010 erstmals seit mehr als 20 Jahren wieder seine Türen öffnete. „Cinema Jenin“ erwies sich jedoch zunächst als schwieriges, beinahe nicht zu realisierendes Projekt. Unter anderem aufgrund der komplexen Besatzungsstrukturen waren einige Abläufe schwer zu planen: Wie lange würde es beispielsweise dauern, bis wichtige Materialien in Jenin ankommen? Werden diese überhaupt durch den Zoll gelassen? Dies waren relevante Überlegungen, denn ein Großteil der benötigten Materialien gab es nicht in Israel, geschweige denn in den palästinensischen Gebieten. Entsprechend mussten viele weite Wege und lange Wartezeiten in Kauf genommen werden.60

58 Benannt nach der italienischen Spenderstadt Cueno; auch „Ahmed Khatib Friedenscenter“ genannt. 59 Fakhri Hamad ist der Übersetzer von Ismael Khatib. Heute lebt er in Deutschland. Siehe auch Kapitel 6. 60 Siehe

auch:

http://www.swr.de/archiv/kultur/marcus-vetter-cinema-jenin/-/id=675

8676/did=6735392/nid=6758676/1t79j1v/index.html (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Aufgrund der internationalen Medienresonanz zu „Das Herz von Jenin“ fand das Kino zahlreiche öffentliche und private Unterstützer, wie beispielsweise den ehemaligen palästinensischen Ministerpräsidenten Salam Fayyad, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland sowie die Fluggesellschaft Air Berlin. 2009 geriet das Projekt trotzdem in eine große finanzielle Krise, die eine Fortführung ernsthaft gefährdete. Die Projektverantwortlichen konnten jedoch kurzfristig den Pink Floyd Sänger Roger Waters als Unterstützer gewinnen, sodass binnen kurzer Zeit 90.000 € in das Projekt flossen.61 Seit der Wiedereröffnung ein Jahr später nehmen allerdings die öffentlichen Spenden und Finanzierungszuschüsse ab, was einen normalen Kinoalltag erschwert. Beispielsweise ist der zumeist teure Einkauf internationaler Filme nur bedingt möglich, sodass monatlich nur etwa zwei unterschiedliche Filme ins Programm aufgenommen werden können. Der Eintritt für einen Kinofilm beträgt 5 NIS (1 €) bzw. im Außenbereich 10 NIS (2 €). Nicht nur Finanzierungsschwierigkeiten erschweren den Erhalt des Kinobetriebs, sondern auch seine dezidiert friedensorientierte Ausrichtung. Im Zentrum der Kritik steht die „Normalisierung“62 der israelischen Besatzung, die das Kino in den Augen der Kritiker begünstige. Trotz aller Bemühungen also, das Kino in der palästinensischen Gesellschaft zu etablieren und es zu einem von externen Geldern unabhängigen Projekt zu machen; trotz der vielen Projekte im Bereich Film, Musik und Theater, ist „Cinema Jenin“ bis heute wesentlich auf Spenden angewiesen. Im Oktober und November 2015 gab es in Deutschland eine „Cinema Jenin Benefiz Tour“, bei der in unterschiedlichen deutschen Städten Mar-

61 Siehe auch die Homepage von „Cinema Jenin“: http://cinemajenin.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 62 Ben Rivers, Mitinitiator des „Freedom Bus“, einem Projekt des „Freedom Theatre“ (Siehe auch Kapitel 6), erklärt „Normalisierung“ wie folgt: „The term ‚normalization‘ refers to the activity of making something ‚abnormal‘ appear ‚normal‘. In the case of Palestine and Israel, this refers to endeavors that project the notion that both sides are on equal footing. As Rahman (2012) states: ,Joint sports teams and theatre groups, hosting an Israeli orchestra in Ramallah or Nablus, all these things create a false sense of normality, like the issue is only a problem of recognizing each other as human beings. This, however, ignores the ongoing oppression, colonialization, and denial of rights, committed by one side against the other.‘“ (Zitiert aus einem unveröffentlichen Aufsatz von Ben Rivers (2013c) „Beyond Testimony“, S. 6) Siehe auch: Rivers, Ben (2015a), „Narrative power: Playback Theatre as cultural resistance in Occupied Palestine“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, 20:2, 2015, S. 155-172.

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cus Vetters „Jenin Trilogie“ gezeigt wurde. Die Erlöse kommen zu 100% dem Kino zugute. 1.3.2 Das „Freedom Theatre“: „Generating Cultural Resistance“ 63 One of the most important things the occupation has succeeded in doing is to kill hope, to shut down the mind, and to kill the imagination. You can’t dream. You have a limit. (NABIL AL-RAEE, KÜNSTLERISCHER LEITER DES „FREEDOM THEATRE“, 2014)64

Das „Freedom Theatre“ befindet sich im Zentrum des Flüchtlingslagers. Als Basisorganisation gründet es auf der Überzeugung, dass Kunst eine unverzichtbare Waffe im Kampf gegen die Besatzung(en) und für die Etablierung einer unabhängigen Gesellschaft ist. Initiiert wurde das Projekt vom 1958 in Nazareth geborenen Juliano Mer-Khamis, zusammen mit Zakaria Zbeidi65, dem ehemaligen Anführer der „Al-Aqsa Märtyrerbrigaden“, sowie von Jonatan Stanczak66, einem israelischen Juden schwedischer Abstammung. Die Idee eines Theaters für Kinder und Jugendliche in Jenin geht auf die Initiative von Juliano Mer-Khamis Mutter Arna, einer jüdischen Aktivistin, zurück, die während der ersten Intifada zwei Kinderhäuser im Flüchtlingslager gründete,

63 Aktueller Slogan des „Freedom Theatre’“. Zuvor: „Creation under Occupation“. 64 Vgl. http://howlround.com/death-and-art-in-palestine-nabil-al-ra-ee-and-the-freedomtheatre (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 65 Zakaria Zbeidi (1976) galt mehrere Jahre als einer der meist gesuchten „TopTerroristen“ in Israel, als Anführer der Al-Aqsa Märtyrerbrigaden in Jenin und als mutmaßlicher Stratege bei der Durchführung von Selbstmordattentaten. Seit 2007 hat er der Gewalt offiziell abgeschworen, seine Waffen der PA übergeben und wurde von der israelischen Regierung amnestiert. Die Amnestie wurde im Dezember 2011 jedoch ohne Angabe von weiteren Gründen wieder aufgehoben. Zakaria Zbeidi hat vier auf ihn geplante Attentate überlebt. Wie im weiteren Verlauf deutlich wird, gibt es eine Diskrepanz zwischen der offiziellen Niederlegung seiner Waffen und Zbeidis konkretem Auftreten in Jenin. So gibt Zbeidi beispielsweise bei der Eröffnungsfeier von „Cinema Jenin“ zu, immer noch eine Waffe zu tragen (siehe Kapitel 6). 66 Jonatan Stanczak ist der Sohn eines jüdischen Polen und einer jüdischen Israelin. Aufgewachsen ist er in Stockholm.

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um den Kindern Zugang zu elementarer Bildung zu ermöglichen. 1993 erhielt sie für ihre Arbeit den „Alternativen Nobelpreis“. Von dem Preisgeld eröffnete sie das sogenannte „Stone Theatre“, das während der israelischen Militärinvasion 2002 vollständig zerstört wurde. Mer Khamis, Sohn einer jüdisch-israelischen Mutter und eines christlichpalästinensischen Vaters, kam während der zweiten Intifada zurück nach Jenin, um zu sehen, was aus den Kindern geworden ist, die die von seiner Mutter gegründeten Theaterschule besuchten. Das „Stone Theatre“ befand sich im Haus eines ihrer Schüler, Zakaria Zbeidi. Wie die meisten Häuser im Zentrum des Camps wurde es während der israelischen Militärinvasion 2002 zerstört. Bei seinen Recherchen in Jenin begegnete Mer-Khamis Zakaria Zbeidi und erfuhr, dass sich die meisten der Kinder dem bewaffneten Widerstand angeschlossen haben und im Kampf gegen die Israelis ums Leben gekommen sind. Zwei der ehemaligen Schüler sprengten sich als Selbstmordattentäter in Israel in die Luft. Das Lebenswerk Arnas und die Geschichte der Jungen des „Stone Theatre“ hält MerKhamis in seinem 2004 erschienen Dokumentarfilm „Arna’s children“ fest. Der Film bietet darüber hinaus profunde Hintergrundinformationen über die Lebensumstände in Jenin sowie über den kulturellen Widerstand. Im April 2011 wird Mer-Khamis von bislang unbekannten Tätern vor dem „Freedom Theatre“ in seinem Auto erschossen. Durch seinen Tod wurde die Arbeit des Theaters in ihren Grundfesten erschüttert und bedurfte einer schwierigen Reorganisation; die Zukunft erschien durch die Abwesenheit des charismatischen Leiters, Lehrers, Freundes und Vorbilds ungewiss. Mer-Khamis’ gewaltsamer Tod entfachte Diskussionen über Theater, Besatzung und Widerstand weit über die besetzten palästinensischen Gebiete und Israel hinaus. Schon vor seiner Ermordung hatte das Theater mit Anfeindungen innerhalb und außerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu kämpfen. Die israelische Armee schikanierte Angehörige und ihre Arbeit. Gelegentlich kam es zu tätlichen Übergriffen und Verhaftungen. Konservative Kräfte innerhalb der palästinensischen Bevölkerung diffamierten das Theater als ‚nutzlos‘ und ‚unsittlich‘, nicht zuletzt aufgrund der Infragestellung bestehender gesellschaftlicher Normen, wie die strikte Trennung von Männern und Frauen. Es gab mehrere Morddrohungen und der Ermordung Mer-Khamis gingen zwei Brandanschläge auf das Theater voraus. Das Theater stand und steht von Anfang an im wahrsten Sinne des Wortes von allen Seiten unter Beschuss. Seit dem Tod von Juliano Mer-Khamis ist Nabil Al-Raee künstlerischer Leiter des „Freedom Theatre“. Er lebt mit seiner Frau Micaela und seinen beiden Töchtern in Jenin.

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1.4 F ORSCHUNGSSTAND UND M ETHODE Meine Forschung stützt sich in erster Linie auf eigens in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten erworbenem Datenmaterial.67 Hierzu zählen teilnehmende Beobachtungen, Interviews, Gesprächsprotokolle und Forschungstagebücher. Mein ursprüngliches Vorhaben, die (vor allem in Jenin geführten) Interviews digital aufzuzeichnen, zu transkribieren und zu analysieren, scheiterte oft daran, dass aufgrund der schwierigen, politischen Situation kaum jemand gewillt war, Gespräche auf Band aufzeichnen zu lassen. Dies begründete sich in der Sorge, ich könne eine Spionin sein oder dass das Material bei Kontrollen in falsche Hände geraten und der jeweilige Interviewpartner in unvorhersehbare Schwierigkeiten kommen könne. Bei denjenigen, die sich prinzipiell mit auf Band aufgezeichneten Interviews einverstanden erklärten, spürte ich schnell, dass sich die informell geführten Gespräche, wie sie beispielsweise bei gemeinsamen Abendessen entstanden, für mein Forschungsvorhaben als ergiebiger erwiesen. Das Aufnahmegerät wirkte oftmals wie eine unüberwindbare Barriere, die zwischen uns stand, Worte vorformte oder ungesagt ließ und eine unangenehme Spannung erzeugte. Einer meiner Gesprächspartner erklärte seine Scheu sogar mit dem Gefühl in einer Verhörsituation zu sein, in die er aufgrund seiner Theaterarbeit bereits mehrfach geraten sei. So lebt meine Forschung in erster Linie von teilnehmenden Beobachtungen, Forschungstagebüchern und informell geführten Gesprächen sowie deren Niederschrift in Gedächtnisprotokollen. Während meiner Teilnahme am „Freedom Bus“ im Frühjahr 2014, war es möglich, einige der Gespräche und Vorträge, die von einzelnen Vertretern unterschiedlicher Gemeinden im Jordantal und den South Hebron Hills gehalten wurden, aufzuzeichnen, diese sind in der Regel jedoch sehr allgemein gehalten. Elia Zureik68 (2003: 153) weist ebenfalls auf die spezifischen Schwierigkeiten bei Interviews im Nahen Osten hin:

67 Die erhobenen Daten stammen aus den Jahren 2007-2014, wobei in dieser Arbeit insbesondere die Forschungsaufenthalte 2011-2014 eine Rolle spielen, da sie für mein Forschungsvorhaben am ergiebigsten waren. Die Gespräche und Interviews wurden auf Englisch geführt. Einige Gesprächspartner verfügten über kaum oder keine englischen Sprachkenntnisse, sodass in diesen Fällen immer ein Übersetzer anwesend war. 68 Zureik, Elia (2003), „Theoretical and Methodological Considerations for the Study of Palestinian Society“, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 23, 1&2 (2003), S. 152-162.

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To respond to a questionnaire interview assumes a modicum of trust and confidence between the interviewer and the interviews, and also assumes that one’s opinion count as far as public life is concerned. In societies where, to a significant degree, the public life has not felt that it has an influence on the course of events, citizens are unlikely to see utility in divulging their views. Moreover, because of lack of trust between officials and the public at large, there is a tendency to look with suspicion at those seeking individual based information to fear that this information may jeopardize their position. Officials are equally suspicious of data collected on a large scale for fear that it may reveal sensitive information deemed threatening to regime legitimacy.

Für mich als westliche Forscherin, die zwar regelmäßig, aber doch immer nur temporär in den palästinensischen Gebieten und speziell in Jenin arbeitete, war es besonders in den Anfängen schwierig, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Meine Grenzgänge auf beiden Seiten des Konfliktes und meine für viele nicht deutlich genug artikulierte Parteinahme, löste häufig Unsicherheit und Misstrauen aus. Je öfter ich aber zurückkehrte, umso mehr konnte ich das Vertrauen einiger Jeniner gewinnen. Das sind in erster Linie Menschen, die auf unterschiedliche Weise bei „Cinema Jenin“ und im „Freedom Theatre“ involviert sind. Das sind Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten aus Jenin Stadt und dem Flüchtlingslager, die sich im kulturellen Widerstand gegen destruktive gesellschaftliche Strukturen engagieren. Die meisten von ihnen teilen entsprechend auch die Meinung, dass nur gewaltfreier Widerstand ein Ende der Besatzung bringen kann. Was jedoch die Einbeziehung israelischer Akteure in den gewaltfreien Widerstand betrifft, gibt es deutliche Diskrepanzen und stellte sich während der Gespräche immer wieder als sensibles Thema dar. Ich hatte also Zugang zu einer Bevölkerungsgruppe, die der Überzeugung ist, dass nur der Verzicht auf Gewalt ein Ende der Besatzung bringen kann. Die Gruppe der Kämpfer und Gegner derartiger kultureller Projekte blieb mir persönlich gänzlich verschlossen. Selbstverständlich wurde ich von ihnen als ausländische Frau in den Straßen Jenins wahrgenommen, eine Kontaktaufnahme war jedoch nicht möglich. Ein befreundeter Palästinenser versicherte mir, dass dies allein schon dadurch nicht funktioniere, weil ich mich durch meinen Aufenthalt beim „Freedom Theatre“ und insbesondere bei „Cinema Jenin“, mit seiner deutlich artikulierten friedensfördernden Ausrichtung, für sie schon eindeutig positioniert hätte und so einem bestimmten westlichen Bild entspräche, dass sie nicht teilen. Ihre Ablehnung wurde mir desöfteren gezeigt, in dem mir beispielsweise auf offener Straße vor die Füße gespuckt wurde.

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Jenseits des empirischen Materials stütze ich mich auf eine Vielzahl interdisziplinärer Quellen, die sich kritisch mit dem Israel-Palästina-Konflikt auseinandersetzen. Im Zusammenhang mit erinnerungstheoretischen Analysen bildet der palästinensische Widerstand gegen israelische wie palästinensische Besatzungsstrukturen den Grundpfeiler der vorliegenden Forschung sowie die Basis für die Suche nach den Möglichkeiten eines grenzüberschreitenden Widerstands- und Erinnerungsmodells, das den Weg für einen gerechten Dialog zwischen beiden Gruppen ebnen kann. Dem postkolonialen Grundverständnis folgend muss für die gesamte in dieser Studie verwendete Forschungsliteratur darauf hingewiesen werden, dass sich meine Forschung auf im westlichen Raum publizierte Werke beschränkt. Über hebräische und arabischsprachige Forschungsliteratur kann aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen keine Aussage getroffen werden. Für die Beschäftigung mit Widerstand ist an erster Stelle immer zu klären, was unter Widerstand zu verstehen ist und inwiefern sich unterschiedliche Widerstandsformen überhaupt klar voneinander abgrenzen lassen. Widerstand ist sowohl äußerst subjektiv als auch selektiv und hängt maßgeblich von der Perspektive der beteiligten Individuen bzw. Gemeinschaften ab. Ein wichtiges Werk über die Relevanz gewaltfreier Widerstandsformen für den Aufbau nationalstaatlicher Strukturen ist Michael Bröning (2011)69 gelungen. Dabei beleuchtet er aktuelle innerstaatliche bzw. parteipolitische Entwicklungen, die das Bild zu dekonstruieren versuchen, dass es auf palästinensischer Seite keinen Verhandlungspartner gibt. Mazin B. Qumsiyeh (2011)70 wiederum erörtert die Prinzipien und Ziele des gewaltfreien Widerstands und gibt Aufschluss darüber, wie effektiv und wandelbar palästinensischer Widerstand seit der Osmanischen Herrschaft war und ist. Philip Leech geht in seiner Studie „Youth and the Palestinian Resistance“ (2009)71 der Frage nach, warum sich die junge Generation der Palästinenser nach der Deeskalation der zweiten Intifada einem primär gewaltfreien Widerstand verschrieben habe und welche möglichen Folgen sich dahinter verbergen. Speziell mit gewaltfreien Widerstandsformen innerhalb der ersten Intifada befasst

69 Bröning, Michael (2011), „The Politics of Change in Palestine. State-Building and Non-Violent Resistance“, New York: Pluto Press. 70 Qumsiyeh, Mazin B. (2011), „Popular Resistance in Palestine. A History of Hope and Empowerment“, New York: Pluto Press. 71 Leech, Philip (2009), „Youth and the Palestinian Resistance. The role of young Palestinians in resisting the military occupation of the West Bank“, Saarbrücken: VDM Verlag.

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sich Mary Elizabeth King (2007)72 und hebt dabei insbesondere die aktive Rolle der palästinensischen Frau hervor. Julie M. Norman (2014)73 wiederum untersucht die Formen und Funktionen des friedlichen Widerstandes innerhalb der zweiten Intifada. Speziell für den Jeniner Kontext erweist sich die ethnografische Studie von Nasser Abufarha (2009)74 – selbst aus Jenin stammend – als besonders ertragreich. Seine Forschung, die sich zwar vornehmlich mit den Märtyrer-Attentaten als Form des Widerstands während der zweiten Intifada beschäftigt, liefert darüber hinaus wichtige Erkenntnisse auch für den kulturell verstandenen Widerstand in Jenin. Palästinensischer Widerstand, sei er bewaffnet oder gewaltfrei, lässt sich nicht ohne Märtyerfiguren denken. Diese sind konstitutiv für die Etablierung einer palästinensischen Erinnerungskultur. Auch zu diesem Thema findet sich im deutsch- und englischsprachigen Raum wenig wissenschaftliche Literatur. Erwähnung finden hierbei vor allem die Märtyrer-Attentäter, die zwar für das Verständnis der palästinensischen Gesellschaft wichtig sind, aber andere Erscheinungs- und Bedeutungsformen in ihrer Komplexität und ihrer kulturübergreifenden Dynamik ausblenden. Mit dieser Begriffsverengung tragen sie wesentlich zu einer Festigung des Bildes des palästinensischen Terroristen bei. Wegweisend für eine breiter gefächerte Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum ist die Arbeit von Friederike Pannewick (2012)75, in der sie aufzeigt, dass bei der Stilisierung zum Märtyrer, Literatur und bildende Künste eine große Rolle spielen. Einen fundierten Überblick bietet auch der Artikel zu Märtyrern der schiitischen Hisbollah von Stephan Rosiny (2010)76, in dem dieser sich kritisch mit der Chronologie und Typologie des Märtyrertums auseinandersetzt.

72 King, Mary Elizabeth (2007), „ A Quiet Revolution: The First Palestinian Intifada and a Strategy for Non-Violent Resistance“, New York: Nation Books. 73 Norman, Julie M. (2010), „The Second Palestinian Intifada. Civil Resistance“, Oxfordshire; New York: Routledge 2014. 74 Abufarha, Nasser (2009), „The Making of a Human Bomb. An Ethnography of Palestinian Resistance“, Durham; London: Duke University Press. 75 Pannewick, Friederike (2012), „Opfer, Tod und Liebe. Versionen des Martyriums in der arabischen Literatur“, München: Fink. 76 Rosiny, Stephan (2010), „Märtyrer der Hizb Allah – eine Chronologie und Typologie ihrer Erscheinungsformen“, in: Ansorge, Dirk [Hrsg.] (2010), Der Nahostkonflikt. Politische, religiöse und theologische Dimensionen, Stuttgart: Kohlhammer, S. 213241.

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Pénélope Larzillière (2002)77 befasst sich mit iranischen und palästinensischen Märtyrer-Attentätern. Sie gibt mit ihrem Vergleich einen guten Einblick in die sozialen Strukturen und Motive der Attentäter. Laleh Khalili (2007)78 bezieht sich in ihrer Forschung auf ihre Erfahrungen in libanesischen Flüchtlingslagern, in denen die Erinnerung bzw. Erinnerungszeremonien an Märtyrer und Helden des Widerstands zentrale politische Funktionen erfüllen und den Widerstand im Libanon (und darüber hinaus) lebendig halten. Ebenfalls palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon widmet sich Julie Peteet (2005)79 Dabei setzt sie sich vordergründig mit der Bedeutung von Flüchtlingslagern einerseits als Orte der Armut und der Gewalt, andererseits als Orte der Hoffnung und Kreativität auseinander und zeigt wie sowohl Flüchtlingslager als auch die ‚Figur des Flüchtlings‘ konstruiert und politisch instrumentalisiert werden. Märtyrer des kulturellen Widerstandes finden in den Märtyrerdiskursen jedoch keine bzw. nur am Rande Beachtung. Außer der Tatsache, dass Märtyrer nicht zwangsläufig bewaffnete Attentäter sein müssen, fand ich während meiner Recherchen und Forschungsreisen keine Anhaltspunkte, die auf eine explizite Auseinandersetzung mit Märtyrern des kulturellen Widerstandes verwiesen. Meine Forschung erhebt den Anspruch, diese Lücke für den palästinensischen, speziell für den Jeniner Kontext mit seiner speziellen Geschichte und Bedeutung innerhalb des Konflikts, zu schließen. Im Fokus stehen dabei das „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“. Literatur über Jenin findet sich wenig, abgesehen von einigen Artikeln über das Flüchtlingslager Jenin, vor allem über die israelische Militärinvasion im April 2002. Als Beispiel sei hier die Interviewsammlung „Searching Jenin“ (2003)80 von Ramzy Baroud erwähnt sowie „Israel/Palestine. How to end the

77 Larzillière, Pénélope (2002), „Palästinensische Märtyrer: Eine vergleichende Analyse über Selbstmordattentäter“, in: Journal of Conflict and Violence Research, Vol. 5, 2/2003, S. 121-142. 78 Khalili, Laleh (2007), „Heroes and Martyrs of Palestine. The Politics of National Commemoration“, Cambridge: Cambridge University Press 2009. 79 Peteet, Julie (2005), „Landscape of Hope and Dispair. Palestinian Refugee Camps“, Philadelphia: University of Pennsylvania Press. 80 Baroud, Ramzy (2002), „Searching Jenin. Eyewitness Accounts to the Israeli Invasion“, Seattle: Cune Press.

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War of 1948“ (2002) von Tanya Reinhart81, die sich in einem ihrer Kapitel ausführlich mit dem Ablauf und den Auswirkungen der Militärinvasion im Jahr 2002 beschäftigt. Darüber hinaus beschäftigt sich Linda Tabar (2012) in ihrem Artikel „The ‚Urban Redesign of Jenin Refugee Camp“82 mit dem Wiederaufbau des Flüchtlingslagers nach der Militärinvasion durch Unterstützung der UNRWA und an welche ambivalenten Prozesse dieser gebunden war und ist. Was Jenin, „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ betrifft, stützen sich meine Analysen in erster Linie auf eigene Beobachtungen und Interviews mit Bewohnern, Mitarbeitern und Verantwortlichen. Darüber hinaus beziehe ich mich auf Internetquellen, wie beispielsweise die Homepages der Projekte sowie Interviewausschnitte und Rezensionen. Herausragende Bedeutung für die Darstellung Jenins hat das Medium Film. Seit der israelischen Militärinvasion gibt es zahlreiches Filmmaterial über Jenin. In meiner Forschung beziehe ich mich in erster Linie auf die drei Dokumentarfilme „Das Herz von Jenin“ (2008), „Nach der Stille“ (2010) und „Cinema Jenin“ (2011), die von dem deutschen Filmemacher Marcus Vetter produziert wurden. Erwähnung finden ferner „Jenin, Jenin“ von Mohammed Bakri und „Road to Jenin“ von Pierre Rehov, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Erinnerungen an die israelische Militärinvasion auseinandersetzen (siehe Kapitel 5). Was die Bedeutung von Trauma und Erinnerung, insbesondere für die Konstruktion eigener nationaler Narrative, betrifft, hat sich während meiner Recherchen gezeigt, dass sich ein Großteil der Forschungsarbeiten mit der israelischer Perspektive auf den seit mehr als 60 Jahren andauernden Konflikt beschäftigt. Es lässt sich jedoch zunehmend eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem israelischen Geschichtsverständnis, der israelischen Identität und Erinnerung, sowie der damit verbunden israelischen Erinnerungspolitik, feststellen. Seit den 1980er Jahren etablieren sich in Israel verstärkt die sogenannten „Neuen Historiker“83, die eine Veränderung des israelischen Geschichtsbildes anstreben,

81 Reinhart, Tanya (2002), „Israel/Palestine. How to end the War of 1948“, New York: Seven Stories Press. 82 Tabar, Linda (2012), „The ‚Urban Redesign‘ of Jenin Refugee Camp: Humanitarian Intervention and Rational Violence“, in: Journal of Palestine Studies, Vol. 41, No.2 (Winter 2012), S. 44-61. 83 Der hegemoniale Diskurs wird durch die Verwendung neuer historischer Methoden und der Einbeziehung palästinensischer Quellen und Sichtweisen aufgebrochen: „Als unumstößlich geltende Wahrheiten, besonders über die Zeit vor der und um die Staatsgründung 1948 werden […] als Gründungsmythen entlarvt – als Mythen im Dienste des Zusammenschweißens einer Nation von Einwanderern unterschiedlichster

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indem sie beispielsweise ausdrücklich anerkennen, dass zur Errichtung eines israelischen Staates die Vertreibung eines Teils der arabischen Bevölkerung notwendig war. Dies wurde von der traditionellen zionistischen Geschichtsschreibung als freiwillige Migration, nicht zuletzt auf Anraten der umliegenden arabischen Staaten, gedeutet. Häufig zitierte Vertreter der „Neuen Historiker“ sind Ilan Pappé84, der unter anderem behauptet, dass die Errichtung des israelischen Staates die planmäßige Vertreibung der einheimische Bevölkerung eingeschlossen habe sowie Shlomo Sand85, der in seinen Werken den jüdischen Alleinanspruch auf das „Gelobte Land“ infrage stellt und den Konstruktionscharakter sowohl des jüdischen Volkes als auch des israelischen Staates in den Fokus nimmt. Beide werden einerseits hoch gelobt für ihr Engagement, zionistische Narrative zu dekonstruieren, anderseits aber auch scharf kritisiert, indem man ihnen Einseitigkeit oder fragwürdiges methodisches Vorgehen unterstellt. Gerade aber derartige Diskussionen bewirken ein innergesellschaftliches Aufbrechen des zionistischen Masternarrativs, ein Land ohne Volk besiedelt zu haben.

Herkunft.“ Die „Neuen Historiker“ haben „[…] einen Prozess in Gang gesetzt, der nicht nur Methoden und Forschungsergebnisse […] einer radikalen Neubewertung unterwirft, sondern tief in das israelische Selbstverständnis und nicht zuletzt auch in die Politik hineinwirkt. Der Widerspruch gegen ihre Thesen ist entsprechend heftig.“ (Köndgen 2001: 147 ff., http://www.kas.de/wf/doc/kas_302-544-1-30.pdf?071105133331 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Bei den „Neuen Historikern“ handelt es sich keineswegs um eine homogene Gruppe, sondern die „Neuen Historiker“ vertreten durchaus heterogene, einander widersprechende Perspektiven. Ihr gemeinsamer Nenner ist das Eingeständnis einer Mitschuld am Nahostkonflikt und an der palästinensischen Flüchtlingssituation. Siehe auch: Thiel 2006: http://www.hamburg-review.com/fileadmin/pdf/hrss0601_thiel .pdf (zuletzt aufgerufen 06.03.2016). Auch auf palästinensischer Seite findet ein Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte statt, der im westlichen Diskurs jedoch wenig bekannt ist. Zu erwähnen seien hier beispielsweise die Werke von Rashid Khalidi (1997) und Nur Mashala (2012). Berücksichtigung finden müssen in diesem Kontext jedoch die strukturell schwierigeren Voraussetzungen, in denen dieser selbstkritische Prozess überhaupt stattfinden kann. 84 Zum Beispiel: Pappé, Ilan (2007), „Die ethnische Säuberung Palästinas“, Berlin: Haffmans & Tolkemitt, 2014. und Ders.; Hilal, Jamil [Hrsg.] (2010), „Zu beiden Seiten der Mauer. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Bild der israelischpalästinensischen Geschichte“, Hamburg: LAIKA Verlag 2013. 85 Sand, Shlomo (2008), „Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand“, Berlin: List 2011; Ders. (2012), „Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit“, Berlin: List 2014.

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In den palästinensischen Gebieten fehlen aufgrund der unübersichtlichen politischen Lage derzeit noch die strukturellen sowie institutionellen Voraussetzungen, um einen derartigen ideologiekritischen Diskurs, wie er in Israel geführt wird, zu etablieren. Dennoch lassen sich Anfänge einer diskursiven Aushandlung mit der eigenen Vergangenheit feststellen, wie beispielsweise die Infragestellung des ‚ewigen Opferstatus’‘ sowie die Vorstellungen von Palästina als verlorenem Paradies. Dieser Umgang mit dem Konflikt wird von vielen Palästinensern heute als unangemessen und handungslähmend betrachtet. Auf diese Perspektive weist auch Sabine Damir-Geilsdorf (2005)86 in ihrem Artikel zu palästinensischen Raumpräsentationen hin. Sie beschäftigt sich hier intensiv mit dem Zusammenhang von Raum, Erinnerung und Identität, wobei vor allem Palästina als imaginierter und erinnerter Raum im Mittelpunkt des Interesses steht. Carol B. Bardenstein (1999)87 setzt sich in ihrem Aufsatz mit den gegenläufigen Erinnerungspraxen in Israel und den besetzten palästinensischen auseinander, beispielsweise erörtert sie die unterschiedliche Bedeutungen, die Bäume als Erinnerungsmarker im kollektiven Gedächtnis einnehmen. Grundlegende Einblicke in die unterschiedlichen Narrative bietet auch die Aufsatzsammlung von Robert I. Rotbert (2006)88, in der nicht nur die verschiedenen traumatischen Narrative aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, sondern, unter anderem von Ilan Pappé, der Versuch unternommen wird, die divergierenden Narrative miteinander zu verbinden, oder aber, wie Dan Bar-On und Sami Adwan es vorschlagen, zwei voneinander unabhängige Narrative zu etablieren. Egal welche Perspektive hier im Fokus steht, zentral ist die Kategorie der Erinnerung.

86 Damir-Geilsdorf, Sabine (2005), „Palästinensische Repräsentationen des Raums: Über die Produktion von Bild-Räumen, Macht-Räumen und erinnerten Räumen“, in: Dies.; Hartmann, Angelika; Hendrich, Béatrice [Hrsg.], Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster: LIT Verlag, S. 153-182. Siehe auch: Khalidi, Rashid (1997), „Palestinian Identity. The Construction of Modern Consciousness“, New York: Columbia University Press 2010; Masalha, Nur (2012), „The Palestine Nakba. Decolonising History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory“, London; New York: Zed Books. 87 Bardenstein, Carol B. (1999), „Trees, Forests and the Shaping of Palestinian and Israeli Collective Memory“, in: Bal, Mieke; Crewe, Jonathan; Spitzer, Leo [eds.] (1998), Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, Hanover; London: University Press of New England, S. 148-171. 88 Rotberg, Robert I. [eds.] (2006), „Israeli and Palestinian Narratives of Conflict. History’s Double Helix“, Bloomington; Indianapolis: Indiana University Press.

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Mit dem Zusammenhang von Trauma und Erinnerung beschäftigt sich ferner die Artikelsammlung zur „Nakba“ von Ahmad H. Sa’di und Lila Abu-Lughod (2007)89, in der Orte, Formen und die Repräsentation von Erinnerung reflektiert werden. Ella Shohat (2006)90 widmet sich dem Thema Erinnerung noch aus einer anderen Perspektive. Sie analysiert nicht die unterschiedlichen konkurrierenden Erinnerungen von jüdischen Israelis und arabischen Palästinensern, sondern sie setzt sich mit den unterdrückten Erinnerungskonzeptionen der arabischen Juden auseinander, deren Geschichte zugunsten des zionistischen Narrativs, welches das der europäischen Juden ist, marginalisiert wird. Zusammen mit Robert Stam (1994)91, hat sie sich darüber hinaus mit eurozentrischen Darstellungen in den Medien befasst, was insbesondere auch für die Auseinandersetzung mit Film im postkolonialen Kontext, als Grundlagenwerk zu betrachten ist. Auch wenn sich vorliegende Forschung mit palästinensischem Film befasst, erweist sich Shohats Studie über den israelischen Film als äußerst ergiebig zum Verständnis des israelischen Umgangs mit der ‚palästinensischen Frage‘.92 Für die Auseinandersetzung mit palästinensischem Film ist das Werk von Nurith Gertz und George Khleifi93 wegweisend. Sie untersuchen die Entstehung und Entwicklung des palästinensischen Films und heben anhand zahlreicher, detaillierter Beispiele seinen Zusammenhang mit Trauma und Erinnerung hervor. Besondere Erwähnung verdienen auch die beiden Aufsätze von Helga TawilSouri „Cinema as the Space to Transgress Palestine’s Territorial Trap“ und „Coming into Being and Flowing into Exile. History and Trends in Palestinian Film-Making“, in denen sie sich kritisch mit der Besonderheit des palästinensischen Films als national und staatenlos zugleich auseinandersetzt.94

89 Sa’di, Ahmad H.; Abu-Lughod, Lila [eds.] (2007), „Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory“, New York: Columbia University Press. 90 Shohat, Ella (2006), „Taboo Memories. Diasporic Voices“, Durham: Duke University Press. 91 Shohat, Ella; Stam, Robert (1994), „Unthinking Eurocentrism: Multiculturalism and the Media“, London; New York: Routledge. 92 Dies. (1989), „Israeli Cinema. East / West and the Politics of Representation“, London: Tauris (2010). 93 Gertz, Nurith; Khleifi, George (2008), „Palestinian Cinema. Landscape, Trauma and Memory“, Edinburgh: Edinburgh University Press. 94 Tawil-Souri, Helga (2005), „Coming into Being and Flowing Into Exile. History and Trends in Palestinian Film-Making“, in: Nebula 2 (2), 2005, S. 113-140. Dies. (2014),

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Im Mittelpunkt der filmischen Analyse stehen die drei rund um das „Cinema Jenin“ entstandenen Filme und von Marcus Vetter produzierten Filme „Das Herz von Jenin“ (2008), „Nach der Stille“ (2010) und „Cinema Jenin“ (2011). Bei der Beschäftigung mit palästinensischem Theater erwies sich die Studie zu palästinensischem Theater von Reuven Snir95 als unverzichtbar. Es ist das erste Buch in nicht-arabischer Sprache, das sich mit der Entwicklung und gesellschaftlichen Verortung von palästinensischem Theater befasst. Dabei betrachtet Snir die Anfänge des palästinensischen Theaters vor 1948 genauso wie deren Zerstörung im Kontext der nakba, das Wiederaufleben des Theaters infolge des Kriegs von 1967 sowie dessen Bedeutung für den Aufbau nationalstaatlicher Strukturen. Was den Zusammenhang von Performanz, Erinnerung und Widerstand betrifft, erweisen sich die Artikelsammlungen in „Acting Together. Performance and the Creative Transformation of Conflict“96 als besonders ergiebig. Was speziell Playback-Theater im palästinensischen Kontext betrifft, beziehe ich mich auf die Ausführungen von Ben Rivers, der maßgeblich an der Entwicklung des Playback-Theaters in den palästinensischen Gebieten beteiligt ist.97

„Cinema as the Space to Transgress Palestine’s Territorial Trap“, in: Middle East Journal of Culture and Communication, 7 (2014), S. 169-189. 95 Snir, Reuven (2005), „Palestinian Theatre“, Wiesbaden: Reichert. 96 Cohen, Cynthia; Varea, Roberto; Walker, Polly [eds.] (2011), „Acting Together. Performance and the Creative Transformation of Conflict. Volume I: Resistance and Reconciliation in Regions of Violence/ Volume II: Building Just and Inclusive Communities“, New York: New Village Press. 97 Beispielsweise: Rivers, Ben (2013a), „Playback Theatre as a response to the impact of political violence in Occupied Palestine“, in: Applied Theatre Research, Vol. 1. No. 2, S. 157-176; Ders. (2015b), „Cherry Theft under Apartheid. Playback Theatre in South Hebron Hills of Occupied Palestine“, in: The Drama Review 59:3, Fall 2015, S. 7790; Ders. (2015c), „Educate, agitate and organize! Playback Theatre and its role in social movements“, in: International Theatre Journal, S. 19-37.

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1.5 S ELBST -V ERORTUNG Da die Forschung maßgeblich auf eigens erworbenen Daten beruht, sei für das weitere Verständnis der Studie meine Positionierung im Feld erläutert. 2007 bin ich im Rahmen des religionswissenschaftlichen Studiums erstmals nach Israel und in die palästinensischen Gebiete gereist. Rückblickend war vor allem mein Blick auf Israel sehr romantisiert und idealisiert. Die andere, die palästinensische Seite, kam in meiner Vorstellungswelt nur am Rande vor, und war geprägt von der westlichen Medienberichterstattung über Gewalt, Hamas und Terrorismus, gepaart mit dem beunruhigenden Wissen, dass es nicht richtig sein kann, den Palästinensern durch Mauer- und Siedlungsbau die Lebensgrundlage zu entziehen. Mein Bild war jedoch äußerst vage. Meine erste Grenzbewegung/Grenzüberschreitung in Richtung der besetzten palästinensischen Gebiete war entsprechend eine große Herausforderung. Auf der kurzen Fahrt von Jerusalem nach Bethlehem stürzten eine Menge vorgefertigter Bilder und ambivalenter Gefühle auf mich ein. Dann der Anblick des monströsen Checkpoints, der mich am liebsten hätte umkehren lassen. Hier waren nur wenige Menschen, wenige Palästinenser und noch weniger Touristen. Ich kam mir vollends verloren vor. Zwei junge palästinensische Männer fragten mich, ob wir gemeinsam „rüber gehen“ könnten. Denn wenn Touristen in der Nähe wären, würden die Kontrollen nicht ganz so schlimm werden. Die beiden Männer passierten vor mir ohne Probleme den Checkpoint. Etwas weiter abseits sah ich einen Palästinenser, der von einem israelischen Soldaten durchsucht wurde. Endlich auf der anderen Seite angekommen, dröhnte mir das Geräusch hupender Taxis in den Ohren und zugleich laute Rufe, wo ich denn hin wollen würde. Eine junge Palästinenserin rief mir auf Englisch zu, dass ich mich bloß nicht übers Ohr hauen lassen und für eine Fahrt in die Stadt nicht mehr als 20 Schekel bezahlen sollte. Sie klopfte auf ein Taxidach, verhandelte mit dem Fahrer über den Betrag. Schließlich stieg ich in das Taxi ein. Der Fahrer erzählte mir, dass er mit dem wenigen Geld, welches er beim Taxifahren verdiente, seine siebenköpfige Familie ernähren müsste. Seit dem Mauerbau wären die Zeiten besonders schlimm, nur noch wenige Touristen kämen in die besetzten palästinensischen Gebiete und die, die kämen, gingen nach ein bisschen Sightseeing wieder in ihre vermeintlich besser geschützten und besser ausgestatteten Hotels auf der israelischen Seite. Szenenwechsel: Im Frühjahr 2012 plante ich erstmals nach Jenin zu fahren. Trotz durchweg positiver Erfahrungen auf palästinensischer Seite war ich sehr beunruhigt. Wieder hatte ich durch Medien verbreitete Bilder einer „Terroristenhochburg“ im Kopf, in der Angst und Schrecken dominieren. Verstärkt wurde diese innere Unruhe von den Sorgen, die sich nahestehende Menschen um meine

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Sicherheit und Gesundheit machten sowie von einem sehr aufreibenden Gespräch mit einem hohen, israelischen Sicherheitsbeamten am Berliner Flughafen. Dieser hatte beim Durchsehen meiner universitären Unterlagen einen Zettel mit einer Adresse in Jenin gefunden und mich etwa eine halbe Stunde lang darüber informiert, wie schrecklich und wie unsicher Jenin für mich wäre. Ich könnte entführt oder gar getötet werden. Ich fuhr trotzdem. Wenige Tage vor meiner ersten Reise nach Jenin, besuchte ich im Rahmen des „Doc-Aviv Filmfestivals“ in der „Cinématheque“ in Tel Aviv die Premiere von „Cinema Jenin“. Dort lernte ich auch Marcus Vetter, den Regisseur und Mitinitiator von „Cinema Jenin“ sowie Yaёl Armanet-Chernobroda, die Hauptprotagonistin aus Vetters zweitem Jenin-Film „Nach der Stille“ kennen, die zufällig im Kino neben mir saß. Meinen ersten ausführlicheren Eindruck von Jenin bekam ich also ausgerechnet in einem israelischen Kino. Eine Erfahrung, die ich wahrscheinlich mit vielen anwesenden Israelis teilte. Während der Filmvorführung war es sehr still in dem großen Kinosaal. Ich fragte mich gelegentlich, wie es für die Israelis sein müsse, diesen Film zu schauen, wenngleich mir bewusst war, dass ich es vermutlich mit einem ‚Palästina-offenen‘ Publikum zu tun hatte. Yaёl stellte mich anschließend Marcus Vetter vor, der uns wiederum zu einem Essen unweit der „Cinématheque“ einlud, das von einigen Projektverantwortlichen organisiert wurde.98 Wenige Tage später fuhr ich unter hoher Anspannung endlich nach Jenin. Doch schon als ich dort ankam und die ersten kleinen Gespräche führte, hätte ich am liebsten lauthals gelacht. Die ganze Anspannung löste sich auf in einem nur schwer zu unterdrückenden Lachreiz und der (eigentlich wenig überraschenden) Feststellung, dass Jenin eine ganz normale palästinensische Stadt mit ganz normalen Menschen ist, die mich herzlich in ihrer Mitte willkommen hießen. Dem ersten Aufenthalt in Jenin folgten forschungsbedingt einige weitere, wobei sich Jenin mir als ein energetischer, kraftvoller und kreativer Erinnerungs- und Widerstandsort zeigte. Dessen ungeachtet sind die inneren wie äußeren Missstände und die Gewalt nicht auszublenden. Sie sind präsent. Aber sie sind – anders als es zahlreiche lokale wie internationale Medien darstellen wollen – nicht alles, was Jenin ausmacht. Konfliktreiche Grenzregionen fordern vielfach implizit wie explizit eine Positionierung zugunsten der einen oder der anderen Seite. Nicht nur vor Ort in Israel oder in den palästinensischen Gebieten, sondern auch zu Hause, in Deutschland, meiner Heimat, begegnen mir ständig derartige schwierige, aber

98 Während meiner Forschung korrespondierte ich mehrfach mit Marcus Vetter, Yaёl Armanet-Chernobroda und weiteren Projektbeteiligten.

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durchaus nachvollziehbare Positionierungserwartungen an meine Person. Damit umzugehen, ist nicht immer leicht, macht mürbe und ist von ständigen Reflexions- und Aushandlungsprozessen begleitet, die für die Forschung auch zwingend notwendig sind. Nicht selten wird man in Deutschland und Israel vorschnell als „PalästinaAktivistin“ abgestempelt, was dann zugleich bedeutet, gegen Israel zu sein. Auf palästinensischer Seite herrschte in einigen Situationen Verunsicherung und Misstrauen, wenn ich davon erzählte, dass ich auch auf israelischer Seite forsche und israelische Freunde habe. In Deutschland sind die Stimmen diverser, aber nicht weniger leicht auszuhandeln. Es gab Begegnungen, in denen mich propalästinensisch eingestellte Gruppen und Menschen für ihre Zwecke nutzen wollten, gleichsam als Sprachrohr der aktuellen menschenrechtsverletzenden Situation in den palästinensischen Gebieten. Pro-israelisch eingestellte Gruppen und Menschen konnten oft nur wenig Verständnis dafür aufbringen, dass gerade ich als Deutsche vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und der Shoah, mich für die ‚palästinensischen Sache‘ starkmache. Auf allen Ebenen des Konflikts, hier wie dort, ist es immer wieder schwierig zu vermitteln, dass es mir um die Menschen auf beiden Seiten geht, dass sie alle ihre ureigenen Geschichten, Emotionen und Wahrheiten haben. Auch die Journalistin Alexandra Senfft (2009: 183)99 beschreibt eine ähnliche Erfahrung: Viele Israelis tragen das Erbe des Holocaust in sich und fühlen sich bis heute wie Flüchtlinge. Auch bei uns Deutschen gibt es diese transgenerationellen Aspekte – die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges sind weitgehend nicht verarbeitet und viele Menschen leugnen weiterhin, dass ihre Verwandten an der Ermordung der Juden beteiligt waren. Schuld, Schuldgefühle, Verdrängung, Komplizenschaft und Scham wirken bis heute subtil in unsere Gesellschaft hinein. Diese ungeklärten Gefühle übertragen sich auf die Haltung vieler Deutscher zum Nahostkonflikt und drücken sich in einer Überidentifikation mit der einen oder der anderen Seite aus. Der eigene Konflikt mit der Vergangenheit wird auf einen Nebenschauplatz übertragen, wodurch die Auseinandersetzung mit sich erfolgreich vermieden wird. Mitunter gewinnt man auf Nahost-Veranstaltungen den Eindruck, manch Außenstehender bräuchte diese öffentlich reproduzierte Spannung geradezu, um von sich selbst und seiner Vergangenheit abzulenken. Das Tragische dabei ist, dass dies als Dynamik auf den Nahostkonflikt einwirkt.

99 Senfft, Alexandra (2009), „Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis“, Hambur: edition Körber-Stiftung.

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Ich als Deutsche bleibe immer Außenstehende in beiden Gesellschaften, was im Forschungskontext eine große Herausforderung und sicherlich auch eine Beschneidung von Zugangsmöglichkeiten ist. Gleichzeitig bietet diese Position jedoch den ‚Luxus der Freiheit der Wahl‘: Die Wahl zu bleiben oder zu gehen. Die Freiheit außerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen zu stehen, sich nicht positionieren zu müssen, sondern einen distanzierteren Blick einnehmen zu können. Es steht natürlich außer Frage, dass es einen absolut neutralen Blickwinkel nicht geben kann. Forschen ist immer von subjektiven Handlungs- und Gefühlsräumen geprägt. Selbstverständlich gab es immer wieder Situationen, in denen es beinahe unmöglich erschien, sich nicht zu positionieren: Das Erleben von Siedlergewalt oder die Zerstörung von Häusern seitens der israelischen Armee lassen einen nicht unberührt, und rufen Hilf- und Machtlosigkeit hervor. Ein persönlicher Ausweg war das Aufsuchen von Rückzugsorten, um über das Erlebte nachzudenken und so die Balance wiederzufinden. Das gelang mir auf beiden Seiten des Konflikts an manchen Tagen mal mehr, mal weniger gut. Es sollte jedoch bereits deutlich geworden sein, dass es in dieser Studie, die sich in erster Linie mit palästinensischer Erinnerung und kreativem Widerstand gegen unterdrückende Strukturen beschäftigt, nicht darum gehen soll und kann, einseitig zu (ver-)urteilen. Ich bin für die Gleichberechtigung der Palästinenser, für ein Ende der israelischen Besatzung, mit all ihren Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die auch von unterdrückenden palästinensischen Strukturen mitproduziert und gleichermaßen zur Diskussion gestellt werden müssen. Israels rechtmäßige Existenz wird an keiner Stelle infrage gestellt. Schließlich möchte ich betonen, dass der Israel-Palästina Konflikt für mich vordergründig kein Religionskonflikt darstellt. Vielmehr treffen spätestens seit dem Ende der osmanischen Herrschaft zwei verspätete Nationalismen aufeinander: Der Zionismus und der palästinensische Nationalismus (Kapitel 2).

1.6 Z UR V ERWENDUNG VON B EGRIFFEN UND B EZEICHNUNGEN Soweit möglich bzw. es das Verständnis des Textes nicht einschränkt, verwende ich die international gängigen Begrifflichkeiten für Ereignisse, Personen, Namen und Orte. Denn die Verwendung von hebräischen bzw. arabischen Bezeichnungen impliziert nicht selten auch die Positionierung zugunsten eines politischen Standpunktes, sodass sich diesbezüglich von einer ‚Nationalisierung der Land-

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schaft‘ sprechen lässt.100 Beispielsweise wurden im Zuge der israelischen Staatsgründung arabische Ortsnamen durch historische und (pseudo-)biblische Namen ersetzt; ebenso fanden sich Übersetzungen arabischer Ortsnamen ins Hebräische sowie ganz neue hebräische Ortsbezeichnungen. Geografische Namen werden von einigen säkularen wie religiösen Gruppierungen durch religiös konnotierte Bezeichnungen semantisch aufgeladen, wie etwa die biblische Bezeichnung ‚Judäa und Samaria‘ für die Westbank. Sabine Damir-Geilsdorf (2005: 156) weist darauf hin, dass „der der Namensgebung zugrunde liegende imaginierte Raum, die kulturelle Konstruktion von Heimatland, […] sich hier als restaurative historische Konstruktion [zeigt]“, die exklusivistisch ist und damit die Geschichte des Anderen ausschließt. Haim Bresheeth101 (2007: 179) geht auf die unterschiedlichen Bezeichnungen für die Kriege ein als […] codes embedded in Israeli public discourse […]: the 1948 war is referred to only as the ,War of Independence‘, the 1956 war the ,Sinai Offensive‘, the 1967 war ,The Six Day War‘, 1973 is called ,Yom Kippur War‘, and the Invasion of Lebanon in 1982 is quaintly called ,Operation Peace in Galilee‘. Any departure from such terminology is understood as a dangerous deviation, opening the door to arguments about the moral justification for any or all those military campaigns, and ultimately to justifications for Zionism itself. The daily papers, whatever their political leanings, have accepted and adopted such terminology without question, as have the various broadcast institutions.

Unter anderen Vorzeichen gilt dies natürlich auch für den öffentlichen palästinensischen Diskurs. Gibt es keine andersartigen internationalen Bezeichnungen oder legen auch diese eine einseitige Perspektivierung nahe, verwende ich alternativ möglichst wertfreie Bezeichnungen. Hiervon ausgenommen sind beispielsweise Zitate bzw. Interviewauszüge und/oder die Wiedergabe der Perspektive einzelner Personen, was dann dementsprechend gekennzeichnet ist. Zum Beispiel bezeichne ich die kriegerischen Auseinandersetzungen im Frühsommer 1967 als Krieg von 1967, während die israelische den Terminus „Sechstagekrieg“, die arabische Seite wiederum vom „Junikrieg“ spricht. Inter-

100 Siehe auch: Benvenisti, Meron (2000). 101 Bresheeth, Haim (2007), „The Continuity of Trauma and Struggle: Recent Cinematic Representations of the Nakba“, in: Sa’di, Ahmad H.; Abu-Lughod, Lila [eds.] (2007), Nakba. Palestine, 1948 and the Claims of Memory, New York: Columbia University Press, S. 161-191.

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nationale bzw. westlich geprägte Darstellungen beziehen sich auf diesen Krieg in der Regel auch als „Sechstagekrieg“. Auf meinen Forschungsreisen habe ich lernen müssen, dass die Verwendung des einen oder des anderen Begriffes äußerst emotionale Reaktionen bei den jeweiligen Gesprächspartnern hervorrufen kann. Divergierende Bezeichnungen sind in diesem Zusammenhang immer an unterschiedliche, sich asymmetrisch überlagernde Geografien sowie an Erinnerungsgemeinschaften und Erinnerungspraktiken gebunden. Christoph Auffarth (2015) weist darauf hin, dass [die] imaginäre Zuordnung in geteilte kommunikative Gedächtnisse102 […] dann abzulesen [ist], wenn der gleiche Ort und das Geschehen mit zwei verschiedenen Namen in den jeweiligen nationalen Erinnerungen eingeschrieben wird […]. Ein Ort wird nominal zu zweien.

Sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinanderzusetzen, bedeutet nicht nur mit ungleichen Narrativen und damit verbunden unterschiedlichen raum-zeitlichen Konzeptionen konfrontiert zu sein, sondern zugleich mit unterschiedlichen Zahlen, Nummern und Statistiken. So gibt es beispielsweise höchst unterschiedliche Angaben darüber, wie viele arabische Dörfer während des Krieges 1948 von den israelischen Truppen zerstört wurden. Das hängt nicht nur mit den unterschiedlichen Geschichtsschreibungen und -darstellungen zusammen, sondern auch damit, dass kein Konsens darüber herrscht, wie der Begriff ‚Dorf‘ eigentlich zu definieren ist. Ich verstehe durchaus, dass derartige Angaben für israelische wie palästinensische Forscher von großer Bedeutung sind und nicht selten als Identitäts- und Erinnerungsmarker dienen. Wenn diese Angaben aber nicht eindeutig belegbar oder für das Textverständnis elementar sind, verzichte ich auf diese, weil sie in der Regel abhängig sind von der jeweiligen Perspektive. Des Weiteren grenze ich mich von Auffassung ab, dass jeder, der politische Gewalt erfährt, traumatisiert ist und professionelle psychotherapeutische und/oder psychiatrische Unterstützung benötigt. Gerade unter westlichen Wissenschaftlern ist schnell von traumatisierten Gesellschaften die Rede, wobei der Begriff des Traumas häufig inflationär verwendet wird und die Gefahr besteht, unter dem Begriff des Traumas alle Folgen von Extremerfahrungen zu subsumieren. Nahezu automatisch wird auf die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) verwiesen, einer psychischen Erkrankung, die durch enorm belastende Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohung hervorgerufen wird. Doch dies

102 Detaillierte Erläuterung siehe Kapitel 2.

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reicht nicht aus, um die Folgen politischer Gewalt im israelisch-palästinensischen Kontext adäquat einordnen zu können, wie der weitere Verlauf der Arbeit zeigt. Daher verwende ich in meiner Forschung den Begriff des potenziell traumatischen Ereignisses. Der Begriff soll einer essentialistischen Betrachtungsweise von Trauma entgegenwirken. Die Schwere respektive die Intensität der Belastung wird dabei nicht infrage gestellt. Im Folgenden spreche ich von Israel und den (besetzten) palästinensischen Gebieten. Einerseits soll dadurch die Rechtmäßigkeit des Staates Israel betont werden, andererseits auch die legitimen palästinensischen Ansprüche auf einen eigenen Staat in den Grenzen von 1967. Der Begriff Palästina als nationalstaatliches Konstrukt fungiert hierbei bis heute als Metapher, als Symbol, da eine offizielle internationale nationalstaatliche Anerkennung bis heute aussteht.

2. Voraussetzungen. Geschichtskonzeptionen und nationale Narrative Europäische Kolonialpolitik und Zionismus im Wechselspiel mit palästinensischem Nationalismus

In diesem Kapitel geht es um die geschichtliche Einordnung des Israel-PalästinaKonfliktes. Meine Forschung konzentriert sich auf die, historisch betrachtet, jüngeren Entwicklungen innerhalb des Konfliktes, welche in der Staatsgründung Israels im Frühjahr 1948 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden und die Flucht und Vertreibung etwa der Hälfte der damals ansässigen arabischen Bevölkerung zur Folge hatten. Es wird der Versuch unternommen, die wichtigsten historischen Entwicklungen seit der Entstehung des politischen Zionismus, der den Grundstein für den heutigen Konflikt legte, möglichst multiperspektivisch nachzuzeichnen. Durch die Auseinandersetzungen mit europäischer Kolonialpolitik und zionistischen Siedlungsplänen entwickelte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein dezidiert palästinensisches Nationalbewusstsein, das aus der Abgrenzung gegen den übermächtigen Anderen, dem Westen, dem Zionismus, entstanden war.1 Stephan Milich2 (2005:36) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Frage nach einer palästinensischen Identität bis heute ein umstrittenes Thema

1

Siehe auch: Embaló, Birgit; Neuwirth, Angelika; Pannewick, Friederieke [Hrsg.] (2001), „Kulturelle Selbstbehauptung der Palästinenser. Survey der modernen palästinensischen Dichtung“, Würzburg: Ergon Verlag.

2

Milich, Stephan (2005), „Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit: Identität und Exil in der Dichtung von Mahmud Darwisch“, Berlin: Hans Schiler Verlag.

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sei, insbesondere dann, wenn es darum gehe ob und wann überhaupt von einem palästinensischen Nationalbewusstsein zu sprechen sei. Früh fühlte sich die arabische Bevölkerung Palästinas der panislamischen Politik des Osmanischen Reiches zugehörig. Denn noch bedeutender als die religiöse Identifikation war die Verbundenheit mit der lokalen Lebenswelt, die laut Milich (2005: 39) den wichtigsten Identifikationsrahmen bis weit in das 20. Jahrhunderte bildete. Auch heute noch spielt die regionale Herkunft bei den Palästinensern innerhalb, und besonders auch außerhalb, der palästinensischen Gebiete eine wichtige Rolle. In den 1920er-Jahren entstanden die ersten Versuche, eine eigenständige, palästinensische Nationalbewegung zu etablieren, die an panarabische Ziele und Vorstellungen gebunden war. Diese wurde aber in den 1920er und 1930er-Jahren durch die repressive Mandatspolitik Englands sowie innere Konkurrenzkämpfe maßgeblich verhindert. Im Unterschied zur zionistischen Einwanderung während der britischen Mandatszeit, veränderte sich die Lebenswelt der arabischen Bevölkerung zur Zeit des Osmanischen Reichs relativ wenig. Erst die zunehmende zionistische Einwanderung also, die schließlich zur Staatsgründung Israels im Jahre 1948 führte, gefährdete die Existenz der arabischen Bevölkerung so grundlegend, dass die Auseinandersetzung mit den zionistischen Einwanderern entscheidend zur Etablierung eines palästinensischen Nationalbewusstseins beigetragen haben dürfte und sich mit der Erfahrung der nakba als ein zentraler Bruch, eine neue palästinensische Gesellschaft formierte.3 Fortan prägte vor allem die nakba die palästinensische Erinnerung, die immer als Exilerinnerung zu begreifen ist: Mit der Erfahrung der nabka löst palästinensisches Exilschicksal jüdisches Exilschicksal ab (Neuwirth 2004a: 33)4.

3

Siehe auch: Krämer, Gudrun (2006), „Geschichte Palästinas. Von der osmanischen

4

Neuwirth, Angelika (2004a), „Einleitung“, in: Dies.; Pflitsch, Andreas; Winckler,

Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel“, München: C.H. Beck, 5. Auflage. Barbara [Hrsg.] (2004), Arabische Literatur, postmodern, München: edition text + kritik, S. 27-45.

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2.1 „E IN L AND OHNE V OLK FÜR EIN V OLK OHNE L AND “ 5 – Z IONISTISCHE E INWANDERUNG IN P ALÄSTINA UND DIE S TAATSGRÜNDUNG I SRAELS Seitdem der Tempel von Jerusalem nicht mehr existiert (70 n.d.Z.)6 und Jerusalem zur verbotenen Stadt für die Juden wurde, bestand ihre Sehnsucht nach einer Rückkehr ins „Heilige Land“.7 Die politische Hoffnung auf eine jüdische Heimstätte in Palästina, damals Teil des Osmanischen Reichs, entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts und wurde durch zwei sich wechselseitig beeinflussende Faktoren begünstigt: Auf der einen Seite zerstörte der immer stärker werdende latente wie offen zur Schau getragene Antisemitismus in Europa den Glauben eines Großteils der jüdischen Bevölkerung daran, dass Aufklärung, Emanzipation und Assimilation zu einer gleichberechtigten Existenz von Juden und Nichtjuden in einem Staat führen könnten. Auf der anderen Seite begünstigten der europäische Nationalismus und Kolonialismus die Entwicklung einer dezidiert jüdischen Nationalbewegung, den Zionismus.8 Anliegen dieser neu entstandenen jüdischen Nationalbewegung war es, eine Nation wie jede andere zu sein. Der Zionismus war jedoch schon in seinen Anfängen keine homogene Bewegung, im Gegenteil entwickelten sich unterschiedliche Ausprägungen mit verschiedenen Schwerpunkten und politischen Idealen (Brenner 2005: 10ff.).9 Als Begründer des politischen Zionismus gilt Theodor

5

Dieser Ausdruck ist einer der meist zitierten Sätze der zionistischen Literatur und vielleicht auch der umstrittenste. Anti-Zionisten verweisen hierauf als Beweis der Ungerechtigkeit des Zionismus gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas. Zugleich wird dadurch verschleiert, dass den frühen Zionisten durchaus bewusst war, dass es eine ansässige arabische Bevölkerung gab, die – ganz im Sinne imperialistischer Ideale –, von den Errungenschaften des Westens profitieren sollten.

6

„n.d.Z.“ steht für „nach der Zeitrechnung“.

7

Siehe auch: Ansorge, Dirk [Hrsg.] (2010), „Der Nahostkonflikt – politische, religiöse und theologische Dimensionen“, Stuttgart: Kohlhammer.

8

Bereits vor dem Entstehen des politischen Zionismus gab es Einwanderungswellen von Juden nach Palästina, vor allem aus religiösen Motiven. Einen fundierten Überblick in die Geschichte des Zionismus bieten: Brenner, Michael (2002), „Geschichte des Zionismus“, München: C.H. Beck 2005, 2. Auflage und: Brenner, Michael; Weiss Yfaat [Hrsg.] (1999), „Zionistische Utopie – israelische Realitiät. Religion und Nation in Israel“, München: C.H. Beck.

9

Brenner, Michael (2002), „Geschichte des Zionismus“, München: C.H. Beck 2005, 2. Auflage.

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Herzl (1860-1904), der einer assimilierten, säkularen jüdischen Familie entstammte.10 Im Jahr 1896 wurde Herzls „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“ veröffentlicht. Das Buch beginnt mit den Worten: Der Gedanke, den ich in dieser Schrift ausführe, ist ein uralter. Es ist die Herstellung des Judenstaates. Die Welt widerhallt vom Geschrei gegen die Juden, und das weckt den eingeschlummerten Gedanken auf. Ich erfinde nicht, das wolle man sich vor allem und auf jedem Punkt meiner Ausführungen deutlich vor Augen halten. Ich erfinde weder die geschichtlich gewordenen Zustände der Juden noch die Mittel zur Abhilfe. Die materiellen Bestandteile des Baues, den ich entwerfe, sind in der Wirklichkeit vorhanden, sind mit den Händen zu greifen; jeder kann sich davon überzeugen. Will man also diesen Versuch einer Lösung der Judenfrage mit einem Worte kennzeichnen, so darf man ihn nicht ‚Phantasie‘, sondern höchstens ‚Kombination‘ nennen. Gegen die Behandlung als Utopie muss ich meinen Entwurf erst verteidigen.11

In dieser Schrift macht Herzl konkrete Vorschläge, wie ein solcher Staat, vorzugsweise in Palästina, zu errichten sei. In seinen Gedanken spiegelt sich die typisch imperialistisch geprägte europäische Geisteshaltung jener Zeit, man müsse auf die Ansprüche einer alteingesessenen Bevölkerung keine Rücksicht nehmen. Die Araber würden im Gegenteil von der ‚Europäisierung‘ Palästinas profitieren. Durch die Etablierung eines materiellen sowie geistigen Wohlstandes würden sie von der Berechtigung eines jüdischen Gemeinwesens rasch überzeugt werden.12 Der politische Zionismus kreierte also den Mythos des unbewohnten Landes in Palästina, das nur auf westliche Entwicklung und Fortschritt warte. Vor diesem Hintergrund entstand auch das Bild des ‚neuen Juden‘, der im Gegensatz zum ‚Diaspora-Juden‘ mit eigenen Händen und eigener Arbeitskraft die Erde bestelle und die unkultivierte Wüste zum Erblühen bringe. Die zionistischen Ideale und Herzls „Judenstaat“ wurden von seinem Zielpublikum in Europa aber durchaus auch kritisch aufgenommen. Zahlreiche europäische Juden kritisierten, dass Herzl den Antisemiten nur neue Munition im Kampf gegen jüdische Prä-

10 Literatur speziell zu Theodor Herzl siehe beispielsweise: Avineri, Shlomo (2016), „Herzl: Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates“, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. 11 Herzl, Theodor (1896), „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Zürich: Manesse 2006. 12 Siehe auch: Kaufmann, Uri (2010), „Die moderne zionistische Bewegung und das „Land Israel“ (1897-1966)“, in: Ansorge (2010), S. 15-29.

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senz in Europa liefere und alle bis dahin erzielten Erfolge von Assimilation und Emanzipation gefährde. Die Einwanderung von Juden nach Palästina war kein neues Phänomen und in der Regel an religiöse Überzeugungen geknüpft. Seit 1881, also noch vor dem Erscheinen von Herzls „Judenstaat“, änderte sich bereits die Struktur der jüdischen Gemeinschaft in Palästina entscheidend. Durch die erste große Einwanderungswelle13 kamen Juden ins Land, die sich nicht mehr in bereits bestehenden Ortschaften niederließen, sondern eigene, landwirtschaftlich geprägte Siedlungsformen gründeten.14 Zentrale Bedeutung hatte aber die zweite Einwanderungswelle, in der vor allem Juden aus Osteuropa nach Palästina kamen, und in deren Verlauf unter der Parole ‚Eroberung durch Arbeit‘ die systematische Landnahme begann. Stephan Milich (2005: 37 ff.) erklärt, dass jüdische Privatpersonen und Landkaufgesellschaften, wie der Jüdische Nationalfond, Land von arabischen Grundbesitzern kauften. In der Folge konnten arabische Bauern von ihrem rein rechtlich gesehen nur gepachtetem Land vertrieben und durch jüdische Arbeiter ersetzt werden. Der hieraus resultierende Widerstand ist unter anderem mit der engen Bindung der Bauern an das Land zu erklären, welches sie zwar nicht als Eigentum besaßen, aber als ihre Lebensgrundlage und Heimat betrachteten. Stephan Milich nennt diesbezüglich drei Orte, die symbolisch für die als große Ungerechtigkeit empfundene zionistische Landnahme stehen: Petah Tiqva (1896)15, al-Shajara (1901-1904) und al-Fula (1909-1911). Zu dieser Zeit bestand eine große Kluft innerhalb der arabischen Bevölkerung Palästinas, nämlich zwischen der meist ungebildeten Landbevölkerung, den Beduinen und der in den größeren Städten lebenden Bevölkerung sowie nicht zuletzt der in Palästina lebenden jüdischen Gemeinde, der „Yishuw“: All diese Bevölkerungsgruppen hatten wenig miteinander gemeinsam. Die Konkurrenzkämpfe zwischen den führenden Familien erschwerten eine einheitliche, nationale Politik, welche die Voraussetzung für die Durchsetzung gemeinsamer, palästinensischer Interessen, d.h. für die Abwehr des Zionismus, die Befreiung von der britischen Mandatsmacht und die Gründung eines autonomen arabischen oder palästinensischen Staates gewesen wäre. (Milich 2005: 38)

13 Als „Alijah“/Aufstieg bezeichnet. 14 Schliwski, Carsten (2012), „Geschichte des Staates Israel“, Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 28.ff. 15 Die in Klammern angegebenen Jahreszahlen bezeichnen das Jahr der Landnahme.

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In einem der großen Romane der modernen hebräischen Literatur „Gestern, vorgestern“ (1946) schreibt Samuel Agnon (1888-1970): Wie unsere anderen Brüder, die Bringer unserer Erlösung, die Männer der zweiten Einwanderungswelle, so hatte auch Jizchak Kummer ein Land verlassen, seine Heimat, seine Stadt und war ins Land hinaufgezogen, um es nach der Zerstörung neu aufzubauen, sich an ihm zu erbauen. Wie ein gesegnetes Gefilde war ihm das Land erschienen, seine Bewohner als von Gott begnadet. Die Siedlungen im Lande liegen im Schatten der Weinberge und Ölbäume verborgen, die Felder sind dicht mit Getreide bestanden, die Bäume mit Früchten bekränzt, die Täler tragen Blumen, es wogen die Bäume im Wald, das Himmelsgewölbe ist von reinem Blau, und jedes Haus ist voller Jubel. Bei Tage pflügt und sät man, pflanzt und mäht, pflückt Trauben und erntet Oliven, drischt Weizen und stampft in den Kelter, und wird es Abend, so sitzt man, jeder unter seinem Weinstock, jeder unter seinem Feigenbaum, und eines jeden Frau und Söhne und Töchter sitzen mit ihm beisammen, freuen sich ihrer Arbeit und sind fröhlich beim Ausruhen; sie gedenken der Vergangenheit im fremden Land, wie man bei frohen Zeiten sich an die Tage der Not erinnert und dabei das Gute doppelt genießt.16

Der Roman erzählt die Geschichte von Jizchak Kummer, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts, so wie Agnon selber, auf den Weg von Galizien nach Palästina macht. Im Verlauf der Geschichte zeigt sich seine Zerrissenheit zwischen zionistischen Idealen und jüdischer Religion. Verwoben ist Jizchak Kummers Geschichte mit der des Hundes Balak, was dem Roman surrealistische Nuancen verleiht. Schon der Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945)17 verweist auf die symbolische Besetzung Palästinas, zuerst durch die christliche Erinnerung der sogenannten „terra sancta“.18 Seit dem 12. Jahrhundert existierten in Palästina sakrale Landschaften der jüdischen, christlichen und islamischen Glaubensgemeinschaften und damit entsprechend konkurrierende Erinnerungen. Maßgeblich beeinflusst wurde der Konflikt um die konkurrierenden Erinnerungen durch die christlichen Missionsbewegungen im 19. Jahrhundert. Verstärkt wurde dieser schließlich durch die zionistische Bewegung, die sich durch ihre Berufung auf biblische Geschichte im Spannungsfeld zwischen säkularer Politik und Heilsge-

16 Agnon, Samuel (1946), „Gestern, vorgestern“, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. 17 Siehe auch Kapitel 4. 18 Siehe auch: Assmann, Aleida (1999), „Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“, München: C.H. Beck 2009, 4. Auflage, S. 307.

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schichte befand. Die vorwiegend arabisch-muslimische Bevölkerung des Landes wurde als geschichtslos an den Rand der neu entstehenden israelischen Gesellschaft gedrängt (Neuwirth 2004: 33). Der Zionismus unterscheidet sich in zwei wesentlichen Aspekten von den anderen europäischen Nationalismen: Es gab keine Nation und kein Territorium für eine bestehende Bevölkerung, die sich als Staat hätte konstituieren können. Darüber hinaus spielt das religiöse Moment eine zentrale Rolle, das heißt, dass sich der Zionismus als moderne politisch-säkulare Bewegung begriff und sich zugleich der jüdischen religiösen Tradition als einzig bis dahin verbindende Kraft bediente und bis heute bedient. Der Erste Weltkrieg brachte einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte des Zionismus’ und Palästinas. Mit der „Balfour Deklaration“ 1917, mit der die britische Regierung sowohl den Juden, als auch der arabischen Bevölkerung (nationale) Versprechungen machte, die sie nicht einhalten konnte, während sie zeitgleich mit den verbündeten Großmächten eine Aufteilung des Nahen Ostens in Interessensphären vereinbarte, ist der Grundstein des späteren Nahostkonfliktes gelegt. Durch den britischen Einmarsch in Palästina 1917 sowie der Zuteilung des Gebietes an Großbritannien als Völkerbundsmandat, ergab sich für die zionistische Bewegung eine günstige Gelegenheit, ihren Anspruch auf Palästina durch weitere Zuwanderungen zu untermauern. Dabei erwies es sich allerdings als hinderlich, dass Großbritannien auch mit den arabischen Herrschern Abkommen geschlossen hatte. In der Folgezeit musste die britische Mandatsregierung zwischen jüdischen und arabischen Ansprüchen und Forderungen vermitteln, wobei der Konflikt jedoch nie entschärft werden konnte, sondern sich im Gegenteil immer mehr zuspitzte. Anders als von der britischen Regierung zugesagt, war eine uneingeschränkte Einwanderung von Juden in das Land nicht möglich, das bedeutete beispielsweise, dass die zionistischen Einwanderer dazu angehalten wurden, das gesamt demografische Gefüge zu berücksichtigen, dass sich nicht zuungunsten der arabischen Bevölkerung verschieben sollte (Schliwski 2012: 37 ff.). Dennoch gelang es den Zionisten während dieser Zeit quasistaatliche Strukturen aufzubauen, welche die zeitlich spätere Gründung eines jüdischen Gemeinwesens förderten. Durch den arabischen Aufstand 1936-193919, der sich zunächst gegen Briten und Juden wandte, sich aber nach kurzer Zeit zu einem innerarabischen Bürger-

19 Dieser Generalstreik wird als entscheidend für die Bildung einer kollektiven palästinensischen Identität betrachtet. Er gilt als erster palästinensischer Volksaufstand im 20. Jahrhundert, wenngleich die Zerrissenheit der palästinensischen Gesellschaft deutlich zu Tage tritt.

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krieg auswuchs, konnte die jüdische Bevölkerung sich zwar als vergleichsweise loyal gegenüber den Briten zeigen, – eine Haltung, die sich auch während des Zweiten Weltkrieges fortsetzte – allerdings ließen sich ihre nationalstaatlichen Ambitionen dadurch nicht verwirklichen. Die britischen Pläne, das Land zu teilen, führten zu keiner Lösung, sodass auch die jüdische Seite nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vermehrt zur Gewalt gegen britische Einrichtungen und Mandatsvertreter überging, um einen eigenen Staat mit Waffengewalt zu erkämpfen. Als die Situation im Mandatsgebiet für die Briten immer unkontrollierbarer wurde, entschloss sich die Regierung das Mandat an die neu gegründeten Vereinten Nationen zu übergeben. Vor dem Hintergrund der Shoah, der Vernichtung der europäischen Juden, schien die Gründung eines jüdischen Staates nur rechtens. Am 29. November 1947 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Resolution 181, die die Aufhebung des britischen Mandats und die Teilung des Landes in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat bis Oktober 1948 vorsah. Die Hauptstadt Jerusalem sollte international verwaltet werden. Die arabische Seite stimmte diesen Vereinbarungen aber nicht zu, sodass die Gewalt zwischen Juden und Arabern eskalierte und zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Der israelische Schriftsteller Amos Oz erinnert sich an die Nacht des 29. Novembers 1947 in seinem autobiografischen Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ (2004) wie folgt: Nach Mitternacht, gegen Ende der Abstimmung wachte ich auf. Mein Bett stand unter dem Fenster, das zur Straße hinausging, und ich brauchte mich nur aufzusetzen, mich hinzuknien und durch die Ladenritzen zu spähen. Ich erschrak: Wie in einem Angsttraum standen eng gedrängt, schweigend und reglos im gelblichen Schein der Straßenlaterne Massen aufrechter Schatten in unserem Hof, in den Nachbarhöfen, auf den Bürgersteigen, auf der Straße, wie eine riesige stumme Gespensterversammlung im fahlen Licht, auf allen Balkonen, Hunderte von Männern und Frauen, die nicht einen einzigen Ton von sich gaben, […]. Diese ganze große Menge wirkte wie versteinert in der beängstigenden Nachtstille, als wären es gar keine wirklichen Menschen, sondern Hunderte von dunklen Schattenrissen vor dem Hintergrund der flimmernden Finsternis. Als wären sie im Stehen gestorben. […] Nur die tiefe, rauhe Stimme des amerikanischen Sprechers drang aus dem vollaufgedrehten Radio und ließ die Nachtluft erzittern, […]. Einem nach dem anderen rief er die Namen der letzten Staaten in der Liste auf, nach dem englischen Alphabet, und donnerte die Antwort der betreffenden Delegierten sofort in sein Mikrofon […]. Damit verstummte die Stimme mit einem Schlag. Und abrupt senkte sich außerirdische Stille herab und ließ die ganze Szene erstarren, ein schreckerfülltes, unheilschwangeres Schweigen trat ein, das Schweigen einer riesigen, den Atem anhaltenden Menschenmenge, wie ich es sonst niemals gehört habe, nicht vor dieser Nacht und nicht nach dieser Nacht. Bis die tie-

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fe, etwas heisere Stimme aus dem Rundfunkgerät erneut die Luft erzittern ließ […]. Der Vorschlag ist angenommen. Und damit ging seine Stimme in einem Brüllen unter, das aus dem Radio brach, über den freudetrunkenen Tribünen im Saal in Lake Success aufbrandete, und nach weiteren zwei, drei Sekunden der Verblüffung, der dürstend geöffneten Lippen und weit aufgerissenen Augen, brüllte mit einem Schlag auch unsere entlegene Straße am Rand von Kerem Avraham im Norden Jerusalems, in einem ersten furchtbaren Schrei, der die Finsternis, die Häuser und Bäume zerriß, sich selbst durchbohrte, kein Schrei der Freude, ganz anders als das Brüllen der Massen im Stadion, als das Aufbrausen der Begeisterung irgendwelcher euphorischer Menschenmengen, vielleicht ein Angst- und Entsetzensschrei, ein unheilschwangerer Aufschrei, ein Schrei, der Steine erschütterte und das Blut in den Adern gefrieren ließ, als hätte sich für alle bereits Getöteten und alle, die noch getötet werden würden, in diesem einen Augenblick ein Fenster zum Aufschreien geöffnet, das gleich wieder zuschlug und schon im nächsten Moment lösten diesen ersten Schrei des Grauens laute Freudenrufe ab, […]. (Im Hause Silwani in Scheich Dscharrach und in Aischas Zuhause in Talbieh […], dort freuten sie sich nicht in jener Nacht. Sie hörten die Jubelrufe aus den Straßen der Juden, standen vielleicht am Fenster und blickten auf die paar Freudenfeuerwerkskörper, die das Himmelsdunkel zerrissen, preßten die Lippen zusammen und schwiegen. […] Obwohl weder Katamon noch Talbieh noch Baka wußten, nicht wissen konnten, daß sie fünf Monate später unversehrt, aber leer in jüdische Hände übergehen sollten und sich in all den rötlichen Steinhäusern mit den Bogenfenstern neue Bewohner einrichten würden.) […] Aber Vater sagte zu mir, als wir dort, in der Nacht des 29. November 1947, ich auf seinen Schultern […] dahintrieben, nicht als Aufforderung an mich, sagte er dies, sondern als ein Wissender, der zur unverrückbaren Tatsache erklärt, was er weiß: Schau dir das an, mein Junge, schau dir das sehr gut an, mein Sohn, mit sieben Augen schau dir bitte all dies an, denn diese Nacht, Kind, wirst du bis an dein Lebensende nicht vergessen, und von dieser Nacht wirst du noch deinen Kindern, Enkeln und Urenkeln erzählen, wenn wir schon lange nicht mehr da sind. […] Gegen Morgen […] Vater lag ein paar Minuten neben mir und schwieg […], nur seine Hand streichelte leicht meinen Kopf. […] Dann erzählte er mir flüsternd, […] was ihm und seinem Bruder David Straßenjungen in Odessa angetan hatten und was ihm gojische Jungs im polnischen Gymnasium angetan hatten, […] und als am nächsten Tag sein Vater […] in die Schule gekommen sei, um sich zu beschweren, hätten ihm die Rowdys nicht etwa die zerrissene Hose wiedergegeben, sondern seien vor seinen Augen auch über seinen Vater […] hergefallen, hätten ihn mit Gewalt aufs Pflaster geworfen und auch ihm mitten auf dem Schulhof die Hose ausgezogen […]. Und noch immer im Ton der Dunkelheit […]sagte mir mein Vater […]: „Bestimmt werden auch dir öfter noch irgendwelche Rowdys auf der Straße oder in der Schule zusetzen. […] Aber von jetzt an, von dem Augenblick, in dem wir unseren eigenen Staat haben werden, von nun an werden dir Rowdys niemals mehr deswegen zusetzen, weil du Jude bist […]. Von dieser Nacht an ist hier Schluß damit. […]

74 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Und ich streckte schläfrig die Hand aus, um sein Gesicht zu berühren, etwas unterhalb seiner hohen Stirn, und statt der Brille spürten meine Finger plötzlich Tränen. Kein einziges Mal in meinem Leben, nicht vor dieser Nacht und nicht nach dieser Nacht, nicht einmal beim Tod meiner Mutter, habe ich meinen Vater weinen gesehen. Und eigentlich auch in jener Nacht nicht: Es war dunkel im Zimmer. Nur meine linke Hand hat es gesehen.20

Diese Textstelle zeigt die sehr emotionale, sehr detailgetreue Perspektive eines Kindes, dessen Eltern beide die Schrecken der Shoah miterlebt haben und in Israel ein neues Zuhause fanden. Der palästinensische Schriftsteller, Politiker und Philosoph Sari Nusseibeh erinnert sich an die Ereignisse rund um die Staatsgründung Israels in seinem autobiografischen Roman „Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina“ (2008) aus der Perspektive eines Teils seiner seit Jahrhunderten tief in Palästina verwurzelten Familie. Im Gegensatz zu Amos Oz schreibt er in einer distanzierteren Art und Weise und rückt in seiner Darstellung selbstverständlich nicht die Überlebenden der Shoah in den Fokus der Staatsgründung, sondern die Vereinten Nationen als Verbündete der zionistischen Einwanderer sowie die im jeweiligen Eigeninteresse handelnden arabischen Staaten: Die Briten hatten endgültig genug und legten einen weiteren Teilungsplan vor, der allerdings von Arabern wie Juden gleichermaßen abgelehnt wurde. Terroranschläge und britische Vergeltungsmaßnahmen wechselten einander ab, bis London entschied, das Problem den neu geschaffenen Vereinten Nationen zu übergeben, die einen eigenen Teilungsplan erarbeiteten. Ihm zufolge sollten die Juden, die nur ein Drittel der Bevölkerung stellten und denen bloß sechs Prozent des Landes gehörten, mehr als die Hälfte des Gebiets erhalten, darunter den fruchtbaren Küstenstreifen, Teile Galiläas und die gesamte NegevWüste, wohingegen das alte biblisch-jüdische Kernland mit seiner Felsenlandschaft ironischerweise für die Araber vorgesehen war. Selbst wenn man die offensichtliche Ungerechtigkeit, Land aufzuteilen, ohne seine Bewohner nach ihrer Meinung zu fragen – denn selbstverständlich sollten die Araber nicht über die Sache abstimmen können – beiseite lässt, verlangte der Plan zu viel guten Willen und Fantasie, als dass irgendjemand in Palästina, ob Jude oder Araber, an ihn hätte glauben können. Vorgesehen war eine „Wirtschaftsunion“ zwischen den beiden neu zu schaffenden Staaten – ein geradezu lächerliches Ansinnen, wenn man bedenkt, dass man seit 1936 nicht mehr von einer gemeinsamen Wirtschaft sprechen konnte. Die Spaltung von Wirtschaft und Verwaltung hatte sich längst im alltäglichen Leben verfestigt, beide Konfliktparteien nutzten die Wirtschaft als

20 Oz, Amos (2002), „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“, Frankfurt: Suhrkamp 2004, S. 516-522.

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Waffe, wo immer sie die Gegenseite treffen konnten. Der Plan der Vereinten Nationen garantierte auch die Rechte der Araber im jüdischen Teil. Doch die Araber hätten dort die Hälfte der Bevölkerung gestellt, und das bei einer weitaus höheren Geburtenrate. Wie sollte ein jüdischer Staat existieren können, in den quasi eine fünfte Kolonne eingebaut war? Judah Magnes, der in Amerika geborene Präsident der Hebräischen Universität, sah voraus, dass die Teilung zwangsläufig zum Krieg führen würde. Selbst wenn es den Juden gelang, die „Araber zu verdreschen“, wie er sich ausdrückte – und er hatte keinen Zweifel daran, dass sie dazu in der Lage waren –, so würde doch die Irredenta zweier verfeindeter Ministaaten unvermeidlich einen Krieg nach dem anderen provozieren. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen billigten den hauptsächlich von Stalin und Truman unterstützten Plan. Die Briten enthielten sich, um ihr reines Gewissen zu bewahren, waren aber gleichwohl erleichtert, als sie sich mit dem 15. Mai 1948 der undankbaren Aufgabe entledigt sahen, zwei verfeindete Bevölkerungsgruppen in die Schranken weisen zu müssen. Die zionistische Führung in Palästina stimmte dem Plan zu. […] Wie vorauszusehen lehnten die arabischen Staatsführer in Kairo, Damaskus und Bagdad den Teilungsplan kategorisch ab. […] Etliche Politiker ließen sich unter dem Druck des Muftis Hadsch Amin Husseini zu einer regelrechten Kriegserklärung hinreißen und versprachen, die zionistischen Eindringlinge aus Israel zu vertreiben. Allerdings war dieser „einhellige arabische Widerstand“ alles andere als „einhellig“. Syrien und Jordanien planten vielmehr, sich selbst ein Stück der palästinensischen Beute einzuverleiben. […] Die Araber in Palästina waren sich weitaus einiger. „Warum sollten wir für das bezahlen, was die Europäer den Juden angetan haben?“, lautete die vorherrschende Meinung. Auch mein Vater lehnte den Plan ab, allerdings aus einem anderen Grund. Bei der Teilung ging es nicht nur darum, mit den Vereinten Nationen um ein Stück Land zu schachern, auf dem Spiel stand auch sein mehr als ein Jahrtausend altes kulturelles Erbe.21

Nach dem Beschluss der Vereinten Nationen, der dem jüdischen Staat eine nicht zu unterschätzende internationale Legitimität verschaffte, zog die britische Mandatsregierung früher als ursprünglich vorgesehen, bereits im Mai 1948 ab. Die jüdische Seite beschloss daraufhin, die von der UN verabschiedete Teilungsresolution auch einseitig umzusetzen. Während die umliegenden arabischen Staaten den Teilungsplan weiterhin nicht akzeptieren, rief der spätere israelische Premierminister David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel aus. Nur einen Tag später brach der erste arabisch-israelische Krieg aus, als die Truppen aus Ägypten, Syrien, Transjordanien, dem Irak und dem Libanon jüdische Stellungen angriffen. Trotz einer scheinbaren Übermacht der arabischen Kräfte gingen

21 Nusseibeh, Sari (2008), „Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina. München: Suhrkamp 2009, S. 41-46.

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die Israelis als Sieger aus diesem Krieg hervor, nicht zuletzt, weil die arabischen Verbände untereinander kaum organisiert waren und unterschiedliche Ziele verfolgten. Vermittlungsversuche der Vereinten Nationen scheiterten, und erst im März 1949 kam es zu einer Waffenruhe, als die umliegenden arabischen Staaten sukzessive Waffenstillstandsabkommen, jedoch keine Friedensverträge, mit Israel schlossen. Die daraus hervorgehende Waffenstillstandslinie, die bis heute ausdrücklich nicht als feste Grenze festgelegt wurde, wird als „Grüne Linie“ bezeichnet und ist zu einem ideologischen Kampfplatz avanciert. Der vorgesehene Palästinenserstaat kam nicht zustande, stattdessen wurde das übrige Territorium den machtpolitischen Eigeninteressen Ägyptens und Jordaniens folgend unter diesen aufgeteilt. Der erste arabisch-israelische Krieg konnte zum einen den jungen Staat Israel in seinem Bestehen festigen und seine Grenzen sogar noch erweitern, zum anderen führte er zur Flucht und Vertreibung eines Großteils der ansässigen arabischen Bevölkerung, an die sich diese als nakba erinnert. Die Gründung des Staates Israel ist für einen Großteil der Palästinenser gleichbedeutend mit Diaspora und Exil; Flucht und Vertreibung rissen Familien auseinander, zerstörten politische, soziale und kulturelle Institutionen und machten einen Großteil der Palästinenser besitz- und rechtlos. Dass sie alle geflohen seien bzw. auf Anraten der arabischen Staaten freiwillig ihre Heimat verließen; eine Sichtweise, die lange von der israelischen Geschichtsschreibung aufrechterhalten wurde, wird, wie bereits weiter oben erläutert, erst in den letzten Jahren von den israelischen Neuen Historikern als Gründungsmythos entlarvt. Flucht und Vertreibung bedingten einander.22 Eine kleine palästinensische Minderheit verblieb in dem neu gegründeten israelischen Staat, jedoch mit eingeschränkten staatsbürgerlichen Rechten gegenüber der mehrheitlich jüdisch-israelischen Bevölkerung. Die Palästinenser in der Westbank gerieten unter jordanischer Kontrolle, während die Palästinenser im Gazastreifen fortan unter ägyptischer Herrschaft lebten. Ebenso wenig wie Israel gestanden weder Jordanien noch Ägypten den Palästinensern vollwertige staatsbürgerliche Rechte zu.23 Da nun ein Großteil der ehemaligen Bewohner Palästinas in unterschiedlichen Ländern verstreut lebte,

22 Zur Kritik am Zionismus siehe auch: Brumlik, Micha (2007), „Kritik des Zionismus“, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt; Butler, Judith (2013), „Am Scheideweg. Judentum und Kritik am Zionismus“, Frankfurt; New York: Campus. 23 Heute ist Jordanien das einzige umliegende arabische Land, das den Palästinensern staatsbürgerliche Rechte gewährt.

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[…] war jegliche staatliche, politische oder gesellschaftliche Organisierung in jenen Jahren kaum mehr möglich. […] Hatte es vorher vor allem eine große Kluft zwischen den Lebenswelten in den Küstenstädten Palästinas, der bäuerlichen Mehrheitsbevölkerung im Hinterland und den Beduinen gegeben, so spaltete sich nach dem ersten israelischarabischen Krieg von 1948-1949 die schon relativ heterogene palästinensische Bevölkerung in eine Vielzahl regional getrennter Gruppen, deren gemeinsames Schicksal in erster Linie im kollektiv erlittenen Unrecht durch die gewaltsame Vertreibung, in der allen entrissenen Lebensgrundlage und dem Leben im Flüchtlingslager bestand. (Milich 2005: 42)

2.2 Z UR E TABLIERUNG DER PALÄSTINENSISCHEN N ATIONALBEWEGUNG UND DER ISRAELISCHEN S IEDLERBEWEGUNG NACH 1948 Die Jahre nach 1948 sind für die Palästinenser dadurch geprägt, die Erfahrung der nakba in ihren (neuen) Lebensalltag zu integrieren. Nurith Gertz und Michel Khleifi (2008: 19) bezeichnen die Jahre zwischen 1948 und 1967 auch als „epoche of silence“. Ähnlich unterschiedliche Gewichtungen und Deutungen wie im ersten arabisch-israelischen Krieg, finden sich auch bei den Ereignissen rund um den Sechstagekrieg 1967, der sich aus einer nicht mehr kontrollierbaren Kriseneskalation entwickelte (Johannsen 2011: 25).24 Einem befürchteten Angriff arabischer Truppen kam Israel zuvor und zerstörte fast die gesamte ägyptische und syrische Luftwaffe. Innerhalb von sechs Tagen eroberte Israel die Westbank, den Gazastreifen, den Sinai, die Golanhöhen sowie Ost-Jerusalem und wurde damit endgültig zur Besatzungsmacht.25 Der Krieg von 1967 markiert nicht nur für die palästinensische Bevölkerung, sondern auch innerhalb der arabischen Geschichtsschreibung, einen tiefen Einschnitt. Die Niederlage gegen Israel wurde nicht nur als nur eine militärische Katastrophe empfunden. Mit dem Ausgang des Krieges war der große panarabische Traum zerschlagen; Verlierer war in erster Linie der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser (1918-1970), der als einziger arabischer Politiker der jüngeren Geschichte die Möglichkeit einer

24 Johannsen, Margret (2006), „Der Nahostkonflikt“, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, 3. aktualisierte Auflage. 25 In einem Friedensschluss mit Ägypten wird der Sinai 1979 an Ägypten zurückgegeben, alle anderen im Krieg 1967 eroberten Gebiete bleiben bis heute annektiert und bilden neben dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge und der Jerusalemfrage einen der Grundpfeiler in den Diskussionen zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts.

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arabischen Einheit sicht- und spürbar gemacht hatte. Laut Andreas Pflitsch (2004: 18)26 markiert die Niederlage gegen Israel eine Grenze, welche die arabische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts in zwei Hälften teilt: Das wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechende Ideengebäude des Nasserismus, das abrupte Ende eine Ära des Aufbruchs und des Glaubens an Fortschritt und Entwicklung […]. Der ungebrochene Glaube an eine bessere Zukunft […] wich einem tief sitzenden Misstrauen. […] Der Nasserismus war mit einem Mal nichts als aufgeblasene Ideologie.

Die „Schockwirkung des Ereignisses“, wie Angelika Neuwirth (2004: 28)27 es ausdrückt, kann also nicht unterschätzt werden. Die Palästinenser, die durch die israelische Besatzung der Westbank und des Gazastreifens offiziell der arabischen Welt entrissen wurden, erinnern sich an diese weitere (historische) Zäsur als „naksa“ (Rückschlag), welche die Lebenssituation der Palästinenser analog zu den Ereignissen 1948 erneut grundlegend änderte. Durch die Eroberung der Westbank gerieten also die Gebiete unter israelischer Herrschaft, die zentrale Schauplätze biblischer Geschichte sind: Judäa und Samaria. Dies hat bis heute weitreichende Auswirkungen auf die Konfliktdynamik. Der Historiker Dan Diner hält 1991 fest: Jetzt tritt das partikulare religiöse Selbstverständnis viel stärker in den Vordergrund, eben durch die als heilig geltenden Stätten, vor allem des Ostteils der Stadt Jerusalem. Das heißt, das israelische Selbstverständnis entsäkularisiert sich zunehmend. Es dringt immer stärker ein in das, was wir als politische Theologie bezeichnen. Oder in verkürzter Weise: Der Mythos von Eretz-Israel, dem Land Israel und seiner biblisch-historischen Legitimation verdrängt in einem zunehmenden Maße die säkulare Selbstlegitimation, die sich im Begriff des Staates Israel oder – hebräisch gesprochen – von Medinat-Israel, niederschlagen. Dieser Gegensatz beginnt von 1967 an zu wirken und durchläuft die Gesellschaft, zerstört innere Selbstverständnisformationen oder bildet sie neu um.28

26 Pflitsch, Andreas (2004), „Das Ende der Illusionen. Zur arabischen Postmoderne“, in: Neuwirth, Angelika et al. (2004), Arabische Literatur, postmodern, S. 13-27. Pflitsch führt weiter aus, dass der libanesische Bürgerkrieg (1975-1990) zumindest literaturtheoretisch einen ähnlichen Effekt wie die Ereignisse von 1967 hatte. 27 Neuwirth, Angelika (2004), „Einleitung“, in: Dies. et al. (2004), Arabische Literatur postmodern, S. 27-45. 28 Zitiert aus: Neuwirth (2004), S. 37.

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Was den palästinensischen Widerstand betrifft, so konnte sich die palästinensische Nationalbewegung nach 1948 immer mehr festigen. Diese zeichnete sich im Wesentlichen durch drei miteinander verbundene Prämissen aus: Den bewaffneten Kampf gegen Israel, die Konstituierung einer nationalen palästinensischen Identität sowie damit einhergehend die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates.29 Bis 1967 hatten die panarabische Ideen und Ideale unter der Politik des ägyptischen Präsidenten Nassers die palästinensischen nationalen Bestrebungen der PLO („Palestine Liberation Organization“) dominiert.30 Die bereits 1959 gegründete nationalistische Fatah, unter der Führung Yassir Arafats, sah in der Niederlage von 1967 ihre Chance, sich dem ägyptischen Einfluss zu entziehen und sich als zentrales Organ der palästinensischen Befreiungsbewegung zu etablieren. Die Niederlage 1967 und die daraus resultierende Vertreibung der PLO aus Jordanien in den Libanon 1970 sowie die nächste Vertreibung 1982 ins tunesische Exil infolge des ersten Libanonkrieges, verschlechterten das Verhältnis zwischen Palästinensern und anderen arabischen Staaten deutlich, so-

29 Besatzungsstrukturen weisen vor diesem Hintergrund ein höchst ambivalentes Potenzial auf. Auf der einen Seite wird die Bevölkerung unterdrückt, marginalisiert, geschwächt und bestraft, auf der anderen Seite entstehen beispielsweise seit den 1970erJahren mit Unterstützung der israelischen Regierung therapeutische Zentren in den besetzten palästinensischen Gebieten zur Aufarbeitung traumatisierender (Kriegs-) Erfahrungen. Deren Etablierung mithilfe von ausländischen NGOs, Regierungen und Stiftungen vor Ort, lässt sich laut Brunner (2014) an drei miteinander verbundenen und zugleich gegenläufigen Prozesse festmachen: Der israelische Versuch eine palästinensische Zivilgesellschaft zu entwickeln, der Ausbruch der ersten Intifada in den 1980er-Jahren und dem Osloer Friedensabkommen in den 1990er-Jahren. Siehe auch Brunner, José (2014), „Die Politik des Traumas – Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im Israel/Palästina-Konflikt“, Frankfurt: Suhrkamp. 30 Die PLO ist heute eine Dachorganisation verschiedener nationalistischer palästinensischer Fraktionen (islamistische Fraktionen wie die Hamas werden nicht durch die PLO vertreten), die die Vertretung aller Palästinenser, auch derer im Exil, anstrebt. Die stärkste Fraktion ist die 1959 von Jassir Arafat gegründete Fatah. Die PLO wurde im Mai 1964 auf der konstituierenden Tagung des PNC (Palästinensischer Nationalrat) auf Initiative des damaligen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegründet um eine Vertretung der Palästinenser im Rahmen einer panarabischen Bewegung zu schaffen. Von 1969 bis zu seinem Tod 2004 war Jassir Arafat Vorsitzender der PLO. Mittlerweile ist die PLO vom Feind zum Friedenspartner avanciert.

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dass das palästinensisch-arabische Verhältnis bis heute schwierig und ambivalent ist. (Milich 2005: 43 ff.) Die 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, die vor allem von den national-religiösen Juden seither als „befreite Gebiete“ bezeichnet werden, wurden Siedlungsgebiet; auf den offiziellen israelischen Landkarten wurde die „Grüne Linie“, das heißt die provisorische Grenze seit dem Waffenstillstandsabkommen 1949, vielfach nicht mehr gekennzeichnet. Die national-religiösen Juden unterstützten seit den 1920er-Jahren maßgeblich den zionistischen Staatsgründungsprozess, den sie als erstes Anzeichen für das bevorstehende Kommen des Messias deuteten. Den Krieg von 1967 verstanden sie vor diesem Hintergrund als Teil des messianischen Erlösungsprozesses (Baumgart 2006: 148 ff.).31 Erst der Krieg von 1973, der mit einem Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens auf dem Sinai und den Golanhöhen begann und nach anfänglichen Erfolgen für die arabische Armee doch zugunsten Israels endete, konnte das Bild des übermächtigen israelischen Siegertypus zerstören. Als Antwort auf das zerrüttete Selbstverständnis und auf den Druck der USA, die territorialen Zugewinne wieder zurückzugeben, gründeten radikale Siedler 1974 die fundamentalistische Dachorganisation „Gusch Emunim“ (Block der Getreuen), die seither einen zentralen Teil der radikalen Siedlerbewegung ausmacht. Mit der Besiedlung des Landes vollziehen sie ihrer Ansicht nach den göttlichen Willen und schaffen die Grundlage für das Erlösungswerk des jüdischen Volkes. Mit der Regierungsübernahme durch die Likud-Partei 1977 wurden die zahlreichen bis dato lediglich nur geduldeten israelischen Siedlungen im biblischen Kernland ‚Judäa und Samaria‘ offiziell legalisiert. Johannsen (2012: 94 ff.) weist darauf hin, dass unter der Leitung des damaligen Landwirtschaftsministers Ariel Sharon eine systematische und mit finanziellen Anreizen versehene Siedlungspolitik einsetzte, die bis heute anhalte. Zahlreiche israelische Familien ziehen seitdem in Siedlungszentren nahe der „Grünen Linie“, angelockt durch Steuervergünstigungen, niedrige Grundstückspreise und der Aussicht auf ein Haus im Grünen. Nur noch eine Minderheit zieht aus rein religiös-ideologischen Gründen in die besetzten palästinensischen Gebiete, diese ist aber aufgrund der Fragmentierung der israelischen Parteienlandschaft sehr einflussreich. Johannsen (2012: 96) erklärt:

31 Baumgart, Claudia (2006), „Religiöser Zionismus und der israelisch-palästinensische Konflikt“, in: Fröhlich, Christiane; Rother, Tanja [Hrsg.], Zum Verhältnis von Religion und Politik im Nahostkonflikt, Heidelberg: Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft 2006, S. 137-158.

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Aufgrund des Verhältniswahlrechts und einer extrem niedrigen Sperrklausel für den Einzug einer Partei ins Parlament war das israelische Parlament von Anbeginn an das Spiegelbild einer vielgestaltigen Gesellschaft. Der Preis für das Maximum an demokratischer Repräsentativität besteht in einer hochgradigen Zersplitterung des politischen Systems. Infolgedessen waren israelische Regierungen bisher stets Koalitionsregierungen, in denen kleine Parteien oft einen disproportional großen Einfluss ausübten. Dennoch waren die beiden großen Parteien, die sozialdemokratische Arbeitspartei und der nationalkonservative Likud, über vier Jahrzehnte lang in den von ihnen geführten Regierungen die mit Abstand stärksten politischen Kräfte. Das stabile Zweiparteiensystem löste sich in den 1990er Jahren auf […]. Der Bedeutungsverlust der großen Parteien kam vor allem dem religiösen Lager zugute.

Der zunehmend wachsende Einfluss der Religiösen in der politischen Parteienlandschaft Israels, erschwert eine friedliche Beilegung des Konflikts mit den Palästinensern, denn die tiefe Religiosität geht prinzipiell mit einem großen Misstrauen gegenüber den Palästinensern und einer vehementen Zurückweisung einer Rückgabe von Territorien sowie einer Teilung Jerusalems einher. Die Verbindung zwischen Religion und Nationalismus ist in diesem Kontext als eine Entwicklung innerhalb des Zionismus zu verstehen, die sich im Zuge der Gebietseroberungen von 1967 immer stärker innerhalb der israelischen Politik etablieren konnte. Gleichzeitig begann in dieser Phase die politische Instrumentalisierung der Shoah32, die bis in die 1960er-Jahre ein Tabuthema auch in der israelischen Ge-

32 Die prozesshafte Instrumentalisierung der Shoah zog beispielsweise eine bis heute andauernde Stereotypisierung der Araber, insbesondere der Palästinenser, als Abbild der Nationalsozialisten nach sich. Diese Zuschreibung funktioniert aber auch anders herum. In der arabischen und besonders in der palästinensischen Lebensrealität, werden israelische Juden paradoxerweise oft als Nachkommen der Nazis deklariert, die ihre Gräueltaten im Nahen Osten fortführen. Auf Facebook bzw. meinem FacebookAccount finden sich gelegentlich Bilder, die israelische Soldaten neben Hitler- und Nazibildern zeigen, mit entsprechenden Bezeichnungen und Beschimpfungen untertitelt. Eine alltägliche Dauererscheinung waren diese inszenierten Fotos vor allem während des Gazakrieges 2014. Auffällig dabei war, dass die Bilder in der Regel nicht von palästinensischen Kontakten, sondern vielmehr von internationalen Kontakten gepostet wurden. Persönlich fande ich diese Darstellungen nur sehr schwer zu ertragen und ent-kontextualisiert. Das ein oder andere Mal war ich kurz davor, die betreffenden Kontakte aus meiner „Freundesliste“ zu löschen, ich entschied mich aber forschungsbedingt dagegen.

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sellschaft war. Im Kontext des Krieges von 1973 lässt sich für diesen Zusammenhang festhalten, dass, auch wenn Israel militärisch betrachtet siegreich aus dem Krieg hervorging, erstmals sein Sicherheitsgefühl bis auf die Grundfesten erschüttert wurde. Das weckte bei vielen Erinnerungen an die Shoah, deren Bearbeitung und Verarbeitung erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem einsetzte. Die psychischen Belastungen der israelischen Soldaten fanden seit der Staatsgründung kaum Erwähnung, sondern es wurde im Gegenteil ein idealisiertes Selbstbild befördert, das nach den Schrecken der Shoah Stärke und Unverwundbarkeit demonstrieren sollte. Der Krieg von 1973 führte jedoch dazu, dass die seelische Verwundbarkeit von Soldaten sowohl von der israelischen Öffentlichkeit als auch innerhalb der Armee verstärkt wahrgenommen wurde. Die im israelischen Selbstbild tief verwurzelte Heldenrhetorik bekam erste Risse (Brunner 2014: 215) und brachte weitreichende Folgen für das heutige israelische Sicherheitsverständnis und den daraus resultierenden militärischen Selbstverteidigungsmechanismen mit sich. Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich selbstverständlich nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind an zahlreiche, oft divergierende politische, soziale und kulturelle Prozesse gekoppelt. Israel entwickelte sich seit den späten 1970er-Jahren von einer sozialistisch geprägten Gesellschaft mit kollektiven Idealen hin zu einer liberalen und individualistischen Gesellschaft mit kapitalistischen Wertvorstellungen. Zusammen mit dem Friedensabkommen mit Ägypten 1979 und dem israelischen Angriff auf die PLO im Libanon 1982, führte dies zu einer immer stärkeren weltanschaulichen Fragmentierung der israelischen Gesellschaft. Für die weitere Entwicklung des Konfliktes und für das palästinensische Widerstandsverständnis ist darüber hinaus die Entstehung der ersten Intifada von weitreichender Bedeutung, der ein Jahrzehnt wachsender Unterdrückung, Landnahme und Diskriminierung vorausging. Die erste Intifada, in deren Kontext auch die Entstehung der radikalislamischen Hamas33 zu begreifen ist, begann als sogenannter ‚Krieg der Steine‘34 im Dezember 1987 im Flüchtlingslager Dscha-

33 Siehe beispielsweise: Croitoru, Joseph (2007), „Hamas. Der islamische Kampf um Palästina“, München: C.H. Beck; Ders. (2003), „Der Märtyrer als Waffe. Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats“, München: dtv 2006; Baumgarten, Helga (2006), „Hamas. Der politische Islam in Palästina“, München: Diedrichs. 34 Die Intifada ging nicht zentriert von einer palästinensischen Partei aus und war eine Massenbewegung vor allem der palästinensischen Jugend, die im Gegensatz zur israe-

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baliya, im Norden des Gazastreifens. Der aktive Widerstand gegen die israelische Besatzung, insbesondere auch mittels Taktiken des zivilen Ungehorsams35, ermöglichte es vielen jungen Palästinensern ihre Selbstachtung wiederzuerlangen, die unter dem jahrelangen Besatzungsalltag gelitten hatte. Sie wurden von passiven Opfern zu aktiven Akteuren, die von den arabischen Medien zu Helden stilisiert wurden. Zugleich war die erste Intifada aber auch eine Auflehnung der jungen Generation gegen ihre Eltern und gegen die palästinensische Führung, die politisch seit ihrer Niederlage im ersten Libanonkrieg 1982 nur aus dem tunesischen Exil heraus agieren konnte, das heißt, fernab der palästinensischen Lebensrealität. Wie wenig die späteren Entscheidungsträger des Osloer Friedensabkommens von 1993 über das konkrete Leben in den besetzten palästinensischen Gebieten wussten, beschreibt auch der palästinensische Schriftsteller und Menschenrechtsanwalt Raja Shehadeh in seinem autobiografischen Roman „Wanderungen in Palästina“ (2011: 133-137)36: Ich befasste mich intensiv mit dieser Angelegenheit, unterbreitete meine Vorschläge und reiste dann zur Fortsetzung der Gesprächsrunden, die ab Dezember 1991 in Washington D.C. stattfanden. Ich stellte schon bald fest, dass Jassir Arafat, der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), der die Delegation von Tunis aus instruierte, andere Interessen verfolgte. Sein Hauptziel war die Absicherung der Anerkennung der PLO. Drei Jahre später wurde dieses Ziel in der „Prinzipienerklärung“ erreicht, allerdings um den Preis, dass die Siedlungen aus den Zuständigkeiten der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgeschlossen wurden. Diese Behörde hatte auch nicht die Macht, die Gebietsaufteilungspläne für die Dörfer und Städte zu verändern oder die israelischen Ansprüche auf das für die Siedlungen vorgesehene Land zurückzuweisen. Ich war bestürzt und entsetzt. Mit einem Schlag führte politischer Eigennutz dazu, alle unrechtmäßigen Veränderungen, für deren Annullierung wir in den besetzten Gebieten zwei Jahrzehnte lang gekämpft hatten, zu akzeptieren. Trotz der fundamentalen Mängel wurden die Abkommen von Oslo von den meisten Palästinensern begrüßt. […] Um die Zustimmung zu den Abkommen zu vergrößern und die Bevölkerung davon abzubringen, den Kampf gegen die

lischen Armee kaum Waffen zur Verfügung hatte, sondern in erster Linie mit Steinen und Molotowcocktails auf die israelischen Soldaten zielte. 35 Beispielsweise wurde die Geschäfte täglich nur stundenweise geöffnet, israelische Erzeugnisse boykottiert, Abgaben und Steuern nicht mehr errichtet, Hilfskomitees zur Organisation von Aktionen gegründet und die verbotene palästinensische Fahne an Stellen gehisst, an denen sie nur schwer wieder zu entfernen war. 36 Shehadeh, Raja (2007), „Wanderungen in Palästina. Notizen zu einer verschwindenden Landschaft“, Zürich: Unionsverlag 2011.

84 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Besatzung fortzusetzen, flossen mehr internationale Spendengelder in die besetzten Gebiete. Nichtregierungsorganisationen wurde für sogenanntes Demokratie-Training der Zugang zu großen Zuschüssen erleichtert, um die Illusion zu schüren, Palästina verfüge nun über ein Selbstbestimmungsrecht und alles, was der Bevölkerung fehle, sei eine bessere Unterrichtung in demokratischem Handeln. […] Wir waren überall von Siedlungen umgeben, die im Zentrum unseres Kampfes gegen die Besatzung gestanden waren, und Israel fuhr fort, sie ständig auszudehnen und neue auf unserem Land zu errichten, aber trotzdem waren viele der Meinung, die Abkommen von Oslo würden den Weg zu einem künftigen Frieden zwischen uns und dem israelischen Volk ebnen. Zu den wenigen Konzessionen, zu denen die israelische Regierung bereit war, gehörte die Zustimmung zur Rückkehr einer Reihe von PLO-Kadern in die palästinensischen Gebiete. Selma Hasan war eine von ihnen. […] Natürlich war sie begeistert von der Vorstellung, nun Gegenden von Palästina besuchen zu können, die sie noch nie betreten hatte. Am Morgen eines Wintertages planten Penny und ich einen Ausflug zum Toten Meer und luden Selma ein, uns dabei zu begleiten. […] Als wir mit zehnminütiger Verspätung bei Selma ankamen, stand sie frierend draußen an der Straßenecke. Unter Zähneklappern brachte sie heraus, sie habe keine Ahnung gehabt, dass es in Ramallah so kalt werden könnte. „Was hast du erwartet?“, fragte ich. „Es liegt höher als Jerusalem. Die Temperatur ist immer wenigstens ein oder zwei Grad niedriger.“ „Aber der Nebel und die feuchte Luft! Das ist wie am Meer. Tunis war viel wärmer, aber der Nebel heute hat mich an manchen Wintertag dort erinnert.“ „Das Land ist zum Meer hin offen. Es gibt keine Puffer. Wenn du an einem klaren Tag vom Dach deines Wohnhauses Ausschau hieltest, könntest du bist nach Tel Aviv sehen. Es ist nicht wirklich weit weg.“ „Ich habe viel über die Gegend hier gelesen und von Leuten erzählt bekommen und mir Fotos angesehen, aber ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen.“ „Warst du nie zuvor hier? Nicht einmal vor 1967?“ „Meine Familie stammt aus Safed und nach 1948 verschlug es sie nach Beirut. Ich war nie zuvor im Westjordanland.“ […] Für Neuankömmlinge wie Selma beginnt die Geschichte dieser Gegend in der Gegenwart. Sie erfuhr erst durch mich, dass es bis vor wenigen Jahren zwischen Ramallah und Ost-Jerusalem, die bis dahin fast wie eine einzige Stadt gewesen waren, keine Grenzbarrieren gegeben hatte.

Zunächst jedoch schien die erste Intifada für die Palästinenser ein erfolgreicher Schritt in Richtung Unabhängigkeit zu sein. Sie legitimierte auf internationaler Ebene den Kampf für einen eigenen Staat, ermöglichte die im November 1988 vom palästinensischen Nationalrat (PNC) in Algier verkündete „Proklamation

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des Palästinensischen Staates“37 und gilt als Wegbereiter des Osloer Friedensprozesses 1993 zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und dem Vorsitzenden der PLO, Jassir Arafat. Die Vereinbarungen von Oslo hatten neben der beidseitigen nationalstaatlichen Anerkennung die Etablierung eines eigenständigen palästinensischen Staates zum Ziel. In den besetzten palästinensischen Gebieten konnte sich fortan die palästinensische Autonomiebehörde festigen. Doch durch die (nur als vorläufig geplante) Aufteilung der Westbank in die drei (Sicherheits-)Zonen, „Area A“, „Area B“ und „Area C“, die den Palästinensern seither unterschiedliche Grade an Autonomie zugesteht, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Palästinenser durch Abriegelung, Checkpoints, Mauerbau, verstärkter militärischer Präsenz, Landnahmen und Siedlungsbau, Verhaftungen, Folter und gezielte Tötungen zusehends, sodass der Osloer Friedensprozess, der als historischer Frieden hätten enden können, heute als gescheitert betrachtet werden kann. Auch die innergesellschaftliche Kritik an den patriarchalen und korrupten politischen Strukturen der palästinensischen Führung wurde immer heftiger. Schon im April 1994, kurz nach der Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens, ereignete sich das erste Selbstmordattentat auf israelischem Boden, das nicht nur die israelische Gesellschaft, sondern auch die internationale Öffentlichkeit erschütterte und das Bild vom nicht vorhandenen Verhandlungspartner stärker etablieren und festigen konnte. Im November 1995 wurde der damalige Ministerpräsident und Mitinitiator des Osloer Friedensabkommens, Jitzchak Rabin, von dem nationalreligiösen Siedler Jigal Amir38 ermordet, das den ohnehin schon stagnierenden Friedensprozess vorläufig beendete und 1996 dem Likud39Kandidaten Benjamin Netanjahu in den erforderlichen Neuwahlen zum Sieg verhalf. Zu den sich häufenden Märtyrer-Attentaten bekannten sich vorwiegend die fundamentalistischen palästinensischen Organisationen „Islamischer Jihad“ und „Hamas“, die beide nie den Friedensprozess mittrugen und auch nicht zum

37 In der Proklamation wird das Existenzrecht Israels anerkannt, es wird ein vom bewaffneten Kampf abgewandtes palästinensisches Selbstverständnis begründet, dass künftig auf politische Mittel des Dialogs setzen möchte. Siehe auch: Schliwski 2011. 38 Er betrachtete den Friedensprozess als Verrat und Gefahr für den israelischen Staat. 39 Der Likud ist das größte konservative Parteienbündnis in Israel und ist von nationalkonservativen Grundsätzen geprägt. Die Existenz Israels als jüdischer Staat im Nahen Osten steht an erster Stelle. Den Palästinensern wird zugestanden, selbstbestimmt zu leben, aber nicht in einem eigenen, unabhängigen Staat. Jerusalem ist nach Auffassung der Likud ewige und unteilbare Hauptstadt Israels.

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Dachverband der PLO gehören.40 Johannsen (2012: 98) betont, dass die „OsloGegner“ am Konzept eines bi-nationalen Staats Palästina unter Einschluss der israelischen Juden festhielten, und die Alternative eines palästinensischen Ministaats, auf dem Territorium der Westbank und des Gazastreifens, vehement bekämpften. Im Jahr 2000 brach die zweite Intifada aus; ein neuer umfassender palästinensischer Volksaufstand gegen die israelische Besatzung. Im Gegensatz zur ersten Intifada gründete dieser Aufstand verstärkt auf Waffengewalt und Selbstmordattentaten. Dadurch beschränkte sich die zweite Intifada nicht nur auf die besetzten palästinensischen Gebiete, sondern wurde vor allem durch die Märtyrer-Attentate in die israelischen Zentren getragen. Mit einer groß angelegten Militäroffensive im Frühjahr 2002 versuchte die israelische Regierung, den sogenannten terroristischen Strukturen in der Westbank Einhalt zu gebieten. Die Gewalt eskalierte und es kam zu national wie international umstrittenen Militäraktionen wie beispielsweise in Jenin im April 2002 (siehe Kapitel 6). In den ersten unabhängigen Wahlen wurde im Gazastreifen 2006 die radikalislamische Hamas an die Spitze der Regierung gewählt. Seitdem hat die israelische Regierung eine Blockade über den Gazastreifen verhängt. Daraus folgt, dass sich die Lage für die Zivilbevölkerung seither zusehends verschlechtert. Im Winter 2008/09, 2012 und zuletzt im Sommer 2014 kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen, denen vor allem Palästinenser zum Opfer fielen. Rana Nashashibi, Direktorin des „Palestinian Counseling Centers“ in Ramallah spricht hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Kontexts von einem multi-traumatischen Umfeld und davon, dass die israelische Gewalt in den besetzten

40 Während sich der „Islamische Jihad“ auf den bewaffneten Kampf beschränkt, ist die Hamas mehr als nur eine paramilitärische Organisation. Sie versteht sich als soziale Protestbewegung. Ursprünglich ist Hamas aus der palästinensischen Muslimbruderschaft entstanden, die die Wiederbelebung islamischer Werte zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts propagierte. Johannsen (2012: 100) weist darauf hin, dass „[ihr] breit gefächertes soziales, ideologisches, politisches und militärisches Engagement [ihr] ein hohes Spendenaufkommen in der frommen palästinensischen Mittelschicht und in fundamentalistischen religiösen Kreisen der arabischen Welt [sichert]. Ihre radikale Programmatik und die Strategie des Terrors machen Hamas keineswegs zu blindwütigen Attentätern. Vielmehr folgten ihre Attentate stets kühler Berechnung. […] Hamas untergrub mit dieser kalkulierten Politik die Glaubwürdigkeit der PLO und der Autonomiebehörde als Partnerin Israels im Friedensprozess.“ Siehe auch Croitoru (2007); Baumgarten (2006).

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palästinensischen Gebieten eine Dauererscheinung geworden sei und ihr militärisches Ziel längst aus den Augen verloren habe. Die Hauptmotivation bestünde vielmehr darin, die palästinensische Zivilbevölkerung systematisch einzuschüchtern, ihre kognitiven Fähigkeiten einzuschränken und ihr Streben nach Unabhängigkeit zu brechen.41 Eine ähnliche Sichtweise vertritt auch der norwegische Arzt Mads Gilbert in einem Interview mit dem ebenfalls aus Norwegen stammenden Dokumentarfilmregisseur und Journalisten Truls Lie42: Er gehe davonaus, dass es einer israelischen Doktrin entspreche, die palästinensische Zivilbevölkerung so hart zu treffen und zu bestrafen, dass sie jegliche Energie verliere, der Besatzung weiterhin Widerstand zu leisten.43 Zum besseren Verständnis der scheinbar ausweglosen Situation zwischen Israelis und Palästinensern, wird im Folgenden die Bedeutung von Erinnerung und Gedächtnis im israelisch-palästinensischen Konflikt näher erörtert.

41 Nashashibi, Rana, „The Psychological and Mental Effects of Systematic Humiliation by Israel Against the Palestinians“, 2003. http://www.pcc-jer.org/english/article4_ en.php (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 42 Truls Lie traf ich auf meiner Forschungsreise im Frühjahr 2014. Nachdem er zuvor in Israel war, nahm er einige Tage am „Freedom Ride“ teil, um Filmmaterial für eine Dokumentation über den Israel-Palästina-Konflikt zu sammeln. Mads Gilbert, der nicht nur Arzt in den palästinensischen Gebieten war, sondern auch in Birma, Angola, Kambodscha und Kurdistan, ist bekannt für seine radikalen Ansichten und wird daher durchaus umstritten rezipiert. So rechtfertigte er beispielsweise die Anschläge vom 11. September damit, dass die Angriffe keine Überraschung nach der westlichen Politik der letzten Jahrzehnte seien. Die Unterdrückten hätten auch ein moralisches Recht, die USA mit allen Waffen anzugreifen, derer sie habhaft werden könnten. http://www.fr-online.de/politik/mads-gilbert-der-umstrittenesamariter,1472596,3205660.html (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 43 Das 10-minütige Interview ist abrufbar unter folgendem Link: https://www.you tube.com/watch?v=ni9syUpbs-E (zuletzt aufgerufen: 06.02.2016).

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2.3 D AS ZWEIFACH VERHEISSENE L AND . 44 E RINNERUNG UND G EDÄCHTNIS IM ISRAELISCH PALÄSTINENSISCHEN K ONFLIKT The destruction of the collective memory of the Other, through the construction of one’s own, is a central element in the formation of national identities. Violence, direct as well as symbolic, plays thereby a crucial part as collective memories are produced, reproduced, disseminated and consumed within concrete historical power relations, interests and conceptual possibilities and limitations. In the place of Israel/Palestine control of the collective memory is part of the internal and external violence each of the rival collectives applies to secure of its reconstruction. That is the way the two sides to the conflict construct their collective identity in a dialectical process whose impelling force is the total negation of the Other. (GUR ZE’EV 1998: 162)45 Wir leben in einer Zeit, in der die Erinnerung wie noch niemals zuvor zu einem Faktor öffentlicher Diskussion geworden ist. An die Erinnerung wird appelliert, um zu heilen, zu beschuldigen, zu rechtfertigen. Sie ist zu einem wesentlichen Bestandteil individueller und kollektiver Identitätsstiftung geworden und bietet einen Schauplatz für Konflikt ebenso wie für Identifikation.46

44 Nach dem Titel eines gemeinsamen Buchprojekts von dem israelischen Autor Yoram Kaniuk und dem palästinensischen Autor Emil Habibi: Kaniuk, Yoram; Habibi, Emil (1996), „Das zweifach verheißene Land“, München: List 1997. 45 Gur Ze’ev, Ilan (1998), „The Morality of Acknowledging/Not-Acknowledging the Other’s Holocaust/Genocide“, in: Journal of Moral Education 27 (1998) 2, S. 161177. 46 Zitat von Paul Antze und Michael Lambek in: Neuwirth, Angelika et al. (2004), S. 27.

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Potenziell traumatische Erlebnisse, die Erinnerung an diese sowie der Widerstand gegen als ungerecht und unmenschlich empfundene gesellschaftliche Strukturen sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich wechselseitig. Der Israel-Palästina-Konflikt ist ein Konflikt, der viele miteinander verwobene Ebenen berührt: Er ist sowohl ein politisch-ideologisch motivierter Territorialkonflikt, als auch ein Konflikt um das rechtmäßige historisch-kulturelle Erbe und in diesem Zusammenhang auch religiös konnotiert. Er ist ein Kampf um das vermeintlich einzig legitime (historische) Narrativ und damit ein Erinnerungskonflikt. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein Paradebeispiel für die Territorialisierung von Geschichte (im Sinne historischer ‚Fakten‘), Gedächtnis (im Sinne von erinnerter Geschichte) und geotheologischen Ansprüchen. Durch die israelische Besatzung mit all ihren diskriminierenden und unterdrückenden Maßnahmen ist er ein höchst asymmetrischer Konflikt. Auch wenn im Folgenden einander ähnelnde Umgangsweisen mit kollektiven Erfahrungswelten beleuchtet werden, so muss dennoch berücksichtigt werden, dass die jeweiligen Ausgangspositionen sehr unterschiedlich sind: Auf der einen Seite besteht ein souveräner Staat mit nationalen (Gedenk-) Institutionen und einer gut ausgebildeten Armee, auf der anderen Seite findet sich lediglich ein quasistaatliches Gebilde, dessen Bevölkerung sowohl unter der israelischen Besatzung als auch unter den korrumpierten Strukturen innerhalb der eigenen Gesellschaft leidet (Joggerst 2004: 298).47 Oder wie es der Schriftsteller Elias Khoury (1998: 19)48 formuliert: The history of Israel describes the foundation of a state which now exists while the Palestinians have to write the history of an expulsion which remains unsolved.

Die Bedeutung von Erinnerung (als ein aktiver, in der Gegenwart verorteter Vorgang) und kollektivem Gedächtnis (als passiver, aber durch die ‚Erinnerungsarbeit‘ veränderlicher Behälter) ist essentiell für das Verständnis des gegenwärtigen Konfliktes, in dem kollektive Identitäten49 mit Hilfe von Erinne-

47 Joggerst, Karin (2004), „Vergegenwärtigte Vergangenheit(en). Die Rezeption der Shoah und der Nakba im israelisch-palästinensischen Konflikt“, in: Höpp, Gerhard et. al. [Hrsg.] (2004), Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus“, Berlin: Klaus Schwarz Verlag, S. 295-335. 48 Zitat in: Leenders, Reinoud; Simpfendorfer, Ben (1998), „The Search for Palestine’s New History“, in: Middle East International, Juni 1998, S. 18-20. 49 Die kollektive Identität als sogenannte Wir-Identität, die immer in Wechselwirkung mit Alteritätskonzepten steht, erfüllt zentrale Funktionen in den unterschiedlichen Ge-

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rung(skonstruktionen) und Nationalismen produziert und instrumentalisiert werden. Damit einhergehend können die Bezugsrahmen für Opfer- und Heldenbzw. Märtyrerrhetoriken je nach Situation verändert oder stabilisiert werden. Das kollektive Gedächtnis ist als diskursives Konstrukt zu verstehen, unter dem vielfältige heterogene Phänomene von Erinnern und Vergessen50 zusammengefasst werden. Das kollektive Gedächtnis fungiert dabei als ein Oberbegriff

dächtnistheorien. Die Voraussetzung, dass sich Identität überhaupt entwickeln kann, ist erst durch ein individuelles, funktionierendes Erinnerungsvermögen möglich. Es erweist sich als problematisch von einer festen Identität zu sprechen. Vor dem Hintergrund postkolonialer Theoriebildung empfiehlt es sich daher, von flexiblen Identitätskonstruktionen, Subjektpositionierungen oder von einer Vielzahl von Teilidentitäten zu sprechen, die ein Individuum ausmachen. Die für den Kontext dieser Arbeit wichtigste Form kollektiver Identität ist die nationale Identität (auch ethnische Identität genannt), die nach Benedict Anderson (1991) als „imagined community“, also als soziales Konstrukt beschrieben werden kann. Eine besonders griffige Definition, die auch die Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit von Identität hervorhebt, bietet hier auch Jan Assmann (1997: 132): „Unter einer kollektiven Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich die Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht an sich, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder schwach wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren mag.“ Der wichtige, wenn nicht gar ausschlagende Aspekt innerhalb der Identitätsbildung, die Alterität, kommt in dieser Definition jedoch nicht zur Sprache. Siehe: Assmann, Jan (1997), „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“, München: C.H. Beck. Siehe hierzu beispielsweise auch Stuart Hall: https://www.researchgate.net/profile/Kevin_Robins2/publication/282575965_Interrup ting_Identities_TurkeyEurope/links/5612bc3408aea34aa92997e0.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016); Vamik Volkan (1999; 2005), Angela Kühner (2008), Astrid Erll (2011).Rashid Khalidi (1997:1) schreibt beispielsweise über die alltäglichen Schwierigkeiten und Diskriminierungen, denen die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist: „For it is at these borders and barriers that six million Palestinians are singled out for ‚special treatment‘, and are forcefully reminded of their identity: of who they are and of why they are different from others.“ 50 Erinnern und Vergessen sind verschiedene Prozesse desselben Phänomens: des Gedächtnisses. (Soziales) Vergessen ist Voraussetzung für (kulturelle) Erinnerung. Erll, Astrid (2011), „Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung“, Stuttgart: Metzler, hier S. 7.

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[…] für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt. (Erll 2011: 6)

Über die unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachdisziplinen hinweg besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass Erinnern als ein Prozess, Erinnerungen als dessen Ergebnis und Gedächtnis51 als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur zu verstehen sei. Wesentliche Merkmale des Erinnerns sind, wie weiter oben erläutert, sein Gegenwartsbezug und sein konstruktiver Charakter. Erinnerungen sind subjektive, selektive und sowohl vom Kontext abhängige als auch in diesen eingebundene Rekonstruktionen. Astrid Erll (2011: 7) schreibt dazu: Vergangenheitsversionen ändern sich mit jedem Abruf, gemäß den veränderten Gegenwarten. […] Individuelle und kollektive Erinnerung ist damit zwar nie ein Spiegel der Vergangenheit, wohl aber ein aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der Erinnernden in der Gegenwart.

Bei der Beschäftigung mit der Entstehung und Bedeutung von kollektiven Gedächtnissen ist bis heute Maurice Halbwachs (1877-1945) zentraler Referenzpunkt.52 Er hat in den 1920er-Jahren die These entwickelt, dass Erinnerung sich über den sozialen Rahmen, in denen Menschen eingebunden sind, entwickelt. Halbwachs spricht in diesem Sinne von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Jedes individuelle Gedächtnis benötigt demzufolge einen sozialen Bezugsrahmen, um sich zu entwickeln und zu konstituieren. Während sich zwar das einzelne Individuum erinnert, bestimmt aber das Kollektiv, was des gemeinsamen Gedenkens wert ist. Das Individuum kann entsprechend an Erinnerungen partizipieren, die es nicht selbst erlebt hat. Das kollektive Gedächtnis als Summe selektierter, persönlicher Erfahrung ist folglich identitätsstiftend, sinngebend und wandelbar. Es spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Konstruktion und Wahrung nationaler Identitäten. Es existiert eine breite, von Halbwachs ausgehende Diskussion um das Konzept und die Wirkungsweise des kollektiven Gedächtnisses, das im deutschsprachigen Raum vor allem von Jan und Aleida Assmann weiterentwickelt wurde (Joggerst 2004: 300). Jan Assmann erweiterte Halbwachs’ Theorie um das Konzept des kulturellen Gedächtnisses (transgene-

51 Erll (2011:7) hebt hervor, dass Gedächtnis unbeobachtbar ist. Kollektives Gedächtnis sei der Fokus kulturwissenschaftlicher Neugier, Erinnerungskulturen seien ihr Untersuchungsgegenstand. 52 Halbwachs, Maurice (1967, posthum), „Das kollektive Gedächtnis“, Stuttgart: Enke.

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rationale Überlieferungen, kultureller Sinn, Fernhorizont), das er vom kommunikativen Gedächtnis (Alltagskommunikation, Generationengedächtnis, sozialer Sinn, Nahhorizont) unterscheidet: Das kulturelle Gedächtnis ist der jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenheit stützt. (Assmann/Hölscher 1988: 15)53

Aleida Assmann wies auf die wichtige Rolle von Medien als Träger des kulturellen Gedächtnis hin.54 Das kollektive Gedächtnis (im assmannschen Verständnis) kann ideologische Funktionen, beispielsweise im Sinne der Geschichtsinstrumentalisierung erfüllen, das bedeutet, dass die Vergangenheit in der Gegenwart durchaus divergent interpretiert werden kann. Dabei sind politische, mediale und bildungspolitische Eliten maßgeblich an der (Re-)Inszenierung des kollektiven Gedächtnisses beteiligt. Diese sind entsprechend abhängig von den Rezipienten, weil sie den hegemonialen Diskurs wiederum akzeptieren, legitimieren und weitertragen. Laut Jan Assmann verfährt das kollektive Gedächtnis rekonstruktiv, ist jedoch in der Gegenwart verortet und formt damit die Zukunft: Die Vergangenheit vermag sich im kollektiven Gedächtnis nicht als solche zu bewahren. Sie wird fortwährend von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her organisiert. Auch das Neue kann immer nur in der Form rekonstruierter Vergangenheit auftreten. Traditionen sind nur gegen Traditionen, Vergangenheit nur gegen Vergangenheit austauschbar. […] Das kollektive Gedächtnis operiert dabei in beide Richtungen: zurück und nach vorne. Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.55

53 Assmann, Jan; Hölscher, Tonio [Hrsg.] (1988), „Kultur und Gedächtnis“, Berlin: Suhrkamp. 54 Assmann, Aleida (1999), „Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“, München: C.H. Beck 2009, vierte Auflage. Für die Bedeutung des zweiten Weltkrieges und der Shoah von weitreichender Bedeutung: Dies. (2006), „Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“, München: C.H. Beck. 55 Zitiert aus: Neuwirth et al. (2004), S. 28.

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Wichtig innerhalb der Erinnerungsforschung ist darüber hinaus das vom französischen Geschichtswissenschaftler Pierre Nora erarbeitete Konzept der „lieux de mémoire“.56 Erinnerungsorte können geografische Orte, Gebäude, Denkmäler und Kunstwerke sein, ebenso aber auch historische Persönlichkeiten, Gedenktage, Texte oder symbolische Handlungen. Im Kontext des israelisch-palästinensischen Konfliktes kann das gesamte geografische Territorium als konstruierter und umkämpfter Erinnerungsort begriffen werden.57 Wie der weitere Verlauf der Studie verdeutlicht, zeichnet sich das kollektive Gedächtnis durch seine Medienabhängigkeit und -zentriertheit aus: Medien dienen hier als Vermittlungsinstanzen und Transformatoren zwischen der individuellen und kollektiven Dimension des Erinnerns und sind keine neutralen Erinnerungsträger. Aufgrund der rasanten Entwicklung der Massenmedien, insbesondere der sogenannten ‚Neuen Medien‘, ergibt sich eine schnellere und weltweite Verbreitung von Bildern und Narrativen über die Vergangenheit, zumindest in den technologisch hoch entwickelten Industrieländern. Insbesondere das Fernsehen und das Internet formen heute die Alltagserfahrung und die Erinnerung der meisten Menschen, sodass sich mit Einschränkungen von einer „globalen Erinnerungskultur“ (Erll 2011: 158) sprechen lässt. Erik Meyer (2009: 7)58 beschreibt diesen Prozess in „Erinnerungskultur 2.0“ wie folgt: Digitale Medien prägen nicht nur die Gegenwart gesellschaftlicher Kommunikation, sie bestimmen zunehmend unser Verständnis der Vergangenheit und begründen neue Formen von Geschichtsvermittlung und Opfergedenken.

Unterschiedliche Geschichtsdeutungen und -verständnisse sind Teil des alltäglichen Lebens in Israel und den palästinensischen Gebieten. Die miteinander konkurrierenden Ansprüche tauchen beispielsweise in der Verwendung von Namen und Ortsbezeichnungen auf. Dies ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung auch für das Schreiben dieser Arbeit: Wie weiter oben bereits erläutert, impliziert die Verwendung von einzelnen Begriffen nicht selten die Befürwortung des einen oder anderen Geschichtsverständnisses und damit folglich eines Be-

56 Nora, Pierre (1990), „Zwischen Geschichte und Gedächtnis“, Berlin: Wagenbach. 57 Erinnerungsorte konstituieren jedoch kein kollektives Gedächtnis im halbwachsschen Sinne, da Nora davon ausgeht, dass es „lieux de mémoire“ gibt, weil es keine „milieux de mémoire“ mehr gibt. Noras äußerst strikte Trennung von Geschichte und Gedächtnis ist in diesem Kontext nicht unproblematisch. Siehe hierzu auch: Erll (2011). 58 Meyer, Erik (2009), „Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien“, Frankfurt; New York: Campus.

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sitzanspruches. Dies beginnt schon bei der Benennung des Landes: Israel als Bezeichnung für das historische Palästina, also auch für die 1967 besetzten Gebiete, unterstützt die zionistisch-israelische Interpretation. Der jüdische Anspruch auf Palästina als „Eretz Irsael“ behauptet die ununterbrochene Präsenz und Bindung des jüdischen Volkes an dieses Land, die arabische Sichtweise stellt diese Kontinuität wiederum infrage und verweist gelegentlich auf die noch vor den Israeliten im Land siedelnden Kanaaniter als die eigenen Vorfahren. Palästina als politische und geografische Bezeichnung für das Land zwischen Mittelmeer und Jordan stützt entsprechend den palästinensischen Standpunkt. Ähnlich verhält es sich mit der Bezeichnung Jerusalems, die beide Seiten für sich als (unteilbare) Hauptstadt beanspruchen. Die israelische Bezeichnung Jeru’shalaim konkurriert mit der arabischen Bezeichnung al-Quds. Der israelisch-palästinensische Konflikt entfaltet sich am Nationalismus der jeweils anderen Seite, den er zu zerstören versucht. Damir-Geilsdorf (2008: 9)59 schreibt hierzu, dass sich beide um den zeitlichen Vorrang in einem machtvoll besetzten Raum streiten, beide die Archäologie bemühen, beide mit Namen und Karten argumentieren. Sie verweist auf den Zusammenhang mit Machtstrukturen und Deutungshegemonien: Historische Narrative und Erinnerungen, die eine konstitutive Rolle für die Konstruktion gruppenspezifischer Identitäten spielen, stehen im Zusammenhang mit Machtstrukturen, konkurrierenden Deutungshegemonien sowie zeitlichen und räumlichen Kontexten.

Im Israel-Palästina-Konflikt spielt in diesem Kontext die religiöse Komponente eine wichtige Rolle innerhalb kollektiver Erinnerungskonstruktionen. Beispielsweise wurde die Hebräische Bibel schon in der Antike als großes Drama göttlichen Wirkens an Israel mit der Ereignisabfolge von Erwählung, Exodus, Landnahme, Exil und verheißene Erlösung interpretiert: [ein] Drama, das in der Diaspora in der synagogalen Liturgie wie auch in der theologischen Reflexion immer von neuem aktualisiert zur zentralen Erinnerungsfigur des kollektiven Gedächtnisses geworden war. (Neuwirth 2004a: 35)

Seither wird es als zentrales Mittel zur Legitimierung der rechtmäßigen Ansprüche auf das Land verwendet.

59 Damir-Geilsdorf, Sabine (2008), „Die nakba erinnern. Palästinensische Narrative des ersten arabisch-israelischen Kriegs 1948“, Wiesbaden: Reichert.

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2.4 Z UR N ATIONALISIERUNG VON (E RINNERUNGS -)L ANDSCHAFTEN Raja Shehadeh schreibt in seinem Roman „The Third Way: A Journal of Life in the West Bank“ aus dem Jahre 1982, dass er die israelisch-palästinensische Landschaft nur noch durch nationale Symbolik betrachten könne, die ihr durch den seit Jahrzehnten andauernden Konflikt auferlegt wurde: Sometimes, when I am walking in the hills… unselfconsciously enjoying the touch of the hard land under my feet, the smell of thyme and the trees around me, I find myself looking at an olive tree, and as I am looking at it, it transforms itself before my eyes into a symbol [… ] of our struggle, of our loss. And at that very moment I am robbed of the tree; instead there is a hollow space in which anger and pain flow.60

Landschaft wird hier zu einem Symbol des Konfliktes und ist gebunden an raum-zeitliche Konstruktionen von Erinnerung und Widerstand. Insbesondere Bäume fungieren im israelisch-palästinensischen Kontext als kulturelle Marker kollektiver Erinnerung und Identität, allerdings in gegenläufiger Art und Weise. Auf palästinensischer Seite symbolisieren sie Entwurzelung, Deterritorialisierung und Exil; auf israelischer Seite Rückkehr und Rückgewinnung der biblischen Heimat. In Anlehnung an Carol Bardenstein (1999)61 verstehe ich kollektive Erinnerung sowohl als Symptom als auch als Antwort auf einen erfahrenen Bruch, auf ein Fehlen, auf einen Verlust. The particulars of the ‚something‘ that is absent, and how or why it has come to be experienced as no longer continuously present […] are part of what characterize and distinguish the shape and texture of specific individual or collective memories, as are the specific components selected, highlighted, and elaborated in the construction of memory. (Bardenstein 1999: 148)

Bäume, speziell Olivenbäume, symbolisieren im palästinensischen Kontext sowohl Entwurzelung als auch Verwurzelung, das heißt, sie stehen für die unauflösbare Verbindung vom ‚palästinensischen Volk‘ und palästinensischer Heimat.

60 Zitiert in Damir-Geilsdorf (2005), S. 180. 61 Bardenstein, Carol B. (1999), „Trees, Forests, and the Shaping of Palestinian and Israeli Collective Memory“, in: Bal, Mieke; Crewe, Jonathan; Spitzer, Leo [eds.] (1999), Acts of Memory. Cultural recall in the present, Hanover: University Press of New England, S. 148-171.

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Sie sind Symbol des palästinensischen Widerstands, von „sumud“62, und damit Zeugen des kollektiven palästinensischen Leids. Im israelischen Kontext dienen Bäume im Hinblick auf die Rückkehr der Juden ins „Gelobte Land“ als besonders identitätsstiftend. Die Pflanzungen von Bäumen und/oder ganzen Wäldern unterstützen vor dem Hintergrund der „Erfindung von Traditionen“63 das Narrativ der Rückkehr insofern, als dass sie buchstäblich und symbolisch ‚Wurzeln schlagen‘. Zugleich verweisen Bäume damit auf das Narrativ, dass der ‚neue Jude‘ die Wüste zum Erblühen gebracht habe und damit über rechtmäßige Ansprüche über das Land verfüge: Tree-planting in the Zionist present […] has reshaped the time line of Jewish collective memory from one open-ended exile after dispersion, to a completed cycle ending in return. (ebd.: 159)

Darüber hinaus dienen Bäume der Überschreibung der palästinensischen Erinnerung, weil neue Baumbestände und/oder Wälder auch dort angepflanzt werden, wo einst palästinensische Orte das Landschaftsbild prägten. Der „Jewish National Fund“ (JNF), der seit der Staatsgründung für die landschaftliche Gestaltung des Landes zuständig ist, bietet derartige Baumpflanzungen auch für Juden an, die nicht in Israel leben: Sie werden repräsentativ für die jeweiligen Spender gepflanzt. Die Bäume werden symbolisch aufgeladen als „stellvertretende Einwanderer“ und stellen idealerweise eine identitätsstiftende Verbindung zwischen der Diaspora und Israel her. Dies geschieht beispielsweise in Zusammenhang mit religiösen Feierlichkeiten wie die „Bar Mitzvah“. Ebenso versinnbildlichen Bäume potenziell traumatische Erlebnisse jüdischer Geschichte, die mit der im Zionismus als überwunden empfundenen Diaspora in Bezug gesetzt werden. Aus diesem Grund gibt es zahlreiche Projekte, in denen Bäume oder Wälder zur Erinnerung an die Shoah gepflanzt werden. Ein weithin bekanntes Beispiel dürfte hierfür die „Allee der Gerechten unter den Völkern“ in „Yad Yashem“, der zentralen israelischen Shoah-Gedenkstätte sein, „[…] lined with individual trees planted in honor or memory of non-Jews who helped save Jewish lives.“ (Bardenstein 1999: 164) Bemerkenswert ist, dass die Bäume hier für Nicht-Juden gepflanzt wurden. Etwas abseits der „Allee der

62 Das arabische Wort „sumud“ lässt sich im Deutschen am ehesten mit Standfestigkeit übersetzen. 63 Siehe hierzu auch: Benedict Anderson (1983), „Imagined Communities“, London; New York: Verso.

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Gerechten“ befindet sich ein kahler, karger Baum, umgeben von einem schützenden Drahtgestell: [It] does not appear to be alive, and has a plaque in front of it much larger than any of those on the Avenue of the Righteous. In a haunting variant of commemorative treeplanting, the plaque informs the visitor that this is a ,cutting from the original maple tree planted by children under the guidance of their teacher‘, one Irma Lauscher, on Tu Bishvat 1944, in Theresienstadt. (ebd.: 164)

Aufgrund der zentralen Bedeutung, die Bäume in beiden Gesellschaften haben, ist es nicht verwunderlich, dass die Abholzung von Bäumen von der israelischen Armee als Kollektivbestrafung verwendet wird und dies von der palästinensischen Bevölkerung auch so wahrgenommen wird. Julie Norman schreibt in ihrer Einleitung (2010:1): I am walking through an olive grove with Abu Iyad, a coordinator of the popular resistance campaign in the West Bank village of Budrous. „If you ask someone in the village if they know me, Abu Iyad, maybe they will and maybe they won’t. But if you ask them if they know Umm Haya,“ he continues, gesturing towards a gnarled tree ahead, „hey will know that tree. So when a tree is uprooted, it is like watching an old woman whom you have known your whole life die in a single moment.“ The uprooting of olive trees occurs frequently in the West Bank when Palestinian-owned land is confiscated by Israeli occupation forces, usually for the expansion of settlements or the construction of the separation barrier. Bulldozers contracted by the Israeli government, and accompanied by Israeli Defence Force (IDF) escorts, can uproot hundreds of trees in a single day, heedless of the literal and figurative significance of trees to the Palestinian communities to which they belong.

Auch ich wurde während einer Forschungsreise Zeugin, wie Olivenbäume entwurzelt und zerstört wurden. Die Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut der anwesenden Palästinenser bleiben in Erinnerung. Einer der Palästinenser erzählte mir, dass es noch gar nicht lange her sei, dass Siedler zahlreiche Olivenbäume einfach abgebrannt hätten. Er fragte, wie es da sein könne, dass sie behaupten, dieses Land zu lieben.

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2.5 S HOAH

UND NAKBA ALS G RUNDPFEILER ISRAELISCHER UND PALÄSTINENSISCHER I DENTITÄT . Z UR POLITISCHEN I NSTRUMENTALISIERUNG VON O PFER -N ARRATIVEN ZUR ABSICHERUNG TERRITORIALER ANSPRÜCHE

Im Kontext der vorangestellten historischen Einbettung des israelischpalästinensischen Konfliktes sowie der Bedeutung von Erinnerung, lässt sich für den weiteren Verlauf der Arbeit Folgendes festhalten: Die israelische Seite bezieht sich auf die Erinnerung an eine 2000-jährige Diaspora, die immer verbunden war mit Ausgrenzung, Gewalt und Vertreibung, die in der Shoah während des Zweiten Weltkrieges ihren Höhepunkt fand. Sie erinnert sich an die Staatsgründung Israels sowie an den als „Unabhängigkeitskrieg“ ins kollektive Gedächtnis eingegangenen ersten arabisch-israelischen Krieg 1948, der unmittelbar auf die Staatsgründung folgte (Joggerst 2004: 296 ff.). Das israelische nationale Narrativ besitzt einen kohärenten Plot: Es legitimiert sich durch die Berufung auf biblische Geschichte als ‚von Gott verheißenes Land‘ bishin zur Staatsgründung Israels im Jahr 1948. „Galut“, das Exildasein, wurde durch den politischen Zionismus verworfen und führte zu einer (symbolischen) Auslöschung der jüdischen Heimatländer in Europa und damit zur Erschaffung eines einzigen, gemeinsamen Heimatlandes. Der israelische Staat und die israelisch-jüdische Identität sind in diesem Sinne nicht ohne ihren engen Bezug zur Shoah, der Vernichtung der europäischen Juden, zu begreifen.64 Gerade nach der Generation der sogenannten Gründerväter brauchte das Land neue Mythen und einigende Ereignisse. Durch die zunehmende Zentralität der Shoah wurde sie als Element der kollektiven Erinnerung zum Identitätsstifter schlechthin, selbst bei jenen Israelis, die nicht direkt oder in einem anderen Ausmaß davon betroffen sind, so wie es beispielsweise bei den sephardischen Juden der Fall ist (Ansorge 2010). Wie die potenziell traumatische Erfahrung der Shoah für die Juden, bildet insbesondere die nakba den negativen, aber zugleich konstitutiven Kern des kollektiven palästinensischen Identitätsgefühls innerhalb und außerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete. Das kollektive Gedächtnis der Palästinenser ist geprägt von der Erinnerung an Palästina als Heimat inmitten einer arabischen

64 Weitreichende Analysen finden sich auch in: Frölich, Margrit; Lapid, Yariv; Schneider, Christian [Hrsg.] (2004), „Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland“, Arnoldshainer Interkulturelle Diskurse 4, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.

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Umwelt, an die Flucht und Vertreibung im Zuge der Staatsgründung Israels 1948, und damit verbunden an das bis heute anhaltende Flüchtlingsdasein sowie den Widerstand gegen die israelische Besatzung (Joggerst 2004: 297). Das palästinensische nationale Narrativ ist von Brüchigkeit und Leerstellen gekennzeichnet: Einerseits dadurch, dass Palästina über die Jahrhunderte hinweg meist Provinz innerhalb eines größeren Reiches war und sich ein dezidiert palästinensisches Nationalbewusstsein erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte, andererseits aufgrund der mangelnden Zugänglichkeit zu (historischen) Archiven und der israelischen Zensur sowie nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Souveränität über einen eigenständigen palästinensischen Staat. In der Folge wird Palästina zu einem erinnerten Ort, zu einer erinnerten Heimat, die sich durch die Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit auszeichnet, die mit Unabhängigkeit und Wohlstand gleichgesetzt wird. In literarischen wie künstlerischen Darstellungen fungieren idyllische Abbildungen der Natur als Gegenbild zur als zerstört erfahrenen Landschaft und Ordnung. Die heterogene palästinensische Landschaft wird so homogenisiert und zu einem unschuldigen bäuerlichen Paradies mit florierender, ursprünglicher Land(wirt)schaft erhoben, wie es beispielsweise auf dem Bild „Joy on the fields of Palestine“ (1996)65 von dem palästinensischen Künstler Ismail Shammout (1930-2006) zu sehen ist.66 Derartige Darstellungen vom palästinensischen Raum lassen sich im Sinne Marc Augés als Nicht-Orte bereifen, da sie nicht mehr lokalisierbar und zeitlos sind. Sie dienen als Narrationen über eine verlorene Heimat. Salman Rushdie

65 http://virtualgallery.birzeit.edu/media/photo?photo_id=141066 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Auf http://www.ismail-shammout.com/gallery/ ist das Bild mit „Dance of Spring 3“ tituliert (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 66 Über eine Freundin lernte ich 2013 den Sohn von Ismail Shammout, Yazid Shammout, kennen, der in Hannover lebt. Zusammen hatten wir die Möglichkeit, ein paar Tage in Amman (Jordanien) bei Tamam Al-Akhal, der Witwe von Ismail Shammout, zu verbringen, die ebenfalls eine bekannte palästinensische Künstlerin ist. Als Kind lebte sie in Jaffa. Seitdem sie zusammen mit ihrer Familie ihre Heimat verlassen musste, konnte sie nicht zurückkehren. Zusammen mit Yazid Shammout und seinen Kindern haben wir das Haus aufgesucht, in dem heute eine jüdisch-israelische Familie lebt, mitten in dem heutigen israelischen Künstlerviertel der Altstadt, nahe dem „Arab Hebrew Theatre“. Die neuen Besitzer verweigerten ihnen jedoch, das Haus zu betreten. Tamam erzählte in einem Gespräch, dass in dem Bild „Shoshana Occupies my Home“ (1988) ihre Kindheitserinnerungen an Jaffa zusammenfließen.

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schreibt zu dieser Erfahrung in seinem Essayband „Heimatländer der Phantasie“ (1992: 21)67: In meinem Arbeitszimmer hängt in einem billigen Rahmen ein altes Foto an der Wand. Das Bild aus dem Jahre 1946 zeigt ein Haus, in dem ich zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht geboren war. […] ‚Die Vergangenheit ist ein fremdes Land‘, lautet der berühmte erste Satz von L.P. Hartleys Roman The Go-Between, ‚in dem alles anders gemacht wird.‘ Aber das Foto rät mir, diesen Gedanken umzukehren; es erinnert mich daran, dass für mich die Gegenwart fremdländisch ist und die Vergangenheit die Heimat, wenn auch eine verlorene Heimat in einer verlorenen Stadt in den Nebeln einer verlorenen Zeit.

Damir-Geilsdorf (2005) führt in ihrem Artikel zu palästinensischen Raumrepräsentationen aus, dass das immer wiederkehrende Motiv vom verlorenen Paradies heute aber zunehmend als unangemessen und handlungslähmend kritisiert werde, gleichzeitig aber auch immer wieder aufs Neue reproduziert werde. Auf meinen Forschungsreisen kam es beispielsweise des Öfteren vor, dass mir bei neu geschlossenen Bekanntschaften, speziell in ländlichen Gegenden, als erstes traditionelles palästinensisches Handwerk, die Zubereitung von frischem Brot und folkloristische Lieder und Tänze gezeigt wurden. Das sind alles Elemente, die ursprünglich vor allem aus der Perspektive der Ferne, dem Exil, geschaffen wurden. Vor allem seit den 1960er-Jahren werden sie aber von den sich nun etablierenden, nationalistischen Widerstandsbewegungen als kollektiver Identitätsmarker und –stifter vereinnahmt. So ist der ‚palästinensische Bauer‘ zu einer Art Nationalsymbol avanciert. Sie werden als die legitimen Besitzer des Landes beschrieben, indem man sie in Verbindung bringt mit den Nachfahren der Kanaaniter: European scholars have affirmed that the life of the Palestinian fallah is no different from that of biblical times and that the best way to understand the Bible is through learning about the life of the Palestinian fallahin. According to these scholars… the fallahin are the remnants of the Canaanites […] who were there before the Hebrews… These scholars add that since the days of [King] David, the fallahin have not been destroyed, but have stayed in the same places. They served David and Solomon, and have remained in this state, from one occupation to the next.68

67 Rushdie, Salman (1992), „Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 19811991“, München: Kindler. 68 Zitat in Benvenisti 2000: 262.

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Diese Aussage beinhaltet implizit auch, dass die israelische Besatzung überdauert werde, und fügt sich in das Bild historischer Präsenz und Kontinuität. Die palästinensischen Bauern werden so zu einem Symbol für „sumud“, für Standfestigkeit, der zentralen (gewaltfreien) palästinensischen Widerstandsstrategie.69 Darüber hinaus dient die Figur des unschuldigen, überraschten Bauern als Erklärungsmodell für den wohl wundesten Punkt palästinensischer Geschichte, nämlich zur Beantwortung der Frage, warum der zionistischen Einwanderung bzw. der Staatsgründung Israels nicht mehr Widerstand entgegengebracht worden sei. Bezogen darauf findet sich in der Regel der Verweis, dass die palästinensischen Eliten bereits frühzeitig das Land verlassen hätten und die Bauern blieben, weil sie von den Ereignissen völlig überrascht und überrumpelt worden seien. Diese Perspektive konnte sich als ein wesentlicher Bestandteil innerhalb des palästinensischen Opferdiskurses etablieren. Sabine Damir-Geilsdorf (2005) weist darauf hin, dass vor der Etablierung der Widerstandsbewegung in den 1960er-Jahren, die Bewohner der zahlreichen Flüchtlingslager als Inbegriff des ‚authentischen Palästinensers‘ galten. Sie waren nämlich diejenigen, die der Enge und Armut trotzten und widerständigen Kampfgeist zeigten. Die Palästinenser, die im israelischen Staatsgebiet lebten, waren im palästinensischen Diskurs hingegen eine marginalisierte Gruppe, die oft diffamierend als Israelis oder Kollaborateure bezeichnet wurden.70 Diese Sichtweise änderte sich aber mit dem Osloer Friedensabkommen, als viele PLOFunktionäre aus dem Exil zurückkehrten und mit den konkreten Lebensbedingungen vor Ort konfrontiert wurden. Sabine Damir-Geilsdorf (2005: 171) schreibt hierzu: Nachdem […] Anfang der 1990er Jahre viele PLO-Kader […] zurückkehrten, sich mit den Bedingungen vor Ort auseinandersetzten und in einen intensiveren Dialog mit den dort ansässigen Palästinensern sowie denen in Israel traten, der hegemoniale politische Diskurs also nicht mehr überwiegend aus dem Exil betrieben wurde, zeigen sich Verschiebungen sowohl in den Diskussionen um die ‚wahre‘ palästinensische Identität als auch in Beschreibungen des Raums […].

Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die Vorstellungen von ‚ursprünglicher Heimat‘ auch als Gegen- bzw. Spiegelnarrativ zum israeli-

69 Anders: Damir-Geilsdorf (2005). Sie geht m.E. davon aus, dass Standfestigkeit nicht in Verbindung mit Widerstand zu setzen ist. 70 Dieses Bild verschob sich erst während der zweiten Intifada, in der auch die in Israel lebenden Palästinenser verstärkt involviert waren.

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schen Narrativ, die Wüste kultiviert und ein Land ohne Volk besiedelt zu haben, gelesen werden können, weil [d]adurch, dass es diese „Heimat“ und das „Ursprüngliche“ eben nicht mehr gibt71, können sie zudem auch eine Geschichte von den Zerstörern dieses Paradieses erzählen. (DamirGeilsdorf 2005: 167)

Mit leichten Akzentverschiebungen (insbesondere durch die „Neuen Historiker“) wird das palästinensische nationale Narrativ bis heute vom israelischen Masternarrativ überlagert und macht die Palästinenser vermeintlich zu einem ‚Volk ohne Geschichte‘ oder in den Worten des Historikers Rashid Khalidi: […] 1948 [is] the year in which the Palestinians disappeared from the world stage as a people.72

Die Staatsgründung Israels und die Katastrophe von Flucht und Vertreibung der Palästinenser sind als Zentrum diverser palästinensischer Erinnerungen zu verstehen und prägen das Erleben der Gegenwart. Palästinensische Erinnerung und Geschichtsschreibung funktioniert also über die durchaus heterogene Erfahrung der nakba und kulminiert in einer Reihe sogenannter Mininarrationen, wie beispielsweise das ikonische Bild des unschuldigen Bauern, der von dem zionistischen Feind überrascht und entwurzelt wurde, verdeutlicht. Erzählungen, Fotos, Dokumente und Gegenstände, die von dem palästinensischen Leben vor 1948 zeugen, werden innerhalb der palästinensischen Familien von Generation zu Generation weitergegeben und sind verbunden mit der Hoffnung, eines Tages in die verlorene Heimat zurückkehren zu können. Erinnerung nach 1948 erfüllt damit in erster Linie die Funktion, die kollektive Identität zu schützen und zu stützen und […] daraus eine Haltung zu entwickeln, welche das Individuum zum Widerstand und zum Kampf für die Heimat wachrütteln sollte. (Milich 2005: 36)

Mit der voranschreitenden Entwicklung der neuen Technologien entstanden in den letzten Jahren zahlreiche „Oral History“-Projekte, Filme, Webseiten, Bücher und andere künstlerische Ausdrucksformen, die sich mit den Erinnerungen an

71 Und in der Form wohl auch nie gegeben hat, sondern im Kontext der „Erfindung von Traditionen“ zu sehen ist (Anmerkung A.R.). 72 Zitat in: Gertz/Khleifi (2008).

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die nakba beschäftigen und auseinandersetzen.73 Das palästinensische Narrativ lebt vor allem von autobiografischen Dokumenten rund um die nakba, die die palästinensische Geschichte in ein „davor“ und „danach“ unterteilen. So formt die nakba einerseits über einzelne Lebensgeschichten palästinensische Identität, andererseits dient das autobiografische bzw. dokumentarische Erzählen der nationalen Geschichtsschreibung und ist Ausdruck des kulturellen Widerstandes gegenüber dem dominierenden israelischen Masternarrativ, das aber, wie bereits dargelegt, spätestens durch die „Neuen Historiker“ aufgebrochen und infrage gestellt wird. Aufgrund des Fehlens ‚eigener‘ Archive, wurde die moderne palästinensische Dichtung zu einem […] Fundus gemeinsamen Wissens, auf den man bei Zusammenkünften im Familien- und Freundeskreis zurückgriff, dessen jeweils neue Produkte man ungeduldig erwartete, dessen Druckerzeugnisse man sammelte, zuweilen vor Razzien durch die Behörden an abenteuerlichen Orten versteckt hielt. (Neuwirth 2004a: 35)

Besondere Bedeutung erlangte hier Mahmud Darwisch (1941-2008), wie im folgenden Kapitel zu den Märtyrerfigurationen detailliert erörtert wird. In den letzten Jahren etabliert sich immer mehr auch die Autobiografie als gleichrangiges Medium zur Bewahrung von Erinnerung. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass Berichte von Augenzeugen einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert für die Historiografie erlangen. Für den Arbeitskontext ist besonders interessant, dass Augenzeugenberichte auch in der Theater- und Filmarbeit immer mehr Bedeutung als ‚Geschichtsmedium‘ erlangen (Kapitel 5). Durch die gegenläufigen israelischen und palästinensischen Kollektivgedächtnisse, die sich maßgeblich über die Erfahrung der Shoah und nakba konstituieren, werden Selbst- und Fremdbilder tradiert, die einer friedlichen Beilegung des Konfliktes bis heute im Wege stehen. Der Blick ist ausschließlich auf die eigene Vergangenheit gerichtet, die sich in erster Linie als ‚Opfernarrativ‘ bzw. Leidensgeschichte versteht und dabei die Geschichte der anderen Seite marginalisiert, ignoriert oder gar gänzlich leugnet. Darüber hinaus spielen sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite Kampf- und Befreiungsnarrative eine zentrale Rolle innerhalb des kollektiven Gedächtnisses. Trotz militärischer Überlegenheit gründet Israels Selbstwahrnehmung in der Opferrolle, während sich die Palästinenser als Opfer der Opfer verstehen. Wie

73 Siehe beispielsweise: http://www.palestineremembered.com/ und auf israelischer Seite http://zochrot.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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bereits an anderer Stelle erwähnt, geht damit allzu schnell eine Entkontextualisierung von Geschichte einher74: Nicht selten bezeichnet die eine Seite die andere als Nazis, Vergleiche mit Hitler oder Ereignisse aus dem Kontext des Dritten Reiches werden inflationär gebraucht und laufen somit Gefahr, nicht nur funktionalisiert, sondern auch banalisiert zu werden. (Joggerst 2004: 297)

Die (staatliche) Legitimationsdebatte wird in Israel heute vorwiegend über die Shoah geführt, das heißt über eine ausgeprägte staatliche Erinnerungspolitik, die das Gedenken an die Shoah bewusst funktionalisiert. Die Shoah hatte jedoch nicht immer diese gesellschaftspolitische Funktion, sondern die Erinnerung an die Shoah wurde umso wichtiger, je mehr der Zionismus an Mobilisierungskraft verlor. Die Kollektiverinnerung an die Shoah sollte den nationalen Zusammenhalt und die nationale Identität einer sich immer weiter spaltenden Gesellschaft garantieren. Bis zum Eichmann Prozess 1961 in Jerusalem war die Shoah ein Tabuthema innerhalb der israelischen Öffentlichkeit75. Dies lässt sich aus der zionistischen Ideologie heraus erklären lässt. Deren wesentliche Merkmale sind unter anderem die Negation des Diasporajudentums, das mit Schwäche und Niederlage assoziiert wird, sowie die Konstruktion einer gemeinsamen auf Kontinuität basierenden Identität. Durch die immer stärkere Fragmentierung der israelischen Gesellschaft in den 1970er-Jahren, wurde die Shoah in das zionistische Narrativ integriert und unter staatliche Kontrolle gebracht. Die nakba wurde, bis zum Aufbrechen des israelischen Masternarrativs vor allem durch die „Neuen Historiker“, verneint und damit auch die Rolle Israels innerhalb der palästinensischen Katastrophe. Palästinensische Reaktionen auf die Shoah wiederum schwanken zwischen Abwehr und Leugnung, Indifferenz oder (zumindest in inoffiziellen Gesprächen) Anerkennung. Psychologisch betrachtet, fällt eine offizielle Anerkennung vielen Palästinensern schwer, weil diese einer Legitimation des israelischen Staates

74 Siehe auch: Levy, Daniel; Sznaider, Natan (2006), „Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust“, Berlin: Suhrkamp 2007. 75 So auch in der deutschen Öffentlichkeit. Hermann Lübbe spricht hier von einem „kommunikativen Beschweigen“, das bis weit in die 1960er-, 1970er-Jahre hineinreicht. Lübbe, Hermann (1983), „Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579-599; Ders. (2007), „Vom Parteigenossen zum Bundesbürger – über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten“, München: Wilhelm Fink Verlag.

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gleichkäme und damit die eigene monolithische Position des ausschließlichen Opfers infrage stellen würde. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Shoah und nakba konstitutive Elemente israelischer und palästinensischer Identität sind: Beide existenziellen Erfahrungen scheinen einander in einem Kampf der Erinnerungen grundsätzlich auszuschließen. Palästinensische Erinnerung und Identität ist jedoch nicht losgelöst von israelischer Erinnerung und Identität zu verstehen und vice versa. Das heißt, sie zeichnen sich durch ihre gegenseitige Bedingtheit aus. Interessant ist, dass die stereotypisierenden Fremd- und Feinbilder sich auf beiden Seiten des Konfliktes ähneln und in ihren beiden Gründungstraumata Shoah und nakba, die jeweils Motive des Exils, der Heimat und der Rückkehr aufweisen, ihre stärkste legitimierende Kraft finden. Es lässt sich durchaus die Frage stellen, was von der jeweiligen (nationalen) Identität noch übrig bliebe, fiele der Konflikt als zentraler Identifizierungspunkt weg? Angst und die Negation des Anderen sind zu zentralen Identifikationsmustern in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten geworden. Leid und Opfersein sind hier wichtige Elemente für die Konstituierung kollektiver Identität. Die Betonung des alleinigen Opferstatus führt dazu, dass die Erfahrungen und Erinnerungen der anderen Seite negiert, verharmlost und/oder zerstört werden. Ich gehe jedoch im Verlauf der weiteren Arbeit davon aus, dass Shoah und nakba und die damit verbundene Figur des Flüchtlings sowie die existenzielle Erfahrung des Exils, die beiden Völkern innewohnt, Teil eines gemeinsamen Erinnerungsangebots sein können, wobei das Jahr 1948 eine wesentliche Bezugsgröße für die potenziell traumatichen Erfahrungen beider Seiten ist.

2.6 D RITTE AKTEURE : NGO S UND DIE R OLLE DER INTERNATIONALEN S TAATENGEMEINSCHAFT Innerhalb der sehr konträren und gleichzeitig einander beeinflussenden Perspektiven, geraten Organisationen wie beispielsweise „B’Tselem“, die sich dem gemeinsamen Widerstand gegen die destruktiven, unterdrückenden Strukturen verpflichten, in der internationalen Öffentlichkeit häufig aus dem Blick (Kapitel 7). Johannsen (2012: 97) weist darauf hin, dass deren politischer Einfluss zwar schwer eindeutig zu beziffern sei, sie aber langfristig das politische Klima dahin gehend verändern könnten, als dass sie der Bevölkerung eine Alternative zur Besatzung und Besiedlung der palästinensischen Gebiete bieten und damit potenziell Einfluss auf Wählerentscheidungen nehmen könnten. Johannsen (2012: 97) führt weiter aus, dass derartige Organisationen

106 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND bei Aktionen in den Palästinensischen Gebieten mit internationalen Solidaritätsgruppen [zusammenarbeiten] […] und praktische Hilfe leisten. Sie helfen z.B. bei der Ernte in Olivenhainen, die der Sperranlage weichen müssen, halten Wache an Checkpoints, damit Palästinenser dort nicht schikaniert werden oder versuchen, den Abriss von Häusern zu verhindern. […] Gewaltlosigkeit, so ihre Erwartung, wird ihrem Anliegen eher Sympathien einbringen als Waffengewalt.

Sie erläutert ferner, dass es auch auf palästinensischer Seite maßgeblich diese dritten, zivilgesellschaftlichen Kräfte sind, die zentrale Funktionen erfüllen, insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gelten als wichtige Partner der internationalen Organisationen. Die Spaltung zwischen Westbank und Gaza, vor allem als Folge des Wahlsiegs der Hamas 2006, bot teils denkbar ungünstige Voraussetzungen für eine friedliche Beilegung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, teils erschwert sie aber auch bis heute eine Aussöhnung zwischen Hamas und Fatah, welche die Regierungsspitze der PLO stellt. Als die Selbstverwaltungskapazitäten der palästinensischen Autonomiebehörde im Zuge des Scheiterns des Osloer Friedensprozesses und der anhaltenden Spannungen zwischen Hamas und Fatah zerfielen, waren es neben der Hamas vor allem die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in der Lage waren, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sichern. Bereits mit Beginn des Osloer Friedensprozesses gründeten die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Dachorganisation „Palestinian Non Governmental Organisations Network“ (PNGO). Laut Johannsen (2012: 105) gab es 2010 bereits 132 Mitgliedsorganisationen, die sich unter anderem im Bereich Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Medien, Menschen- und Frauenrechte, Wohlfahrt, Umwelt und Landwirtschaft engagieren. Das Netzwerk diene dazu, […] die Rolle der Zivilgesellschaft beim Kampf für einen unabhängigen Staat Palästina zu stärken, der den Prinzipien der Demokratie, sozialen Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte verpflichtet ist. (Johannsen 2012: 106)76

76 Johannsen (2012: 106) führt weiter aus, dass diese dritte Kraft innerhalb des zersplitterten, korrupten palästinensischen Parteiensystems kein bequemer Verhandlungspartner für Israel sei. Beispielsweise hat die PNGO 2005, ein Jahr nach dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Illegalität der Sperranlage, internationale Sanktionen gegen Israel gefordert und dazu aufgerufen, Investitionen abzuziehen, bis Israel die Bestimmungen des internationalen Menschenrechtsschutzes einhält und die de facto-Annexion palästinensischen Landes beendet. Dabei nahm die PNGO aus-

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Die potenzielle Stärke zivilgesellschaftlicher Akteure liegt hier darin begründet, dass sie weder mit Korruption, Machtmissbrauch, noch mit Terrorismus verbunden werden. Der Einfluss derartiger zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich im gewaltfreien Widerstand gegen die israelische Besatzung und destruktive palästinensische Strukturen verorten, sollte deshalb innerhalb der Bemühungen zu einer ernsthaften Beilegung des Konfliktes, nicht unterschätzt werden (Kapitel 7).77 Innerhalb der israelisch-palästinensischen Konfliktdynamik spielen auch externe Akteure wie die arabischen Staaten, die USA, die Europäische Union und die UN eine weitreichende Rolle, deren Funktionen hier aber nur kurz skizziert werden sollen.78 Was die arabischen Staaten betrifft, so haben insbesondere die direkt an Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete angrenzenden Nachbarn, die ‚Palästina-Frage‘ zu ihrem Anliegen erhoben. Dieses Interesse ist jedoch nicht

drücklich Bezug zu dem gewaltlosen Kampf gegen das südafrikanische Apartheidregime. 77 Um ihr Gewicht auch in das politische Parteiensystem zu bringen, entschlossen sich führende Akteure des zivilgesellschaftlichen Sektors, sich

mit der Partei „Al-

Mudabara“ als politische Alternative zu den bestehenden Widerstandsbewegungen zu präsentieren. Bei den Präsidentschaftswahlen 2005 konnte sie einen beachtlichen Erfolg für sich verbuchen. 78 Ausführlicher siehe beispielsweise: Asseburg, Muriel (2009), „Der israelischarabische Konflikt“, in: Steinberg, Guido [Hrsg.], Deutsche Nah-, Mittelost- und Nordafrikapolitik. Interessen, Strategien, Handlungsoptionen, SWP Studie 2009/S 15, Berlin, S. 24-32; Dies; Roll, Stefan (2011), „Ägyptens Stunde Null?“, SWP-Aktuell 10, Februar 2011; Valbjørn, Morten; Bank, André (2010), „Bringing the Arab Regional Level Back In: Jordan in the New Arab Cold War“, Middle East Critique 19/3 (Fall 2010), S. 303-319; Cordesman, Anthony; Nerguizian, Aram (2010), „The ArabIsraeli Military Balance. Conventional Realities and Asymmetric Challenges“, Center for Strategic and International Studies, Washington, (online abrufbar: http://csis.org/ files/publication/100629_Arab-IsraeliMilBal.pdf zuletzt aufgerufen: 06.03.2016); Krell, Gert (2004), „Die USA, Israel und der Nahost-Konflikt“, HSFK-Report 14, Frankfurt am Main; Perthes, Volker (2002), „Geheime Gärten. Die neue arabische Welt“, Berlin: Siedler; Shlaim, Avi (2001), „The Iron Wall. Israel and the Arab World“, London: W.W. Norton & Company, Ltd; Ders. (2007), „Lion of Jordan. The Life of King Hussein in War and Peace“, London: Allen Lane; Wimmen, Heiko (2010), „Hisbollah vs. Israel: Steht ein neuer Nahostkrieg bevor?“, SPW Aktuell 56, Juli, Berlin.

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nur der gemeinsamen Sprache und Religion (und damit verbunden der Heiligen Stätten in Jerusalem) geschuldet, sondern wird auch machtpolitisch instrumentalisiert. Hinzu kommt bzw. damit verbunden ist die gemeinsame Geschichte unter osmanischer Herrschaft, die Erfahrung des europäischen Kolonialismus sowie die Existenz eines relativ hohen palästinensischen Bevölkerungsanteils in diesen Ländern. Seit den 1970er-Jahren spielt Ägypten eine Führungsrolle innerhalb der Versuche zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes, als es zu einem verlässlichen Partner der USA avancierte und 1979 selbst einen Friedensvertrag mit Israel schloss; ein Austausch findet seither jedoch vordergründig nur auf diplomatischer Ebene statt. 15 Jahre nach dem Friedensschluss zwischen Ägypten und Israel wurde in den Madrider Nahostgesprächen ein Friedensabkommen zwischen Jordanien und Israel ausgehandelt, das Grenzkorrekturen und die Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Ländern vorsah: 1994 wurde das förmliche Ende des 46 Jahre andauernden Kriegszustands in einem Friedensvertrag besiegelt. Auf ökonomischer Ebene spielte dabei die Zuteilung der regionalen Wasservorräte, die Verbesserung der jordanischen Wasserversorgung sowie die vermehrte Aufbereitung und Produktion von Frischwasser eine wichtige Rolle, da es der bisher einzige grenzüberschreitende Vertrag hinsichtlich gemeinsamer Wasserressourcen zwischen Israel und einem seiner Nachbarn war. Der Friedensvertrag stieß nicht nur auf Zustimmung, sondern vor allem auf Kritik: Beispielsweise kritisierte die PLO die Regelungen des Grenzverlaufs und der Wasserressourcen, weil sie als Palästinenser nicht konsultiert worden waren, obwohl der Vertrag auch palästinensische Interessen berührte (Johannsen 2012: 112). Trotz zahlreicher erfolgreicher Kooperationsvereinbarungen war der Friedensschluss auch in der jordanischen Bevölkerung nie populär, sondern wurde als „Frieden des Palastes“ (Valbjørn; Bank 2010: 310)79 wahrgenommen. Mehr als die Hälfte der jordanischen Bevölkerung ist palästinensischer Herkunft80, sodass zwangsläufig alles, was zwischen Israel und den Palästinenser geschieht, zu einem innenpolitischen Thema avanciert: Die Stimmungslage innerhalb der Bevölkerung konnte und kann von der Regierung nicht ignoriert werden (Ebd. 313 ff.).

79 Valbjørn, Morten; Bank, André (2010), „Bringing the Arab Regional Level Back In: Jordan in the New Arab Cold War“, Middle East Critique 19/3 (Fall 2010), S. 303319. 80 Bis heute genießen palästinensische Flüchtlinge nur in Jordanien staatsbürgerliche Rechte.

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Seit den Friedensverträgen mit Ägypten und Jordanien besitzt Israel also feste Grenzverläufe mit diesen Staaten. Auch was den Libanon betrifft, gibt es keine substanziellen territorialen Streitpunkte: [der] Grenzverlauf war seit 1923 durch die Aufteilung des ehemals osmanischen Herrschaftsgebietes zwischen den Mandatsmächten Großbritannien und Frankreich geregelt […]. (Johannsen 2012: 114)

Kurz nach seiner Unabhängigkeit im Jahre 1944 wurde der Libanon durch die große Anzahl palästinensischer Flüchtlinge zum Akteur innerhalb des israelischpalästinensischen Konflikts, denn diese […] wurden […] in dem kleinen Land mit seinen damals 2,7 Millionen Einwohnern und der prekären Balance zwischen Christen und Muslimen gesellschaftlich nicht integriert. Die meisten der Geflohenen und deren Nachkommen blieben in den Flüchtlingslagern und bildeten die soziale Basis für die palästinensische Widerstandsbewegung gegen Israel. (ebd.)

Ab 1975 wütete im Libanon ein 15-jähriger Bürgerkrieg, in dessen letzter Phase sich konkurrierende christliche, schiitische und palästinensische Gruppen bekämpften. 1982 kam es zum ersten Libanonkrieg zwischen Israel und dem Libanon bzw. den dortigen militanten PLO-Stellungen, welche die israelische Regierung militärisch zu zerschlagen versuchte. Israel konnte die PLO zwar aus dem Libanon ins tunesische Exil vertreiben, doch mit der vom Iran und Syrien unterstützten radikalislamischen Hisbollah hatte Israel einen neuen ernst zu nehmenden Gegner.81 1985 zog Israel sich offiziell aus dem Südlibanon zurück, richtete

81 Der Krieg 1982 zwischen Israel und dem Libanon stand vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkriegs statt, der von 1975-1990 den Libanon erschütterte. Teil des Kriegs war das sogenannte Massaker von Sabra und Shatila, das libanesische Phalangisten gegen palästinensische Flüchtlinge verübten. Zwischen dem 16. und 18. September 1982 wurden die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Shatila gestürmt, die von israelischen Soldaten umstellt waren, und zahlreiche Bewohner getötet. Sowohl die israelische Militärführung vor Ort als auch die israelische Regierung soll über die Vorgänge in den Flüchtlingslagern informiert gewesen sein. Der Film „Waltz with Bashir“ (2008), der als animierter Dokumentarfilm bezeichnet werden kann, arbeitet die Ereignisse aus der persönlichen Perspektive des Regisseurs Ari Folman auf, der selbst während des Kriegs im Libanon stationiert war. Durch Interviews mit anderen beteiligten Soldaten rekonstruiert Folman die Ereignisse, an

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aber eine sogenannte militärische ‚Sicherheitszone‘ ein, doch das israelischlibanesische Grenzgebiet ist bis heute eine Konfliktzone, nicht zuletzt durch den zweiten Libanonkrieg 2006, den Israel gegen die radikalislamische Hisbollah führte. Was die israelischen Beziehungen zu Syrien betrifft, so stehen hier die Golanhöhen im Mittelpunkt des Konflikts, die Israel im Zuge des Krieges 1967 eroberte und 1981 annektierte. Völkerrechtlich gesehen handelt es sich hier um besetztes Gebiet. Im Gegensatz zu Ägypten und Jordanien besteht kein Friedensabkommen zwischen Syrien und Israel, bisher herrscht nur ein Waffenstillstand. Innerhalb des Konfliktes um die Golanhöhen geht es teils um Israels Verweis auf das erhöhte Sicherheitsbedürfnis, teils um wertvolle Wasserressourcen, die in der Region als ein machtvolles Druckmittel begriffen werden können (Johannsen 2012: 122). Auch das Engagement westlicher Akteure, allen voran die USA, die Europäische Union und die UN, tragen wesentlich zur Konfliktdynamik bei. Die Ursachen hierfür liegen vor allem in der ehemaligen Kolonialpolitik westlicher Staaten begründet sowie in dem immensen Erdölvorkommen in der Region, die von großer Bedeutung für die westlichen Industriestaaten sind. Bereits im Zuge der israelischen Staatsgründung bahnte sich ein enges amerikanisch-israelisches Verhältnis an, denn durch die Shoah war eine emotionale Bindung zum jüdischen Volk entstanden, das laut Johannsen (2012: 127) auch einem Gefühl der Schuld entsprang, nicht ausreichend gegen die Vernichtung des europäischen Judentums vorgegangen zu sein. Seither kommt die Partnerschaft zwischen den USA und Israel einer Existenzgarantie gleich82. Anders als die USA erfüllte die EU lange Zeit nur eine Statistenrolle innerhalb des Konflikts, wenngleich der israelisch-palästinensische Konflikt aufgrund der europäischen Geschichte des Kolonialismus und Antisemitismus eine große Rolle innerhalb der EU-Politik spielt. Die USA, so Johannsen (2012: 133), seien jedoch stets darauf bedacht gewesen, keine Konkurrenz innerhalb ihrer Vermittlerrolle aufkommen zu lassen. Auch Israel sei nicht an einer weitreichenden „europäischen Einmischungspolitik“ interessiert gewesen, was nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Ziel-

die er selbst keine Erinnerung mehr hatte. Der Film eignet sich als hervorragendes Beispiel für den Zusammenhang von Trauma, Erinnerung und (kollektives) Gedächtnis. 82 Darüber hinaus binden christliche Fundamentalisten in den USA ihre messianischen Erlösungsvorstellungen an die Existenz Israels. Siehe auch: Kippenberg, Hans G. (2008), „Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung“, München: C.H. Beck.

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setzungen der EU-Mitgliedstaaten zusammenhing. Sie verweist darauf, dass sich in den letzten Jahren aber eine zunehmende Haltungsänderung feststellen lasse, wenngleich die EU nach wie vor kein gleichwertiger Verhandlungspartner im Vergleich zur USA darstelle. Die UN agiert seit ihrer Gründung 1945 in zahlreichen Regionalkonflikten, aber in keinen Konflikt ist sie länger involviert als in den israelischpalästinensischen. Bereits im April 1947 erarbeitete sie einen Lösungsvorschlag für das sogenannte ‚Palästina-Problem‘ und schlug mit der Resolution 181 einen Teilungsplan in einen jüdischen und palästinensischen Staat vor. Trotz kontinuierlicher Friedensbemühungen bleibt der Einfluss der UN eingeschränkt, was unter anderem den divergierenden Interessen sowie den Vetorechten seiner (ständigen) Mitglieder geschuldet ist, wobei insbesondere die USA immer wieder als Schutzmacht israelischer Interessen in Erscheinung tritt. Dessen ungeachtet bieten die Vereinten Nationen den Palästinensern ein Forum, in dem sie ihren völkerrechtlich legitimen Ansprüchen international Gehör verschaffen können. Trotz aller Sackgassen und Schwierigkeiten ist die Rolle der UN nicht zu unterschätzen, denn sie erfüllt wichtige Funktionen beispielsweise in der Betreuung von palästinensischen Flüchtlingen (beispielsweise durch ihr Flüchtlingshilfswerk UNRWA) und der Überwachung von Waffenstillstandsabkommen. Auch wenn sie nur schleppend bis gar nicht umgesetzt werden, verschaffen die zahlreichen UN-Resolutionen den nationalstaatlichen Ambitionen der Palästinenser völkerrechtliche Legitimität im internationalen Kontext. Im November 2012 hat die UN-Vollversammlung mit großer Mehrheit beschlossen, Palästina innerhalb der Vereinten Nationen zum Beobachterstaat zu erheben, was Abbas als „Geburtsurkunde für Palästina“ bezeichnete.83 Palästina ist mit seinem Beobachterstatus zwar kein vollwertiges Mitglied, kann aber beispielsweise als Kläger beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auftreten. Ende 2014 reichte Abbas einen Vorschlag zu einer langfristigen Lösung des IsraelPalästina-Konflikts bei der UN ein, der jedoch mit einer knappen Mehrheit abgelehnt wurde. Als Reaktion darauf erklärte Abbas seinen Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof um Israel, das wie die USA kein Mitglied ist, offiziell der Ausübung von Kriegsverbrechen anzuklagen.

83 http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-11/palaestina-un-beobachterstaat (zuletzt aufgerufen: 18.02.2016).

3. Grenzgänge(r): Mobilität und Mobilisierung von Grenzen

In diesem Kapitel werden die Ursachen und Folgen der israelischen Abriegelungspolitik für das Alltagsleben der Palästinenser beleuchtet. Dabei beziehe ich mich insbesondere auf die Bedeutung von palästinensischen ID-Karten und auf die zahlreichen Checkpoints, die sich durch das Land schlängeln. Durch die verwendeten Beispiele wird einmal mehr deutlich, dass Grenzen keine statischen Konstrukte sind, sondern äußerst flexible Entitäten, die Mobilität sowohl erzeugen als auch verhindern.

3.1 G RENZGÄNGE ( R ) UND (Ü BER -)L EBENSRÄUME : N ORMALITÄT IM AUSNAHMEZUSTAND As long as I remember myself, I have moved within two strata of consciousness, wandering in a landscape that, instead of three spatial dimensions, had six: a three-dimensional Jewish space underlain by an equally three-dimensional Arab space. (BENVINISTI 2000: 1) Palestinians live in a world where nothing is fixed; where spaces constantly move and multiply; where borders and territories are furtive; where a continued sense of temporariness (and its partner, arbitrariness) is meant to displace and disorganize; where the bureaucratic stultifies and

114 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND paralyzes; where identity, belonging, nationalism, resistance, and freedom are put into question. (TAWIL-SOURI 2010: 46)1 Es ist Frühling. Vor zwei Tagen bin ich in Tel Aviv angekommen und habe mich von dort auf den Weg nach Ostjerusalem gemacht, um einen Freund zu treffen, bevor es am nächsten Morgen weiter nach Jenin, einer Stadt in der nördlichen Westbank, geht. Mit dem „Freedom Bus“, einer mobilen Theaterinitiative des „Freedom Theatre“ aus Jenin, werde ich zwei Wochen lang durch die „Area C“ der besetzten palästinensischen Gebiete reisen. Der „Freedom Bus“ ist Teil des kulturellen palästinensischen Widerstands; die Verantwortlichen organisieren zusammen mit unterschiedlichen Gemeinden in der Westbank, die sich im gewaltfreien Widerstand engagieren, kulturelle und politische Events. Ich reise bereits seit einigen Jahren nach Israel und in die besetzten palästinensischen Gebiete, doch aufgrund der dezidiert politischen Ausrichtung des „Freedom Bus“ blicke ich der Reise mit ambivalenteren Gefühlen entgegen als es bei den letzten Forschungsaufenthalten der Fall war. Ich möchte nicht in den Topf radikaler Palästina-Aktivisten gesteckt werden, die sich zwar sehr für die ‚palästinensische Sache‘ engagieren, aber die andere, die israelische Perspektive auf den Konflikt, vielfach vollkommen ausblenden. Diese ist aber für eine gerechte Einordnung des Konfliktes notwendig. Genauso wenig möchte ich zu denjenigen gehören, die ausnahmslos alle Israelis für das machtstrategische, oft diskriminierende Vorgehen politischer Eliten verantwortlich macht. Und zugleich möchte ich die schwierige Situation der Palästinenser, die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind, wissentlich übersehen, sondern ganz im Gegenteil, darauf aufmerksam machen. Auf meinem Weg nach Jenin muss ich mich daran erinnern, dass ich als unabhängige Forscherin mitreise und nicht vor Ort bin, um für eine Seite Partei zu ergreifen. Es ist eine Reise, die mich an meine physischen und psychischen Grenzen bringt. Eine buchstäbliche Grenz-Erfahrung mit schwierigen individuellen wie kollektiven Aushandlungsprozessen. Wir sind auf dem Weg nach Al-Hadedeye, einem kleinen Ort mitten im Jordantal. Dort soll eine Theaterperformance mit den Schauspielern vom „Freedom Theatre“ stattfinden. Die Bewohner erwarten uns bereits mit einem Willkommensessen. Unser Bus hält inmitten der hügeligen Landschaft, sodass wir zu Fuß weiter gehen müssen. Die Weiterfahrt mit dem Bus würde uns aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit innerhalb der palästinensischen Gebiete sehr viel Zeit kosten. Zwei Stunden etwa würde dies dauern, meint

1

Tawil-Souri, Helga (2010), „Qalandia Checkpoint: The Historical Geography of a Non-Place“, in: Jerusalem Quarterly, Issue 42 (Summer 2010), S. 26-48.

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der Busfahrer, der allein weiterfährt, um uns später am Abend in Al-Hadedeye abzuholen. Al-Hadedeye liegt nicht weit entfernt hinter einem der Hügel, an dem sich auch eine der zahlreichen israelischen Siedlungen erstreckt. Wir laufen durch die saftig grüne Landschaft. Es ist bereits später Nachmittag und die Sonne wirft ihr ganz besonderes Licht auf die uns umgebenden Hügel. Wir haben unser Ziel fast erreicht, als wir von der israelischen Armee, die wie aus dem Nichts auftaucht, angehalten werden. Zwei der Schauspieler und Ben Rivers, Mitinitiator des „Freedom Bus“, sprechen mit den bewaffneten Soldaten, die genau wissen wollen, was wir vorhaben und warum, wie lange das dauern wird und warum, wer die Verantwortlichen sind und warum. Wir anderen bleiben etwas abseits. Ich fühle mich unwohl in der Situation, setze mich ins Gras und beobachte das Gespräch und die Reaktionen der Mitreisenden. Die Soldaten erklären, dass sie erst mit ihrem Vorgesetzten sprechen müssten, ob wir unseren Weg über den Hügel fortsetzen dürfen. Wir warten. Wenig später fährt ein weiterer Militärjeep den staubigen Weg entlang und hält bei unserer Gruppe. Der anscheinend ranghöhere Soldat teilt uns mit, dass wir auf keinen Fall passieren dürften. –Warum? –Weil es sich um militärisches Sperrgebiet handele. Es wird noch ein bisschen hin und her diskutiert. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig, als umzukehren. Es dämmert bereits und es wird merklich kühler. Plötzlich erreicht uns per Handy die Nachricht, dass wir vielleicht doch noch passieren können. Wieder warten. Faisal, einer der Schauspieler, macht den Vorschlag, dass wir die Zeit nutzen sollten, um „dabke“ zu lernen, den traditionellen palästinensischen Volkstanz. Da steht nun eine bunt zusammengewürfelte internationale Gruppe inmitten der palästinensischen Landschaft, und wartet tanzend auf die Befehle des israelischen Militärs. Wir dürfen nicht weiter. Wir müssen umkehren. Wir informieren den Busfahrer darüber, dass er uns am Ausgangspunkt unseres Fußmarsches abholen muss. Die ganze Situation ist surreal. Al-Hadedeye befindet sich nur einen Augenblick weit entfernt und ist doch unerreichbar für uns, selbst mit unseren internationalen Pässen und Visa. Palästina existiert nicht. Ein Leerstelle in die Landschaft eingeschrieben. Ich denke an die Bewohner, die extra für uns ein Abendessen zubereitet haben, die sich auf die Theaterperformance freuen und nun vergeblich warten. Mit dem Bus dorthin zu fahren, dafür ist es jetzt – nach etwa zweieinhalb Stunden Wartezeit – zu spät. Wir wissen nicht einmal, ob wir überhaupt die Straße passieren können, oder ob wir wieder aufgehalten werden. Das Militär weiß ja nun über unsere Anwesenheit Bescheid. Wir fahren zurück zu unserem Nachtquartier in Fassayel. In Tubas machen wir Halt, denn die Familie eines mitreisenden Palästinensers, die von dem Zwischenfall gehört hat, lädt uns spontan bei sich zu Hause zum Abendessen ein. Warten lernen. Improvisieren lernen.

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Die Erfahrungen meiner Forschungsaufenthalte auf beiden Seiten des Konfliktes lassen mich schließen, dass israelische wie palästinensische Identität unabdingbar mit dem Begriff der Grenze verbunden ist. So verdeutlicht auch die vorangehende ethnografische Beschreibung die Erfahrung der Grenze: Die Räume, die sie teilt, die Zwischenräume, die sie produziert, den Konstruktionscharakter und die Willkürlichkeit, der sie unterliegt, die Prozesse der Inklusion und Exklusion, die Eigenes vom Fremden unterscheiden. Edward Said verwendet diesbezüglich treffenderweise den Begriff der „imaginative geography“, der den Konstruktionscharakter und zugleich die Brüchigkeit von Grenzziehungen hervorhebt. Zudem verdeutlicht meine Beschreibung, dass es nicht nur die Menschen sind, die sich über Grenzen (hinweg)bewegen, sondern gleichermaßen Grenzen über Menschen. Damit werden zwangsläufig immer auch unterschiedliche Handlungs- und Gefühlsräume berührt. Insbesondere die materielle Markierung der Grenze (wie in dem dargelegten Fall durch die Soldaten bzw. die Militärfahrzeuge) richtet Räume neu aus: Grenzen können als ordnende, disziplinierende Entitäten begriffen werden, die einerseits Mobilität ermöglichen, andererseits diese einschränken – je nach Verortung des jeweiligen Individuums/Kollektivs. Auch Sabine Damir-Geilsdorf (2005: 154) verweist in ihrem Artikel über palästinensische Raumrepräsentationen2 darauf, dass die Betrachtung von Raum als vorgegebenes materiales Substrat oder als geografisches Territorium mit festen Grenzen den Blick darauf verstelle, dass Räume imaginiert wahrgenommen werden, dass an, in und in Bezug auf Räumen gehandelt werde. Aber auch der konkrete physikalische Raum sei […] kein leerer Behälter, der die Menschen ‚einfach so‘ umgibt. Der geografische Raum ist produziert und gestaltet, soziale und politische Vorstellungen vom ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ sowie Machtverhältnisse haben sich in ihm eingeschrieben. Dies manifestiert sich sichtbar in materiellen Dingen wie Grenzen, Checkpoints, Siedlungen, Städten, Dörfern, in der Infrastruktur, welche Palästinensern und Israelis unterschiedliche Straßen vorgibt, im israelischen Grenzzaun sowie in Zerstörungen von Häusern und dem Fällen von Bäumen bei israelischen Kollektivstrafen, in Abriegelungen u.a. Sicherheitsvorkehrungen, was wiederum den Handlungsraum beeinflusst, die Bewegung der Menschen in diesem Raum und ihre Nutzung desselben.

Die (physischen) Grenzziehungen gehen mit einer drastischen Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser einher und haben damit enorme Auswirkungen auf die Gestaltung des Alltags der Palästinenser.

2

Damir-Geilsdorf (2005), S. 153-182.

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Zum besseren Verständnis werden folgend die historischen Hintergründe für die drastische Einschränkung der Bewegungsfreiheit kurz dargestellt: Im Zuge der ersten Intifada 1987, des ersten großen palästinensischen Aufstandes, rückte das Thema der Besatzung immer stärker in das israelische Bewusstsein. Es erschienen beispielsweise verstärkt Studien über die psychischen Belastungen israelischer Soldaten, die hart gegen die zumeist unbewaffnete palästinensische Zivilbevölkerung während dieses Volksaufstandes vorgingen (vgl. Brunner 2014). Der in erster Linie gewaltfrei organisierte Widerstand der Palästinenser schien zunächst mit der Entwicklung des Osloer Friedensprozesses in den frühen 1990er-Jahren Früchte zu tragen. Die Abkommen stießen jedoch nicht nur auf Zustimmung, sondern auf israelischer wie palästinensischer Seite gab es von Beginn an große Protestbewegungen. Die Spirale der Gewalt drehte sich immer weiter. Die Erschießung betender Muslime in Hebron 1994 durch Baruch Goldstein sowie die Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin durch einen nationalreligiösen Siedler im November 1995 stellen zwei traurige Höhepunkte innerhalb dieser Entwicklung dar. Innerhalb Israels kam es vermehrt zu terroristischen Anschlägen, seit 1994 sprengten sich immer häufiger palästinensische Märtyrer-Attentäter an belebten öffentlichen Plätzen, in voll besetzten öffentlichen Bussen und Cafés in die Luft, mit dem Ziel möglichst viele israelische Zivilisten mit in den Tod zu reißen.3 Unsicherheit und Angst dominierten den israelischen Alltag und festigten die Überzeugung, dass es auf der palästinensischen Seite keinen Partner für eine friedliche Beilegung des Konfliktes gebe. In der Folge baute die israelische Regierung ihre Abriegelungspolitik weiter aus. Diese zog für die Palästinenser die Einschränkung grundsätzlicher Rechte nach sich, wie etwa das Recht auf Bewegungsfreiheit. Die in dem Osloer Friedensabkommen getroffenen Autonomievereinbarungen zwischen der israelischen und palästinensischen (Exil-)Regierung konnten kein territorial einheitliches Gebilde schaffen, es entstand vielmehr ein Flickenteppich unter palästinensischer Autonomie stehender Ortschaften und Enklaven: Die großen palästinensischen Zentren stehen seither unter palästinensischer Kontrolle („Area A“); andere (vor allem landwirtschaftlich geprägte) Gebiete werden gemeinsam von Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet („Area B“). Israel behält die militärische Kontrolle über die Gebiete, zivile An-

3

Siehe auch: Stein, Rebecca (2005), „The Ballad of the Sad Café: Israeli Leisure, Palestinian Terror and the Post/colonial Question“, in: Loomba, Ania et.al. [eds.] (2005), Postcolonial Studies and Beyond, Durham; London: Duke University Press 2006, S. 317-336.

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gelegenheiten stehen in der Verantwortung der PA. Die übrigen von „Area A“ und „Area B“ umgebenen Gebiete, die etwa 60% des Landes ausmachen und mit israelischen Siedlungen und Militärstützpunkten durchzogen sind, stehen unter ausschließlicher Souveränität Israels („Area C“) und gelten als „closed military zone“. Areas A and B were defined by drawing around Palestinian population centers at the same time the Interim Agreement was signed. Some 2,4 million Palestinian residents live in these areas, which are subdivided into 165 separate units of land that have no territorial contiguity. All areas surrounding Areas A and B were defined as Area C, which does have territorial contiguity.4

Die nur vorläufig geplante Teilung der Gebiete zur stufenweisen Übertragung der Amtsgewalt an die PA besteht nun seit knapp 20 Jahren und zieht besonders für die palästinensischen Bewohner der „Area C“ äußerst schwierige Lebensbedingungen nach sich. „Area C“ ist kein fest begrenztes Gebiet im engeren Sinne. Es gibt Ortschaften wie Nabi Saleh5 in der Nähe von Ramallah, die zu „Area B“ und „Area C“ gehören. Die hieraus resultierende Problematik möchte ich an einigen Beispielen verdeutlichen: Bei einem Forschungsaufenthalt (2014) sitze ich mit einigen Bewohnern des Ortes zusammen. Einer der Männer erzählt mir, dass sein Haus zu „Area C“ gehöre, während das Haus seines Bruders, das nur wenige Meter entfernt sei, in

4

http://www.btselem.org/area_c/what_is_area_c (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Aus-

5

Nabi Saleh hat seit einigen Jahren aufgrund seiner friedlich ausgelegten Freitags-

führliche Informationen zu B’Tselem (‫ )בצלם‬siehe auch Kapitel 7. demonstrationen, die jedoch meist in gewaltvollen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär enden, internationale Bekanntheit erlangt. Im Frühjahr 2014 konnte ich selbst an einer der Freitagsdemonstrationen teilnehmen und Zeugin der Ambivalenz von Gewalt und Gewaltfreiheit werden. Mit beschriebenen Transparenten und Sprechchören machten sich die palästinensischen Bewohner und (internationalen) Aktivisten auf den Weg in Richtung der israelischen Siedlung. Am Checkpoint waren bereits die israelischen Soldaten positioniert. Die Kinder liefen die Hügel rauf und runter und schossen mit ihren Zwillen Steine in Richtung der Soldaten, die alsbald mit Tränengas zurückschossen. Nach etwa einer Stunde zogen sich beide Seiten langsam wieder zurück. Die Bewohner erzählten mir, dass dies eine ruhige Demonstration gewesen sei. Da am Morgen eine Bewohnerin Nabi Salehs verstorben sei, hätte man beschlossen, die Demonstration möglichst klein zu halten. Ich war überrascht von dieser Aussage, da ich selbst den Ablauf teilweise sehr heftig empfunden habe.

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„Area B“ liege. Ein anderer Bewohner Nabi Salehs erzählt mir, dass seine Kinder nicht in ihrem Elternhaus bleiben können, wie es traditionell vorgesehen sei. Da sich das Haus zufälligerweise auf dem als „Area C“ deklarierten Gebiet befinde, haben sie nicht das Recht das Haus aufzustocken oder anzubauen, obwohl ihnen offiziell das Grundstück gehöre. Seine Kinder müssen so zwangsläufig nach „Area A“ oder „Area B“ umziehen, was für ihn, wie für viele andere Palästinenser mit denen ich gesprochen habe, einer indirekten Vertreibung gleichkomme. Jenin beispielsweise gehört zu „Area A“ und untersteht damit der PA. Ein junger Schauspielabsolvent des „Freedom Theatre’s“ erklärt mir bei einem Spaziergang durch das Flüchtlingslager in Jenin, dass die Hauptstraße des Camps aber zu „Area C“ gehöre, was es dem israelischen Militär erleichtere, ihre nächtlichen Razzien – in der Regel in Absprache mit der PA – durchzuführen. Die israelische Menschenrechtsorganisation „B’Tselem“ schreibt in diesem Zusammenhang auf ihrer Homepage: The boundaries outlined for Area A and B impose an artifical scarity of land for some of the communities in these areas. If residents build homes without permission on nearby land – owned by them but classified Area C – they live with the ever-present threat of demolition.6

Den Palästinensern in „Area C“ wird jegliche Möglichkeit einer legalen Ausweitung ihrer Gemeinschaften untersagt, sodass sie mit der ständigen Sorge leben müssen, dass ihr Zuhause zerstört wird und/oder sie von ihrem Grund und Boden vertrieben werden. Besonders schwer haben es diejenigen Palästinenser, die ausschließlich im Gebiet der „Area C“ leben, wie beispielsweise im Jordantal oder den South Hebron Hills. So führt auch „B’Tselem“ weiter aus: Of the residents of communities located entirely within Area C, over 20.000 live in Bedouin or other shepherding communities, in tents, sheetmetal shacks or caves. They have only very limited access to services and are not hooked up to water, sanitation or electricity infrastructures.7

Das Verbot Häuser zu bauen und Infrastrukturen zu erweitern bzw. den Bedürfnissen der palästinensischen Bevölkerung anzupassen, führen insbesondere in den ländlichen Regionen dazu, dass traditionelle Familienstrukturen sich auflö-

6

http://www.btselem.org/area_c/what_is_area_c (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

7

http://www.btselem.org/area_c/what_is_area_c (zuletzt aufgerufen: 30.05.2017).

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sen und zerstört werden. Die Schulen und Universitäten in „Area A“ sind durch die enormen Mobilitätsbeschränkungen oft nur unter großem zeitlichen Aufwand zu erreichen, sodass die Kinder und Jugendlichen schon früh ihr zu Hause verlassen müssen, um in die größeren Zentren zu ziehen. Das Reisen zwischen den einzelnen Sektionen und Subsektionen innerhalb der Westbank und dem israelischen Staatsgebiets ist in aller Regel ein beschwerliches Unterfangen und an viele, oftmals widersprüchliche Bedingungen und Bestimmungen gebunden. Diese können darüber hinaus von Übergang zu Übergang, von Checkpoint zu Checkpoint variieren, sodass die Grenzgänge, die Bewegungen über die markierten oder auch nur temporär markierten Grenzen hinweg, mit einem großen Zeitverlust, mit Unsicherheit (die Übergänge überhaupt passieren zu können), potenziellen Konfrontationen mit Soldaten und Siedlern und nicht selten mit zusätzlichen Kosten verbunden sind. Machtpolitisch dienen die Mobilitätsbeschränkungen der Kontrolle über Gebiete, die Israel für sich und seine Siedlungen beansprucht. Diese Ansprüche werden speziell von der fundamentalistischen Siedlerbewegung nationalreligiös überhöht.8 Der israelische Historiker Gadi Algazi (2008: 325)9 weist etwas überspitzt darauf hin, dass die Siedler die eigentlichen Machtinhaber innerhalb des Konfliktes seien: Die israelischen Militärs und Polizei erklären oft, dass sie angesichts der Gewaltsamkeit der Siedler hilflos sind. Das ist sicherlich oft ein bloßer Vorwand für Nichtstun, doch es gibt auch einen Kern Wahrheit darin: Der Staat ist nicht in der Lage, seine Gesetze gegen Tausende bewaffneter Siedler durchzusetzen, die eine Reihe formaler und informaler Immunitäten besitzen, ständig vor Ort präsent sind und solidarisch gegen jeden Einmischungsversuch von außen auftreten.

Zugleich spricht Algazi nicht nur von einer Machtlosigkeit gegenüber der Siedlerbewegung, sondern auch von einer bewussten Allianz zwischen Staat (Militär) und Siedlern. Die Zerstückelung der besetzten palästinensischen Gebiete durch die israelische Siedlungspolitik impliziert gleichermaßen auch, dass die Palästinenser die

8

Siehe auch: Baumgart-Ochse, Claudia (2010), „Die politisierte Religion der Siedler“, in: Ansorge (2010), Der Nahostkonflikt, S. 29-40.

9

Algazi, Gadi (2008), „Sperrzonen und Grenzfälle. Beobachtungen zu Herrschaft und Gewalt im kolonialen Kontext zwischen Israel und Palästina“, in: Lüdtke, Alf; Wildt, Michael [Hrsg.] (2008), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen: Wallstein Verlag.

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speziell für die Siedler gebauten Hauptverkehrswege nicht nutzen dürfen und entsprechend Umwege und lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Darüber hinaus zieht die selektive An- und Abwesenheit des israelischen Militärs durch die vielfältigen Abriegelungsmaßnahmen einen Prozess der Distanzierung nach sich. Durch die Sperranlage mit ihren zahlreichen Checkpoints wird die direkte israelische Präsenz reduziert. Die durch die Abriegelungspolitik entstandenen palästinensischen Enklaven werden nun von „außen“ unter Kontrolle gehalten, indem beispielsweise Teilgebiete mal geöffnet, mal über einen längeren Zeitraum geschlossen werden. Algazi (2008: 337) erklärt anhand dieser Abriegelungsmaßnahmen den Anstieg des Armuts- und Gewaltniveaus und spricht von einem „Containment“ „flüchtiger Subjekte“, die „[…] mit der wachsenden Zahl von Menschen in Beziehung gesetzt werden [können], [die] nur dadurch von Belang werden, dass sie eine Gefahr darstellen könnten.“ In die Bezeichnung der „flüchtigen Subjekte“ fügt sich auch der im israelischen Sprachgebrauch verwendete Ausdruck der „anwesenden Abwesenden“. Der Begriff beschreibt laut Alexander Flores die Gruppe von Palästinensern, die im Zuge des Krieges 1948 aus ihrer Heimat flohen oder vertrieben wurden.10 Die meisten von ihnen waren oder blieben tatsächlich abwesend. Sie befanden sich nach dem Krieg außerhalb des neugegründeten israelischen Staatsgebiets und man ließ sie nicht zurückkehren. Als abwesend wurden gleichzeitig aber auch diejenigen bezeichnet, die während des Krieges zwar ihre Wohnorte verließen, aber sich nach dem Krieg innerhalb des israelischen Staatsgebiets befanden. Auch ihnen wurde die Rückkehr in ihre Dörfer nicht gestattet. Sie siedelten sich in Städten und anderen Dörfern an oder gründeten neue Dörfer, die bis heute seitens der israelischen Regierung meistens nicht offiziell anerkannt werden.11 Obgleich es seit Anbeginn des israelisch-palästinensischen Konflikts zahlreiche ernsthafte Versuche gab, eine offizielle Grenzziehung auszuhandeln, haben sich diese bisher als nicht anwendbar erwiesen: Die beiden politischgeografischen und sozio-kulturellen Konzepte beziehen sich auf ein und denselben Raum und überschneiden sich.12 Es geht um die Teilung „[…] eines Raumes, in dem man verzweifelt das Untrennbare durch die Vervielfachung einer

10 http://www.ibn-rushd.org/Deutsch/Laudatio-Flores.D.htm (zuletzt aufgerufen: 30.05. 2017). 11 Diese Problematik wird auch bei dem weiter oben angeführten Beispiel von der ehemals christlich-palästinensischen Ortschaft Iqrit deutlich. Siehe auch Fußnote 211. 12 Siehe auch Benvenisti (2000) und LeVine, Mark; Mossberg, Mathias [eds.] (2014), „One Land, Two States. Israel and Palestine as Parallel States“, Berkeley; Los Angeles: University of California Press.

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einzigen territorialen Realität und die Schaffung zweier insularer nationaler Geografien zu trennen versucht.“ (Weizman 2008: 22) Im Folgenden wird die Politik der kontrollierten Abriegelung sowohl anhand des unterschiedlichen ID-Karten13 Systems für Israelis und Palästinenser, als auch der zahlreichen Checkpoints, die sich durch die Westbank ziehen, detaillierter erläutert. 3.1.1 Beispiel: Israelische und palästinensische ID-Karten Helga Tawil-Souri geht in ihrer umfassenden Studie zum komplexen ID-Karten System14 in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten davon aus, dass mittels der unterschiedlichen ID-Karten, die für Israelis und Palästinenser ausgestellt werden, nicht nur Grenzen zwischen (einem möglichen) israelischem und palästinensischem Staatsgebiet errichtet werden, sondern in erster Linie zwischen jüdischen Israelis, arabischen Israelis und arabischen Palästinensern. Tawil-Souri beschreibt diese als vom israelischen Staat etablierten Grenzmechanismen, als „mediated space of the border“ (Tawil-Souri 2012: 14), die Bewegungen über gesetzte Grenzen einerseits ermöglichen, andererseits aber beschränken oder ganz verwehren: These ID-cards are prosaic ‚things‘ that ultimately determine Palestinans’ geographic, economic, and social mobility, the mechanisms through which Palestinians are controlled, ordered, and bordered throughout the territory. (Tawil-Souri 2012: 3)

Alle jüdischen Israelis besitzen heute blaue ID-Karten, egal ob sie in Tel Aviv, in Jerusalem oder in einer der zahlreichen Siedlungen innerhalb der Westbank leben. Darüber hinaus ist laut des israelischen ‚Rückkehrgesetzes‘ jeder Jude weltweit dazu befugt, sich in Israel niederzulassen und damit die israelische Staatsbürgerschaft mitsamt blauer ID-Karte zu erhalten. Für die palästinensischen Bewohner gestaltet sich die Situation unübersichtlicher. Palästinenser, die in Israel leben, sind in Besitz blauer ID-Karten, allerdings gibt es eindeutige

13 Ausweis, Identitätskarte. 14 Tawil-Souri, Helga (2012), „Uneven Borders, Coloured (Im)mobilities: ID Cards in Palestine/Israel“, Geopolitics, DOI: 10.1080/14650045.2011.562944; Vgl. auch: Dies. (2011), „Colored Identity. The Politics and Materiality of ID cards in Palestine/Israel“, in: Social Text 107, Vol. 29, No. 2, Summer 2011, Duke University Press, S. 67-97.

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Marker, die im Sinne eines „labeling“ kenntlich machen, dass der Inhaber nichtjüdisch ist. (Tawil-Souri 2012: 11 ff.) Zwischen 1948 und 1967 erhielten palästinensische Bewohner Ostjerusalems und der Westbank vorläufige jordanische Ausweise, diejenigen im Gazastreifen erhielten entsprechend ägyptische Dokumente. Mit der israelischen Eroberung der Westbank, des Gazastreifens, des Sinais, der Golanhöhen und OstJerusalems 1967, erhielten alle Palästinenser in den besetzten palästinensischen Gebieten, außer denjenigen mit Wohnsitz in Ost-Jerusalem, orangene oder rote ID-Karten. Ab 1988 gab es für Palästinenser, die nicht in das israelische Staatsgebiet einreisen durften, zwecks Erkennung auch grüne ID-Karten. Tawil-Souri (2012:5) erklärt: Orange, red, or green, these did not serve as travel documents nor granted Palestinians any political rights or Israeli citizenship. Rather, they would render Palestinians ,legible‘ […] to Israeli military forces primarily as means of control and surveillance.

Bis in die frühen 1990er-Jahre hinein konnten sich die Palästinenser innerhalb Israels und der besetzten palästinensischen Gebiete, im Gegensatz zu heute, relativ ungehindert bewegen, am meisten waren die Einwohner des Gazastreifens von Mobilitätsbeschränkungen betroffen. Gab es aber spezielle Einschränkungen, betraf dies in aller Regel eine einzelne Person – kenntlich gemacht beispielsweise durch grüne Ausweispapiere, nicht wie heute ein gesamtes Kollektiv, das aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen in seiner Mobilität beschränkt wird. Nach den Vereinbarungen von Oslo fiel die Ausstellung von ID-Karten für die Palästinenser in den besetzten palästinensischen Gebieten in die Zuständigkeit der neu gegründeten PA, die jedoch nicht unabhängig vom israelischen Regierungsapparat agieren konnte und kann. Nur diejenigen, die bereits vor den Osloer Abkommen in den besetzten palästinensischen Gebieten lebten, sowie deren Kinder, sind dazu berechtigt, palästinensische Ausweispapiere zu erhalten. Die seither ausgestellten ID-Karten sind grün, auf Arabisch und tragen die Insignien der PA. Palästinenser, die außerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete leben, können diese nicht beantragen. So können beispielsweise auch aktuell die zahlreichen palästinensischen Flüchtlinge aus Syrien kein Asyl in den besetzten palästinensischen Gebieten erhalten, selbst dann nicht, wenn sie dort geboren worden sind. Palästinensische Bewohner Ost-Jerusalems bilden weiterhin eine Ausnahme innerhalb dieser Regelungen. Tawil-Souri (2012: 6) erläutert:

124 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND […] although Israel annexed Jerusalem in 1967 and continues to expand the city’s municipal boundaries, it did not, and still does not, incorporate the city’s Palestinians as Israeli citizens, granting them instead ‚temporary residency‘.15

Seit 1967 versucht die jeweilige parteipolitische Führung Israels die Anzahl der in Jerusalem ansässigen Palästinenser zu reduzieren. Dies geschieht zum Beispiel durch die Aufhebung der Gültigkeit von ID-Karten, die Begrenzung palästinensischer Infrastrukturen bei gleichzeitiger Erweiterung jüdischer Wohngegenden, die Zerstörung palästinensischen Wohneigentums sowie die strikte Verweigerung von Familienzusammenführungen. Die PA wiederum hat keine Befugnis, den palästinensischen Bewohnern Jerusalems palästinensische IDKarten auszustellen: Most Palestinian Jerusalemites […] remain citizenship-less. To travel abroad they use temporary Jordanian passports or Israeli-issued travel permits. However, as residents of Israel they are also issued blue ID-cards that look identical on the outside to those mandated to Israeli citizens. […] Most important is the unique Israeli label of ,nationality‘, particularly as a means of distinguishing between blue ID card holders – by virtue of holding a different colour, OPT-Palestinians are already distinguished. […] Since the mid-2000s, blue ID cards no longer spell out ,nationality‘, since marked only with eight asterisks. There are details on the card itself however that continue to differentiate Jews and nonJews: first, the date of birth follows the Hebrew calendar for Jews, and second, all cards are numerically coded, so that the digitization of the numbering reveals to the authorities the identity of the ID holder. (ebd.: 7)

Während meiner Forschungsaufenthalte hatte ich einige Male die Möglichkeit, mit einer befreundeten Familie aus Ost-Jerusalem über den ‚Jerusalem Status‘ zu sprechen. Sie können sich zwar relativ frei in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten bewegen, dennoch sind sie häufig mit Einschränkungen innerhalb ihres Alltages konfrontiert. Einer der vier Söhne hat vor einigen Jahren aufgrund seiner politischen Gesinnung Ost-Jerusalem verlassen. Er lebt seither im europäischen Ausland und hat dort mittlerweile eine Familie gegründet. 2013 ist er nach Jerusalem zurückgekehrt, einerseits um seine Familie zu besuchen, zu der er eine enge Beziehung pflegt, andererseits um seine Aufenthaltspapiere zu verlängern, die der israelische Staat aber mittlerweile über Monate hinweg einbehält. Er sagt, das sei eine Zermürbungstaktik, denn sie wollen ihn so lange

15 Dieser Status wurde einschränkend jedoch nur denjenigen Palästinensern gewährt, die zu diesem Zeitpunkt auch wirklich in Ostjerusalem anwesend waren.

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hinhalten, bis er ohne seine Papiere zu seiner Familie in Europa zurückkehrt. Ohne Papiere auszureisen würde für ihn bedeuten das Aufenthaltsrecht in Israel zu verlieren. Das Grundstück seiner Familie liegt in einer beliebten Ost-Jerusalemer Gegend, auf einem noch weitgehend unbebauten Hügel. Ein anderer Sohn der Familie, der zur Zeit meines letzten Aufenthalts noch studierte und zu Hause lebte, sprach von Einschüchterungsversuchen seitens der israelischen Armee, die des Öfteren nachts auftauche und Hausdurchsuchungen durchführe. Die Mutter, eine eindrucksvolle Frau, die aufgrund ihrer politischen und frauenrechtlichen Aktivitäten mehrere Jahre im Gefängnis saß, erzählte auf mein Nachfragen, dass sie die nächtlichen Störungen mittlerweile recht gelassen nehme. Sie spränge nicht sofort auf, wenn die Soldaten kommen. Bei einem der Zwischenfälle habe sie die Soldaten freundlich aufgefordert, doch bitte noch einen Moment zu warten, sie würde erst noch ihren Kaffee zu Ende kochen wollen, bevor sie das Haus verlasse. Ein anderes Familienmitglied aus Ost-Jerusalem war daran interessiert, für sich und seine wachsende Familie eine größere Wohnung in Jerusalem zu beziehen. Er erzählte aber, dass an Palästinenser kaum noch Wohnraum verkauft oder vermietet werde, höchstens zu horrenden Preisen, die sich kaum jemand leisten könne. So sah er sich gezwungen, ein entsprechendes Objekt in Ramallah zu erwerben. Gemeldet sei er aber zusätzlich noch in Jerusalem um seinen Aufenthaltsstatus nicht zu verlieren. Dieser sei für ihn vor allem auch beruflich sehr wichtig, da er als Anwalt unter anderem für und mit inhaftierten palästinensischen Kindern und Jugendlichen in israelischen Gefängnissen arbeitet. Tawil-Souri beschreibt in ihrem Artikel darüber hinaus, dass seit dem Osler Friedensabkommen alle in den besetzten palästinensischen Gebieten lebenden Palästinenser, neben der obligatorischen ID-Karte, spezielle individuelle Passierscheine bei sich tragen müssen, um nach Israel und Ost-Jerusalem einreisen zu können. Um diese beantragen zu können und ausgestellt zu bekommen, ist wiederum eine spezielle Magnetkarte erforderlich, die über das ‚Sicherheitsrisiko‘ der jeweiligen Person Auskunft gibt. Die Passierscheine sind wie die ID-Karten nicht einheitlich, das heißt sie variieren in ihrem Gültigkeitsbereich. Zahlreiche Beispiele zeigen jedoch, dass über einen gültigen Passierschein zu verfügen nicht bedeutet, dass der Erlaubnis, den Checkpoint zu überqueren, auch wirklich stattgegeben wird. Tawil-Souri (2012:21) fasst zusammen: In conclusion, ID cards are manifestations of power, representing a bureaucratic and tactile response to Israel’s geo-political ,problem‘ of Palestinian presence in Palestine/Israel, particular kinds of bordered identities and im/mobilities. Israel enjoys a monopoly over

126 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND where and how to mark and enforce the boundaries between itself and Palestinians in a largely expanding manner. But these are contradictory and uneven borders, and not simply in the geographic form of settlements or walls. The space of the border that an ID card creates is mostly ,soft‘ and trespassable for the Israeli state apparatus and some of its citizens, but ,hard‘ for Palestinians. Further, the relative ,irrelevance‘ of borders for JewishIsraelis contrasted to the more determinative bordering of Palestinians manifested in ID cards happens on either ,side‘ of the Green Line, throughout the territory of Palestine/Israel; and in permitting Jews from all over the world to ,return‘ to Israel but preventing Palestinians from doing the same, well outside the larger territory. Israel’s borders then are not easily mapped along any (geographical/territorial) boundary, but on Palestinian mobilities and flows.

Im Folgenden wird es um konkrete Grenz-Orte gehen: um die zahlreichen Checkpoints, die sich durch das Land schlängen und ‚Drehkreuze‘ palästinensischer Mobilität sind. 3.1.2 Beispiel: Checkpoints Wie beschreibt man die Erfahrung, von einer Stimme kontrolliert zu werden, die oft hinter einer Betonmauer ertönt oder aus einer dunklen Kabine kommt? Manchmal siehst du kein Gesicht – nur eine Stimme, und ein Gewehr. Diese Stimme hat einen sehr begrenzten Wortschatz: „Weitergehen!“, „Stopp!“, „Umdrehen!“, „Jacke ausziehen!“, „Links drehen, rechts drehen!“, „Schnell weiter!“, „Alles auspacken!“, „Warten!“ oder: „Schnell, schnell, weitergehen!“, oder doch: „Zurück, kein Durchgang. Heute ist zu!“ Diese Stimme ist allmächtig und arbiträr. Sie duldet keinen Widerspruch, ihre Entscheidungen sind endgültig. Protest wird oft umgehend bestraft: Stundenlang am Straßenrand oder in den Feldern stehenzubleiben, manchmal mit erhobenen Händen; gezwungen zu werden, die Autoschlüssel, schlimmer noch – die Papiere abzugeben; vor allen Umstehenden, der ganzen Checkpointgemeinschaft, die stundenlang wartet

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(es wird gesprochen, gelacht, gespielt, gehandelt an dem Checkpoint), erniedrigt zu werden. (ALGAZI 2008: 333 ff.)

Im Sommer 2015 erreicht mich folgende Mail von einem befreundeten palästinensischen Schauspieler: I finally arrived in Amsterdam. On my way to Amman, I passed the Israeli border and there were already hundreds of Palestinian travelers waiting to pass. You can’t imagine: Seven young Israeli girls with guns were controlling all those waiting people. There was an elderly couple and the girls were shouting at them in Hebrew. And they were making fun of them. When it was my turn, they asked me a lot of questions and then they finally left. I had to wait for a long time. What is really painful: From Jordan to Holland it takes a 6 hours flight, and passing the Israeli border needs 12 hours. But finally they served me some water and a sandwich. Welcome to the „Five Stars Occupation“.

Ein Großteil alltäglicher Unternehmungen der Palästinenser ist mit dem Überqueren von Checkpoints verbunden, deren Passierbarkeit ist wiederum von einem hohem bürokratischen Aufwand begleitet, das heißt mit dem Erstellen von Anträgen und das Warten auf Bescheide, die oft negativ ausfallen.16 Die israelische Menschenrechtsorganisation „MachsomWatch“17 (siehe Kapitel 7), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschenrechtsverletzungen gegenüber Palästinensern an Checkpoints zu dokumentieren, konstatiert, dass […] every movement by Palestinians from place to place, for whatever purpose, is […] in itself […] not a simple action for people whose freedom of movement is restricted. At the end of this torturous obstacle race, there is no certainty that the person will actually receive the permits they require.18

16 Eine sehenswerte Dokumentation ist beispielsweise der Film „Checkpoint“ (2003) von Yoav Shamir. 17 In deutscher Übersetzung etwa „Checkpoint Beobachterinnen“ (‫ מחסום‬Watch). 18 http://www.machsomwatch.org/docs/Counterview.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016), Ein weiterer lesenswerter Bericht findet sich auf der Webseite von MachsomWatch von Neta Efroni: http://www.machsomwatch.org/en/checkpoint_qalandiya_personal_report (zuletzt aufgerufen: 30.05.2017).

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In einem der sogenannten „testimonies“ der israelischen Menschenrechtsorganisation „Breaking the Silence“19 (siehe Kapitel 7), welche die Erfahrungen und Erlebnisse (ehemaliger) israelischer Soldaten dokumentiert und anonym veröffentlicht, wird die Willkür an den Checkpoints folgendermaßen beschrieben: There was this checkpoint inside Nablus itself; this road that connected Beit Fariq with other villages east of Nablus. We’d give them a hell of a time there. It was a checkpoint where we would detain whoever we felt like it; chase ,leakers‘. […] You had to check anyone going through to make sure there were no wanted person and such. […] By order of the company commander we had to detain whoever tried to run away, anyone whose IDs we needed to clear with the police. […] Until they’d get back to us it would take about 2030 minutes for every number we passed on them. With all the communication hitches and rain and sun and all, they were held up for quite a while. Whoever got rude in the meantime, or raised his voice, or just got on our nerves for some reason, we’d button him up, meaning we’d shackle him. […] Blindfolding would only be for the cases where they really went overboard. We’d made them kneel, dry them out. […] It could go up to eight or nine hours. Until we’d get tired of it. […] That’s how it worked, essentially.20

Tawil-Souri (2010)21 führt in ihrer ausführlichen Studie über den „Qalandia Checkpoint“ diesbezüglich weiter aus, dass der diensthabende Soldat am Checkpoint nicht zwangsläufig den Grund des Passierverbots bekannt geben müsse. Manchmal sei eine Überquerung darüber hinaus auch einfach nicht möglich, weil der Checkpoint geschlossen ist, […] nothing is transparent […] it is never clear who will [pass] and who will not. The reasons [for prohibiting Palestinians from passing] are so numerous, and the use made of them changes so much, that uncertainty becomes the ultimate system of control within the framework of certainty of the occupation. Not only is the arbitrariness deliberate, the inefficiency of the system is built in too.22

19 Hebräische Übersetzung „Shovrim Schtika“ (‫)שוברים שתיקה‬. 20 http://www.breakingthesilence.org.il/testimonies/database/80688 (zuletzt aufgerufen: 30.05.2017). 21 Tawil-Souri-Helga, „Qalandia Checkpoint: The Historical Geography of a NonPlace“, in: Jerusalem Quaterly 42, Summer 2010, S.26-48. 22 Machsomwatch and Physicians for Human Rights-Israel (2004), „The Bureaucracy of Occupation: The District Civil Liaison Offices“, online abrufbar: http://www.ocha opt.org/documents/opt_prot_machsomwatch_bureaucracy_occupation_200.pdf letzt aufgerufen: 30.05.2017).

(zu-

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Checkpoints können als Schauplatz begriffen werden, an dem sich der israelischpalästinensische Konflikt auf alltäglicher Basis offenbart. Sie sind äußerst unterschiedlich angelegt und weisen diverse Erscheinungsformen auf. Neben den festen, groß angelegten Checkpoints mit hohen Kontrolltürmen, Warte- und Sicherheitszonen, Absperrgittern, (automatischen) Drehtoren, und Überwachungskameras, wie der „Qalandia Checkpoint“, gibt es auch durch große gelbe Toranlagen markierte Übergänge sowie die sogenannten mobilen „flying checkpoints“, die nur temporär bestehen. Bei letzteren handelt es sich um nur zeitweise geltende und willkürlich gesetzte Grenzziehungen, die durch provisorische Markierungen wie Militärfahrzeuge (vgl. weiter oben die ethnografische Beschreibung) sichtbar gemacht werden. Sie sind entsprechend gerade nicht auf die Umrisse politisch-territorialer Räume begrenzt: Unterscheidungen zwischen dem Innen und Außen können hier nicht mehr eindeutig markiert werden (Weizman 2008: 22). Die Checkpoints werden oft nicht entlang der „Grünen Linie“, das heißt der Waffenstandslinie von 1949, gebaut, sondern sie werden im Gegenteil inmitten der besetzten palästinensischen Gebiete errichtet, die das verbleibende palästinensische Territorium in Enklaven und „Sub-Gebiete“ unterteilen. Diese Checkpoints sind als ‚innere Checkpoints‘ zu verstehen und schränken die Mobilität der Palästinenser innerhalb ihrer eigenen (Sub-)Gebiete maßgeblich ein. Um dies zu illustrieren, darf folgendes Beispiel angeführt werden: Es gibt spezielle landwirtschaftlich genutzte Übergänge, die es den ansässigen Palästinensern ermöglichen sollen, ihren landwirtschaftlichen Tätigkeiten nachzugehen. Wie die meisten Checkpoints sind diese zeitlich nur sehr begrenzt und/oder sogar nur saisonal geöffnet, was in der Konsequenz bedeutet, dass viele Felder nur unzureichend oder gar nicht mehr bewirtschaftet werden können. Dies wird wiederum von nationalreligiösen Siedlern oft als Argument dafür genutzt, sich die Ländereien aufgrund „mangelnder Pflege“ anzueignen. Die durch die zahlreichen, willkürlichen Grenzziehungen bedingten Einschränkungen palästinensischer Mobilität ziehen zwangsläufig einen enormen Unsicherheitsfaktor bei der Ausübung alltäglicher Aufgaben nach sich und haben damit einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf Ökonomie, Sozialwesen und Infrastruktur. Nicht nur Art und Funktion der Checkpoints variieren stark, sondern auch die Angaben über die Anzahl selbiger. Dies steht wiederum eng mit der Frage im Zusammenhang, wie ein Checkpoint eigentlich zu bestimmen ist. Auf diese Problematik weist auch Tawil-Souri (2010: 29ff.) hin:

130 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND There are challenges in accurately stating the number and type of checkpoints at any given time: as it depends on how a certain checkpoint is classified (is a roadblock with occasional military control a checkpoint?); second, they increase, or sometimes decrease, in time. Mapping checkpoints is an absurd exercise of documenting the shifting temporal landscape of occupation – a map created today does not necessarily reflect what was yesterday and could likely be obsolete tomorrow. […] Checkpoints have also grown in terms of the military making their presence larger and physically amplifying the checkpoint’s volume: increasing the number of soldiers; erecting control towers, bunkers, and cement blocks; forming lines, installing metal turnstiles, razor-barbed wires, and concrete walls. The physicality of a checkpoint changes over time: what may have started out as a temporarily-manned road block now sits along the security fence/wall, is made up of hundreds of tons of concrete, CCTV cameras, automatic turnstiles, and has twenty-four hour surveillance.

Möchte man von der Westbank nach Ost-Jerusalem reisen, gibt es laut „B’Tselem“ zwölf Checkpoints entlang der groß angelegten israelischen Sperranlage. Acht von ihnen sind nur für israelische Staatsbürger, Siedler sowie für Palästinenser mit israelischer ID-Karte passierbar; die übrigen vier sind für alle in den besetzten palästinensischen Gebieten wohnhaften Palästinenser geöffnet.23 Das bedeutet, dass die Palästinenser je nach Wohnsitz und je nach Einreisebestimmungen unter Umständen einen langen Umweg in Kauf nehmen müssen, um zu einem Checkpoint zu gelangen, den sie überqueren dürfen. Ich erinnere mich an einen 13-jährigen palästinensischen Jungen, der in Nazareth an einer vom „PII“ (Palestinian International Institute mit Hauptsitz in Amman, Jordanien) organisierten Ferienfreizeit teilgenommen hat. Die Ferienfreizeit, die ich während einer Forschungsreise 2013 ein paar Tage lang begleiten konnte, richtet sich an palästinensische Kinder und Jugendliche aus der Westbank und dem Gazastreifen sowie an internationale Teilnehmer mit palästinensischen Wurzeln. Den Verantwortlichen ist es ein Anliegen, den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich mit den Wurzeln ihrer Vorfahren vertraut zu machen, die sie nur aus den Erinnerungen vorheriger Generationen kennen sowie das Aufsuchen von konkreten Erinnerungsorten, zu denen sie sonst keinen Zugang mehr haben. Zugleich wird durch ein derartiges Programm die Erinnerung an die Flucht und Vertreibung der Palästinenser neu belebt, bei-

23 http://www.btselem.org/freedom_of_movement/checkpoints_and_forbidden_roads (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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spielsweise durch den Besuch des zerstörten christlich-palästinensischen Dorfes Iqrit (Kapitel 2).24 Die palästinensischen Ferienfreizeiten lassen sich prinzipiell als Gegenstück zu den jüdischen „Birth right“-Reisen verstehen, die jüdische Kinder und Jugendliche aus aller Welt nach Israel bringen, damit sie eine Verbindung zu ihrem „Heimatland“ aufbauen können. Für die Teilnahme benötigen die palästinensischen Kinder und Jugendlichen eine von den israelischen Behörden erteilte Einreiseerlaubnis. Am Anreisetag der von mir begleiteten Ferienfreizeit mussten wir bis spätabends auf den 13-jährigen Jungen warten, der zwar über die von Israel bescheinigte Einreiseerlaubnis verfügte, aber trotzdem an zwei Checkpoints abgewiesen wurde, erst den dritten Übergang durfte er schließlich passieren. Eine immer wiederkehrende Konstante meiner Forschungsreisen ist der bereits beschriebene „Qalandia-Checkpoint“, den ich immer dann passiere, wenn ich aus Ostjerusalem über Ramallah nach Jenin und wieder zurückreise. Abbildung 3: Ein Teil der Mauer beim Qalandia-Checkpoint

Foto: Anne Rohrbach

24 Das Dorf Iqrit liegt etwa 25 km nordöstlich von Akko und wurde während des Krieges 1948 zerstört. Es blieb lediglich die Dorfkirche erhalten. Iqrit ist heute eines der Zentren des gewaltfreien Widerstands.

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Der „Qalandia-Checkpoint“ lässt sich als innerer Checkpoint einordnen, da er den südlichen Teil Ramallahs von den nördlichen Jerusalemer palästinensischen Vierteln Al-Ram und Beit Hanina trennt und er kann exemplarisch für die Architektur der Besatzung stehen: The Qalandia checkpoint has grown at a speed that few other ,developments‘ have in the West Bank – perhaps with the exception of settlements. In late 2000, it emerged as an earth mound along the main Jerusalem-Ramallah road that drivers had to circumvent with sporadic military checks; by 2001, there were concrete barricades and a fence controlling the flow of pedestrians and vehicles 24 hours a day. By 2003, there was a watch tower, a corrugated tin roof overhead travelers’ walk-way; around it an open-air shopping mall was taking root. By 2005, a nearby hilltop had been razed, the 8-meter high wall snaked along its Western flank and increasing numbers of merchants were permanently located there. By 2006 it became a monstrous – and in certain ways, final – border crossing point, one of ten ,official‘ crossing points for two million Palestinians across the West Bank dubbed by an Israeli journalist as ,a five-star roadblock‘ and referred to by the IDF as a ,terminal‘. (Tawil-Souri 2010: 30)

Je nach Tageszeit stand ich dort mit Schülern, Studenten und Arbeitern in langen Schlangen, die den Checkpoint tagtäglich überqueren müssen, um an ihr Ziel zu gelangen. Über interessierte Gespräche zu meiner Person erfuhr ich, dass die langen Wartezeiten für die meisten eine enorme emotionale Belastung sind, weil man sich nie wirklich sicher sein kann, es rechtzeitig „rüber“ zu schaffen. Die Wartenden erzählten mir von Menschen, die durch die Unvorhersehbarkeit der Kontrollen ihren Arbeitsplatz verloren haben oder von befreundeten Studenten, die in Ost-Jerusalem leben und in Ramallah studierten und ihr Studium aufgrund des Checkpoints aufgegeben haben. Denn ein Zimmer im Wohnheim konnten sie sich nicht leisten oder sie sind stark in ihre Familie eingebunden, sodass ein Umzug nicht in Frage kam. Außerdem wird mir immer wieder bewusst, dass die emotionale Bindung an Jerusalem als umstrittenes Gebiet, nicht unterschätzt werden darf. Ein Wegzug aus umstrittenen Gebieten kommt für viele einem Verrat gleich und kann durchaus realpolitische Folgen haben, nämlich der Verlust der israelischen ID-Karte, die es den Besitzern erlaubt, überhaupt in Jerusalem zu leben und sich relativ uneingeschränkt in Israel zu bewegen. Das sich seit den 1990er-Jahren entwickelnde Checkpoint-Regime […] erlaubt die Bewegung von Menschen und ihre Zugangsmöglichkeiten zu kontrollieren, ohne in lokale Gemeinden einzudringen, ihr Leben zu gestalten, und ohne jegliche Verantwortung für die Folgen der eigenen Aktionen zu übernehmen. […] Kontakt wird

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auf das Minimalste reduziert; es ist auf gate-keeping und die Verwaltung von Zäunen und Toren ausgerichtet. (Algazi 2008: 331)

Vor dem Hintergrund postkolonialer Theorien kann ein Checkpoint einerseits als anthropologischer Ort, andererseits als Nicht-Ort im Sinne Marc Augés begriffen werden25, das heißt als Ort des (An-)Kommens und (Wieder-)Gehens, der Ankunft und Abreise.26 Nicht-Orte sind nach Augé Orte des beständigen Übergangs, der Unbeständigkeit, der Flüchtigkeit, die durch die Aufhebung von bekannten Raum-Zeit-Ordnungen gekennzeichnet sind. Checkpoints sind anonyme Orte der Kontrolle und Überwachung, die Individualität auflösen und Einsamkeit produzieren. Checkpoints are non-places that continually reinforce the transience of the Palestinian experience, its individual and collective vulnerability and dislocation. Checkpoints are not officially established Palestinian spaces, since they are erected and controlled (and dismantled) by the IDF. They neither appear on any authoritative maps nor mark accepted boundaries between the two ,states‘. They are not considered Palestinian places by Israeli (or foreign) laws, thus can be the target of military violence that usually goes un-reported and un-punished. Israel neither officially acknowledges legal responsibility for checkpoints nor recognizes them as ,sovereign‘ spaces. In this sense, checkpoints are constructed by the Israeli military not simply as a ,non-place‘, but as ,bare-space‘ […]. (TawilSouri 2010: 40)

Darüber hinaus sind Checkpoints soziale und ökonomisch genutzte und neu besetzte Zentren, das heißt öffentliche Sphären des palästinensischen Lebens, in denen ein reger Austausch und Handel stattfindet. Tawil-Souri (2010: 36) beschreibt Checkpoints als „Palestinian living rooms“, als „new downtowns of every day life“, also als private und öffentliche Orte. Checkpoints sind in diesem Zusammenhang auch als „gateway“ (ebd.) zu verstehen: Als Orte, an denen ein permanenter Austausch von Leuten, Kapital und Gütern besteht. Checkpoints sind Orte, die einen zentralen Teil des palästinensischen Alltags ausmachen und sind Schaltstelle palästinensischer Mobilität.

25 In diesem Sinne können auch Flüchtlingslager als Nicht-Orte begriffen werden. Siehe auch Kapitel 4. 26 Laut Tawil-Souri (2010) können Flughäfen als Nicht-Orte par excellence begriffen werden.

134 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND [Given] the wealth of exchange and interaction that happens at them, checkpoints are a space of social existence, where human articulations render an otherwise oppressive place into a lived space. (ebd.: 37)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Checkpoints einerseits als NichtOrte zu begreifen sind, also als Orte, die gleichzeitig zentralisieren und fragmentieren und in denen die bekannte Raum-Zeit Ordnung aufgelöst wird. Anderseits können sie aber auch genau das Gegenteil sein: Orte mit eigener Routine und eigenen Konventionen, in denen Zeit und Raum nicht stillstehen, Orte an denen ökonomische und soziale Verbindungen hergestellt und neu besetzt werden. Sie sind Tor und Grenze zugleich, sie sind Zentren der Mobilität und deren Negation. Diese Doppeldeutigkeit von Checkpoints, die kreative Umdeutung/Umnutzung von Checkpoints als „Niemandsland“ hin zu einem belebten und gelebten Ort seitens der Palästinenser, markiert und verweist auf die durch derartige Grenzräume produzierten Zwischenräume, die zu einer (Über-) Lebensstrategie werden. Checkpoints sind Durchgangsorte, sie sind Orte des Übergangs, der Aushandlung und der Doppeldeutigkeit; sie können als Symbol des israelischenpalästinensischen Konfliktes auf alltäglicher Basis gelesen werden, als Grenzraum, als Zwischenraum, der zugleich Tor und (zum Teil unüberwindbare) Barriere ist.

4. Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum

Dieses Kapitel widmet sich der Bedeutung und dem Zusammenhang von Erinnerung, Widerstand und Märtyrertum im palästinensischen Kontext. Dabei geht es in erster Linie um „sumud“ als zentrale gewaltfreie Widerstandsstrategie sowie um Gedächtnismedien und Erinnerungsinhalte. Darüber hinaus werden die Besonderheiten des palästinensischen Märtyrerkults, wie er beispielsweise von Mahmud Darwisch entwickelt wurde, erörtert.

4.1 Ü BER DEN T OD HINAUS : E RINNERUNG , W IDERSTAND UND M ÄRTYRERTUM IN DEN BESETZTEN PALÄSTINENSISCHEN G EBIETEN With the proliferation of martyrs for the cause, commemorative practices, rituals and narratives not only mobilize the refugees [Palestinians, Anmerkung A.R.] around a national cause, but also give meaning to daily violent deaths. The nearly universal experience of loss and communal remembrance of martyrs create an imagined community of resistance or suffering and translate the private losses of Palestinians into a national narrative of meaningful and purposive self-sacrifice. (KHALILI 2007: 149)

Fast zwei Monate lang steht der Gazastreifen im Sommer 2014 seitens der israelischen Armee und Luftwaffe unter Dauerbeschuss; radikalislamische Palästinenserorganisationen, allen voran der militante Flügel der Hamas, schießen Ra-

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keten auf Israel, die nicht nur den Süden des Landes treffen, sondern auch die Metropolen Jerusalem und Tel Aviv erreichen. Schon im Frühjahr des Jahres spitzte sich die Lage in der Region zu, aber letztendlicher Auslöser für diese neue Spirale der Gewalt, der insgesamt mehr als 2000 Menschen zum Opfer fielen, war im Juni 2014 die Entführung dreier jüdisch-israelischer Jugendlicher aus der Siedlung Gilo in der Westbank, nahe Bethlehem. Kein anderer Konflikt scheint so emotionsgeladen innerhalb der internationalen Bevölkerung wahrgenommen zu werden. Die Folge ist ein dialektisches Verhältnis von (nicht selten einseitigem) Aktionismus und Schweigen. Auf lokaler wie internationaler Ebene findet eine gefährliche Vermengung unterschiedlicher Diskurse statt: Ein latenter wie offen zur Schau getragener Antisemitismus verschmilzt mit einem gut gemeinten, aber aggressiven Antizionismus, der die israelische Besatzung anprangert; gleichzeitig kommt es zu einer Entmenschlichung der palästinensischen Bevölkerung, in dem man ihr verweigert, sich gegen die jahrzehntelange Unterdrückung aufzulehnen und jegliches Aufbegehren mit Hamasterrorismus gleichsetzt. Zwischentöne scheint es viel zu wenige zu geben. Auch zum Ende des Jahres 20141 blieb die Lage angespannt: gewalttätige Ausschreitungen in Jerusalem und innerhalb der Westbank, die die Angst vor einer neuen Intifada schüren, sowie der Entwurf einer Palästinaresolution, die von Mahmud Abbas mithilfe Jordaniens in den UN-Sicherheitsrat gebracht, aber von der internationalen Gemeinschaft abgelehnt wurde. Der vorgeschlagene Friedensplan sieht eine dauerhafte Friedensregelung innerhalb eines Jahres und den endgültigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten bis 2017, sowie eine volle nationalstaatliche Anerkennung Palästinas, wie es einige Staaten bereits taten, seitens der UN vor. Das Scheitern des Friedensplans

1

Ich überarbeite das Kapitel zu Beginn des Jahres 2016. Auch 2015 kam es immer wieder zu Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern. Besonderes Aufsehen erregten Messerattacken von Palästinensern auf Israelis, die zum Teil schwer verletzt oder getötet wurden. Zahlreiche Palästinenser wurden daraufhin verhaftet oder getötet. Als Auslöser für die Gewalt gelten die neu entfachten Streitigkeiten um die Nutzungsrechte auf dem Tempelberg, der sowohl Juden und Muslimen heilig ist. Grundsätzlich dürfen nur Muslime auf dem Tempelberg beten. Die Palästinenser befürchten, dass Israel immer mehr Juden Sondergenehmigungen für einen Besuch des Areals erteilt und damit langsam die Kontrolle über die drittheiligste Stätte des Islam übernimmt. Siehe

auch:

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/fuenf-angreifer-

werden-bei-messerattacken-getoetet-13863953.html (zuletzt aufgerufen: 09.03.2016), http://www.sueddeutsche.de/politik/nahostkonflikt-taegliche-gewalt-1.2689699 (zuletzt aufgerufen: 09.03.2016).

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kommt jedoch nicht überraschend, weil mehrere Länder, allen voran die USA, bereits im Vorfeld angekündigten, den Vorschlag nicht zu unterstützen. Die USA beispielsweise fordern, dass die israelische und palästinensische Regierung zuerst untereinander einen Friedensvertrag abschließen, bevor ein unabhängiger Palästinenserstaat ausgerufen wird. Als Reaktion auf die Ablehnung unterzeichnet Abbas den Beitritt zum Internationalen Strafgerichthof (IStGH), um Israel unter anderem offiziell der Ausübung von Kriegsverbrechen anklagen zu können. Die USA und Israel, die beide nicht dem Internationalen Strafgerichthof beigetreten sind, sprechen von einer Gefährdung der Friedensbemühungen. USamerikanische Regierungsvertreter haben darüber hinaus gewarnt, dass die USA ihre finanzielle Unterstützung von jährlich rund 400 Millionen US-Dollar einstellen könne. Der israelische Premierminister droht wiederum der palästinensischen Führung mit Strafverfolgung etwa in den USA und enthält ihr Steuergelder von mehr als 100 Millionen US-Dollar vor, die Israel für die PA entsprechend der Osloer-Vereinbarungen eingeholt hat.2 In die Rhetorik mischen sich je nach Perspektive Verlautbarungen über legitimen Widerstand und Terrorismus: Die Grenzen zwischen Terrorismus, Widerstandskampf und Märtyrertum sind oft fließend und immer auch eine Frage der jeweiligen (politischen) Perspektive. Was die einen als Terrorismus bezeichnen, bedeutet anderen einen legitimen und notwendigen Akt im Widerstand gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und äußerer Bedrohung.3 So wurden beispiels-

2

Bereits mehrfach hat die israelische Regierung Zahlungen an die Palästinenser hinausgezögert. Zuletzt 2012, nachdem die palästinensische Führung mit der Anerkennung als UN-Beobachterstatus Erfolg gehabt hatten. (http://www.spiegel.de/politik/ ausland/israel-droht-palaestinenser-fuehrung-mit-kriegsverbrecher-prozessen-a-101 1152.html, zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

3

Im Kontext einer Analyse über den Erfolg der Hamas bei den Wahlen im Gazastreifen 2006, schreibt der israelische Journalist und Schriftsteller Uri Avnery zur Widerstands-Terrorismus-Dialektik: „Die Hamasbewegung war populär, weil die Fatahbewegung den bewaffneten Widerstand gegen Israel im Grunde aufgegeben hatte, durch den sich die Hamas auszeichnet. Die Selbstmordattentäter, die für die Palästinenser Nationalhelden sind, waren zum größten Teil Hamas-Leute. (Es mag Leute ärgern, wenn ich von militärischem Widerstand spreche, wo andere von Terrorismus reden. Ich selbst war einmal Terrorist, als ich sehr jung war. Ich gehörte zu einer terroristischen Organisation. Wir waren Terroristen in den Augen der damaligen englischen Kolonialregierung. In unseren eigenen Augen waren wir Freiheitshelden. Für die Regierung waren wir Terroristen. Ich bin sehr stolz darauf, die einzige wirklich wissenschaftliche Definition für Terrorismus gefunden zu haben. Sie ist sehr klar und besagt:

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weise auch die jüdischen Untergrundkämpfer des Warschauer Ghettos während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten als Terroristen betrachtet und konsequent verfolgt, während sie heute in Israel (aber auch in Deutschland4) als Märtyrer, als Helden des Widerstands verehrt werden. Spricht man von Widerstand in den besetzten palästinensischen Gebieten, werden spätestens seit den ersten Märtyrer-Attentaten in den 1990er-Jahren zumeist Bilder von schwerbewaffneten Kämpfern mit vermummten Gesichtern und palästinensischen Flaggen evoziert, die unmittelbar in die Nähe des brutalen, menschenverachtenden, nihilistischen Terroristen gedrängt werden, den es lokal wie international zu bekämpfen gilt.5 Die Medien zeigen Bilder von brennenden Autoreifen auf den Straßen, in denen sich schwarz gekleidete Jugendliche Straßenschlachten mit dem israelischen Militär liefern. Man sieht Häuserzeilen voller Märtyrerbilder, zumeist junge Männer mit nationalistisch-religiösen Symbolen im Hinter- bzw. Vordergrund. Legitimer Widerstand im Sinne von Selbstverteidigung findet sich laut diverser, westlich geprägter Darstellungen nur in Israel. Innerhalb der oft einseitigen, unkritischen Medienberichterstattung auf beiden Seiten des Konfliktes gehen wichtige Differenzierungen verloren, wie beispielsweise der letzte Gazakrieg im Sommer 2014 anschaulich zeigt, als die gesamte palästinensische Zivilbevölkerung in einem Akt der Entmenschlichung mit dem Hamasterrorismus gleichgesetzt wurde, der rhetorisch aktuell wiederum in die Nähe der IS-Ideologie gerückt wird.6

Auf meiner Seite sind Freiheitshelden auf der anderen Seite sind Terroristen).“ (Avnery 2007: 197) Siehe auch: Avnery, Uri (2007), „Israel/Palästina – wie weiter?“, in: Meggle, Georg [Hrsg.] (2007), Deutschland, Israel, Palästina. Streitschriften, Hamburg: EVA, 193-203. 4

Auffarth (2015) weist in seinem Artikel zu Auschwitz als europäischer Erinnerungsort daraufhin, dass es nach dem zweiten Weltkrieg vor allem bei den Kindern der Täter zu einer Identitfikation mit den Opfern kam. Dazu gehört auch die bis heute anhaltende philosemitische Bewunderung für den Staat Israel, „[…] der mit der Waffe in der Hand sein Überleben sicherte. Was im Unrechtsstaat Deutschland, was im Warschauer Aufstand brutal niedergeschlagen wurde, wurde hier zum Kampf Davids gegen Goliath stilisiert und begrüßt.“

5

Siehe auch: Kermani, Navid (2002), „Dynamit des Geistes: Martyrium, Islam und Nihilismus“, Göttingen: Wallstein Verlag.

6

Siehe auch: http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-netanjahu-setzt-hamas-mit-isgleich-a-994482.html (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016); http://www.sueddeutsche.de/ politik/rede-vor-vereinten-nationen-netanjahus-fernduell-vor-weltweitem-publikum1.2152096 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Nicht nur der Terrorismusdiskurs ist abhängig von der jeweiligen politischen Perspektive, sondern auch die Frage, wer ein Märtyrer sein kann, ist wandel- und aushandelbar, wie sich beispielsweise innerhalb des Arabischen Frühlings 2011 zeigt. Insbesondere der 26-jährige tunesische Gemüsehändler Mohammad Bouazizi, der sich aus Widerstand und Protest gegen die unterdrückenden Strukturen seiner Gesellschaft am 17.12. 2010 vor dem Regierungsgebäude selbst anzündete, und damit die arabische Revolution ins Rollen brachte, wird zum neuen tunesischen Nationalhelden. Der Aspekt der Gewaltlosigkeit spielt hier eine zentrale Rolle, besonders in Abgrenzung von bisher in den westlichen Medien vorherrschenden Beschreibungen muslimischer Selbstmordattentäter, die wie bereits erwähnt im arabischen Kontext oft als Märtyrer bezeichnet und verehrt werden (Pannewick 2012: 15). Die Bedeutung der Neuen Medien, insbesondere der sozialen Netzwerke wie Facebook und Twitter, darf hierbei nicht unterschätzt werden, sie erzeugten einen Flächenbrand, sodass die Revolution auf mehrere arabische Länder übergreifen konnte.

4.2 „S UMUD “

ALS S CHLÜSSELSTRATEGIE DES GEWALTFREIEN W IDERSTANDES IN DEN PALÄSTINENSISCHEN G EBIETEN

Erinnerung und Widerstand sind im israelisch-palästinensischen Kontext unauflöslich miteinander verbunden. Im Zuge der nakba 1948 galt es den mit diversen potenziell traumatischen Ereignissen verbundenen Bruch zu überwinden. Dies galt natürlich nicht nur für die Flüchtlinge und Vertriebenen, sondern gleichermaßen für die im Land Verbliebenen, die sich genauso mit einer neuen Lebensrealität konfrontiert sahen und sich (re-)organisieren mussten. Es mussten Überlebensstrategien entwickelt werden sowie individuelle und kollektive Formen zur Bewahrung der Bindung zur nun zersplitterten Heimat. Dieser Prozess der Etablierung einer kollektiven Erinnerung und eines kollektiven Gedenkens findet aber seither in einem Land statt, in dem die dominante israelische Bevölkerung selbst in einem besonderen Maße um die Erhaltung, (Re-)Produktion und Bewahrung der eigenen kollektiven Erinnerung bemüht ist (Embaló et.al. Neuwirth 2004: 36). Im Zuge der zionistischen Einwanderung in Israel entwickelte sich eine […] Prioritätensetzung, die der ‚jüdischen Zeit‘ vor der nicht-exklusiv jüdisch besetzten Geschichten des ‚Raumes Palästina‘ die weitaus höhere Bedeutung zumißt (sic!). (Embaló u.a. 2001: 11)

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Das führte dazu, dass die ansässige arabische Bevölkerung marginalisiert und als Außenstehende klassifiziert und das Land seiner nicht-jüdischen Geschichte entleert [wurde], die materiellen Spuren der noch erinnerbaren Vergangenheit zugunsten einer Rekonstruktion antiker Geschichte bzw. der Befriedigung zugunsten eines modernen Landschaftskults getilgt. (Ebd: 11 ff.)

Durch die Zerstörung arabischer Dörfer, ihrer Namen und die Errichtung jüdischer Siedlungen an derselben Stelle, durch die Besiedlung arabischer Dörfer und die Ersetzung ihrer Namen durch hebräische sowie durch die Ersetzung arabischer Landschaftsbezeichnungen durch biblische oder moderne hebräische, entsteht eine doppelte Bewegung von Erinnern und Vergessen (Neuwirth 2004: 36). Es muss also hervorgehoben werden, dass palästinensische Erinnerung nicht losgelöst von israelischer Erinnerung zu betrachten ist: Beide beziehen sich auf nationale Katastrophen, die zu Gründungsmythen ihrer jeweiligen Gesellschaft geworden sind. Das Land selbst wird zu einem konstruierten „Erinnerungsort“ im Sinne Pierre Noras.7 Widerstand richtet sich entsprechend gegen die Zerstörung der eigenen (kollektiven) Erinnerung und der Bewahrung des eigenen kollektiven (nationalen wie kulturellen) Gedächtnisses, wobei vor allem dem gewaltfreien Widerstand8 eine wichtige Funktion zukommt, um den es im Folgenden in Abgrenzung zum gewaltvollen, bewaffneten Widerstand9 geht. Decades of oppression have been countered not first and foremost by violent responses but by a struggle that for most of the time has been largely free of violence. Conceptually, these attempts are described as popular resistance, social resistance or non-violent resistance. While in Palestine all terms are used in parallel, non-violent resistance […] today is the most internationally well known […]. (Bröning 2011: 132)10

7

Eine detaillierte Analyse findet sich bei Embaló et al. (2001), S. 3-95.

8

International auch als „popular resistance“, „civil/social resistance“ oder „non-violent resistance“ bezeichnet. Ich verwende im Folgenden den Begriff des gewaltfreien Widerstands. Kultureller Widerstand, als Form des gewaltfreien Widerstands, bezieht sich auf Widerstand gegen unterdrückende Strukturen mit den Mitteln der Kunst, wie beispielsweise Theater und Film.

9

International als „armed resistance“ bezeichnet. Ich verwende im Folgenden den Begriff des bewaffneten Widerstands.

10 Bröning, Michael (2011), „The Politics of Change in Palestine: State-Building and Non-Violent Resistance“, London: Pluto Press.

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Eine klare Abgrenzung zwischen beiden Kategorien ist nicht ganz einfach, die Trennlinien können allzu schnell verwischen. Nur in den seltensten Fällen gibt es einen rein gewaltfreien Widerstand gegen als ungerecht empfundene gesellschaftliche Strukturen. Mein Anliegen ist es jedoch, das Bild, dass in den besetzten palästinensischen Gebieten der bewaffnete Widerstand der vorherrschende sei, zu dekonstruieren.11 Denn vielmehr gewinnt der gewaltfreie Widerstand immer mehr Zulauf, nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch innerhalb diverser politischer Institutionen. Häufig wird nicht so sehr auf die moralischen Aspekte und Vorteile des gewaltfreien Widerstandes Bezug genommen, sondern vielmehr auf dessen Effektivität, als die einzige politische Option, die innerhalb des Konfliktes noch bleibt. When discussing NVR (non-violent resistance, Anmerkung A.R.) in the Palestinian context, a difficulty lies in defining the scope of what entails resistance. Acts of civil resistance can be traced back to the onset of Zionist immigration to Palestine and precede the founding of the State of Israel. A much quoted example is the Palestinian general strike which lasted from April to October 1936, organized by the Higher Arab Committee (HAC) under the British Mandate. The strike originated in Nablus and called for a halt to Jewish immigration, an end to land sales and the establishment of an Arab government. As such, it was part of the 1936-1939 Arab Revolt. […] While to this day Palestinians view the initiative as an inspiring example of resistance, Western and Israeli historiography has denied the general strike and anti-colonial struggles of Palestinians prior to 1948 significant attention. (ebd.: 134)

Alle wichtigen (gesellschafts-)politischen Institutionen, mit Ausnahme von Hamas, versuchen die Ambiguität zwischen bewaffneten und gleichzeitig gewaltfreien Widerstand aufzulösen, in dem ersterer zwar nicht vollständig aus der

11 Entgegen einer immer noch weit verbreiteten Auffassung wurde auch die erste Intifada vorwiegend mit gewaltfreien Mitteln wie Streiks und zivilem Ungehorsam geführt. Siehe auch: King (2007), „A Quiet Revolution“. Die Gewaltfreiheit zu Beginn der ersten Intifada lag vor allem darin begründet, dass es angesichts der israelischen Übermacht an bewaffneten Alternativen fehlte. Durch das brutale Vorgehen der israelischen Armee radikalisierte sich auch die Intifada, wobei dennoch gewaltfreie Aktionen den Ton angaben (Bröning (2011). Auch die zweite Intifada begann mit unbewaffneten, friedlichen Massendemonstrationen, die dann aber zu gewaltvollen Auseinandersetzungen und einen erheblichen Anstieg an Märtyrer-Attentaten führte.

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Politik verschwindet, aber rückläufig ist.12 Angesichts der Tatsache, dass die israelische Besatzungspolitik parallel dazu nicht merklich schwindet, ist dies laut Bröning (2011: 132 ff.) als eine bemerkenswerte Entwicklung zu bezeichnen. In den letzten Jahren hat sich immer wieder gezeigt, dass eine Kombination beider Widerstandsformen es der israelischen Politik erheblich erleichtert, alle Formen von Widerstand als illegal und terroristisch einzustufen. This is not to say that certain Palestinian political factions or militant groups did not engage in armed activities, but rather that they no longer represented a comprehensive strategic option for most political factions and especially for the Palestinian community itself, especially after the appeal of nonviolence as witnessed during the first uprising in 1987. We still hear plenty of militant rhetoric, but very rarely is this translated into practice. (Awad 2010)13

Ein Schlüsselkonzept bzw. eine zentrale Strategie des palästinensischen Widerstandes ist „sumud“, das sich am ehesten mit Standfestigkeit ins Deutsche übersetzen lässt, und ikonografisch oft mit einem Olivenbaum, der fest im palästinensischen Boden verankert ist, symbolisiert wird.

12 Bröning (2011: 149 ff.) weist jedoch darauf hin, dass auch Hamas mittlerweile verstärkt mit gewaltfreien Widerstandsformen in Berührung kommt: „While Hamas until recently had declared non-violent actions a ,women’s fight‘ and had refrained from participating or giving concrete support to NVR (non-violent resistance, Anmerkung A.R.), the movement’s stance on NVR began to change in the spring of 2010. […] Confronted with attempts organized by the Palestinian Non-Governmental Organisations’ Network (PNGO) to challenge the Israeli imposed no-go ,buffer‘ zone along the Separation Barrier at the Gaza border with Israel, the Hamas Government in Gaza decided to support NVR by providing logistical support. As of summer 2010, Hamas routinely removed checkpoints for the protest marches and kept streets free of traffic to facilitate an orderly demonstration. Likewise, on 21 April 2010, Hamas joined ranks with most political movements in Gaza such as Fatah, PFLP, DFLP, Al Mubadara and the PNGO to protest peacefully at the Erez crossing against the proposed transfer of Palestinians from the West Bank to Gaza. […] it seems that with the exception of the Islamic Jihad, which enjoys only marginal public support, and splinter groups such as PFLP, all major Palestinian political institutions have effectively embraced non-violence – although to different degrees of comprehensiveness.“ 13 http://foreignpolicy.com/2010/06/01/nonviolence-from-the-bottom-up/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Als politisches Konzept rückt „sumud“ vor allem seit 1967 in den Fokus nationalstaatlicher Bestrebungen. In wenigen Worten beschreibt es den physischen und emotionalen Akt des (Über-)Lebens auf besetztem Boden, die Weigerung als Individuum und Kollektiv zu verschwinden und die Fortführung des alltäglichen Lebens, auch unter erschwerten Bedingungen. Palestinians exhibit Sumud in their daily lives as they perform what would amount to normal everyday tasks in other places. Palestinian children resist succumbing to the will of the occupiers non-violently as they make their daily journey to school despite the long waits at the checkpoints and the harassment by Israeli illegal settlers. Palestinian men and women non-violently challenge their occupiers when they continue to go to work even [if] it means riding a donkey using back mud roads, because they are denied access to the main streets in their villages as well as denied access to Jewish only roads. (Sabawi, 2010)14

Während meiner Forschungsreise im Frühjahr 2014 kam ich nach At Tuwani, einem kleinen Ort in den South Hebron Hills. Bei At Tuwani befindet sich die israelische Siedlung Ma’on, die 1982 gegründet wurde. Die ersten Bewohner waren Mitglieder der orthodox-zionistischen Jugendbewegung „Bnei Akiva“. Seit ihrem Bestehen breitet sich die Siedlung kontinuierlich aus. Ihre Bewohner sind bekannt für das aggressive Vorgehen gegen die palästinensische Bevölkerung. Das wird unter anderem von „Operation Dove“ dokumentiert. In At Tuwani begleitete ich zwei der internationalen Beobachter15, deren Aufgabe es unter anderem war, Schulkinder auf ihrem Weg zur Schule vor Siedlergewalt zu schützen oder auch die Hirten, die ihr Vieh zum Grasen bringen. Die Schulkinder aus den umliegenden Dörfern müssen auf ihrem Weg zur Schule eine Straße entlang gehen, welche die Siedler für sich beanspruchen. Nicht selten werden die Kinder mit Steinen beworfen und immer wieder kommt es vor, dass Kinder dadurch ernsthaft verletzt werden. Begleitet werden die Kinder von israelischen Soldaten, die in einem großen Militärjeep langsam hinter den Kindern herfahren. Kommt es allerdings zu Gewalt gegenüber den Kindern, sind sie offiziell nicht befugt einzuschreiten. Einer der beiden internationalen

14 http://www.palestinechronicle.com/old/view_article_details.php?id=15969 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016) 15 Die beiden jungen Männer kamen aus Italien und waren Teil der „Operation Dove“. Wie viele andere junge Menschen, lebten sie eine gewisse Zeit lang in unterschiedlichen Orten der „Area C“ zum Schutz der Bevölkerung vor der extremen Siedlergewalt.

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Beobachter erzählte mir etwas überspitzt, dass die Soldaten im Prinzip zum Schutze der Siedler seien, nicht zum Schutz der Kinder. Um nach At Tuwani zu gelangen, müssen die Kinder ein großes Tor passieren. Dieses darf jedoch nicht von den israelischen Soldaten geöffnet werden, sondern nur von einem Befugten innerhalb der israelischen Siedlung. Es kommt dadurch immer wieder vor, dass die Kinder lange Zeit darauf warten müssen, bis ihnen geöffnet wird und sie auf der anderen Seite ihren Schulweg den Hügel hoch fortsetzen dürfen, während der Militärjeep Gas gibt und die Straße hinunter verschwindet. An dem Hügel, hinter dem Tor, werden die Kinder dann von den internationalen Beobachtern in Empfang genommen.16 Nach der Schule vollzieht sich das Gleiche in umgekehrter Richtung. Auch hier müssen die Kinder manchmal lange warten, bis ihnen das Tor geöffnet wird und sie begleitet von einem Militärfahrzeug ihren Heimweg antreten können. Die Bewohner At Tuwanis haben einen zeltartigen Unterstand für die Kinder aufgebaut, der sie vor der sengenden Hitze im Sommer und vor Regen und Kälte im Herbst und Winter schützen soll. Doch der Unterstand wird von den Siedlern immer wieder zerstört, aber von den Bewohnern At Tuwanis immer wieder aufgebaut. Ein älterer Mann in traditioneller Kleidung erklärt mir, nicht aufzugeben, das bedeute für ihn Widerstand. Früher habe er selbst Kaffeebohnen angebaut und sei bekannt gewesen für seinen Kaffee. Heute sei das nicht mehr möglich, doch Kaffee sei immer noch seine Leidenschaft. Er sagt, wenn Gäste im Ort seien, fühle er sich dafür verantwortlich, diese mit Kaffee zu versorgen. Der Kaffee sei nicht mehr ganz so lecker wie er einst war, aber die Erinnerung habe ihren ganz eigenen Geschmack. Auch die Hirten, die ihre Tiere zum Grasen ins Tal bringen, sind täglich akut von der Siedlergewalt bedroht. Sie werden beschimpft, schikaniert und nicht selten sogar verletzt oder von der zuständigen Polizei der Siedlung verhaftet, weil beispielsweise der Teil des Hügels, der an einem Tag noch für sie zugänglich war, am nächsten Tag plötzlich verbotenes Gebiet ist. Für die Freilassung werden in der Regel hohe Geldsummen verlangt, welche die Familien, die sowieso am Existenzminimum leben, kaum aufbringen können.

16 Die internationalen Beobachter haben also erst jenseits der Siedlung die Möglichkeit, den Kindern zu helfen. Das heißt mit anderen Worten erst dann, wenn sie schon auf der palästinensischen Seite sind und ihnen keine Gefahr mehr droht. Es hat sich jedoch gezeigt, dass allein durch die Anwesenheit der internationalen Beobachter, die Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung zurückgegangen ist.

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In Abgrenzung zu diesem (irreführenderweise) als passiver „sumud“ beschriebenen Widerstand, gibt es den aktiven „sumud“, wie er sich beispielsweise im sogenannten zivilen Ungehorsam der ersten Intifada niederschlägt. Sami, während meiner Reise 17 Jahre alt, erzählte mir, dass er wenige Tage vor unserer Begegnung verhaftet wurde, weil er verbotenes Gebiet betreten habe. Seine Eltern wurden aufgefordert, eine hohe Geldstrafe zu zahlen, die sie nicht aufbringen konnten. Sami bat sie, gar nicht erst zu versuchen, das Geld aufzutreiben, er würde in Haft bleiben. Nach einigen Tagen wussten die Polizisten nicht mehr, was sie mit Sami tun sollten. Es war offensichtlich, dass die Strafe, die sich inzwischen erhöht hatte, nicht gezahlt wurde. Letztendlich entließen sie ihn ohne Geldstrafe. Sami berichtet, dass er schon groß Angst gehabt habe, er aber darauf vertraut habe, dass ihm nichts zustoße.17 Der gewaltfreie Widerstand ist nicht institutionell zentriert, sondern im Gegenteil sehr divers, das heißt von unterschiedlichen Akteuren und Institutionen geleitet. Gerade diese Dezentrierung scheint ein enormer Vorteil, wenn nicht gar eine Notwendigkeit im palästinensischen Kontext zu sein, da es so für die israelische Regierung ungleich schwieriger ist, die Strukturen des gewaltfreien Widerstandes zu zerstören.18 Mazin Qumsiyeh erläutert in seiner Studie über den gewaltfreien Widerstand: [There] is more tolerance among those who promote popular resistance because those who engage in it believe it is possible to change the behavior of their (violent) opponents by peaceful means. […] This does not mean there is little diversity in the two camps. Among those who back violence, there are always arguments about what kinds of violence are justified and among those who support nonviolence there are arguments about what exactly qualifies as nonviolence. For those of us in the nonviolent camp, it is always encouraging to note rare deserters from the popular resistance camp while more and more combatants lay down their arms to join popular nonviolent resistance. (Qumsiyeh 2011: 22)19

Es also nicht verwunderlich, dass die wenigsten, die sich dem gewaltfreien Widerstand anschließen, ins Lager der Kämpfer wechseln, während sich immer

17 Es sei erneut darauf verwiesen, dass es in der palästinensischen Gesellschaft nicht selbstverständlich ist, dass so offen über Gefühle gesprochen wird. 18 Bröning (2011) hält vier zentrale Ausrichtungen fest: 1) Die ‚Stop the Wall Campaign‘, 2) Breaking the blockade of Gaza, 3) BDS, 4) gewaltfreie Ausrichtungen der PA. Vgl. Bröning 2011: 139-148. 19 Qumsiyeh, Mazin B. (2011), „Popular Resistance in Palestine. A History of Hope and Empowerment“, London; New York: Pluto Press.

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mehr Kämpfer im zivilen Widerstand engagieren, wenngleich die physischen und psychischen Bedrohungen für die Anhänger des gewaltfreien Widerstandes oft wesentlich höher sind.20 Als Beispiel sei Zakkaria Zbeidi, der ehemalige Anführer der Al-Aqsa Märtyrerbrigaden in Jenin, erwähnt. Er hat in einem Amnestieabkommen mit Israel 2008 seine Waffen offiziell niedergelegt und 2006 zusammen mit Juliano MerKhamis und Jonatan Stanczak das „Freedom Theatre“ gegründet. Er steht dafür ein, dass Kunst eine unverzichtbare Waffe im Kampf gegen die Besatzungsmaschinerie und gegen destruktive gesellschaftliche Strukturen ist. Dennoch verbirgt er nicht, dass ein Frieden selbst mit jenen Israelis, die sich für die palästinensische Situation öffnen, nicht möglich ist und dass er trotz des Amnestieabkommens eine Waffe bei sich trägt, um sich gegen die israelische Armee zu schützen (siehe auch Kapitel 6). Kultureller Widerstand als Form des gewaltfreien Widerstandes bezieht sich auf künstlerische Ausdrucksformen wie Kunst, Musik, Literatur, Theater und Film und hat dabei immer eine politische Dimension. Es geht nicht nur darum, sich gegen die unterdrückenden gesellschaftlichen Strukturen aufzulehnen oder der eigenen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, sondern auch darum, individuelle und kreative Ausdrucks- und Umgangsweisen mit den oft schwierigen Alltagsanforderungen zu finden. So weist beispielsweise Nabil Al-Raee, künstlerischer Leiter des „Freedom Theatre’s“ darauf hin, dass: Theatre is a way of showing directions, to create actors on stage of theatre and on stage of life. We believe in freeing the individual and then going on the collective freedom that we are looking for.21

Mit dem 2011 vom „Freedom Theatre“ initiierten Projekt „Freedom Bus“ werden politische Aktionen wie Demonstrationen, protektive Maßnahmen und Wiederaufbauarbeiten mit kulturellen Events kombiniert (Kapitel 6). 2014 nahm ich als Forscherin am „Freedom Ride“ teil. Auf dieser Reise waren wir beispielsweise am (Wieder-)Aufbau einer kleinen Schule im Jordantal beteiligt, die, weil sie sich in „Area C“ der besetzten Gebiete befindet, illegal ist. Entsprechend dauerte es nicht lange, bis die israelische Armee, bewaffnet und mit mehreren Militärfahrzeugen, anrückte und für Unruhe mittels Befragungen von Bewohnern und

20 Siehe die physischen und psychischen Belastungen der Schauspieler des „Freedom Theatre’s“ (Kapitel 6). 21 http://howlround.com/death-and-art-in-palestine-nabil-al-ra-ee-and-the-freedom-thea tre (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Teilnehmern sorgte, und Kameras und Mobiltelefone beschlagnahmten. Von den Verantwortlichen des „Freedom Bus’“ wurde uns vermittelt, dass die Soldaten uns – so lange wir Ruhe bewahren – zwar in unserer Arbeit behindern, aber nicht festnehmen dürfen. So setzten wir uns zusammen mit den palästinensischen Dorfbewohnern unter einen großen Baum. Die Mitarbeiter des Theaters stimmten palästinensische Widerstandslieder an, begleitet von traditionellen Instrumenten, inszenierten improvisierte kleine Theaterstücke und tanzten „dabke“, den traditionellen palästinensischen Volkstanz. Die Soldaten standen in einiger Entfernung und schauten zu. Nach einer längeren Zeitspanne zogen sie sich mit ihren Militärfahrzeugen zurück und wir führten unsere Arbeit in kleinen Gruppen fort, während ein Teil der Beteiligten weiterhin Lieder sang und Theater spielte. Denn wir wussten, dass wir immer noch unter Beobachtung standen, wenngleich wir die Soldaten selbst nicht mehr sehen konnten. Gerade beim „sumud“ also, einer der zentralen palästinensischen Widerstandsstrategien, liegt der politische Akt der Rebellion in seiner Gewaltfreiheit begründet, weil seine Wirkungsmacht durch das „Paradox der Macht durch Schwäche“ (Pannewick 2012: 22) entfaltet wird, die dem offensichtlich Unterlegenen eine moralische oder auch transzendente Überlegenheit sichert. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Anhänger des gewaltfreien Widerstands oft ein größeres Risiko der Verfolgung, Verhaftung oder sogar Folter eingehen. Dies zeigt auch das Beispiel des „Freedom Theatre’s“ (Kapitel 6), und insbesondere die Ermordung dessen Initiators und künstlerischen Leiters Juliano Mer-Khamis im April 2011, der von seinen Anhängern seitdem als Symbol und Märtyrer des kulturellen Widerstandes verehrt wird. Und das nicht nur in den palästinensischen Gebieten, sondern auch, oder besser gesagt, insbesondere international.

4.3 W IDERSTAND : G EDÄCHTNISMEDIEN UND E RINNERUNGSINHALTE Palästinensischer Widerstand ist sowohl an individuelle als auch an kollektive Erinnerungspraktiken gebunden; diese basieren in der Regel auf potenziell traumatischen Erfahrungen, sodass Widerstand in diesem Zusammenhang einerseits als eine Form der Vergangenheitsbewältigung und -bewahrung verstanden werden kann, andererseits als Motor zur Etablierung eines kohärenten nationalen Narrativs. Darauf weist auch Laleh Khalili (2007)22 hin, die sich in ihrer Studie

22 Khalili, Laleh (2007), „Heroes and Martyrs of Palestine. The Politics of National Commemoration“, Cambridge: Cambridge University Press.

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mit Formen und Inhalte des palästinensischen Gedenkens beschäftigt, wobei sie sich vorwiegend auf die Erinnerungsarbeit und Erinnerungskonstruktionen in libanesischen Flüchtlingslagern, aber auch in den besetzten palästinensischen Gebieten konzentriert. Sie untersucht dabei insbesondere die Etablierung des Helden- und Märtyrertums in der Nationalbewegung seit den 1960er-Jahren sowie die Performativität von Erinnerungspraktiken. Wie bereits hervorgehoben, sind Widerstand und Erinnerung im palästinensischen Kontext nicht voneinander zu trennen und zeichnen sich aufgrund der exilischen, palästinensischen Existenz durch wechselseitige (trans-)historische, (trans-)nationale und transitorische Momente aus. Wie auch das weiter oben angeführte Beispiel des Arabischen Frühlings zeigt, ist Widerstand eng mit unterschiedlichen Konzeptionen von Märtyrertum verbunden. Khalili (2007) schreibt dem Märtyrertum im palästinensischen Kontext eine wesentliche identitätskonstituierende Funktion zu, die der nationalen Einheit und der Etablierung eines nationalen Narrativs diene und damit eine zentrale Rolle innerhalb der palästinensischen Erinnerungsdiskurse spiele. Ganz allgemein können alle, die im (bewaffneten oder gewaltfreien) Widerstand ums Leben gekommen sind, als Märtyrer bezeichnet werden, weil sie ein heldenhaftes Opfer bringen, das gemeinschafts- und solidaritätsstiftend ist. Es wird eine Erinnerungsgemeinschaft geschaffen, die auf dem Gedenken an die Märtyrer beruht (Pannewick 2012). Pannewick (2012: 11) weist darauf hin, dass Märtyrer nicht ohne eine bezeugende Öffentlichkeit und ohne eine gewisse Form von Bühne auskommen können, denn […] erst diese Aspekte von Repräsentanz und Performativität machen aus einem gescheiterten Helden oder einem […] Attentäter eine Figur des Selbstopfers für andere.

So ist Widerstand im Allgemeinen, sei er bewaffnet oder gewaltfrei, nur dann wirksam, wenn er mediale Aufmerksamkeit erhält respektive medial vermittelt wird, wobei vor allem die Performativität von Erinnerungspraktiken ins Blickfeld rückt. Vor diesem Hintergrund sei darauf hingewiesen, dass die meisten Gedächtnismedien eine institutionelle Einbettung benötigen. Eine Ausnahme darunter bildet das sogenannte „storytelling“. In der palästinensischen Situation der gesellschaftlichen Fragmentierung und Besatzung, kann dem „storytelling“ eine hohe Bedeutung beigemessen werden (Vgl. auch Kapitel 6/ Playback-Theater). Die unterschiedlichen Gedächtnismedien bleiben über die Zeit hinweg relativ konstant, wohingegen ihr Inhalt aber dynamisch, wandelbar und selektiv ist.

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Neben dem „(hi)storytelling“ nennt Khalili die Organisation von Zeit und Raum (beispielsweise Feiertage; vgl. auch Bardenstein 1999; Damir Geilsdorf 2005), Namensgebungen, den Bildungssektor (beispielsweise Schulbücher), textuelle und elektronische Medien, Bilder (beispielsweise Fotografien oder ikonische Darstellungen) als zentrale Gedächtnisformen.23 „Storytelling“ ist ein zentraler Bestandteil des palästinensischen Alltags und findet sich unter anderem bei Gedenkfeiern oder bei politischen Veranstaltungen. Auch der intergenerationelle Austausch funktioniert in erster Linie über „storytelling“. Ganz gleich, in welcher Form wir mit „storytelling“ konfrontiert sind, im Zentrum steht immer eine Person, ohne die es diesen performativen Erinnerungsakt nicht gäbe. Khalili (2007: 66) bezeichnet diesen als […] telling the personal narrative of a particular moment in time, through which the larger (hi)story of the nation is illuminated.

„Oral history“ hat sich als anerkannte Methode der Datenerhebung bei Wissenschaftlern, Journalisten, Theater- und Filmemachern etabliert. Im palästinensischen Kontext, wo die Zugänglichkeit zu (historischen) Archiven aufgrund der politischen Situation der Fragmentierung und Besatzung sehr eingeschränkt ist, dient sie als Form der nationalen Geschichtsschreibung (vgl. Kapitel 2). Neben den diversen und divergierenden Erinnerungen der palästinensischen Bevölkerung an bestimmte historische oder gegenwärtige Ereignisse für die Etablierung eines kollektiven Gedächtnis, ist insbesondere auch die literarische Elite maßgeblich an diesem Prozess beteiligt. Erwähnt sei hier beispielsweise der Schriftsteller Ghassan Kanafani, der unter anderem mit seinem Bild der „traurigen Orangen“ ein zentrales Symbol des kollektiven Verlustes der Heimat geschaffen hat, das von allen als solches verstanden wird (vgl. auch Bardenstein 1999; Damir-Geilsdorf 2005). Auch Bilder bzw. Fotografien können als Gedächtnismedien fungieren, worunter Märtyrerbilder wohl die populärsten sein dürften. Die meisten Haushalte, gerade in den zahlreichen Flüchtlingslagern innerhalb und außerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete, haben Fotografien oder (Wand-)Bilder vom Felsendom in Kombination mit verstorbenen Verwandten, die als Märtyrer verehrt werden, an ihren Wänden. Während eines Aufenthaltes in Nabi Saleh übernachtete ich bei Familie Tamimi, die sich bereits seit längerer Zeit im gewaltfreien Widerstand engagiert. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, ist Nabi Saleh ein kleiner Ort in der Nähe von Ramallah und ist international bekannt für seinen gewaltfreien Widerstand

23 Genaue Analysen zu den einzelnen Gedächtnisformen: Khalili (2007).

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gegen die israelische Besatzung. Jeden Freitag gibt es dort friedliche Demonstrationen, die sich gegen die gegenüberliegende israelische Siedlung „Halamish“ richtet. Die weitverzweigte Familie Tamimi führt die wöchentlichen Proteste an und dokumentiert diese für eine breite (internationale) Öffentlichkeit. Die Freitagsdemonstrationen sollen Ausdruck des gewaltfreien Widerstands sein, dennoch werden die lokalen und internationalen Demonstranten seitens der israelischen Armee mit Tränengas, Gummigeschossen und flüssigen, chemischen Substanzen beschossen, und palästinensische Kinder und Jugendliche nutzen die Soldaten als Ziel für ihre Steinschleudern. Das verdeutlicht noch einmal die bereits beschriebene Schwierigkeit, eine klare Trennlinie zwischen gewaltfreien und bewaffneten Widerstand zu ziehen. Zum Tee wurde ich ins Wohnzimmer der Familie geführt. Über dem Sofa hing ein großes gerahmtes Bild von Mustafa Tamimi, der während einer Freitagsdemonstration im Dezember 2011 aus nächster Nähe von einem Tränengaskanister getroffen wurde. Die israelischen Soldaten verweigerten seinen Transport ins Krankenhaus, sodass der damals 28-jährige seinen schweren Verletzungen erlag. Seine Schwester zeigte mir direkt das Video seines Überlebenskampfes auf YouTube.24 Mustafa Tamimi ist der erste Bewohner Nabi Salehs, der auf einer friedlich anberaumten Demonstration ums Leben kam und seither als Märtyrer im Kampf gegen die Besatzung verehrt wird.25 Einen Tag nach seinem gewaltvollen Tod marschierten zahlreiche Demonstranten, darunter auch Israelis und internationale Aktivisten, wieder in Richtung „Halamish“, um dem Tod von Mustafa zu gedenken, sie wurden aber wie tags zuvor auf der Demonstration von der israelischen Armee aufgehalten. Einer der zentralen Organisatoren des Widerstands, Bassem Tamimi, wurde bereits zwölfmal inhaftiert, wovon er einmal für drei Jahre in Untersuchungshaft bleiben musste. Ahad Tamimi, ein weiteres Familienmitglied, wurde mit 13 Jahren bekannt für ihre scheinbar furchtlose Konfrontation mit israelischen Soldaten als Reaktion auf die Verhaftung ihres

24 Unter dem Stichwort „Tamimi Press“ gibt es zahlreiche Videos zum Zwecke der Dokumentation auf YouTube. https://www.youtube.com/user/tamimipress/videos? shelf_id=2&view=0&sort=dd (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016) Auch auf Facebook und Twitter findet sich unter selbigem Stichwort zahlreiches Material. Weitere Informationen sind auf der Website https://nabisalehsolidarity.wordpress.com/tag/tamimipress/ zusammengefasst (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 25 Saba Nidal Obaid (20) wurde bei einer Demonstration zugunsten der palästinensischen Häftlinge im Hungerstreik am 12.05.2017 tödlich verletzt. http://www.alja zeera.com/news/2017/05/palestinian-shot-dead-israeli-forces-nabi-saleh-1705121340 17906.html (zuletzt aufgerufen: 01.06.2017)

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Bruders. Wütend stellte sie sich den Soldaten entgegen und wurde dafür in der Türkei mit dem „Hanzala Courage Price“26 ausgezeichnet. Auch die Konfrontation zwischen Ahad und dem Soldaten wurde per Video dokumentiert und mir während meines Besuches, neben Ahad sitzend, auf YouTube gezeigt.27 Jenseits der Märtyrerbilder in palästinensischen Haushalten, dienen die Straßen- und Mauerwände in den Flüchtlingslagern oft buchstäblich als Leinwände für Poster und Gedenktafeln von Märtyrern und von politischen Gefangenen. Sie werden genutzt für politische Ankündigungen, für die Erinnerung an die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen und insbesondere für das Gedenken an die nakba. Dort sind unter anderem Schriftzüge wie „Their independence is our nakba“ und „no peace without returning to our homes“ zu finden. Darüber hinaus werden die Wände für Darstellungen wichtiger politischer Ereignisse genutzt. Im Aida-Flüchtlingslager bei Bethlehem wird beispielsweise ein Teil der Mauer dazu genutzt, historische Ereignisse künstlerisch darzustellen. In diesem Flüchtlingslager gibt es auch zahlreiche Darstellungen des palästinensischen Schlüssels, Symbol derSehnsucht und Hoffnung auf die Rückkehr in die verlorene Heimat. In diesem Sinne überragt ein riesiger Schlüssel mit der Aufschrift „not for sale“ den Eingang des Camps.28

26 Hanzala ist eine Ikone des palästinensischen Widerstands, die der palästinensische Cartoonist Naji al-’Ali (1938-1987) 1969 erschuf: „Al-’Ali produced some of the most scathing caricatures of Arab military and business men, corrupt Arab leaders, and brutal American and Israeli powers. But he is also known for his loving cartoons of refugees, allegorical female Palestine in tears and defiant suffering, and for his reproduction of important mnemonic symbols such as barbed wire, keffiyehs, and stonethrowing children.“ (Khalili 2007: 70) Seine berühmteste Figur ist in diesem Kontext Hanzala, ein palästinensischer Junge, der meist als stiller Beobachter auftritt, mit auf dem Rücken überkreuzten Armen. Vgl. auch Kreitmeyr, Nadine (2012), „Der Nahostkonflikt durch die Augen Hanzalas. Stereotypische Vorstellungen im Schaffen des Karikaturisten Naji al-’Ali“, Berlin: Klaus Schwarz Verlag. 27 https://www.youtube.com/watch?v=u3783A3HOkw (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016) Im Sommer 2015 sorgte die grobe Behandlung von Mohammed Tamimi (12 Jahre) von einem israelischen Soldaten für internationales Aufsehen: http://mondoweiss.net/ 2015/08/israeli-soldier-assaulting/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016); https://www.you tube.com/watch?v=pvJNYjzm9jk (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 28 Als ich während eines Forschungsaufenthaltes durch die Straßen des AidaFlüchtlingslagers lief, entdeckte ich einen kleinen Laden mit der Aufschrift „Key of Return/Since 1948 Hand Made in Palestine“.

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Wie in der Einleitung bereits erwähnt, markiert in Jenin seit 2002 ein großes Pferd mit einem Schlüssel im Maul den Eingang zum Flüchtlingslager. Das Pferd ist hier Symbol des Widerstandes, der Schlüssel wiederum Symbol der Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Heimat (siehe auch Kapitel 2). So wie Wände und Mauern, können auch Gebäude der Inszenierung von Erinnerung dienen. Beispielsweise werden in Moscheen nicht nur Gottesdienste gefeiert, sondern auch Gedenkfeiern. Sie informieren darüber hinaus über Zeit und Ort von Beerdigungen, von Demonstrationen und Kundgebungen. Sogar die Flüchtlingslager (innerhalb und außerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete) selbst fungieren als konkrete Erinnerungsorte im Sinne Pierre Noras. Zugleich können sie auch als Nicht-Orte par excellence begriffen werden. Die Flüchtlingslager sind nicht nur Orte, in denen Erinnerung konstituiert wird, sondern sie sind entsprechend auch maßgeblich an der (Re-) Produktion, der Performativität von Erinnerungskonstruktionen beteiligt. Khalili (2007: 85) beschreibt sie in diesem Kontext als „icons of nationalism“. Erinnerung bewegt sich hier vor allem zwischen zwei Polen: dem heroischen Widerstand auf der einen und dem Leid der Palästinenser auf der anderen Seite. Erinnerung ist hier eine äußerst flexible Kategorie, nicht nur ihrer Form und ihrem Inhalt nach, sondern auch an wen sie sich im jeweiligen Kontext richtet. The refugee camps themselves become iconized spaces whose name and history evokes a commemorative and interpretative discourse. […] In the last decade, the camps have been celebrated as definitive symbols of Palestinian suffering. The residents of Shatila, prompted by NGOs, have themselves strategically deployed an iconized Shatila in their selfrepresentation for foreign audiences. ,Misery tours‘ (as one disillusioned Palestinian activist has called them) often take foreign volunteers, visitors, and activists on a circuitous route through Shatila […]. (Khalili 2007: 82-85)

Was Khalili hier für den libanesischen Kontext beschreibt, gilt gleichermaßen für die Flüchtlingslager in den besetzten palästinensischen Gebieten. Während meiner Forschungsreisen habe ich mehrfach erlebt, wie Busse mit Touristen in den jeweiligen Flüchtlingslagern Haltmachen, wie sie in einem kulturellen Zentrum begrüßt und mit traditionellem palästinensischen Essen und Trinken versorgt werden, einen Film oder Vortrag über die Zustände im Camp und die kulturellen Aktivitäten zu sehen bekommen und anschließend gruppenweise durch das Flüchtlingslager geführt werden. In Jenin schloss ich mich einer Gruppe deutscher Journalisten an, die über Jenin schreiben wollten. Für ihren Besuch hatten sie drei Stunden eingeplant, besuchten „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ und machten eilig noch ein

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paar Bilder vom Flüchtlingslager, vorzugsweise von den Kindern, die neugierig aus den Hauseingängen schauten oder auf der Straße spielten. Auch der „Freedom Bus“ (Kapitel 6) orientiert sich an dieser Strategie, den Teilnehmern einen Eindruck vom Leben im Flüchtlingslager zu vermitteln. Im Zentrum steht dabei die israelische Militärinvasion 2002, die für die Bewohner des Flüchtlingslagers enorm identitätsstiftend ist. In Verbindung mit einem Aufenthalt in Beit Sahour, besuchten wir auch das Aida-Flüchtlingslager bei Bethlehem, das mir aus einem vorherigen Besuch schon bekannt war. Begleitet wurden wir von einem palästinensischen Reiseführer aus Jerusalem, der uns zunächst durch Bethlehem und anschließend durch das Flüchtlingslager führte. Wir waren noch nicht lange vor Ort, da wurde er von jungen Männern des Camps angehalten und gefragt, was er dort mit uns mache und er schon des Öfteren darauf hingewiesen worden sei, dass er nicht als Touristenführer im Camp erwünscht sei. Unser Reiseführer erwiderte daraufhin, dass er aber eine Lizenz dafür habe. Auf Nachfragen erzählte einer der jungen Männer, dass es schon öfter Probleme mit Touristenführen von außerhalb gegeben habe, weil sie nicht im Camp lebten und auch nicht wüssten, wie es wirklich sei, dort zu leben. Es sei vorgekommen, dass schlecht über die Bewohner geredet worden sei, über den Zustand der Häuser, die Armut und den angeblich niedrigen Bildungsstandard. Er fügte hinzu, dass das sehr verletzend sei. Er erklärte, dass sie im Flüchtlingslager gar nichts gegen Besucher hätten, dass sie sogar herzlich willkommen seien, aber dass sie, die Bewohner, mit einbezogen werden wollen in der Darstellung ihres Lebens und ihre Geschichten selbst erzählen möchten. Bei den meisten Teilnehmern war die Enttäuschung über die abgebrochene Besichtigung größer als das Verständnis für die jungen Männer, die um Respekt für ihre Lebenssituation baten. Diese organisierten Touren durch die zahlreichen Flüchtlingslager der palästinensischen Gebiete sind sehr ambivalent zu betrachten. Einerseits bieten sie für viele Reisende die einzige Möglichkeit etwas über die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern zu erfahren. Das gilt besonders für diejenigen, die zum ersten Mal innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete reisen und nicht über die entsprechend nötigen Kontakte verfügen. Darüber hinaus sind die Touristen für die Bewohner eine wichtige Einnahmequelle geworden. So findet sich in der kulturellen Einrichtung „Alrowwad“ (Kapitel 5) im Aida-Flüchtlingslager auch ein kleiner Shop, in dem die Besucher palästinensisches Handwerk erwer-

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ben können, das speziell von den Frauen des Camps hergestellt wird.29 Auch die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkunft, wie sie in zahlreichen kulturellen Projekten fokussiert wird, hat einen enorm edukativen Effekt. Khalili (2007: 86) hält folgerichtig fest: The refugees‘ awareness and mobilization of foreigners‘ ‚interest in the life we live‘ not only generates a source of income, but also – and more importantly – opens a space of interaction with foreign youth in which NGO-affiliated refugees represent themselves. This strategic appropriation […] is one way in which commemorative practices tell a story about the nation to local and foreign audiences.

Zugleich ist eine ‚Am Ende kommen Touristen-Mentalität‘30 äußerst fragwürdig, insbesondere dann, wenn sie die Menschen ausschließt, die in erster Linie betroffen sind. Des Weiteren dient auch die Namensgebung der Konstruktion eines gemeinsamen nationalen Gedächtnisses. So werden nicht nur Orte, sondern auch Menschen nach ‚Erinnerungsobjekten‘ benannt, die die Vergangenheit in das Bewusstsein und Alltagsleben der Palästinenser transportieren, [in] repeating a name, the object of memory is evoked again and again in conversation, weaving memory into everyday practices. (Slyomovics 1998: 201)31

Während meiner Forschungsaufenthalte in den palästinensischen Gebieten begegneten mir beispielsweise immer wieder die Personennamen „Tha’ir“ (Revolutionär) und „Filastin“/„Falastin“ (Palästina), aber auch „Jaffa“ und „Haifa“, die ehemaligen Heimatorte der Vorfahren. Es ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, dass eine Vielzahl der unterschiedlichen Erinnerungsmedien „mobil“ sind, das heißt, dass sie nicht auf

29 Dies gilt nicht nur für die Flüchtlingslager. In At Tuwani beispielsweise gibt es ein kleines Museum, das den gewaltfreien Widerstand der Region dokumentiert. Angegliedert findet sich ein kleiner Laden mit palästinensischem Handwerk. 30 Den Ausdruck habe ich dem Film „Am Ende kommen Touristen“ (2007) von Robert Thalheim entnommen. Thalheim verarbeitet in dem Film seine eigenen Erfahrungen während seines Friedensdienstes in der pädagogischen Abteilung der Internationalen Begegnungsstätte in Ausschwitz. Thalheim wiederum bezog den Titel aus einem gleichnamigen Gedichtband von Björn Kuhligks. 31 Slyomovics, Susan (1998), „The Object of Memory. Arab and Jew Narrate the Palestinian Village“, Philadelphia: University of Pennsylvania Press.

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einen festen Ort beschränkt sind, wie es beispielsweise bei einem Denkmal der Fall ist. Die Mobilität von Erinnerungsmedien im palästinensischen Kontext ist eng mit der Figur des Flüchtlings und seinem Zustand der permanenten Zeitweiligkeit verknüpft. So führt auch Khalili (2007: 124) weiter aus: In their permanent state of temporary exile, Palestinians have projected the practices of commemoration onto that which can be carried from city to city and camp to camp or that which is intangible and can be protected from physical annihilation.

Mit dem verstärkten Aufkommen von lokalen, wie internationalen NGOs in den besetzten palästinensischen Gebieten im Allgemeinen und in den zahlreichen Flüchtlingslagern im Besonderen, werden vor allem auch die Frauen, Kinder und Jugendlichen mehr in kulturelle, politische Events und konkret in die Erinnerungsarbeit eingebunden.32 Eine zentrale Strategie, der sich die meisten NGOs bedienen, ist das bereits erläuterte „storytelling“, wie auch am Beispiel des Playback-Theater ausführlicher gezeigt wird (Kapitel 6). Es lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten, dass Erinnerung als Performanz für ein wechselndes Publikum, von dem eine Reaktion erwartet wird, betrachtet werden kann. Erinnerungsnarrative sind in diesem Sinne dialogisch und interaktionistisch, sie sind geprägt von Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten. Khalili (2007: 90-101)33 erklärt:

32 Auf meinen Forschungsreisen habe ich erlebt, dass von internationalen NGOs oft der unterdrückte Status der palästinensischen Frau hervorgehoben wurde. Die Wichtigkeit der Integration von Frauen und Kindern in gesellschaftliche Belange soll meinerseits nicht bezweifelt oder unterminiert werden. Allerdings habe ich es oftmals als hinderlich empfunden, wenn insbesondere internationale Aktivistinnen und Feministinnen in den ländlichen Gegenden wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen den Status der Frau innerhalb der Familie in Frage stellten, beispielsweise kritisierten, dass sie das Essen zubereiten, und einen universalen Feminismus vertraten, dem jegliche Kontextsensibilität zu fehlen schien. Wenn die palästinensischen Frauen von ihren Aktivitäten im gewaltfreien Widerstand berichteten oder von ihrer ‚männlichen‘ Aufgabe, die Schafe zu hüten, konnte das nie ‚genug‘ sein. Sie verweilten in der Rolle der unterdrückten palästinensischen Frau, die sich zunächst aus den Fesseln des palästinensischen Mannes befreien müsse, um auch der Besatzung trotzen zu können. Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten wurden in der Regel nicht wahrgenommen und eigenen vorgefertigten Deutungsmustern unterworfen. 33 Eine detaillierte inhaltsbezogene Analyse der unterschiedlichen Erinnerungsnarrative: Khalili 2007.

156 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Most schematically, heroic narratives of the past are mobilizing elements of nationalist discourse, while tragic narratives – reinforced by the victimization discourse of aid agencies and NGOs – use past suffering as the legitimating basis of claims made on an international audience and against the Palestinian leadership. […] Sumud narratives differ from tragic narratives in their inclusion of an explicit hopefulness. A narrative of sumud recognizes and valorizes the teller’s (and by extension the nation’s) agency, ability and capacity in dire circumstances, but it differs from the heroic narrative in that it does not aspire to super-human audacity, and consciously values daily survival rather than glorious battles.

Zahlreiche NGOs stützen sich insbesondere auf die palästinensischen Leidensnarrative; einerseits weil diese eine Akquirierung von Spenden erleichtern, auf die die NGOs maßgeblich angewiesen sind, andererseits befördern sie die internationale Sympathie und Solidarität eher als die Helden- und Märtyrernarrative.

4.4 G RENZGÄNGER : P ALÄSTINENSISCHE M ÄRTYRER Immer wieder sorgt die Bezeichnung „Märtyrer“ im Westen für Kritik und emotionsgeladene Debatten (Pannewick 2012), weil sich der westliche Märtyrerdiskurs seit den 1990er-Jahren vorwiegend auf die Selbstmordattentate konzentriert.34 Aber nicht nur im Westen, auch in der arabischen Welt wird der Diskurs sehr emotional geführt, hier jedoch vor allem hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Selbstmord und selbst auferlegtem Martyrium.35 Kritik an den Attentaten selbst gab und gibt es im öffentlichen palästinensischen Diskurs wenig. Das liegt teils daran, dass angesichts einer so hohen Opferbereitschaft für das Kollektiv eine Verurteilung schwer fällt, teils daran, dass das dahinterstehende Ziel, das

34 Es muss an dieser Stelle deutlich hervorgehoben werden, dass es keineswegs darum gehen kann und soll, sogenannte Märtyreroperationen im Sinne der palästinensischen Selbstmordattentate, die Israel buchstäblich zerrissen, zu rechtfertigen oder gut zu heißen, sondern es geht um die Bedeutung und Wirkungsmacht einer jahrhundertealten und kulturübergreifenden Figur, die in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Funktionen und Formen angenommen hat. Siehe: Pannewick 2012. 35 Diese Gratwanderung ist den Befürwortern von Märtyreroperationen durchaus bewusst. Bereits 1988 stellte der „Palästinensische Islamische Jihad“ Richtlinien für Ausnahmen auf, die diese Aktionen legitimieren. Siehe Pannewick 2012: 151 ff.

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Ende der israelischen Besatzung, prinzipiell von der Gemeinschaft geteilt wird. (Vgl. Larzillière 200336; Pannewick 2012) Wie im Christentum hat auch im Islam das Märtyrertum sehr alte Wurzeln, die in aktuellen Konflikten neu belebt oder anders konnotiert bzw. umgedeutet werden. Als Märtyrer wird laut Friederike Pannewick (2012: 21) betrachtet, […] wer seine Tötung in Kauf nimmt oder bewusst sucht, um eine übergeordnete Wahrheit mit seinem Leben zu bezeugen; um den Status eines Helden oder Märtyrer zu erhalten, braucht es eine gewisse Form der Öffentlichkeit […]. Durch sein Opfer eröffnet der Märtyrer dem Ideal oder Ziel, für das zu sterben er bereit ist, eine transzendente Wertigkeit. Wenn über dieses Opfer in Erzählungen berichtet wird, kann es sozial aktiv werden. Durch den Opfertod wird eine Instanz aufgezeigt, die über dieses Leben hinausweist und deren Existenz durch das Opfer bewiesen erscheint. Auf diese Weise können sowohl Nation als auch göttliches Gesetz als etwas Absolutes gesetzt werden, das Leben und Tod der Menschen bestimmt.

Prinzipiell kann jeder im Widerstandskampf getötete Aktivist mit dem ursprünglich religiösen Begriff des Märtyrers („shahid“) bezeichnet werden. Ein „shahid“ ist jemand dessen Tod nicht als Verlust beklagt wird, sondern einem höheren Ziel, beispielsweise der Nation, dient und dadurch die bedrohte Gemeinschaft stärkt. Für den Selbstmordattentäter bzw. Märtyrer-Attentäter, gibt es in Abgrenzung zu „shahid“ auch den Neologismus „istishadi“. Dieser ist nicht ausschließlich ein religiöser Terminus und beschreibt einen Akt gewaltsamer Selbstopferung. Der Märtyrer-Attentäter übersetzt seinen militärisch uneffektiven Kampf in ein religiöses Raum-Zeit-Gefüge (Larzillière 2003; Pannewick 2012). Pannewick (2012:156) schreibt hierzu: Er transzendiert seine individuelle Geschichte durch deren Bindung an den Siegertypus des islamischen Märtyrers. Sein Tod wird kein endgültiger sein, er wird für die gefährdete Gemeinschaft zum Hoffnungsträger. Sein Akt der Selbsttötung ist zugleich Mord und Erlösung.

Als sogenannte Waffe der Armen sind die Märtyrer-Attentate Angriffs- und Verteidigungstaktik zugleich und erfüllen strategisch eine Integrationsfunktion für die gesamte palästinensische Gesellschaft im Kampf um die nationale Einheit.

36 Larzillière, Pénélope (2002), „Palästinensische Märtyrer: Eine vergleichende Analyse über Selbstmordattentäter“, in: Journal of Conflict and Violence Research, Vol. 5, 2/2003, S. 121-142.

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Wie weiter oben bereits erwähnt, ist eine öffentliche Kritik an den Attentaten nur wenig akzeptiert. Pénélope Larzillière (2003) weist in ihrer vergleichenden Analyse über palästinensische Märtyrer darauf hin, dass sich das Phänomen der Märtyrer-Attentäter nicht auf eine bestimmte soziale Schicht beschränke. Auffällig sei jedoch, dass die Mehrheit der Attentäter aus einem der zahlreichen Flüchtlingslager komme, also in ein bestimmtes materielles wie ideologisches Umfeld eingebunden sei. Um die Wirkungskraft von Märtyrerkonfigurationen in den heutigen besetzten palästinensischen Gebieten adäquat einordnen zu können, muss berücksichtigt werden, dass im Märtyrerbild, das ursprünglich in den religiösen Traditionen wurzelt, spätestens seit den Expansionskriegen und dem daraus resultierenden Kampf gegen den Kolonialismus, religiöse und säkulare Diskurse ineinanderfließen und sich seither wechselseitig beeinflussen. Im palästinensischen Kontext werden das religiöse Vokabular und die religiöse Bilderwelt dazu genutzt, der jeweiligen politischen Argumentation Glaubwürdigkeit zu verleihen (Pannewick 2012: 154). Die erste Intifada wird seit dem Misserfolg der Osloer Friedensverträge in den 1990er-Jahren fast ausschließlich negativ interpretiert37, sodass die religiöse Sphäre einen Ausweg aus dem politischen Scheitern zu eröffnen scheint. Die Phase nach den Osloer Verträgen hat sich hinsichtlich der Hoffnungen auf nationale Autonomie als besonders traumatisierend herausgestellt. Denn auf struktureller Ebene erwies sich der entstehende nationalstaatliche Korpus als weitgehend ohnmächtig und korrumpiert, auf außenpolitischer Ebene, sprich in den Beziehungen mit Israel, war und ist die Besatzung weiterhin im Alltag spürbar, sogar noch stärker als zuvor. Die Zeit nach Oslo ist geprägt von Konflikten zwischen der PA und den islamistischen Organisationen, welche die inneren Spaltungen der palästinensischen Gesellschaft immer deutlicher in Erscheinung treten lassen. Larzillière weist in diesem Sinne darauf hin, dass [die] oft gewalttätige Repression, die von der Autonomiebehörde gegenüber den Islamisten vorgenommen wird, hat in besonderem Maße die Erfahrungen geprägt: Denn die Islamisten sind der Repression ausgesetzt, obwohl sie den nationalen Befreiungskampf fortsetzen. Die shebab (die jungen Männer, Anmerkung im Original) der ersten Intifada, die Seite an Seite gekämpft haben, spalten sich nun zwischen palästinensischen Polizisten und Islamisten auf, wobei erstere manchmal die Aufgabe haben, ihre ehemaligen Genossen zu foltern. Diese Erfahrung ist zentral für die jungen Palästinenser. Sie betonen, wie sehr das palästinensische Gefängnis sie geprägt hat, mehr noch als das israelische; denn sie sind

37 Das gilt m.E. nicht für das Potenzial des gewaltfreien Widerstandes.

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das Opfer der schlechten Behandlung ihrer Landsmänner geworden. Die Verletzungen werden umso stärker empfunden, da die Idee vorherrscht, dass der nationale Kampf Einheit benötigt, und deshalb alle politischen Gegensätze illegitim sind. (Larzillière 2003: 132)

Die politische Unzufriedenheit änderte sich auch im Verlauf der zweiten Intifada nicht. Die politische Kritik wurde von islamistischen Gruppen verstärkt in religiöse Sprache gekleidet: Beispielsweise wird die zweite Intifada selbst, die im September 2000 ihren Anfang nahm und einen Höhepunkt an MärtyrerAttentaten nach sich zog, auch „Al-Aqsa Intifada“ genannt, wodurch dem politischen Akt der Rebellion religiöse Züge verliehen werden. Da kaum jemand an einen kurzfristigen Sieg oder an ein Ende der Besatzung glaubte, wurde die zweite Intifada eher auf Ebene ihrer Prinzipien und als Diskurs unterstützt. Laut Lazillière (2003: 131) fehlte es an geeigneten Führern, Strategien und effizienten Methoden. Schon in den Anfängen war das Verhältnis der palästinensischen Bevölkerung zur Autonomiebehörde, die sich vielen als Marionette der israelischen Regierung präsentierte, von Misstrauen geprägt. Die nun verstärkt wahrnehmbaren religiösen Züge des nationalen Kampfes sind evident. Pannewick (2012: 154 ff.) erklärt in diesem Zusammenhang: Diejenigen, die zur Opferung ihres Lebens im kollektiven Kampf bereit sind, werden in hagiographischen Begriffen umschrieben: Der „letzte Wille“ der Märtyrer […] wird in den Medien veröffentlicht; in den lokalen Fernsehsendungen untermalt man ihn zusätzlich mit „Märtyrersongs“, frommen Sprüchen und hagiographischen, halb-fiktionalen Biographien der Toten. An Straßenecken von Kairo bis Beirut werden Musikkassetten mit Kinderchören verkauft, die zum Kampf gegen „die Juden“ aufrufen und das Sterben für Gott in eingängigen Popsongs propagieren. Man bekommt sie im Doppelpack mit HochglanzFaltblättchen, in denen die Stars der Märtyrerszene gefeiert werden. Funktionäre der Widerstandsbewegung – sei diese nun säkular revolutionär oder fundamentalistisch ausgerichtet – sorgen in den betroffenen Stadtvierteln für die Plakatierung der Straßen mit Poster-großen Bildern frisch gefallener Märtyrer.

Die Märtyrerbilder zeigen nicht nur den jeweiligen Toten in Kampfmontur, sondern zumeist finden sich auch der Koran und der Felsendom in Jerusalem auf diesen Darstellungen. Das gilt gleichermaßen auch für diejenigen, die keine Märtyrer-Attentate verübt haben, sondern in Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär ums Leben gekommen sind. Für das Bild des Märtyrerhelden erweisen sich religiöses Vokabular und religiöse Bilderwelt also als höchst effektiv in einem eigentlich nationalistischen Kontext, es ergibt sich daraus eine

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untrennbare Verbindung religiöser und säkular politischer Diskurse. Diese Entwicklung nimmt ihren Anfang spätestens in den 1930er-Jahren, im Widerstand gegen die Briten und gegen die zionistischen Siedlungspläne. Der Märtyrer wird zu einer sinnstiftenden Figur im Umgang mit Leid und Tod: Während der arabischen Aufstände der 1930er Jahre, die sich gegen zionistische Siedlungspolitik und das Britische Mandat richteten und in eine katastrophale Niederlage (nakba) durch die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 mündete, erfüllt die Sinnfigur des Märtyrers, der selbstlos für die gemeinsame Sache sein Leben zu geben bereit ist, eine zentrale Funktion im Widerstandsdiskurs. Auch später, in der Phase des erstarkenden bewaffneten Widerstandes nach der Gründung der PLO im Jahr 1964, suchte und fand die palästinensische Gemeinschaft im heroischen Märtyrer ein Idealbild, ein Vorbild im Umgang mit Gewalt, Angst und Tod – aber auch mit Hoffnung, mit dem unerschütterlichen Glauben an eine Zukunft gerade in finstersten Zeiten wiederholter Niederlagen. (ebd. 2012:12)

Vergleichende, den historischen und soziokulturellen Kontext berücksichtigende Analysen (zum Beispiel Pannewick 200438; 2012) zeigen, dass die Märtyrerkonstellation nahezu idealtypisch dazu geeignet ist, die alltägliche Auseinandersetzung einer unterdrückten Bevölkerung mit totalitären Regierungen mit Sinn zu belegen, da aktuelles Leiden und Tod in Sieg und Heldentum umgedeutet werden und psychologisch betrachtet, das Überleben jahrzehntelanger Perioden von Gewalt, Verfolgung und Unrecht ermöglichen kann (Pannewick 2012: 23). Auch Khalili hält in diesem Sinne fest: A close reading of different commemorative practices reveals the myriad meanings of shahid (witness, one who tesitifies, the person who sacrifies himself or herself). These multiple meanings lend flexibility of usage, and the substantive imprecision and interpretative capaciousness of the concept render it effective as a rhetorical device of mobilization. The shahid in everyday Palestinian usage is not only the active dissident dying in the act of resistance, but also the innocent bystander, not necessarily armed and engaged in the act of fighting, who is however killed at the hands of the unjust oppressor. […] Both Islamists and secularists emphasize the act of injustice which results in martyrdom, such that any activity of the oppressor or enemy which results in the death of a Palestinian,

38 Pannewick, Friederike [eds.] (2004), „Martyrdom and Literature. Death and Meaningful Suffering in Europe and the Middle East from Antiquity to Modernity“, Wiesbaden: Reichert Verlag.

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transforms that potentially senseless death into a redemptive self-sacrifice for the nation. (Khalili 2007: 140)

Die Wurzeln des Gedenkens an die palästinensischen Märtyrer, ihre Inszenierung als Nationalhelden und die heroischen standardisierten Narrative, wie das der stolzen palästinensischen Mutter, die ihren Sohn in den Kampf schickt und seinen Märtyrer-Tod bejubelt und nicht betrauert39, sind dynamische Kategorien und durchlaufen (trans)historische und (trans)nationale Wandlungen und Umdeutungen innerhalb ihrer Repräsentationssysteme.40 So ist während der erstarkenden nationalen palästinensischen Bewegung die Figur des „shahids“ untrennbar mit der des „fida’yi“, dem palästinensischen Guerilla-Kämpfer der 1960erund 1970er-Jahre verbunden, die stark beeinflusst wird von anderen antikolonialen und nationalistischen Bewegungen. So weist auch Khalili (2007: 145) darauf hin, dass […] transformations in commemorating Palestinian figures – from the fida’yi to the shahid – came about as a result of local, regional, and international changes.

Nicht zu vernachlässigen ist hierbei der Blick auf die Medien, die Literatur, die Rhetorik und die evozierten Bilder, die bei der Produktion, Verbreitung und Kritik derartiger Märtyrerfiguren mitwirken. Wie bereits bezüglich des Erinne-

39 Khalili (2007: 131) hält in diesem Zusammenhang fest: „The public mode of commemoration – rejoicing in the death of one’s sons – is produced and reproduced in the practices of mothers who have given meaning to their losses, and these practices and narratives are in turn taken, streamlined, and rebroadcast via the official organs and mass media. This recycling of martyrdom tropes transforms individual martyr’s mothers into a collective national allegory.“ 40 Derartige Umdeutungen finden sich auch im israelischen Kontext: „Immediately after the war [of independence, Anmerkung A.R.] nearly all traditional paradigms that might have sustained memory of the Shoah were vigorously resisted by the early founders of the state. Even when survivors comprised half the state’s population, the link between Jewish identity and Shoah was rejected as a self-fulfilling exilic phenomenon. The Jew’s traditional self-image as victim would be explicitly supplanted by new, Zionist ideals of strength and self-determination. Only years later, after the public ,coming out‘ of Holocaust survivors during the Eichmann trial were survivors and martyrs accorded full Israeli identity which is to say: assimilated to ideals of the new state.“ Young, James E. (1993), „The Texture of Memory: Holocaust Memorials and Meaning“, New Haven, London: Yale University Press, S. 213.

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rungskontexts festgehalten, kann ein Märtyrer nicht ohne eine bezeugende Öffentlichkeit und ohne eine gewisse Form von Bühne auskommen. Ein Akt des Märtyrertums – als wesentlicher Bestandteil palästinensischer Erinnerungsdiskurse – kann auf unterschiedliche Arten repräsentiert werden: In institutional commemorative practices performed for audiences of refugees and potential nationalist activists, the martyr concretizes Palestinian national history, celebrates selfsacrifice, and reminds those left behind of a community shared by the dead and the living whose boundaries are defined by the nation. When performed for foreign audiences, the martyr reveals the suffering of the Palestinians, legitimating their demands, and calling upon the outsiders’ sympathy and solidarity. (ebd. 2007: 222)

Auch die jeweiligen Märtyrerbilder zirkeln nicht um ein einziges, unveränderliches Narrativ; es gibt zahlreiche, unterschiedliche Bedeutungsnuancen und Bedeutungshierarchien, die durch die jeweilige Situation bestimmt sind, in der sie betrachtet werden. Für den lokalen und internationalen Kontext ist auch die Unterscheidung zwischen intendierten und nicht-intendierten Märtyrern ein zentrales Element und richtet sich entsprechend an ein jeweilig unterschiedliches Publikum. Im internationalen Kontext werden eher die nicht-intendierten Märtyrer, also die zufälligen Märtyrer, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, allen voran Frauen und Kinder, die bei gewalttätigen Auseinandersetzungen ums Leben gekommen sind. Im lokalen Kontext wiederum geraten eher die intendierten Märtyrer und ihre Heldennarrative in den Fokus. Es gibt archetypische Märtyrerikonen, wie beispielsweise der 12-jährige Mohammed al-Durrah41, die als Vorbilder bzw. Helden verehrt werden und deren Geschichten teilweise mythisch ausgeschmückt und überhöht werden. Das Gleiche, was für die Performativität von Erinnerung konstatiert wurde, gilt auch für die Performativität von Märtyrertum:

41 Mohammed al-Durrah wurde zu Beginn der zweiten Intifada am 30.09.2000 im Gazastreifen erschossen. Gefilmt wurde der Vorfall von Talal Abu Rahma, einem palästinensischen Kameramann, der für das französische Fernsehen arbeitete. Mohammed und sein Vater Jamal al-Durrah gerieten in das Kreuzfeuer israelischer und palästinensischer Sicherheitskräfte. Mohammed stirbt. Kurz nach dem Vorfall kamen Streitigkeiten auf ob Mohammed durch israelische oder palästinensische Kugeln getötet wurde. Es kamen auch Vorwürfe auf, dass das ganze nur inszeniert gewesen sei. Siehe auch: „Pallywood-Vorwurf“, Kapitel 5.

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Martyrdom […] can be considered tragic when the martyrs are women, children or unintentional victims of conflict, but especially when martyrdom is commemorated for an international audience. Commemoration of intentional martyrs for local audiences […] bears all the marks of heroism and pay homage to nationalist militancy. (ebd.: 223)

Für den palästinensischen Kontext lässt sich festhalten, dass der Märtyrerkult auf der einen Seite der Schaffung einer Erinnerungsgemeinschaft und eines kollektiven Gedächtnisses dient, auf der anderen Seite hat die Todeskultur aber auch tief greifende Folgen für die junge Generation der Palästinenser und ihre heldenhaften Vorbilder. Für viele von ihnen steht der ‚Berufswunsch Märtyrer‘ mittlerweile bzw. immer noch an erster Stelle. Dies umfasst nicht nur die MärtyrerAttentäter, sondern auch diejenigen, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem israelischen Militär ums Leben kommen. Auf diesen Trend weist auch Nabil Al-Raee, künstlerischer Leiter des „Freedom Theatre’s“ hin, dem er durch seine Theaterarbeit entgegenwirken möchte: It’s very difficult when you ask someone what is your dream and he says I want to die […].This is what you hear all the time […] You don’t have to die, to sacrifice yourself, no. No, you have to live. That’s why theatre is important. It’s a place where you can secretly in public scream about your problems, your own pain, your dreams, you can share and many people will see it and many people will hear your story and the story of your friends. You don’t have to die for them. You have to live in order to hold their stories, to put those stories on stage, to make a film about it.42

Hier sei erneut darauf verwiesen, dass die diversen Märtyrerkonfigurationen nicht in einem luftleeren Raum entstehen, sondern ein Publikum benötigen, an das sie sich richten. Khalili (2007: 114) beschreibt: Martyrdom […] is […] portrayed as intentionally sought by believers in faith or nation. Affinities between self-sacrifice and a political cause have always been present within the nationalist, liberationalist, or Islamist movements in general, and in the Palestinian nationalist movement specifically. [It] shows that there are multiple ways in which martyrdom is commemorated in public or institutional narratives. […] While factional commemorative practices see martyrdom as an embodiment of heroism, NGOs which also include foreigners in their audiences tend to commemorate the unintentional martyrs as the archetypal Palestinian victim.

42 http://howlround.com/death-and-art-in-palestine-nabil-al-ra-ee-and-the-freedom-thea tre (zuletzt aufgerufen: 01.06.2017)

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Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass ein zentrales Element der widerständigen, palästinensischen Erinnerungsnarrative die vielschichtigen Märtyrererzählungen sind. Was diese zu einem so mächtigen Medium der Kommunikation und der Mobilisierung macht, ist ihr performativer Charakter. Die Erzähler derartiger Narrative gestalten und vollführen ihre Erzählungen als (Re-)Aktion auf ein bestimmtes Publikum: […] they take cues from their audience, respond to their reaction, implore them to engage with the substance of the performance and craft their stories in ongoing, iterative, and dialogical ways. (Khalili ebd.: 226)

Die Performativität von Erinnerungsnarrativen wird auch in Kapitel 6 zum Playback-Theater im Rahmen des „Freedom Bus’“ noch einmal gesondert hervorgehoben. 4.4.1 Beispiel: Dichtung als Archiv des kulturellen Gedächtnisses: Mahmud Darwisch und die Ästhetisierung des Märtyrertums In den palästinensischen Gebieten, wo aufgrund der politischen Situation der Fragmentierung und Besatzung eine offizielle (nationale) Erinnerungskultur erst im Entstehen begriffen ist, gilt insbesondere die Dichtung als Archiv des kulturellen Gedächtnisses (Embaló 2001; Neuwirth 2004; Pannewick 2012). Bis heute spielt sie eine große Rolle innerhalb der öffentlichen Meinungsbildung, wenngleich auch etwas abgeschwächter als noch in den 1990er-Jahren.43 Das Charak-

43 Seit den 1990er-Jahren lässt sich ein neuer Trend innerhalb der paltinensischen Literaturszene beobachten, nämliche die zunehmende Ausblendung des Konflikts. So schreibt beispielsweise Zakkariya Mohammad: „Ich muss die Besatzung aus meiner Dichtung vertreiben. Wenn ich weiter über die Besatzung und die damit einhergehenden Probleme geschrieben hätte, hätte dies bedeutet, dass nicht nur mein Land, sondern auch meine Dichtung besetzt wäre. Ich war nicht fähig, sie daran zu hindern, mein Land zu besetzen. Sie können die Stadt, in der ich lebe besetzen, aber ich werde ihnen nicht erlauben, meine Dichtung zu besetzen. Deswegen vergesse ich die Panzer und schreibe stattdessen über Blumen, ein Kaffeehaus oder über die Schönheit einer Frau.“ (Zakkariya Mohammad, zitiert in: Pannewick 2012: 166) Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch beim Film beobachten, wie beispielsweise „Die Projektionistin“, einer Filmproduktion von „Cinema Jenin“ (Kapitel 6). Zur Bedeutung der Poesie im palästinensischen Kontext siehe auch: Embaló Birgit et al. (2001), „Kulturelle

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teristische bleibt jedoch, dass die Literatur, vor allem die Poesie, mehr noch als in anderen arabischen Ländern, die gesellschaftlichen Stimmungen einzufangen und widerzuspiegeln weiß.44 Poesie fungiert hier als Bestätigung für die kulturelle Ebenbürtigkeit der marginalisierten palästinensischen Gruppe mit der dominierenden israelischen; als Dokument dafür, dass sie ihrerseits Anspruch erheben kann, als Kollektiv zeitlich und räumlich im umstrittenen Territorium verankert zu sein (Neuwirth 2004a: 35).45 Angelika Neuwirth (2004b: 140) weist in ihrem Artikel über die „Hebräische Bibel und arabische Dichtung“46 darauf hin, dass palästinensische Poesie auf der Prämisse beruhe, dass das Land das strukturierende Prinzip sei, welches das individuelle wie kollektive Leben bestimme: Nachdem zwei miteinander konkurrierende Versionen der Geschichte in das Land eingeschrieben sind, die „textuelle Heimat“ der Palästinenser angesichts der Machtverhältnisse aber vom Auslöschen bedroht ist, bleiben ihnen zu ihrer Verankerung im Land vor allem ihre Erinnerungen an die Kindheit und die Vertreibung, Emotionen, die ihre Verbindung zum Land und ihr natürliches Recht auf das Land symbolisieren. Diese bleiben aber so lange isoliert und machtlos, wie sie nicht durch ein wirksames Medium emotional und intellektuell in kollektives Bewusstsein umgesetzt sind. Dieses Medium war lange Zeit die Dichtung.

Das Nationalbewusstsein, das sich wie in anderen arabischen Ländern in Abgrenzung zum als übermächtig empfundenen Westen herausbildete, ist in Paläs-

Selbstbehauptung der Palästinenser. Survey der Modernen Palästinensischen Dichtung“, Beiruter Texte und Studien Band 71, Würzburg: Ergon Verlag. 44 So ist es auch durchaus nicht verwunderlich, dass das entstehende professionelle Theater ab den 1960er-Jahren zunächst viel mit Adaptionen aus der internationalen Literatur arbeitete. Ein weiterer Grund hierfür liegt darüber hinaus in dem Fehlen explizit palästinensischer Theaterstücke, die sich erst im Laufe der Zeit entwickelten und vor allem auf persönliche Erfahrungen beruhten. Siehe auch Kapitel. 6. 45 Neuwirth, Angelika (2004a), „Einleitung“, in: Dies. et al. [Hrsg.] (2004), Arabische Literatur, postmodern, S. 27-45. 46 Neuwirth, Angelika (2004b), „Hebräische Bibel und Arabische Dichtung. Mahmud Darwish und seine Rückgewinnung Palästinas als Heimat aus Worten“, in: Dies. et al. [Hrsg.] (2004), Arabische Literatur, postmodern, S. 136-158. Siehe auch: Dies. (2004c), „Traditionen und Gegentraditionen im Land der Bibel. Emil Habibis Versuch einer Entmythisierung von Geschichte“, in: Dies. et al. [Hrsg.] (2004), Arabische Literatur, postmodern, S. 158-179.

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tina jedoch stärker als andernorts mit dem Märtyrertum verbunden, wobei die Dichtung zu dessen Ästhetisierung maßgeblich beitrug.47 Die Figur des Märtyrers, die Pannewick (2012: 157 ff.) als einen modernen Mythos bezeichnet, um deutlich hervorzuheben, dass es sich hierbei nicht um die direkte Übernahme eines islamischen Konzeptes handelt, kann im palästinensischen Kontext als Code zum Verständnis der Welt begriffen werden: Im Rückblick auf mehr als 50 Jahre palästinensische Nationalgeschichte seit der Gründung Israels erscheint diese tragische Symbiose von Dichtung und Opferbereitschaft, von Ästhetik und Bereitschaft zum Tode nahezu unausweichlich: Denn die palästinensische Nationalgeschichte besteht seit mehr als einem halben Jahrhundert aus einer nicht enden wollenden Kette von Niederlagen. Es gibt kein einziges historisches Ereignis von größerer Bedeutung, das als militärischer oder politischer Sieg gewertet werden könnte. Wie kann eine Nation eine derart katastrophale Geschichte bewältigen? Im Mythos des Märtyrertums liegt in mehrfacher Hinsicht die Möglichkeit einer Umdeutung eines Verlierers in einen Sieger und Helden. Dessen Tod ist nicht eine Niederlage, die sein Leben und Streben beendet, sondern ein in ein transzendentales Raum-Zeit-Gefüge gebrachter Sieg. […] Diese Umdeutung geschieht auf zwei Ebenen: Sie hebt einerseits die Bereitschaft für zukünftige Opferhandlungen hervor, um die Gemeinschaft, die Ideologie, eine politische Partei oder eine Glaubensrichtung zu schützen und zu verteidigen. Andererseits dient sie aber auch der Sinnstiftung und transzendentalen Legitimierung von bereits bestehenden Leiden und Todesfällen.

Besondere Wirkungskraft erhält die Figur des Märtyrers nicht nur durch die rituelle Verehrung im Alltag, sondern auch durch die epische und poetische Ausgestaltung der Heldentaten, die so zu einem festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses werden. Die kultische Verehrung und literarische Repräsentation beeinflussen sich wechselseitig. Durch ihre Texte und den damit verbundenen poe-

47 Das Gedicht „Der blutige Dienstag“ (1930) von Ibrahim Tuqan gilt als beliebtestes Gedicht der 1930er-Jahre und wurde von vielen als stilistisches und thematisches Ideal auswendig gelernt und mündlich überliefert. Das poetische Zeugnis einer Hinrichtung dreier junger Araber, die an den Aufständen gegen das britische Mandat teilgenommen hatten, wurde nicht nur zum Ausgangspunkt eines entstehenden Nationalbewusstseins, sondern auch einer sich zeitgleich entwickelnden palästinensischen Nationalliteratur (Pannewick 2012: 158). Auch die Anfänge eines palästinensischen Nationaltheaters, besonders in den größeren Städten wie Jerusalem und Haifa, lassen sich in diese Zeit datieren.

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tischen Bilder, hatten die palästinensischen Dichter seit den 1930er-Jahren die Ästhetisierung des heldenhaften Todes vorangetrieben. Mahmud Darwisch48 ist diesbezüglich wohl der berühmteste palästinensische Dichter, der sich nicht nur literarisch mit der Figur des Märtyrers auseinandersetzte, sondern zu dessen gesellschaftlicher Etablierung maßgeblich beitrug. Pannewick (2012: 160) beschreibt, dass Tod, Leiden und Niederlagen bei Darwisch eine konsequente semantische Umdeutung ins Positive, Heilsbringende bzw. metaphysisch Erlösende erfuhren. Beispielsweise brachte Darwisch in den 1960er-Jahren das Bluthochzeitsmotiv in die palästinensische Dichtung, bei dem Märtyrertod und Hochzeit miteinander gleichgesetzt werden. Im Beiruter Exil schrieb er eine Reihe von Märtyrergedichten, die 1977 unter dem programmatischen Titel „Hochzeitsfeiern“ erschienen. Embaló et. al. (2001: 16) beschreiben diese als Ausdruck eines neu erwachten Widerstandswillens, die zeitlich die Etablierung der palästinensischen Widerstandsorganisationen begleiten. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist die Figur des „shahids“, des Märtyrers, eng mit der des „fida’yi“, dem palästinensischen Guerilla Kämpfer der 1960erund 1970er-Jahre, verbunden. Beide Begriffe werden in zahlreichen Darstellungen synonym verwendet, obwohl eine klare Abgrenzung sinnvoll wäre, um die prozesshafte, dynamische Umwandlung einzelner Deutungskategorien deutlicher hervorzuheben. Der „fida’yi“, wörtlich der zum Opfer bereite Kämpfer, und der Märtyrer werden als Helden dargestellt, die durch ihr Selbstopfer übermenschliche Dimensionen erreicht haben; sie sind die wahren Liebenden der Heimat. Der Märtyrer übernimmt die Rolle des Bräutigams, der mit seinem gewaltsamen Tod eine mythische Hochzeit mit der Heimat vollzieht (Neuwirth 2004b: 146). So wie ein Bräutigam durch die Hochzeit das Fortdauern seiner Gesellschaft sichert, so stärkt der ‚Märtyrer-Bräutigam‘ seine Gesellschaft durch die Belebung und (Re-)Aktivierung von kollektiver Erinnerung. Der Märtyrer erscheint in Mahmud Darwischs Dichtung als Erlöser, […] der durch den symbolischen Akt des Selbstopfers sein Volk in die Freiheit führt, ohne selbst daran teilzuhaben – wie der biblische Mose, der die Israeliten im Exodus zurück ins Gelobte Land führt, selbst aber stirbt, ohne das Land zu betreten. (Neuwirth 2004b: 145)

Der Märtyrer wird zu einer messianischen Figur erhoben, der die Grenze zwischen Leben und Tod überschreitet, „[sein] Tod ist ein Schritt voran auf dem Exodus in das verweigerte Gelobte Land.“ (ebd. S.147)

48 Ausführliche Auseinandersetzungen mit Person und Werk Mahmud Darwischs: Milich (2005), Embaló et al. (2001), Neuwirth et al. (2004).

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Doch bereits in den 1980er-Jahren reflektierte Darwisch in seinen Gedichten auch die Ambivalenzen des Märtyrerkultes; diese Zwischentöne wurden von der Leserschaft jedoch meist nicht oder nur bedingt wahrgenommen. Im Zuge der zweiten Intifada, als die Märtyrerideologie immer mehr zu einer Attentatsideologie umgedeutet wurde, distanzierte sich Darwisch endgültig von der ihm geschaffenen Märtyrerfigur. Das Bild vom Freiheitskämpfer als einer Person, die sich opfert, um Palästina zu erlösen, sprich zu heiraten, wurde nun bei jedem Kämpfer, der im Widerstand zu Tode kam, rituell inszeniert.49 Pannewick (2012: 165) schreibt über die Verselbstständigung der Märtyrerfigur: Paradox an dieser Situation ist aber, dass der ursprüngliche, vor allem von den Dichtern der 1960er Jahre geschaffene Mythos des Märtyrertums im Kontext der Widerstandsbewegung und der Figur des Widerstandkämpfers, des fida’i stand, der in den Kampf zieht, obwohl er darin wahrscheinlich umkommen wird. In dieser Zeit gab es die Selbstmordattentate noch gar nicht. Erst in den 1990er Jahren, als die palästinensische Dichtung dieses Thema kaum noch behandelte, erhielt die Figur des Märtyrers eine ganz neue Bedeutung, die vor allem im fundamentalistischen Diskurs geprägt worden war. Die Dichter, die zur Ästhetisierung dieser Figur beigetragen hatten, stehen nun vor dem Dilemma, dass ihre eigene Kreation sich verselbstständigt hat und mit verändertem Gesicht drohend zu ihnen zurückgekehrt ist.

Weiter oben wurde bereits auf die mediale Einbettung verwiesen, sodass an dieser Stelle festgehalten werden kann, dass der Märtyrerkult aufgrund seiner medialen Repräsentationen lebendig bleibt: […] Gesichter an den Wänden, Märtyrer, die gerade erst die Lebenden und die Druckerei verlassen hatten. Reproduktionen des Todes. Ein Märtyrer vertrieb den anderen von der Wand, nahm dessen Stelle ein, solange bis er dem nächsten Märtyrer oder dem Regen zum Opfer fiel.50

Abgesehen von und im Kontext der Etablierung der Märtyrerfigur beschäftigte sich Darwisch intensiv mit der hebräischen Bibel und deren irreversiblen Einschreibung in das Land und dem daraus resultierenden Mythos der Abwesenheit der Palästinenser. 1997 schreibt er hierzu51:

49 Neuwirth (2004b) weist interessanterweise darauf hin, dass Begräbnisse Züge von Hochzeitszeremonien annahmen. 50 Mahmud Darwisch, Zitat in Neuwirth (2004b: 153). 51 Zitat in Neuwirth 2004b: 142.

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Man muss sich klar darüber sein, dass Palästina bereits geschrieben worden ist. Der Andere hat dies bereits auf seine Weise getan, auf dem Weg der Erzählung einer Geburt, die niemand auch nur im Traum bestreiten wird. Einer Erzählung der Schöpfungsgeschichte, die zu einer Art Quelle des Wissens der Menschheit geworden ist: der Bibel. Was konnten wir von diesem Ausgangspunkt aus anderes tun, als unsererseits eine mythische Erzählung zu schreiben? Das Problem der palästinensischen Poesie ist, dass sie ihren Weg begonnen hat, ohne sich auf feste Anhaltspunkte stützen zu können, ohne Historiker, ohne Geographen, ohne Anthropologen; außerdem hat sie sich mit all dem Gepäck ausrüsten müssen, das notwendig war, um ihr Existenzrecht zu verteidigen. Das macht es für den Palästinenser unumgänglich, durch einen Mythos hindurchzugehen, um beim Bekannten anzukommen.

Eine besondere Bedeutung kommt Darwischs 1966 geschriebenes Gedicht „Ein Liebender aus Palästina“ zu, dessen letzte Strophe mit den folgenden Versen beginnt52: Her eyes and the tattoo on her hands are Palestinian/Her name, Palestinian/Her dreams, and sorrow, Palestinian/Her kerchief, her feet and body, Palestinian/ Her words and her silence, Palestinian/Her voice, Palestinian/Her birth and her death, Palestinian.

Genau genommen erschuf er Palästina mit diesem Gedicht neu: Mit der israelischen Staatsgründung wurde die Bezeichnung Palästina abgeschafft und war 1966 noch politisches Tabu. Denn auch mit der jordanischen Annexion der Westbank wurde Palästina aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen. Palästina existierte nicht mehr. In seinem Gedicht jedoch schreibt er die Geschichte Palästinas analog zur biblischen Genesis-Erzählung neu (Neuwirth 2004b: 142 ff.).53

52 Ich beziehe mich auf die englische Übersetzung, da diese laut Aussagen eines befreundeten, in Deutschland lebenden Palästinensers, näher am Originaltext ist. Darüber hinaus ist mir bei meinen Recherchen aufgefallen, dass der vollständige deutsche Text interessanterweise im Internet nicht mehr verfügbar ist. „Du, deren Augen und Tätowierung palästinensisch sind/Deren Name palästinensisch ist/Deren Träume und Sorgen palästinensisch sind/ Deren Gang und Gestalt und Schleier palästinensisch sind/ Deren Rede und Schweigen palästinensisch sind/ Deren Stimme palästinensisch ist/ Deren Geburt und Tod palästinensisch sind.“ 53 Neuwirth (2004b: 145) schreibt, dass in dieser zentralen Strophe die neu geschaffene Figur wie eine Braut bei der traditionellen palästinensischen Hochzeitsfeier gefeiert wird und „[das] strikt arithmetische crescendo und decrescendo der Preisungen die

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Mit Blick auf die palästinensische Widerstandskultur, wie sie sich in der palästinensischen Dichtung findet, lässt sich abschließend festhalten, dass eine doppelte Bewegung der Sakralisierung des Märtyrers auf der einen, und der Säkularisierung des Märtyrertodes auf der anderen Seite erkennbar ist. Die bereits erläuterte wechselseitige Beeinflussung von Literatur und Märtyrerkult kann sowohl eine Verherrlichung von Gewalt, als auch eine Perpetuierung des Märtyrertums befördern. Das bedeutet, dass der Märtyrerkult die Gefahr in sich trägt, dass mit jedem neuen Opfertod wieder neue Opfer nötig werden, um die Gemeinschaft zu erhalten, dass […] der Opferstatus in der palästinensischen Gesellschaft zementiert wird und kein Ausweg daraus mehr denkbar zu sein scheint. (Pannewick 2012: 160)

Wie in den folgenden Kapiteln am Beispiel von Theater und Film detailliert erörtert wird, können künstlerische Ausdrucksformen zugleich einen wichtigen Beitrag dazu leisten, insbesondere der jüngeren Generation, neue Perspektiven zu eröffnen.

geometrische Struktur der Muster auf den bestickten Kleidern abzubilden [scheint], die von traditionellen palästinensischen Frauen getragen werden. […] Nun, da die Geliebte einen Namen erhalten hat, wird dieser Name zum Losungswort im Kampf des Dichters um persönliche und kollektive Würde.“

5. Theater-Räume und Film-Räume

In diesem Kapitel wird das Potenzial von Theater und Film als Erinnerungs- und Widerstandsmedien im palästinensischen Kontext erörtert, wobei sowohl zwei Theaterprojekte, nämlich das „Alrowwad Theatre“ im Aida-Flüchtlingslager und das „Ashtar Theatre“ in Ramallah, als auch filmische Inszenierungen zum „Battle of Jenin“ Erwähnung finden. „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“, die beiden Hauptprojekte dieser Studie, werden im folgenden Kapitel ausführlich behandelt. Berücksichtigt werden in erster Linie Entwicklungen seit den 1960erJahren, weil palästinensisches Theater und Film stark an die politischen Entwicklungen dieser Zeit gebunden sind.

5.1 B EAUTIFUL R ESISTANCE 1: T HEATER UND F ILM ALS M EDIEN DES KULTURELLEN W IDERSTANDS […] our [Palestinian, Anmerkung A.R.] story is messy, atonal, scattered and does not exist with a linear chronology or geography.2

Kunst im israelisch-palästinensischen Kontext ist ein Mittel, um kulturelle Identitäten zu befördern und damit eine Verbindung zur Heimat herzustellen. Dabei stellt die durchaus vielschichtige Erfahrung der nakba ein zentrales Element des

1

Unter „beautiful resistance“ verstehe ich den ästhetischen, auf Gewaltfreiheit und kul-

2

Zitat in: Tawil-Souri, Helga (2014), „Cinema as the Space to Transgress Palestine’s

turellen Ausdrucksformen basierenden Widerstand. Territorial Trap“, in: Middle East Journal of Culture and Communication 7, 2014, S. 169-189.

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kollektiven Erinnerungsangebotes dar. Kunst bietet aber auch, insbesondere für junge Menschen, eine kreative Möglichkeit, die eigene Stimme hörbar zu machen und neue Ansätze für Problemlösungen zu finden. Kunst schafft beides: Sie kreiert einen Frei-Raum einerseits für die Auseinandersetzung mit den oft schwierigen Anforderungen des Alltags und andererseits für den kreativen, zivilen Widerstand gegen die Besatzungsstrukturen. Darüber hinaus ist Kunst wesentlich an der Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte und Erinnerungskultur beteiligt. Für den palästinensischen Kontext ist Widerstand in seiner gewaltfreien Ausprägung ein wichtiges Werkzeug und stellt eine zentrale Rahmung innerhalb des Diskurses zu einer friedlichen Beilegung des seit Jahrzehnten andauernden Konfliktes dar. Widerstand zu leisten, bedeutet eine aktive, handlungsorientierte Rolle einzunehmen, sich abzugrenzen von der Rolle des passiven, handlungsunfähigen Opfers. Beeinflusst durch die palästinensische Literatur3, zeichnen sich palästinensisches Theater und Film in besonderer Weise durch ihren Bezug zur Heimatlosigkeit, zur Entwurzelung und Besatzung, zur Erfahrung des Exils und der Sehnsucht einer Rückkehr in die Heimat aus. Sie schaffen Experimentier-Räume, Frei-Räume, Widerstands-Räume, Erinnerungs-Räume, die sich auf vielfältige Weise mit diesen existenziellen Erfahrungen auf individueller und kollektiver Ebene auseinandersetzen. Die Sprache von einem palästinensischen Theater und Film zieht unmittelbar die Frage nach sich, wie diese denn zu bestimmen seien; vor allem wenn immer wieder darauf verwiesen wird, dass es eine palästinensische Nation als vermeintliche Vorbedingung für ein Nationaltheater oder eine nationale Filmindustrie ja gar nicht gebe. In der Tat gibt es eine eigenständige palästinensische Theater- und Filmindustrie diesem Verständnis nach nicht. Unter britischer, jordanischer, ägyptischer und schließlich unter israelischer Verwaltung und Besatzung hatte die palästinensische Gesellschaft kaum Möglichkeiten, diese zu entwickeln, geschweige denn zu etablieren. Derartige Klassifizierungen stoßen auf reale, metaphorische und nicht selten auch auf emotionale Grenzen. Ist beispielsweise ein Film von einem Palästinenser im US-amerikanischen Exil, der in Nazareth spielt, als israelisch oder palästinensisch einzustufen? Oder wie ist damit umzugehen, wenn ein Film von einem palästinensischen Regisseur

3

Einen ausgezeichneten Überblick über palästinensische Literatur bieten: Embaló et al. (2001) und Jayussi, Salma Khadra (1992) [eds.], „Anthology of Modern Palestinian Literature“, New York: Columbia University Press.

T HEATER -R ÄUME UND F ILM-R ÄUME

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nicht für den „Oscar“ nominiert wird, weil Palästina nicht offiziell als Staat anerkannt ist, wie es bei Elia Suleimans „Divine Intervention“ (2002) der Fall war? The notion of a Palestinian cinema begs the question of how it can be classified as such in the first place. Is a film ,Palestinian‘ that is directed by a Palestinian person? And what if that person is an exile, a refugee and/or has taken citizenship elsewhere? Or is a film shot on location in ,Palestine‘, and if so according to which borders? Is a Palestinian film to be determined by where the production company is located, where financing came from, where it was edited, who distributes it, or even who its intended audience is? Can there be such a thing as Palestinian cinema when there is no such thing, in geo-political terms at least, as Palestine? […] Palestine is simultaneously a nation coming into being and nation being lost to exile, and its films represent both these contradictory aspects. As such, this dual existence is reflected in the history and development of Palestinian films. (TawilSouri 2005: 113 ff.)

Es ist vor diesem Hintergrund kein Widerspruch sowohl von einer staatenlosen, als auch von einer nationalen Film- und Kinokultur zu sprechen. Mit anderer Gewichtung gelten diese Eingrenzungsschwierigkeiten auch für das palästinensische Theater. Aufgrund dieser simultanen, dialektischen Prozesse kann Palästina als liminaler Raum par excellence begriffen werden, der sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnet und weder das eine noch das andere ist. Palästinensischer Film und palästinensisches Theater sind national und transnational zugleich: Einerseits sind sie nach ‚innen‘ gerichtet, berufen sich auf sich selbst, auf die als potenziell traumatisch erfahrene Vergangenheit und deren Weiterführung in der Gegenwart, auf die ‚erinnerte Zukunft‘. Sie fokussieren sich auf die Erinnerung an „das, was vorher war“, auf das kulturelle Erbe, die Traditionen und auf eine gemeinsame Identität, andererseits schauen sie über die (realen und imaginierten) Grenzen hinaus, um die Differenzen festzuschreiben und wieder aufzulösen. Von palästinensischem Film und Theater zu sprechen, bedeutet also nicht, Hybridität und Polyfonie zu leugnen und in holistischen, monolithischen Denk- und Klassifizierungsstrukturen zu verharren. Im Gegenteil kommen hier die Ambivalenzen, Ambiguitäten und Differenzen, die auf gesellschaftspolitischer und soziokultureller Ebene lokal und international ausgehandelt werden, deutlich zum Tragen. Während der palästinensische Film eher kollektive Prozesse berührt, geht es beim palästinensischen „grassroots-Theatre“4, um den es in dieser Studie in ers-

4

Ich verwende hier den gängigen englischsprachigen Ausdruck, da es eine adäquate deutsche Bezeichnung nicht zu geben scheint.

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ter Linie geht, mehr um individuelle Ausdrucks- und Verarbeitungsmöglichkeiten von potenziell traumatischen Erfahrungen und Emotionen. Wie in Kapitel 2 ausführlich behandelt, begünstigte der politische Zionismus des späten 19. Jahrhunderts sowohl die Errichtung eines israelischen Staates in Palästina, als auch die Entwicklung einer distinkten palästinensischen Identität. Dies führte zu einem kulturellen Aufblühen, unter anderem zur Entstehung eines eigenen nationalen Theaters, das sich von den anderen arabischen deutlich unterschied, sowie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem neuen Medium Film als Mittel zur Dokumentation von gesellschaftspolitischen Ereignissen.5 Die Staatsgründung Israels und die daraus resultierende Erfahrung der nabka bedeuteten einen Bruch innerhalb dieser Entwicklungen und führten zu einer „Epoche des Schweigens“.6 Ab 1967, im Zusammenhang mit der israelischen Besatzung und den sich verstärkt etablierenden säkularen, palästinensischen Nationalbewegungen, lässt sich eine vermehrte Beschäftigung mit Theater und dem neuen Medium Film als Medium des Widerstandes feststellen.7 Die Bedeutung des Krieges von 1967 kann nicht unterschätzt werden, da er eine bis dahin unbekannte Erschütterung des Selbstbewusstseins in der arabischen Welt auslöste. Trotz der Beteiligung mehrerer arabischer Staaten endete der Krieg mit einer verheerenden Niederlage, die als enorm demütigend empfunden wurde und mehr zerstörte als machtpolitische Interessen: Mit dem Ausgang des Krieges, zugunsten des noch jungen Staates Israels, war der nationale panarabische Traum endgültig zerbrochen. Angelika Neuwirth weist zu Recht darauf hin, dass die Reaktionen auf die Niederlage in der arabischen Welt […] als ein Musterbeispiel für die Wirkung des Traumas und des Schocks als Erinnerungsanker gelten [können]. (Neuwirth 2004a: 27)

Ab 1967 also, als Antwort auf die israelische Besatzung und parallel zur Entwicklung einer distinkten nationalen palästinensischen Identität, entwickeln sich auch das palästinensische Theater und der palästinensische Film grundlegend und sind in der Folge immer politisch motiviert. Widerstand und Erinnerung (an potenziell traumatische Ereignisse) sind zentrale Kategorien, die bei der Auseinandersetzung mit palästinensischem Theater

5

Dies gilt auch für die Entwicklungen innerhalb der palästinensischen Literatur.

6

Siehe auch Gertz; Khleifi 2008.

7

Dies gilt gleichermaßen auch für die palästinensische Literatur, wie sich beispielsweise in den Werken von Mahmud Darwisch und Ghassan Kanafani niederschlägt.

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und Film permanent eine Rolle spielen. Kultureller Widerstand, der in dieser Studie als Hauptmotor zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes verstanden wird, bewegt sich in den besetzten palästinensischen Gebieten folglich beständig zwischen den zwei Polen: Art for the struggle – struggle for the art.8

Theater und Film fungieren in diesem Gesamtkontext als Widerstands- und zugleich als Erinnerungsmedien, in denen die Vergangenheit repräsentiert wird, die Teil des kollektiven Gedächtnisses ist. Dabei geht es nicht darum, dass das Theaterstück oder der Film explizit auf Ausschnitte der Vergangenheit eingeht; die Darstellungen können ebenso symbolischer Natur sein und werden dennoch vom Publikum mit Ereignissen in der Vergangenheit assoziiert. Das gilt besonders mit Blick auf die nakba, die explizit oder implizit in den unterschiedlichen medialen Darstellungen anwesend ist. Es muss betont werden, dass der Fokus vorliegender Studie auf Entwicklungen innerhalb der Westbank einschließlich Jerusalems liegt. Palästinensischer Film und Theater im Gazastreifen und Israel finden hier keine bzw. nur am Rande Erwähnung. Aufgrund anderer Ausgangs- bzw. Rahmenbedingungen müssen sie in einer gesonderten Arbeit dargestellt werden. Speziell geht es in dieser Studie um die Bedeutung von Film und Theater in Jenin.9

5.2 T HEATER -R ÄUME : K REATIVE F REI -R ÄUME , G RENZGÄNGE ( R ) UND DIE K RAFT DER I MAGINATION Entgegen der weitverbreiteten Meinung Theater sei innerhalb der arabischen Welt vor dem 19. Jahrhundert eine unbekannte Erscheinung gewesen, gibt es eine Reihe von theaterbasierten Ausdrucksformen in der arabischen Welt vor der

8

Mustafa Abu Ali zitiert in: Annemarie Jacir, „Coming Home: Palestinian Cinema“, 2007, online abrufbar: http://electronicintifada.net/content/coming-home-palestiniancinema/6780 (zuletzt aufgerufen: 03.03.2016).

9

Siehe beispielsweise: Nasrallah, Aida; Perlman, Lee: „Weaving Dialogues and Confronting Harsh Realities: Engendering Social Change in Israel through Performance“, in: Cohen, Cynthia E.; Varea, Roberto G.; Walker, Polly O. [eds.], Acting Together. Performance and the Creative Transformation of Conflict, Volume I: Resistance and Reconciliation in Regions of Violence, Oakland: New Village Press 2011, S. 123-145.

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Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne im Zuge des Kolonialismus und Imperialismus: There are clear dramatic dimension in the classical Arabic canonical poetry and through Arab literature we find many references to semi-theatrical and semi-dramatic phenomena. One of these was the shadow theatre […]. Significant too for the development of modern Arab theatre are the various kinds of storytellers: the hakawati (literally ,storyteller‘), who used to recite popular tales […]. We may also count the religious festivals […]. Then, of course, theatrical elements could be found in popular peasant cultures throughout the Islamic world, e.g. the dabka folkloric line dances. Thus we find a live theatrical traditional society and culture much before the nineteenth century which provided fertile ground for modern theatrical influences from the West. (Snir 2005: 2)10

Stark inspiriert wurde das palästinensische Theater von Theatergruppen, die in den 1930er-Jahren aus Ägypten und Syrien in das britische Mandatsgebiet Palästina kamen. So wie sich in den 1930er- und 1940er-Jahren eine palästinensische Mittelschicht in den städtischen Zentren festigen konnte, etablierte sich in diesem Zeitraum auch das Theater, vorzugsweise in Jerusalem und Haifa. Die Ereignisse rund um die Staatsgründung Israels sowie die Flucht und Vertreibung eines Großteils der ansässigen palästinensischen Bevölkerung zerstörte die Anfänge des professionellen palästinensischen Theaters. Zwar gab es zwischen 1948 und den 1960er-Jahren einige wenige Versuche, Theater in Schulen, Universitäten und kleinen Amateurgruppen in der Westbank wieder aufleben zu lassen, aber es entwickelte sich keine eigenständige Theaterbewegung daraus. Erst infolge des Krieges 1967, in dem Israel innerhalb von sechs Tagen den Gazastreifen, die Westbank, den Sinai, die Golanhöhen und Ostjerusalem eroberte und besetzte, kam es zu einem lebendigen Wiederaufleben des Theaters, verstärkt auch durch die ‚Wiedervereinigung‘ der Palästinenser innerhalb und außerhalb der „Grünen Linie“. Der Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht führte zu einem Aufblühen der palästinensischen Widerstandsliteratur. Autoren wie Ghassan Kanafani (1936-1972) und Mahmud Darwisch (1941-2008) schrieben Prosa und Lyrik, die auf unterschiedliche Weise den Widerstand gegen die israelische Besatzung thematisierten.11 Viele dieser Texte wurden für das Theater adaptiert und

10 Snir, Reuven (2005), „Palestinian Theatre“, Wiesbaden: Reichert. 11 Zum Beispiel: Kanafani, Ghassan (1963), „Das Land der traurigen Orangen. Palästinensische Erzählungen“, Basel: Lenos 2015. Wie bereits beschrieben, erschuf Mahmud Darwisch die poetische Figur des palästinensischen Märtyrers als Symbol des

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aufgeführt. Während der 1970er-Jahre etablierten sich zahlreiche Theatergruppen in den besetzten palästinensischen Gebieten, deren Performances sich vorrangig mit politischen Themen beschäftigten und zum Ziel hatten, die Erinnerung an die nakba und an deren Folgen lebendig zu halten, die Probleme im alltäglichen Leben unter Besatzung zu benennen, den Widerstand gegen diese innerhalb der palästinensischen Gemeinschaft zu befördern und nicht zuletzt, um Institutionen zu schaffen, die die Entstehung eines eigenständigen palästinensischen Staates begünstigten (Snir 2005). Die Zensurbeschränkungen waren während dieser Zeit sehr streng, doch die Schauspieler entwickelten kreative Möglichkeiten und Wege, diese zu umgehen, beispielsweise durch die Verwendung von Allegorien oder traditioneller palästinensischer Musik, deren Sinn sich dem Publikum problemlos erschloss. Innerhalb der palästinensischen Theaterforschung gilt das 1984 in Jerusalem gegründete „Al-Hakawati Theatre“ als Anfang des professionellen Theaters in Palästina (Musleh 2011).12 Um die Lücke noch fehlender eigener palästinensischer Stücke zu schließen, entwickelte das Theater sogenannte ko-aktive Produktionsmethoden: Das Theaterskript wurde durch einen gemeinschaftlichen und improvisierten Prozess entwickelt, bei dem die individuellen Lebenserfahrungen der Schauspieler in den Mittelpunkt rückten. Nach den Osloer Friedensverträgen 1993 und der daran anschließenden Etablierung der PA in den besetzten palästinensischen Gebieten, verlagerte sich die Aufmerksamkeit der Palästinenser weg vom Widerstand hin zum Aufbau staatlicher Strukturen. Entsprechend thematisierten auch die Autoren und Schauspieler eher die Missstände und Herausforderungen innerhalb der eigenen Gesellschaft, unter anderem die ungleiche Behandlung der Geschlechter, die hohe Arbeitslosigkeit, parteipolitische Konflikte sowie Bildungsmissstände (Musleh 2011). Seit Ausbruch der zweiten Intifada begegnet die Theaterbewegung verstärkt neuen Schwierigkeiten und Herausforderungen. Aufgrund der strikten Ausgangssperren, der Checkpoints und der seit 2005 im Bau befindlichen Mauer, aufgrund der enormen Militär- und Siedlerpräsenz sowie der Militär- und Siedlergewalt, muss sich das Theater mit den physischen und emotionalen Zerstö-

Widerstands. Diese Figur wurde vor allem im Zuge der zahlreichen Selbstmordattentate ab den 1990er-Jahren politisch instrumentalisiert, sodass sich Darwisch von ihr distanzierte. 12 Musleh, Abeer (2011), „Theatre, Resistance, and Peacebuilding in Palestine“, in: Cohen, Cynthia E.; Varea, Roberto G.; Walker, Polly O. [eds.], Acting Together. Performance and the Creative Transformation of Conflict, Volume I: Resistance and Reconciliation in Regions of Violence, Oakland: New Village Press 2011, S. 97-123.

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rungen, mit denen sich die palästinensische Gesellschaft konfrontiert sieht, auseinandersetzen und neue Möglichkeiten und Wege finden, ihr Publikum zu erreichen. Darüber hinaus erweist es sich für viele künstlerische und soziale Organisationen als Balanceakt, einerseits interne Missstände zu benennen und andererseits kreativ Widerstand gegen die israelische Besatzung zu leisten. Die sozialpolitischen Themen innerhalb der eigenen Gesellschaft können entsprechend nicht losgelöst vom Kampf gegen die Besatzung betrachtet werden, sie sind miteinander und ineinander verwoben. Vor diesem Hintergrund kann die Bedeutung des Theaters, insbesondere für junge Menschen, kaum überschätzt werden. In unterschiedlichen Theaterprojekten, wie beispielsweise dem „Alrowwad Theatre“ im Aida-Flüchtlingslager bei Bethlehem, dem „Ashtar Theatre“ in Ramallah und dem „Freedom Theatre“ in Jenin, hat sich gezeigt, dass viele junge Palästinenser kaum in der Lage sind, ihre Träume, Sehnsüchte und Ängste zu benennen und auszudrücken. Durch die permanente Kontrolle und Besatzung, die sich von Beginn an durch ihr Leben zieht, stößt selbst die Fantasie und Vorstellungskraft auf respektive an Grenzen. The struggle every day to create some hope, a platform for dreams; to exist; to feel that you are normal and you have grief and can laugh, and inside of that situation it’s not an easy thing. (Nabil Al-Raee, künstlerischer Leiter des „Freedom Theatre“, 2014)13

Es lässt sich festhalten, dass sich durch die Entwicklung des Theaters ab den späten 1960er-Jahren kreative Frei-Räume eröffneten, in denen individuelle und gesellschaftliche Probleme benannt werden konnten. Durch die Fokussierung auf politische Gegebenheiten konnte Theater zu einem konkreten Ort des Widerstandes werden, in dem die expressiven Möglichkeiten größer waren als im alltäglichen Leben. Theater ist in diesem Sinne sowohl als kreativer Frei-Raum als auch als liminaler Raum, zu verstehen, in dem die Regeln des Alltags außer Kraft gesetzt werden und gesellschaftlich tabuisierte Themen individuell wie kollektiv ausgehandelt werden können. Die strenge israelische Zensur erschwerte die Theaterarbeit zunächst oft erheblich und nicht selten begaben sich sowohl die Schauspieler als auch das Publikum in Gefahr. Die Zensurbeschränkungen führten jedoch nicht zur Aufgabe der unterschiedlichen Theaterprojekte, sondern die Beteiligten entwickelten kreative Möglichkeiten die Zensur zu umgehen, sei es anhand von symbolischen Darstellungen und Allegorien, durch die Bezugnahme auf eine mythische Ver-

13 http://howlround.com/death-and-art-in-palestine-nabil-al-ra-ee-and-the-freedom-thea tre (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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gangenheit oder durch die Verwendung traditioneller, palästinensischer Musik, deren Bedeutung sich dem Publikum problemlos erschloss. Doch auch wenn die Zensurbeschränkungen mit der Regierungsübernahme der PA offiziell wegfielen, hat sich die Situation besonders für die Schauspieler bis heute kaum geändert. Beispielsweise gab es im April 2011 – kurz nach der Ermordung von Juliano Mer-Khamis – auf Initiative des „Freedom Bus’“ Mitbegründers Ben Rivers eine Playback-Theater Aufführung in Jenin. Anlass der Veranstaltung waren die Verhaftungen von Schauspielern des Theaters sowie nächtliche Übergriffe und Razzien durch das israelische Militär, die mit der Begründung erfolgten, den Mord an Mer-Khamis aufklären zu wollen. Auch der künstlerische Leiter Nabil Al-Raee sowie Mitbegründer Zakaria Zbeidi wurden über mehrere Wochen inhaftiert; zum Teil hatten sie keine Rechtsvertretung.14 Mit der Playback-Theater Veranstaltung sollten ehemalige Gefangene die Möglichkeit erhalten, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Bis heute gilt es nämlich als gesellschaftliches Tabu öffentlich über Gefängniserfahrungen zu sprechen, was die Brisanz der Veranstaltung einmal mehr verdeutlicht. Der ehemalige Gefangene Loai, der aufgrund seiner Zugehörigkeit zur PFLP15 inhaftiert wurde, erzählte folgende Geschichte: Psychological torture was the worst aspect of those three years in jail. One day they put me in solitary confinement for 10 days. While I was there, they tried tricking me into thinking my mother and sister had been killed, that my father had been seriously injured and that our home had been demolished. They showed me fabricated images of the funeral – photographs of coffins draped with the Palestinian flag. I remember going completely numb. I couldn’t feel anything. This was their way of trying to break my spirit.16

Schauspieler des „Freedom Theatre“ inszenierten diese Geschichte als improvisiertes Theaterstück. Die Veranstaltung wurde vom israelischen Militär unterbrochen und einige der Schauspieler festgenommen (siehe Kapitel 6).

14 In einem persönlichen Gespräch erzählte Nabil, dass die Israelis nachts in sein Haus eingedrungen seien und ihn vor den Augen seiner kleinen Tochter verhaftet hätten. Im Gefängnis sei ihm damit gedroht worden, dass er seine Tochter nicht wiedersehen würde, wenn „er nicht endlich reden würde“. 15 Volksfront zur Befreiung Palästinas, 1968 gegründet. 16 Aus einem Interviewauszug von Ben Rivers.

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5.2.1 Beispiel: Das „Alrowwad Theatre“ im Aida-Flüchtlingslager bei Bethlehem Das „Alrowwad Theatre“17 wurde 1988 von Abdelfattah Abusrour im AidaFlüchtlingslager bei Bethlehem gegründet und ist seit 2003 als NGO registriert. Laut Angaben der UNRWA leben dort heute etwa 4700 palästinensische Flüchtlinge und deren Nachkommen auf weniger als einem Quadratkilometer.18 Beinahe die Hälfte der Bewohner sind Kinder unter 14 Jahren. Umgeben von der Mauer, kann sich das Camp im Gegensatz zur rapide wachsenden Bevölkerung kaum räumlich ausdehnen, sodass neben der hohen Arbeitslosigkeit, die Überbevölkerung ein ernst zu nehmendes Problem darstellt. Aufgrund der ausufernden Wohnungsmarktpreise in Bethlehem, ziehen nun auch Leute von außerhalb in das Flüchtlingslager. Dies verstärkt die Wohnungs- bzw. Platznot zusätzlich und hat darüber hinaus Auswirkungen auf die sozialen Strukturen innerhalb des Camps. Mit dem Bau der israelischen Mauer 2005 wurde das Flüchtlingslager fast vollständig von dieser eingeschlossen und ist faktisch von Jerusalem und der benachbarten Siedlung Gilo abgeschnitten. Laut Angaben der Bewohner, war das Flüchtlingslager nie ein strategisch wichtiges Zentrum des bewaffneten Widerstands, sondern seine Bewohner berufen sich auf die tiefe Verankerung im gewaltfreien Widerstand – abgesehen vom Steine- und Molotowcocktails werfen – beides beliebte Reaktionen und Provokationen seitens der Jungen auf die Militär- und Polizeipräsenz im Camp. „Alrowwad“ befindet sich im Zentrum des Camps. Es ist Theater und vielseitig genutztes Kultur- bzw. Gemeindezentrum zugleich, insbesondere für die Frauen und die jüngeren Bewohnern. Das von den Mitarbeitern vertretende Konzept der sogenannten „beautiful nonviolent resistance“ beinhaltet die Suche und Etablierung kreativer Widerstandsformen gegen die Besatzung und betont zugleich die Liebe zur palästinensischen Heimat sowie die Hoffnung auf ein friedliches Leben in selbiger. Neben der konkreten Theaterarbeit gibt es beispielsweise Film- und Fotografie-Workshops. Als besonders beeindruckend empfand ich im Frühjahr 2014 den kreativen Umgang mit der Mauer: Sie wird nicht nur mit bunten, lebendigen Graffiti umgestaltet (die sich vorwiegend auf historische Er-

17 Siehe auch die Internetseite des Kulturzentrums: http://www.alrowwad.org/en/ (zuletzt aufgerufen: 14.02.2016). Hier findet sich auch die englischsprachige Übersetzung „Pioneers for Life“. 18 http://www.unrwa.org/where-we-work/west-bank/camp-profiles?field=12 (zuletzt aufgerufen: 14.02.2016).

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eignisse/Personen und den Widerstand beziehen), sondern sie dient auch als Kinoleinwand für Filme. „Alrowwad“ ist ein Ort, der aber auch außerhalb des Rahmenangebots für die Bewohner des Flüchtlingslagers offen ist. Es ist ein Ort der Begegnung und des gemeinsamen Austausches. Darüber hinaus ist „Alrowwad“ Anlaufpunkt für die internationalen Besucher, die etwas über das Leben und die Arbeit im Camp und im Theater erfahren wollen. „Alrowwad“ gründet auf dem Selbstverständnis, dass Theaterarbeit in ein gemeinnütziges Netzwerk eingebettet sein muss, das den Grundbedürfnissen der Menschen im Camp zugutekommt. So diente es zum Beispiel während zahlreicher israelischer Invasionen als Gesundheitszentrum. Unter anderem entwickelte „Alrowwad“ das Theaterstück „The Children of the Camp“, welches das Leben der jungen Bewohner auf die Bühne bringt. Einer der Bewohner erzählte bei einem Treffen im Kulturzentrum, dass das Stück jährlich mit gleicher Rahmenstruktur und -handlung aufgeführt wird, aber immer mit neuen, individuellen Lebensgeschichten. Ausgangspunkt des Stückes ist die Balfour-Deklaration aus dem Jahre 1917 und es führt entlang eines roten Fadens zur nakba 1948, zur naksa 1967, zur ersten und zweiten Intifada, zur Rolle der Medien innerhalb des israelisch-palästinensischen Konfliktes, bis zu den Erfahrungen an den Checkpoints und der damit einhergehenden Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das Stück endet mit individuellen Reflektionen zu dem jeweilig aktuellen Stand und Verlauf des Friedensprozesses. 5.2.2 Beispiel: Das „Ashtar Theatre“ in Ramallah Das „Ashtar Theatre“19 wurde 1991 von dem palästinensischen Schauspieler Edward Muallem und seiner Schauspielkollegin Iman Aoun in Jerusalem gegründet. Es war die erste palästinensische Organisation, die Theatertrainings für Jugendliche anbot. Der heutige Hauptsitz des Theaters ist in Ramallah. Es bietet Theater-Workshops sowohl für Palästinenser, als auch für internationale Studenten an. Um auch die Menschen in abgelegenen Gebieten zu erreichen, bietet es auch Projekte außerhalb der Zentren an. „Ashtar“ beschäftigt sich nicht vordergründig mit Themen der israelischen Besatzung, sondern vor allem mit marginalisierten Themen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Die ersten Stücke, die „Ashtar“ aufführte, waren Adaptionen internationaler Werke, die sich in den palästinensischen Kontext einbetten ließen. Nachdem sich das Theater, mit-

19 Siehe auch die Internetseite des Theaters: http://www.ashtar-theatre.org/ (zuletzt aufgerufen: 14.02.2016).

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samt seiner Theaterschule, etwas mehr etabliert hatte, gingen die Beteiligten mehr und mehr dazu über, Werke palästinensischer oder anderer arabischsprachiger Autoren zu inszenieren. Einen wichtigen Zugang für die Theaterarbeit bildet seit 1997 das „Forum Theatre“.20 Dies ist eine Methode des sogenannten „Theatre of the Oppressed“, das der Brasilianer Augusto Boal für die Aktivierung von im Alltag unterdrückter Ressourcen für die theaterbasierte Begegnung von Menschen entwickelte. Die Zuschauer, die normalerweise nur als passive Rezipienten am Theaterstück teilnehmen, werden aktiv und kreativ in das Theatergeschehen einbezogen, das heißt, sie werden dazu animiert, aktiv in das Theatergeschehen einzugreifen, es zu ändern und in einen Dialog mit den Schauspielern zu treten. Das „Theatre of the Oppressed“ versteht Theater als Mittel, Schauspieler und Zuschauer durch das Aufwerfen sogenannter Modellszenen dazu zu befähigen, Handlungsalternativen für die Gegenwart und Zukunft zu entwickeln. Ein über die besetzten palästinensischen Gebiete hinaus bekanntes Projekt des „Ashtar Theatre“ sind die „Gaza-Monologe“, die in 18 verschiedenen Sprachen aufgeführt wurden. Dieses Projekt ist 2010 infolge des Gazakrieges 2008/09 entstanden. „Ashtar“ unterrichtete Kinder und Jugendliche im Gazastreifen in Schauspiel und kreativem Schreiben. Es entstanden 31 Texte und Monologe, in denen sie von ihren Erfahrungen und Ängste während des Krieges erzählen. Nach all dem, was wir im Krieg erlebten, ist mir alles egal. Ich denke, jeder Tag, an dem ich noch am Leben bin, das ist einer extra, ein Luxus, weil ich in jedem Moment im Krieg sterben könnte. Wisst ihr, dieses Land ekelt mich an, obwohl ich es liebe. (Tamer, Jahrgang 1993)21

Weil die Jugendlichen den Gazastreifen nicht verlassen durften, wurden die Monologe weltweit parallel in 49 Ländern von Theatergruppen inszeniert.22

20 „Ashtar“ ist das nationale Zentrum für das „Forum Theatre“ in den palästinensischen Gebieten. 21 http://www.deutschlandradiokultur.de/die-gaza-monologe.1020.de.html?dram:article _id=173551 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Ein Interview mit Iman Aoun sowie Texte der Jugendliche sind zu hören auf: http://www.deutschlandradiokultur.de/diegaza-monologe.964.de.html?dram:article_id=294873

(zuletzt

aufgerufen:

06.03.

2016). 22 Siehe

auch:

http://www.kinderkulturkarawane.de/2014/AshtarTheatre/projekt.htm

(zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Trotz unterschiedlicher struktureller Ausrichtung haben die oben genannten Theaterprojekte „Alrowwad“ und „Ashtar“ eine gemeinsame Zielsetzung: Einen Frei-Raum für junge Menschen, insbesondere auch für Frauen zu schaffen, in dem sie ihre Emotionen und Geschichten auszudrücken lernen, in dem sie experimentieren können, was Zukunft sein kann, was Gegenwart ist, in dem sie Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl erlangen können, in dem sie lernen, vermeintlich festgeschriebene Normen zu hinterfragen, in dem sie Teamfähigkeit und die Andersartigkeit des Anderen zu akzeptieren lernen. Wie in Kapitel 6 deutlich wird, lässt sich dies auch für das „Freedom Theatre“ in Jenin festhalten. Abdelfattah Abusrour, der Gründer des „Alrowwad Theatre’s“ erklärt in diesem Sinne: Through theatre work, the children develop a sense of pride in themselves and their creations because they articulate stories that are genuine and thoughtful, artful and unique, stories that encourage people in the community in listening to what they have to say. […] Combining collective and individual stories, it invites kids to place themselves into a national narrative.23

Palästinensisches Theater, als politisch motiviertes Theater, bewegt sich immer zwischen der individuellen, wie kollektiven Aufarbeitung von potenziell traumatischen Erlebnissen. Es geht darum, diese in eine allgemein verständliche Sprache zu übersetzen, gesetzte Grenzen zu hinterfragen, aufzulösen und/oder zu überschreiten, um eine Erinnerungskultur und Erinnerungsgemeinschaft zu fördern, die identitäts- und solidaritätsstiftend ist.

23 Zitat in Musleh (2011: 108).

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5.3 F ILM -R ÄUME : K ONSTRUKTIONEN VON H EIMAT IM EXILISCHEN Z WISCHENRAUM Then came the film and burst this prison-world asunder by the dynamite of the tenth of a second, so that now, in the midst of its far-flung ruins and debris, we calmly and adventurously go traveling. (JONATHAN BELLER 2006: 43)24

Palästinenser müssen das Spannungsfeld zwischen Beweglichkeit/Unbeweglichkeit und Anwesenheit/Abwesenheit aushalten und aushandeln, egal ob in den besetzten palästinensischen Gebieten, in Israel oder im Exil. Eine Möglichkeit sich diesem Thema zu nähern, bietet das Medium Film, insbesondere durch die verschiedenen Wahrnehmungskanäle, die dieser anspricht. Ein wesentliches Kennzeichen des palästinensischen Films ist vor diesem Hintergrund die Wiederherstellung des ‚palästinensischen Selbst‘ innerhalb sich willkürlich verändernder Geografien und über deren variable Grenzen hinaus. Damit zusammenhängend zeichnet sich der palästinensische Film durch seinen Bezug zur nakba aus. Analog zur fehlenden filmischen Darstellung des Holocaust in Israel der 1950er-Jahre25, ist auch der palästinensische Film lange durch die Abwesenheit der nakba geprägt. Gerade aber ihre ‚Nicht-Darstellung‘ zeichnet auch ihre Anwesenheit aus. Nach einer Phase des (Be-)Schweigens, fanden sich in den späten 1960er-Jahren vermehrt filmästhetische Aufarbeitungen des kollektiven Traumas

24 Zitat in: Tawil-Souri (2014), „Cinema as the Space to Transgress Palestine’s Territorial Trap“, in: Middle East Journal of Culture and Communication 7, 2014, S. 169189, hier S. 170. 25 Eine Ausnahme bilden hier die jüdischen Freiheitskämpfer, beispielsweise des Warschauer Ghettos. „Such armed resistance is seen an hailed as the precursor to the activities and existence of the IDF […]. It is therefore interesting to note that Palestinians also have seen the Warsaw Ghetto struggle as iconic. […] One such reference was the visit in 1983 of a PLO delegate to the Warsaw Ghetto monument, at which he laid a wreath and pronounced: ,As the Jews were then justified to rise up against their Nazi murderers, so now are the Palestinians justified in their own struggle with the Zionists.‘“ (Bresheeth 2007: 164) Zu den problematischen Vergleichen zwischen Israelis und Nazis einerseits und zwischen Palästinensern und Nazis andererseits, siehe Kapitel 2.

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der Flucht und Vertreibung. Das Ziel war die Konstruktion einer gemeinsamen Erinnerung zur Festigung der nationalen Identität. Der palästinensische Film entwickelte sich in erster Linie fernab der ursprünglichen Heimat; im Wesentlichen initiiert von Palästinensern im libanesischen und jordanischen Exil und hängt eng mit dem bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung nach 1967 zusammen, denn [the] various Palestinian resistance movements were among the first to recognize the latent possibilities of media to support and express national self-assertion and liberation. (Tawil-Souri 2005: 115)

Ähnliche Entwicklungen im Bereich des Films gab es innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete aufgrund der strengen israelischen Zensur kaum.26 Der palästinensische Film ab 1967 ist sowohl „Exilfilm“ (siehe auch Naficy)27 als auch „Cinema of the Palestinian Revolution“ (Gertz/Khleifi 2008). Er war gekoppelt an die Ideen und Ideale der PLO und ihr positiv gesinnter Organisationen. Der palästinensische Film der 1960er/1970er-Jahre war stark beeinflusst von anderen revolutionären Bewegungen dieser Zeit und erhielt eine marxistisch-leninistische Färbung. Ebenso gab es zahlreiche Verbindungen zu westlichen Regisseuren, die sich bewusst von dem sogenannten ‚mainstream cinema‘ abgrenzten und den palästinensischen Filmdiskurs ihrerseits beeinflussten. So ist es nicht verwunderlich, dass fast alle Produktionen dieser Zeit dokumentarischer Art gewesen sind. Beinahe jede politische Organisation hatte eigene filmische Bestrebungen und etablierte Filmabteilungen und Filmgemeinschaften. Dies führte jedoch dazu, dass durch die starke Fragmentierung und Dezentrierung das junge Medium des palästinensischen Films geschwächt wurde. Die Anbindung an politische Organisationen war also seine Stärke und Schwäche zugleich: On the one hand, film production owed its existence to the national movement, which financed crews, offices, routine shooting sessions, and productions. On the other hand, everything ran according to the priorities of the organizations. (Gertz/Khleifi 2008: 22)

26 Gertz und Khleifi (2008) unterteilen die Entwicklung des palästinensischen Films in vier zeitliche Abschnitte, die mit dem palästinensischen Widerstand und Befreiungskampf verbunden sind: 1) 1935-1948 „Die Anfänge“, 2) 1948-1967 „Die Epoche des Schweigens“, 3) 1968-1982 „Exilfilm“, 4)1980-heute „Die Heimkehr“. Für den Forschungskontext der Arbeit sind vor allem die letzten beiden Epochen relevant. 27 Naficy, Hamid (2001), „An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking“, Princeton: Princeton University Press.

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Die Verwendung von Film als Bestandteil des (bewaffneten) Widerstandes gegen die israelische Besatzung war an das Ziel gekoppelt, diesen Befreiungskampf für ein breites Publikum zu dokumentieren und fungierte damit auch als Erinnerungsmedium. Eine wichtige Funktion kam hier beispielsweise der 1973 gegründeten „Palestinian Cinema Group“ zu. Ella Shohat und Robert Stam (1994: 290) fassen diesbezüglich in „Unthinking Eurocentrism“ zusammen: Palestinian film production, from the establishment of „Unity Cinema“ in 1967 through „Palestinian Cinema Group“ in 1973 to „The Palestinian Cinema Organization“, under the auspices of PLO, has always been intended as an instrument for the promotion of the Palestinian national cause and the registering of revolutionary events related to the Palestinian resistance. Virtually all production, therefore, has been devoted to news and documentary films – a situation common in societies struggling for political definition (and reminiscent, ironically of Zionist filmmaking in the pre-state era).28

Tatsächlich war es aber so, dass nur ein beschränktes Publikum, beispielsweise PLO-Funktionäre in Amman/Jordanien, Zugang zu den Filmen hatte. Ferner wurden diese (Dokumentar-)Filme, in der Regel nur in den Ländern veröffentlicht, in denen sie produziert wurden. Das eigentliche Zielpublikum, die Palästinenser in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel, hatten keinen Zugang zu den Filmen. Regisseuren und ihren Werken wurden die ‚Einreise‘ seitens der israelischen Regierung verweigert. Beispielsweise konnten der 1974 veröffentlichte Film „They do not exist“29 von Mustafa Abu Ali und „Return to Haifa“ (1981) von Kassem Hawal, erstmals 2003 beim „Dreams of a Nation Festival“ in Jerusalem gezeigt werden. Schauplatz der filmischen Dokumentationen der 1960er- und 1970er- Jahre waren vor allem die zahlreichen Flüchtlingslager. Die Filmemacher hatten das Anliegen, den Lebensalltag dieser ‚authentischen, kämpferischen Palästinenser‘ zu dokumentieren, um den Widerstandsgeist der Palästinenser zu stärken. Die Dokumentationen palästinensischen Lebens in den Flüchtlingslagern verhalfen der nationalen Widerstandsbewegung zu Aufschwung, woran eine wichtige Bedeutungsverschiebung gekoppelt ist: Aus dem Flüchtling wurde ein heroischer

28 Shohat, Ella; Stam, Robert (1994), „Unthinking Eurocentrism. Multiculturalism and the Media“, London: Routledge. 29 Auszug aus einem Zitat von Golda Meir (1898-1978), der ehemaligen Premierministerin Israels (1969-1974). Ihre Behauptung, dass es kein palästinensisches Volk gebe, ist eines der umstrittensten Zitate im Israel-Palästina-Konflikt und wird oft nur verkürzt dargestellt und zuweilen entkontextualisiert.

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Widerstandskämpfer gegen die israelische Besatzung. Diese Filme verwiesen sowohl auf die nakba als auch auf die erneute Flucht und Vertreibung der Palästinenser durch die israelischen Eroberungen in Folge des Krieges 1967. Aus dem Flüchtling wurde ein heroischer Widerstandskämpfer gegen die israelische Besatzung. Ein besonderes Merkmal von Filmen dieser Zeit ist, dass die aktuelle palästinensische Geografie in der Regel nicht visualisiert, sondern in eine abstrakte Zeit- und Raumordnung eingefügt wurde. Diese repräsentiert symbolisch den Raum (vor) 1948 und führt somit den Bruch der Entwurzelung aus der positiv besetzten Heimat deutlich vor Augen.30 In den 1980er-Jahren lässt sich ein Umbruch innerhalb der jungen palästinensischen Filmszene feststellen. Während des ersten Libanonkriegs 1982 ging fast das gesamte Filmarchiv der PLO verloren oder wurde zerstört. Damit steht im Zusammenhang, dass in den späten 1980er-Jahren die Unterstützung der PLO für filmische Projekte stark abnahm. Denn die erste Intifada und das Osloer Friedensabkommen verschoben den Fokus vom Widerstand zum Aufbau nationalstaatlicher Strukturen. Seither kommt die Finanzierung für Filmprojekte vorwiegend aus Europa, den USA und aus Israel, womit gleichzeitig auch andere Interessensphären berührt werden. Abgesehen von thematischen Akzentverschiebungen, rückt in den 1980er-Jahren die aktuelle Geografie in den Mittelpunkt der filmischen Darstellungen; Homogenität wird zunehmend dekonstruiert. Seit den Vereinbarungen von Oslo nimmt die territoriale Zerstückelung des Landes, vor allem durch den Siedlungsbau, immer mehr zu, sodass einige Filmemacher, wie beispielsweise Elia Suleiman, bis heute mit der filmischen Wiederherstellung des palästinensischen Raums auf diese reagieren. Nurith Gertz und George Khleifi (2008: 6ff.) schreiben in diesem Zusammenhang: Over the years, the borders of the Palestinian space, uncertain to begin with, have become increasingly blurred and threatened, violated by the Israeli settlements and army, and replaced by roadblocks, controlled checkpoints, and closures which bisected Palestinian space and identity, severing and deconstructing them.31

30 Siehe ausführlich: Gertz; Khleifi (2008). 31 Innerhalb des palästinensischen Films lassen sich zwei wesentliche Herangehensweisen festhalten: Auf der einen Seiten die „Gefrierung“ von Raum und Zeit, auf der anderen Seite die Auflösung von statischen Zeit- und Raumstrukturen.

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Es ist auffällig, dass seit den 1990er-Jahren zahlreiche Filme von palästinensischen Regisseuren mit israelischer Staatsbürgerschaft entstehen oder mit den Worten von Gertz und Khleifi (2008:5): In many instances, such a space is expressed in the works of directors who grew up within the boundaries of the state of Israel, among the landscapes of the Palestinian past, at crossroads of cultural contradictions.

Die drei bekanntesten palästinensischen Filmemacher dürften diesbezüglich wohl Michel Khleifi, Elia Suleiman und Hany Abu-Assad sein, die alle in Nazareth geboren wurden, das seit 1948 zu Israel gehört und die aufgrund dessen die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. Ihre akademische Ausbildung absolvierten alle drei vorwiegend an westlichen Universitäten. Diese (vermeintliche) ‚Entfremdung von den Wurzeln’ ist auch größter Kritikpunkt an ihrer Arbeit. Elana Shefrin (2007: 75)32 konstatiert: In addition to being weighed down by financial burdens in amassing funding of their ,stateless‘ projects, they are often subjected to physical danger in the process of filming on location in Israel/Palestine, and subsequently bombarded with verbal attacks from Arab and/or Jewish critics over the content of their narratives. These filmmakers’ experience highlight how the contextual violence of the physical conflict with the Israelis, coupled with the emotional controversies surrounding the content and status of their films, exact have a heavy price for the participation in the historical development of Palestinian cinema.

Gerade hier liegt aber auch das Potenzial eines „third space“, wie er Homi Bhabha vorschwebt, einem „dritten Raum“, in dem unterschiedliche Kulturen, Positionen, Perspektiven und Identitäten koexistieren und sich vermischen. Durch die Enttäuschung über den Verlauf der Vereinbarungen von Oslo, die für die Palästinenser keine grundlegende Besserung, sondern im Gegenteil eine immense Verschlechterung der Lebenssituation brachten, durch die wirtschaftliche Rezession, durch den Golfkrieg und die dramatische Zunahme von MärtyrerAttentaten und bewaffneten Anschläge auf israelische Zivilisten, finden sich seit den 1990er-Jahren verstärkt wieder Homogenität anstelle Heterogenität in der filmischen Darstellung palästinensischen Lebens. Das heißt aber nicht, dass individuelle Geschichten und Diversität gänzlich verschwanden:

32 Shefrin, Elana (2007), „Re-Mediating the Israeli-Palestinian Conflict: The Use of Films to Faciliate Dialogue“, Dissertation, Georgia State University.

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Nevertheless, within the history that imposes unity of goals and memory, one finds individual testimonies and personal diversity that defy this unity. (Gertz/Khleifi 2008: 6)

Der palästinensische Film mündet in diesem Kontext in dem dialektischen Verhältnis der Demonstrierung von Einheitlichkeit bei gleichzeitiger Betonung palästinensischer Pluralität. Gertz und Khleifi weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man in der Regel in Filmen, die eine heterogene palästinensische Gesellschaft beschreiben, auch heterogene Darstellungen der israelischen Gesellschaft findet. Andere Filme wiederum, die ein idyllisches, homogenes Bild der palästinensischen Gemeinschaft vermitteln, kreieren zugleich auch eine homogene israelische Gesellschaft, in der beispielsweise Siedler und Soldaten als Repräsentanten Israels dienen. Unterschiedliche Perspektiven innerhalb der israelischen Gesellschaft werden hier untergraben und selbst diejenigen ignoriert, die ebenfalls gegen die Besatzung kämpfen. Shefrin (2007: 78 ff.) weist in ihrer Studie zudem darauf hin, dass eine Unterscheidung zwischen denjenigen palästinensischen Filmemachern, die innerhalb und denjenigen, die außerhalb der israelischen Staatsgrenzen geboren wurden, nicht unwesentlich sei. Erstere besitzen die israelische Staatsbürgerschaft, leben aber nicht selten im ‚freiwilligen Exil‘. Gemeinsam mit der zweiten Kategorie der Filmemacher, deren Filme sich visuell oftmals durch fragmentierte Raum- und Zeitdarstellungen auszeichnen, ist ihnen die Erfahrung der Entwurzelung. So zeichnen sich die bereits erwähnten Filmemacher wie Michel Khleifi, Elia Suleiman und Hany Abu-Assad durch hybride (nationale) Identitäten aus. In ihren Filmen beschäftigen sie sich beispielsweise mit der Frage, was eigentlich eine palästinensische Identität auszeichne. Oft wird hier der Fokus auf die in Israel lebenden Palästinensern gelegt, die zwar das Recht haben in ihrer ursprünglichen, doch veränderten Heimat zu leben, gleichzeitig aber zerrissen sind durch ihren Verlust der Würde, Respekt und Hoffnung. Sowohl bildlich als auch thematisch werden Besatzung, Checkpoints, Grenz(über-)Gänge, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen in den Mittelpunkt der Darstellungen gerückt. Ein herausragendes Beispiel ist hierfür der 2002 erschienene Film „Divine Intervention“ von Elia Suleiman.33

33 In „Divine Intervention – A Chronicle of Love and Pain“ tritt Suleiman nicht nur als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent, sondern auch als Schauspieler auf. Der Film besteht aus vielen einzelnen, und doch zusammenhängenden und miteinander verwobenen Szenen und stellt auf reale wie surreale Weise die schwierigen Lebensumstände der Palästinenser sowie die emotionalen Konsequenzen von politischer Unterdrü-

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Begünstigt durch die Etablierung der PA in der besetzten palästinensischen Gebieten und der daraus resultierenden Aufhebung der strengen israelischen Restriktionen sowie der erleichterten Zugänglichkeit zu digitalen Medien, produzieren zahlreiche Palästinenser seither ihre eigenen Filme. Oftmals handelt es sich hierbei um Dokumentationen über Zusammenstöße mit dem israelischen Militär oder Siedlern. Die PA wiederum führte im Wesentlichen die Politik der PLO weiter, dem Filmmedium kein allzu großes nationales Interesse mehr zu schenken. Während in den Anfängen Kino und Film also noch im Dienst der ‚nationalen Sache‘ standen, wurden sie mit dem Aufbau nationalstaatlicher Strukturen als weniger wichtig empfunden. When Arafat returned to Palestine after his exile in 1994 and his PA was granted to control its own media, he concentrated on setting up newspapers, radio and television broadcasting stations, not cinematic capabilities, in order to maintain as much as control possible to the ‚national‘ media, and leaving little room for art or oppositional cultural forms. (Tawil-Souri 2005: 116)

Diese politischen Implikationen sind aber nicht die einzigen Faktoren, die zu einer Abnahme des Interesses am Film führten. Der palästinensische Film sah sich von Beginn an mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert, sein Zielpublikum zu erreichen oder überhaupt ein Publikum zu generieren.34 Auch Shefrin (2007: 73) weist auf diese Schwierigkeiten hin: As a ,stateless‘ cinema, Palestinian filmmaking has tracked a non-institutionalized production that has historically differed from the Israeli cinema. Since full length Palestinian films were not produced until the 1980s, the Palestinian cinema has had about thirty years less time than the Israeli cinema to evolve in this artistic and political content. Purely on

ckung und Gewalt dar. Verschiedene Lebensgeschichten und Ebenen sind in dem Film eingeflochten, wobei die Geschichte von E.S. (Elia Suleiman) im Mittelpunkt steht. Im Film finden sich kaum Dialoge, im Vordergrund steht das sogenannte „visual storytelling“. Suleiman ist sowohl schweigender Beobachter der Absurditäten und Gewalt, als auch aktiver Teilnehmer am Geschehen. Die „Sprachlosigkeit“ kann als Fehlen eines kohärenten palästinensischen Narrativs verstanden werden. Suleiman stellt zwei Realitäten nebeneinander: eine, die präsent, und eine, die abwesend ist. Durch die Erzeugung von Ambivalenz, Brüchigkeit und Fragmentierung wird die Erfahrung des Verlustes spürbar. 34 Auch in anderen arabischen Ländern hatten palästinensische Filme Schwierigkeiten ihr Publikum zu erreichen.

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the materialistic level, the Palestinian cinema has been disadvantaged in its development, while the Israeli film industry has received continuous funding from official government channels. […] Up until the present time, the cinema largely has remained an ,exilic‘ phenomenon, […] as being ,deprived of its own industrial infrastructure‘, ,of a native audience‘ and ,of any cultural or commercial distribution system‘.

Schon in den späten 1970er-Jahren schlossen immer mehr Filmtheater. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im Verlauf der ersten Intifada, während der ein Großteil der palästinensischen kulturellen Institutionen geschlossen oder zerstört wurde: […] cultural and artistic events that expressed Palestinian nationalism have perceived by the Israeli military government as acts of incitement. For every fine art exhibition, or poetry and theatrical event, special permission from the Israeli government was required. (Gertz: Khleifi 2008: 35)

Die israelische Zensur, die angespannte Sicherheitssituation und nicht zuletzt der Vormarsch des Fernsehens beförderten diesen Prozess zusätzlich. Diese Entwicklungen führten zu einer äußerst paradoxen Situation, die in weiten Teilen bis heute anhält. Gertz und Khleifi führen weiter aus: […] Palestinian movies stirred up a lot of interest at international festivals and were shown commercially around the world, but had difficulty reaching their „target audience“ in Westbank, Gaza Strip, Israel proper, as well as their natural national audience in the Arab countries. (ebd.: 36)

Wie bereits erwähnt, sind es seit den 1990er-Jahren vor allem die ‚Amateurfilmer‘, welche die Entwicklung des palästinensischen Films vorantreiben, eine Entwicklung, die sich durch die immer weiter verbreitete Zugänglichkeit zu den neuen Technologien heute stetig festigen kann. In diesem Sinne hält auch TawilSouri (2014: 170) fest: In the words of one filmmaker, the films […] were ‚impulsive, passionate films, bad quality films, homemade, homegrown, and desperate‘. Sobhi al-Zobaidi was referring to filmmakers like himself: ,being made immobile and absent‘, living with ,a distorted sense of space‘ […].

Mit der abnehmenden Bedeutung des Films innerhalb nationalistischer Organisationen zur Dokumentation des (bewaffneten) Widerstandes, wird er heute ver-

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stärkt als Medium für den gewaltfreien Widerstand genutzt. Nicht nur Palästinenser, auch Israelis, internationale Organisatoren und Aktivisten verwenden Film als Mittel des zivilen Widerstandes im Kampf gegen die Besatzung und für die Einhaltung der Menschenrechte. Vor allem im Internet, auf YouTube und in anderen sozialen Netzwerken, gibt es ein beinahe unüberschaubares Angebot zu diesem Thema.35 In addition to more professional made features and documentaries, there are a number of projects to foster filmmaking by ordinary Palestinians in towns and refugee camps, especially young people and activists. These projects are using the new filmmaking technology and the Internet to make visible to the world the faces and voices of Palestinians, their situation and their struggle.36

Auf diese Weise dokumentiert etwa die Gruppe „The International Solidarity Movement“ (ISM) mit einer Vielzahl von Fotos und Videos den Besatzungsalltag und den zivilen Widerstand gegen diesen. Wie oben erwähnt, wird das Material insbesondere über Internetforen wie Facebook, MySpace, FlickR, Twitter und YouTube einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Einen anderen Zugang haben die „Palestinian Film Supporters“ (PFS), die mit ihrer Arbeit teils die sich entwickelnde palästinensische Filmindustrie unterstützen, und teils ein breiteres Publikum für den palästinensischen Film generieren wollen. Des Weiteren gibt es Projekte wie die „Palestine Remembered“37 Webseite oder die „Sitting Crow Productions“38, die sich auf vielfältige Weise mit palästinensischen Narrativen auseinandersetzen, [which] explores in an artistic way Palestinian personal narratives of ‚displacement, exile and identity construction‘ and examines Palestinians who use art, music and dance to rejuvenate their cultural traditions.39

35 Dies sind in der Regel keine hochwertigen und aufwendig gedrehten Filme, sondern Dokumentationen aus dem Alltagsleben in den besetzten palästinensischen Gebieten, in der Regel festgehalten mit Handykameras. 36 http://www.adc.org/fileadmin/ADC/Pdfs/Palestine_in_Film.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 37 http://www.palestineremembered.com/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 38 http://www.sittingcrowproductions.com/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 39 http://www.adc.org/fileadmin/ADC/Pdfs/Palestine_in_Film.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Aber auch israelische Menschenrechtsorganisationen wie „MachsomWatch“, „B’Tselem“ und „Breaking the Silence“ greifen verstärkt auf das Medium Film zurück, um ihre Arbeit zu dokumentieren (Vgl. Kapitel 7). Jenseits dieser „Amateurfilme“ geht es im weiteren Verlauf der Arbeit vor allem um den „professionellen“ palästinensischen Film.40 Es soll jedoch betont werden, dass die Grenzen zwischen „Amateurfilm“ und „professionellem Film“ aufgrund der strukturellen Bedingungen oft fließend sind und kein Befreiungskampf quantitativ so intensiv für ein internationales Publikum dokumentiert wurde und wird wie der palästinensische. Begünstigt durch Projekte wie „Cinema Jenin“ lassen sich in den letzten Jahren die Anfänge einer institutionalisierten Infrastruktur für Filmproduktion und -verbreitung in den besetzten palästinensischen Gebieten beobachten. Befördert durch die Neuen Medien und sozialen Netzwerke, beginnt eine neue Form der ‚Filmkultur‘ die palästinensische Bevölkerung zu erreichen. Für die einen ist es Beruf und/oder Form des künstlerischen Ausdruckes, für andere wesentliches Instrument des kulturellen Widerstandes. Die Kamera wird zur Waffe. Der palästinensische Film bewegt sich also zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite gibt es Filme, die sich explizit dem politischen Diskurs verschreiben, auf der anderen Seite Filme, welche die ästhetische Ebene in den Mittelpunkt rücken. Unabhängig davon jedoch, wo man sich verortet, ist palästinensischer Film in beinahe allen Bereichen von Israel bzw. dessen gesellschaftspolitischen Strukturen beeinflusst. Dies führt zu einer unauflöslichen Ambivalenz: Die israelische Filmgemeinschaft unterstützt zahlreiche palästinensische Filmprojekte und/oder beschäftigt sich in eigenen kritischen Filmproduktionen mit der israelischen Besatzung und der daraus resultierenden Situation der Palästinenser seit 1948, wie beispielsweise Ari Folman in seinem animierten Dokumentarfilm „Waltz with Bashir“ (2008). Zugleich kommt es aber auch immer wieder vor, dass israelische Institutionen Produktionen von palästinensischen Filmen erschweren oder gänzlich behindern. Der palästinensische Film ist folglich nicht losgelöst von seinem politischen und soziokulturellen Kontext zu betrachten. Das betrifft nicht nur den Film selbst, sondern auch die Produktionsbedingungen, die Verbreitung und die Vorführungen:

40 Es gibt auch Beispiele, dass aus ursprünglichen Amateuraufnahmen, professionelle Filme entstehen. Am bekanntesten dürfte hier der Film „5 broken cameras“ (2011) von Emad Burnat und Guy Davidi sein, der zahlreiche internationale Auszeichnungen bekommen hat und sogar für den Oscar nominiert wurde.

194 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND The production, distribution, and public showing of these films is inescapably political, and cannot be simply a commercial or artistic enterprise.41

In den letzten Jahren gab es einen großen Anstieg von palästinensischen Filmen in den besetzten palästinensischen Gebieten, in Israel und international. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Filme über Palästina und den Israel-Palästina-Konflikt von Nicht-Palästinensern, wie auch die Jenin-Trilogie (Kapitel 6). Der palästinensische Film, seine Produktions- und Vertriebsbedingungen sowie seine Rezeptionsmöglichkeiten sind äußerst ambivalent. Auf der einen Seite haben Filmemacher oft Schwierigkeiten, ihre Filme zu produzieren, zumal eine institutionalisierte Filmindustrie aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen noch in den Kinderschuhen steckt. Darüber hinaus erreichen palästinensische Filme eher ein internationales Publikum, Palästinenser haben oftmals keinen Zugang zu den Filmen. Durch Projekte wie „Cinema Jenin“, das unter anderem die Etablierung einer Filmindustrie in den besetzten palästinensischen Gebieten anstrebt, könnte sich dies langfristig ändern. Auf der anderen Seite genießen einige palästinensische Filme, ihre Regisseure und Schauspieler, eine große internationale Anerkennung; sie sind Preisträger bei internationalen Filmfestivals, erlangen große Aufmerksamkeit in der Presse und in der akademischen Welt. Ein interessantes Beispiel für diese Ambivalenzen ist Elia Suleiman, dessen Filme international viel Beachtung bekommen. Sein Film „Divine Intervention“ (2002) wurde für den Oscar als bester ausländischer Film vorgeschlagen. Doch die „Academy for Motion Picture Arts and Sciences“ lehnte die Nominierung mit der Begründung ab, dass Palästina kein von der UN anerkannter Staat sei.42 Auf die Herausforderung, den palästinensischen Film einzugrenzen und zu definieren, weist auch Omar al-Quattan in seinem Artikel „Palestinian Cinema – An example for the Region?“ hin: If I want to make a film in Palestine, what will I find there? The stories, for sure; the enormous wealth of human situations that are deeply and universally moving, interesting and often funny. But I would also find few qualified technicians and actors, not to mention experienced directors and producers, or properly equipped cinemas, reliable hire compa-

41 Zitat in: http://www.adc.org/fileadmin/ADC/Pdfs/Palestine_in_Film.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016); siehe auch: Shohat, Ella (1989), „Israeli Cinema. East/West and the Politics of Representation“, London; New York: I.B. Tauris 2010; Naficy (2001). 42 http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2003/10/23/a0178 (zuletzt aufgerufen: 07.01.2016); http://www.spiegel.de/kultur/kino/auslands-oscar-streit-um-pro-palaestinensischesbeziehungsdrama-a-232938.html (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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nies, were made with foreign finance, foreign crews and, sometimes, even with foreign points of views. So if the primary concern of artists is to be in full control of their means and tools of expression, it is essential to create the know-how and the means of production that can allow for this autonomy.43

Für den weiteren Verlauf der Arbeit sei an dieser Stelle festgehalten, dass genauso wie das palästinensische Theater, auch der palästinensische Film unbedingt als Erinnerungsmedium verstanden werden muss. Den palästinensischen Film subsumiere ich in dem Zusammenhang unter dem Begriff des (dokumentarischen) dialogischen Erinnerungsfilms44. Darunter verstehe ich Filme, die sich mit der palästinensischen Geschichte auseinandersetzen. In diesen Filmen schwingt konstant die Erfahrung der nakba als identitätsstiftendes Narrativ mit. Ob diese Filme von Palästinensern oder Nicht-Palästinensern produziert werden, spielt dabei zunächst lediglich eine untergeordnete Rolle. Wichtig wird dies erst dann, wenn es um die inhaltlich forcierte Innen- und Außenperspektive der jeweiligen Akteure, die hegemonialen Machtstrukturen, sowie die ungleiche Ressourcenverteilung geht. Ausschlaggebend ist zunächst jedoch der Bezug auf Palästina als geografischer und/oder symbolischer Raum. Nebensächlich ist dabei, ob der Film im geografischen Raum Palästina spielt (und nach welchen Grenzen) oder andernorts. Vielen Palästinensern ist es nicht erlaubt, in ihrer ‚verlorenen Heimat‘ Filme zu produzieren, dennoch würde ich diese Filme unbedingt als palästinensisch bezeichnen. Bei der Beschäftigung mit dem palästinensischen Film als Erinnerungsfilm wird mithin das transhistorische und transitorische Moment sich überlagernder Geschichten und ‚Heimatlosigkeiten‘ deutlich. Dieses lässt sich treffend auch als „Translokalität“ beschreiben. Palästinensische Filme können Erinnerungsmedien auf unterschiedlichen Ebenen sein: auf der Ebene der Filmemacher, der Produktions- und Vertriebsebene, aber auch auf der Rezeptionsebene. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der palästinensische Film als ein Versuch verstanden werden kann, dem kollektiven Trauma von Flucht und Vertreibung zu begegnen und palästinensische Geschichte zu erinnern, zu dokumentieren sowie imaginativ und kreativ gegenüber dem israelischen Masternarrativ

43 http://archive.thisweekinpalestine.com/details.php?id=2350&ed=149&edid=149 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 44 Unter dokumentarisch verstehe ich in diesem Zusammenhang die subjektive Wirklichkeitserfahrung/-wahrnehmung. Das heißt jedoch nicht, dass der Einsatz von fiktiven Mitteln und narrativen Strategien abgelehnt wird, sondern, im Gegenteil, sogar befürwortet wird.

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zu behaupten. Der palästinensische Film als relativ junges Medium hat es seit seiner Entwicklung als Exil- und Widerstandsfilm ab 1967 aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen schwer, sich innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu etablieren bzw. überhaupt ein größeres Publikum zu erreichen. Eine eigene Kino- und Filmindustrie konnte sich bislang nicht festigen; palästinensische Filmemacher sind bis heute in der Regel auf externe Unterstützung angewiesen, was Finanzierung, Produktion und Vertrieb betrifft, sodass sie sich immer in einer doppelten Rolle von kreativer Arbeit und Mittelbeschaffung befinden. Projekte wie „Cinema Jenin“ können dazu beitragen, langfristig die Rahmenbedingungen zur Etablierung einer eigenen, funktionierenden Filmindustrie zu unterstützen, sodass palästinensische Filme sowohl unabhängiger produziert und vertrieben werden, als auch eine positivere Verankerung innerhalb der Gesellschaft finden können. „Cinema Jenin“ als konkreter Ort der Filmaufführung öffnet den Raum auch für internationale Produktionen; Film kann so ein „Fenster zur Welt“45 werden: die Auseinandersetzung mit anderen Lebensweisen und Kulturen unterstützen; Anregungen geben, gesellschaftspolitische Themen zu hinterfragen und, wie auch Theater, die ‚Kraft der Imagination‘ beflügeln, um aus den oft sehr engen Grenzen des Lebensalltags unter Besatzung auszubrechen. Es ist deutlich geworden, dass der palästinensische Film oft die Fragmentierung und Verletzung des (geografischen) Raums thematisiert, was in der Verletzung des palästinensischen Körpers und Seele ihr Äquivalent findet: Der palästinensische Raum, der vor allem ein Erinnerungsraum ist, und ‚der Palästinenser‘ bilden eine unauflösliche Einheit. The historical trauma and the ways of approaching it are linked to the geographical trauma, and together they determine the history of the Palestinian film. […] Palestinian cinema; in its attempt to invent, document, and crystallize Palestinian history, confronts the trauma. (Gertz/Khleifi 2008: 3)

Film als Erinnerungs- und Widerstandsmedium hat die Möglichkeit und die Kraft, den palästinensischen Raum wiederherzustellen. Zugleich dient Film der Konstruktion einer gemeinsamen Identität als Palästinenser, die aber das Spannungsverhältnis von Beweglichkeit/Unbeweglichkeit, Anwesenheit/Abwesenheit sowie homogenen/heterogenen Identitätskonzepten nicht notwendigerweise auflöst. Seit seiner Etablierung als Exil- und Widerstandsfilm hat sich der palästinensische Film seinen vorwiegend dokumentarischen Charakter erhalten. Er

45 http://www.cinemajenin.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er einen Bezug zu kollektiven, potenziell traumatischen Ereignissen herstellt und an diese erinnert, sie wachhält, sie umdeutet und/oder den beiden Gesellschaften kritisch den Spiegel vorhält. Der palästinensische Filmkritiker Abdel Fattah konstatiert: Palestinian cinema should be one of the tools to restore Palestinian rights and to reiterate the identity of their land, history, language, customs and traditions.46

5.3.1 Beispiel: Filmische Inszenierungen des „Battle of Jenin“ 47 Dokumentarische Filme beruhen auf Alteritätskonzepten, auf (nicht selten konfliktären) Konstruktionen vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘. Für den Jeniner Kontext lässt sich dies insbesondere in den Dokumentationen über die israelische Militärinvasion im April 2002 zeigen. Die Filme fügen sich hervorragend in den Diskurs um die Macht der Bilder und den Kampf der Erinnerung ein. Wie wichtig Jenin für das jeweilige nationale Narrativ und der damit verbundenen Erinnerungspolitik ist, zeigt sich unter anderem in der großen Anzahl dokumentarischer Filme, die zeigen wollen, wie es „wirklich“ war. Am bekanntesten dürfte diesbezüglich der Dokumentarfilm „Jenin, Jenin“ (2002) von Mohammed Bakri sein, sowie „The road to Jenin“ (2003) von Pierre Rehov, einer Gegendarstellung zu Bakris „Jenin, Jenin“.48 Mohammed Bakri führte Interviews mit den Bewohnern des Flüchtlingslagers über die Invasion. Er selbst tritt in dem Film nicht in Erscheinung bzw. nur durch seine Stimme. Haim Bresheeth (2007: 167) schreibt, dass Bakris Film die brutale Vorgehensweise des israelischen Militärs gegen die palästinensische Zivilbevölkerung demonstriere:

46 Abdel Fattah zitiert in: Tawil-Souri (2005: 117). 47 Der Begriff „Battle of Jenin“ findet sich nicht nur in der Literatur über die israelische Militärinvasion, sondern auch die Bewohner des Flüchtlingslagers verwendeten in Gesprächen diesen Terminus. 48 Bezug genommen wird immer wieder auch auf „Egteyah“ (2002) von Nazir Hassan, der die Militärinvasion hauptsächlich aus Perspektive der Soldaten, die die D9 Bulldozer fuhren, beschreibt, „[…] whose narrative is that it is a ,difficult job that has to be done‘.“ (Bresheeth 2007: 166).

198 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Both films49 expose an Israeli soldiery of a kind that most Israelis continue to deny; they are presented with a clear image of a society that has brutalized itself and then gone on to brutalize and devaste the Palestinians.

Pierre Rehov wiederum zeigt in seinem Film die Perspektive der israelischen Soldaten und versucht einige der Vorwürfe über israelische Menschenrechtsverletzungen in Jenin zu widerlegen. Es wird beispielsweise gezeigt, wie israelische Soldaten einer alten palästinensischen Frau etwas zu essen geben und wie diese sich überschwänglich bei ihnen bedankt. Die Ausstrahlung von Bakris Film, der als bester Dokumentarfilm beim „Carthage International Filmfestival“ und für den „International Prize for Mediterranean Documentary Filmmaking und Reporting“ nominiert wurde, wurde in Israel zunächst mit dem Argument zensiert, dass der Film die Öffentlichkeitsrechte verletze. Doch weder die „Cinématheque“ in Tel Aviv, noch die in Jerusalem hielten sich an das Ausstrahlungsverbot. Im Gegenzug zur Zensierung seines Films, focht Bakri die Ausstrahlung von „The road to Jenin“ an. Dies wurde jedoch mit dem Vermerk abgelehnt, dass es trotz einer augenscheinlichen Verbindung zwischen beiden Filmen keine Grundlage gebe, die Ausstrahlung von „The road to Jenin“ zu verbieten. Der Konflikt über die Ausstrahlung des Films ging bis vor den Obersten Gerichtshof in Israel und das bestehende Urteil wurde schließlich doch zugunsten Bakris aufgehoben.50 Kritiker bezeichneten „Jenin, Jenin“ als geschmacklose, aber gelungene Manipulation. Dies drängte Mohammed Bakri und seine Dokumentation in die Nähe des sogenannten „Pallywood Vorwurfs“. Die Bezeichnung „Pallywood“ steht für die gezielte und systematische Manipulation von Medien seitens der Palästinenser, mit dem Ziel, Israel in der internationalen Öffentlichkeit schlecht darzustellen. Es ist auffällig, dass es bei Rehovs Dokumentation keine ähnlich gearteten Fälschungsvorwürfe gab. Weiterhin lässt sich in Jenin mit dem zahlreichen Aufkommen dokumentarischen Materials, insbesondere von Film, die Tendenz zeigen, wie Widerstand transformiert werden kann. Aus gewaltvollen Widerstandsformen können kulturelle Ausdrucksformen werden. Das heißt nicht, dass die gewaltsamen Formen verschwinden, aber es lassen sich temporäre Bedeutungsverschiebungen feststellen. Jenin, das mittlerweile zu einem Zentrum des kulturellen Widerstandes avanciert ist, ist einerseits Filmstadt und potenzielles Zentrum lokaler Filmproduktion, an-

49 Er bezieht sich hier nicht nur auf „Jenin, Jenin“, sondern auch auf „Egteyah“. 50 Vgl. http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/3262325.stm (zuletzt aufgerufen: 06.03. 2016).

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dererseits Stadt der ‚Erinnerungs-Filme‘, in der sich mittels der filmischen Auseinandersetzung mit der Militärinvasion 2002 die potenziell traumatischen Narrative der Israelis und Palästinenser, die nicht voneinander zu lösen sind, begegnen. Dadurch entstehen in einer dialektischen Bewegung sowohl neue ‚Abgrenzungs-Räume‘ als auch ‚Erprobungs-Räume‘ gesellschaftlichen Zusammenlebens.

6. Jenin. Reale und symbolische Widerstandsräume

Im Folgenden geht es um eine detaillierte Vorstellung Jenins, wobei der israelischen Militärinvasion 2002 verstärkte Aufmerksamkeit zukommt, da diese sowohl für die palästinensische als auch für die israelische Seite eine große Rolle im kollektiven Bewusstsein spielt. Ferner liegt der Fokus dieses Kapitels auf „Cinema Jenin“ und dem „Freedom Theatre“. Neben der Bedeutung und Verortung der beiden Institutionen innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete und darüber hinaus, werden einerseits die drei von Marcus Vetter produzierten Dokumentarfilme „Das Herz von Jenin“ (2008), „Nach der Stille“ (2010) und „Cinema Jenin. Die Geschichte eines Traums“ (2011) ausführlich dargestellt, andererseits das vom „Freedom Theatre“ initiierte Projekt des „Freedom Bus’“, wobei vor allem dem „Playback-Theatre“ eine besondere Funktion zukommt.

6.1 J ENIN , APRIL 2002: Z UR D IALEKTIK VON T ERRORISMUS UND W IDERSTAND . K ONSTRUKTIONEN GEGENLÄUFIGER E RINNERUNGSDISKURSE . V OM BEWAFFNETEN ZUM KULTURELLEN W IDERSTAND Whatever we call them, narratives or myths, they

articulate

the

common

and

shared

worldview of a given society, provide legitimacy to its social order, foster integration between its members, and lead them to action. In order to do this, they often construct imaginary views of the world […]. A culture is a totality composed of

202 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND the systems operating within it, all struggling for power, prestige and hegemony. The texts formed in – and by – a society are weapons used in these struggles.1

Aufgrund seiner umstrittenen Bedeutung während der zweiten Intifada ist Jenin heute international besonders als „Terroristenhochburg“ bekannt. Militante Palästinenserorganisationen wie die „Al-Aqsa Märtyrerbrigaden“2, der „Palästinensische Islamische Jihad“, „Tanzim“3 und „Hamas“ unterhielten zentrale Quartiere im Flüchtlingslager. Vor allem die „Al-Aqsa Märtyrerbrigaden“ zeigten sich verantwortlich für eine Reihe von Selbstmordattentate in Israel. Allein im März 2002, der in Israel auch als „schwarzer März“ bezeichnet wird, ereigneten sich insgesamt 15 Selbstmordattentate, das bedeutet, dass sich durchschnittlich alle zwei Tage ein Attentat ereignete.4 Schon zu Beginn des Jahres 2002 gab es aufgrund der zahlreichen Anschläge eine verstärkte Militärpräsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten. Letzter Anstoß für die sogenannte „Operation Defensive Shield“, bis dahin die größte Militäraktion in der Westbank seit 1967, war jedoch ein Attentat am 27.3.2002

1

Zitat von Nurith Gertz in: Shefrin 2007: 62.

2

Der militante Flügel der Fatah.

3

Ebenfalls ein militanter Ableger der Fatah. Ihr Anführer Marwan al-Barghouthi verbüßt seit 2004 in Israel eine fünffach lebenslange Haftstrafe wegen mehrfachen Mordes und Terrorismus. Er gilt als Schlüsselfigur einerseits im Konflikt zwischen Fatah und Hamas, andererseits im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Barghouthi überlegte, sich aus dem Gefängnis heraus für die Präsidentschaft zu kandidieren. Ihm wurden gute Chancen eingeräumt, denn sowohl die breite Bevölkerung, als auch islamistische Palästinenser hätten ihn nach Einschätzung von Experten unterstützt. Letztendlich verzichtete er jedoch auf Druck der Fatah auf die Kandidatur. Diese hatte bereits den als gemäßigt geltenden Mahmud Abbas als Kandidaten gekürt. Siehe auch: http://www.zenithonline.de/deutsch/koepfe/a/artikel/volkstribun-hinter-gittern-003738 (zuletzt

aufgerufen:

06.03.2016);

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-

gefesselten-hande-uber-dem-kopf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016); http://www.haar etz.com/israel-news/marwan-barghouti-placed-in-solitary-confinement-in-israel-jail-af ter-call-for-popular-uprising-1.421998 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 4

Siehe auch: Ben-Israel, Galit M.; Shorer-Zeltser, Marina (2012), „Telling a Story by Dry Statistics: Suicide Terror Attacks in Israel (1993-2008)“, in: Dronzina, Tatyana; El Houdaigui [eds.] (2012), Contemporary Suicide Terrorism: Origins, Trends and Ways of Trackling it, Amsterdam; Berlin et al.: IOS Press, S. 52-68.

J ENIN . R EALE UND

S YMBOLISCHE

W IDERSTANDSRÄUME

| 203

während der Pessachfeierlichkeiten im „Park Hotel“ in Netanya, bei dem 30 Menschen ums Leben kamen und zahlreiche weitere verletzt wurden. Die „Operation Defensive Shield“ war darauf angelegt, den terroristischen Anschlägen, allen voran den Märtyrer-Attentaten, Einhalt zu gebieten und die militanten Strukturen in den besetzten Gebieten zu zerschlagen. Für die Offensive wurden 30.000 israelische Reservisten einberufen. Am 29.3.2002 drang die israelische Armee in Ramallah ein und belagerte Arafats Hauptquartier. In Folge besetzte das Militär die sechs größten Städte der Westbank und deren Umgebung: Tulkarm, Qalqilya, Bethlehem, Hebron, Jenin und Nablus. Vom 3.-21.4. wurde eine strikte Ausgangssperre über die palästinensische Zivilbevölkerung verhängt und auch das internationale Personal hatte innerhalb der Westbank mit Einschränkungen zu rechnen: Unter anderem gab es ein temporäres Einreiseverbot für humanitäre Dienste und medizinisches Personal, für Journalisten und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen. Dies stieß sowohl national als auch international auf große Kritik.5 Von einschneidender Bedeutung für Israelis wie Palästinenser während dieser großangelegten Militäroffensive war der sogenannte „battle of Jenin“, der vom 3.4.-11.4. andauerte. Jenin war für Israel ein strategisch wichtiges Ziel der Terrorbekämpfung, da einige der militanten Palästinenserorganisationen strategisch wichtige Stellungen in Jenin unterhielten. Laut israelischen Angaben kamen 23 der insgesamt 60 Märtyrer-Attentäter aus Jenin (Reinhardt 2002: 152 ff.). Am 2. April erreichte die israelische Armee das Camp und forderte, laut eigenen Angaben, die Zivilbevölkerung auf, das Flüchtlingslager umgehend zu verlassen. Palästinensische Quellen nennen bezüglich dieser Evakuierungsaufforderung widersprüchliche Angaben. Fakt ist jedoch, dass ein Teil der Bewohner das Flüchtlingslager verließ und in den umliegenden Dörfern Zuflucht fand. Über die genaue Anzahl herrscht Unstimmigkeit. Während der gesamten Invasion waren Camp und Stadt komplett abgeriegelt, die Elektrizitäts- und Wasserversorgung wurde unterbrochen, es herrschte eine strikte Ausgangssperre und unabhängige Beobachter und Journalisten durften das als Sperrzone deklarierte Gebiet nicht betreten. Erst nachdem die Kämpfe bereits vorüber waren, gelangten internationale Beobachter nach Jenin. Nicht zuletzt aufgrund der Weigerung, Journalisten und unabhängige Beobachter in das Camp zu lassen, war in der nationalen wie internationalen Presse rasch von einem Massaker in Jenin mit bis zu 500 Toten die Rede. Nach der Invasion gab es diesbezüglich einen umstrittenen UN-Untersuchungsausschuss und auch Menschenrechtsorganisationen wie

5

Siehe auch: Reinhart, Tanya (2002), „Israel/Palestine. How to End the War of 1948“, New York: Seven Story Press.

204 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND

„Amnesty International“6 und „Human Rights Watch“7 nahmen sich einer Klärung der Ereignisse an. Ein an der palästinensischen Zivilbevölkerung verübtes Massaker konnte letztendlich nicht nachgewiesen werden, wohl aber Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee. Die Menschenrechtsorganisationen erwähnen in diesem Zusammenhang, dass Palästinenser, darunter auch Kinder, als menschliche Schutzschilder missbraucht wurden; sie sprechen von Tötungen und Folter, von der Verweigerung medizinischer und humanitärer Versorgung, der Zerstörung von Häusern, ohne Rücksicht darauf, ob sich noch Personen in ihnen befinden. Zu berücksichtigen ist, dass derartige Untersuchungsausschüsse nur wenig mit der subjektiven Erfahrungswelt der Betroffenen konform gehen. Es fängt allein bei der Definitionsfrage an, was überhaupt unter einem Massaker zu verstehen sei. Hier dürften sich die standardisierten Angaben von Untersuchungsausschüssen und die subjektiv-emotionalen Bewertungskategorien aller Wahrscheinlichkeit nach stark unterscheiden. Hinzu kommt, dass die Angaben über die Todesopfer auf israelischer und palästinensischer Seiten stark variieren. Die unterschiedlichen Menschenrechtsorganisationen, denen eine neutrale Position zugesprochen wird, sprachen von 54 Opfern auf palästinensischer und von 23 Opfern auf israelischer Seite. Letzten Endes geht es vielen Betroffenen aber nicht um die Klärung genauer Zahlen, sondern vielmehr um die Ereignisse selbst. James Zogby, ein Mitarbeiter des arabisch-amerikanischen Institutes, erklärt: We may never know how many Palestinians died in Jenin. In the end, however, it is not the number who died that will tell the story. It is savage cruelty experience by those who survived […]. Their story must be told and remembered.8

2003 veröffentlichte der Journalist Ramzy Baroud das Buch „Searching Jenin“, das aus Interviews mit palästinensischen und internationalen Augenzeugen der Invasion besteht. Da den Angaben der Bewohner Jenins in der israelischen wie

6

https://www.amnesty.de/umleitung/2002/deu01/067?lang=de&mimetype=text/html &destination=suche%3Fwords%3Djenin%2B2002%26search_x%3D0%26search_y% 3D0%26search%3DSuchen%26form_id%3Dai_search_form_block (zuletzt aufgerufen: 15.02.2016).

7

https://www.hrw.org/de/news/2006/11/21/palastinensische-autonomiegebiete-ziviliste

8

Zitat in: Baroud, Ramzy (2003), „Searching Jenin. Eyewitness Accounts of the Israeli

n-durfen-nicht-als-menschliche (zuletzt aufgerufen: 15.02.2016). Invasion“, Seattle: Cune Press, Klappentext innen.

J ENIN . R EALE UND S YMBOLISCHE W IDERSTANDSRÄUME

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internationalen Medienberichterstattung oft nur wenig Aufmerksamkeit und Glauben geschenkt wurde (und wird), scheinen die Berichte von den internationalen Augenzeugen vorwiegend legitimierenden Charakter zu haben. Während meiner Forschungsaufenthalte in Jenin habe ich des Öfteren versucht, die Militärinvasion 2002 zu thematisieren. Die Gespräche blieben jedoch immer sehr vage und allgemein. Das dürfte neben den nur schwer zu erzählenden, potenziell traumatischen Erlebnissen, den sprachlich-emotionalen Barrieren, auch damit zusammenhängen, dass viele meine Gesprächspartner zum Zeitpunkt der Invasion noch Kinder waren. Auffällig war jedoch, dass die Invasion immer als Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung thematisiert wurde, darüber hinaus wurde in der Regel lieber auf Geschichten von anderen, als auf persönliche Erfahrungen verwiesen. Wie um den Wahrheitsgehalt der Erlebnisse während der Militärinvasion beweisen zu müssen, wurden mir oft auch Fotos oder Videomaterial gezeigt. Der allen vertraute Verweis darauf, dass die breite internationale Öffentlichkeit die Bewohner Jenins oft als Terroristen diffamiere, berührte einige meiner Gesprächspartner sehr emotional; mit einer Mischung aus Wut und Traurigkeit. Mehr als einmal wurde mir erklärt, dass sie doch nicht alle Terroristen seien, sondern Widerstandskämpfer. Auf die Ambivalenz der Deutungskategorien ‚legitimer Widerstand und unrechtmäßiger Terrorismus‘ weist auch Ramzy (2002: 31) mittels eines sehr emotionalen Interviewausschnittes hin: What did the world expect us to do? Should we have just laid down peacefully and been crushed under the treads of Israeli tanks? Should we have let the fire engulf our children and should we have scolded them if they screamed?

Das Zentrum des Flüchtlingslagers, das „Hawashin Viertel“, wurde komplett zerstört, etwa 4000 Menschen wurden obdachlos; diejenigen, die in den umliegenden Dörfern Zuflucht fanden, konnten vorerst nicht zurückkehren und teilen seither eine doppelte Flüchtlingserfahrung. Geht man heute durch das Flüchtlingslager, sind die Spuren der Invasion noch sichtbar. Auch wenn das Camp durch die UNRWA wieder aufgebaut und rekonstruiert wurde9, lassen sich bei-

9

„UNRWA’s reconstruction of Jenin refugee camp following the massive destruction by Israel in April 2002 was the largest humanitarian intervention during the second Intifada. It also represented a turning point in UNRWA’s more than sixty-year history by expanding its operations to include the large-scale reconstruction of a camp targeted by colonial and military violence. Today Jenin camp’s reconstruction is hailed as the first ,urban redesign‘ of a refugee camp in occupied Palestinian territories.“ (Tabar, Linda (2012), „The ,Urban Redesign‘ of Jenin Refugee Camp: Humanitarian In-

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spielsweise die neuen von den alten Häusern deutlich unterscheiden. Die neu gebauten Häuser tragen einen gelblichen Anstrich, die älteren einen gräulichen, sodass das Ausmaß der einstigen Zerstörung auch äußerlich sichtbar bleibt. Inwiefern diese unterschiedliche Farbgebung als ‚Erinnerungsträger‘ intendiert ist, konnte ich nicht herausfinden Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich an und in Jenin die potenziell traumatischen Narrative der Israelis und Palästinenser komplementär spiegeln. Während sich die Palästinenser an die Invasion 2002 als ein Massaker erinnern, bezeichnen die Israelis diese als einen fairen Krieg gegen terroristische palästinensische Strukturen. Die internationale Gemeinschaft wiederum ist gespalten in ihrer Haltung gegenüber Jenin. Die einen beschuldigen Israel der Verübung von Kriegsverbrechen mittels kolonialer Machtstrukturen, die anderen betonen Israels legitimes Recht auf Selbstverteidigung. Beiden Seiten hat sich Jenin tief in die Erinnerung eingeschrieben und ist realer und symbolischer Ort divergierender nationaler Narrative, die beide auf einem kollektiven Gründungstrauma beruhen. Jenin ist wechselseitiger Kristallisationspunkt für Selbst- und Fremdzuschreibungen, für das dialektische Verhältnis von Widerstand und Selbstverteidigung, für den Kampf um die ‚wahre‘ Erinnerung und besitzt damit eine enorme identitätsstiftende Kraft.

tervention and Rational Violence“, Journal of Palestine Studies, Vol. 41, No. 2 (Winter 2012), S. 44-61). Die Anerkennung der Arbeit der UNRWA steht außer Frage, doch wird auch diese ambivalent diskutiert. In ihren Anfängen ging es zunächst um die Bereitstellung von Nothilfe wie Unterkunft, Lebensmittel, medizinische Versorgung und Kleidung. Heutzutage fließt mehr als die Hälfte des zur Verfügung gestellten Geldes in Bildung, Gesundheitswesen und Sozialhilfe. Ein Großteil der von der UNRWA gestellten Jobs wird von Palästinensern bekleidet. In den offiziellen Aufgabenbereich der UNRWA fällt nicht, die politischen Rechte der Flüchtlinge zu vertreten. Die Hilfsorganisation muss entsprechend ständig divergierende Interessen aushandeln. Wie andere große, bürokratisch ausgerichtete Organisationen ist auch die UNRWA in ihrer Grundstruktur hierarchisch organisiert, sodass die Kluft zwischen der Institution und den Menschen an der Basis sehr groß sein kann. In Gesprächen mit Bewohnern des Flüchtlingslagers erfahre ich, dass bei vielen das Vertrauen in die UNRWA nicht sehr groß ist, sondern dass das ambivalente Gefühl im Vordergrund steht, dass ihren Rechten als Menschen und den Strukturen von Besatzung und Gewalt nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Dadurch fühlen sie sich als aktive, mitgestaltende Mitglieder ihrer Gesellschaft nicht anerkannt.

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6.2 „C INEMA J ENIN “ Im Folgenden wird zunächst das Projekt „Cinema Jenin“ sowie die damit verbundene Film-Trilogie „Das Herz von Jenin“, „Nach der Stille“ und „Cinema Jenin“ detaillierter dargestellt, daran anschließend das „Freedom Theatre“, wobei der „Freedom Bus“ und damit zusammenhängend das „Playback-Theater“ eine wichtige Rolle spielen. Neben der Darstellung der Projekte soll deren Bedeutung für den kulturellen Widerstand analysiert werden. 6.2.1 „Cinema Jenin“: „Ein Kino für den Frieden“ 10 Meine Idee war es mit diesem Kino zu zeigen, dass Zuschauer überall auf der Welt für gute Filme zu begeistern sind, wenn sie nur die Chance hätten, sie zu sehen. (MARCUS VETTER, ZITAT AUS „CINEMA JENIN. DIE GESCHICHTE EINES TRAUMS“ [2011])

Wie einleitend beschrieben, entstand die Idee, das verfallene Kino im Zentrum Jenins wiederzueröffnen, durch die Dreharbeiten zum Film von „Das Herz von Jenin“. Das Budget zur Renovierung und Wiedereröffnung belief sich laut dem einsehbaren Finanzierungsbericht11 auf der Homepage von „Cinema Jenin“ 2009/2010 auf 750.000 €; die zahlreichen Sachspenden nicht mit eingerechnet. Schwer kalkulierbare Ausgaben führten jedoch zu Finanzierungsengpässen; beispielsweise bei einer Anlage, die eine unterbrechungsfreie Stromversorgung garantiert, weil es häufig Stromausfälle in Jenin gibt. Stromausfälle würden nicht nur negative Auswirkungen auf den Kinobetrieb haben, sondern auch auf die Elektrik.12 Vor seiner Renovierung war das Kino fast komplett zerfallen, die alten etwa 400 Kinositze befanden sich in einem desolaten Zustand, die Projektoren waren nicht mehr funktionstüchtig, die Kinoleinwand zerstört: Sowohl das Gebäude

10 Werbeflyer

abrufbar:

http://www.cinemajenin.org/new/project/Downloads/Flyer_

Cinema_Jenin_Deutsch.pdf (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016) 11 http://www.cinemajenin.org/new/project/Cinema_Jenin_Financial_Report_2009_201 1_web.pdf?name=project&subname=financialreport (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016) 12 So fiel auch pünktlich zur Wiedereröffnung der Strom in Jenin aus und die Feier wurde über die externe Stromversorgung gewährleistet.

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selbst als auch das gesamte zugehörige Equipment mussten repariert oder komplett ersetzt werden. Das Gartengrundstück, welches das Kino umgibt, wurde zu einem Open-Air Kino erweitert. Dieses bietet neben den 335 Sitzen im Gebäude nochmal ca. 700 (mobile) Sitzplätze. Zu diesem großzügigen Außenbereich gehört auch eine kleine Cafeteria. Auf Bestellung werden auch Gerichte für die Gäste des „Cinema Jenin Guesthouse“ zubereitet, das ursprünglich als Unterkunft für die internationalen Helfer hergerichtet wurde, mittlerweile aber ein etablierter Anlaufpunkt für Reisende innerhalb der Westbank ist. Zusätzlich gehören zum „Cinema Jenin“ eine Mediathek mit etwa 500 Büchern und Filmen, ein Ton- und Synchronisationsstudio. Das „Guesthouse“ hat 44 Schlafplätze, einen großen Küchen- und Aufenthaltsbereich sowie einen Unterrichtsraum für Deutschkurse, die regelmäßig angeboten werden. Darüber hinaus besteht für internationale Gäste die Möglichkeit Arabisch zu lernen.13 „Cinema Jenin“ wurde unter deutscher und palästinensischer Trägerschaft realisiert, sodass zu diesem Zweck ein gemeinnütziger Verein in Tübingen („Cinema Jenin e. V.“14) und eine beim Innenministerium in Ramallah registrierte NGO („Cinema Jenin Association“) gegründet wurden. Projektmanager auf deutscher Seite war von Beginn an Marcus Vetter und auf palästinensischer Fakhri Hamad. Da das Kino mehreren palästinensischen Besitzern gehört, gab es zunächst erhebliche Schwierigkeiten, Einigkeit über Finanzierung, Pacht und Durchführung zwischen den Besitzern und den Verantwortlichen des frisch gegründeten Vereines zu erzielen. Die Verantwortlichen des Projektes sahen „Ci-

13 Siehe auch: http://www.cinemajenin.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 14 „Cinema Jenin e.V.“ ist ein gemeinnütziger deutsch-palästinensischer Verein mit Hauptsitz in Tübingen, der aus Film- und Kulturschaffenden, Unternehmern und Investoren besteht, die sich dem Gedanken des „Social Entrepreneurships“ verschrieben haben. Dabei geht es nicht mehr nur um Jenin im engeren Sinne, sondern Ziel ist laut Marcus Vetter, weltweit eine Film- und Kinokultur zu fördern oder selbst zu betreiben, dass nachhaltige Entwicklung und Bildung, sowie kulturelle Verständigung entstehen. Der Verein beruft sich auf die Werte der Demokratie, Ökologie, Gleichberechtigung, Gewaltfreiheit und der Menschenwürde und fördert vor diesem Hintergrund u.a. Filme, die als noch nicht marktfähig gelten und der Verständigung dienen; er fördert die Herstellung und Vermarktung unterrepräsentierter Sprachfassungen dieser Filme sowie den Aufbau von Fortbildungsangeboten in Schauspiel, Spiel- und Dokumentarfilm, Kamera, Schnitt, Grafikdesign, Fotografie, Untertitelung und Filmwirtschaft. Siehe auch: https://www.betterplace.org/de/organisations/cinemajenin (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016) Das palästinensische Äquivalent ist die „Cinema Jenin Association“.

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nema Jenin“ als „Social Entrepreneurship“, wobei der Profitgedanke eindeutig im Hintergrund steht; die ursprünglichen Besitzer des Kinos wiederum hatten Interesse an einem profitablen Unternehmen. Schon bevor der deutschpalästinensische Verein seine Arbeit richtig aufnehmen konnte, drohte das Projekt unter anderem an den unterschiedlichen bürokratischen Auffassungen und Vorgehensweisen zu scheitern. Mit dem Ministerium für Kultur in Ramallah wurde in der Folge vereinbart, dass alle mit dem Kino verbundenen Rechte und Pflichten 2012 an die „Cinema Jenin Association“ übertragen werden. Dies beinhaltete auch, dass „Cinema Jenin“ bis dahin als wirtschaftlich selbsttragendes Projekt etabliert sein sollte. Erreicht werden sollte dies durch finanzielle, ideelle und personelle Unterstützung, wie beispielsweise durch Weiterbildungen im Kino- und Kulturmanagement für das palästinensische Team oder Film- und Theaterworkshops für ein möglichst breites Publikum. Ein schwerer Schlag für „Cinema Jenin“ war die Ermordung des ehemaligen Leiters des „Freedom Theatre“ Juliano Mer-Khamis, der großen Einfluss auf die Arbeit und das Selbstverständnis der Kinos hatte. Dies hatte zur Folge, dass vorläufig aus Sicherheitsgründen alle internationalen Volontäre aus Jenin abgezogen wurden. Damit zusammenhängend wurde früher als geplant auch das Projektmanagement an führende Persönlichkeiten aus Jenin übergeben. Seither ist Lamei Asir als Projektmanager vor Ort tätig. Im November 2014 gingen das „Freedom Theatre“ und das „Cinema Jenin“ offiziell eine Kooperation ein, wie sie auch Mer-Khamis bereits angestrebt hatte. Einzelne Kooperationen zwischen den beiden Projekten gab es zwar von Beginn an, aber nun besteht diese Partnerschaft auch auf offizieller Ebene mit dem ausdrücklichen Ziel, das kulturelle Leben sowohl in der Stadt als auch im Flüchtlingslager zu stärken. Nabil Al-Raee, seit Mer-Khamis Ermordung der künstlerische Leiter des „Freedom Theatre“, betont in diesem Kontext: Through this unique partnership we want to show that culture is collaborative by nature and that cultural cooperation can counter the fragmentation of the Palestinian society.15

Das Selbstverständnis des „Freedom Theatre“ gründet auf der Annahme, dass Kultur ein zentraler Bestandteil des palästinensischen Widerstandes gegen die israelische Besatzung und gegen destruktive Strukturen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft ist. Deshalb betrachtet Al-Raee die offizielle Partnerschaft als

15 http://www.thefreedomtheatre.org/category/news/ (Stand: 06.03.2016).

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strategische Aktion und hofft, dass auch andere Organisationen dem Beispiel folgen. Der Projektmanager von „Cinema Jenin“, Lamei Asir, äußert sich hierzu: Cinema Jenin and The Freedom Theatre have already collaborated on a number of projects and we frequently share resources and facilities. Now we will take our cooperation to the next level and plan future joint ventures. One of those include the formation of a mobile cinema unit.16

Bis heute konnte die Existenz des Kinos gesichert werden, allerdings ist es nach wie vor auf Spenden angewiesen, um beispielsweise die Gehälter der Angestellten zu sichern.17 Im Oktober und November 2015 veranstaltete „Cinema Jenin“ eine Benefiz-Tour in Deutschland. In verschiedenen deutschen Kinos wurde der Film „Cinema Jenin“ gezeigt, zwei Mitarbeiter aus Jenin standen im Anschluss der Filmvorführungen dem Publikum Rede und Antwort. Der Erlös der Vorführungen kommt dem Kino und den Mitarbeitern in Jenin zugute. Wie bereits erwähnt, werden im „Cinema Jenin“ nicht nur Kinofilme gezeigt18, sondern in lokaler und internationaler Zusammenarbeit werden regelmäßig Film- und Theaterworkshops angeboten, um ein breiteres Publikum zu erreichen und vor allem junge Menschen dazu zu ermutigen, selbst eine aktive Rolle in der sich entwickelnden palästinensischen Kultur- respektive Filmindustrie zu übernehmen. In diesem Kontext wird das Kino auch für zahlreiche kulturelle Veranstaltungen genutzt: für Vorführungen von in Eigenregie gedrehter (Kurz-) Filme, für Theaterstücke, Musikkonzerte, Gedenkfeiern und sogar für private Veranstaltungen wie beispielsweise Hochzeiten. So ist „Cinema Jenin“ nicht nur ein Kino im engeren Sinne, sondern dem Grundverständnis der beiden um „Cinema Jenin“ gegründeten Vereine folgend, Ort der Begegnung und des (kulturellen) Austausches. Die Menschen gehen nicht nur zu festen Filmvorführungen und/oder anderen kulturellen Vorstellungen, sondern vor allem der Garten wird als Ort des sozialen Austausches und des gemütlichen Beisammenseins genutzt.

16 http://www.thefreedomtheatre.org/category/news/ (Stand: 06.03.2016). 17 Auf einer meiner Forschungsreisen im Sommer 2013 hörte ich sogar das Gerücht, dass das Kino geschlossen und an seiner Stelle ein Einkaufszentrum errichtet werden solle. 18 Bevor die Filme im Kino ausgestrahlt werden dürfen, müssen sie von den religiösen Autoritäten in Jenin geprüft werden.

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Ein Ort, wie er insbesondere für die Frauen und jungen Mädchen in Jenin nicht selbstverständlich verfügbar ist.19 6.2.1.1 Beispiel: „Die Projektionistin“ Für die Entwicklung einer lokalen (Film-)Wirtschaft kann die „Cinema Jenin Distribution and Production“20 eine wichtige Rolle einnehmen. Die Produktionsund Vertriebsfirma versteht sich als Brücke zwischen der arabischen und westlichen Medienwelt. Sie vertreibt und produziert westliche Filme in der arabischen Welt (und vice versa), produziert Spiel- und Dokumentarfilme und macht diese für Kino und Fernsehen zugänglich. Sie vertont und/ oder untertitelt internationale Filme, um diese einem arabischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Hieraus ist beispielsweise der (noch nicht fertig gestellte) Spielfilm „Die Projektionistin“21 von den beiden deutschen Jungregisseuren Michele Gentile und Benjamin Ebner zusammen mit palästinensischen (Amateur-) Schauspielern entstanden. „Die Projektionistin“ ist ein Film über die Beziehung zwischen Vater und Tochter, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll; ein Film über die Liebe und die Liebe zum Film. Hervorzuheben ist, dass sich die an der Realisierung des Films Beteiligten bewusst dazu entschieden haben, den Israel-PalästinaKonflikt außen vor zu lassen: We have the strong believe that by telling a story that keeps its focus only on the individual human being, we can achieve a greater understanding for any spectator, for anyone out-

19 Auf einer Forschungsreise im Frühjahr 2013 war der Garten für Besucher tagsüber nicht ständig zugänglich, die Cafeteria geschlossen, Tische und Stühle nicht aufgestellt, was mich sehr verwunderte. Ayman Nasri, Freund und Manager des Guesthouse, erklärte mir, dass es Unstimmigkeiten mit dem Besitzer des Gartens gebe. Gezieltere Nachfragen konnte und wollte er nicht beantworten. Am „Prisoner’s Day“ wurde der Garten allerdings als Ort für eine palästinensische Wrestlingveranstaltung genutzt. Im Kinogebäude gab es Musik, Tanz und Gedenkreden. Besonders eindrücklich war die Performance von jungen Schulmädchen aus Jenin und Umgebung, die palästinensischeFreiheitslieder gesungen und aufgeführt haben für ihre Väter, die aktuell in Gefangenschaft sind oder im Gefängnis ums Leben kamen. Teil der Gedenkveranstaltung war auch eine große Militärparade, die vor dem Kino endete. Die Soldaten nutzten den Kinosaal, um dort gemeinsam zu beten. 20 http://www.cinemajenin.org/new/project/production_trailer_cinemajenin.php?name=p roject&subname=production (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 21 Film-Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=MEnLx-hHdVw (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

212 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND side Palestine. […] If Cinema Jenin – our cooperation partner – refers to being a ,cinema for peace‘ by avoiding to be a political institution, we refer to film as being a ,film for peace‘ by doing exactly the same.22

An der Produktion waren zahlreiche lokale Film- und Schauspielstudenten und interessierte involviert, die zuvor bereits die von „Cinema Jenin“ organisierten Film- und Theaterworkshops besucht hatten. In den Workshops wurden unter anderem zentrale Methoden des Filmemachens vermittelt oder Schauspieltrainings angeboten. Zugleich gab es für die Teilnehmer die Möglichkeit, Methoden des „storytelling“ und des Drehbuchschreibens zu erlernen. „Die Projektionistin“ ermöglichte es den jungen Menschen, nun ihre neu erworbenen Fähigkeiten praktisch anzuwenden, zu erweitern und ihre ersten Schritte in die Filmindustrie zu setzen, mit der Perspektive künftig auch eigene Drehbücher und Filme produzieren zu können. Um auf „Cinema Jenin“ als konkreter Ort des Films und des Austausches zurück zu kommen, muss betont werden, dass es nicht nur Befürworter, sondern auch viele Kritiker hat. Vor allem der westliche Einfluss rund um „Cinema Jenin“ und die dem Projekt zugeschriebene Aufhebung/Auflösung der traditionellen Geschlechterverhältnisse wird nicht von allen Teilen der Bevölkerung positiv betrachtet. Darüber hinaus wird die potenziell ‚normalisierende‘ Haltung gegenüber der israelischen Besatzung kritisiert. Für den palästinensischen Kontext lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es in wesentlichen Grundfragen, die den Widerstand betreffen keine ‚Einigkeit‘ gibt, weder in der palästinensischen Bevölkerung noch in den Regierungsinstitutionen. Vor diesem Hintergrund kann die friedensorientierte Ausrichtung gar nicht so sehr im Fokus stehen, denn die Sprache von einem „Kino für den Frieden“ erfordert wenngleich schon keinen Dialog, zumindest aber eine Annäherung zwischen Israelis und Palästinensern. Um von einem Friedens- bzw. Versöhnungsprojekt sprechen zu können, muss, neben den völkerrechtlichen Implikationen, erst einmal die innergesellschaftliche Fragmentierung überwunden werden.23 Marcus Vetter hat sich weitestgehend aus dem Projekt zurückgezogen; in erster Linie kümmert er sich um die Finanzmittelbeschaffung. Zur Premiere des Filmes im „Cinema Jenin“ 2012 kam er nicht. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So hat Marcus Vetter für sein Projekt viel Kritik einstecken müssen. In erster Li-

22 http://www.projectionist-movie.com/ (zuletzt aufgerufen: 10.12.2014). 23 Die weiter oben erwähnte Kooperation zwischen „Cinema Jenin“ und „Freedom Theatre“ kann hierzu einen Beitrag leisten.

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nie handelt es sich dabei um die friedensorientierte Ausrichtung des Projektes und der damit verbundenen Normalisierungsdebatte. Vetter wollte weder über die immer wieder gleichen Punkte diskutieren, noch darüber, was mit dem Projekt alles schief gelaufen sei. Von einigen Bewohnern Jenins kam der Vorwurf, es sei ein „Normalisierungsprojekt“. So auch von Zakaria Zbeidi, der dem Projekt anfänglich positiv gegenüberstand. Markus Vetter erzählt in einem Interview mit Ulrike Rechel: Es hieß, wir dürften nicht so tun, als sei dieses Projekt etwas ganz Normales in einer Stadt, wo eben vieles nicht normal ist. Aber dem steht doch gegenüber, dass doch irgendwann dieser Teufelskreis aufhören muss.24

Er betont weiterhin, dass es wichtig sei, die unterschiedlichen Meinungen in Jenin ernst zu nehmen: nicht nur die der Kämpfer, die sagen, bevor ein Kino gebaut werden kann, muss die Besatzung aufhören. Er führt weiter aus: Und ich glaube, darum geht es auch, deswegen haben wir dann auch das Kino aufgebaut, und darum geht es in allen Filmen, die wir im Moment machen: Einfach zu sagen, dort gibt es natürlich nicht nur Terroristen – oder Freiheitskämpfer, wie andere sie nennen –, sondern in erster Linie gibt es dort ganz normale Menschen. Und um diesen Konflikt zu verstehen, ist das die Grundvoraussetzung.

25

Im Folgenden werden die drei rund um das „Cinema Jenin“ entstandenen Filme „Das Herz von Jenin“, „Nach der Stille“ und „Cinema Jenin“ inhaltlich vorgestellt und nach ihrer Bedeutung für den kulturellen Widerstand sowie nach ihrem dialogfördernden Potenzial befragt. 6.2.2 „Cinema Jenin“ als Film-Ort: Die Jenin-Trilogie Im vorherigen Kapitel wurde bereits auf die Etablierung von Dokumentarfilmen im palästinensischen Widerstand seit den späten 1960er-Jahren verwiesen. Die drei Dokumentarfilme von Marcus Vetter reihen sich insofern in den Erinnerungs- und Widerstandskontext ein, als dass sie nicht nur die Geschichten von

24 Marcus Vetter 2012 in einem Interview mit Ulrike Rechel, www.tip-berlin.de/kinound-film/regisseur-marcus-vetter-uber-cinema-jenin (zuletzt aufgerufen: 16.02.2016). 25 Marcus Vetter 2011 in einem Interview mit Rainer Berthold Schossig, http:// www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-cinema-jenin.691.de.html?dram:article_id=55883, (zuletzt aufgerufen: 15.12.2014).

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dem Palästinenser Ismael Khatib, der Israelin Yaёl Armanet-Chernobroda und der Wiedereröffnung des Kinos erzählen, sondern auch im weiteren Sinne auf die jüngere Geschichte Palästinas, insbesondere Jenins, auf Besatzung, Märtyrertum und Widerstand verweisen. Ich fasse die Filme allesamt unter den Begriff des palästinensischen (dokumentarischen) dialogischen Erinnerungsfilms. Dieser von mir neu eingebrachte Terminus bedarf einer kurzen Erläuterung: Film ist an sich schon ein dialogisch ausgerichtetes Medium; hier beziehe ich mich darüber hinaus explizit auf die Ausrichtung am israelisch-palästinensischen Konflikt und den mit diesem verbundenen gegenläufigen Erinnerungskonstruktionen. Gerade in den unterschiedlichen (Erinnerungs-)Narrativen liegt das Potenzial zum Dialog, denn sowohl das Exil als auch die Figur des Flüchtlings sind gemeinsame Erfahrungen des Verlustes und der schmerzvollen Reorganisation. Auch wenn die drei Filme von einem deutschen Team realisiert wurden, bezeichne ich sie als palästinensisch, da sie sich mit Themen beschäftigen, die sich explizit mit dem palästinensischen Narrativ auseinandersetzen und in einen Dialog mit dem israelischen treten.26 Es sei in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass die Kategorisierung von Filmen als „Dokumentarfilme“ nicht bedeutet, dass diese keine Dramaturgie aufweisen. Thomas Schadt (2012: 16 ff.) verweist in seinem Buch „Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms“27 darauf, dass Recherche, Bildsprache, Tonebenen, Interviewstrategien genauso die Dramaturgie eines Dokumentarfilms bestimmen, wie eine richtige Exposition, Schnittrhythmus oder die herzustellende Identifikation des Zuschauers mit Thema und/oder Protagonisten. Ferner hebt er hervor: Dokumentarfilm ist Film. Er dokumentiert ein Stück Realität mit filmischen Mitteln, mit bewusst gestalteten Kamerabildern; mit genau gehörten und sorgfältig erfassten Originaltönen; mittels einer Montage, die ihren Schnittrhythmus nicht einem Zeitgeist nachempfindet, sondern ihn vom Gehalt und Inhalt des Film(-materials) ableitet. Weiter definiert sich der Dokumentarfilm über eine filmische Dramaturgie, eine Erzählform, die Film in seinem Spannungsbogen als etwas Ganzes begreift und strukturiert und nicht als bloße Aneinanderreihung von Einzelszenen, die durch Off-Texte zusammengehalten werden. Für mich unterliegt ein Dokumentarfilm dramaturgisch ähnlich Auflagen wie ein Spiel-

26 Zu den Kategorisierungsschwierigkeiten von palästinensischem Film und Theater siehe Kapitel 5. 27 Schadt, Thomas (2005), „Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Augenblicks“, Konstanz: UVK Verlag 2012.

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film: Um den Zuschauer zu erreichen, zu fesseln, um Nähe und Identifikation herzustellen, um bewusst zu machen und nachdrücklich zu wirken, benötigt er ein Thema, einen Plot, eine Geschichte sowie im dramaturgischen Aufbau eine rationale und/oder emotionale Logik und Motivation. Er braucht in seiner Erzählung, sei sie narrativ, essayistisch oder experimentell angelegt, für den Zuschauer nachvollziehbare Strukturen in Form einer schlüssigen, in den einzelnen Filmsegmenten aufeinander abgestimmten Dramaturgie. Diese Dramaturgie ist eine Verabredung mit dem Zuschauer, die es ihm ermöglicht, den Film zu lesen. Und der darf nicht nur informieren. Nein, er muss beim Zuschauer Gefühle freisetzen, Fragen stellen (nicht nur beantworten), Platz lassen für eigene Gedanken, die eigene Fantasie. In seiner Metasprache schließlich muss er Poesie entwickeln, sein Geheimnis bewahren, Seh- und Hörräume öffnen, die über die vordergründige Geschichte hinausweisen und wie ein Spiegel auf die Existenz des Zuschauers zurückverweisen. (Schadt 2012: 25)

In meiner Forschung konzentriere ich mich vorzugsweise auf die Inhaltsebene der drei Filme bzw. darauf, welche Geschichten inhaltlich vermittelt werden, welche Bedeutung Erinnerung und Widerstand in diesen hat und welch grenzüberschreitendes Potenzial in ihnen steckt. Das sind die Kernthemen meiner Forschung. Eine detaillierte Filmanalyse, die also auch die Bereiche jenseits der Inhaltsebene abdeckt, wird hier nicht geleistet und bedarf einer separaten Forschungsarbeit. Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich damit nur einen begrenzten Beitrag zur filmischen Vermittlung und Darstellung des Konfliktes leisten kann. Ich habe bereits weiter oben darauf verwiesen, dass ich die Dokumentarfilme unter dem Begriff des (dokumentarischen) dialogischen Erinnerungsfilms subsumiere. Dabei zeigt die offen artikulierte Subjektivität und Narrativität die ‚Wirklichkeit‘ bewusst aus einer vorher bestimmten Sicht, um es dem Zuschauer überantworten zu können, eine eigene Interpretation zu leisten und damit zu einem aktiven Mitglied des Films zu werden (Trautmann 2013: 259).28

28 Trautmann, Anja-Magali (2013), „Die Wiederentdeckung der Wirklichkeit. Eine Bestandsaufnahme zur neuen Schaulust am nichtfiktionalen Film“, in: Bateman, John A.; Kesper Matthis; Kuhn, Markus [Hrsg.] (2013), Film_Text_Kultur. Beiträge zur Textualität des Films, Marburg: Schüren, Schriftenreihe zur Textualität des Films Band 1.

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6.2.2.1 Das Herz von Jenin29 (2008) Der Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ von Marcus Vetter und Leon Geller erzählt die Geschichte von Ismael Khatib, der mit seiner Familie im Flüchtlingslager Jenin lebt. 2005 wurde sein 11-jähriger Sohn Ahmed von Soldaten der israelischen Armee angeschossen. Irrtümlicherweise hielten sie sein Spielzeuggewehr für eine echte Waffe. Ahmed wurde ins Krankenhaus in Haifa gebracht, doch für ihn kam jede Hilfe zu spät. Zusammen mit seiner Familie entschloss sich Ismael Khatib, die Organe seines Sohnes freizugeben und damit das Leben anderer Kinder zu retten. Das Besondere an dieser Entscheidung war, dass dadurch, dass Ahmed in einem israelischen Krankenhaus versorgt wurde, vor allem in Israel lebende Kinder die Chance erhielten, Ahmeds Organe transplantiert zu bekommen – inmitten des schier endlosen Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern eine große, symbolträchtige Geste.30 2007 hörte der deutsche Filmemacher Marcus Vetter von Ismael Khatibs Geschichte und nahm Kontakt zu ihm auf. 2008, drei Jahre nach Ahmeds Tod, entschließt sich Ismael Khatib, die von Ahmeds Organen geretteten Kinder und deren Familien zu besuchen. Begleitet wurde er dabei von einem Filmteam rund um Marcus Vetter. Bereits im Vorfeld stellte sich heraus, dass nicht alle Familien bereit waren, Ismael zu empfangen.31 Der Film zeigt die intensiven und ambivalenten Begegnungen mit einer Bedouinenfamilie aus der Negev-Wüste, einer

29 Der Film ist eine Koproduktion von „Eikon Südwest“ in Zusammenarbeit mit dem SWR, arte, „Filmperspektive“ und der israelischen Firma „Mozer Film Ltd.“ Gefördert wurde das „Herz von Jenin“ von der „MFG Filmförderung Baden-Würtemberg“. Am 7. Mai 2009 lief der Film in den deutschen Kinos an und erhielt unter anderem den „Cinema for Peace Award“ (2009) und den deutschen Filmpreis als bester Dokumentarfilm (2010). Die „Filmperspektive GmbH“ ist eine Filmproduktionsfirma mit Sitz in Stuttgart und wurde 2001 von Marcus Vetter und Joachim Johne mit dem Ziel gegründet, vor allem eigene Dokumentar- und Spielfilme zu produzieren. Das Interesse gilt dabei vor allem Dokumentarfilmen, die eine persönliche Handschrift tragen, sowie Filmen, die „auf der ganzen Welt emotional verstanden werden können.“ Siehe auch: http://www.after-the-silence-documentary.com/deutsch/production.html (Stand: 18.01.2016). 30 „Das Herz von Jenin“ ist auch online abrufbar: https://www.youtube.com/watch? v=EI3AUi2lTws (Stand: 06.03.2016). 31 Im Nachspann des Films wird darauf verwiesen, dass Ismaels Entscheidung, die Organe seines Sohnes zu spenden, fünf Menschen das Leben gerettet hat. Ein neun Monate altes Baby überlebte die Transplantation nicht. Zwei weitere Organempfänger wollten anonym bleiben.

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Drusenfamilie aus dem Norden Israels sowie mit einer jüdisch-orthodoxen Familie aus Jerusalem. Der Film beschränkt sich nicht nur auf die Begegnungen mit den Familien, sondern zeigt die Prozesshaftigkeit der Annäherungen sowie die Ambivalenzen, wie sie sich beispielsweise in den Erlebnissen an den Checkpoints und mit den israelischen Soldaten wiederspiegeln. Der Film beginnt mit einer Szene, in der Ahmeds Leichnam am „Jalame Checkpoint“ von einem israelischen Krankenwagen in einen palästinensischen Krankenwagen getragen wird. In der nächsten Szene berichtet seine Mutter von seinem Abschied am Tag seines Todes; er habe ausgesehen wie ein Bräutigam.32 Die folgende Szene zeigt seine Beerdigungszeremonie, wie zahlreiche Menschen den in ein Leichentuch gewickelten Ahmed, auf einer Totenbahre liegend, durch das Flüchtlingslager tragen. Das Tuch trägt die Farben der palästinensischen Flagge. Die Menschen rufen dabei33: Für Allah sind wir geboren. Allah ist groß. Hebt den Märtyrer hoch und lasst die Welt sehen, wie er in seinem Blut liegt. Grüßt seine Mutter! Du, unser Märtyrer, wir sind auf deinem Weg. Jeder Tote wird mit 100 gerächt. Allah ist groß.

Auf diese Szene folgen wieder Interviews34 und Einspielungen von israelischen Nachrichtensendern. Unter anderem wird ein Freund von Ahmed eingeblendet, der erklärt, warum Ahmed überhaupt eine Spielzeugpistole bei sich gehabt hatte: Die Kinder spielen häufig „Besatzungsmacht gegen Palästinenser“ und verwenden dabei Spielzeuggewehre. Ahmeds Freund erklärt, dass der Stärkere gewinnen würde. Wie in Wirklichkeit. Es wird auch ein Interview mit einem beteilig-

32 In Anlehnung an Kapitel 4 lassen sich hier Parallelen zu den Märtyrerkonfigurationen ziehen, insbesondere wenn man die folgende Szene, seine Beerdigungszeremonie, berücksichtigt. 33 Etwa ab Minute 4:30. 34 In den Interviews im Film werden immer nur die Interviewten gezeigt. Der Interviewende erscheint nicht im Bild. Zu hören ist nur die Stimme.

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ten israelischen Soldaten eingespielt, der aber nicht gefilmt werden möchte, sodass nur seine Stimme zu hören ist35: Ich war Oberstleutnant und zu dieser Zeit der dienstälteste Kommandant. Wir waren oft in Jenin im Einsatz. Zusammen mit einer anderen Einheit hatten wir den Auftrag, eine wichtige gesuchte Person festzunehmen. Hierzu muss man wissen, dass die meisten dieser Einsätze nachts stattfinden, da die Personen, die wir suchen, normalerweise nachts schlafen. Doch diesen Einsatz führten wir morgens durch als die Stadt bereits hellwach und voller Menschen war. Wir riegelten die Straßen am Einsatzort ab, um den Soldaten ein steriles Umfeld zu schaffen. Meine Einheit war etwa 120-150 Meter vom „Pferdeplatz“ stationiert. Wir hatten den Befehl, jeden zu erschießen, der eine Waffe trägt. Mein Scharfschütze meldete plötzlich einen Bewaffneten, der den Platz überquerte. Dann hörte ich ihn rufen: „Er ist gefallen, er ist gefallen!“

Hier endet das Interview. Des Weiteren spricht der damals zuständige Krankenpfleger Raymond Shehadeh, ein christlicher Palästinenser, darüber, wie er Ismael über den Tod seines Sohnes informierte und ihn bat, über eine Organspende nachzudenken. Ismael Khatib musste darüber nicht nur mit seiner Familie sprechen, sondern auch mit wichtigen Leuten aus dem Flüchtlingslager, unter anderem mit Zakaria Zbeidi, der im Interview erklärt36: Ismael wusste, dass er die wichtigsten Leute im Camp fragen müsste. Einer davon war ich. Ich sagte, dass wir Palästinenser damit kein Problem haben. Aus meiner Sicht kann es kein Problem sein, Menschenleben zu retten.

Nach islamischem Recht muss er sich aber auch an eine religiöse Autorität wenden. Hier wird Mohamed Seid Salah, der Mufti von Jenin, zu Rate gezogen, der erklärt, dass Gott gesagt habe, dass der Mensch heilig sei. Es bestehe ein Verbot, Teile des Körpers zu verkaufen oder zu spenden, solange man am Leben sei. Nach dem Tod jedoch sei es erlaubt, Organe zu spenden. Egal an wen. Auch Zbeidi teilt diese Auffassung und erläutert, dass er nicht an Juden spende, sondern an Menschen. Ferner wird ein Interview von einem israelischen Nachrichtensender mit Ismael Khatib gezeigt, in dem er gefragt wird, ob die Leute in Jenin seine Entscheidung akzeptierten. Er erklärt, dass niemand etwas dagegen habe, dass es

35 Etwa ab Minute 9. 36 Das Interview findet sich etwa ab Minute 20.

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eine persönliche Entscheidung gewesen sei und auch nichts mit Politik zu tun habe, sondern mit Menschlichkeit. In der nächsten Szene, ein Jahr später, sieht man Familie Khatib am Checkpoint, da sie zu einer Gedenkfeier für Ahmed nach Israel einreisen wollen. Trotz der vorhandenen Einreiseerlaubnis bespricht sich die Soldatin per Funk mit einer weiteren zuständigen Person, was in der Ausführlichkeit beinahe groteske Züge annimmt. Ob sie letzten Endes einreisen durften, wird nicht gezeigt, sondern nur wie Ismael um die Rückgabe der Ausweispapiere bittet.37 Ein Onkel von Ahmed, Mustafa, lebt in Um el-Fahem, einem Ort, der auf israelischer Seite liegt. Mit Blick über die Hügel erklärt er38: Früher waren wir in zehn Minuten dort. Heute braucht man über zwei Stunden. Alle meine Verwandten leben in Jenin. Nur ich lebe hier in Um el-Fahem. Seit dem Bau der Mauer ist es schwer Kontakt zu halten. Es ist nur zehn Minuten entfernt, und trotzdem kann ich sie nicht treffen. Wie soll man sich da fühlen? Es ist ja nicht so, dass ich zehn Stunden fliegen muss, um sie zu sehen. Sie leben da drüben.

In einer der nachfolgenden Szenen äußert sich Ismael Khatib im Kontext des „Cueno Center for Peace“39 zu seinem Widerstandsverständnis40: Wir leisten Widerstand durch Bildung. Daran glaube ich.

Auf die Frage ob man seine Brüder dadurch rächen könne, indem man selbst zum Märtyrer werde, entgegnet er, dass alles möglich sei, solange die Palästinenser unter Besatzung lebten. Er fügt hinzu41: Man kann seinen Bruder auch anders rächen, indem man die Besatzungsmacht vor der Welt bloßstellt. Man kann es mit Musik machen, oder mit Malerei. Man muss dafür keinen Soldaten töten. Im Gegenteil. Mein menschliches Handeln hat die Israelis irritiert. Das ist etwas viel Größeres, als einen Soldaten zu töten. Glaubst du, es hat den Israelis gefal-

37 Diese Szene findet sich etwa ab Minute 31. 38 Etwa ab Minute 34. 39 Auch „Ahmed Khatib Friedenscenter“ genannt. 40 Etwa ab Minute 39. 41 Diese Szene findet sich etwa ab Minute 41. Zuvor hat Ahmeds älterer Bruder schon beim Geige spielen erläutert: „Jeder geht seinen Weg des Widerstandes. Manche greifen zur Waffe, andere beten, und wieder andere spielen Musik. Jeder kämpft auf seine Art. Und ich habe diesen Weg gewählt.“

220 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND len, was ich getan habe? Das glaube ich nicht. Manchen wäre es lieber gewesen, ich hätte mich in die Luft gesprengt. Manchen wäre das viel lieber gewesen. Sie hätten es lieber gesehen, ein Palästinenser hätte ein Kind getötet, als eines zu retten.

Kurz darauf sieht man Ismael Khatib in einem Taxi, das Datum 30.August 2007 wird eingeblendet. Er erzählt dem Taxifahrer, dass er die Kinder besuchen gehe; sie hätten schließlich nichts mit den Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern zu tun. Es folgt ein Interviewausschnitt mit Ismael, in dem er über sein Leben erzählt. Nicht nur Ismael ist dabei zu sehen, sondern es wechseln sich Bilder von bewaffneten Widerstandskämpfern in Jenin mit Bildern der Taxifahrt ab42: Ich lebe unter Besatzung, seit ich geboren bin. Ich trat dem Widerstand bei. Wir errichteten Barrikaden, verteilten Flugblätter und warfen Molotow Cocktails und Steine. 1984 kam ich zum ersten Mal ins Gefängnis. 1987 ging der Widerstand in eine andere Richtung. Wir bewaffneten uns und führten militärische Operationen durch. Auf beiden Seiten gab es viele Tote, vor allem Unschuldige. Es musste eine Lösung gefunden werden. Das war der Beginn der Osloer Verträge. Die Leute sprachen plötzlich über Frieden und wie es dann wohl sein würde, dieses Palästina. Mein Vater wollte, dass ich mich vom Widerstand fernhalte. Er wollte nicht, dass ich mein Leben in israelischen Gefängnissen verbringe. Ich sollte heiraten und eine Familie gründen. Also eröffnete ich ein Kleidergeschäft. Aber nach zwei, drei Jahren wurde die Situation nur schlimmer.

Es werden Bilder von einem Selbstmordattentat in Tel Aviv eingeblendet, dass sich im April 2001 ereignete und dem 23 Menschen zum Opfer fielen. Dann erzählt er weiter43: Die Israelis fingen an, noch mehr Checkpoints zu errichten. Die zweite Intifada begann, und ich verlor erst mein Geschäft und dann mein Auto. Dann eröffnete ich eine Autowerkstatt in einem Dorf namens Jalami. Nach vier Monaten kam die Besatzungsarmee und riss alle Geschäfte ab, auch meine Werkstatt. Das war das zweite Geschäft, das ich verlor. Daraufhin ging ich in eine Stadt namens Barta und eröffnete wieder eine Werkstatt. Ich musste meine Familie ernähren. Ich musste Schleichwege nehmen, um zur Arbeit zu kommen, denn wir durften Israel nicht mehr betreten.

42 Etwa ab Minute 45:30. 43 Etwa ab Minute 48.

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Hier endet das Interview. In der nächsten Szene sieht man wieder Ismael Khatib im Taxi. Der Taxifahrer fragt, ob er denn eine Besuchserlaubnis habe. Er bejaht dies und fügt hinzu, dass diese vier Tage lang gültig sei. Ismael steigt aus, unterhält sich mit den Männern am Checkpoint, die ihm erzählen, dass ein rüberkommen unmöglich sei. Ein Mann sagt, dass er es seit sechs Monaten versuche. Man sieht Menschen durch das große gelbe Tor zurück auf die palästinensische Seite kommen. Im Hintergrund hört man Khatibs Stimme fragen, wie es Frieden geben könne. Mit all den Mauern und Toren. Er sagt, dass die Menschen leiden. Frieden sei nur ein Traum. Wer jemals dieses Problem lösen solle. Im Anschluss folgt die Videobotschaft eines (künftigen) Märtyrer-Attentäters44: Hör zu, Scharon, unser Blut ist nicht umsonst. Unser Land wird euch nicht gehören. Der jüngste Tag wird kommen und wir sind seine Soldaten. Wir haben noch einige Überraschungen, bevor ihr geht. Der lebende Märtyrer Abdul Albasid Kassim Aoudi. Sohn Palästinas. Märtyrer der Brigade Azedin Kassam. Mittwoch, den 27.03.2002.

Nach dieser Ankündigung werden Videoaufnahmen von dem Restaurant gezeigt, in dem das angekündigte Attentat stattfand. Darauf folgen Aufnahmen der israelischen Militärinvasion in Jenin, die Teil der Militäroperation „Defensive Shield“ war, die kurz nach dem angekündigten Attentat startete. Ismael Khatib und seine Frau teilen ihre persönlichen Erinnerungen an die Invasion mit. Ismael erzählt, dass die Kinder verängstigt gewesen seien. Ahmed und die anderen Kinder hätten immer wieder gefragt, warum das passiere und wer diese Menschen seien. Er fügt hinzu, dass sich in Ahmeds Augen ihre Wirklichkeit widerspiegelte. Mit brüchiger Stimme erzählt er45: Ahmed kam zwischen zwei Intifadas zur Welt. Ich glaube, er hat sein ganzes Leben keinen einzigen schönen Tag erlebt.

Während Ismael spricht, sind immer noch Bilder der Zerstörung zu sehen. Dieses Kind hatte nie eine Chance sein Leben zu leben. Und am Ende wird er auf der Straße erschossen.

44 Etwa ab Minute 50. 45 Etwa ab Minute 52:30.

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In der nachfolgenden Szene wird gezeigt, wie Ismael Khatib den Checkpoint überquert. Seine Reise nach Israel beginnt. Das Passieren des Checkpoints, mit all seinen langen Gängen, Gittern und Drehkreuzen wird detailliert gezeigt. Auf der anderen Seite erwartet ihn Ahmeds Onkel Mustafa, der ihn auf der Reise begleitet. Zuerst treffen sie Raymond Shehadeh im „Rambam Krankenhaus“ in Haifa. Ismael ist sehr berührt von der Begegnung und der Rückkehr an diesen Ort. Im Anschluss besuchen sie Samah Gadban, die ebenfalls im Norden Israels lebt. Es folgt ein Interviewausschnitt mit den Eltern von Menuah. Yaakov Levinson, der Vater, erklärt46: Wenn wir Frieden wollen, müssen wir in Frieden leben. Wir sollten uns gegenseitig helfen uns miteinander reden. Die Situation ist sehr schlimm.

Diese Aussage erfährt einen Bruch durch die weiteren Ausführungen der Eltern bzw. Yaakov Levinsons: Wir geben ihnen so viel und bekommen nichts davon zurück. Nichts. Diese verrückten Araber versuchen ständig uns umzubringen. Deshalb hat uns dieser Fall auch so überrascht, dass dieser Araber versucht hat, Juden zu helfen. Normalerweise helfen die keinen Juden.

Yaakov Levinson bestätigt damit die Behauptung Ismaels, dass sein menschliches Handeln bei den Israelis zu Irritationen führt. Auf die Frage ob ihre Kinder palästinensische Freunde haben dürften, antworten die Eltern mit „Nein, niemals.“ Wir wollen nicht, dass sie so aufwachsen. Sie wären anderen Einflüssen ausgesetzt. Und das wollen wir nicht. Sehr schlechten Einflüssen.

Es folgt die Frage bzw. Feststellung, dass sie sich folglich auch nicht mit Ismaels Familie anfreunden könnten: Vielleicht eine Bekanntschaft, um ihnen unsere Dankbarkeit zu zeigen. Aber Freunde, enge Freunde? Nein. Sie würden uns auch nicht als Freunde haben wollen. Sie können sie fragen, das würden sie bestimmt nicht wollen.

46 Etwa ab Minute 60.

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Ferner wird das Treffen mit der Familie von Mohamed Kabua in der NegevWüste gezeigt.47 Es ist bereits abends und während des Essens draußen vor dem Haus, erzählt Mustafa, dass sie am nächsten Tag zu den Levinsons fahren wollen, um Menuha Levinson zu sehen. Das Treffen ist noch nicht arrangiert, und Mustafa erkundigt sich bei Mohameds Vater nach der Telefonnummer von den Levinsons. Die Familien kennen sich aus dem Krankenhaus, Menuah und Mohamed waren gemeinsam bei der Dialyse und haben auch am gleichen Tag Ahmeds Nieren transplantiert bekommen. Auch Ismael scheint etwas überrascht angesichts des konkreten Vorhabens von Mustafa. Dieser kündigt schließlich den Besuch für den folgenden Tag telefonisch bei den Levinsons an. Der Besuch bei den Levinsons ist ein zentraler Teil des Films.48 Die Anspannung und Unbeholfenheit der Begegnung wird nicht nur visuell vermittelt, sondern wird durch den Gesprächsverlauf auch konkret spürbar. Zu Beginn des Films wird eine Szene im Krankenhaus gezeigt, in dem Yaakov Levinson auf Nachfragen in einem Presseinterview erklärt, dass es ihm lieber wäre, wenn der Organspender auch jüdisch sei. Bei ihrem Besuch in Jerusalem weist Mustafa Yaakov darauf hin, dass das sehr hart gewesen sei. Yaakov entschuldigt sich und erkundigt sich höflich nach der Situation in Jenin. Auf Mustafas Antwort, dass es schwierig in Jenin sei, besonders aufgrund der fehlenden Arbeit, entgegnet Yaakov, dass es in Jerusalem genug Arbeit für Ismael geben würde. Er fügt jedoch hinzu: Was hat er hier in Israel verloren? Warum geht er nicht in die Türkei? Oder nach London? Mustafa: Aber seine Heimat ist hier. Wie kann er da weggehen? Yaakov Levinson: Dort gibt es wenigstens Arbeit. Hier gibt es nichts für ihn. Er sitzt in Jenin fest. Dort könnte er gut verdienen. Ismael Khatib: Ich soll in die Türkei gehen? Mustafa: Er fragt, warum du nicht weggehst, wenn es hier so schwierig ist Ismael Khatib: Warum geht er denn nicht? Für ihn ist es doch auch schwierig, warum geht er nicht? Mustafa: Er fühlt sich wohl und ist zufrieden.

47 Etwa ab 1:05. 48 Etwa ab 1:13.

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Während des Besuches kommt es kaum zu einer direkten Kontaktaufnahme zwischen Ismael Khatib und der Familie Levinson. Mustafa, der besser Hebräisch spricht als Ismael, übernimmt die Vermittlerfunktion. Auch die Kontaktaufnahme zu Menuah ist sehr vorsichtig, besonders sie ist sehr verlegen, während Ismael lächelnd und mit kleinen Gesten immer wieder den Kontakt zu ihr sucht. Yaakov Levinson erklärt, dass sie nicht wissen, wie sie ihre Dankbarkeit dafür ausdrücken sollen, dass Ismael das Leben seiner Tochter gerettet habe. Mustafa sagt, dass sie nicht danach gefragt hätten, ob der Empfänger Jude oder Araber sei: Wir haben alle dasselbe Blut. Zum Abschied bekommt Ismael ein in Weiß und Gold verpacktes Geschenk. Was darin ist, erfährt der Zuschauer nicht. Ismael wirkt sehr mitgenommen von der Begegnung. Als sie im Auto sitzen, sagt Mustafa zu Ismael, dass Yaakov bereuen würde, was er gesagt habe. Er sei sehr ergriffen gewesen. So übernimmt Mustafa auch nach dem Treffen noch eine Vermittlerfunktion zwischen beiden Seiten. Zurück in Jenin verteilt Ismael Khatib im „Cueno Center“ die Rucksäcke für die Kinder des Camps, die sie von Samahs Familie geschenkt bekommen haben. Man sieht ihn umgeben von vielen Kindern und hört seine Stimme aus dem Hintergrund49: Ich sehe Ahmed in jedem dieser Kinder. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er unter ihnen ist. Wenn ein Kind mich auf der Straße mit „Lehrer“ anspricht, begreife ich, dass ich mehr Verantwortung habe, als ich dachte. Es ist neu für mich. Aber ich bin bereit, mein Leben mit diesen Kindern zu verbringen.

Dann sieht man Ismael bei sich zu Hause. Während seine Frau die kleine Tochter ankleidet und mit ihr spielt, erzählt er50: Als ich jung war, habe ich sogar bei Indianerfilmen geweint. Doch Ahmeds Geschichte ist Realität, sie ist wirklich passiert. Was sollen wir noch alles aushalten? Ich möchte alle, die diesen Film sehen, fragen: Was erwartet ihr von uns Palästinensern? Wie verlangen nicht viel. Wie verlangen nur unser Recht und Frieden. Denn ohne Frieden wird das Morden weitergehen. Und es werden noch mehr palästinensische und israelische Kinder sterben. Frieden zu machen ist nicht schwer.

49 Etwa ab 1:22. 50 Etwa 1:23.

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Der Film endet mit Aufnahmen seiner Tochter, die zusammen mit anderen Kindern im „Cueno Center“ ein Lied singt: Palästina, wir sind deine Kinder. Wir leben unter deinem Schutz. Wer soll unsere Tränen wegwischen? Jeden Tag gibt es was zu feiern, doch wir werden vergessen.

Dabei werden Bilder aus dem Alltag von Mohamed, Samah und Menuha eingespielt. Im Nachspann folgt die Information, dass Ismael Khatibs Entscheidung das Leben von fünf Menschen gerettet hat. Ein neun Monate altes Baby überlebte die Transplantation nicht, zwei weitere Organempfänger wollten anonym bleiben. Schließlich werden wie zu Beginn des Films persönliche Videoaufnahmen von Ahmed eingespielt, wie er lacht und tanzt. 6.2.2.2 Nach der Stille51 (2011) „Nach der Stille“ ist der zweite Dokumentarfilm in Marcus Vetters „Jenin Trilogie“ und der erste Film, der durch das Projekt „Cinema Jenin“ ermöglicht wurde. Zu leicht kann hierbei die Symbolträchtigkeit übersehen werden: Ein palästinensisches Kino produziert einen Film über die israelische Seite respektive über die israelische Perspektive auf den Konflikt. Mehr noch: Es ist ein Film über eine Frau, die ihren Mann durch einen Selbstmordattentäter aus Jenin verloren hat. Produzenten des Films sind Marcus Vetter und Fakhri Hamad. Weil Erstgenannter während der Dreharbeiten mit der aufwendigen Renovierung und Wiedereröffnung von „Cinema Jenin“ vollkommen ausgelastet war, führte nicht er selbst Regie, sondern seine beiden Tübinger Studentinnen Stephanie Bürger und Jule Ott sowie Manal Abdallah aus Jenin. Der Film kann als Antwort auf bzw. als Fortführung von „Das Herz von Jenin“ verstanden werden, und beleuchtet – wie zuvor schon bei Ismael Khatib – die persönliche Perspektive der israelischen Witwe Yaёl Armanet-Chernobroda auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Film erzählt sie einerseits die Geschichte ihres Mannes und bekennenden Friedensaktivisten Dov Chernobroda, der am 31.3.2002 bei dem von Shadi Tobassi aus Jenin ausgeführten Selbstmordattentat im „Matza-Restaurant“ in Haifa ums Leben kam. Das von Shadi Tobassi verübte Selbstmordattentat war das Letzte vor der großen israelischen

51 „Nach der Stille“ ist der erste Film, der durch das Projekt „Cinema Jenin“ ermöglicht wurde und ist eine Koproduktion von der „Filmperspektive GmbH“ und „Bukera Pictures“ sowie vom NDR und WDR im Zusammenarbeit mit EED. Am 22.09.2011 lief der Film in den deutschen Kinos an.

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Militärinvasion in Jenin (3.-11.4.2002), die sich beiden Seiten aufgrund ihrer Brutalität und internationalen Umstrittenheit tief in die Erinnerung eingegraben hat. Andererseits erzählt Yaёl Armanet-Chernobroda ihren eigenen Umgang mit dem Selbstmordattentat. Der Film, der die prozesshafte Annäherung mit der Familie des Attentäters darstellt, dokumentiert schließlich ihre Reise in das nur etwa 40 km entfernte Jenin. Die unüberbrückbare Nähe ist symptomatisch für den Konflikt: Beide Städte sind keine Autostunde Fahrt voneinander entfernt und doch Welten voneinander getrennt; sie sind getrennt durch reale und symbolische Grenzen, Mauern und Checkpoints. In Jenin trifft Yaёl auf die Familie Tobassi. Trotz aller Unterschiede wird deutlich, dass beide Seiten ein gemeinsames Schicksal teilen, nämlich den Verlust eines geliebten Menschen. Der Film beginnt mit persönlichen Videoaufnahmen von Dov, der seinen Enkel im Arm wiegt und ihm ein Lied vorsingt: Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!

Danach folgt ein schwarzer Bildschirm, nur die Stimmen von zwei Frauen sind zu hören. Wie sich herausstellt, sind es die Stimmen von Yaёl Chernobroda und der Mutter des Attentäters. Genauso wie bei „Das Herz von Jenin“ werden bei „Nach der Stille“ Szenen einer Trauerfeier gezeigt; die Beerdigung von Dov Chernobroda. Im Mittelpunkt steht dabei seine trauernde Witwe Yaёl. Die Rahmung, die Idee zum Film, wird über drei Briefe vermittelt, die in den Anfangsminuten des Films verlesen werden, während Yaёl mit ihrem Auto durch Haifa fährt. Zunächst wird mit ihrer Stimme ihr Brief an Marcus Vetter vorgelesen, in dem sie von ihrem Mann Dov berichtet, der bei einem Selbstmordattentat im März 2002 ums Leben kam. Dabei wird auch ein Interviewausschnitt von einer befreundeten Architektin von Dov gezeigt, die während des Attentats mit ihm im Restaurant saß. Kurz darauf hört man Marcus Vetters Stimme seinen Antwortbrief an Yaёl lesen, in dem er vorschlägt, einen Film über Dovs Geschichte zu machen. Währenddessen sind die beiden Regisseurinnen Stephanie Bürger und Jule Ott in einem Auto zu sehen, offenkundig sind sie auf dem Weg nach Jenin um die Filmidee in die Tat umzusetzen. Darauffolgend sieht man sie durch Jenin laufen. Im Hintergrund wird ihr Brief an Yaёl vorgelesen, in dem sie ihr ihre ersten Eindrücke von Jenin mitteilen.

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In der nachfolgenden Szene sieht man die beiden mit zwei Frauen aus Jenin zusammensitzen, auf der Suche nach Unterstützung für das Filmprojekt. Manal, die letztendlich Co-Regisseurin des Films ist, erklärt52: Ich möchte nicht einfach „ja“ sagen und dann in einem Projekt stecken, das mich… Ich will nicht sagen, in Schwierigkeiten bringt. Aber das andere Palästinenser missverstehen könnten. Dieser Konflikt dauert jetzt schon so viele Jahre. Und auf beiden Seiten haben viele Leute ihr Leben verloren. Natürlich kann man die Zahl der Toten nicht vergleichen, aber für uns ist das wirklich ein heikles Thema.

Im Weiteren wird Shadi Zakaria Tobassi, der Vater des Selbstmordattentäters, in der Moschee und bei sich zu Hause gezeigt. Dann sieht man Yaёl in ihrer Wohnung einen Brief an Jule Ott und Stephanie Bürger schreiben, der im Hintergrund mit ihrer Stimme vorgelesen wird53: Es tut mir weh, Fotos von Jenin zu sehen. Zu entdecken, dass Jenin eine normale arabische Stadt ist. Ja, normal. Eine Stadt, die zur Normalität zurückfindet. […]

Die folgende Szene zeigt das Gästehaus von „Cinema Jenin“, wo Fakhri Hamad54 mit Jule Ott, Stephanie Bürger und Marcus Vetter auf dem Balkon sitzt und ihnen Hintergrundinformationen über die Familie Tobassi gibt, unter anderem erzählt er ihnen, dass niemand von seinem Vorhaben gewusst habe und dass die Familie vor dem Attentat israelische Pässe hatten. Darauffolgend sieht man die Vier und Manal im Haus der Familie bei einem ersten Kennenlernen. Es folgt ein Interview mit dem Vater55: Das letzte Mal, als ich Shadi sah, war an einem Morgen. Er ging aus dem Haus… (an dieser Stelle bricht der Vater sichtlich berührt ab, er steht auf und verlässt den Raum. Kurz darauf kehrt er zurück. Es ist offensichtlich, dass er geweint hat.) Manal: Das tut uns leid. Zakaria Tobassi: Ist schon okay.

52 Etwa ab Minute 8. 53 Etwa ab Minute 11:30. 54 Wie weiter oben bereits erläutert, ist Fakhri Hamad Mitinitiator von „Cinema Jenin“. 55 Etwa ab Minute 16:30.

228 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Manal: Wir lassen die Fragen über Shadi weg, wenn Sie möchten. Zakaria Tobassi: Nein, ich brauche nur einen Moment. Nur eine Minute. Damals haben wir noch unten im Erdgeschoss gewohnt. Ich musste zur Arbeit und habe Amjad und Majed mitgenommen. Wir wollten mit dem Auto nach Israel fahren. Shadi war damals arbeitslos. Ich hatte ihm gesagt: „Du musst dir Arbeit suchen. Wir wollen ein Haus für deine Zukunft bauen.“ Er hat genickt. An jenem Morgen sagte er: „Ich gehe zur Arbeit.“ Er zog seine Arbeitskleidung an und verabschiedete sich von seiner Mutter. Er habe Arbeit gefunden. Ich glaube, er sagte etwas von einem Restaurant. Er sich verabschiedet. Ganz normal, wie an jedem anderen Tag.

Die nächste Szene zeigt einen weiteren Interviewausschnitt mit der jungen Architektin Jenya; unterlegt mit Bildern vom Restaurant und dem Attentat56: Das Gefühl war, als ob man einen Stromschlag bekommen würde, als ob jemand dich erzittern ließe. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Gedanken: Bebt jetzt die Erde? Unlogische Gedanken, die einem durch den Kopf schießen […] Und dann diese wahnsinnige Stille. Das war vielleicht nur eine einzige Sekunde, die schrecklichste meines Lebens. Weil wir diese Stille nicht kennen.

Ferner werden zwei Brüder von Shadi interviewt57: Während der zweiten Intifada war ich noch ein Kind. Ich erinnere mich nur an ein paar Dinge. Dass Shadi sein Land geliebt hat. Er hat es niemanden spüren lassen, wenn er traurig war. Nicht einmal als Shadis beste Freunde umgebracht wurden, habe ich ihn weinen sehen.

Der ältere Bruder berichtet: Das erste, woran ich mich erinnere, passierte am Jalame Checkpoint. Es gab Probleme und die Leute warfen Steine. Die Polizei wollte eingreifen, aber die israelischen Panzer schossen zurück. Vor meinen Augen wurden Männer zerfetzt. Manche wurden verrückt, andere fielen in Ohnmacht. Das war nur der Anfang. Später hörten wir von getöteten Zivilisten und von Fliegern, die auf Leute zielten. Shadi hat das seelisch mitgenommen. Irgendwie musste sich der Druck entladen. Dann gab es die erste Invasion im Camp. Sie haben fast

56 Etwa ab Minute 18:50. 57 Etwa ab Minute 20.

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die gesamte Familie von Zakaria Zbeide umgebracht. So viele wurden ermordet, ich konnte sie nicht mehr zählen. Es war die Ungerechtigkeit und die Gewalt. Das hat ihn mit Hass erfüllt.

Nach dem Verweis auf Zakaria Zbeidi, der auch schon in „Das Herz von Jenin“ zu sehen ist, kommt dieser zu Wort58: Meine Mutter wurde von einem Scharfschützen erschossen. So haben sie sie umgebracht. Ein Scharfschütze. Dazu gibt es nicht mehr viel zu sagen. […] Jemand, der genau weiß, auf wen er zielt. Warum? Was, wenn ich einfach eure Mütter umbringe? Dann würde es zu einer persönlichen Angelegenheit zwischen uns. Vergiss die Heimat, den Landraub und die Besatzung. Du tötest meine Mutter? Warum? Was hat sie dir getan? Das ist Besatzung. Das ist das wahre Gesicht der Besatzung. Das wahre Gesicht des Terrors. Eine Frau ins Visier zu nehmen und zu erschießen, das ist kein Versehen. […]

Im Folgenden sieht man wieder Yaёl Chernobroda in ihrem Haus in Haifa. Im Hintergrund hört man ihre Stimme59: Ich wünschte, sie könnten zugeben, dass ich dieselben Rechte habe wie sie. Israel und Palästina haben ein Recht zu existieren. Ich glaube an die Menschlichkeit. Es bringt nichts, wenn man sich gegenseitig Terror vorwirft.

Im Folgenden werden Videoaufnahmen von der israelischen Militärinvasion in Jenin gezeigt.60 Interviewt wird in dem Zusammenhang der ehemalige Sprecher der israelischen Armee Michael Yohay: Viele haben sich über den unerträglichen Gestank beschwert. Aber… dieser Gestank kam vor allem von Ziegen, von Tieren, die es dort gab. Und es ist nicht sicher, ob sie vielleicht vorsätzlich geschlachtet wurden, um es schlimmer wirken zu lassen, als palästinensische Propaganda. Vielleicht passierte es auch während der Kämpfe. Aber der Gestank war übel. […] Im Vokabular der israelischen Armee findet sich kein Wort für „Rache“. Es wird nicht bestraft und nicht gerächt. Schließlich sind wir hier und sie auch, wir müssen Kompromisse finden und versuchen, miteinander zu leben. Sonst gibt es keine win-win Situation. Vergeltung, Rache, Strafe, diese Worte gebrauchen wir nicht.

58 Etwa ab Minute 22. 59 Etwa ab Minute 23. 60 Etwa ab Minute 25.

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Im Gegensatz zu den erschütternden Bildern und Worten zur israelischen Militärinvasion, wird dann die Arbeit des „Parents Circle“ vorgestellt, dem Forum hinterbliebender palästinensischer und israelischer Familien, vorgestellt und in dem sich Yaёl Chernobroda seit dem Tod ihres Mannes engagiert.61 Ali Abu Awwad, der palästinensische Sprecher des Vereins, betont, dass der Konflikt nicht mit Besatzung und Gewalt gelöst werden könne. Eine Lösung des Konfliktes könne nur Freiheit für die Palästinenser und Sicherheit für die Israelis bringen. Er erklärt62: Wir haben den höchsten Preis im Krieg gezahlt, aber versuchen der Öffentlichkeit zu sagen, wenn wir als Opfer es schaffen zusammenzusitzen […], dann kann das jeder andere mit Leichtigkeit.

Eine der folgenden Szenen zeigt ein Interview mit Zakaria Tobassi, der gefragt wird, ob er je an die Getöteten im Restaurant gedacht habe. Er antwortet, dass er sie nicht kenne. Auch das Restaurant nicht. Manal erklärt, dass sie nicht die Getöteten persönlich meine, sondern, dass an diesem Tag viele Menschen ums Leben gekommen seien. Zakaria Tobassi antwortet63: In dieser Zeit haben die Juden viel mehr Leute von uns umgebracht. Wenn ihr vergleichen wollt, dann haben die viel mehr Verbrechen begangen als wir. Hätten die an uns gedacht, hätten wir auch an sie gedacht. Die haben uns nicht einmal Gelegenheit gegeben, nachzudenken.

Seine Antwort klingt, als würde er sich von jeglichen Verantwortungsbewusstsein freisprechen, weil die Ursache der Tat auf israelischer Seite liegt. Ihnen kommt die alleinige Täterschaft zu. Manal erklärt ferner, dass sich eines der Opfer, nämlich Dov, für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt habe, woraufhin Zakaria Tobassi antwortet, dass leider immer auch Unschuldige sterben. Manal führt weiter aus, dass sie Kontakt mit der Witwe aufgenommen hätten, und diese sie nach Haifa eingeladen habe. Er erwidert: Wir haben kein Problem damit. Wenn sie zum Frieden bereit sind, dann sind wir das auch.

61 Etwa ab Minute 31. 62 Etwa ab Minute 32. 63 Etwa ab Minute 34:30.

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Darauffolgend wird gezeigt, wie Manal sich in Ramallah um eine Einreisegenehmigung bemüht, um zusammen mit Stephanie und Jule nach Haifa reisen zu können.64 In der israelischen Militärbasis in Ramallah wird ihr diese verweigert und sie wird an die Palästinensische Autonomiebehörde verwiesen, die ihr wiederum auch keine Einreiseerlaubnis ausstellen können, höchstens für einen Tag, was für das Filmprojekt aber nicht ausreichend ist. Die Szene verdeutlicht nicht nur die Willkürlichkeit der Kontrollinstanzen auf israelischer Seite, sondern auch die Abhängigkeit der palästinensischen Autonomiebehörde von den israelischen (Besatzungs-)Strukturen. Die Szene ist an Absurdität kaum zu überbieten, als ein älterer Herr von einem Beamten der PA dazu aufgefordert wird, Kopien seiner Ausweispapiere einzureichen, bevor er die Erlaubnis bekommen könne, am nächsten Tag der Beerdigung seines Onkels beizuwohnen. Der Mann erklärt freundlich, dass es doch nichts nütze, weil sie unterschiedliche Familiennamen tragen und er damit nicht beweisen könne, dass es sich bei dem Verstorbenen tatsächlich um seinen Onkel handele. Das sieht der Beamte ein und verlangt daraufhin zusätzlich Ausweiskopien seiner Mutter. Stephanie Bürger und Jule Ott reisen alleine nach Haifa65, dort werden sie herzlich von Yaёl und ihrer besten Freundin Bluma empfangen. Bei einem gemeinsamen Essen spricht Yaёl über den März 2002, den Monat mit den meisten Selbstmordattentaten in Israel. Sie spricht von ihrer letzten Begegnung mit Dov und davon, wie sie seither mit seinem Tod umgeht. Sie erzählt, dass sie anfangs keine Restaurants habe betreten können und große Menschenmassen gemieden habe. Seit sie wieder in Restaurants gehe, setze sie sich immer mit dem Gesicht zum Eingang; als ob es einen Unterschied machen würde, wenn ein Selbstmordattentäter käme. Im Gegenzug erzählen Stephanie und Jule von Familie Tobassi. Yaёl und Bluma haben viele Fragen, beispielsweise ob wirklich niemand etwas von dem Selbstmordattentat geahnt hätte. Unvermittelt sagt Bluma, dass Dov sicher „die Familie des Terroristen“ hätte kennenlernen wollen. Wie zu Erklärung, wer bzw. wie Dov eigentlich war, kommt in der nächsten Szene Dovs bester Freund Hussein Abu Hussein aus Um el-Fahem zu Wort66, der in dem Interview erzählt, wie wichtig Dov der Dialog zwischen Israelis und Palästinensern gewesen sei und wie er als Architekt und Städteplaner für die Palästinenser in Israel gearbeitet habe. Unterlegt wird das Gespräch mit Fotoaufnahmen von Dov und einem offenkundig wichtigen Vertreter der Palästinenser, die sich lachend anschauen sowie mit einer persönlichen Videoaufnahme von

64 Etwa ab Minute 35:45. 65 Etwa ab Minute 40. 66 Etwa ab Minute 40:40.

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Dov, Yaёl und seinem Enkel. In der nächsten Szene erklärt Yaёl, das Dovs Botschaft das Wichtigste sei und sie sich immer wieder die Frage stelle, ob die Familie Tobassi wisse, dass sie in ihm einen Freund verloren habe. Scheinbar als eine mögliche Antwort auf diese Frage, erzählt Zakaria Zbeidi in einer der nächsten Szenen, dass es für Shadi das Schlimmste gewesen sei, dass sein bester Freund, Majdi Tayeb, von den Israelis getötet worden sei. Er sei dabei gewesen als dieser von einer israelischen Bombe zerfetzt wurde. Er richtet sich mit seinen Worten an Yaёl, ob sie wisse, was ihre Regierung mache, „oder sie weiß es und sieht uns trotzdem als Terroristen.“67 Etwas später im Film sieht man Yaёl Chernobroda mit einer Freundin telefonieren68: Bevor die Mädchen hier ankamen, Françoise, habe ich eine Landkarte von Israel gekauft. Ich habe sie aufgeschlagen und mich gefragt: Wo zum Teufel liegt diese verdammte Stadt? Mit meinem Finger habe ich den ganzen Weg zurückverfolgt. Und mir gedacht: Ich werde denselben Weg nehmen wie er.

Die Szene ist insofern irritierend wie erhellend, als dass sie verdeutlicht, wie groß die Distanz trotz der (geografischen) Nähe ist. Des Weiteren fragt sie Jenya, die Architektin, was sie darüber denke, dass sie die Familie von Shadi Tobassi treffen werde69: Diese Frage, wer er war und warum er das getan hat, hat mich eine Zeitlang begleitet. Wer er war uns warum. Ich konnte sie nie für mich beantworten. Ich weiß nicht, wer er war und warum er es getan hat. Aber sie beschäftigt mich heute nicht mehr. Weil ich irgendwann begriffen habe, dass diese Fragen nutzlos sind. Es ist egal, wer er war. Welchen Unterschied macht es? Er hat getan, was er getan hat. Und damit gebracht, was immer er gebracht hat.

Im weiteren Filmverlauf erzählt Yaёl Chernobroda, dass sie sich oft frage, ob sie einen Raum betreten könne, indem ein Bild von Shadi Tobassi hängt.70

67 Das Interview mit Zakaria Zbeidi findet sich etwa ab Minute 50. 68 Etwa ab Minute 52:40. 69 Etwa ab Minute 54. 70 Etwa ab Minute 55.

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Muss ich ihm wirklich in die Augen sehen? Muss ich sein Gesicht sehen? Ist es nicht genug, dass ich seinen Namen sagen kann, Shadi Tobassi? Den ich so lange nicht aussprechen konnte? Ich habe ihn „den Terroristen“ genannt.

Eine erste direkte Annäherung zwischen Yaёl und der Familie erfolgt per Telefon71: Yaёl Chernobroda: Shalom und guten Abend. Spreche ich mit Abu Amjad? Hallo, ich rufe aus Haifa an. Mein Name ist Yaёl. Ich bin die Witwe von Dov Chernobroda. Ich bin die Frau aus Haifa, die gerne mit Ihnen sprechen würde. Sind Sie bereit mit mir zu sprechen? Zakaria Tobassi: Ich spreche nicht so gut Hebräisch. Yaёl Chernobroda: Wir kommen schon zurecht, Sie sprechen gut. Wir werden uns verstehen, da bin ich mir sicher. Ich würde gern mit Ihnen reden und Sie vielleicht fragen ob Sie damit einverstanden wären, dass ich Sie und Ihre Familie besuchen komme. Ist das ein Gedanke für Sie… Zakaria Tobassi: Es ist in Ordnung für mich, dass sie vorbeikommen möchten. Sollten Sie nach Jenin kommen, sind Sie willkommen in unserem Haus. Ich habe damit keine Probleme. Wenn es Frieden geben würde, wäre das auch für uns besser. Yaёl Chernobroda: Da haben Sie Recht, ich wünschte… Zakaria Tobassi: Frieden wäre für alle besser. Yaёl Chernobroda: Natürlich. Zakaria Tobassi: Beide Seiten leiden. […] Bis zum heutigen Tag weint seine Mutter um ihn. Yaёl Chernobroda: Mir geht es genauso: Ich vermisse meinen Mann. Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn sehr. Wenn wir beide, als Menschen, diesen winzigen Schritt aufeinander zugehen, dann ist das ein gutes Zeichen. Ich möchte, dass Sie sich meinen Namen merken. Ich heiße Yaёl. Okay? […] Dann bis bald und gute Nacht.

71 Etwa ab Minute 57.

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Zakaria Zbeidi äußert sich zu dem geplanten Treffen sehr ablehnend, beinahe wütend und anklagend72: Was die da machen, ist nicht logisch. Diese Frau hat hier angerufen und mit Shadis Familie gesprochen. Wo ist die Logik? Geh doch dahin zurück, wo du herkommst. Wenn die Palästinenser ihr Land zurückhaben, dann kannst du mit ihnen sprechen. Sprich nicht mit uns. Sprich mit den Soldaten, der im Bulldozer sitzt und jeden Tag 400 Olivenbäume fällt. Sprich mit den Siedlern, die nicht aufhören, unser Land an sich zu reißen. Sprich mit den Leuten, die Jerusalem besetzt halten. Mit denen, die Nazareth eingenommen haben. Diskutier doch mit denen, die uns Palästinenser aus Haifa vertrieben haben. Warum sprichst du mit uns?

Ferner wird deutlich, dass Yaёls bzw. Dovs Familie sehr gespalten ist, was das Vorhaben, nach Jenin zu reisen, betrifft. Yaёl besucht kurz vor der Reise Dovs Schwester, Hana, die erklärt, dass sie sofort mitkommen würde, wenn sie könnte. Dass sie ihre Neugierde nie verloren habe. Interessanterweise nennt sie nicht die Besatzung als einen wichtigen Grund für die Selbstmordattentate, sondern die Aussichtslosigkeit und Verzweiflung der Attentäter. Sie würden gehasst werden oder fänden keine Akzeptanz innerhalb ihrer Gesellschaft oder aber sie wären Idealisten.73 Am 08.04.2010, acht Jahre nach dem Selbstmordattentat, fährt Yaёl zusammen mit Bluma, Dovs Sohn Yoav, Ali Abu Awwad („Parents Circle“), Nir und Belal nach Jenin.74 Es wird gezeigt, wie sie sich morgens beim Frisör auf den Besuch vorbereitet.75 Sie erzählt dem Frisör von ihrem Vorhaben, der sehr ablehnend reagiert: Frisör: Wir würden doch alles tun. Was haben wir nicht alles versucht. Yaёl Chernobroda: Mein Mann hat sein ganzes Leben für Frieden gekämpft. Frisör: Die wollen es doch so haben. Yaёl Chernobroda: Ich hoffe, es wird sich was ändern. Ansonsten weiß ich es auch nicht.

72 Etwa ab Minute 60. 73 Der Besuch bei Hana beginnt etwa bei 01:01. 74 Wer Nir und Belal sind, wird im Filmverlauf nicht deutlich. 75 Etwa ab 01:04.

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Frisör: Die bekommen doch die ganzen Gelder von den Amerikanern und der EU. Sie nehmen das Geld und verteilen es untereinander. Die profitieren alle davon.

Irritierenderweise stimmt sie all seinen Aussagen zu. Dies stellt einen Bruch zu ihren vorherigen Ausführungen dar. Dass das Treffen mit Familie Tobassi nicht auf Augenhöhe stattfindet, wird neben der Tatsache, dass Yaёl allein die Bedingungen für die Zusammenkunft stellt, beispielsweise auch daran deutlich, dass sie erwartet, dass sich Zakaria Tobassi ihren Namen merkt, während sie selbst während der Taxifahrt nach Jenin zu Yoav sagt, dass sie die Namen von Vater und Mutter Tobassi vergessen habe.76 Die Gründe hierfür können selbstverständlich durchaus verschiedene sein, innerhalb des Films können derartige Szenen aber als eindeutige Brüche erfahren werden. Während der Fahrt nach Jenin steht allen die Anspannung ins Gesicht geschrieben, insbesondere Yaёl und Bluma. Wie Yaёl im Vorfeld betont, ist die Reise für sie mit großen Ängsten verbunden. Sie habe Bluma auch erst spät gefragt ob diese sie begleiten würde. Sie würde nicht wollen, dass ihr etwas zustößt, sie möchte sie beschützen. Abwechselnd mit der Fahrt, werden Bilder aus Jenin gezeigt, wie sich die Familie auf den Besuch vorbereitet. Als sie schon in Jenin sind, fragt Yaёl Bluma77: Yaёl Chernobroda: Glaubst du, es gibt Menschen hier, die Frieden wollen? Bluma: Klar, jeder hier. Da bin ich mir sicher. Kommt nur darauf an, wie.

Als sie bei dem Haus der Familie ankommen, werden sie unsicher, aber herzlich empfangen. Zakaria Tobassi fragt78: Sind Sie da? Sie sind herzlich willkommen. 50 der 100? Ganz egal, sie sind willkommen.

Die Gäste werden ins Wohnzimmer geführt, wo reichlich Essen und Getränke für sie bereit stehen. Es fällt auf, dass das große Märtyrer-Bild von Shadi Tobassi, das zuvor inmitten des Wohnzimmers hing, verdeckt ist. Eine Geste, die auf Yaёls Aussage verweist, sie wisse nicht ob sie in einem Raum sein könne, in dem ein Bild von Shadi hängt.

76 Etwa ab 01:10. 77 Etwa ab 01:09. 78 Etwa ab 01:10:50.

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Zakaria erkundigt sich bei Yaёl, ob Sie und Bluma die Mutter sehen wollen, die sich mit den anderen weiblichen Familienmitgliedern in einem separaten Raum aufhält. Nachdem Zakaria die Frauen zusammengeführt hat, ist er sichtlich bewegt. Yoav setzt sich neben Zakaria. Im Gegensatz zu Yaёl, die die ganze Zeit Hebräisch spricht, sagt Yoav, dass Zakaria ruhig Arabisch sprechen und ein anderer für ihn übersetzen könne. Es wird gezeigt, wie die Männer sich unterhalten, über das Leben der Familie, über Shadi und über Dov. Einen beinahe komischen Moment gibt es, als Zakaria, sichtlich besorgt um das leibliche Wohl seines Gastes, für Yoav eine Banane schält und sie ihm in die Hand gibt. Shadis Bruder erzählt davon, wie als Araber verkleidete Israelis sieben Mal auf ihn geschossen hätten und die Armee tatenlos zugesehen habe, bis sich einer der Soldaten, nach mehreren Aufforderungen an die Täter endlich damit aufzuhören, schützend auf ihn gelegt und ihm damit das Leben gerettet habe. Zakaria sagt, dass er hofft, dass es Frieden gebe, nicht nur zwischen Yaёl und ihm, sondern zwischen allen Arabern und Juden: Nur Frieden kann unsere Völker zusammenbringen.79 Daraufhin erzählt Yoav, dass sein Vater Treffen organisiert habe, bei denen Palästinenser vor einem israelischen Publikum sprechen konnten, damit die Israelis lernen, in den Palästinensern nicht nur ihren Feind zu sehen. Dass er sich immer für den Dialog eingesetzt habe. Am Ende des Films ist der Bildschirm schwarz. Nur die Stimmen von Yaёl und Shadis Mutter, Nadjie, sind zu hören: Yaёl Chernobroda: Heute ist ein großer Tag für uns. Vielleicht beginnen wir ein neues Kapitel. Nadjie Tobassi: Vielleicht. So Gott will. Yaёl Chernobroda: Für Ihre Kinder, für Ihre Enkelkinder. Sie sind eine Mutter. Nadjie Tobassi: Ja, ich bin seine Mutter. Was hätten wir tun können? Wir haben ihn nicht geschickt. Er war 24. Er hat gesagt, er geht zur Arbeit. Und dann haben wir es im Fernsehen gesehen. Er hat mir nicht gesagt, was er vorhatte. Welche Mutter würde ihren Sohn schicken? Er war erst 24. Wir haben nichts tun können.

An dieser Stelle werden (Stand-)Bilder eingespielt, wie die beiden Frauen nebeneinander sitzen und miteinander sprechen. Wie sie gemeinsam in die Ka-

79 Etwa ab 01:16.

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mera lachen. Wie sie gemeinsam das Haus verlassen. Dabei ist Yaёls Stimme zu hören: Es war sehr wichtig für mich, hierher zu kommen und Sie kennenzulernen. Ihr Sohn hat Taschentücher gebracht, damit wir weinen können. Aber wir haben genug geweint. Sie haben Recht. Und wir sind hier nicht beim Psychologen. Wir denken an morgen und wir wollen Frieden.

Nun folgt ein Wechsel zu Videoaufnahmen, wie sich die beiden Frauen herzlich umarmen und küssen. An dieser Stelle endet der Film. Im Gespräch mit mir, erklärte Yaёl, dass dieser Film für sie ein Versöhnungsprojekt, eine Annäherung zwischen Israelis und Palästinensern sei, dieses aber durchaus auch Brüche aufweise. 6.2.2.3 Cinema Jenin, Die Geschichte eines Traums80 (2012) Nach dem Dreh von „Das Herz von Jenin“ entsteht bei Marcus Vetter, Ismael Khatib und Fakhri Hamad die Idee, das verfallene Kino im Zentrum Jenins wiederaufzubauen, das während der ersten Intifada als eines der letzten Kinos in der Westbank geschlossen wurde. Mit Blick auf Khatibs Geschichte steht dahinter der Wunsch, einen Ort des grenzüberschreitenden Dialogs zu schaffen. Die Initiatoren suchen nach Geldgebern und Unterstützern für das Projekt und versuchen gleichzeitig, sich mit den Besitzern über die Finanzierung und Umsetzung zu einigen, wobei große Unterschiede über Bedeutung und Zielsetzung des Projekts deutlich werden. Der Film „Cinema Jenin“ dokumentiert die Entwicklungen, die Fortschritte und die Rückschläge des Projektes. Marcus Vetter, als einer der Initiatoren, steht im Zentrum seiner eigenen Geschichte und er sieht sich mit komplexen Beziehungs- und Gefühlsgeflechten konfrontiert. „Cinema Jenin“ ist in diesem Sinne nicht nur eine Geschichte über die Wiedereröffnung eines Kinos in der Westbank, über die Liebe zum Film und über den Konflikt zwischen Israelis und Pa-

80 „Cinema Jenin“ ist eine Koproduktion von „Boomtown Media“, der „Filmperspektive GmbH“ und „Cinephil“ sowie vom SWR, Bayrischen Rundfunk, Arte, „Senator Film“ und „Cinema Jenin“. Während der Fertigstellung des Dokumentarfilms wurde im April 2011 der Leiter des „Freedom Theatre“ Juliano Mer-Khamis von bis heute unbekannten Tätern erschossen. Da er großen Einfluss auf die Arbeit und das Selbstverständnis von „Cinema Jenin“ hatte, ist der Dokumentarfilm seinem Andenken gewidmet.

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lästinensern, sondern er ist dies aus einer dezidiert autobiografischen Perspektive. Das heißt, Marcus Vetter ist nicht nur Regisseur und Produzent des Films, sondern er tritt auch als Akteur in Erscheinung. Die Geschichte des Kinos wird aus seiner Sicht erzählt, wobei er, bzw. seine Stimme im Hintergrund, als Erzähler fungiert, der gewisse Situationen und Gegebenheiten erläutert, erklärt und zusammenfasst. Auch wenn er durch die Dreharbeiten zu „Das Herz von Jenin“ bereits längere Zeit in den besetzten palästinensischen Gebieten, vor allem in Jenin, verbracht hatte, sind ihm viele der palästinensischen Gesellschaftsstrukturen fremd oder verschlossen geblieben. Die Involviertheit ausländischer, insbesondere westlicher, Akteure in palästinensische Angelegenheiten ist für viele Palästinenser schwierig, vor allem dann, wenn dies die komplexen Beziehungen zu Israel und die „Normalisierungsdebatte“ betrifft. Auch wenn das Kino ein geschützter Ort für jedermann sein soll, tritt während der Dreharbeiten ein schmerzvoller Prozess in der Diskussion um die israelische Partizipation an dem Projekt zutage. Das Wort „Friedensprojekt“ ist politisch extrem aufgeladen und die Initiatoren sahen sich damit konfrontiert, dass im israelisch-palästinensischen Kontext aus einem sozialen Projekt schnell ein politisches Projekt werden kann. Um eine Verbindung mit „Das Herz von Jenin“ herzustellen, beginnt der Film mit einer persönlichen Filmaufnahme von Ahmed Khatib.81 Marcus Erzählerstimme erklärt, dass sowohl die beiden Intifadas als auch die israelische Besatzung, das Leben mit Kino und Unterhaltung unmöglich gemacht haben und erläutert damit zusammenhängend die Idee, das alte Kino im Zentrum Jenins wiederzueröffnen. Es folgt ein Gespräch zwischen Marcus und Dr. Lamei Assir, einem der Besitzer des Kinos, in dem direkt auf die unterschiedlichen Perspektiven bezüglich der Wiedereröffnung verwiesen wird. Dr. Lamei erklärt: Ich repräsentiere die Leute, denen das Kino gehört, und keine NGO. Das ist dir klar. Fairerweise sollte man sie nicht ignorieren. Wir geben euch das Kino, um es zu modernisieren, auszubauen und zu renovieren, für eine begrenzte Zeit. Aber die Besitzer wollen damit Geld verdienen. Sie hatten nicht vor, einen Wohlfahrtsverein daraus zu machen. Marcus: Dieses Kino wird allerdings von Spenden finanziert, die genau hinter diesem Konzept stehen. Das Kino sollte nicht aufs Geldmachen aus sein.

81 Dabei handelt es sich um dieselbe Aufnahme wie sie auch im Film „Das Herz von Jenin“ selbst sowie in „Nach der Stille“ gezeigt wird. Eine Szene, in der Ahmed tanzend und lachend in die Kamera blickt.

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Dr. Lamei: War es aber früher. Marcus Vetter: Ja, und was ist dann passiert? Dr. Lamei: Die Besatzung… Marcus Vetter: Nicht nur die Besatzung! Dr. Lamei: Wären denn, deiner Meinung nach, zehn Jahre ein guter Zeitraum? Marcus Vetter: Ja. Dr. Lamei: Und können wir Besitzer es dann wieder zurückhaben?

Mit dieser Szene scheint der strukturelle Rahmen für die Wiedereröffnung gesteckt zu sein, im weiteren Verlauf des Films tauchen aber immer wieder (neue) Diskrepanzen hinsichtlich der Verträge, der Finanzierung sowie über das (politische) Grundverständnis des Kinos auf. Schon früh im Film wird die Sprengkraft des Projekts deutlich. Ab Minute 27 wird das „Freedom Theatre“ vorgestellt. Daran schließt sich ein Gespräch zwischen Juliano Mer-Khamis, Marcus Vetter, Bewohnern Jenins und Volontären von „Cinema Jenin“ an, in dem es um eine mögliche Kooperation mit Israel geht. Mer-Khamis sagt an Marcus gerichtet82: Im Flüchtlingslager sagt man, du holst Tel Aviv nach Jenin. Es gibt Gerüchte, dass ihr mit Tel Aviv kooperiert. Marcus Vetter: Es gibt keine Kooperation. Juliano Mer-Khamis: Die Leute sind extrem verletzt. Emotional, nicht mal intellektuell. Sie begraben immer noch ihre Toten. Marcus Vetter: Ich weiß. Juliano Mer-Khamis: Für eine Kooperation mit Israel ist es zu früh, das müssen wir respektieren. So viele Leute warten nur darauf, dass wir einen Fehler machen. Uns hat man nicht acht Jahre lang ins Gesicht geschlagen. Wir sagen: „Das ist ein guter Israeli.“ Aber

82 Etwa ab Minute 28.

240 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND sie sagen: „Wartet, wir bluten noch!“ Und das verstehe ich. Die Leute müssen spüren, dass es euch um die Befreiung geht, nicht darum, täglich ein paar Stunden Spaß zu haben. Das ist „Normalisierung“. Man darf nicht so tun, als ob hier der Himmel auf Erden wäre und Jenin ist wundervoll. Das Kino muss zum Werkzeug des Widerstandes werden, oder zu einer radikalen, kritischen Stimme Palästinas. Marcus Vetter: Oder einfach nur ein gutes Kino. Man muss an das Publikum glauben, ihm vertrauen. Wenn wir das hinkriegen, wäre mal etwas besser als in Europa. Das ist es, was wir schaffen müssen.

Zakaria Zbeidi erklärt hierzu: Aber nicht alle Leute in Jenin haben daran Interesse. Die Leute in Jenin teilen sich in drei Gruppen. Eine ist gegen euch. Die Bestechlichen. Wenn es schlimmer wird, nehmen sie ihre Familien und gehen. Die zweite Gruppe sind die Kämpfer, sie sind die stärksten in Jenin. Die dritte ist weder für noch gegen euch. Sie sagen: „Okay, wir sind zwar eurer Meinung, aber wir setzen uns nicht dafür ein.“ Sie haben sich noch nicht entschieden. Das sind die Gefährlichsten, weil sie jederzeit zu den Kämpfern oder zu den Bestechlichen überlaufen können.

Diese Szene zeigt deutlich die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was als Idee hinter der Wiedereröffnung des Kinos stehen soll. Während es Marcus Vetter in erster Linie darum geht, ein gutes Kino aufzubauen, geht es den Menschen in Jenin darum, dieses politisch konkret zu verorten. Kurz darauf und unerwartet werden Videoaufnahmen vom israelischen Luftangriff auf Gaza am 27.12.2008 gezeigt. Der Gaza-Krieg 2008/09 führt dazu, dass Ismael vorläufig aus dem Projekt aussteigt83: Ich war motiviert, weil ich dachte, ein Film könnte etwas verändern. Aber nach dem, was in den letzten 15 Tagen passiert ist, habe ich das Gefühl, dass alle mich anstarren. Besonders, weil die meisten Opfer in Gaza Kinder waren. Macht es überhaupt noch Sinn über Frieden zu reden? Es klingt wie ein Scherz, über Frieden zu reden. Der Frieden ist zu einer Illusion geworden, nach all den Jahren der israelischen Besatzung.

Marcus Vetter antwortet darauf:

83 Etwa ab Minute 35.

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Veränderungen passieren manchmal, wenn man sie am wenigsten erwartet, Ismael. So ist es auch beim Filmemachen. Das, was in Gaza passiert, macht dieses Projekt umso wichtiger. Das „Herz von Jenin“ ist nicht vorbei. Es geht weiter.

Ismael Khatib entgegnet nachdenklich, aber bestimmt: Für mich ist es vorbei. Der Traum ist vorbei.

Ein paar Szenen später sitzen Juliano Mer-Khamis, Marcus Vetter und andere Projektbeteiligte beisammen. Mer-Khamis erklärt84: Ich würde gerne mit euch zusammenarbeiten. Wir brauchen ganz dringend Ausbilder. Wirklich. Hier im Norden gibt es keine Kinoleute. Und die Leute aus Ramallah sind Primadonnen und wollen 50 Euro die Stunde. Holt die Kinder, die bringen ihre Familien und Nachbarn. So schafft man sich sein Publikum. Denn Kino und Theater sind für sie dunkel und anrüchig. Zuerst muss man das Eis brechen. Wenn man zeigt, was Kino wirklich ist, entsteht die Liebe zum Kino. Wir wissen nicht, was Kino ist. Unsere Erfahrung in JeninCamp ist, dass man mit guten Veranstaltungen ein gutes Publikum aus Jenin anziehen kann. Ihr kriegt hier 400 Zuschauer. Das ist kein Problem. Es ist Magie. Die Macht der Leinwand. Ihr müsst klug sein, nicht gerecht. Die Leute glauben euren Taten, nicht euren Worten. Du kannst reden, bis der Morgen dämmert. Erst musst du unter Beweis stellen, was du machst, und stur bleiben. Du musst einen Leibwächter haben, rund um die Uhr. Wir Araber schlagen einmal zu… Wenn du nicht fällst: „Mmh, interessant.“ Dann nochmal. Wenn du nicht fällst: „Mmh, der ist stark.“ Wir schlagen ein drittes Mal zu, wenn du dann nicht zu Boden gehst…

Bei den letzten Worten verneigt er sich, um zu zeigen, dass man dann akzeptiert sei. Die Gerüchte über das Kino bzw. über das Gästehaus hören nicht auf. Im Gegenteil führen sie sogar soweit, dass die Verantwortlichen von „Cinema Jenin“ ein Komitee aus einflussreichen Persönlichkeiten der Stadt einberufen, um die Angelegenheiten zu klären. Unter anderem besteht auch Uneinigkeit darüber ob Fakhri Hamad der Manager des Kinos bleiben soll oder ob er dem Ansehen nur schade. Letztendlich wird entschieden, dass er bleibt. Während der Renovierungsarbeiten kommt Juliano Mer-Khamis mit der Idee, gemeinsam mit dem „Freedom Theatre“ eine Filmschule zu gründen. Beteiligt ist neben den Verantwortlichen von „Cinema Jenin“ auch Udi Aloni aus

84 Etwa ab Minute 44:30.

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den USA; Sohn einer großen zionistischen Familie, der Gründerväter Israels. Mer-Khamis sagt, dass dies ein riesiger Skandal werden könne. Nachdem alle anderen bekräftigt haben, dass sie damit kein Problem hätten, konkretisieren sie ihre Ideen85: Udi Aloni: Eine Filmschule und Studio, sodass wir dort Filme zeigen können und eine Schule betreiben. Filmschulen müssen sehr offen sein, wie Universitäten. Auch diese Schule braucht diese Freiheit. Juliano Mer-Khamis: Was machen wir? Wir unterrichten Kino, bilden aus, produzieren. Udi Aloni: Wir brauchen Dozenten für Schnitt und Licht. […] Juliano Mer-Khamis: Gibt es Israelis in dem Projekt? Lassen wir ab jetzt unsere Identitäten hinter uns. Und gehen die Dinge als Künstler an. Genug von Deutschen, Palästinensern und Israelis.

Marcus Vetters Erzählerstimme fasst zusammen: Nachdem wir im Laufe der letzten Monate erkennen mussten, wie schmerzhaft es für viele Palästinenser ist, sich selbst Israelis zu öffnen, die an ein freies Palästina glauben, lässt uns Juliano mit seiner Idee mit einer Mischung aus Hoffnung und Ratlosigkeit zurück. Wir sind nicht einmal sicher ob wir Israelis zur Eröffnung einladen können. Jeder, den wir fragen, hat eine andere Meinung zu diesem Thema.

In der nächsten Szene sitzen einige der Mitarbeiter von „Cinema Jenin“ beisammen, unter anderem Ismael Khatib, und sprechen über genau diese Fragestellung. Marcus Vetter fragt Ismael Khatib86: Ismael, ist Jenin bereit, Israelis zur Eröffnung einzuladen? Ismael Khatib: Natürlich.

Marcus Vetters Erzählerstimme erklärt:

85 Etwa ab Minute 54:20. 86 Etwa ab Minute 56:50.

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Ismael gab mit seiner Geschichte auf der ganzen Welt Hoffnung. Unser Kino sollte diese Geschichte fortsetzen und zeigen, dass es viele Palästinenser gibt, die so denken wie er. Auch der Krieg in Gaza konnte diese Hoffnung auf einen freien palästinensischen Staat nicht dauerhaft zerstören. Ismael ist bereit, unseren Weg fortzusetzen.

In der Folge tauchen jedoch neue Probleme mit den Eigentümern auf, neue Besitzer tauchen auf, die wiederum mit einigen Aspekten des Vertrages nicht einverstanden ist. Wütend erklärt Marcus Vetter den Anwesenden87: Ein Vertrag ist ein Vertrag. Und ein Anwalt ist nicht Gott. Okay, wir machen das Kino bis zur Eröffnung. Danach kriegt ihr es. Ich gehe, wenn das Kino eröffnen ist. Macht es einfach selbst!

Diese Szene hebt noch einmal deutlich hervor, dass es Themen innerhalb des Projektes gab, die keine Kompromisse zuließen, weil die Diskrepanzen zu groß waren. Auch hinsichtlich der Finanzierung kam es immer wieder zu Schwierigkeiten und Verzögerungen. Im weiteren Filmverlauf erklärt Marcus Vetters Erzählerstimme sein Hauptanliegen88: Meine Idee war es mit diesem Kino zu zeigen, dass Zuschauer überall auf der Welt für gute Filme zu begeistern sind, wenn sie nur die Chance hätten, sie zu sehen. Doch welche Filme würden wir in Jenin zeigen können? Würde unser Publikum eine Szene mit einem Kuss akzeptieren? Wir beschließen den Mufti um Rat zu fragen und stellen ein Komitee zusammen, das Filme sichtet, bevor wie sie im Kino zeigen.

Kurz vor der Wiedereröffnung erklärt Juliano Mer-Khamis im Gespräch mit Marcus Vetter und Udi Aloni89: Wir arbeiten nur mit Leuten zusammen, die das „BDS“ unterschrieben. Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen Israel.

Udi Aloni fügt hinzu: Kein israelischer Jude darf herkommen, ohne das „BDS“ zu unterschreiben.

87 Etwa ab Minute 58. 88 Etwa ab 1:05. 89 Etwa ab 1:12.

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Marcus Vetter lenkt ein, dass er der Meinung sei, dass sie keine Forderungen stellen sollten, woraufhin Udi Aloni erwidert: Die Forderung „keine Bedingung“ ist inakzeptabel, wenn es hier nichts als Bedingungen gibt. Palästina ist ein Organ ohne Körper. Palästinenser können nicht nach Gaza. Palästina muss Palästina werden.

Marcus Vetter erklärt: Ich akzeptiere das, aber gib doch ein paar Leuten die Chance. Nicht alle Israelis sind gleich.

Udi Aloni lässt sich nicht beirren und behauptet, dass 95% der Israelis den Krieg gegen Gaza unterstützen. Die Bauarbeiten im Kino verursachen so viel Lärm, dass sie ihr Gespräch nach draußen verlagern. Juliano Mer-Khamis zeigt mit dem Finger auf Fakhri Hamad: Dieser Typ dort widmet sein Leben der ‚Normalisierung‘. Israel darf die Besatzung nicht normalisieren! Es ist nicht normal, wenn 1,5 Millionen bombardiert werden! Sag ihnen, das ist inakzeptabel. Zwing sie, das zu überdenken.

Fakhri Hamad antwortet: Ich stimme dir völlig zu, aber ich stehe zu Israelis, die für uns sind.

Udi Aloni entgegnet jedoch, dass man Israelis in dem Glauben lasse, alles sei normal, wenn man sie plötzlich einlädt ohne dass sie jemals Palästina unterstützt hätten. Fakhri Hamad führt weiter aus: Ich kämpfe gegen Israels Medien. Er90 wollte nicht nach Jenin kommen. Erst als Juliano sagte: „Glaub es nicht, komm einfach“, kam er, weil er Juliano vertraute. Aber er hatte gehört, dass er in Jenin getötet oder entführt wird. Wir müssen Leute aus Israel holen und ihnen die Wirklichkeit zeigen.

Juliano Mer-Khamis reagiert plötzlich zornig:

90 Wahrscheinlich ist hier Marcus Vetter gemeint.

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Moment! Sie müssen dir beweisen, dass sie keine Terroristen sind! […] Ein Israeli muss mir beweisen, dass er kein Terrorist ist. Nicht anders herum. Er ist der Terrorist! Ich muss ihm vertrauen, nicht er mir. Er muss seine Scheißprobleme in Tel Aviv lösen und dann herkommen, bereit…

In diesem Moment gefriert das Bild und folgender Schriftzug wird eingeblendet: Während wir diese Szene schneiden, wird Juliano Mer-Khamis vor dem „Freedom Theatre“ durch 12 Kugeln getötet.

Es folgen mit Musik unterlegte Aufnahmen, die seinen Tod symbolisieren, wie beispielsweise ein leerer Stuhl. Der Film wurde erst nach der Wiederöffnung fertiggestellt, dennoch wird Juliano Mer-Khamis ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gezeigt. Vielleicht um den dramatischen Bruch, den seine Ermordung auslöste, auch für den Zuschauer spürbar zu machen. Der weitere Filmverlauf bleibt politisch, wobei insbesondere eine Grundsatzdiskussion über die Einladung von Israelis zur bevorstehenden Eröffnungsfeier die unterschiedlichen Perspektiven widerspiegelt. Die Diskussion findet vor allem zwischen Zakaria Zbeidi, Marcus Vetter und Fakhri Hamad statt.91 Zakaria Zbeidi sagt: Marcus […]. Du hast dir hier einen Namen gemacht. Es wäre schade, deinen Ruf zu ruinieren. Auch ich habe einen Namen, er ist mit Blut, Gefängnis und Tod besiegelt. Ich will nicht mit Israel in Verbindung gebracht werden.

Marcus Vetter erwidert: Zehn Israelis haben vor, zur Eröffnung zu kommen. Ich kann euch nur einen Rat geben, aber ihr aus Jenin müsst entscheiden.

Zakaria Zbeidi antwortet direkt: Unmöglich. Israelische Familien, die um ihre Kinder trauern, die ich vielleicht als Kämpfer umgebracht habe, mit denen soll ich solidarisch sein? Was ich sage, muss die politische Richtung des Kinos werden. […]

Fakhri Hamad äußert sich:

91 Etwa ab 01:16.

246 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Nein. Weil… Wir sind doch keine Politiker.

Zakaria Zbeidi entgegnet: Wenn dich ein Reporter fragt, was du von der Koexistenz von Palästinensern und Israelis hältst, und ob du glaubst, dass Israel Frieden will?

Fakhri Hamad fragt Zakaria Zbeidi, was das damit zu tun habe, woraufhin dieser erklärt: Es ist politisch und du leitest eine Institution. Wenn sie dich zur Zwei-Staaten-Lösung befragen?

Erneut fragt Fakhri, was denn seine Meinung mit dem Kino zu tun habe, woraufhin Zakaria erwidert, dass er Palästinenser sei. Fahri stellt dem entgegen, dass es ein soziales Projekt sei, woraufhin Zakaria nochmals betont, dass es politisch sei: Morgen geht in den Medien eine Bombe hoch. Was ist eure politische Botschaft? Sie ist nicht klar. So ist es. Entweder formuliert ihr sie oder ihr tut es nicht. Aber wenn ihr es jetzt nicht tut, wie wollt ihr es dann in Zukunft tun?

Im Anschluss folgt eine Szene, in dem der Gouverneur Jenins kurz vor der Wiedereröffnung zum Kino kommt und den Helfern motivierend mitteilt, dass sie alle stolz auf das Projekt seien und versprechen, dass Jenin offen sein werde für alle seine Besucher, aller Religionen und aller Nationalitäten. Bevor die Eröffnungsfeier vom 05.08.2010 gezeigt wird, bleibt der Bildschirm einen Moment lang schwarz. Mit weißen Lettern ist ein Gedichtauszug von Mahmud Darwisch zu lesen: Unsere unheilbare Krankheit ist Hoffnung.

Während Aufnahmen von der Eröffnungsfeier zu sehen sind, ist Marcus Vetters Erzählerstimme zu hören92:

92 Etwa ab 1:26.

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Hier endet mein Teil der Geschichte. Es ist nicht das Ende eines Traums und auch nicht das Ende von Cinema Jenin. Einige Israelis sind doch zur Eröffnung gekommen, andere werden vielleicht noch folgen. Wie das Kino in der Zukunft aussehen wird, weiß niemand zu sagen. Ich hoffe, dass es ein Ort sein kann, wo offene Diskussionen möglich sind und niemand Angst davor haben muss, seine Meinung zu sagen.

Es folgt noch ein Nachspann. Bei der Wiedereröffnung wird im Kino „Arna’s Children“ von Juliano Mer-Khamis gezeigt. Im Anschluss gibt es eine Podiumsdiskussion, bei der Marcus Vetter Zakaria Zbeidi als Gast auf der Bühne begrüßt. Er fragt diesen, wie er die Invasion 2002 erlebt habe. Zakaria Zbeidi antwortet knapp, so wie im Film dargestellt. Marcus Vetter ist sichtlich irritiert und bittet jemand anderen, die Diskussion für ihn weiterzuführen.93 Zbeidis Antworten fallen nun länger aus. Ein junger Mann aus dem Publikum fragt ihn: Wenn du den bewaffneten Kampf aufgibst, wie leistest du dann Widerstand? Zakaria Zbeidi: Ich habe meine Waffe nicht abgelegt. Ich trage sie noch.

Ein anderer Mann, der sehr aufgewühlt zu sein scheint, meldet sich zu Wort. Er sagt, dass er Palästinenser sei und sich auf Deutsch direkt an Marcus richte, weil er nicht weiß, ob dieser das für alle übersetzen möchte: […] Waffen sind zu dieser Zeit sehr wichtig für unseren Gast. Das möchte ich ihm nicht abstreiten. Aber wir sind jetzt in einer Eröffnung eines Theaters, der lange leben möchte, der Zukunft. Wir sind der Meinung, dass Kino und Theater keinen Platz für Waffen haben. Wenn jemand eine andere Meinung, soll er mir das Bescheid sagen jetzt.

Marcus Vetter antwortet darauf: Ich habe das Projekt bis zu diesem Moment begleitet, und nun gibt es ein Kino. Ich glaube, dieses Kino braucht keine Waffen. Dieses Kino kann über die Monate und Jahre sehr stark werden.

Zakaria Zbeidi fügt hinzu:

93 In einem persönlichen Gespräch erklärte mir Marcus Vetter, dass Zakaria ihn aufgrund der verschiedenen Haltungen gegenüber dem Kino, provozieren und die Veranstaltung boykottieren wollte.

248 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND Was du sagst, ist hundertprozentig korrekt. Es ist falsch, eine Waffe zu tragen, deshalb verberge ich sie. Aber du musst auch wissen: Eines Tages werde ich die Stufen des Kinos hinuntergehen und draußen warten israelische Sondereinheiten, um mich zu töten. Und ihre Waffen werden größere sein als meine. Ich trage die Waffe, damit sie mich erschießen.

Marcus Vetter stellt Zakaria Zbeidi noch eine Frage: Wenn Palästina Glück hat und es einen Staat geben wird, ist Widerstand dann noch nötig? Oder ist es genug, eine Armee, Polizei und einen Staat zu haben? Zakaria Zbeidi: Wenn wir frei sind? Dann bekämpfen wir die Feinde der Freiheit überall auf der Welt.

„Cinema Jenin“ endet mit dem Filmende von „Das Herz von Jenin“, der bei der Eröffnungsfeier im Außenbereich des Kinos gezeigt wurde. 6.2.3 Die Jenin-Trilogie: Erinnerung und Widerstand „Das Herz von Jenin“, „Nach der Stille“ und „Cinema Jenin“ sind drei Filme, die einen Teil der jüngeren Geschichte Jenins dokumentieren und (fest-)schreiben. Im Gegensatz zu „Arna’s children“ von Juliano Mer-Khamis oder „Jenin, Jenin“ von Mohammed Bakri, zeigen sie, wie bedeutsam der Dialog für eine Beilegung des israelisch-palästinensischen Konfliktes ist. Insbesondere „Das Herz von Jenin“ und „Nach der Stille“ dokumentieren die persönlichen Annäherungen, ohne diese idealisieren zu wollen. Es bleiben Ambivalenzen, Brüche, Leerstellen. „Cinema Jenin“ verweist eher auf die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen bezüglich des „Normalisierungspotenzials“ derartiger Projekte. Es wird deutlich, dass aus einem sozialen Projekt schnell ein politisch instrumentalisiertes Projekt werden kann. Marcus Vetter gelingt es, die unterschiedlichen Positionen und das inhärente Konfliktpotenzial filmisch darzustellen. Er selbst fungiert dabei oftmals als Vermittler zwischen den einzelnen Positionen. Vor allem seine Auffassung, dass auch Israelis ohne Vorbedingungen nach Jenin kommen sollen, wird von vielen Einwohnern kritisch betrachtet. In einem persönlichen Gespräch erzählte er, dass er sich insbesondere nach der Ermordung von Juliano Mer-Khamis in Jenin nicht mehr wirklich sicher fühlte. Als Tourist nach Jenin zu kommen, sei eine Sache, aber für einen längeren Zeitraum dort zu leben und zu arbeiten, ziehe eine gewisse Erwartungshaltung unterschiedlicher Gruppierungen nach sich, die nicht immer zu erfüllen seien. Auch Fakhri Hamad

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geriet durch das Projekt und seiner Haltung gegenüber israelische Besucher in derart große Schwierigkeiten, dass Jenin für ihn kein sicherer Ort mehr war und er heute in Deutschland lebt. Dies hebt nochmal deutlich hervor, wie ambivalent Projekte sein können, die von außen auf einen Dialog abzielen. Politische Implikationen sind im Israel-Palästina-Konflikt unvermeidbar. Darüber hinaus kann Film selbst als Dialogmedium verstanden werden. Ohne eine direkte Konfrontation, wird es dem Zuschauer ermöglicht, Kontakt zur anderen Seite aufzunehmen und etwas über diese zu erfahren. Filme können damit aus ‚sicherer Distanz‘ eine erste Annäherung ermöglichen und individuelle wie gesellschaftlich konstruierte ‚Wahrheiten‘ in Frage stellen. Die Filme der Jenin-Trilogie setzen sich implizit wie explizit mit potenziell traumatischen Erlebnissen auseinander. Durch die filmische Vermittlung dieser Erfahrungen wird dem Zuschauer die Möglichkeit geboten, sich in einem geschützten Rahmen mit diesen kreativ auseinanderzusetzen. Durch die Vermittlung (biografischer) Erinnerungen gelingt es den Filmen Gegengeschichten zu erzählen, die ein breites, in der Regel internationales, Publikum erreichen. Gegengeschichten, die inner- wie außerhalb des fragmentierten palästinensischen Raumes sonst nur wenig Gehör finden. Dabei stellen sie nicht nur das vorherrschende israelische Narrativ des ‚palästinensischen Terroristen‘ infrage, sondern verweisen auch auf die unterdrückenden Strukturen in der palästinensischen Gesellschaft. Die Filme bieten keine Lösungsvorschläge, sondern werfen in ihrer Ambivalenz neue Fragen auf, ohne mit dem ‚moralischen Zeigefinger‘ auf die eine oder die andere Seite zu zeigen.

6.3 D AS „F REEDOM T HEATRE “: „G ENERATING C ULTURAL R ESISTANCE “ 94 One of the most important things the occupation hast succeeded in doing is to kill hope, to shut down the mind, and to kill the imagination. You can’t dream. You have a limit. (NABIL AL-RAEE, KÜNSTLERISCHER LEITER DES „FREEDOM THEATRE“, 2014)

Im April 2016 feiert das „Freedom Theatre“ sein zehnjähriges Bestehen. Zugleich jährt sich der Todestag von Juliano Mer-Khamis zum fünften Mal. Das

94 Aktueller Slogan des „Freedom Theatre’“. Zuvor: „Creation under Occupation“.

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„Freedom Theatre“ befindet sich seit seiner Eröffnung 2006 mitten im Flüchtlingslager Jenin. Als Basisorganisation gründet es auf der Überzeugung, dass Kunst eine unverzichtbare Waffe im Kampf gegen die Besatzung(en) und für die Etablierung einer unabhängigen Gesellschaft ist. Initiiert wurde das Projekt von Juliano Mer-Khamis, zusammen mit Zakaria Zbeidi95, dem ehemaligen Anführer der Al-Aqsa Märtyrerbrigaden, sowie von Jonatan Stanczak, einem israelischen Juden schwedischer Abstammung. Die Idee eines Theaters für Kinder und Jugendliche in Jenin geht auf eine Initiative von Mer-Khamis Mutter Arna, einer jüdischen Aktivistin, zurück, die während der ersten Intifada zwei Kinderhäuser im Flüchtlingslager gründete, um den Kindern Zugang zu elementarer Bildung zu ermöglichen. 1993 erhielt sie für ihre Arbeit den Alternativen Nobelpreis. Von dem Preisgeld eröffnete sie das sogenannte „Stone Theatre“, das während der israelischen Militärinvasion 2002 vollständig zerstört wurde. Mer-Khamis kam während der zweiten Intifada zurück nach Jenin, um zu sehen, was aus den Kindern geworden war, die Arna’s Theaterschule besuchten. Das „Stone Theatre“ befand sich im Haus eines ihrer Schüler, Zakaria Zbeidi. Wie die meisten Häuser im Zentrum des Camps wurde es während der israelischen Militärinvasion 2002 zerstört. Bei seinen Recherchen in Jenin begegnete Mer-Khamis Zakaria Zbeidi und erfuhr, dass sich die meisten Kinder der Theaterschule dem bewaffneten Widerstand angeschlossen hatten und im Kampf gegen Israel ums Leben kamen. Zwei der ehemaligen Schüler sprengten sich als Selbstmordattentäter in Israel in die Luft. Das Lebenswerk Arna’s und die Geschichte der Jungen des „Stone Theatre“ hielt Juliano in seinem 2004 erschienen Dokumentarfilm „Arna’s children“96 fest. Der Film erzählt nicht nur die Geschichte seiner Mutter und die der Kinder in Jenin, sondern er bietet darüber hinaus profunde Hintergrundinformationen über die Lebensumstände in Jenin sowie über den kulturellen Widerstand. Im April 2011 wird Mer-Khamis von bislang unbekannten Tätern vor dem „Freedom Theatre“ in seinem Auto erschossen. Durch seinen Tod wurde die

95 Zakaria Zbeidi (1976) galt mehrere Jahre als einer der meist gesuchten „TopTerroristen“ in Israel, als Anführer der Al-Aqsa Märtyrerbrigaden in Jenin und als mutmaßlicher Stratege bei der Durchführung von Selbstmordattentaten. Seit 2007 hat er der Gewalt offiziell abgeschworen, seine Waffen der PA übergeben und wurde von der israelischen Regierung amnestiert. Die Amnestie wurde im Dezember 2011 jedoch ohne Angabe von weiteren Gründen wieder aufgehoben. Zakaria Zbeidi hat vier auf ihn geplante Attentate überlebt. 96 Der Film ist online abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=cQZiHgbBBcI (Stand: 06.03.2016).

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Arbeit des Theaters in ihren Grundfesten erschüttert und bedurfte einer schwierigen Reorganisation; die Zukunft erschien durch die Abwesenheit des charismatischen Leiters, Lehrers, Freundes und Vorbildes ungewiss. Mer-Khamis’ gewaltsamer Tod entfachte Diskussionen über Theater, Besatzung und Widerstand weit über die palästinensischen Gebiete und Israel hinaus. Schon vor seiner Ermordung hatte das Theater mit Anfeindungen innerhalb und außerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu kämpfen. Die israelische Armee schikanierte Angehörige und ihre Arbeit. Gelegentlich kam es zu tätlichen Übergriffen und Verhaftungen. Konservative Kräfte innerhalb der palästinensischen Bevölkerung diffamierten das Theater als ‚nutzlos‘ und ‚unsittlich‘, nicht zuletzt aufgrund der Infragestellung bestehender gesellschaftlicher Normen, wie die strikte Trennung von Männern und Frauen. Es gab mehrere Morddrohungen und der Ermordung Mer-Khamis gingen zwei Brandanschläge auf das Theater voraus. Das Theater stand und steht von Anfang an im wahrsten Sinne des Wortes von allen Seiten unter Beschuss. Nach der Ermordung kam es vermehrt zu nächtlichen Razzien und Festnahmen von Theatermitgliedern seitens der israelischen Armee, obwohl sich die Beteiligten kooperativ zeigten und selbst ein großes Interesse an der Aufklärung des Mordes verfolgten. Einige von ihnen blieben einige Tage oder sogar mehrere Wochen und Monate in Gefangenschaft, teilweise ohne Vertretung durch einen Anwalt, wie beispielsweise Zakaria Zbeidi und der künstlerische Leiter Nabil Al-Raee 2012. Auch gegen ausländische Mitarbeiter, die die Kulturarbeit in Jenin unterstützten, gab es verstärkt Drohungen. Diese betrafen auch das kurz zuvor wiedereröffnete „Cinema Jenin“. Für die ausländischen Angehörigen wurde die Lage vor Ort so prekär, dass die meisten von ihnen Jenin verließen. Aber auch einige Palästinenser verließen Jenin, weil sie sich und ihre Arbeit bedroht sahen – einige von ihnen sind bis heute nicht nach Jenin zurückgekehrt. Es ist davon auszugehen, dass die Drohungen nur indirekt mit dem Mord an MerKhamis zusammenhängen. Gegner derartiger zivilgesellschaftlicher kultureller Einrichtungen dürften das Ereignis wohl für sich genutzt haben.97 Kurz nach Mer-Khamis’ Ermordung brachten die Schauspieler das Stück „Sho Khman“ („Was noch?“) auf die (internationale) Bühne; bei diesem Stück thematisieren die jungen Schauspieler das Leben unter israelischer Besatzung. Zugleich ist es ein Stück, das die Korruption und den Machtmissbrauch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft an den Pranger stellt. Es ist also nicht die Besatzung, die kritisiert wird, sondern die Besatzungen, die den Lebensalltag der

97 Vgl. auch: http://www.zenithonline.de/deutsch/kultur/film-theater/a/artikel/ein-trotzi ges-lebenszeichen-002285/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Palästinenser erschweren. Die Kritik bleibt in der Performance selbst immer abstrakt und muss auch abstrakt bleiben. Die Schauspieler sprechen, schreien, flehen, klagen an, aber nicht auf Arabisch, sondern in einer Fantasiesprache, die einerseits symbolisch dafür steht, dass die Palästinenser von der Welt nicht gehört oder verstanden werden, andererseits zum Schutz, denn direkte, unmissverständliche Kritik stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die ohnehin schon in permanenter Bedrohung lebenden Schauspieler dar. Wie bereits an anderer Stelle erläutert, gibt es beim „Freedom Theatre“, neben den regelmäßigen Theaterperformances, ein großes Angebot an unterschiedlichen Workshops für die jungen Bewohner, insbesondere für Frauen, in Jenin: Es gibt zum Beispiel Film- und Fotografie Workshops, kreatives Schreiben, Psychodrama und Playback-Theater. Für die Entwicklung des Playback-Theaters im palästinensischen Kontext zeigt sich besonders Ben Rivers verantwortlich. Rivers, Mitinitiator des „Freedom Bus“, arbeitet seit mehr als 15 Jahren in unterschiedlichen Teilen der Welt mit Menschen zusammen, die von struktureller Unterdrückung, politischer Gewalt und kollektiven Traumata betroffen sind. 2011 schloss er sich der Arbeit des „Freedom Theatre’“ an und bietet seitdem Playback-Theater Workshops in der Schauspielschule und beim „Freedom Bus“ an. Neuerdings (2014) gibt es für einige der Live-Performances einen Videomitschnitt, der auf der Homepage des „Freedom Theatre’“ abrufbar ist. Ben Rivers fasst die Kulturarbeit des Theaters wie folgt zusammen: The Freedom Theatre, since its establishment in 2006, has provided cultural programming to children, youth and young adults in Jenin Refugee Camp. The theatre has also devised a number of productions that critique the Israeli occupation and the Palestinian Authority’s role in repressing their own subjects. These plays are typically performed to residents of Jenin District or to audiences in Europe and USA. (Rivers 2015: 156)98

Seit 2008 verfügt das „Freedom Theatre“ über eine eigene Schauspielschule, in der junge Menschen aus den palästinensischen Gebieten eine dreijährige, professionelle Schauspielausbildung absolvieren können.99 Die Leitsätze „Generating

98

Rivers, Ben (2015), „Narrative power: Playback Theatre as cultural resistance in Occupied Palestine“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, 20:2, p. 155-172.

99

Die Absolventen der Theaterschule sehen sich nach ihrer Ausbildung mit großen Herausforderungen konfrontiert. Nur wenige können ihren Lebensunterhalt durch und mit ihrer Theaterarbeit bestreiten und sind für ihre nationale und internationale

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Cultural Resistance“ und „Creation under Occupation“ beinhalten deutlich, dass das Theater keine vermeintlich neutrale Position innerhalb des Konfliktes einnimmt, sondern sich vehement gegen die Besatzungspolitik Israels und die Unterdrückungsmechanismen in der palästinensischen Gesellschaft richtet. Die Verantwortlichen des „Freedom Theatre“ verstehen künstlerische Ausdrucksformen als integralen Bestandteil im Kampf um Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit und bezeichnen sich und alle Mitwirkenden in Anlehnung an MerKhamis als „freedom fighter“: What we are doing in the theatre is not trying to be a replacement or an alternative to the resistance of the Palestinians in the struggle for liberation. Just the opposite. This must be clear. I know it’s not good for fundraising, because I’m not a social worker, I am not a good Jew going to help the Arabs, and I am not a philanthropic Palestinian who comes to feed the poor. We are joining, by all means, the struggle for the liberation of the Palestinian people, which is our liberation struggle. Everybody who is connected to this project says that he feels that he is occupied by the Zionist movement, by the military regime of Israel, and by its policy. Either he lives in Jenin, or in Haifa, or in Tel Aviv. Nobody joined this project to heal. We’re not healers. We’re not good Christians. We are freedom fighters.100

Mer-Khamis gab dem Begriff des „freedom fighters“, dem ursprünglich die Konnotation des bewaffneten Kampfes innewohnt, eine neue Rahmung: Freiheitskämpfer können auch diejenigen sein, die sich mit gewaltfreien Mitteln im Widerstand gegen die Besatzung engagieren. Wenn Mer-Khamis von der Dringlichkeit einer neuen Intifada sprach, meinte er damit eine „kulturelle Intifada“, das heißt mit den Mitteln, die Kunst den Menschen zur Verfügung stellt. MerKhamis Anliegen war in dem Zusammenhang immer auch, die Frauen und Kinder in die Kulturarbeit einzubeziehen. Mit ihrer kulturellen Arbeit möchten die Verantwortlichen einen Raum eröffnen, in dem sich alle frei und gleichberechtigt ausdrücken können, in dem sie kreativ sein können, neue Realitäten erfinden

künstlerische Weiterbildung in der Regel auf externe Unterstützung angewiesen. Nur wenige Absolventen können dauerhaft am „Freedom Theatre“ bleiben. Zwei Absolventen des ersten Jahrgangs, Faisal Abu Alhayjaa und Ahmed Rokh, haben neben ihren schauspielerischen Aktivitäten am „Freedom Theatre“ den „Freedom Ride“ 2014 mitorganisiert und durchgeführt. 100 http://electronicintifada.net/content/interview-late-juliano-mer-khamis-we-are-free dom-fighters/9295 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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und erfahren sowie bestehende soziale und kulturelle Grenzen überwinden können. Wie „Cinema Jenin“ ist auch das „Freedom Theatre“ auf externe Förderer und Spenden angewiesen. Unterstützt wird das „Freedom Theatre“ von Stiftungen, Organisationen und Einzelpersonen, die auf unterschiedliche Weise die Arbeit und das Selbstverständnis des Theaters unterstützen. Ebenso gibt es in mehreren Ländern eine Reihe von sogenannten „Friends Associations“ wie in Schweden, Deutschland, England und den USA, die alle eine aktive Rolle in der weltweiten Vernetzung und im Fundraising einnehmen. Prinzipiell erweist sich die Geldbeschaffung aber selten als unproblematisch. Aufgrund der klaren Haltung gegenüber der israelischen Besatzungspolitik nehmen einige potenzielle Geldgeber Abstand von Projekten wie dem „Freedom Theatre“, weil sie nicht in Institutionen investieren wollen, die ‚allzu politisch‘ sind. 6.3.1 Märtyrer des kulturellen Widerstandes: Juliano Mer-Khamis Wie in Kapitel 4 erörtert, kommt Märtyrern eine ambivalente, identitätsstiftende Funktion zu, so auch den sogenannten Märtyrern des gewaltfreien, kulturellen Widerstandes – ein Begriff, den ich für diesen Märtyrertypus etablieren möchte. Ich beziehe mich hierbei beispielhaft auf den Mitbegründer des „Freedom Theatre’“, Juliano Mer-Khamis. Dieser kann als Grenzgänger par excellence verstanden werden; als jemand, der sich auf beiden Seiten des Konfliktes auskannte und bewegte und dadurch mit schmerzhaften Aushandlungsprozessen konfrontiert wurde. Juliano Mer-Khamis wurde 1958 als Sohn einer jüdisch-israelischen Mutter und eines christlich-palästinensischen Vaters in Nazareth, im Norden Israels, geboren. Befragt nach seiner Herkunft, beschrieb er sich in mehreren Interviews als „100 Prozent jüdisch und 100 Prozent palästinensisch“, das sei für ihn kein Widerspruch.101 Sein Leben lang stand er zwischen den ‚kaputten Stühlen‘ des Konfliktes: In Israel wurde er immer wieder daran erinnert, dass er der Sohn eines Araber sei, später, in Jenin, blieb er immer ein Israeli, ein Jude, egal wie sehr er sich als Teil der palästinensischen Gesellschaft begriff. Als Schüler ging er auf eine jüdische Schule, hatte jüdische Freunde und war anschließend auch in der israelischen Armee, in der Elitetruppe der Fallschirmjäger. Er habe damals ein guter, starker Jude sein wollen. Sein Vater habe deshalb jahrelang nicht mit ihm

101 Zum Beispiel: https://de.qantara.de/inhalt/interview-mit-nabil-al-raee-vom-freedomtheatre-wir-brauchen-mehr-zeit-um-mehr-freiheit-zu (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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gesprochen.102 Während seiner Militärdienstzeit, in der er in der Gegend um Jenin stationiert war, musste er für eineinhalb Jahre ins Gefängnis, weil er seinem vorgesetzten Offizier mit einem Gewehrkolben ins Gesicht schlug. Ursache hierfür war, dass der Offizier an einem Checkpoint zwischen Jenin und Haifa einen alten Palästinenser verprügelte. Mer-Khamis versuchte ihn zum Aufhören zu bewegen, aber er sei nicht zu stoppen gewesen. In einem Interview mit der TAZ sagte er, dass das der Moment gewesen sei, in dem seine ganze „verkorkste Identitätskonstruktion“, die Unterdrückung seiner palästinensischen Seite, explodierte.103 Mer-Khamis absolvierte eine professionelle Schauspielausbildung an der „Beit-Zvi School for the Performing Arts“ in Tel Aviv, spielte in zahlreichen israelischen Filmen und Theaterstücken und erwarb dadurch einen gewissen Bekanntheitsgrad innerhalb der israelischen Gesellschaft. Seine Mutter Arna ging während der ersten Intifada 1987 nach Jenin. Als Reaktion auf die Schließung der Bildungseinrichtungen durch die israelische Armee, gründete sie das alternative Bildungsprojekt „Care and Learning“. Dort fanden die Kinder des Flüchtlingslagers Zuflucht vor der zunehmend eskalierenden Gewalt. More than 1500 students from the camp attended her ,children’s centres‘, most of which were run out of people’s homes. Arna, an accomplished sculptor, believed art could provide the children with a means of expressing their feelings about the occupation.104

Innerhalb dieses Projektes engagierte sich Juliano Mer-Khamis in der Theaterarbeit. Für ihre Arbeit wurde Arna 1993 in Stockholm mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Von dem Preisgeld gründete sie das „Stone Theatre“105, in dem Juliano Mer-Khamis nun permanent mitarbeitete. Während dieser Zeit begann er einen Dokumentarfilm über die Arbeit seiner Mutter zu drehen. Als seine Mutter 1995 aufgrund ihrer schweren Krebserkrankung starb, ging MerKhamis zurück nach Tel Aviv und arbeitete als Schauspieler am etablierten „Habima Theater“. Erst sieben Jahre später, 2002, kehrte er nach Jenin zurück. Zu diesem Zeitpunkt lebte Mer-Khamis mit seiner Familie in Haifa. Anlass für seine Rückkehr nach Jenin waren Attentate in Haifa, die zwei seiner ehemaligen

102 http://www.taz.de/!68594 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 103 http://www.taz.de/!68594 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 104 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 105 In Anlehnung an die Kinder und Jugendlichen, die sich während der ersten Intifada mit Steinen gegen die israelische Besatzung wehrten.

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Schauspielschüler begangen hatten. Jenin war mittlerweile zu einem der Zentren des bewaffneten Widerstandes avanciert, und Mer-Khamis entschloss sich, den Film über seine Mutter und die Kinder des Flüchtlingslagers fertigzustellen. Die israelische Militärinvasion, die innerhalb weniger Tage das Zentrum des Flüchtlingslagers dem Erdboden gleichmachte, war gerade erst vorüber. Das „Stone Theatre“, das zum Haus der Familie Zbeidi gehörte, wurde komplett zerstört. Zurück in Jenin erfuhr Mer-Khamis, dass sich seine ehemaligen Schüler dem bewaffneten Widerstand angeschlossen oder Märtyrer-Attentate in Israel verübt hatten. Nur Ala’a Sabbagh und Zakkaria Zbeidi, beide zentrale Figuren der Al-Aqsa Märtyrerbrigaden in Jenin, lebten noch in Jenin.106 Der Film „Arna’s children“ erschien 2004. Er beschreibt die scheinbar unüberbrückbare Ambivalenz, dass Theater (sowie andere kulturelle Ausdrucksformen) einerseits einen Ausweg aus den Strukturen der Besatzung bieten kann, andererseits schließen sich die ehemaligen Schüler dem bewaffneten Widerstand an. Dies lässt sich als Ausdruck einer großen Ausweglosigkeit verstehen: Anders als in der westlichen Medienwelt in solchen Fällen oft suggeriert wird, sind die jungen Erwachsenen keineswegs zwangsläufig religiöse Fanatiker, sondern junge Männer, die ihre Familien und ihr Zuhause zu schützen versuchen. Tragischerweise zeigt der Film, der die Kraft des zivilen Widerstandes hervorheben möchte, gerade dessen Schwächen angesichts einer übermächtigen militärischen Besatzung. Wie weiter oben bereits erwähnt, gründete Juliano Mer-Khamis 2006 zusammen mit Zakaria Zbeidi und Jonatan Stanczak das „Freedom Theatre“ im Flüchtlingslager Jenin. In einem Amnestieabkommen mit Israel legte Zbeidi 2008 seine Waffen offiziell nieder und engagiert sich seither im kulturellen Widerstand. Mer-Khamis beendete seine israelische Schauspielkarriere, weil er nicht mehr gekonnt habe: Ich arbeitete damals in Tel Aviv als Schauspieler. Gleichzeitig drehte ich einen Film über Jenin. Ich bewegte mich in zwei Welten. […] Eines Abends in Tel Aviv schaute ich kurz vor der Aufführung durch den Vorhang: Der Saal war voll mit Soldaten. Ich kam damals gerade von der Beerdigung eines guten Freundes, der in Jenin erschossen worden war. Ich war dabei gewesen, als er starb. Jetzt sollte ich für die kulturelle Truppenbetreuung sorgen. Das konnte ich nicht tun. Ich weigerte mich aufzutreten.107

106 Im November 2002 wurde Sabbagh vom israelischen Militär getötet. 107 http://www.taz.de/!68594 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Ohne Zbeidi, der in Jenin während der zweiten Intifada zu einem lokalen Held avancierte, wäre das Projekt sicher gescheitert, weil Mer-Khamis und Stanczak aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln als Außenseiter innerhalb der palästinensischen Gesellschaft im Allgemeinen und Jenin mit seinen traditionellen, konservativen Strukturen im Besonderen galten. Zbeidi erwies sich so teils als Beschützer des Theaters vor den vielen Anfeindungen, die es innerhalb des Flüchtlingslagers erfuhr, teils rückte Zbeidis Engagement das Theater in die Nähe eines Fatah-Projektes108, was mitunter das Akquirieren von Spendengeldern erschwerte. Mer-Khamis wiederum, der sich aufgrund seiner Herkunft problemlos mit der israelischen Sprache und Strukturen auskannte, bot eine gewisse Sicherheit vor den Repressionen seitens der israelischen Armee. Stanczak lieferte das Startkapital: Stanczak, who had made 50.000£ playing the Stockholm real-estate market, supplied the start-up capital; the rest came from screenings of „Arna’s children“. Most of the original employees were volunteers, Stanczak refused a salary. Juliano and his partners rented a building […]. For the first few months, they slept on mattresses in the same room; Juliano hardly left the camp.109

Auch die jungen Theaterstudenten sahen sich mit vielschichtigen Herausforderungen konfrontiert, insbesondere die Frauen, die unter anderem als Huren bezeichnet und zum Teil von ihren Familien verstoßen wurden. Mer-Khamis gelang jedoch die zentrale Umdeutung vom Schauspieler hin zum Freiheitskämpfer. Er richtete sich damit nicht nur gegen die Besatzungsstrukturen der israelischen Gesellschaft, sondern übte gleichermaßen offen Kritik an der palästinensischen Gesellschaft, die ihre eigenen Subjekte unterdrückt. Mer-Khamis hielt an seinen Beziehungen zum bewaffneten Widerstand fest, ohne die das Theater nicht hätte bestehen können, und propagierte zugleich seine gewaltfreie Alternative, indem er beispielsweise eine dritte Intifada beschwor, die eine kulturelle sein sollte. Faisal Abu Alhayjaa, einer der im „Freedom Theatre“ ausgebildeten Schauspieler, beschrieb während eines persönlichen Gesprächs im Frühjahr 2014, wie Mer-Khamis sich innerhalb des Theaters für einen lebensbejahenden Widerstand engagierte und den Märtyrertod ablehnte. Diesem innerhalb der Gesellschaft etablierten Heldentypus versuchte er entgegen zu wirken.

108 Die „Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden“ sind Teil des bewaffneten Arms der Fatah. 109 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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In der Künstler- und Intellektuellenszene wurde Mer-Khamis dafür gefeiert und bewundert, dass er Israel verließ, um in Jenin, eine der (realpolitisch wie symbolisch) umkämpftesten Städte innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete, ein Theater zu gründen. Von anderen Seiten stand das „Freedom Theatre“ jedoch immer in der Schusslinie: Mer-Khamis und Stanzcak blieben als Juden und Israelis Außenseiter in Jenin; konservative Kräfte kritisierten den westlichen Einfluss oder sprachen sogar von einer zionistischen Verschwörung, welche die palästinensische Gesellschaft von innen heraus zerstören wolle. Zahlreiche Israelis wiederum betrachteten Mer-Khamis als Störenfried und rückten ihn in die Nähe eines Verräters.110 Interessanterweise erklärte der palästinensische Präsident Mahmud Abbas Juliano Mer-Khamis nach seiner Ermordung zu einem „shahid“, einem palästinensischen Märtyrer. Die Umstände seiner Ermordung konnten bis heute nicht geklärt werden. Das Theater, seine Mitarbeiter und Anhänger sehen sich dadurch weiterhin mit großen Schwierigkeiten konfrontiert.111 Jede Theorie um Mer-Khamis Ermordung entwickelte ein Eigenleben. Im Laufe der Zeit entstanden zahlreiche Mythen um Leben und Tod von Juliano Mer-Khamis: Es gibt Vermutungen, dass er von einem Palästinenser getötet worden sei, vielleicht sogar aus dem Flüchtlingslager selbst.112 Für diese Annahme spricht, dass Mer-Khamis permanent das konservativ-patriarchale System der Jeniner Gesellschaft kritisierte, die Ungleichheit im Umgang mit den Geschlechtern sowie die strengen religiösen Dogmen. Mitarbeiter des Theaters erzählten mir, dass das Schweigen im Camp, was seine Ermordung betrifft, auffällig sei. Sie äußerten, dass sie davon ausgehen, dass der Mörder im Camp bekannt sei, aber niemand ihn offiziell beim Namen nennen würde. Mer-Khamis war und bleibt eine umstrittene Persönlichkeit in Jenin. Kurz nach seiner Ermordung war nicht einmal absehbar, ob das Theater überhaupt bestand haben könnte. Der aktuelle künstlerische Direktor des Theaters, Nabil alRaee, wiederum glaubt nicht länger daran, dass Mer-Khamis aufgrund seiner potenziell negativen Einflussnahme auf die palästinensische Gesellschaft getötet wurde. Er gehe vielmehr davon aus, dass die Ermordung im Interesse eigen-

110 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 111 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 112 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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mächtiger Kräfte innerhalb der PA und der israelischen Regierung geschehen sei. Mer-Khamis wurde innerhalb der Künstler- und Intellektuellenszene nämlich nicht nur als künstlerischer Leiter des Theaters, sondern vor allem als politische Identifikationsfigur gesehen, was sowohl für die PA als auch für die Israelis eine potenzielle Bedrohung darstellte.113 Wieder andere Theorien rund um Mer-Khamis Tod handeln von Geld, Korruption und internen Machtkämpfen.114 Für die israelische Linke war Mer-Khamis‘ Ermordung ein harter Schlag. Für sie war (und bleibt) er ein Symbol für Solidarität, für Koexistenz und für einen bi-nationalen Staat. Die israelische Rechte wiederum wusste die Gerüchte, dass er von einem Palästinenser erschossen worden sein könnte, für ihre Polemik gegen einen Frieden mit den Palästinensern zu nutzen. So weist Adam Shatz auf die Aussage von einem Israeli namens Yehuda Dror hin: He lived among snakes, and one of them killed him with his bites. He proves to us once more that there is no one to talk to.115

Selbst Juliano Mer-Khamis’ Begräbnis lässt sich als Symbol seiner Zerrissenheit zwischen zwei miteinander verfeindeten Gesellschaften, die er zu verbinden versuchte, verstehen. Die Trauerfeier fand in Haifa und in Jenin statt, beigesetzt wurde er, wie seine Mutter Arna, auf dem Gelände des Kibbuz „Ramot Menashe“.116 Im Vergleich zu den üblichen Zeremonien für Märtyrer, für Menschen,

113 Dies äußerte Al-Raee in einem persönlichen Gespräch in Jenin, findet aber auch Erwähnung in dem bereits zitierten Onlineartikel von Adam Shatz: http://www.lrb.co .uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 114 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 115 http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-juliano-mer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 116 Aus einem Interviewauszug mit Juliano Mer-Khamis: „My mother could not be buried because she refused tob e buried in a religious ceremony or funeral. […] The religion is not separated from the state so all issues concerning the privacy of life – marriage, burial and many other aspects – are controlled by religious authorities, so you cannot be buried in a civilian funeral. The only way to do it is buy a piece of land in some Kibbutzim, which refused to sell us a piece of land because of the politics of my mother. […] And then I had to take the coffin home. And it stayed in my house for three days and I could not find a place to bury her. So I announced in a

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die für das palästinensische Volk ihr Leben ließen, blieb es laut Aussagen einiger Theatermitarbeiter relativ ruhig in Jenin.117 An dieser Stelle rückt wieder das Publikumsinteresse in den Fokus: Für das internationale, insbesondere das westlich-orientierte Publikum, für seine Anhänger und Kollegen, ist Juliano Mer-Khamis ein Held, ein Märtyrer des kulturellen Widerstandes, der sich mit dem Leidensnarrativ des palästinensischen Volkes verbindet. Für andere ist er ein unverbesserlicher Träumer, der seinen eigenen Idealen zum Opfer gefallen ist. Für wieder andere ist er ein Verräter an der israelischen respektive der palästinensischen Gesellschaft. Tragisch ist, dass das „Freedom Theatre“ nie so viel internationale Aufmerksamkeit genossen hat wie seit Mer-Khamis Ermordung. Gerade durch seinen gewaltsamen Tod und seiner Verehrung als Märtyrer des kulturellen Widerstandes, ergibt sich ein unauflösbares Paradox: Einerseits steht Juliano Mer-Khamis als Symbol für das Leben, für lebensbejahende Aktivitäten (im gewaltfreien Widerstand). Seine kreative Umdeutung vom Tod als eine identitätsstiftende Kategorie hin zu Leben als sinnstiftende Entität hat durchaus eine Verschiebung im Märtyrerdiskurs bewirkt. Andererseits stellt sein gewaltsamer Tod, der durchaus als Anschlag auf seine Ideale verstanden werden kann, gerade das Potenzial und die Wirkungsmacht des kulturellen Widerstandes erneut infrage.

press conference that she was going to be buried in the garden of my house. There was a big scandal, police came, a lot of TV and media, violent warnings were issued against me […] till I got a phone call from a Kibbutz, Ramot Menashe, […] they offered a piece of land there. And the funny thing is that while we were looking for a place to bury my mother, there were discussions in Jenin to bring her for burial there, in the shahid’s graveyard. They told me there was one Fatah leader, who was humorously saying ,Well, guys, look, it’s an honor to have Arna with us here, a great honor, the only thing is maybe in about fifty years’ time some Jewish archaeologists will come here and confiscate the land of Jenin.‘ They do it. Even if they find the Jewish bones of a dog, they take the place.“ http://electronicintifada.net/ content/interview-late-juliano-mer-khamis-we-are-freedom-fighters/9295

(zuletzt

aufgerufen: 06.03.2016). 117 Siehe auch: http://www.lrb.co.uk/v35/n22/adam-shatz/the-life-and-death-of-julianomer-khamis (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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6.4 D ER „F REEDOM B US “– TO BEAR WITNESS , TO RAISE AWARENESS , TO BUILD ALLIANCES The freedom ride represents the aspirations of the Palestinian people to freed from an illegal occupation,

to

exercise

rights

of

self-

determination and to demand justice after decades of oppression. The freedom ride represents as well the freedom of movement and a movement for freedom. Those who ride for and with Palestinians answer the call for global solidarity, and demand a free Palestine. We all must heed that call. (JUDITH BUTLER)118

2011 wurde der „Freedom Bus“, als eine Initiative des „Freedom Theatre’s“, unter anderem von dem australischen Theaterpädagogen Ben Rivers gegründet. In Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Gemeinden in der Westbank, die sich im gewaltfreien Widerstand engagieren, werden kulturelle und politische Veranstaltungen organisiert. Auf die Frage, wie genau die Idee zum „Freedom Bus“ entstand, erzählt mir Ben Rivers in einem Interview119: In 2010 I was in contact with the „Freedom Theatre“ and they invited me to come and teach Playback-Theatre in the acting school. It took a year to design the program and to get funding. I arrived in September 11 and began teaching. And this was several months after Juliano’s assassination and in October the military was conducting extensive military raids in the camp – more than usual – and arresting many people in connection to a socalled „murder-investigation“. They said they were investigating the murder of Juliano, but really it was an excuse for harassment. In this investigation they also targeted many members of the „Freedom Theatre“; eight staff members were arrested and detained and some of them were tortured. But usually people were held for one night and then released the next day. And there were many other people in the camp and in the city also being ar-

118 Die jüdische in den USA lebende und lehrende Philosophin und Philologin Judith Butler ist, wie unter anderem auch der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu, der Philosoph und Linguist Noam Chomsky und die 2014 verstorbene Bürgerrechtlerin Maya Angelou, eine der prominenten internationalen Unterstützerinnen des „Freedom Bus“. Vgl. www.thefreedomtheatre.org (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 119 Das Interview wurde im Frühjahr 2014 geführt.

262 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND rested. So we decided to hold an action to bring awareness to what was happening and we chose to use Playback-Theatre. So we did a performance in the streets of the camp. It was the very first Playback-Theatre performance. And we invited anyone who has been arrested and imprisoned or otherwise affected by these military raids to come and tell their story. And it was quite an impromptu event. We actually decided to do it the day before it happened. I remember the night before the performance; we were inviting people to come to the rehearsal space to share their story; so the actors could get used to hearing them and enacting them. And then, the next day at 2.30 pm, we held the performance in an outdoor space in the camp and in that night the military raided the camp again and this time they came to the house of Faisal.120 They broke down the door and entered his room. They were eight heavily armed soldiers and they dropped him out of his bed, they handcuffed him and marched him through the streets of the camp to the place where the performance happened and they blindfolded him and then they took him to the nearby jail and they spent the night interrogating him about his work and actors. So it was clearly another case of harassment and intimidation and you know, barely concealed as „murder investigation“. This is how we started.

Die Ereignisse rund um die Gründung des „Freedom Bus“ verdeutlichen, wie brisant ein Theaterprojekt in politisch umkämpfen Gesellschaften sein kann und dass insbesondere die Schauspieler reellen Gefahren ausgesetzt sind, so dass Theater – genauso wie Film – nicht nur als künstlerische Angelegenheit betrachtet werden kann. Während sich die Aufführungen des „Freedom Theatre’s“ aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser nur an ein Publikum aus dem Distrikt Jenin sowie an ein internationales Publikum richten können, zeichnet sich der „Freedom Bus“ durch seine Mobilität aus. Der reisende Bus bietet vor allem Menschen in „Area C“ eine gute Möglichkeit des Zugangs zu Theater und anderen kulturellen Aktivitäten. Jedes Frühjahr findet der zweiwöchige „Freedom Ride“121 statt, bei dem Palästinenser sowie internationale Teilnehmer

120 Faisal Abu Alhayjaa, einer der Schauspieler des „Freedom Theatre“ und Mitinitiator des „Freedom Bus“. 121 Der „Freedom Ride“ bezeichnet eine Widerstandsform, die in den 1960er-Jahren aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entstand. Die „Freedom Rider“ waren an der Abschaffung der staatlich sanktionierten Rassentrennung beteiligt, indem sie – Schwarze und Weiße gemeinsam – in großen Überlandbussen durch die Südstaaten fuhren um die Umsetzung des Verbots der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln, Gaststätten und Wartesälen zu testen. Die „Freedom Rider“ verpflichteten sich vor Reiseantritt dem gewaltfreien Widerstand, waren sich aber

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gemeinsam durch die Westbank reisen und politische und kulturelle Events gestalten. Diese finden in erster Linie im Jordantal und den South Hebron Hills statt, das heißt in Gebieten, in denen den Palästinensern beständig der Zugang zu Land, Wasser, Elektrizität, Bauwesen, Gesundheits- und Bildungswesen verweigert wird. Jüdische Siedler hingegen erhalten diese Zugänge und Möglichkeiten automatisch. Darüber hinaus sind die palästinensischen Bewohner der „Area C“ mit regelmäßigen Zerstörungen ihrer Häuser, Konfiszierungen (inklusive Tieren) und täglichen Schikanen seitens der Siedler und der israelischen Armee konfrontiert (siehe Kapitel 3). Im Interview führt Rivers in diesem Sinne weiter aus: We are also inspired by the „Freedom Ride“ that took place in August or September 2011. There were a group of Palestinian activists who bord a „settler’s only bus“.122 And by other „Freedom Rides“ that have taken place in the mid-sixties for example. In particular what inspired us about the „rides“ was that they historically brought together the oppressed groups and allies who were coming to see with their own eyes the realities of segregation and apartheid. You’re no longer reading about it, you’re coming and directly witnessing it. So this is one thing that inspired us about the „rides“. And the other thing was the element of civil disobedience, that people were breaking the laws basically. From the beginning we hoped that the „Freedom Rides“ could include some element of civil disobedience. I see the building of the school in Samra as an act of civil disobedience, because there’s no permit to build the building.123 This is how Palestinians have chosen to engage in civil disobedience. They know, for example in Mufaqara, the mosque was built many, many times with the knowledge that it will be destroyed again. So that in itself becomes a protest. The idea developed as Faisal, Ahmed, Samer and myself travelled through the Westbank and we met with different cultural organizations, with activists, with human rights organizations and we presented the idea of holding a „Freedom Ride“ in September 2012 where people from around the world and Palestinians from other parts of Palestine

durchaus darüber im Klaren, dass sie Aufruhr und Verhaftungen ausgesetzt sein könnten. 122 Siehe

hierzu:

http://972mag.com/photos-freedom-riders-attempt-to-desegregate-

west-bank-busses/27879/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 123 Zusammen mit den Teilnehmern des „Freedom Ride“ im Frühjahr 2014 und Bewohnern Samras, einer kleinen Gemeinschaft im Jordantal, haben wir eine Schule für die Kinder aus Samra und den umliegenden Dörfern weitergebaut. Es dauerte nicht lange bis die israelische Armee kam und versuchte Unruhe zu stiften und uns von der Arbeit abzuhalten. Alle haben sich gemeinsam unter einen großen Baum gesetzt, Widerstandslieder gesungen (beispielsweise „We shall overcome“) und Theater gespielt.

264 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND will travel together and visit communities. And there was an enormous support for this idea wherever we went. And we also consulted with this groups and organizations to gather their important ideas and in each area we went, people kind of suggested the communities we should include in the first „Freedom Ride“.124 The next step was to present Playback-Theatre in these communities. We usually did very intimate events like in Nabi Saleh. Our first performance was the living-room of Bilal and Manal’s house.125 They invited leaders of Popular Struggle movement and the village and they were sitting around the couch and that’s where the Playback performance took place.

Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des „Freedom Bus’“ sind neben den Playback-Theater Veranstaltungen auch kulturelle Veranstaltungen wie das traditionelle Geschichtenerzählen („Hakawati“), Livemusik, Comedy, Filmabende, Theaterworkshops und seit 2013 die sogenannten „solidarity stays“. Während mehrtägiger Veranstaltungen bilden die Teilnehmer mit den Bewohnern eines (in der Regel kleinen, landwirtschaftlich geprägten) Ortes eine Gemeinschaft und gestalten den Alltag miteinander. Dazu gehören auch (Wieder-)Aufbauarbeiten, friedliche politische Aktionen, Diskussionen und Vorträge von und mit den Einheimischen. Eine wichtige Aufgabe für die internationalen Teilnehmer ist die sogenannte „protektive Anwesenheit“, das bedeutet beispielsweise, dass Kinder, die akut von Siedlergewalt bedroht sind, auf ihrem Weg zur Schule begleitet werden (Kapitel 4). Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der „Freedom Bus“ kulturelle und politische Aktivitäten miteinander verschmelzen lässt, mit dem ausdrücklichen Ziel, den unbewaffneten Widerstand zu fördern und die permanent von physischer und psychischer Gewalt bedrohten Menschen in ihrem von Willkür geprägten Alltag zu unterstützen. Dabei besteht der „Freedom Bus“ aus einer festen Truppe von palästinensischen Schauspielern aus den besetzten palästinensischen Gebieten und Israel.126

124 Ein Merkmal des gewaltfreien Widerstands ist seine De-Zentrentalisierung. Interessanterweise wird dieser beim „Freedom Bus“ durch die Vernetzung unterschiedlicher Gemeinschaften ein Stück weit zentralisiert. 125 Bilal und Manal Tamimi sind wichtige Vertreter des zivilen Widerstands in Nabi Saleh. Während eines Forschungsaufenthaltes konnte ich zwei Tage mit ihnen verbringen und an einer der bekannten Freitagsdemonstrationen teilnehmen. Siehe Kapitel 4. 126 Dass es sich um ausschließlich palästinensische Schauspieler (aus Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten) handelt, ist kein Zufall. Durch den gemeinsamen kulturellen Hintergrund, können sich die Schauspieler entsprechend in die Erzählun-

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Außerhalb der jährlichen „Freedom Rides“ veranstalten sie Playback-Theater in Städten, Dörfern, Flüchtlingslagern, Bedouinengemeinschaften sowie in angrenzenden arabischen Ländern, wie beispielsweise in Ägypten während des arabischen Frühlings. Darüber hinaus möchte der „Freedom Bus“ den internationalen Teilnehmer die Auswirkungen der Besatzung deutlich machen und, durch das Weitertragen der Geschichten in den jeweiligen Heimatländern, internationale Solidarität mit den Palästinensern befördern. 6.4.1 Beispiel: „The Empire plays back“: Playback-Theater als Form des kulturellen Widerstandes Beit Sahour, März 2014: Am Ende des „March Freedom Ride’s“ findet ein letztes Playback-Theater Event im „Alternative Information Centre“ (AIC)127 in Beit Sahour, nahe Bethlehem, statt. In dem Raum befinden sich etwa 60 Personen aus unterschiedlichen Kontexten. Palästinenser, israelische Menschenrechtsaktivisten, US-amerikanische Juden, internationale Künstler und Menschen, die ganz zufällig zu dem Event gekommen sind. Die drei Schauspieler sitzen ruhig auf ihren Stühlen, dem Publikum zugewandt. Auf der linken Seite befinden sich die Plätze für den Moderator, den Erzähler sowie für den Übersetzer; auf der rechten Seite ist der Platz für den Musiker. Diese wenigen Markierungen kennzeichnen die kleine Bühne. Die Veranstaltung beginnt mit einem traditionellen palästinensischen Lied, das die Schauspieler gemeinsam anstimmen. Danach gibt es kein Skript mehr. Alle Darbietungen sind improvisiert und Lebensgeschichten, die Teilnehmer aus dem Publikum miteinander teilen. Niemand weiß, wer erzählen wird oder welche Geschichten miteinander geteilt werden. Saber aus Jenin erzählt seine Geschichte: Wir leben im Flüchtlingslager Jenin. Mein Vater war Bäcker. Nach der Arbeit habe ich ihn oft abgeholt, bin neben ihm hergelaufen und habe Fußball gespielt. An diesem Tag im Frühjahr 2002 fiel er plötzlich zu Boden. Überall war Blut. Ich beugte mich über ihn und rief seinen Namen. Aus den umliegenden Häusern kamen die Menschen und trugen meinen Vater zu uns ins Haus. Er sagte zu meiner Mutter, dass sie immer gut auf uns Kinder aufpassen solle. Er starb, weil der Krankenwagen, aufgehalten vom israelischen Militär,

gen hineinversetzen bzw. haben selbst ähnliche Erfahrungen gemacht. Dies kann aber auch zu Schwierigkeiten, wie beispielsweise Re-Traumatisierungen, führen. Auf diese Problematik wird weiter unten ausführlicher eingegangen. 127 Siehe hierzu auch die Webseite: http://www.alternativenews.org/english/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

266 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND das seinerzeit ständig im Camp war, nicht rechtzeitig bei uns zu Hause war. Meine Mutter schickte mich und meinen Bruder in unser Zimmer. Wir sollten uns schlafend stellen, weil die israelischen Soldaten kamen, um den Vorfall zu untersuchen. Ich hielt es im Bett aber nicht aus und schlich zur Tür. Ich schaute durch einen kleinen Spalt. Ich sah meine Mutter in der Küche stehen, wie sie den Soldaten freundlich Tee anbot. Da ist etwas kaputt gegangen in mir. Gerade erst wurde doch mein Vater von israelischen Soldaten erschossen. Erst Jahre später, als bereits erwachsener Mann, fragte ich meine Mutter, warum sie das getan habe. Sie sagte zu mir: „Saber, hör gut zu. Egal was sie uns antun, wir dürfen unsere Menschlichkeit nicht verlieren. Seine eigene Menschlichkeit zu bewahren ist das Wichtigste.“ Für mich ist meine Mutter ein sehr mutiger Mensch und mein größtes Vorbild.

Saber erzählt seine Geschichte ruhig und sachlich. Er spricht nicht als Opfer. Er möchte einfach, dass die Menschen in dem kleinen Raum ihm zuhören. Nachdem er seine Geschichte erzählt hat, wählt er einen der Schauspieler aus, ihn selbst zu spielen. Die Musik beginnt. Die Schauspieler stehen auf. Sie eröffnen damit die kleine Bühne und beginnen mittels Körpersprache, einzelnen Tönen und Wörtern, Mimik, Gestik und Bewegung Sabers Geschichte zurückzuspielen. Das Stück berührt die Menschen im Publikum. Einige haben Tränen in den Augen, andere schluchzen laut auf. 6.4.1.1 Playback-Theater nach Jonathan Fox und Jo Salas Playback-Theater ist eine Form des spontanen, interaktiven und improvisierten Theaters und wurde in den 1970er-Jahren von Jonathan Fox und seiner Lebenspartnerin Jo Salas in New York entwickelt und versteht sich als interaktives Theater, das sich mit den Alltagserfahrungen einzelner Menschen und Gruppen in ihren jeweiligen Lebenswelten auseinandersetzt. Die von einem Moderator angeleiteten Geschichten werden nach der Erzählung von Schauspielern auf der Bühne mittels Körperausdruck, Sprache und Musik improvisiert in Szene gesetzt. Das Playback-Theater folgt dabei festen Strukturen und Ritualen, die einen Dialog ermöglichen, der die Geschichten hinter den Geschichten sowie die einander verbindenden Erfahrungen sichtbar macht. Strukturierung und Ritualisierung bedeuten natürlich nicht, dass die Aufführungen jedes Mal identisch sind, sondern ausgewählte Strukturen und Rituale bilden die Rahmung der unterschiedlichen Geschichten, die jeder Performance ihre Individualität verleihen. Gearbeitet wird mit Körpertechniken, mit Metaphern und mit rhythmischen Strukturen, sodass Wort und (Kon-)Text in den Hintergrund gelangen; im Playback-Theater hat die Handlung Vorrang vor dem gesprochenen Wort.

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Nach Fox und Salas dient Playback-Theater der Förderung von Zusammenhalt und schafft Verbindungen zwischen den Menschen.128 Es ist ein möglicher Weg, die Erfahrungen von Einzelnen, von Gruppen und Gesellschaften zu erzählen, beispielsweise um soziale und politische Gerechtigkeit zu fördern. Playback-Theater beruht auf dem Selbstverständnis, dass jede Geschichte es wert ist, gehört zu werden und jedem Menschen das Recht zukommt, seine eigene Geschichte, das heißt die eigene subjektive Wahrheit, zu erzählen. PlaybackTheater funktioniert in diesem Sinne nicht ohne den soziokulturellen und politischen Kontext, in dem es stattfindet, und muss entsprechend in diesen eingebunden werden. Im Folgenden geht es um die Bedeutung des Playback-Theaters als Mittel des kulturellen Widerstandes, sowie dessen Potenzial zur Verarbeitung von Erfahrungen extremer physischer und psychischer Gewalt und Besatzung. In diesem Zusammenhang scheint die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen es einen Dialog zwischen Israelis und Palästinensern befördern könnte, in ihrer Ambivalenz unverzichtbar. In the Palestinian context, we have found that this approach [Playback-Theater, Anmerkung A.R.] holds greatest utility in its abilitiy to stimulate critical consciousness and mobilize people within the overarching popular struggle movement. (Rivers 2013c: 4)129

6.4.1.2 Typische Handlungsverläufe130 Während eines typischen Playback-Theater Events bittet der Moderator einen Teilnehmer aus dem Publikum auf die Bühne, um eine Geschichte aus dem eigenen Leben zu erzählen. Die Schauspieler und Musiker hören der Geschichte aufmerksam zu und inszenieren sie anschließend in einem improvisierten Theaterstück. Wie weiter oben schon erwähnt, ist Playback-Theater stark ritualisiert. Das in der Regel 90-minütige Event, indem etwa drei oder vier Geschichten miteinander geteilt werden können131, beginnt und endet mit einem traditionellen

128 Siehe hierzu auch: http://www.playbacktheaternetzwerk.de/playbacktheater.html (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 129 Rivers, Ben (2013c, unveröffentlicht), „Beyond Testimony. Playback Theatre as Cultural Resistance in Occupied Palestine“, S. 1-39. 130 Ich konzentriere mich hierbei auf die Erklärungen und Erläuterungen von Ben Rivers aus einem gemeinsamen Playback-Theater Workshop in At-Tuwani 2014. 131 Vor oder zwischen den Geschichten werden nicht selten sogenannte „short forms“ gespielt, die die Emotionen des Publikums zurückspielen.

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palästinensischen Lied, meist einem bekannten Widerstandslied aus der Zeit der ersten Intifada. Auch wie die Schauspieler und Musiker die Bühne betreten, verlassen und sich während sowie zwischen den Stücken auf dieser positionieren und bewegen, folgt festen Regeln und Ritualen. Ebenso sind die Plätze für den Moderator, den Übersetzer sowie dem jeweiligen Erzähler klar definiert. Der Moderator stellt Fragen, die dem Erzähler eine Hilfestellung bieten, die persönliche Geschichte zu erzählen. Dies umfasst Fragen nach Ort, Zeitraum und Ablauf des Geschehens sowie nach den persönlichen Empfindungen. Nachdem die Geschichte erzählt ist, blickt der Moderator zu den Schauspielern. „Let’s watch!“132 ist das Signal mit der Inszenierung zu beginnen. Nach jedem Stück werden sowohl die Erzähler als auch die jeweilige Geschichte gewürdigt. Der Moderator bedankt sich und fragt, ob der Erzähler die eigene Geschichte in der Aufführung wiederfinden konnte. Die Schauspieler positionieren sich so auf der Bühne, dass sie den Erzähler direkt anblicken. Die Hände liegen am Herzen und öffnen sich in einer großen Geste hin zum Erzähler. Rivers (2013a: 166)133 fasst zusammen: Ritual holds together ambiguities, complexities, and paradoxes in a way rational thought cannot. […] Space for complexity and paradox is especially essential in regions of oppression and violence, where the overwhelming need for a cohesive, large group-identity can result in the exclusion of divergent narratives. […] Audience members [Erzähler mit eingeschlossen, Anmerkung AR] have expressed their appreciation for an aesthetic space that welcomes diverse emotions and complex narratives – an opportunity so often denied in the prevailing quest for order, sense and survival.

Durch den stark ritualisierten Rahmen ist Playback-Theater im postkolonialen Verständnis ein liminaler Raum par excellence.134 Es lebt davon, dass die Ge-

132 Im palästinensischen Kontext „Helen He’schuv“. 133 Rivers, Ben (2013a), „Playback Theatre as a response to the impact of political violence in occupied Palestine“, in: Applied Theatre Research, 2013, Vol. 1, No.2, S. 157-176. 134 In Anlehnung an Arnold van Gennep versteht der Religionswissenschaftler und Ethnologe Victor Turner unter Liminalität einen Schwellenzustand, in dem sich Individuen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben. Durch dieses Aufheben der Klassifikationssysteme der alltäglichen Sozialstruktur, befinden sich die Individuen in einem mehrdeutigen Zustand; sie besitzen

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schichten spontan entstehen. Das heißt, dass die Erzähler mit ihren Geschichten nie im Vorfeld ausgesucht werden sollen. Der Handlungsverlauf entwickelt sich über das sogenannte „red-thread-Konzept“, dem sprichwörtlichen roten Faden, der sich durch die einzelnen Geschichten zieht, die so aufeinander aufbauen, miteinander korrespondieren und kollidieren. Dadurch können sie in einen Dialog miteinander treten und eine kollektive und multiperspektivische Erlebensund Erfahrungswelt erzeugen. Dies kann wiederum zur Wahrnehmung einer gemeinsamen ‚Widerstandsgeschichte‘ führen. Dabei muss unbedingt berücksichtigt werden, dass gerade in politisch unterdrückten und/oder konservativ geprägten Milieus die Möglichkeiten, in dem Menschen divergierende Narrative miteinander teilen können, mitunter sehr begrenzt sind. In der Westbank gibt es beispielsweise einige Orte, in denen gemischt-geschlechtliche Veranstaltungen nicht geduldet werden und/oder nicht alle Besucher einer Playback-Theater Veranstaltung als potenzielle Erzähler partizipieren dürfen. Bei den von mir besuchten Performances war auffällig, dass zunächst wichtige Vertreter der Gemeinschaft eine Geschichte erzählten und auch bei den gemischt-geschlechtlichen Events eher Männer als Frauen ihre Geschichten teilten. Ganz im Gegensatz zu At-Tuwani in den South Hebron Hills; dort wird insbesondere die Bedeutung der Rolle der Frau für den kulturellen Widerstand hervorgehoben. So haben dort einige der Frauen der Schließung des Kindergartens bzw. der Konfiszierung des Spielzeuges seitens der israelischen Armee gewaltfrei Widerstand geleistet. Der Kindergarten war während meines Aufenthalts trotzdem geschlossen, dennoch machten die Frauen in Gesprächen deutlich, wie wichtig es für sie gewesen sei, die Gewalt und Zerstörung nicht ‚einfach so‘ über sich ergehen zu lassen.

6.5 P LAYBACK -T HEATER ALS F ORM DES KULTURELLEN W IDERSTANDES Others need to know the truth. You’re telling a wider audience that unjust situations do not happen to nameless people. They actually happen to human beings with names and lives and emotions – people with flesh and blood. They’re not

weder Eigenschaften ihres vorherigen, noch welche des zukünftigen Zustandes – sie sind „betwixt and between“ (siehe auch Kapitel 1). Beim Playback-Theater gilt dies für alle Beteiligten, für den Moderator, Erzähler, Übersetzer, Schauspieler, Musiker und Publikum.

270 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND a number, or a story in a newscast or on a website… Through Playback Theatre the audience can see the reality. This helps them to understand the injustice, which in turn contributes towards lifting the injustice. For how can you end injustice if you don’t understand what injustice does? Or how can you end injustice if you don’t feel what injustice does? (SA’ED ABU-HUJLEH, NABLUS)135

Ich gehe davon aus, dass Playback-Theater einen Frei-Raum für GegenGeschichten kreiert, in dem Individuen und Gemeinschaften miteinander aushandeln können, wie tief sie von politischer Gewalt und potenziell traumatischen Erlebnissen betroffen sind, wie sie auf diese antworten (können) und diese mit ‚Sinn‘ belegen (können). Playback-Theater ist ein Kommunikationsmedium zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft, aber auch über diese hinaus, zwischen unterschiedlichen Dörfern und Städten oder per Videokonferenz sogar zwischen der Westbank und dem Gazastreifen.136 Wie einleitend erläutert, bin ich ferner der Meinung, dass nicht alle Formen von Extremerfahrung unweigerlich zu einem Trauma respektive einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. Extremerfahrungen werden von jedem Individuum unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Posttraumatische Symptome treten häufig erst Jahre nach einer Extremerfahrung auf. Dies zeigt sich zum Beispiel an den verstärkt in den 1960er-Jahren aufkommenden Studien zum Umgang mit der Shoah, die insbesondere auch unter jüdischen Wissenschaftlern einen regelrechten Boom innerhalb der Traumaforschung auslösten.137 Bei möglichen posttraumatischen Belastungsstörungen muss immer der soziopolitische Kontext berücksichtigt werden, die Betroffenen gelten nämlich nicht nur als krank, sondern auch als Opfer. Seelischer Schmerz und moralisches Unrecht sind eng miteinander verbunden (vgl. Brunner 2014). Traumapolitik ist

135 Zitat aus: Rivers, Ben (2013a), S. 173. 136 Westbank und Gazastreifen sind komplett voneinander isoliert, Bewegungen zwischen beiden Gebieten sind nur in seltenen Ausnahmen für Palästinenser möglich. Aber auch die Gemeinschaften innerhalb der Westbank unterliegen strikter Kontrolle und Abgrenzung, indem die Bewegungsfreiheit durch Checkpoints, Barrieren, Siedlungen, ‚settler only roads‘ stark eingeschränkt sind. 137 In Deutschland war lange Zeit das 1967 publizierte Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ von den Psychoanalytikern Magarete und Alexander Mitscherlich wegweisend.

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dynamisch, vielschichtig und mehrdimensional. Beispielsweise können psychologische und psychiatrische Fachdiskurse betroffenen Personengruppen zu staatlicher Anerkennung als Opfer verhelfen (zum Beispiel durch Entschädigungsleistungen), sie können Personengruppen aber auch als ‚Simulanten‘ stigmatisieren, wie es aktuell in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik der Fall ist. Politische Funktionen erfüllen Traumadiskurse aber auch [indem] sie Freiräume des Widerstands gegen herrschende Diskursformen der Zivilgesellschaft und Machtstrukturen des Staates legitimieren oder ihnen Sinn und Logik absprechen. (Brunner 2014: 14)

In der Regel befassen sich Forschungen zu kollektiven Traumata mit dem Leid einer konkreten Gruppe, eine Vorgehensweise, die im israelisch-palästinensischen Kontext nicht ergiebig ist. Die Gewalt richtet sich nicht gegen die Individuen auf der jeweils anderen Seite, sondern explizit gegen deren Existenz in einem territorialen Kontext, dessen Grenzen äußerst dynamisch, flexibel und willkürlich sind. Die als existenziell wahrgenommene Bedrohung führt dazu, dass sich Israelis wie Palästinenser als Opfer betrachten und der jeweils anderen Seite die alleinige Täterschaft zuschreiben. Wie an anderer Stelle bereits erläutert, beeinflussen sich diese Narrative wechselseitig und sind nicht komplett getrennt voneinander zu betrachten. Schwierig ist in diesem Sinne auch die Bezeichnung post-traumatisch, weil die Situation in den palästinensischen Gebieten nicht als post-traumatisch erfahren wird bzw. erfahren werden kann. Vielmehr ist die Unterdrückung und Besatzung eine fortwährende Erfahrung, sie ist gegenwärtig und alltäglich. Auch Eyad Hallaq weist in seinem Artikel „An Epidemic of Violence“ darauf hin, dass sowohl Israel als auch Palästina sich zu Gesellschaften entwickelt hätten, in denen Gewalt zu einem Bestandteil der Normalität geworden sei und nicht etwa Ausnahmezustand. Nicht verarbeitete, multigenerationale Erfahrungen seien omnispräsent.138 Es sei noch einmal deutlich betont, dass neben den soziokulturellen Faktoren auch die individuellen Umgangsweisen mit Erfahrungen extremer Gewalt Berücksichtigung finden müssen, um die Betroffenen nicht voreilig in die Rolle des passiven, handlungsunfähigen Opfers zu drängen. Natürlich gibt es zahlreiche Individuen, die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln, andere wiederum aber entwickeln Aus-

138 Hallaq, Eyad (2003), „An Epidemic of Violence“, in: Palestine-Israel Journal, 10:4, 2003, S. 37-41.

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drucksformen für ihr Leid, die keineswegs pathologisch sind, bei wieder anderen lassen sich keine offensichtlichen Auswirkungen durch die Gewalterfahrungen feststellen. Im Gegenteil entwickeln sie positive, mobilisierende Kräfte und Ressourcen, die als „adversity activated development“ (AAD) bezeichnet werden.139 Auch Ben Rivers hält in diesem Sinne fest: The motif of resilience and sumud [Hervorhebung im Original, A.R.] is one that appears in virtually all aspects of Palestinian culture and identity, reminding us that experiences of extreme adversity do not necessarily result in trauma. (Rivers 2014: 4)140

Palästinenser aber, die therapeutische Hilfe zur Bearbeitung ihrer Extremerfahrungen benötigen, haben vielfach aufgrund fehlender bzw. unzureichender Finanzierung und Unterstützung, nur beschränkt Zugang zu entsprechenden medizinischen bzw. psychosozialen Einrichtungen. Ben Rivers weist darauf hin, dass zahlreiche Betroffene darüber hinaus die Sorge vor sozialer Stigmatisierung äußern, nämlich die Sorge von anderen für verrückt erklärt zu werden. PlaybackTheater kann hier eine sinnvolle Alternative oder ein zusätzliches Angebot sein, erfahrenes Leid aufzuarbeiten. […] Performances in zones of conflict offer a space where experiences that are difficult to face or comprehend are condensed, given dimension, and framed so that they can be recognized and reviewed. (ebd.)

In diesem Sinne sind die Erzähler nicht mehr allein mit ihren Erinnerungen und den damit verbundenen Emotionen. In der ästhetischen, körperlichen Rückspiegelung werden sie bei der Rückkehr zu den schmerzhaften Erinnerungen begleitet und erfahren durch das Teilen ihrer Geschichte Wertschätzung und Anerkennung. Die individuelle Entscheidung, die eigene Geschichte zu erzählen, nimmt etwas von der erfahrenen Macht- und Hilflosigkeit und kann durchaus als „empowerment“ verstanden werden. Die durch den Erzählvorgang vorgenommene Rekonstruktion von Ereignissen, ermöglicht es, Vergangenes von Gegenwärtigem zu trennen. Diese implizite

139 Siehe auch: Papadopoulos, Renos K. (2012), „Therapeutic Witnessing and Storied Communities: Trauma, Resilience and Adversity-Activated Development“, Colchester; London: Centre for Trauma, Asylum and Refugees, University of Essex and The Travistock Clinic. 140 Zitiert aus einem unveröffentlichten Aufsatz von Ben Rivers. Rivers, Ben (2014), „Cultural Resistance and the Limits of Trauma Discourse“, S. 1-7.

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Verschiebung bzw. Änderung von Perspektiven kann eine große Rolle innerhalb der Rekonvaleszenz spielen, indem es Erlebtes und Erleben anders bewerten kann. Persönliche Bestätigung und sozialer Zusammenhalt können als Gegengewicht zu den erlebten Brüchen und Entfremdungen fungieren. Gerade aber durch die starke emotionsgebundene Komponente, die Playback-Theater innewohnt, besteht auch die Gefahr der Verletzung und Enttäuschung. Es kommt beispielsweise immer wieder vor, dass ein Erzähler die eigene Geschichte in der Performance nicht (ausreichend) wiederfindet und/oder dass erwartete Publikumsreaktionen ausbleiben. Bei Letzterem kann der Moderator insofern intervenieren, indem das Publikum nach durch die Performance entstandenen Gefühlen befragt wird und diese von den Schauspielern mittels der „short forms“ zurückgespielt werden. In der Regel finden darüber hinaus im Anschluss evaluierende Gespräche mit allen Beteiligten statt, insbesondere natürlich dann, wenn es zu derartigen Enttäuschungen kommt. Es lässt sich also festhalten, dass Playback-Theater durchaus therapeutische Effekte auf den Erzähler haben kann. Nämlich bereits durch die individuell getroffene Entscheidung, die eigene Geschichte zu erzählen und mit anderen zu teilen. Durch die Erfahrung, dass die Geschichte anerkannt und gewürdigt wird. Durch das Erleben, dass es ähnliche Geschichten gibt. Dadurch, dass die Geschichte nicht nur erzählt und gehört, sondern auch mittels einer Performance visualisiert wird und dadurch mehrere Sinne angesprochen werden. Hierdurch entsteht die Erfahrung einer gemeinsamen Geschichte; das Erleben gemeinsamer Stärke und Solidarität. In einem (bisher unveröffentlichten) Aufsatz zitiert Ben Rivers aus einem Interview, welches er im Rahmen einer Reflexion über eine vorangegangene Playback-Theater Performance geführt hat: This was the first time in my life I saw somebody trying to re-enact my story. It really touched me, it touched me – I almost cried. I mean my eyes started watering. I thought ,Wow!‘ To not only listen to the person, but to try to re-enactor act in a very dramatic way what happened to the person, is something immense. […] It is important that people share their stories and people share their wounds. Because when somebody is wounded and when somebody is hurt, and somebody is oppressed, it’s very, very important that their pain is recognized. And that it’s recognized in a healthy way – not in an official way, but in a human way. When people listen to you and recognize your pain, this helps mitigate the pain and also contributes to the healing process. (Sa’ed Abu Al-Hijleh, Nablus)141

141 Zitiert aus: Rivers, Ben (2013a), S. 162.

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Bei einer Playback-Theater Veranstaltung erzählte ein junger Mann von dem Tod seiner zwei sieben- und achtjährigen Nichten, die im Jahr zuvor von Siedlern mit dem Auto überfahren wurden. Er berichtet, dass sie eine Straße überquerten, die nur die Siedler nutzen dürfen. Diese hätten keine Rücksicht auf die beiden palästinensischen Mädchen genommen. Schmerzhaft sei nicht nur der Verlust seiner Nichten, sondern auch, dass nie jemand für das Geschehen verantwortlich gemacht wurde. Der Mann erzählt mit gebrochener Stimme. Im Laufe seiner Erzählung laufen ihm Tränen über das Gesicht. In einem nachfolgenden Gespräch erzählt er, dass es für ihn sehr befreiend gewesen sei, die Geschichte mit anderen zu teilen und dass er zum ersten Mal um die beiden Mädchen weinen konnte: Jeden Tag trauere ich um meine beiden Nichten. Ich trauere um die Zukunft, die sie nicht mehr haben. Ich trauere um meine Familie, die mit diesem schweren Schicksalsschlag leben muss. Aber in dem ganzen letzten Jahr habe ich nie richtig weinen können.

Besonders ist hier die Tatsache, dass in es in der patriarchalen palästinensischen Gesellschaft als Tabu gilt, seine Gefühle offen zu zeigen. Playback-Theater hat in dem Moment einen Raum geschaffen, in dem die ‚Gesetze des Alltags‘ ausgehebelt wurden und die sonst in der Gesellschaft tabuisierten Emotionen ihren Ort hatten. Auch Ben Rivers weist im Gespräch mit mir auf diesen potenziell heilenden Aspekt von Playback-Theater hin: So I see the therapeutic dimension as being inseparable from the political dimension. I think in the Playback process people feel safe enough, because it’s a kind of ritual format to transcend some of the social norms that define the type of stories that can be told. After Mustafa142 was killed, like always when someone is killed in occupation related violence, he instantly turned into a martyr. And we did a performance in Nabi Saleh and members of his family shared a story about the day of his death and he expressed how much he missed Mustafa. And everyone started crying. And the fellow who was with me, a Palestinian activist from another community, said that it was the first time he had ever seen people cry like this around the death of Mustafa. And he said that it was a really valuable and important experience for the family, because otherwise they are denied the right of grief outside of certain parameters. You are only allowed to grief in a certain way and for a certain amount of time. And then, if you disobey that, then you’re looked upon negatively, because you should be proud that someone has died for the cause.

142 Ben Rivers bezieht sich hier auf Mustafa Tamimi aus Nabi Saleh, der während einer der wöchentlichen Freitagsdemonstrationen tödlich verletzt wurde.

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An dieser Stelle scheint es sinnvoll zu erwähnen, dass eine Reihe von Formen und Figuren entwickelt wurden, die symbolisch für Akte (extremer) Gewalt stehen. Potenziell traumatische Erlebnisse können mit kleinen Gesten, „slow motion“, Metaphern oder auch „off stage“, dargestellt werden, das bedeutet, dass die Bühne leer bleibt. Es ist besonders relevant, dass Geschichten, die potenziell traumatisch für den Erzähler sind, nicht ‚wörtlich‘ in die Performance übersetzt werden. Die Geschichte soll erkennbar bleiben, aber aus einer ‚sicheren Distanz‘ betrachtet werden können. In diesem Zusammenhang hat sich gezeigt, dass nicht nur dem Publikum bzw. den Erzählern, sondern auch den emotionalen Belastungen der Schauspieler ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Sie leben nicht nur in ständiger Gefahr der Bedrohung, Verhaftung und Folter143, sondern als Mitglieder der palästinensischen Gesellschaft haben sie oft selbst ähnliche Erfahrungen wie die Erzähler, die innerhalb eines Playback-Theater Events reaktiviert werden können.144 Bei einem gemeinsam besuchten Playback-Theater Workshop in At-Tuwani im Frühjahr 2014 sprach eine der Schauspielerinnen von Erschöpfung, Angstzuständen und Albträumen. Ein Teilnehmer erzählte die Geschichte, wie sein Bruder ums Leben kam und wie dieser ihn regelmäßig in seinen Träumen heimsucht. Die junge Schauspielerin und ich spielten die Geschichte gemeinsam zurück, wir endeten in einer Umarmung, in der sie den Kopf an meine Schulter lehnte und heftig zu weinen begann. Auch Ben Rivers verweist in einem Beispiel auf die emotionale Belastung der Schauspieler: […] in April 2012 we held a performance for Syrian refugees in Tahir-Square, Cairo. At that time, the mood in the square was unpredictable and tensions were high. Forced by this atmosphere, and an audience that she did not know, one of our actors experienced a panic attack that left her shaken for a considerable time afterwards. Later, she explained that the situation had triggered her memory of Juliano’s murder. His assassination had taken place during the same month, just one year earlier. (Rivers 2013a: 171)

143 Siehe auch die auf S. 289 erläuterte Verhaftung von Faisal Abu Alhyjaa nach einer Playback-Theater Aufführung in Jenin. Bei einer anderen Performance in einem kleinen Dorf riegelte das israelische Militär das Gebiet ab und eine Reihe schwer bewaffneter israelischer Soldaten wurde dazu angehalten, die Aufführung zu überwachen. Auch wenn es keine Festnahmen gab, verbreitete die militärische Anwesenheit Angst und Sorge unter Schauspielern wie Publikum. 144 Siehe auch Ben Rivers (2013a).

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Er führt in diesem Zusammenhang weiter aus, dass es enorm wichtig sei, dass auch die Schauspieler ihre eigenen Geschichten (mit-)teilen, zugleich seien Entspannungs- und Ruhephasen vor und nach den Veranstaltungen von großer Bedeutung. Er erklärt: The Freedom bus troupe also receives basic education in neurobiological, psychological and socio-political theories of trauma and trauma response. In addition, our own observation and group discussions, together with feedback gained from tellers and audience members, help us better understand the psychological, social and political dimensions of the work we do. In warm-ups prior to the performance, the actors gain an opportunity to share and enact any thoughts of feelings that might block their energy or presence during the event. Meditation, yoga, massage and actor movement and voice exercises are also used as ways to release tension, to focus, to ground themselves and to connect. In the first meeting that follows a performance, the performers gain an opportunity to debrief and reflect on their overall experiences of the event. They also discuss what went well and what could be improved in terms of artistry, ensemble work and other aspects of performance. (ebd.)

Mit der therapeutischen Dimension von Playback-Theater unauflöslich verbunden ist die Bedeutung für den kulturellen Widerstand. So konnte ich bei meiner Teilnahme am „Freedom Ride“ 2014 während diverser Playback-Theater Veranstaltungen beobachten, dass die Erzähler eher die Menschenrechtsverletzungen Israels thematisierten, wenn das Publikum aus vielen internationalen Teilnehmern bestand, während die Geschichten, wenn das Publikum vorwiegend aus Palästinensern bestand, eher von „sumud“, vom Widerstand, handelten. Das lässt mich schließen, dass der Kontext, in dem eine Geschichte mit anderen geteilt und inszeniert wird, großen Einfluss auf die Auswahl der Geschichte selbst ausübt. Innergesellschaftlich scheinen die Widerstandsnarrative von besonderer Bedeutung zu sein, um die Gemeinschaft in ihrem Widerstand zu stärken und Zusammenhalt zu befördern. Auf internationaler Ebene scheinen die Opfernarrative in erster Linie der Schaffung von Solidarität zu dienen. Nach einer Playback-Theater Veranstaltung fragte ich Ben Rivers, was seiner Meinung nach die Bedeutung von Playback-Theater für den kulturellen Widerstand sei. Seine ausführliche Antwort bestätigt auch meine Beobachtungen über die Kontextabhängigkeit der Geschichten: There is many ways that people have said that Playback-Theatre relates to resistance. The most obvious reason that people give is that by telling their story, they raise the awareness of people in the audience. And as I said before, people are aware that most media is biased in favor of Israel. So this people see it as a way for them to speak truth. Of course, an au-

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dience is diverse, so the question is, who is the teller speaking to? If there are internationals present, obviously their intention is to kind of raise awareness about the conditions under they live. In the South Hebron Hills for example, they want them to learn about settler violence, about home demolitions and so forth. But tellers are also aware that there are other Palestinians in the audience, people from other parts of Palestine. And they say that it’s really, really meaningful for them that there are these other Palestinians present, because they feel so separated from them. You know Israel has so successfully fragmented the Palestinian body politics. For example, Faisal has never been to these communities before. They have never been the Jordan Valley even though it’s only one hour from the camp. And that’s normal. Because people mostly grew up during the second intifada where it was very difficult or impossible to travel to other parts of the Westbank. So even if many of the physical barriers have been dismantled and it’s actually not so difficult to travel now, there’s this kind of mentality that Hebron is another country almost. Or you don’t have contacts, because it’s been difficult to build connections between the different regions. So there is this kind of fragmentation that exists. When we have a PlaybackTheatre event or „Freedom Bus“ event that includes Playback-Theatre and other activities, it has been one way to bring Palestinians together. When people are telling their story in this context, again it’s a way to educate Palestinians from other parts of historic Palestine, but it’s also a call for unity in a way. And then the other part of audience, people are speaking to members of their own community. Sometimes people say they are speaking to the younger generation who haven’t lived through different eras of the Palestinian popular struggle movement. So the first intifada was a completely different experience to the second intifada. So it’s a way of educating younger members of the community about the types of resistance they were engaged in. Or as a way of connecting people to the long history of struggle, so that it kind of gives motivation in a way to know that this struggle we’re facing today, is part of a long struggle that we’ve been involved for decades. Other people say that they feel that some people get adapted to the situation. You know the cost of struggle is quite high, like in Nabi Saleh some people are opposed to the weekly protest, because the repercussions are so great. The army does regular raids in the village, they break into people homes, and they arrest and imprison children and so forth. So some people say, ,we don’t want this‘, the cost is too high and it’s easier to try to get on with life as normal. So when someone comes forward with a story of struggle, they say that they kind of wake people up, they’re trying to mobilize the audience, to shake them out of their apathy or out of their sleepiness.

Die Erzählungen der Palästinenser führen bei den internationalen Teilnehmern immer wieder zu der Frage, inwiefern Playback-Theater Veranstaltungen von Israelis und Palästinenser gemeinsam gestaltet werden können. Dass es doch sehr wichtig sei, dass Israelis diese Geschichten hören und weitererzählen. Und um-

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gekehrt, dass auch die Palästinenser Geschichten von Israelis hören, damit sie auch andere Perspektiven kennenlernen als die der Siedler oder der Soldaten. Die Annahme, dass es enorm wichtig sei, dass sich beide Seiten in ihren persönlichen Geschichten begegnen, gründet vielfach in der Überzeugung, dass der Konflikt lediglich auf den divergierenden Narrativen beruhe, die es miteinander zu ‚versöhnen‘ gelte. Wie an anderer Stelle bereits erläutert, ist „storytelling“ in der Tat eine zentrale Strategie in zahlreichen Dialogprojekten, mit dem vordergründigen Ziel, die gegenseitige Empathie durch die Erfahrung des Leids des Anderen zu stärken. „Storytelling“ kann zutiefst menschliche Begegnungen ermöglichen und wirkt unterstützend, ein komplexeres, vielschichtigeres Narrativ zu etablieren. Dieses Potenzial gilt natürlich auch für den israelisch-palästinensischen Kontext; dies ist jedoch für eine langfristige Beilegung des Konfliktes nicht ausreichend, weil es nicht den eigentlichen Kern berührt. So finden Playback-Theater Veranstaltungen des „Freedom Theatre’s“ bzw. des „Freedom Bus’“ bisher nur intra- und interkommunal statt. In den Augen der Verantwortlichen gibt es hierfür mehrere Gründe, die im internationalen friedensfördernden Diskurs unbedingt Berücksichtigung finden sollten: Zahlreichen begegnungsorientierten Initiativen wohnt trotz wichtiger Errungenschaften, die Gefahr inne, bestehende Machtasymmetrien innerhalb des Konfliktes zu festigen. Außer Acht gelassen werden in der Regel militärische Besatzung, Siedlerkolonialismus und damit einhergehend politische Gewalt und Unterdrückung. Fruchtbare Aushandlungen können jedoch nur dann erfolgreich funktionieren, wenn sich die Konfliktparteien auf Augenhöhe befinden, das asymmetrische Gefälle aufgelöst wird. Laut den Verantwortlichen des „Freedom Theatre’s“ ist die (internationale) Anerkennung palästinensischer Grundrechte aber notwendige Voraussetzung zur Beilegung des Konflikts. In ihren Projekten geht es zunächst einmal darum, den Palästinensern einen freien, geschützten Raum zu ermöglichen, ihre eigenen, oft divergierenden Geschichten zu erzählen, die lokal wie international so oft marginalisiert oder ausgeschlossen sind. Das palästinensische Narrativ der Besatzung und des Widerstands gibt es nicht; doch aufgrund der territorialen und gesellschaftlichen Fragmentierung, finden sich zahllose Stränge palästinensischer Narrative, die das Potenzial haben, zusammengedacht zu werden und in diesem Zusammenhang gemeinschaftsfördernd und -mobilisierend zu wirken sowie aufgrund fehlender und/oder unzu-

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gänglicher Archive zugleich die Konstruktion eines nationalen Narrativs zu begünstigen.145 Ben Rivers äußert sich hierzu wie folgt: Of course, if we sit together and hear each other’s stories, it will humanize the ,Other‘, because there is something accessible about stories. And the logic behind this proposal is that, if we can see each other as humans, then the hatred and animosity that keeps the conflict in place will be dismantled and we will be motivated to put pressure on our leaders to create peace. But what’s really problematic about this way of thinking is that it’s based on the assumption that conflict is held in place by misunderstanding and animosity and hatred. And I don’t agree with that. And I know from many conversations I had with Palestinians, that they don’t agree with that either. That really the situation is biased on imperialistic interests, the desire to control land, the desire to control resources… So in the context of normalization, we would never use Playback-Theatre in that way. But if we look at conflict transformation, then Playback-Theatre has a role to play. Because most peacebuilding theorists and scholars say that there are certain stages of conflict transformation. And where there is an asymmetrical conflict like we have here, then you can’t go into this humanizing dialogue. It doesn’t work. You have to have symmetry of power first. When there is an asymmetrical conflict, the priority is first to raise awareness about the realities of the oppression and then secondly to balance the power and that involves engaging in conflict, ironically. Through conflict we can balance the power and of course conflict doesn’t have to be armed resistance. So I see cultural resistance and the work we do as kind of fitting into this paradigm that we first help to raise awareness and secondly we are mobilizing people to take action in various ways. We are building relationships and through these relationships we’re learning about the type of action that we can take, because there are many types of action we can take. But of course, in a post-conflict scenario, Playback-Theatre would serve a very different function. Then it could be about reconciliation. But that’s hypothetical. That’s not where we are at the moment.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Playback-Theater aktuell kein dialogunterstützendes Modell zwischen Palästinensern und Israelis sein will und kann, sondern dass es in erster Linie darum geht, die innergesellschaftlichen Fragmentierungen zu überwinden und den Palästinensern einen Raum zu eröffnen, indem sie ihre eigenen Geschichten erzählen können – als ein Akt des Widerstandes gegen das machtvolle israelische Narrativ und zur Etablierung eines palästinensischen Narrativs – sowie die Gesellschaft zum Widerstand zu mobili-

145 Siehe auch die Homepage des „Freedom Theatre’s“: http://www.thefreedomtheatre. org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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sieren, der gerade nicht bewaffnet sein muss. Playback-Theater kann vor diesem Hintergrund die persönliche wie kollektive Identität stärken.

6.6 Z UR B EDEUTUNG VON E RINNERUNG , T RAUMA, W IDERSTAND : „C INEMA J ENIN “ UND DAS „F REEDOM T HEATRE “ Im Folgenden sollen die mitunter unterschiedlichen Ausrichtungen der beiden Projekte zusammenfassend dargestellt und miteinander verglichen werden. Ferner wird in diesem Kontext die Bedeutung von Theater und Film als Erinnerungsmedien hervorgehoben. 6.6.1 „Cinema Jenin“ und „Freedom Theatre“: Abschließender Vergleich In der Provinz Jenin leben heute etwa 230.000 Einwohner. Aufgrund seiner Reputation als Terroristenhochburg, vor allem während der zweiten Intifada, ist Jenin auf lokaler wie internationaler Ebene ökonomisch, sozial und kulturell isoliert, was sich unter anderen in einer hohen Arbeitslosigkeitsquote wiederspiegelt, die bei etwa 80 % liegt.146 Das „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ wollen vor diesem Hintergrund nicht nur ein ‚gutes Kino‘ sein bzw. ‚gutes Theater‘ machen, sondern die ökonomische, soziale und kulturelle Reintegration Jenins unterstützen, das heißt die Situation der Isolation und Perspektivlosigkeit für die Einwohner überwinden. Besonderes Anliegen ist beiden Projekten die Stärkung von Frauen- und Kinderrechten, die Unterstützung der (kulturellen) Selbstbehauptung der Palästinenser sowie die Förderung und Stärkung des Wirtschafts- und Bildungssektors. Beide Institutionen sind zivilgesellschaftlich verankert und können als soziale Projekte betrachtet werden, die innerhalb der palästinensischen Gesellschaft etwas verändern und bewegen wollen. Sie wollen die lokale wie internationale Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeiten der israelischen Besatzung sowie auf den politischen Machtmissbrauch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft lenken. In diesem Kontext ist es ihr explizites Ziel, den jungen Menschen neue, gewaltfreie Perspektiven zu eröffnen, indem sie Räume schaffen, in denen sie krea-

146 Siehe auch: http://www.cinemajenin.org/project/Cinema_Jenin_Financial_Report _2009_2011_web.pdf?name=project&subname=financialreport (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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tiv sein und mit ihren Fähigkeiten experimentieren können; Räume, in denen sie lernen, normativ gesetzte Strukturen zu hinterfragen; Räume, die die Aufarbeitung von potenziell traumatischen Erfahrungen ermöglichen. Wie an anderer Stelle bereits erläutert, sind beide Projekte auf externe Förderung angewiesen, um ihre Ziele umzusetzen, sodass ein Großteil der Arbeit auch in die Akquise von Geldern fließt, wobei sich sowohl „Cinema Jenin“ als auch das „Freedom Theatre“ mit enormen Herausforderungen konfrontiert sehen, allerdings unter anderen Vorzeichen: Seit seiner Wiedereröffnung zieht „Cinema Jenin“ nicht mehr die mediale Aufmerksamkeit auf sich, wie zu Beginn des Projektes. Auch die Filme, die rund um das Kino entstanden sind, haben erheblich zum internationalen Interesse an „Cinema Jenin“ beigetragen. Nun steht mitten in Jenin dieses fertige Kino und für viele Außenstehende scheint das Projekt damit abgeschlossen. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass es immer noch darum geht, einen ‚normalen Kinobetrieb‘ zu organisieren, zu festigen und die Gehälter der Mitarbeiter zu sichern. Ferner muss eine feste Rahmen- und Arbeitsstruktur etabliert und der zumeist teure Einkauf internationaler Filme geregelt werden. Darüber hinaus soll es weiterhin regelmäßige Workshops geben, unter anderem für die Weiterbildung des Personals. In einer Stadt, in der 5 NIS (etwa 1 €) bzw. 10 NIS (etwa 2 €) Kinoeintritt für viele Bewohner ein kleines Vermögen sind, funktioniert dies nicht ohne externe Unterstützung. Ferner zieht das Kino nach wie vor Kritik auf sich, so dass es von großer Bedeutung ist, die Bevölkerung vor Ort mehr und mehr mit einzubeziehen, um das Misstrauen gegenüber der ‚Institution Kino‘ mit seinen vorwiegend westlichen Werten abzubauen. Auch das „Freedom Theatre“ sieht sich mit harscher Kritik konfrontiert, doch es erreicht tendenziell leichter sein Publikum. Das hat mehrere Ursachen: Einerseits ist hier die jahrelange Arbeit von Arna Mer-Khamis zu erwähnen, auf der die Arbeit des „Freedom Theatre“ aufbaut. Andererseits spielen die explizite Verankerung und Ausrichtung im palästinensischen Widerstand sowie Unterstützerfiguren wie Zakaria Zbeidi, der vor allem während der zweiten Intifada als einer der wichtigsten Männer in Jenin galt, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Gegensatz zu „Cinema Jenin“ hat das „Freedom Theatre“ eine dezidiert politische Ausrichtung:

282 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND The Freedom Theatre is a venue to join the Palestinian people in their struggle for liberation. We believe that the third intifada [Hervorhebung im Origninal, A.R.], the coming intifada, should be cultural, with poetry, music, theatre, with cameras and magazines.147

Gerade aber aufgrund dieser politischen Ausrichtung ist es für das „Freedom Theatre“ mitunter schwierig Spenden zu akquirieren. Ein Projekt, das wie „Cinema Jenin“ eine friedensorientierte Ausrichtung propagiert, hat es diesen Aspekt betreffend – zumindest auf den ersten Blick – etwas leichter. Auch das internationale Publikum scheint das „Freedom Theatre“ leichter erreichen zu können. Seit der Ermordung von Juliano Mer-Khamis finden sich regelmäßig Reportagen in den Medien. Auch Projekte wie der „Freedom Bus“, der bewusst internationale Teilnehmer anspricht, aber auch die internationalen Tourneen von einem Teil der Theatergemeinschaft, dürften zu einem größeren Bekanntheitsgrad beitragen. Das „Freedom Theatre“ besitzt darüber hinaus eine große Präsenz im Internet, in sozialen Netzwerken wie Facebook oder auch auf YouTube. Seit Kurzem gibt es auf der Homepage des Theaters, die stetig mit Nachrichten rund um das Theater und die politische Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten aktualisiert wird, einen Videokanal, auf dem einzelne Aufführungen des „Freedom Theatre’s“ live anzusehen sind.148 Im Gegensatz zum „Freedom Theatre“ möchte „Cinema Jenin“ von der Grundidee her kein politisches Projekt, sondern vor allem ein Filmtheater sein. Es findet sich ein anderer Zugang, eine andere Perspektive auf den Konflikt, was in erster Linie damit zusammenhängen dürfte, dass das Projekt ‚von außen‘ mitinitiiert wurde. In einem Interview mit Ulrike Rechel beschreibt Marcus Vetter, dass die internationalen, vor allem deutschen Volontäre, im Gegensatz zu ihm selbst, erst einmal keine politische Meinung gehabt hätten, dass sie in erster Linie am Wiederaufbau des Kinos interessiert gewesen seien und daran, ihre technischen und künstlerischen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen;

147 Juliano Mer-Khamis in einem Video über das Selbstverständnis des „Freedom Theatre’s“, http://mepeace.org/video/an-interviews-with-juliano-mer (zuletzt aufgerufen: 16.12.2014). 148 Ich habe zuletzt am 20.12.2014 das Stück „Suicide Note from Palestine“ über den Videokanal gesehen. Amal, die ihre Heimat Palästina verkörpert, liegt in einem Krankenhausbett. Sie hat keinen Herzschlag mehr und Ärzte in Kitteln mit Emblemen der UN versuchen sie wiederzubeleben. Im Sinne eines politischen Aktes, entschließt sich Amal zu sterben. Der Trailer zum Stück ist auf YouTube zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=1bsAvl6lhII&list=PL23528330B134E57B&ind ex=4 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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[…] damit konnten wir ein Kino aufbauen, das kein pädagogisches Projekt war. Sondern, nun ja, ein Kino eben.149

Zugleich betonte Marcus Vetter in unterschiedlichen Gesprächen, dass „Cinema Jenin“ zwar keine dezidiert politische Ausrichtung habe, aber auch kein „FriedeFreude-Eierkuchen-Projekt“150 sein wolle, das die großen Missstände und Ungerechtigkeiten vor Ort ausblende. Dies erläutert er auch in einem Radiointerview mit Deutschlandradio Kultur: Die größten Hürden waren, zu verstehen, dass die Menschen so viel gelitten haben – viele haben so sehr gelitten, ihnen wurde alles weggenommen […] und wir wollten mit tollen Israelis, die eben auch an einen palästinensischen Staat glauben, mit denen zusammenarbeiten und dann haben wir plötzlich natürlich festgestellt, dass in Jenin nicht alle so denken, sondern dass so viel Verletzung in den Menschen ist […].151

In diesem Zusammenhang lässt sich natürlich kritisch fragen, ob es nicht sehr naiv von Marcus Vetter, der schon so viel Zeit in Jenin verbracht hat, gewesen ist, zu glauben, dass derartige Projekte nicht politisch umkämpft und instrumentalisiert werden. Nach einer in Zusammenarbeit mit der Universität Bremen 2013 ermöglichten Filmvorführung von „Cinema Jenin“ im Kino46, stellte ein junger Mann palästinensischer Herkunft während der anschließenden Podiumsdiskussion mit Markus Vetter genau diese Frage. Dieser schmunzelte und sagte, dass das selbstverständlich naiv gewesen sei, aber dass er ohne diese Naivität das Projekt gar nicht erst hätte durchführen können. Wie groß und wie schwierig und wie umstritten, wie provokativ so ein Projekt in einer so komplexen politischen Situation sei, stelle sich letztendlich immer erst hinterher heraus. Das „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ sprechen durch ihre anders akzentuierte Ausrichtung – bewusst oder unbewusst – unterschiedliche Zielgruppen an, die gleichzeitig die Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft hinsichtlich wesentlicher Grundfragen wiederspiegeln. Einigkeit dürfte wohl nur bei den Gegnern derartiger Projekte bestehen. Während die Anhänger des „Freedom Theatre’s“ betonen, dass ein Dialog mit den Israelis nur dann

149 www.tip-berlin.de/kino-und-film/regisseur-marcus-vetter-uber-cinema-jenin (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 150 http://www.swr.de/archiv/kultur/marcus-vetter-cinema-jenin/-/id=6758676/did=673 5392/nid=6758676/1t79j1v/index.html (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 151 http://www.deutschlandradiokultur.de/es-ist-kein-einfaches-projekt.954.de.html?dra m:article_id=146872 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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stattfinden könne, wenn die Besatzung ende, vertreten die Verantwortlichen von „Cinema Jenin“ die Grundhaltung, dass es enorm wichtig sei, auch in konfliktreichen Zeiten, in denen die Grenzen unüberwindbar erscheinen, das Gespräch zu suchen.152 Während das „Freedom Theatre“ die Prämisse vertritt, dass die Besatzung erst enden muss, bevor ein Dialog statffinden kann, will „Cinema Jenin“ ein Begegnungsort sowohl für Palästinenser, als auch für Israelis sein und dadurch das Ende der Besatzung erreichen.Wie weiter oben bereits erwähnt, wurde Fakhri Hamad für seine öffentlich vertretene Haltung, dass Jenin für jeden offen sein solle, also auch für Israelis, damit sie sich ein eigenes Bild von der Lebensrealität machen können, viel kritisiert und gelangte dadurch sogar in derart ernsthafte Schwierigkeiten, dass er Jenin verließ und heute in Deutschland lebt. Er wurde als „normalizer“ abgestempelt, der mit den Israelis kollaboriert, und damit in die Nähe eines Verräters gerückt. Marcus Vetter erklärte in einem Gespräch, dass sie natürlich wichtig seien, die palästinensischen Aktivsten in Jenin, aber nicht weniger wichtig seien die Menschen, die Jenin nur aus den Medien kennen, als Terroristenhochburg, als eine der gefährlichsten Städte der Welt. Dass es wichtig sei, dass diese Menschen kommen und mit eigenen Augen sehen, dass sie ihre Angst verlieren und ihre Erlebnisse weitererzählen. Dazu gehörten selbstverständlich auch die Israelis. Natürlich sind die palästinensischen Aktivisten notwendig in Jenin: die Männer, die auf die Olivenhaine gehen und da bleiben, bis die israelischen Panzer kommen. Aber es sind auch Menschen wichtig, die sich ein eigenes Bild machen, mit eigenen Augen urteilen, sich nicht auf die Medien verlassen. Die nämlich kommen nie, weil sie Angst haben. Wenn aber normale Leute zurück nach Hause gehen und die Geschichten erzählen aus Jenin – denen glaubt man. Einem glühenden Aktivisten glaubt man dagegen vielleicht nicht, man denkt, okay, er hat seine politische Agenda. Was die Palästinenser vordringlich brauchen, sind Leute, welche die Geschichten, die sie erleben, weitererzählen.153

152 Das Filmende von „Das Herz von Jenin“ verdeutlicht auch hier eine ambivalente Haltung: Ismael erläutert, dass er den Weg nicht nur gegangen sei, um den Dialog zwischen beiden Seiten zu fördern, sondern auch, weil die Israelis ein solches Verhalten von Palästinensern nicht erwarten. 153 http://www.tip-berlin.de/kino-und-film/regisseur-marcus-vetter-uber-cinema-jenin (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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Was die friedensfördernden Aspekte betrifft, hatten sich zur feierlichen Wiedereröffnung des Kinos im August 2011 60 Israelis angekündigt, die aber aufgrund der politischen Implikationen kurzfristig wieder ausgeladen wurden. Ihre Sicherheit konnte nicht garantiert werden. Zehn Israelis kamen trotzdem. In einem Interview äußerte Marcus Vetter hierzu, dass man jenseits der „Normalisierungsdebatte“ die Partizipation der Israelis als Chance hätte nutzen können. Das heißt als einen Vertrauensbeweis seitens der Israelis, die ja gerade auch was Jenin und sein Narrativ betrifft, negativ vorbelastet sind. Trotzdem: Dadurch, dass letzten Endes doch zehn Israelis kamen, wurden „Cinema Jenin“ und Jenin für einen kurzen Moment zu einem Symbol der Hoffnung: Sechzig hatten sich angekündigt, aber die wurden kurzfristig wieder ausgeladen. Am Ende kamen zehn Israelis zur Eröffnung. Verstehen Sie, diese sechzig, die sich angemeldet hatten, das ist so ähnlich wie zu sagen: Ich gebe mein Leben als Pfand, denn ich glaube euch, ich komme nach Jenin. Normalerweise denkt jeder Israeli, er würde womöglich sofort liquidiert. Das war also ein Zeichen von Liebe und Vertrauen. Jenin wurde plötzlich zum Symbol für Hoffnung.154

Derartige an der gesellschaftlichen Basis – nicht auf großer, weltpolitischer Bühne – entstehenden Annäherungen zwischen den unterschiedlichen und ambivalenten Perspektiven und Meinungen dürften die Bezeichnung „friedensorientierte Ausrichtung“ innerhalb des Projektes meinen. Anders als beim „Cinema Jenin“ stellt sich beim „Freedom Theatre“ die weitreichende „Normalisierungsdebatte“ erst gar nicht in dieser Form. Das „Freedom Theatre“ lehnt jede Kooperation mit israelischen Institutionen und Israelis ab, wenn sie sich nicht zur „BDS-Bewegung“155 bekennen. Diese strikte Perspektive erleichtert es sicher vielen Anhängern, sich zu orientieren und sich selbst zu positionieren. Aufgrund der eindeutigen politischen Ausrichtung und Verankerung im palästinensischen Widerstand, äußern sich die Verantwortlichen entsprechend direkter zu politischen Themen und nutzen auch die Homepage des Theaters, um aktuelle Ereignisse (in Jenin) zu dokumentieren. Die strikte Haltung gegenüber Israel zeigt sich auch in Initiativen wie dem „Freedom Bus“, der wenig Platz für Zwischentöne und Annäherungen lässt, und in den Regionen, in denen er aktiv

154 http://www.tip-berlin.de/kino-und-film/regisseur-marcus-vetter-uber-cinema-jenin (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 155 „BDS“ steht für Boycott, Divestment and Sanctions against Israel. Siehe Kapitel 7.

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ist, unter Berücksichtigung der schwierigen politischen Lage, vielleicht auch gar nicht lassen kann. Auffällig war während meiner Forschungsaufenthalte jedoch, dass die internationalen Teilnehmer oft viel einseitiger in ihren Ansichten waren, als die mitreisenden Palästinenser selbst. Für den kulturellen Widerstand und der Etablierung eines kritischen Bewusstseins156, kann insbesondere Playback-Theater eine wichtige Funktion erfüllen. Es dient nicht nur der Überwindung der realen wie symbolischen Fragmentierung und damit der Herstellung von Einheit und Solidarität, sondern kann auch therapeutische Funktionen in einem hochpolitischen Umfeld ermöglichen. Es hat sich interessanterweise gezeigt, dass nicht nur Gegen-Geschichten zum israelischen Masternarrativ kreiert werden, sondern auch Themen aktiviert werden, die sonst innergesellschaftlich tabuisiert sind. Ben Rivers beschreibt im Interview mit mir: It’s important for the Palestinians to tell their own narrative. But often I see people telling stories that fall outside the official narrative. Like Samis story.157 He described himself as terrified when the army came […] and I’m always surprised when men reveal their vulnerability in this ways, because that’s totally taboo in this society, especially when men talk about their experiences of torture in prison or how that torture impacted them. This is not a socially prescribed narrative and I think it’s really important and healthy, because if people feel that part of their experience cannot be told, then of course it leads to all kinds of problems, because you are oppressing and holding down this experience and this creates a lot of internal conflict. Many people say that when they tell their story, it feels like a release, many people say that they feel like they want to explode. It’s funny they use this term. But when they tell their story it feels like this is a great release and relief.

6.6.2 Theater und Film als Erinnerungsund Widerstandsmedien Prinzipiell lässt sich festhalten, dass sich palästinensisches Theater (als subjektbezogene Vermittlung von Erfahrung) und Film (als rezeptionsbasierte Vermittlungsinstanz) mit einheitlichen und zugleich pluralistischen palästinensischen Identitätskonstruktionen auseinandersetzen, sowie mit der wechselseitigen Be-

156 Ben Rivers zitiert im Interview aus einem Buch: „You can have a revolution and overturn the oppressive system, but if the grassroots, if the people of the society haven’t learnt to think critically, then a new system of oppression is replaced immediately.“ 157 Samis Geschichte siehe Kapitel 4.

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einflussung von Widerstand und Erinnerung (an potenziell traumatische Ereignisse). Oft entsteht der Eindruck, dass die Gegenwart ignoriert und die Vergangenheit konserviert wird; eine Vergangenheit, die statisch ist und die von Bildern und Ritualen gelenkt wird. Durch die potenziell traumatische Erfahrung erscheint der Eindruck, dass die Zeit stehen geblieben ist, die Vergangenheit ersetzt die Gegenwart und die Zukunft wird als Rückkehr zur Vergangenheit interpretiert. That’s why it is impossible to tell history as a narrative, as a chronology of events, as a rational cause and effect, as a directing of action. (Gertz/Khleifi 2008: 3)

Theater und Film, gerade in ihrer Bedeutung als künstlerisches, grenzüberschreitendes Medium, können dies aufbrechen und eine realistischere Auseinandersetzung befördern. Sie setzen sich in der Regel kritisch mit Vergangenheits- und Gegenwartskonzepten auseinander und tragen dazu bei, bestehende hegemoniale Erinnerungsdiskurse infrage zu stellen. Angesichts der Herausforderung, das kollektive Trauma von Flucht und Vertreibung zu verarbeiten, konnten die Palästinenser keine einheitliche Gegengeschichte kreieren, was durch die Fragmentierung des palästinensischen Raumes und der palästinensischen Gesellschaft zusätzlich erschwert wird. Die Palästinenser verbleiben in ihrem „state of temporality“ und „in a transient condition“.158 Theater und Film als Widerstands- und Erinnerungsmedien können die Schaffung einer positiv besetzten kollektiven palästinensischen Identität begünstigen159; zur Etablierung eines kohärenten palästinensischen Narrativs, in dem Brüche kein Paradox, sondern aufgrund der geschichtlichen Ereignisse eine Notwendigkeit sind, sowie damit verbunden zu einer innerhalb der Gesellschaft verankerten kollektiven Erinnerungskultur beitragen. Denn anders als in Israel mit seinen institutionalisierten Denkmälern und Gedenkorten, gibt es in den besetzten palästinensischen Gebieten kaum gesellschaftlich verankerte Erinnerungsräume. Die Fragmentierung ist Symbol und Symptom zersplitterter Erinnerung. Innerhalb des fragmentierten Raumes, der fragmentierten Gesellschaft, der engen Grenzen und der beständigen Kontrollen, verfolgen sowohl „Cinema Jenin“ als auch das „Freedom Theatre“ eine mobile Perspektive, die es den Be-

158 Gertz; Khleifi (2008: 2). 159 Palästinensische Identität ist in erster Linie negativ besetzt und eng mit dem Begriff der Grenze verbunden, wie beispielsweise durch das ID-Karten System und Checkpoints. Siehe Kapitel 3.

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wohnern ermöglicht, feste und symbolische Grenzen zu überschreiten oder neu zu definieren. „Cinema Jenin“ gelingt dies logischerweise durch das Medium Film, das von sich aus dialogisch ist und an keine festen Grenzziehungen gebunden ist. So plant „Cinema Jenin“ in Kooperation mit dem „Freedom Theatre“ beispielsweise ein mobiles Kino, das auch Menschen in komplett ‚abgeriegelten‘ Gebieten den Zugang zum Film ermöglichen soll. Ähnlich verhält es sich mit dem „Freedom Bus“, der Theater, verbunden mit politisch-kulturellen Aktivitäten, in die marginalisiertesten Regionen innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete bringt und so vorwiegend die Vernetzung der fragmentierten Gesellschaft begünstigt. Vor diesem Hintergrund dient er der individuellen wie kollektiven Verarbeitung der potenziell traumatischen Geschichten, was konkret als Erinnerungsarbeit verstanden werden kann. Mobile Medien, in Form des reisenden Busses und des reisenden Kinos, können sowohl der Fragmentierung der Gesellschaft, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit entgegenwirken, als auch reale und symbolische Grenzen überwinden. „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“ verfolgen mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen ein gemeinsames Ziel: Sie wollen auf die Besatzungsstrukturen in der israelischen wie palästinensischen Gesellschaft aufmerksam machen, das unterdrückte palästinensische Narrativ hörbar machen und damit verbunden für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser eintreten. Während das „Freedom Theatre“ dabei eine ausdrücklich politische Perspektive einnimmt, betont das „Cinema Jenin“ eher die friedensfördernde Ausrichtung bzw. den Anspruch ein Filmtheater für alle zu sein. In einer Region wie IsraelPalästina sind politische Instrumentalisierungen derartiger Projekte aber nicht zu vermeiden.

7. Geteilte und teilbare Narrative

Dieses Kapitel widmet sich der Möglichkeit nach translokalen Widerstandstands- und Erinnerungsräumen, die den Weg zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts ebnen können. Besonderes Interesse liegt dabei auf vier unterschiedlichen, israelischen Menschenrechtsorganisationen, die sich im palästinensischen Widerstand engagieren. Dabei werden nicht nur die Stärken, sondern auch die Grenzen derartiger potenzieller Begegnungs-Räume deutlich, die doch eigentlich auf Offenheit und Dynamik abzielen.

7.1 K ULTURELLER W IDERSTAND : G ETEILTE UND TEILBARE N ARRATIVE : G EMEINSAME W IDERSTANDS UND E RINNERUNGSRÄUME ? Eine ernsthafte Lösung des Konfliktes, bei der beide Seiten dazu bereit sind, weitreichende Kompromisse einzugehen, scheint seit Jahren immer aussichtsloser zu werden. Zu tief eingeschrieben haben sich Misstrauen und Enttäuschung, Angst und Resignation. Beide Seiten beharren auf ihrem putativen Recht der einzig legitimen Erinnerung, des einzig legitimen Narrativs: jede Seite betont ihren Opferstatus, die Rolle des Täters kommt nur dem ‚Anderen‘ zu. Annäherungen, Zwischentöne, Grenzgänge und ein Blick auf die andere Seite sind im Gegensatz zu Ablehnung und Unverständnis eher die Ausnahme als die Regel – und bleiben es vermutlich auch. Während ich dieses Kapitel schreibe, gehen in Israel am 17. März 2015 die Neuwahlen zu Ende, die Benjamin Netanjahu Ende 2014 mitten in der laufenden Legislaturperiode durch die Entlassung zweier seiner liberalen Minister selbst herbeigeführt hatte; den Finanzminister Jair Lapid und die Justizministerin Zipi Livni. Und zum vierten Mal in Folge geht der rechtsgerichtete, konservative Likud mit Benjamin Netanjahu als Sieger aus dieser Wahl hervor. Die Opposition

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konnte mit keinem Gegenkandidaten überzeugen, der es mit der Macht Netanjahus hätte aufnehmen können. Netanjahu, der während seiner Amtszeit zwar viele drängende soziale Fragen, wie stagnierende Löhne und steigende Lebenserhaltungskosten, vernachlässigte, konnte jedoch mit der Beschwörung drohender Gefahren enorm punkten: der Terror von Hamas, Hisbollah und IS sowie das Atombombenprogramm des Irans. Die Aktivierung des im Zionismus verankerten Narrativs der ‚Sicherheit durch Stärke‘ scheint innerhalb der israelischen Wählerschaft gut zu funktionieren. Was die Beziehungen zu den Palästinensern betrifft, so lehnte Netanjahu einen Tag vor den Wahlen die Unterstützung einer Zwei-Staaten-Lösung, zu der er sich in einer Grundsatzrede 2009 verpflichtet hatte, mit den Worten, dass es mit ihm keinen Palästinenserstaat geben werde, ab. Ich gehe davon aus, dass ihm das einige zusätzliche Stimmen der rechtsgerichteten Wählerschaft eingebracht haben dürfte. Jetzt, kurz nach der Wahl, bekennt er sich wieder zur Zwei-Staaten-Lösung; nicht zuletzt aufgrund der heftigen Kritik aus den USA. Er spricht jedoch davon, dass die aktuellen politischen Bedingungen eine solche Möglichkeit derzeit nicht zuließen und warnt in einem Interview mit dem US-Sender MSNBC davor, dass in den palästinensischen Gebieten ein Terrorstaat entstehen könne.1 Sowohl die USA als auch die EU sehen in der Zwei-Staaten-Lösung den Schlüssel zur Beilegung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Die wenigsten Palästinenser, die ich kenne, glauben jedoch noch ernsthaft an diese Option. Zu sehr haben sich die israelischen Siedlungen innerhalb der Westbank ausgebreitet, zu groß sind mittlerweile die Unterschiede zwischen Westbank und Gazastreifen, zu zerstückelt das palästinensische Territorium. Die Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung, die ich in vielen Gesprächen erfragt habe, sind sehr unterschiedlich, kulminieren aber alle in dem Wunsch nach einer rechtlichen Gleichstellung, nach der Anerkennung als Palästinenser und einer Auflösung der Besatzungsstrukturen. Die Ansichten darüber, wie dies zu bewerkstelligen sei, variieren von Vorstellungen darüber, in einem israelischen Staat leben zu können, allerdings mit gleichen staatsbürgerlichen Rechten, in dem die jüdische Bevölkerung eben nicht bevorzugt werde; bis hin zu Vorstellungen in einem palästinensischen Staat zu leben, in dem all seine jüdischen Bewohner vollwertig integriert werden. Einige meiner palästinensischen Gesprächspartner meinten auch, die zahlreichen

1

http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-wahlsieg-in-israel-netanjahu-bekennt-sichwieder-zur-zwei-staaten-loesung-1.2402207 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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jüdischen Siedlungen akzeptieren zu können, wenn bloß die unterdrückende Gewalt aufhören würde und sie sich frei im Land bewegen könnten. Für viele der Israelis, mit denen ich über die Zukunft Israels gesprochen habe, ist ein gemeinsamer Staat wiederum nur schwer vorstellbar, da er aufgrund einer arabischen Bevölkerungsmehrheit den Anspruch und Charakter eines jüdischen Staates untergraben würde. Sie halten eher weiter an der Vorstellung zweier unabhängiger Staaten fest, um Israel als exklusiv jüdischen Staat erhalten zu können. All diese Vorstellungen – von einer Zwei-Staaten-Lösung bis hin zu einer binationalen Lösung haben ihre Vor- und Nachteile, Befürworter und Kritiker und lassen sich derzeit mitnichten politisch realisieren. Sie beschreiben ein komplexes Diskursfeld, an dem sich die Vielschichtigkeit und Langlebigkeit des Konfliktes spiegelt. Hier kollidieren miteinander unvereinbare Zielsetzungen, wie sie auch Galtung (2007) in seiner Konfliktdefinition erwähnt (Kapitel 1). Eine binationale Lösung gestaltet sich problematisch, da sie nicht nur den jüdischen Charakter des israelischen Staates untergraben würde, der seitens der israelischen Regierung nicht zu verhandeln ist, sondern in diesem Kontext wird auch immer wieder der Verweis gebracht, dass diese Lösung sogar die Legitimität eines jüdischen Staates zur Diskussion stellen würde. Dessen Rechtmäßigkeit infrage zu stellen, ist in jeglichen Aushandlungsprozessen hinderlich, die unbegrenzte Ausdehnung des Staates sollte aber durchaus thematisiert werden. Die Realisierung einer Zwei-Staaten-Lösung beruht im Kontext der bereits erwähnten Aspekte wiederum auf einer (unverhandelbaren) Bedingung der Symmetrie und Reziprozität, wobei mit Symmetrie nicht allein das Ende der israelischen Besatzung und militärisches Gleichgewicht gemeint ist, sondern gleichermaßen ein ökonomisches, politisches und kulturelles Gleichgewicht. Symmetrie und Reziprozität als Vorbedingung einer Zwei-Staaten-Lösung sind aufgrund des stagnierenden Friedensprozesses, des Misstrauens und aufgrund von machtpolitischen Eigeninteressen derzeit politische Utopie.2 Aktuell dominiert der politische Stillstand – vielleicht, weil Stillstand nach all den Jahren zermürbender Verhandlungen und den zahlreichen Opfern auf beiden Seiten des Konfliktes, einfacher zu ertragen ist, als das Risiko, das Veränderungen mit sich bringt. Konflikt und Krieg werden zum notwendigen (Über-)Lebens-Raum, in dem sich die Identitäten konstituieren. David Grossman hält für den israelischen

2

Galtung entwickelt das interessante (aber ebenfalls schwer realisierbare) Gedankenexperiment einer „Sechs-Staaten-Lösung“ im Sinne einer Nahostgemeinschaft nach dem Modell der europäischen Union, wobei es darum geht, Israel in die arabische Welt zu integrieren und vice versa. Siehe Galtung 2007, S. 186 ff.

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Zusammenhang in einem in der FAZ erschienenen Artikel im Sommer 2014 fest3: Die Hoffnung und die Verzweiflung – es gab Jahre, da wurden wir in meinem Land zwischen beiden hin und hergeworfen. Heutzutage scheint sich die Mehrheit der Israelis und Palästinenser in düsterer, stumpfer Verfassung zu befinden, aussichtslos, in einer Apathie des Tiefschlafs oder selbstgewählter Benommenheit. In Israel, das mit Enttäuschungen viel Erfahrung hat, tritt die Hoffnung heute (falls sie überhaupt noch jemand erwähnt) nur zögerlich auf, leicht verschämt, sich vorab schon entschuldigend. Die Verzweiflung hingegen kommt sicher und entscheidungsfreudig daher, als spräche sie im Namen eines Naturgesetzes oder eines Axioms, gemäß dem es niemals Frieden zwischen diesen beiden Völkern geben könne und der Krieg zwischen ihnen ein Dekret des Himmels wäre. Aus Sicht der Verzweiflung ist jeder, der noch hofft und an die Möglichkeit des Friedens glaubt, im besten Falle naiv oder ein Träumer, der sich in Illusionen wiegt, im schlechtesten Falle aber ein Verräter, der Israels Durchhaltevermögen schwächt, indem er es dazu ermutigt, sich falschen Visionen hinzugeben.

Gesichert ist, dass eine Lösung des Konfliktes nur mit schmerzhaften Kompromissen auf beiden Seiten vonstattengehen kann. Dass dies ein langer, dynamischer wie ambivalenter Prozess ist, muss nicht gesondert erwähnt werden. Was bedeutet das aber nun für die Entstehung bzw. Fertigstellung dieser Forschung? Für die eingangs formulierte Zielsetzung, gemeinsame Widerstands- und Erinnerungsräume aufzudecken? Seit Beginn meines Dissertationsprojektes ist es mein Anliegen, ein transnationales dialogisches Erinnerungsmodell zu entwickeln, das das Potenzial hat, die divergierenden (nationalen) Narrative und Mythen wie eine Brücke miteinander zu verbinden. Die auf die Geschichtsschreibung bezogene Idee der „bridging narratives“ (Pappe 2006: 194 ff.)4 ist nicht neu und zeichnet sich je nach Kontext potenziell durch ein hohes konfliktlösendes Potenzial aus: A bridging narrative can be defined as a conscious historiographical effort that is undertaken by historians in societies wrought with long internal and external conflicts in order

3

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/israels-politik-unsere-verzweiflung-ist-unseruntergang-13034508.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

4

Pappe, Ilan (2006), „The Bridging Narrative Concept“, in: Rotberg, Robert [eds.] (2006), Israeli and Palestinian Narratives of Conflict. History’s Double Helix, Bloomington: Indiana University Press, 194-205.

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to connect conflicting narratives and historiographies. A bridging narrative is a historiographical enterprise that is intrinsic to the more general reconciliation effort. If we limit this definition to intra-national conflicts, the bridge is built by historians on each side of the divide. It is initiated by historians who belong to the stronger party and are willing to recognize the other side’s narrative and at the same time adopt a more critical approach toward their own.

Als Beispiel für das Konzept der „bridging narratives“ nennt Pappe (2006: 195) das Vorgehen der „Neuen Historiker“ in Israel seit den 1980er-Jahren: [this] new orientation narrowed the gap between the opposing national narratives of the conflict’s history.

Wie der israelische Psychologe Dan Bar-On gehe ich jedoch davon aus, dass das Konzept der „bridging narratives“ derzeit nicht vollständig aufgehen kann und befürworte hingegen die Notwendigkeit zweier getrennter, aber miteinander verbundener Narrative.5 [It] is not possible to develop such a bridging narrative in the near future, except among a few exclusive and elite groups. However, the Israeli and Palestinian narratives are intertwined like a double helix, but they are still separate and should be acknowledged as such. For example, the Balfour Declaration will always be a positive event for Israeli Jews, who see it as the international community’s first acknowledgment of the need for a national homeland for the Jewish people, even before the Holocaust. For the Palestinians, the same declaration will always have negative connotations – the first of many events whereby the international community ignored their need for a national home on the same piece of land. (Bar-On/Adwan 2006: 205)

Die Getrennt- und zugleich die Verbundenheit beider Narrative wurde hier vor allem in den Kapiteln 2 und 6 aufgezeigt und hat die Frage nach geteilten und teilbaren Narrativen bzw. gemeinsamen Widerstands- und Erinnerungsräumen aufgeworfen. Meine Forschungsreisen, besonders in die besetzten palästinensischen Gebieten, haben gezeigt, dass Ansätze, die versuchen, die unterschiedlichen Interpretationen aufzulösen, wie sie zahlreiche staatliche und nicht-

5

Bar-On, Dan; Adwan Sami (2006), „The Psychology Of Better Dialogue Between Two Separate But Interdependent Narratives“, in: Rotberg, Robert [eds.] (2006), Israeli and Palestinian Narratives of Conflict. History’s Double Helix, Bloomington: Indiana University Press, 205-224.

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staatliche Vereine und Organisationen vertreten, nicht unbedingt den Kern des Konfliktes angehen. Diese gehen häufig vielmehr davon aus, dass es ausreiche, wenn sich beide Seiten in ihrer Menschlichkeit, in der Erfahrung des Leids des Anderen begegnen.6 Wie bereits in Kapitel 6 ausführlich dargestellt, postuliere ich, dass derartige Projekte und Konzepte in ihrer Relevanz, besonders für das Individuum, nicht unterschätzt werden dürfen, dass es zugleich aber nicht weniger wichtiger ist, die Machtasymmetrien auf denen der Konflikt gründet, deutlicher aufzudecken und deren Zentralität für die Beilegung des Konfliktes zu benennen: Nur so kann ein ernsthafter Dialog auf Augenhöhe funktionieren. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg, der von zahlreichen ambivalenten Prozessen begleitet ist, ist die Aufdeckung und die Infragestellung der tief in der israelischen wie palästinensischen Gesellschaft etablierten Machtstrukturen und die Suche nach Möglichkeiten, diese aufzubrechen. Dies wurde in dieser Studie beispielhaft an den beiden in der palästinensischen Zivilgesellschaft verankerten Projekte „Cinema Jenin“ und dem „Freedom Theatre“ gezeigt. Wie das „Cinema Jenin“ bewirkt das „Freedom Theatre“ keine Veränderungen oder dialogische Annäherung auf großer weltpolitischer Bühne, doch sind derartige Projekte ein zentrales Mittel und wichtiges Symbol des friedlichen Widerstandes gegen die unterdrückenden Strukturen der israelischen Besatzung und der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Bedeutung für die kollektive, und insbesondere für die individuelle Identitätsbildung kann kaum überschätzt werden. Auch wenn sich der israelisch-palästinensische Konflikt seit jeher durch unvereinbare, widersprüchliche Geschichtsverständnisse und Zielsetzungen auszeichnet, können derartige Projekte ein erster Schritt auf dem langen Weg hin zu einer friedlichen Beilegung des Konfliktes sein. Gleiches gilt auch für staatliche und nicht-staatliche Organisationen auf israelischer Seite, die sich im Kampf gegen die Besatzungsstrukturen und für die Rechte der Palästinenser engagieren. Vier dieser Organisationen, die im Verlauf der Arbeit schon an der ein oder anderen Stelle Erwähnung gefunden haben, werden im Folgenden kurz dargestellt: „Machsom Watch“, „Btselem“, „Breaking the Silence“ und „BDS“7.

6

Nicht selten stehen derartige Projekte unter religiöser Trägerschaft und/oder betonen

7

„BDS“ ist eine palästinensische Bewegung. Sie wird hier aber dennoch mit aufge-

die Rolle der Religionen zur Beilegung des Konflikts. führt, da sie mit „Boycott from Within“ ein israelisches Äquivalent im gemeinsamen Kampf gegen die Besatzung hat.

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Sie weisen durchaus das Potenzial auf, eine Gegengeschichte etablieren und gemeinsame Widerstands- und Erinnerungsräume kreieren zu können. Hier liegt die große Herausforderung und Chance des grenzüberschreitenden bzw. translokalen Widerstandes, für eine Akzentverschiebung von „co-existence“ hin zu „coresistance“.8

7.2 R ÄUME DES TRANSLOKALEN W IDERSTANDES : I SRAELISCHE M ENSCHENRECHTSORGANISATIONEN Die Beschäftigung mit palästinensischen Einrichtungen, die sich im gewaltfreien Widerstand engagieren, hat gezeigt, dass sich aufgrund der schwierigen, strukturellen Rahmenbedingungen, mit denen sich eine Bevölkerung unter Besatzung konfrontiert sieht, nur wenig gemeinsam nutzbare, grenzüberschreitende Widerstandsräume finden lassen. Hier geht es erst einmal darum, eine gemeinsame Sprache innerhalb der eigenen, fragmentierten Gesellschaft zu finden, die eigenen, heterogenen Geschichten zu erzählen und einer fortschreitenden Fragmentierung durch Siedlungsbau und Besatzung entgegenzuwirken. Auf israelischer Seite finden sich zahlreiche Organisationen, die sich am Kampf der palästinensischen Bevölkerung gegen die israelische Besatzung beteiligen, für deren grundlegenden Rechte eintreten, und auf die Ungleichheiten, die die Besatzung produziert, öffentlich aufmerksam machen. Diese politisch linksgerichteten Organisationen werden in Israel äußerst ambivalent wahrgenommen: Von Gleichgesinnten werden sie stark unterstützt, von Gegnern stark kritisiert und die Beteiligten nicht selten als Verräter sowie als Vertreter eines jüdischen Selbsthasses diffamiert. Grundsätzlich stehen sie, in einer Gesellschaft, die politisch in den letzten Jahren einen starken Rechtsruck erfahren hat, ständig unter Beschuss. Wie bereits mehrfach hervorgehoben, berühren Fragen des Widerstandes immer auch potenziell traumatische Erlebnisse und die damit verbundenen Erinnerungskonstruktionen. Dies führt dazu, dass die israelischen Widerstands- bzw. Menschenrechtsorganisationen nicht lediglich der Solidarität mit den Palästinensern dienen, sondern genauso – und manchmal sogar auch primär – den Blick auf das Eigene richten, um Veränderungen innerhalb der eigenen Gesellschaft zu bewirken, die dann natürlich auch an die Situation der Palästinenser rückgekoppelt sind. Fokussiert wird also nicht lediglich das Leid der an-

8

Zu den Begriffen „co-existence“ und „co-resistance“ siehe auch: Lederach, John Paul (2003), „The Little Book of Conflict Transformation“, New York: Good Books, 2014.

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deren Seite, dass es zu bekämpfen gilt, sondern eine zentrale Rolle spielt auch die Bindekraft von nationalen Verpflichtungen und Identifizierungen. 7.2.1 Beispiel 1: „Machsom Watch“ – Women against the Occupation and for Human Rights9 Wir wollen damit gegen die Besatzung protestieren. Sinn und Zweck dieser Aktion ist zugleich, dass die Soldaten sich von uns beobachtet fühlen und sich deshalb fair verhalten; sie fühlen sich von uns kontrolliert, deshalb mögen sie uns meistens nicht besonders. Drittens wollen wir den Palästinensern zeigen, dass es auch andere Israelis gibt, die keine Waffen tragen und an ihrem Leid teilhaben. Wir wollen zeigen, dass von unserer Seite nicht nur Schlechtes kommt. (DALIA GOLOMB, IN: SENFFT 2009: 193)10

„Machsom Watch“11 ist eine Initiative von israelischen Frauen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten, die seit 2001 den Alltag der Palästinenser an den zahlreichen Checkpoints für eine breite Öffentlichkeit dokumentieren und in problematischen Situationen auch unterstützend einschreiten. Eigenen Angaben zufolge besteht die Organisation aus etwa 400 aktiven Mitgliedern und finanziert sich ausschließlich über Spenden. Mit ihrer Arbeit richten sie sich explizit gegen die israelische Besatzung, gegen die anhaltende Beschlagnahmung palästinensischer Ländereien sowie gegen die Verweigerung grundlegender Menschenrechte.

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Homepage: http://www.machsomwatch.org/en Hier finden sich zahlreiche Informationen, Videos, Fotos und Berichte über die Arbeit von Machsom Watch.

10 Senfft, Alexandra (2009), „Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis“, Hamburg: edition Körber Stiftung. Dalia Golomb ist die Tochter von Eliyahu Golomb, dem Begründer der „Haganah“, aus der später die israelische Armee hervorging. Dalia Golomb, die sich seit mehreren Jahren für die Rechte der Palästinenser einsetzt, äußert ambivalente Gefühle hinsichtlich einer Lösung des Konflikts: „Wie kann man den Widerspruch zwischen einem Staat, der immer ein Zufluchtsort und ein Heim für Juden bleiben soll, mit einem demokratischen Staat für alle Bürger vereinen? Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden.“ 11 „Machsomim“ ist die hebräische Bezeichnung für Checkpoints.

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Through our observations, reports, films, photographs and tours we aim to influence public opinion in Israel and throughout the world by recording and authenticating the impossible conditions faced by Palestinians under Israeli occupation; conditions which also corrode the fabric of Israeli society and the values of democracy.12

Neben diesen Aktivitäten befasst sich „Machsom Watch“ mit der Nachvollziehbarkeit erteilter Einreiseverbote; denn viele Palästinenser erfahren erst bei ihrem Versuch einen Checkpoint in Richtung Israel zu überqueren, dass sie auf einer sogenannten ‚schwarzen Liste‘ stehen und den Checkpoint nicht passieren dürfen. Die Aktivistinnen bieten darüber hinaus ihre Hilfe beim Ausfüllen von Einreiseanträgen bei der „Civil Administration“ an, was für Palästinenser in der Regel eine große, undurchsichtige Herausforderung darstellt. „Machsom Watch“ engagiert sich darüber hinaus im Bereich der Bildung, gerade in den Regionen, in denen Bildungsangebote aufgrund der politischen Situation der Fragmentierung nur rudimentär vorhanden sind. Derartige Bildungsangebote richten sich speziell an Frauen und Kinder und werden von freiwilligen Aktivistinnen durchgeführt. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass dadurch Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern jenseits der israelischen Militärpräsenz ermöglicht werden können. Die Arbeit der Aktivistinnen wird innerhalb der israelischen Gesellschaft äußerst ambivalent aufgenommen, nicht selten werden die Frauen in die Nähe von Landesverräterinnen gerückt, die dem Ansehen des Staates Israel schaden. So wurde etwa im März 2006 eine geplante Fotoausstellung von „Machsom Watch“ in der israelischen Stadt Be’er Sheva vom amtierenden Bürgermeister mit dem Vermerk verboten, dass diese schädlich für die Befindlichkeit der Bewohner sei. Das Verbot wurde umgehend angefochten, jedoch durch das Oberste Gericht in Israel für rechtmäßig befunden.13 7.2.2 Beispiel 2: „B’Tselem“– The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories14 The focus on documentation reflects B’Tselem’s objective of providing as much information as

12 http://www.machsomwatch.org/en/about-us (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 13 http://www.haaretz.com/news/high-court-upholds-ban-on-machsom-watch-exhibit-inbe-er-sheva-1.184132 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 14 Homepage: http://www.btselem.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). Hier finden sich ausführliche Informationen zu Grundverständnis, Aufbau und Arbeit der Organisation.

298 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND possible to the Israeli public, since information is indispensable to taking action and making choices. Readers of B’Tselem publications may decide to do nothing, but they cannot say, ,We didn’t know‘.15

„B’Tselem“ wurde bereits 1989 von einflussreichen Akademikern, Rechtsanwälten, Journalisten und Regierungsmitgliedern gegründet. Ihr Anliegen ist es, die israelische Öffentlichkeit auf die Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten aufmerksam zu machen und damit der Leugnung von Gewalt, die mit den Besatzungsstrukturen und den Ungleichheiten, die diese produziert, einhergeht, entgegenzuwirken. Die Bezeichnung „B’Tselem“ geht auf Genesis 1: 27 der hebräischen Bibel zurück. In der Bibelstelle heißt es, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen habe („b’tselem elohim“).16 Laut B’Tselem betone die Namenswahl damit die Gleichheit des Menschen in seinen Rechten und seiner Würde. As an Israeli human rights organization, B’tselem acts primarily to change Israeli policy in the Occupied Territories and ensure that its government, which rules the Occupied Territories, protects the human rights of residents there and complies with its oligations under international law.17

Als unabhängige NGO ist „B’tselem“ auf externe Spenden angewiesen und gilt als etablierte und seriöse Informationsquelle innerhalb Israels wie auch international: B’Tselem ensures the reliability of information it publishes by conducting its own fieldwork and research, the results of which are thoroughly cross-checked with relevant documents, official government sources, and information from other sources, among them Israeli, Palestinian, and other human rights organizations.18

Neben Israel wird Öffentlichkeitsarbeit vor allem auch in den USA betrieben, die bekanntlich eine zentrale Position innerhalb des Konflikts einnimmt. „B’Tselem“ arbeitet mit (Zeugen-)Berichten, Foto- und Filmmaterial, Statistiken

15 http://www.btselem.org/about_btselem (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 16 http://www.btselem.org/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 17 http://www.btselem.org/about_btselem (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 18 http://www.btselem.org/about_btselem (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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und Karten zu diversen Themen rund um den israelischen Besatzungsalltag. Hervorzuheben ist, dass es seit 2007 ein sogenanntes „Kamera Projekt“ gibt, in dem Menschen in besonders konfliktreichen Gegenden, wie den South Hebron Hills, von „B’Tselem“ mit Videokameras ausgestattet werden; mit dem Ziel ihren Lebensalltag zu dokumentieren und für eine breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 7.2.3 Beispiel 3: „Breaking the Silence“– Israeli soldiers talk about the Occupied Territories19 In order to become civilians again, soldiers are forced to ignore what they have seen and done. We strive to make heard the voices of these soldiers pushing Israeli society to face the reality whose creation it has enabled.20

Die israelische Armee, die ihre Wurzeln in den vorstaatlichen zionistischen Untergrundorganisationen wie der „Haganah“ hat, bildet seit der Staatsgründung das Rückgrat der israelischen Gesellschaft. Doch wie die gesamte israelische Gesellschaft ist sie tief greifenden Veränderungen unterworfen, indem insbesondere die junge Generation Israelis den Militärdienst bzw. die Besatzung zunehmend infrage stellt. „Breaking the Silence“ ist eine israelische NGO, die 2004 von ehemaligen Soldaten der israelischen Armee gegründet wurde. Seither dokumentieren ehemalige und aktive Soldaten die Besatzungspolitik seit den 2000er-Jahren, dem Beginn der zweiten Intifada. Ziel der Nichtregierungsorganisation ist es, die israelische Gesellschaft über die Aktivitäten der Armee in den besetzten palästinensischen Gebieten zu informieren, indem sie (in der Regel anonyme) Erfah-

19 Auf Hebräisch heißt die Organisation „Schovrim Schtika“. Homepage mit zahlreichen detaillierten Informationen und ausführlichen „testimonies“: http://www.breakingthe silence.org.il/ (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 2012 erschien das deutschsprachige Buch: Breaking the Silence [Hrsg.] (2010), „Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten“, Berlin: Econ, 2012. Auch David Ranan setzt sich in seinem Buch kritisch mit dem israelischen Militärdienst auseinander: Ranan, David (2011), „Ist es noch gut, für unser Land zu sterben? Junge Israelis über ihren Dienst in der Armee“, Berlin: nicolai. 20 http://www.breakingthesilence.org.il/about/organization (zuletzt aufgerufen: 06.03. 2016).

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rungsberichte von Soldaten veröffentlicht. Die Aussagen und Berichte werden durch Fotoausstellungen21 und Videoclips ergänzt. Darüber hinaus organisiert „Breaking the Silence“ Vorträge und begleitet hebräisch- wie englischsprachige Touren nach Hebron und in die South Hebron Hills. Soldiers who serve in the Territories witness and participate in military actions which change them immensely. Cases of abuse towards Palestinians, looting, and destruction of property have been the norm for years, but are still explained as extreme and unique cases. […] Discharged soldiers returning to civilian life discover the gap between the reality they encountered in the Territories, and the silence about this reality they encountered at home.22

Sowohl die israelische Armee als die israelische Regierung lehnen die Arbeit von „Breaking the Silence“ ab und kritisieren unter anderem die finanzielle Unterstützung von ausländischen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Immer wieder sieht sich „Breaking the Silence“ mit dem Vorwurf konfrontiert, die Aussagen und Berichte erfunden zu haben und der israelischen Öffentlichkeit schaden zu wollen. Die Organisation hält dem entgegen, dass die persönlichen Berichte der Soldaten mit anderen Zeugenaussagen sowie mit Material anderer Menschenrechtsorganisationen überprüft und abgeglichen werden. Die meisten Berichte werden anonym veröffentlicht, um die Soldaten vor Anfeindungen als „Vaterlandsverräter“ und gewaltsamen Übergriffen zu schützen. Die Bedeutung dieser Organisation, aber auch ihre Ablehnung kann für den Widerstandskontext kaum überschätzt werden. Während meiner Forschungsaufenthalte ist mir bewusst geworden, was es für eine Armee, ihr Selbstverständnis und das der Bevölkerung bedeuten muss, seit mehr als 60 Jahren praktisch ununterbrochen im Einsatz zu sein. Konflikt ist hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Aus dem Trauma der Schoah resultiert die absolute Entschlossenheit, nie wieder machtund schutzlos einer feindlichen Macht ausgeliefert zu sein. Und schließlich gibt es den viel zitierten ‚David-und-Goliath-Effekt‘, der die psychologische Grundverfassung der israelischen Streitkräfte kennzeichnet: das Selbstbild einer relativ kleinen, aber außergewöhnlich schlagkräftigen und erfolgreichen Armee, die sich gegen mehrere zahlenmäßig überlegene Armeen an allen Landesgrenzen zu verteidigen hat. […] Die Konsequenzen aus der eigenen leidvollen Geschichte, gepaart mit der Notwendigkeit, immer anderen mi-

21 Beispielsweise im September 2012 in Berlin. 22 http://www.breakingthesilence.org.il/about/organization (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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litärisch überlegen zu sein – dies bildet die Grundlage für das Wertegerüst der israelischen Armee und ist gleichzeitig der alles überspannende Schirm eines gesellschaftlichen Zusammenhalts. (Ranan 2011: 11)

Seit 1948 finden die psychischen Belastungen der Soldaten kaum Erwähnung, die Demonstration von Stärke und der Fokus auf die zionistische Motivation stehen im Vordergrund und befördern damit ein idealisiertes Selbstbild, das vor allem für die Festigung des jungen Staates unerlässlich war. Während des Krieges 1973, in Israel als „Yom-Kippur Krieg“ bezeichnet, bekam die militarisierte Heldenrhetorik erstmals tiefe Risse: Die seelische Verletzlichkeit der Soldaten rückte in das Bewusstsein der israelischen Gesellschaft, was jedoch nicht bedeutete, dass die Strukturen grundsätzlich infrage gestellt wurden. Dass junge Männer und Frauen nun seit mehreren Jahren verstärkt versuchen, diese Strukturen und das Narrativ des unverwundbaren Soldaten in „der moralischsten Armee der Welt“23 zu durchbrechen, ist innerhalb der israelischen Gesellschaft dementsprechend als großer Tabubruch und Umbruch zu verstehen. 7.2.4 Beispiel 4: „BDS“– Boycott, Divestment and Sanctions against Israel For decades, Israel has denied Palestinians their fundamental rights of freedom, equality, and self-determination through ethnic cleansing, colonization, racial discrimination, and military occupation. Despite abundant condemnation of Israeli policies by the UN, other international bodies, and preeminent human rights organizations, the world community has failed to hold Israel accountable and enforce compliance with basic principles of law. Israel’s crimes have continued with impunity.24

Die „BDS“-Bewegung lässt sich am besten als internationale politische Kampagne gegen die israelische Besatzung in den besetzten palästinensischen Gebieten

23 In zahlreichen medialen Darstellungen wird die israelische Armee als besonders moralisch bezeichnet. Zum Beispiel: http://www.israeltoday.co.il/Defaultaspx?tabid= 178&nid=24780 (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 24 http://www.bdsmovement.net/bdsintro (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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bezeichnen. Sie wurde 2005 von insgesamt 170 palästinensischen NGOs, Parteien und Gewerkschaften ins Leben gerufen und hat seit 2007 mit dem „BNC“ (Palestinian BDS National Committee) ihre palästinensische Koordinierungsstelle für die weltweit durchgeführten Kampagnen. „BDS“ fordert das Ende der israelischen Besatzung aller palästinensischer Ländereien, die seit 1967 besetzten Gebiete einschließlich Ostjerusalem, die Aufgabe aller israelischen Siedlungen und der Sperranlage, die Durchsetzung des Rückkehrrechts palästinensischer Flüchtlinge und ihrer Nachkommen sowie die völlige Gleichberechtigung in Israel lebender Palästinenser. Erreichen will die Bewegung ihr Ziel mit (dem wirtschaftlichen, kulturellen und akademischen) Boykott Israels: Boycott target products and companies (Israeli and international) that profit the violation of Palestinian rights, as well as Israeli sporting, cultural and academic institutions. […] Israeli cultural and academic institutions directly contribute to maintaining, defending or whitewashing the oppression of Palestinians, as Israel deliberately tries to boost its image internationally through academic and cultural collaborations.25

mit Kapitalabzug aus Israel, Divestment means targeting corporations complicit in the violation of Palestinian rights ensuring that the likes of university investment portfolios and pension funds are not used to finance such companies. These efforts raise awareness about the reality of Israel’s policies and encourage companies to use their economic influence to pressure Israel to end its systematic denial of Palestinian rights.26

und Sanktionen gegen Israel: Sanctions are an essential part of demonstrating disapproval for a country’s actions. Israel’s membership of various diplomatic and economic forums provides both an unmerited veneer of respectability and material support for its crimes. By calling for sanctions against Israel, compaigners educate society about violations of international law and seek to end the complicity of other nations in these violations.27

Die „BDS“-Bewegung ist lokal und international sehr umstritten und führt zu heftigen Debatten. Wie bereits deutlich geworden ist, ist die Bewegung auf pa-

25 http://www.bdsmovement.net/bdsintro (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 26 http://www.bdsmovement.net/bdsintro (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016). 27 http://www.bdsmovement.net/bdsintro (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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lästinensischer Initiative hin entstanden, findet hier aber dennoch Erwähnung, weil sie seit 2008 in der „Boycott! Supporting the Palestinian BDS Call from Within“-Bewegung (kurz: „Boycott from Within“) ihr israelisches Äquivalent hat, das die Forderungen und Ziele von „BDS“ entsprechend unterstützt. Darüber hinaus ist „BDS“ zu einer internationalen Bewegung avanciert, die das Potenzial gemeinsamer, translokaler Widerstandsräume offenlegt und gleichzeitig die Gefahren der Vereinheitlichung und Etikettierung verdeutlicht. So wird beispielsweise in Anlehnung an die nationalsozialistische Propaganda „Kauft nicht bei Juden“, die BDS-Bewegung als moderner Judenboykott verstanden und Veranstaltungen auch für israelfeindliche, antisemitische Aktionen missbraucht. Diese für die Betroffenen oft schmerzhaften Erfahrungen müssen in einer kritischen Beurteilung unbedingt Berücksichtigung finden. Während meiner letzten Forschungsreise mit dem „Freedom Bus“ 2014, der sich den Prinzipien des „BDS“ verschreibt, haben zwei junge Männer aus Norwegen einen etwa 30minütigen Film gedreht, der auf Interviews mit israelischen und palästinensischen Künstlern und Aktivisten basiert, die das norwegische Nationaltheater dringlich dazu auffordern, seine Kooperation mit dem israelischen Nationaltheater „HaBima“ aufzulösen.28 In Gesprächen mit Palästinensern vor Ort hat sich darüber hinaus gezeigt, dass viele von ihnen zwar den Grundgedanken der Bewegung befürworten und unterstützen, aber die praktische Umsetzung für sie schwieriger ist als für internationale Befürworter. In den besetzten palästinensischen Gebieten gibt es oft nur wenige Alternativen zu den israelischen Produkten bzw. es fehlt oft an den finanziellen Mitteln, auf alternative, aber teurere Produktezurückzugreifen.

7.3 (Ü BER -)L EBENSRÄUME Die potenziell traumatischen Erfahrungen der Shoah und der nakba, die sich in der Staatsgründung Israels 1948 begegnen und komplementär spiegeln, sind wesentliche Bezugspunkte israelischer wie palästinensischer Identität und Erinnerung, die sich nicht nur in ihren jeweiligen Gesellschaften, sondern auch in ihrem gemeinsam beanspruchten Raum einschreiben. Die nakba, die Katastrophe der Flucht und Vertreibung infolge der israelischen Staatsgründung bedeutete für die Palästinenser eine dramatische und unumkehrbare Veränderung ihrer Le-

28 Der Film „To participate or not to participate. On Theatre, Resistance and Fundamental Human Rights“ ist online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v= wnngf-PWuno (zuletzt aufgerufen: 06.03.2016).

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benswelt, einen potenziell traumatischen Bruch, der die Wahrnehmung der Geschichte in ein ‚Davor‘ und ‚Danach‘ unterteilt, […] one is neither here nor there in terms of belonging; whether in Palestine or outside it, Palestinians are aliens. For the refugee, life is carried on in a borderland – a vulnerable betwixt and between – without the assumed comforts and ease of being at home. (Peteet 2005: 224)

Ein Umgang mit der Erfahrung der Entwurzelung findet sich auf palästinensischer Seite in der Entwicklung eines Märtyrerkultes, in dem nationalistische und religiöse Motive zugunsten einer transzendentalen Vereinigung mit der Heimat verschmelzen. Mit dem Gedenken an die ‚heldenhafte‘ Selbstopferungsbereitschaft der Märtyrer entsteht eine Erinnerungsgemeinschaft, die enorm identitätsund solidaritätsstiftend ist. Als Märtyrer gelten vor diesem Hintergrund nicht nur die sogenannten Märtyrer-Attentäter, sondern allgemein auch diejenigen, die im (bewaffneten oder unbewaffneten) Kampf gegen die israelische Besatzung ums Leben gekommen sind. Mit der israelischen Eroberung des biblischen Kernlandes 1967 verlieren die säkularen nationalistischen Widerstandsbewegungen in den palästinensischen Gebieten zunehmend an Glaubwürdigkeit, während die islamistischen Bewegungen in den Folgejahren immer mehr Zulauf und Zuspruch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung erhalten. Diese vertreten eine politisierte religiöse Ideologie und sind zugleich als soziale Protestbewegung gegen die Repräsentations- und Definitionsmacht des Westens bzw. des Zionismus zu verstehen. Die Märtyrer-Attentate der 1990er-Jahre gingen zunächst auf das Konto islamistischer Organisationen, erst im Verlauf der zweiten Intifada bedienten sich auch säkulare Gruppen dieser Strategie, allen voran die „Al-Aqsa Märtyrerbrigaden“, dem militanten Flügel der Fatah. Es besteht eine enge Verbindung, vor allem zwischen „nakba-Narrativen“ und der zweiten Intifada, die eine Kontinuität des Leids und eine Kontinuität des Verlustes spiegelt. Die Osloer Abkommen, und insbesondere die zweite Intifada, begünstigten die verstärkte Hinwendung zu Formen des kulturellen Widerstandes als einzige Alternative, die im Kampf gegen die Besatzungsstrukturen noch bleibt. Bresheeth (2007: 178) erklärt: In the period following the Oslo Accord of 1993, until the start of the second intifada in 2000, the main struggle between the dominance of Zionism and the emerging nationhood of Palestine passed from the arena of armed struggle to that of memory and culture […]. Fighting the injustice of such (Zionist, Anmerkung A.R.) narratives has to take place in

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the cultural arena – not as a replacement for the arena of the physical, but as its complement.

Komplementär zur palästinensischen Erfahrung bedeutete die Gründung des Staates Israel für die jüdische Bevölkerung wiederum ein vorläufiges Ende des jahrhundertelangen Traumas von Verfolgung und Vertreibung, das in der Vernichtung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus seinen Höhenpunkt fand. Für die Überlebenden der Shoah und ihrer Nachfahren – innerhalb und außerhalb des Landes – ist Israel realer und symbolischer Zufluchtsort und verspricht den Juden weltweit eine Art von Sicherheit, dass derartige Verbrechen nicht noch einmal geschehen können. Die Angst vor Vernichtung spiegelt sich auch in der strengen Sicherheits- und Selbstverteidigungspolitik Israels wider, die jedoch allzu oft auch zugunsten hegemonialer Machtinteressen instrumentalisiert wird und – mit Blick auf die Situation der palästinensischen Bevölkerung – die Grenzen zwischen berechtigtem Widerstand und illegitimen Terrorismus schnell verschwimmen lässt: Aus dem Widerstand der Palästinenser wird in der Folge eine terroristische Manifestation des (nicht selten religiös gedeuteten) Bösen. Die durch den europäischen Zionismus erreichte Gründung eines jüdischen Staates, bedeutete gleichzeitig jedoch die Negation jüdischen Lebens in der Diaspora sowie die Konstruktion eines ‚nicht-europäischen jüdischen Anderen‘, des tief in den arabischen Ländern verwurzelten ‚orientalischen Juden‘, der es bis heute ungleich schwerer hat, sich innerhalb der israelischen Gesellschaft zu behaupten. Ihre Bedeutung für die jüdische Geschichte und Identität wird bis heute zugunsten einer homogenen jüdischen Erfahrung, welche die der europäischen Juden ist, marginalisiert: […] following two millennia of homelessness and living presumably ,outside of history‘, Jews could once again ,enter history‘ as subjects, as ,normal‘ actors on the world stage by returning to their ancient birth place, Eretz Israel […] This transformation – from Diaspora to redemption – offered a teleological reading of Jewish history in which Zionism formed a redemptive vehicle for the renewal of Jewish life on a demarked terrain, no longer simply spiritual and textual but, instead, national and political. (Shohat 2006: 331)

Zusammenfassend ist an dieser Stelle festzuhalten, dass von der Bedeutungslosigkeit des Raumes in all seinen Facetten sowie von einer Auflösung der Grenzen im israelisch-palästinensischen Kontext nicht die Rede sein. Raum ist hier insbesondere ein erinnerter und imaginierter Raum, in dem sich verschiedene kollektive Gedächtnisse in einer ambivalenten Dynamik von Erinnern und Vergessen einschreiben. Er ist Konfliktraum: Raum zahlreicher kriegerischer Ausei-

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nandersetzungen, die sowohl auf beiden Seiten zahlreiche Opfer fordern, als auch enorm identitätsstiftend sind: Krieg wird zu einem (Über-)Lebensraum, in dem man zwei beherrschenden Narrativen gegenübersteht: dem durch den europäischen Zionismus fortgeschriebenen biblischen Erlösungsdrama mit der Ereignisabfolge von Erwählung, Exodus, Landnahme, Exil und verheißener Erlösung, die sich im Staat Israel manifestiert sowie dem palästinensischen Märtyrerideal, dem Ideal des sich selbstaufopfernden Kämpfers (siehe auch Neuwirth 2004a: 39). Die zunehmende Einbettung religiöser Deutungskategorien in die politische Agenda hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Konstruktion kollektiver Erinnerung. Auf israelischer Seite macht es beispielsweise sehr wohl einen Unterschied, ob man von Einwanderung spricht oder (verstärkt seit 1967) von Rückkehr, vom Staat Israel („Medinat Israel“) oder vom Land Israel („Eretz Israel“), von Besetzung oder Erlösung. Eng verbunden mit diesem religiös gefärbten Vokabular ist die Überzeugung, dass der Widerstand der Palästinenser gegen das israelische Narrativ keine legitimen Ursachen habe, sondern – zugespitzt formuliert – eine „neue Manifestation eines altbekannten Antisemitismus“ (Kippenberg 2008: 122) sei. Auf palästinensischer Seite wiederum führt die verstärkte Instrumentalisierung religiöser Gewalt für politische Zwecke beispielsweise zur Deutung palästinensischer Muslime als sogenannte „Grenzkämpfer“ (ebd.: 135), die islamisches Territorium, genauer das „Stiftungsland Palästina“ (ebd.), gegen die gottlosen, zionistischen Feinde von außen verteidigen müssen. Analog zur fundamentalistischen nationalreligiösen Siedlerbewegung werden die islamistischen Widerstandsorganisationen heilsgeschichtlich verortet, was im Irael-Palästina-Konflikt immer in eine komplizierte Synthese aus Politik und Religion mündet. Die Beschäftigung mit den Projekten „Cinema Jenin“ und dem „Freedom Theatre“ sowie der knappe Überblick über Institutionen in Israel, die sich für die Rechte der Palästinenser engagieren, soll darauf aufmerksam machen, dass es jenseits der großen weltpolitischen Bühne durchaus Bewegungen und Annäherungen innerhalb des israelisch-palästinensischen Konfliktes gibt. Die Rede von einer kompletten Stagnation trifft zumindest nicht für die zivilgesellschaftliche Ebene zu. Inwieweit derartige Organisationen künftig genug Einfluss auf gesellschaftspolitische Veränderungen haben, bleibt abzuwarten. Auch wenn Veränderungen sich bisher nur geringfügig abzeichnen, so ist ihre Wirkungsmacht dennoch nicht zu unterschätzen. Dadurch, dass über die Arbeit derartiger Organisationen gesprochen und diskutiert wird und dadurch, dass sie befürwortet oder infrage gestellt werden, finden sie ihren Platz in der Gesellschaft und im Bewusstsein ihrer Mitglieder. Auch für die Individuen, die sich in den Widerstands- bzw. Menschenrechtsorganisationen engagieren, bedeutet dies ein Aufbrechen respek-

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tive Ausbrechen aus Strukturen, die lange Zeit normativ gesetzt wurden. Auf palästinensischer Seite hat sich gezeigt, dass sich aufgrund der schwierigen strukturellen Rahmenbedingungen nur wenig gemeinsam nutzbare Widerstands- und Erinnerungsräume finden lassen, und dass es in erster Linie darum geht, der territorialen wie gesellschaftlichen Fragmentierung durch das Erzählen der eigenen Geschichte entgegenzuwirken. Selbstverständlich richten auch die israelischen Institutionen den Blick auf ihre eigene Gesellschaft, um diese nach ihren Vorstellungen positiv zu verändern. Es geht dabei also nicht nur die Solidarisierung mit den Palästinensern im Kampf um ihre grundlegenden Rechte. Mit der Forderung für die Anerkennung palästinensischer Rechte, geht auch die Identifikation mit der eigenen Gesellschaft einher. Israelische Geschichte und Identität ist unauflöslich mit der palästinensischen verbunden. Hierin liegen das Potenzial und die Herausforderung gemeinsamer, translokaler Widerstands- und Erinnerungsräume, beispielsweise durch die Bezugnahme auf die unterschiedlichen historischen Narrative, durch die öffentliche Benennung der nakba im Kontext der israelischen Staatsgründung, durch die Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Auswirkungen der militärischen Besatzung für die palästinensische wie für die israelische Gesellschaft. Besondere Bedeutung kann der Figur des Flüchtlings zukommen: In ihr verschmelzen die beiden Kollektiven innewohnenden Erfahrungen des Flüchtens und des Exils. Konkrete Orte können zu gemeinsamen Widerstands- und Erinnerungsorten werden, beispielsweise durch die Kennzeichnung ehemaliger arabischer Dörfer, die im Zuge der Staatsgründung zerstört wurden, wie sie in auch Gemeinschaftsprojekten in Israel durchgeführt werden (Bardenstein 1999). Wie deutlich geworden sein sollte, gibt es aber vor allem auch zahlreiche symbolische bzw. mediale Widerstands- und Erinnerungsräume. Theater und Film eröffnen dialogische Erprobungs-Räume für translokale Erinnerung und Widerstand, welche die Zentralität von „co-resistance“ als Vorbedingung für „co-existence“ hervorheben. In aller prozesshaften Dynamik zeigen dies beispielsweise die in Kapitel 6 vorgestellten Dokumentarfilme „Das Herz von Jenin“ und „Nach der Stille“, die im geschützten Raum des dokumentarischen Begleitens eine vorsichtige Annäherung zwischen den Konfliktparteien ermöglichen, die Brüche und Ambivalenzen werden jedoch nicht aufgelöst. Aber auch Spielfilme wie „Waltz with Bashir“ von Ari Folman, „Divine Intervention“ von Elia Suleiman und „Lemon Tree“ von Eran Riklis setzen sich mit dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ zugunsten einer dialogischen Annäherung in all ihrer schwierigen Dynamik auseinander. Für den Filmkontext hält Bresheeth (2007: 183) folgerichtig fest:

308 | E RINNERUNGSKULTUR UND KULTURELLER W IDERSTAND The very act of making such films is an active reclaiming of Palestinian identity by the directors, an act of sharing the fate of the divided nation and community, and of bridging and combining memory. […] Palestinian cinema exists in an exilic interstice – between fact and fiction, between narrative and narration, between the story and its telling, between documentary and fiction, not to mention between Israel and Palestine, and between life and death.

Im Wesentlichen lässt sich diese Feststellung auch auf den Theaterkontext übertragen. Beim Aufzeigen gemeinsamer Widerstands- und Erinnerungsräume soll und kann es also nicht darum gehen, dass die unterschiedlichen (historischen) Narrative zu einem einzigen Narrativ verschmolzen werden; inhärente Differenzen und Ambivalenzen können nicht ‚einfach so‘ aufgelöst werden. Eine gleichwertige, gleichberechtigte Darstellung innerhalb eines gemeinsamen Narrativs kann es derzeit nicht geben: Es wird immer Deutungshegemonien zugunsten der einen oder anderen Seite geben, was Erinnerungskonkurrenzen neu (re-)produziert. Das weitaus größere Potenzial liegt in der Etablierung zweier unabhängiger, aber miteinander verbundenen Narrative, die in beiden Gesellschaften (mit unterschiedlicher Gewichtung) ihren Platz, ihre Anerkennung und ihre Akzeptanz haben, mit all ihren Gegensätzen, Ähnlichkeiten und Widersprüchen, sodass durchaus gemeinsam bewohn- und nutzbare reale und symbolische Räume entstehen, eine Verschiebung von Grenzräumen hin zu translokalen Erinnerungsräumen mit geteilten und teilbaren Geschichten, die sich wie in einem „Dritten Raum“ nicht komplett auflösen, aber etwas Neues entstehen lassen. Selbstverständlich unterliegt dies einem langen, ambivalenten und durchaus schmerzhaften Prozess, der sich nicht direkt auf der großen politischen Ebene entwickeln wird, sondern das Potenzial liegt in der jeweiligen Zivilgesellschaft begründet, beispielsweise mit unterschiedlicher Gewichtung innerhalb der hier vorgestellten Film- und Theaterprojekte. Wie auch Literatur, sind Film und Theater ganz besonders dazu geeignet, alternative Erinnerungs- und Widerstandsräume zu kreieren, innerhalb derer zumindest auf symbolischer Ebene ein Zusammenleben erprobt und gestaltet werden kann. Im Zusammenhang und in Kombination mit dem postkolonialen methodischen Grundverständnis, erweist sich der kulturwissenschaftliche Zugang zur Bedeutung von Erinnerung und Widerstand als besonders geeignet. Erinnerung und Widerstand sind im israelisch-palästinensischen Kontext an Gedächtnis(medien) gebunden. In den Kulturwissenschaften wird Gedächtnis als ein diskursives Konstrukt verstanden, unter dem vielfältige, heterogene Phänomene von Erinnerung und Vergessen zusammengefasst werden. Das kollektive Gedächtnis fungiert dabei als ein Oberbegriff

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[…] für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt. (Erll 2011: 6)

Vor dem Hintergrund postkolonialer Theoriebildung spricht Rick Crownshaw (2013)29 von der Transkulturalität der Erinnerung, womit die translokale, transnationale und globale Zirkulation von Inhalten, Medien, und Praktiken kultureller Erinnerung gemeint ist und eine deutliche Akzentverschiebung von den statischen Orten des Gedächtnisses hin zu einer dynamischen Bewegung der Erinnerung durch Zeit und Raum stattfindet. So wie ich meine Arbeit mit einem Zitat von David Grossman begonnen habe, beende ich sie mit einem Auszug aus dem Ende seines Roman „Stichwort: Liebe“, in dem Überlebende der Shoah ihre Wünsche zum Schutze eines Kindes sprechen: Und er betrachtete das Kind voller Mitleid, in dem schon Liebe steckte, und die Flammen des Schmerzes und der Wonne pflügten die trockenen Schollen seines alten Herzens um, und wieder keimten, wie immer gegen seinen Willen, gegen seine Entschlüsse und alles, was er über diese Welt und ihre Menschen und über dieses Leben, das kein Leben war, wußte – frische Sprossen der Hoffnung in ihm. Er betete während das Kind auf dem Rücken lag – Markus: „Daß er fähig sein würde, die heftige Leidenschaft für das Leben auf dem Gesicht des Kindes ebenso zu bewahren wie sein herrliches Vertrauen, offen für alles zu sein und an alles zu glauben.“ Fried: „Und daß ich ihn nicht vergiften würde mit all dem Haß, der in mir steckt“, Markus: „und mit allem, was ich weiß“, Otto: „und daß ich ihn männlich und mutig und voller Vertrauen heranwachsen lasse“, […]. Und Wasserman hob die Augen zu Neigel und sagte: „Und wir beteten alle um eine Sache: daß er sein Leben beenden würde, ohne etwas vom Krieg zu wissen. […] Um so wenig baten wir, so klein war unsere Bitte: daß ein Mensch sein Leben von Anfang bis Ende leben möge, ohne zu wissen, was das ist: Krieg.

29 Crownshaw, Rick [eds.] (2013), „Transcultural Memory“, London: Routledge.

Literatur

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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)

Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6

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