Vor der Mauer: Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961 9783412214081, 9783412206727

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Vor der Mauer: Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961
 9783412214081, 9783412206727

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Vor der Mauer

Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 48

Michael Lemke

Vor der Mauer Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Michael Lemke ist apl. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und war von 1997 bis 2009 Abteilungsleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die beiden Wappen des geteilten Berlins in einem U-Bahnzug der Linie A (Pankow–Ruhleben). Links das Wappen des Landes Berlin (West) und rechts das Wappen des Magistrats Ostberlins. Quelle: Landesarchiv Berlin F Rep. 290

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20672-7

Inhalt

Einleitung.............................................................................................................................. 11 1. Ausgangslage und Ziele der Arbeit.............................................................................. 11 2. Gestaltungsprinzipien und Methoden ....................................................................... 14 3. Inhaltliche Probleme und Thesen ............................................................................... 17 4. Anmerkungen zu Forschungsstand und Quellenlage ............................................. 21 I. Politik 1. 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.2.1 1.3.2.2 1.3.2.3 1.3.2.4 1.3.3 1.3.3.1 1.3.3.2 1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2

Das gespaltene Berlin zwischen Realität und Wahrnehmung ................... 29 Der „politische Sinn“ des geteilten Berlin ...................................................... 29 Die politisch-rechtliche Situation.................................................................... 30 Konkurrierende Ansprüche .............................................................................. 33 Berlin als „Schaufenster“ .................................................................................... 37 Revolutionäre oder demokratische Transformation?.................................. 40 Zweierlei Geschichtspolitik und gelenkte Erinnerung................................ 43 Die Trennung von Administration und Infrastruktur nach 1948 ........... 53 Die Neuformierung der Bürokratie................................................................. 53 Die Teilung der Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur......................... 59 Gesamtberliner Regelungen .............................................................................. 67 Probleme im Alltag.............................................................................................. 72 Die Kooperation von Polizei, Justiz und Behörden..................................... 79 Symbolische Aktionen und verschenkte Möglichkeiten............................. 83 Gesamtberlin in der politischen Arbeit .......................................................... 86 Organe, Gremien und Ziele .............................................................................. 86 Die Strategie und Taktik der SED................................................................... 88 Die SPD in West-Berlin als wichtigste Zielgruppe ...................................... 88 Der „innere Feind“: Die SPD in Ost-Berlin .................................................. 92 Die Methoden und Effekte der politischen Arbeit der SED...................... 94 Der Westeinsatz in der Krise ............................................................................ 98 Gesamtberliner Politik in den Westsektoren ..............................................107 Das Büro für Gesamtberliner Arbeit.............................................................107 Antikommunistische Initiativen....................................................................113 Die Brückenfunktion der Kirchen.................................................................117 Die Schlacht um freie Wahlen........................................................................124 Die SED in der Defensive und die innere Opposition ..............................124 „Volksvertretung“ gegen „freie Wahlen“ (1954) ........................................132

6

Inhalt

1.4.3

Die Wahlen von 1958 in West-Berlin und ihre „Lehren“........................138

2. 2.1 2.2

Östliche Jugendtreffen und westsektorale „Gegenspiele“.........................141 Das Pfingsttreffen der FDJ von 1950............................................................141 „Berlin ruft die Jugend der Welt.“ Die III. Weltfestspiele von 1951 .....145

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Exkurs: Berlin-Werbung und Politik ............................................................152 Grundlagen, Konzepte, Probleme..................................................................152 Institutionen und Gremien.............................................................................159 Methoden und Instrumentarien ....................................................................162 Fremdenverkehr im Wettbewerb...................................................................165 „Baustellen“-Tourismus und politische Stadtrundfahrten.......................168

4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.3

Die Eskalation des Berliner Systemkonflikts (1952–1954) .....................171 Der östliche Frontalangriff auf West-Berlin 1952 .....................................171 Der Fall Kamieth als propagandistischer Prolog.........................................172 Die Sperrmaßnahmen und Restriktionen von 1952 .................................177 Die „Vergeltung“ des Westens........................................................................181 Die fatale Wechselwirkung zwischen antikommunistischer Hysterie und „Klassenkampf“ .........................................................................................185

5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7

Der 17. Juni 1953 als Gesamtberliner Erfahrung .......................................189 Der „Neue Kurs“ und die Krise aus West-Berliner Sicht..........................189 Ein Volksaufstand für das ganze Berlin ........................................................198 Nach dem Junisturm: Sofortmaßnahmen in Ost-Berlin ..........................200 Politische Konsequenzen in West-Berlin.....................................................204 Der Aufstand als traumatische Erfahrung....................................................208 Amerikanisches „Affenfett“ als politische Waffe? .....................................214 Die Berliner Außenministerkonferenz 1954 und der regionale Systemkonflikt ...................................................................................................223

6. 6.1

Berlin in Turbulenzen: Die zweite Berlinkrise und der Mauerbau ........225 Chruschtschow-Ultimatum und Berlin-Konflikt im regionalen Kontext......................................................................................225 Die Gesamtberliner Dimension der östlichen Versorgungskrise ............230 Die Ouvertüre: Engpass-Ängste und „Butterquerelen“ ............................230 Ursachen und Symptome der realsozialistischen Misere ..........................232 Die Politisierung der Wirtschaftskrise..........................................................235 Das Ost-Berliner Krisenmanagement...........................................................241

6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4

7

Inhalt

6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3

Die Ost-Berliner Arbeitskräftefluktuation und ihr West-Berliner Hintergrund .......................................................................................................247 Die eskalierende Republikflucht: Motive und Wirkungen......................247 „Verdeckte“ Abwanderung und „Abwerbung“...........................................251 Die Zuspitzung der Auseinandersetzung um die Grenzgänger ...............258

II. Wirtschaft und Soziales 1. 1.1 1.2 1.3 1.4

Die sozioökonomische Entwicklung nach der Spaltung...........................265 Die Westsektoren..............................................................................................265 Der Ostsektor.....................................................................................................275 Berlinhilfen .........................................................................................................279 Währungsprobleme, Währungskontrolle und Wechselkurse .................286

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.5 2.6 2.6.1 2.6.2 2.7

Lebensstandard im Vergleich..........................................................................290 Löhne ...................................................................................................................293 Preise ....................................................................................................................295 Ungleiche Versorgungsprobleme ...................................................................300 Der Niedergang der Privatwirtschaft in Ost-Berlin...................................311 Groß- und Einzelhandel...................................................................................311 Industrie- und Handwerksbetriebe ...............................................................316 Gesundheitspolitik im Wettbewerb..............................................................321 Die Grenzgänger................................................................................................328 Die Haltung der Stadtregierungen und die Motive der Grenzgänger....328 Die Lösung des Ostgängerproblems der SED .............................................335 Wechselwirkungen der sozialökonomischen Konkurrenz.......................339

3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Konsum ohne Grenzen ....................................................................................346 „Einkaufstourismus“ und Warenkonkurrenz .............................................346 Der Berliner „Bäckerkonflikt“........................................................................353 „Herr Schimpf“ und „Frau Schande“............................................................357 Die repressiven Maßnahmen West-Berlins und ihre ambivalente Bilanz ............................................................................................361 Ost-Berliner Blockadeversuche im Mai/Juni 1952....................................367 Die Offensive gegen „Schieber und Spekulanten“ (1952–1961)............370 Ambivalenzen der Ost-Berliner Ausfuhrverbote........................................377 Vom Mangel zum „Luxus“ oder die Magie der Einkäufe im Westen.....382 Der professionelle Warenschmuggel nach 1950.........................................389 Offiziöse Wirtschaftskontakte .......................................................................393

3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10

8

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Inhalt

Konkurrierendes Bauen und Wohnen .........................................................396 Berliner Städtebau: Konzepte und Anspruch .............................................396 Planen und Bauen unter gegensätzlichen Vorzeichen...............................400 „Schaufenster“-Ideologie in Stein und Glas.................................................404 Finanzen, Ressourcen und sozialer Wohnungsbau im Wettstreit..........406 Westliche „Interbau“ versus Ost-Berliner Wettberwerb „Stadtzentrum“ ..................................................................................................414

III. Kultur, Bildung und Sport 1. 1.1 1.2 1.3

2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Berlin im kulturpolitischen Wettstreit der Systeme..................................419 Die Politisierung der Kultur............................................................................420 Institutionen und Gremien zwischen Kulturkonkurrenz und Kontaktversuchen .............................................................................................428 Der Gesamtberliner Kulturplan des Senats und die Reaktionen in Ost-Berlin (1956–1961) .............................................................................434 Theater als Konfliktzone .................................................................................440 Die Sprechbühnen nach der Teilung Berlins ..............................................440 Der Kalte Krieg erobert das Schauspiel.........................................................441 „Volksbühne“ gegen „Volksbühne“...............................................................444 Grenzgänger des Theaters?..............................................................................447 Boleslaw Barlog, der Osten und die Unduldsamkeit .................................453 Der „Sängerkrieg“ an der Spree ......................................................................459 Das musikpolitische „Schlachtfeld“ und die Schwierigkeiten für Senator Tiburtius........................................................................................459 Die „Dissidenten“: Michael Bohnen, Margarete Klose und Erich Kleiber ..............................................................................................462 Die Affäre Walter Felsenstein ........................................................................471 Ein ähnliches Paar? West-Berliner „Festwochen“ und Ost-Berliner „Festtage“ ............................................................................477 Die Kinokonkurrenz.........................................................................................483 Kulturpolitik auf der Leinwand .....................................................................483 Die technische und finanzielle Situation......................................................486 Das Kinoproblem in der östlichen Wahrnehmung ...................................489 Die Grenzkinos als politisches Ärgernis .......................................................495 Die Lichtspiele im Osten und das „Tauwetter“..........................................497 Westliche Kinosubventionen und ihre Folgen für Gesamtberlin...........501 Die politische „Berlinale“.................................................................................505

Inhalt

9

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5

Der Dualismus von Rundfunk und Fernsehen...........................................510 Die Struktur des Berliner Hörfunks nach der Teilung .............................510 Die Ziele und Feindbilder des rundfunkpolitischen Wettbewerbs........512 Eine „freie Stimme der freien Welt“: Der RIAS .........................................515 Berliner Radioprogramme im Wettstreit.....................................................519 Das gesprochene Wort .....................................................................................519 Musik und Unterhaltung.................................................................................523 Die Anfänge der intersektoralen Fernsehkonkurrenz...............................525

5. 5.1

Doppelte Offerten: Populärkultur und Freizeitgestaltung ......................529 Unterhaltungskunst, Amüsement und volkstümliche Weihnachtsmärkte............................................................................................529 Tierpark versus Zoo: Eine Ost-Berliner Erfolgsstory ................................536 „Magnetische Messen“ und Ausstellungen .................................................541

5.2 5.3 6. 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.3.1 6.3.2

Bildung, Hochschule und Sport.....................................................................549 Die Schulkonkurrenz im geteilten Berlin.....................................................549 Die Auseinandersetzung um die Berliner Einheitsschule und die Offensive der SED..............................................................................550 Schulpolitische Wechselwirkungen...............................................................556 Der intersektorale Kampf um die Schüler aus dem Osten .......................560 Ostabiturienten zwischen SED und West-Berliner Interessen...............567 Ferien- und Freizeitgestaltung als Sympathiewerbung..............................572 Das Duell der Berliner Universitäten und öffentlichen Bibliotheken...579 Die Freie Universität als politische Kreation ..............................................579 Konstituierung und Konsolidierung der rivalisierenden Berliner Hochschulsysteme.............................................................................................585 Umstrittene Oststudenten an der West-Berliner Alma Mater ...............588 Bibliotheken und grenzüberschreitende Buchausleihe .............................595 Sport .....................................................................................................................599 Wettstreit zwischen Abgrenzungsideologie und Einheitsmentalität.....599 Die Konkurrenz der Sportarenen und Sportarten .....................................606

Zusammenfassung.............................................................................................................611 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................................................639 Tabellenverzeichnis...........................................................................................................643 Literaturverzeichnis ..........................................................................................................645 Personenverzeichnis..........................................................................................................669 Abbildungsverzeichnis .....................................................................................................673

Einleitung 1. Ausgangslage und Ziele der Arbeit „Berlin, die Insel der Freiheit“, müsse „politisch und wirtschaftlich so widerstandsund leistungsfähig gemacht werden“, dass es als „Vorort der freien Welt“ auf den Osten Berlins ausstrahle. Nichts geschehe im Westteil der Stadt, was im Sowjetsektor nicht verglichen und gewertet würde1, bemerkte der Regierende Bürgermeister Walther Schreiber (CDU) im April 1954. Nur wenige Monate später formulierte der ostsektorale Magistrat wie folgt: In Berlin „existieren auf engstem Raum zwei Ordnungen nebeneinander. Die Menschen haben täglich unmittelbare Vergleichsmöglichkeiten. Vom demokratischen Sektor muß daher eine magnetische Kraft ausstrahlen, daß alle Werktätigen Berlins diesem Beispiel echter Demokratie zu folgen bereit sind.“2 Kaum einen Zeitgenossen des Jahrzehnts nach der politischen Spaltung Berlins im Jahre 1948 überraschten diese im Kern sehr ähnlichen Aussagen, obwohl hinter ihnen einander diametral entgegengesetzte gesellschaftliche Ordnungen und politische Interessen standen. Beide Teile Berlins trennte und verband ein allgemeines Phänomen: der Konflikt zwischen dem parlamentarischen, rechtsstaatlich verfassten liberalen Westen und der östlichen kommunistischen Diktatur nach sowjetischem Muster. Gerade in der ehemaligen Reichshauptstadt bildete diese im Rahmen und in den Formen eines Kalten Krieges ausgetragene weltweite ordnungs- und machtpolitische Auseinandersetzung ihr wohl wichtigstes Merkmal aus: die Systemkonkurrenz. Ob konfrontativ, als friedlicher Wettbewerb oder in Kombination unterschiedlicher Methoden: Sie entwickelte in der Zeit zwischen 1948 und dem Mauerbau im geteilten Berlin Eigenschaften, die den Geist und Verlauf des allgemeinen Kalten Krieges spiegelten, aber auch regionale Spezifika mit ihren Rückwirkungen auf den Ost-WestKonflikt in toto. Zu den Besonderheiten dieser Konkurrenz im politisch geteilten Berlin gehörten als eine Einmaligkeit die bis zum Mauerbau noch offenen innerstädtischen Grenzen und eine damit verbundene relative Systemdurchlässigkeit

1 Walther Schreiber, „Berlins Wünsche und Erwartungen“, in: Presseamt des Senats, Nr. 88, 15.4.1954. 2 „Erklärung des Magistrats von Groß-Berlin vor der Volksvertretung Groß-Berlin am 22. November 1954“, in: Landesarchiv Berlin (LAB), C Rep. 902, Nr. 1313.

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Einleitung

der Verhältnisse „hüben“ und „drüben“. Ebenfalls singulär waren die wechselseitigen „Schaufenster“3 der Überlegenheit, die der Wettbewerb hervorbrachte. Die Berliner Systemkonkurrenz von der administrativen Spaltung der Stadt im Herbst 1948 bis zum Mauerbau im August 1961 ist der Forschungsgegenstand der Arbeit. Diese Teilungszäsuren bilden auch ihren Zeitrahmen. Das Thema umgreift inhaltlich die durch Spaltung und Kalten Krieg bedingte Berliner Systemauseinandersetzung einschließlich der von ihr definierten Kooperation in wichtigen politischen und gesellschaftlichen Segmenten. Indirekt erfasst die Analyse aber auch differenziert ordnungsinterne Prozesse, Interaktionen und Auseinandersetzungen auf beiden Seiten, insofern sie in Korrelation zur Systemkonkurrenz stehen und zu ihrem Verstehen beitragen. Das gilt auch für die vielen Facetten von Austausch und Kooperation in Berlin, die im doppelten Berliner Alltag omnipräsent und geschichtsmächtig waren, aber immer von der Systemkonkurrenz politisch „eingerahmt“ wurden. Die Analyse fragt nach den Ursachen, Verläufen und Folgen der Berliner Systemkonkurrenz. Dabei werden unter dem Wettbewerbsaspekt drei politisch-gesellschaftliche Bereiche thematisiert: Politik selbst, Wirtschaft und Soziales sowie Kultur. Die Untersuchung geht detailliert auf die kaum im Zusammenhang untersuchten bzw. im Laufe der Jahre „verschütteten“ Probleme ein, wer die hauptstädtische Konkurrenz mit welchen Zielen betrieb, wie sie funktionierte und was sie für Berlin und das ebenfalls geteilte Deutschland bedeutete. Wirkte sie absichtsvoll über rationale Interessen oder eher eigendynamisch auf Politik und regionale Gesellschaften ein? Davon ausgehend, dass die Berliner Systemkonkurrenz bis 3 Die aufeinander bezogenen „Schaufenster“ in der Berliner Untersuchungsregion symbolisieren und repräsentieren die miteinander konkurrierenden „Großordnungen“. Der Autor des vorliegenden Buches versteht „Schaufenster“ als den bildhaften Begriff für die konkrete Selbstdarstellung der einander entgegengesetzten Gesellschaftsordnungen im zweigeteilten Raum. „Schaufenster“ werden durch die Absicht konstituiert, das jeweilige gesellschaftliche und politische System durch Anziehungskraft („Magnetismus“) innenpolitisch zu stabilisieren und dessen Akzeptanz und Einfluss nach außen zu vergrößern. Davon abgeleitet wird unter dieser Bezeichnung die Summe von politischen, sozialen, kulturellen sowie Konsumund Dienstleistungs-, aber auch ideologischen u.a. Angeboten (auch Identifikationsofferten) gesehen, die von beiden Seiten im Rahmen der von Abgrenzung und Verflechtung gekennzeichneten politischen Auseinandersetzung und gesellschaftlichen Konkurrenz auf unterschiedliche Weise und mit verschiedenartigen Mitteln unterbreitet und zu realisieren versucht wurden. „Schaufenster“ sind keineswegs statisch. Ihre Inhalte verändern sich mit den ordnungs- und außenpolitischen sowie gesellschaftlichen Zielen ihrer Urheber. Sie können auch insofern „negativ“ angelegt sein, als sie Werte und Angebote präsentieren, die auf innere Systemgegner desintegrierend wirken und versuchen sollen, sie, wie die äußeren Gegner, von regimefeindlichen Handlungen abzuschrecken.

Einleitung

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zum Mauerbau von der historischen Forschung nicht umfassend und systematisch und auch kaum in ihren großen Zusammenhängen untersucht wurde und sie nach Lage der Dinge sehr lückenhaft sowie in Vielem aus der Erinnerung gelöscht ist, will die Arbeit diese Konkurrenz dicht und stringent rekonstruieren. Wenngleich Analyse und fachwissenschaftliches Urteil nicht in den Hintergrund treten, ist sie als ein Angebot zu verstehen, den Konkurrenzkampf der Systeme im geteilten Berlin „an den Quellen entlang“ nachzuvollziehen und zu verstehen. Da „zeitgeschichtliches Erleben im historischen Diskurs in zwei Hauptformen als unmittelbare Autorität zutage (tritt), als citativ und als narrativ“4, werden dem Leser eine Vielzahl von nachprüfbaren historischen Informationen zur Verfügung gestellt, die er gegeneinander abwägen und mit den Erkenntnissen des Verfassers vergleichen kann. Eine Vielzahl von Fakten u.a. über die Rolle von Persönlichkeiten, politischen Gruppierungen und Institutionen in der Berliner Systemkonkurrenz, aber auch über bislang eher unbekannte Konzepte, Interaktionen sowie über Mentalitäten und Stimmungslagen werfen neue, aber auch alte Fragen erneut auf: Über welche Handlungsspielräume verfügten die Kontrahenten im häufig verwirrenden Geflecht von Aktion und Reaktion? Bis wann, warum und wo besaßen beide Seiten im Konkurrenzkampf Chancen oder glaubten sie zu besitzen? Bedeutung gewinnen auch die Probleme, inwiefern die Systemkonkurrenz in Berlin Anteil sowohl an politischen Polarisierungen in der Stadt und der Eskalation des Kalten Krieges als auch an seiner „vernünftigen“ Begrenzung hatte und ob der grenzüberschreitende Wettbewerb mehr zur Bewahrung oder aber zur Auflösung des Verflechtungsgebietes beitrug und somit auch zu einem Identitätswandel in diesem Raum. Das Forschungsinteresse führt damit zu der weiterführenden Frage, ob und wie die permanente Auseinandersetzung der Berliner mit der Systemkonkurrenz die Gesellschaften der geteilten Metropole in ihrem Innern veränderte und welche Faktoren in dieser Hinsicht eine Rolle spielten. Dabei steht die Differenzierung von Beweggründen und Entscheidungen der beiderseits auf Herrschaftssicherung bedachten Politik sowie von Wahrnehmungen der in den Dingen und Erscheinungen steckenden Konkurrenz durch die Bevölkerung im Vordergrund: Wie beeinflusste der Systemwettbewerb ihr Alltagsverhalten, das, offenbar viel stärker als bislang angenommen, vom sektorenübergreifenden individuellem Handel, ähnlichen Konsumwünschen und Erwerbsmentalitäten, aber auch von tradierten kulturellen Gewohnheiten gesteuert wurde? Wichtigstes Ziel der Untersuchung bleibt es, neue Kenntnisse und Erkenntnisse über die Systemkonkurrenz im geteil4 Martin Sabrow, Der Historiker als Zeitzeuge. Autobiographische Umbruchreflexionen deutscher Fachgelehrter nach 1945, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 128.

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Einleitung

ten Berlin zu gewinnen und damit zu einer politischen Gesellschaftsgeschichte der Stadt im Kalten Krieg beizutragen.

2. Gestaltungsprinzipien und Methoden Beide Berliner Verflechtungs- und Teilungsgesellschaften entwickelten sich nach 1948 in Konkurrenz zueinander, d.h. aufeinander bezogen, relativ unabhängig von der Frage, ob und wo sie bereits als separat oder als die zwei Teile eines soziokulturell noch einheitlichen Organismus anzusprechen waren. Nähe und Distanz bildeten die Pole, zwischen denen sie sich ständig bewegten. Während Nähe wesentlich das Mit- und Nebeneinander der Berliner „Normalbürger“ im Alltag charakterisierte, bildete Distanzierung das wichtigste Merkmal der offiziellen Politik, dann aber auch ein Charakteristikum für den politischen Umgang der Berliner mit sich selbst und den sie umgebenden Verhältnissen. Doch brachte das Leben auf beiden Seiten der Stadt permanent Mischformen von Nähe und Distanz hervor, die sich vor allem mental artikulierten. Annäherung und Abgrenzung ziehen auch methodische Konsequenzen nach sich: Zum einen muss davon ausgegangen werden, dass auch für die unmittelbare Berliner Systemkonkurrenz die These Christoph Kleßmanns von der deutschen Nachkriegsentwicklung als einer Geschichte von (asymmetrischer) Verflechtung und Abgrenzung zutrifft5, und zum anderen zwingt die Natur des Forschungsgegenstandes zu einer konsequent integralen Analyse. Für sie spricht auch die an anderer Stelle noch einmal aufgegriffene Hypothese des Verfassers, dass eine Reihe von Ereignissen und Aktionen, die von der Forschung bislang als die Sache entweder der einen oder der anderen Seite angesehen wurde, im Systemwettbewerb viel stärker eine gesamtstädtische Problemstruktur besaß. Eine andere integrale Perspektive ergibt sich aus der einheitlichen Behandlung der drei der Arbeit inhärenten Untersuchungsebenen: der regionalen, der deutschen und der internationalen. Zwar bleiben sie als solche erkennbar, sind jedoch in der Analyse und Darstellung vermischt bzw. unlösbar „verzahnt“, etwa bei der Integration „beider Berlin“ in ihre konkurrierenden Präferenzstaaten und Bündnissysteme. Die vorliegende geschichtswissenschaftliche Untersuchung lebt von kontrastierenden Gegenüberstellungen und Vergleichen. Sie enthält sowohl Elemente einer Beziehungs- als auch Parallelgeschichte, die sich der Einheit der Konkurrenzerzählung unterordnen. Auch insofern entsteht kein Widerspruch 5 Vgl. Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Beilage der Wochenzeitung Das Parlament, B 29–30/1993, S. 30–41.

Einleitung

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zwischen integralem Anspruch und einigen „separaten“ Modi seiner Einlösung. Die Arbeit behandelt beide Berliner Seiten gleichrangig, obwohl nicht durchgängig proportional und im Einzelnen gleichgewichtig. Hier spielen u.a. der unterschiedliche Stellenwert einer Sache für die eine oder andere Konfliktpartei eine Rolle, aber auch die Dichte und Qualität der Überlieferung, unterschiedliche Verlaufsmuster u.a.m. Auch ist der bereits genannte Umstand zu berücksichtigen, dass West-Berlin in Vielem besser erforscht ist als sein östliches Pendant. Ihre wissenschaftliche Gleichbehandlung werden beide Teile auch weniger durch darstellerischen Proporz erhalten als vielmehr durch die vom Verfasser angestrebte Ausgewogenheit in Analyse und Urteil. Systemkonkurrenz ist immer politisch. Das gilt auch für den Berliner Konflikt. Doch treten Wirtschaft, Soziales und Kultur nicht nur in ihrer politischen Konkurrenz-Eigenschaft in Erscheinung, sondern gleichfalls als wichtige Entwicklungsfelder der in sich unterschiedlichen und sich weiter differenzierenden Berliner Nachkriegsgesellschaften. Dieser Gesichtspunkt wird durch die analytische Einbeziehung der Lebenslage der Berliner in beiden Teilen der Stadt, ihrer Interessen, politischen Wahrnehmungen sowie ihres Alltagsverhaltens im Wirtschaftlich-Sozialen und Kulturellen verstärkt. Insbesondere trifft das für die inhaltlich weit gerahmte Kultur zu, die Gesellschaft und Politik durchdrang, den Umgang der Kontrahenten und Parteigänger miteinander beeinflusste sowie den Verlauf und die Intensität der Systemkonkurrenz „vor Ort“ mitbestimmte. Insofern enthält die vorliegende Analyse auch Ansätze für eine noch zu schreibende politische Kulturgeschichte Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei der Abhandlung der drei relativ autonomen Analysebereiche folgt der Verfasser einem systematischen Analyse- und Darstellungsprinzip, innerhalb dessen jedoch einer nicht schematisch gehandhabten Chronologie. In den keineswegs „flächendeckenden“ Kapiteln und Abschnitten kommen Prozesse, Personen und Probleme zu Wort, die für die Herausarbeitung des Wesens, des Verlaufs sowie der Wirkungen der Berliner Systemkonkurrenz wichtig und unverzichtbar erscheinen. Sie verdeutlichen sowohl Typisches und Besonderes als auch Kontinuität und qualitativen Wandel, werfen aber auch einige inhaltliche und strukturelle Probleme auf, die einer knappen Erklärung bedürfen. So schenkt die Arbeit der Grenzgängerproblematik deshalb größte Aufmerksamkeit, weil sie wichtige Handlungen und Personen multifunktional verbindet und – geradezu als Inkarnation von Systemkonkurrenz – zum Verständnis von Abhängigkeiten und Interessenkonflikten in Berlin wesentlich beiträgt.6 Auch aus 6 Die Untersuchung knüpft an die ausgezeichnete Studie von Frank Roggenbuch an: Frank Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz vor

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Einleitung

diesem Grund beschäftigt sich die Analyse relativ ausführlich mit Auseinandersetzungen, die nur auf den ersten Blick „Kampfepisoden“ waren, tatsächlich aber Schnittpunkte des internationalen, deutschen und regionalen Kalten Krieges darstellten, an denen Bündnisstrukturen, Potentiale und Taktiken in der Systemkonkurrenz, aber auch „Schaufenster“-Konzepte und -wirkungen sichtbar werden. Dazu zählen die großen östlichen Jugendfestivals (1950/51) in Berlin sowie die riskante westliche Lebensmittelhilfsaktion von 1953. Besonderes Augenmerk wird auf die Akteure der Systemkonkurrenz gelegt; zum einen auf diejenigen, die aktiv, zumeist als politisch verantwortliche Gestalter, Entscheidungen trafen sowie zum anderen auf Personen, die von beiden Seiten für die eine oder andere Sache instrumentalisiert wurden und manchmal unfreiwillig zum Fortgang des berlinpolitischen Dramas beitrugen. Die Absicht des Verfassers, auch indirekt wirkende Faktoren und Zusammenhänge der Konkurrenz in die Untersuchung einzubeziehen, führte zu der Entscheidung, den Niedergang der Ost-Berliner Privatwirtschaft als eine nicht zu unterschätzende Ursache für realsozialistische Wettbewerbsnachteile stärker zu gewichten. Dass die für sein Thema unverzichtbare Berlinwerbung dem ersten Kapitel als Exkurs zugeordnet wird, resultiert aus dem Primat ihrer politischen Wettbewerbsfunktion. Einer kurzen Erörterung bedarf auch das außerordentlich schwierige Problem der Periodisierung der Berliner Nachkriegs- und Konkurrenzgeschichte sowie der damit verbundenen Herausarbeitung inhaltlicher Zäsuren. Zum einen spiegeln sich internationale und nationale Entwicklungsabschnitte sowie die sie mitbestimmenden zentralen Ereignisse im Hauptstadtraum nur allgemein.7 Zu ihrer sehr eingeschränkten Übertragbarkeit trugen dessen zahlreiche Besonderheiten bei, insbesondere Statusregelungen und Verflechtungsbeziehungen, die exogene Konflikte als Möglichkeit der regionalen Zäsurbildung stark relativierten. Zum anderen fällt die Bestimmung von Entwicklungsetappen und Einschnitten in der Wettbewerbsentwicklung schwer, weil sie in West- und Ost-Berlin teilweise höchst unterschiedlich, häufig zeitversetzt und asymmetrisch, zutage traten. Dieser Befund trifft auch innerhalb der Teilstädte für die Definition von politischen, sozioökonomischen und kulturellen Zäsuren zu, die oft nicht miteinander korrespondieren. Insgesamt lässt sich bislang nur der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 dem Mauerbau (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 107), Berlin/New York 2008. 7 Eine gewisse Ausnahme bilden 1955 die sowjetische Zwei-Staaten-Theorie, die auf die Innerberliner Auseinandersetzung um den Anspruch der SED auf Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR politisch-propagandistisch durchschlug, und das Chruschtschow-Ultimatum (1958) als Auslöser der zweiten Berlinkrise.

Einleitung

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als vor allem politischer und das Jahr 1957 als soziokultureller Gesamtberliner Wettbewerbseinschnitt erkennen.

3. Inhaltliche Probleme und Thesen Seit der Berlinkrise 1948/49 entwickelte sich die alliierte Sektorenstadt als singuläres Problem der europäischen Nachkriegsentwicklung zu einem Brennpunkt des Kalten Krieges und zum weltweit größten politischen und gesellschaftlichen Konkurrenzunternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Stadt und ihr unmittelbares brandenburgisches Umfeld bildeten einen Fokus, der sowohl welt- und national- als auch regionalhistorisch bestimmt war. Vor allem gingen wie nirgendwo sonst in Europa – vielleicht sogar in der Welt – regionale und nationale Geschichte so enge Verbindungen ein wie in Berlin. Und ebenso einmalig standen Politik und Gesellschaften dieses Verflechtungs- und Teilungsgebietes für den Kalten Krieg – für seine gefährlichen Zuspitzungen, aber auch für Tendenzen der Deeskalation. In der geteilten Millionenstadt entwickelten sich OstWest-Konflikte (Berlinkrisen) besonders scharf, gleichzeitig aber auch Konfliktlösungsversuche und Alternativen zur Konfrontation (Passierscheinregelung, alliiertes Berlinabkommen von 1971) schneller als in anderen Regionen des Kalten Krieges. Eine Analyse Berlins nach 1948 unter dem Aspekt der Systemkonkurrenz ist auch deshalb besonders reizvoll, weil zwei gesellschaftliche Großordnungen in einem überschaubaren Raum unmittelbar aufeinanderprallten und sich unter besonderen Bedingungen wie auf einem „Versuchsfeld“ einem Dauertest unterzogen. Die öffentliche Überprüfung der Leistungsfähigkeit beider Systeme und von Überlegenheit, die jedes für sich in Anspruch nahm, vollzog sich hauptsächlich in der Form verschiedenartiger Vergleiche, die ein jeder – beinahe ungehindert – direkt vor Ort oder mittels Informationen „aus erster Hand“ anstellen konnte. So war sowohl die reale Berliner Systemkonkurrenz als auch ihre Wahrnehmung bis zum Mauerbau im Prinzip entgrenzt. Die Analyse geht von der inzwischen als gesichert geltenden These aus, dass es sich mit beiden Teilstädten und dem berlinnahen brandenburgischen Umland – bei allen teilungsbedingten Entwicklungen nach 1948 – in Vielem noch um ein durch vielfältige Korrelationen und Interaktionen gekennzeichnetes Verflechtungsgebiet handelte.8 Diese These wird jedoch wie folgt erweitert: Verflechtungen waren nicht nur historisch determiniert, son8 Vgl. Michael Lemke, Zum Problem der Analyse Berlins und seines Brandenburger Umlandes als ein besonderes Verflechtungsgebiet im Ost-West-Konflikt, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, Nr. 18–19/2000, S. 45–51.

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dern wiesen auch Merkmale auf, die sich nach 1948/49 nicht zuletzt durch die Konkurrenzsituation herausbildeten. In gewisser Weise und in einem noch näher zu untersuchenden Umfang reproduzierten sich Verflechtungen bzw. bildeten sich neue Vernetzungsstrukturen heraus, die offenbar weitreichender und wirksamer waren, als die historische Fachliteratur sowie die begrenzte Erinnerung sie bislang erfasst. Für die gesamte Analyse gilt die zu überprüfende Vermutung des Verfassers, dass die Systemkonkurrenz im geteilten Berlin dort am stärksten war, wo sich die Verflechtung besonders intensiv und dauerhaft gestaltete sowie auch unter quantitativen Aspekten Gewicht annahm.9 Da Verflechtung gegenseitige Beziehungen voraussetzt, steht immer auch die Frage, auf welche sozialen und politischen Kräfte und Motive sie sich in beiden Teilen Berlins konkret stützte. Andererseits erhielt die gegenläufige separatistische Tendenz zur Entwicklung zweier Gesellschaften in der Stadt, die sich allerdings erst nach dem Mauerbau voll entfaltete, zunehmend Gewicht. West-Berlin prägte in Kultur und Lebensweise zunächst in Ansätzen, dann stärker, etwas Eigenes aus, das es nicht nur vom Ostteil Berlins, sondern auch von den Großstädten der Bundesrepublik unverwechselbar zu unterscheiden begann. Demgegenüber baute die SED Ost-Berlin zum administrativen und kulturellen Zentrum der realsozialistischen DDR aus. Den Weg zur „Hauptstadt der DDR“ pflasterte sie mit ideologischer Abgrenzung und Repression, aber auch mit Konsum- und sozialen Angeboten sowie beruflichen Aufstiegschancen. So bildete die traditionelle ehemalige Reichshauptstadt für die Berliner in ihrem Ostteil, zunehmend aber für alle DDR-Bürger, bereits vor dem Mauerbau ein doppeltes Spannungsfeld. Das mit der DDR in jeder Hinsicht verbundene Ost-Berlin, Sitz der Regierung und politischer Zentralverwaltungen, erlebten und akzeptierten sie im Laufe der Jahre tatsächlich als Metropole der DDR, in der die gleiche gesellschaftliche und politische Ordnung herrschte wie in der „Republik“ – auch insofern sah man sich in die gleiche „Schicksalsgemeinschaft“ gestellt. Ost-Berlin übte eine gewisse Anziehungskraft auf „Randberliner“ und andere Bürger aus, die hier u.a. in beträchtlicher Anzahl arbeiteten, einer Ausbildung nachgingen, zentrale Behörden aufsuchten, Einkäufe machten sowie kulturelle Einrichtungen besuchten u.a.m. Häufig hatte eine Fahrt nach OstBerlin den Anlass (oder den Vorwand) für einen Besuch der Westsektoren gebildet. Nach dem Mauerbau avancierte die „Hauptstadt der DDR“ zum eigentlichen 9 Neben verwandtschaftlichen und anderen zwischenmenschlichen Beziehungen wirkten der gegenseitige kulturelle Besuchsverkehr, der bilaterale Austausch von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften , aber auch die grenzüberschreitende Beschulung und Bildung sowie die Nutzung von beiderseitigen Informations- und geistigen Austauschmöglichkeiten in diesem Sinn. Dem Problem von Qualität und Ausmaß der vielschichtigen Verflechtung wird im Folgenden größte Aufmerksamkeit gewidmet.

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Ziel, und es schien so, als würde sie mit ihrer gegenüber der „Republik“ größeren Attraktivität zunächst eine Art „Ersatz-West-Berlin“ sein. Es fragt sich, ob die Tendenz zur gegenseitigen Abgrenzung nach 1948/49 insbesondere durch Sicherheitsmotive bestimmt wurde. So hielten die führenden Kräfte in Ost und West bis zum Mauerbau eine Wiederholung der „Blockade“ respektive eine neue Berlinkrise oder andere Zuspitzungen offenbar für möglich, in bestimmten Situationen sogar für wahrscheinlich. Schon deshalb versuchten sie, wie auch immer geartete Abhängigkeiten von der jeweils anderen Seite, die erfahrungsgemäß als Druckmittel wirken konnten, sowie überhaupt Störpotentiale, zu minimieren. Doch während der Senat von West-Berlin trotz seines antikommunistischen Konfrontationskurses prinzipiell an der Aufrechterhaltung von Gemeinsamkeiten als Bedingung für die demokratische Wiederherstellung der Einheit Berlins interessiert schien, versuchten SED und Magistrat, vermutlich vorrangig aus politischen und ideologischen Gründen, sie schrittweise abzubauen. Aber auch sie sahen sich dabei näher zu untersuchenden Zwängen ausgesetzt, die sowohl von der eigenen Bevölkerung als auch von nationalen und internationalen Konstellationen ausgingen, wahrscheinlich nicht zuletzt von der Sowjetunion, die häufig Rücksichten auf alliierte Berlinabmachungen und auf die Interessen der mit ihr konkurrierenden Westmächte nahm. Ein zumindest zeitweiliges Desinteresse der SED an einer forcierten Beendigung innerstädtischer Beziehungen resultierte offenbar auch aus ihren propagandistischen gesamtdeutschen Zielen und dem gleichfalls vom Senat erhobenen politisch-moralischen Anspruch auf das ganze Berlin. Die Stimmung der Bevölkerung und eine zur Stabilisierung der innenpolitischen Lage notwendige Glaubwürdigkeit von „nationalen“ und Überlegenheitskonzepten der SED bremsten, wie es zunächst Indizien belegen, den maßgeblich von ihr angetriebenen Berliner Teilungsprozess in Abstimmung mit der konkreten politischen Situation ab. In welchem Maß fielen dabei wirtschaftliche und finanzielle Motive der ostdeutschen Staatspartei ins Gewicht, deren kommerzielle Offerten sich in der Regel mit politischen Anerkennungsforderungen an den Senat verbanden? Alles in allem ist zu vermuten, dass politische Abgrenzung nicht immer und nicht gleichzeitig einen weiteren Abbau allgemeiner Verflechtungsbeziehungen nach sich zog. Das lag wohl auch mit daran, dass Konfrontation und Wettbewerb nicht pausenlos eskalierten. Es gab Phasen der Beruhigung, die, wie zu sehen sein wird, bei vielen Betroffenen die Hoffnung auf eine prinzipielle Wende zum Besseren immer wieder entstehen ließen. Dieses Phänomen trug (hypothetisch) dazu bei, dass das Ost-West-Konkurrenzverhältnis sich nicht nur über die politische Teilung von Stadt und Umland definierte, sondern eben auch über die bis 1961 starke innere Aufeinanderbezogenheit, durch ein System von vorrangig nichtstaatlichen gegenseitigen Abhängigkeiten. Wenngleich sie in vielem asymmetrisch

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waren, schienen sie Politik und Gesellschaft miteinander zu verbinden, im Positiven wie im Negativen. Zu der von vielen Zeitgenossen als „Normalität“ des Kalten Krieges wahrgenommenen Lage in und um Berlin trug das Bewusstsein der beiden Stadtverwaltungen und von Politikern in den beiden deutschen Staaten bei, dass man sich trotz Konfrontation und der an politischer Distanz interessierten Alliierten in Alltagsproblemen irgendwie miteinander arrangieren müsse, zuvorderst in technischen Fragen. Während die sektorenübergreifenden administrativen Interaktionen im geteilten Berlin mit einigen wichtigen Ausnahmen nach bisherigen Erkenntnissen jedoch relativ schwach waren und in der Tendenz weiter zurückgingen, nahm die vielschichtige Systemkonkurrenz in Gestalt des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wettbewerbs augenscheinlich zu. Auch er blieb freilich eine Ausdrucksform des Kalten Krieges. Parallel zu der Erscheinung, dass sich die Führungen in beiden Hälften der geteilten Großstadt auf unumgängliche technische Kontakte beschränkten und dabei offenbar nur ein begrenztes Maß an Pragmatismus zeigten, entwickelte sich auf nichtstaatlichen Ebenen ein noch näher zu bestimmender, aber sicher nicht unwesentlicher Kleinhandel sowie ein intensiver kultureller Austausch. So scheint sich die Vermutung zu bestätigen, dass diese Seite der Systemkonkurrenz trotz härtester politischer Rivalität und verordneter Abgrenzung mehr zur Bewahrung des einheitlichen Lebensraumes als zu seiner Teilung beitrug. Das hing, wie anzunehmen ist, nicht immer nur mit der politischen „Großwetterlage“, sondern auch mit originär Berliner Ursachen zusammen (u.a. die gegenüber Westdeutschland nachholende Konjunktur in WestBerlin sowie Bedarfslücken und Mängel in Ost-Berlin). Auch wird die Frage zu beantworten sein, inwiefern der regionale Systemwettbewerb mit seinen „Schaufenstern“ auf beiden Seiten tatsächlich eine Quelle der Produktivität war. Ob sich die Verflechtungsdynamik kulturell und im Alltag möglicherweise häufig umgekehrt proportional zur politischen Abgrenzung verstärkte, werden vor allem die folgenden Analysen der Konsumkonkurrenz und des kulturellen Wettbewerbs klären helfen. Viele Zeitgenossen nahmen die von den Wechsellagen des Kalten Krieges bestimmte politische Instabilität offenbar als Normalität wahr. Auch scheint sich zu bestätigen, dass die kulturell und alltagspolitisch determinierte Verflechtungsgesellschaft gegenüber verschiedenen politischen Einflüssen und konfrontativen Zuspitzungen eine weitgehende Resistenz, beachtliche Stabilität und Flexibilität entwickelte. So schien sie schnell in der Lage, beispielsweise die Folgen beider Berlinkrisen (1948 und 1958) wirksam begrenzen bzw. überwinden zu helfen.

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Auch das würde auf die generelle These des Verfasssers10 hinauslaufen, dass sich bis 1961 aufgrund der historisch gewachsenen Verflechtungen in Berlin und aktueller besonderer Beziehungen in Kultur und Alltag Merkmale für eine systemübergreifende „gemischte“ Gesellschaft herausbildeten, die auf der Grundlage relativer Offenheit bzw. Systemdurchlässigkeit durch einen mehrdimensionalen Austausch innerhalb (und trotz) des Kalten Krieges zustande kamen. Zwei weitere damit verbundene Arbeitsthesen beurteilt der Autor aufgrund seiner bisherigen Berlinforschungen als wahrscheinlich zutreffend; sie bedürfen jedoch im Folgenden einer gründlichen Überprüfung. Wie bereits angedeutet, sieht er zum einen wichtige Ereignisse und Großaktionen, z.B. den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, aber auch signifikante krisenhafte Entwicklungen – etwa in den Berliner Auseinandersetzungen der Jahre 1952/53 und 1960/61 –, die bislang als Sache der einen oder anderen Seite galten, viel stärker unter Gesamtberliner Aspekt und Konkurrenzvorzeichen. Ebenso stellt sich ihm die Frage, ob der innenpolitische Beweggrund der SED für den Mauerbau nur die Verhinderung des wirtschaftlichen „Ausblutens“ der DDR (und Ost-Berlins) war, oder ob nicht die nach 1957 eindeutig zunehmende Intensität des alltäglichen „verflechtenden“ Austauschs zwischen beiden Teilen der Stadt, insbesondere die vorrangig soziokulturelle „Republikflucht auf Zeit“ der Ost-Berliner „Massen“, einen zweiten Grund bildete, eine Mauer oder Ähnliches zu errichten. Welche andere Lösung bot sich der SED als real an? Zumindest indirekt liefert u.a. der Umstand, dass die emotionale Bindung der Ost- und „Rand“-Berliner an den Westteil der Stadt auch nach dem Mauerbau noch geraume Zeit nachwirkte, dafür ein Indiz. Dieser starke Nachklang bildete ein retardierendes Moment für die von der SED gewünschte Identifikation der Betroffenen mit Berlin als „Hauptstadt der DDR“ und mit sozialistischen Staatsbürgern.

4. Anmerkungen zu Forschungsstand und Quellenlage Umfassendere historische Analysen der Systemkonkurrenz – wie überhaupt der Berliner Gesellschaft im Ost-West-Konflikt – stehen, worauf der Verfasser bereits in einem anderen Begründungszusammenhang hingewiesen hat, noch weitgehend aus. Erheblichen Anteil an entsprechenden Defiziten hatte zunächst die bis zum Mauerfall für beide Seiten ungünstige Quellensituation. Desiderate entstanden aber auch deshalb, weil die Bedingungen des Kalten Krieges eine sachliche Histori10 Vgl. dazu Michael Lemke, Berlin-Brandenburg im Ost-West-Konflikt. Ergebnisse und neue Fragen, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, Nr. 36/37, Juni 2006, S. 7–14.

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sierung stark einschränkten und so viele ältere zeitgeschichtliche Arbeiten Objektivität weitgehend vermissen ließen. Auf der östlichen Seite immunisierte der „Topos des objektiven Gegners“ die Geschichtsschreibung vor der kritischen Infragestellung des SED-Bildes insbesondere von der Berliner Systemauseinandersetzung, „indem er westliche Auffassungen als bürgerlich auszugrenzen erlaubte, ohne sie inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen“.11 Auch trifft die Beobachtung Martin Sabrows gerade für die Behandlung der brisanten Berlinproblematik zu, dass der „holistische Geschlossenheitsanspruch“ der DDR-Historiografie „keinen Widerspruch zwischen Lebens- und Parteigeschichte (gestattete) und so den Typus einer gleichsam kollektivierten Erinnerung (schuf), die den Doppelanspruch auf historische Objektivität und gelebte Authentizität erhob“.12 Westlicherseits zeigten sich innerhalb der sich mit dem „Kampf um Berlin“ beschäftigenden Historikerzunft im Einzelnen zwar Zwischentöne und Differenzierungen, doch dominierte insgesamt ein scharfer Antikommunismus.13 Auch das trug zu einer starken Hervorhebung der Konfrontation im Berliner Raum bei und ließ die Untersuchung von deeskalierenden Momenten, von Formen des moderateren Wettbewerbs und grenzüberschreitender Interaktion, zurücktreten. Arthur Schlegelmilch machte 1994 auf dieses Manko aufmerksam und entwickelte eine Forschungsperspektive, die neben Konfrontation und Spaltung in Berlin auch die Gegentendenz zu diesen Phänomenen des Kalten Krieges berücksichtigt.14 Regionale Verflechtungen standen nun mit im Vordergrund des Interesses.15 Überdies hatten sich die Studien bislang hauptsächlich mit dem Westteil der Stadt beschäftigt – seltener mit dem Ostsektor. Das änderte sich nach „Wende“ und Wieder11 Martin Sabrow, Einleitung: Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 30. 12 Ders., Der Historiker als Zeitzeuge, S. 138. 13 Beispielhaft: Lowell Bennet, Bastion Berlin, Das Epos eines Freiheitskampfes, Frankfurt am Main 1951; Wolfgang Paul, Kampf um Berlin, München/Wien 1962; Curt Riess, Alle Straßen führen nach Berlin, Hamburg 1968. 14 Schlegelmilch plädiert für mehr analytische Ausgewogenheit: „Nicht mehr allein die Analyse eines mit scheinbar unerbitterlicher Zwangsläufigkeit fortschreitenden Spaltungsprozesses, sondern auch das Aufzeigen von gesamtstädtischen Kohäsionskräften und Verklammerungen gehört heute wieder zum Aufgabenkatalog der Berlin-Forschung.“ Arthur Schlegelmilch, Tendenzen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Berlins seit 1945. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Ost-West-Vergleich, in: Wolfram Fischer/Johannes Bähr (Hrsg.), Wirtschaft im geteilten Berlin 1945–1990. Forschungsansätze und Zeitzeugen (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 76), München u.a. 1994, S. 2. 15 Vgl. Lemke, Zum Problem der Analyse, S. 45f.

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herstellung der Einheit Deutschlands und Berlins zwar nicht schlagartig, aber allmählich. Zu verschiedenen Aspekten der geteilten Hauptstadt im Kalten Krieg erschien eine Reihe von wissenschaftlichen Artikeln und Aufsätzen sowie einige Sammelbände, aber vergleichsweise wenige Monografien. Auf den diesbezüglichen Literaturstand sei an dieser Stelle nur verwiesen.16 Die Berliner Systemkonkurrenz wurde seit etwa 1995/96 von der Zeitgeschichtsschreibung stärker erfasst, aber auch hier nicht als Gesamtphänomen, sondern in Teilbereichen von Politik und Gesellschaft, in der Regel unter Fragestellungen von „mittlerer Reichweite“. Die durchweg gut recherchierten Arbeiten konzentrierten sich auf die politischen und gesellschaftlichen Bereiche Massenmedien (Presse und Rundfunk), auf den Systemwettbewerb im Bau und beim Wohnen sowie im Sport.17 Nach wie vor fehlen Untersuchungen der wirtschaftlichen und sozialen, wie aber auch der kulturellen Konkurrenz im weiten Sinn. Eine Ursache für die immer noch erheblichen For16 Vgl. Michael Lemke (Hrsg.), Schaufenster der Systemkonkurrenz. Die Region BerlinBrandenburg im Kalten Krieg, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 12–17. 17 Zu Presse und Rundfunk: Susanne Gerber, Der Telegraf: Entstehung einer SPD-nahen Lizenzzeitung in Berlin 1946 bis 1950, in: Arnulf Kutsch/Walter Hömberg (Hrsg.), Kommunikationsgeschichte, Bd. 13, Münster 2002; Herbert Kundler, RIAS Berlin. Eine RadioStation in einer geteilten Stadt, Berlin 2002; Manfred Rexin (Hrsg.), Radio-Reminiszenzen. Erinnerungen an RIAS Berlin, Berlin 2002; Maral Herbst, Sender für die Hauptstadt. Ein struktureller Vergleich von Nordwestdeutscher Rundfunk Berlin, Sender Freies Berlin und Berliner Rundfunk 1949 bis 1961 (Dissertation HU-Berlin), Berlin 2001; Petra Galle, RIAS Berlin und Berliner Rundfunk 1945–48. Die Entwicklung ihrer Profile in Programm, Personal und Organisation vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges, Münster u.a. 2004. Zu Bauen und Wohnen: Harald Bodenschatz, Antworten West-Berlins auf die Stalinallee, in: Helmut Engel/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Karl-Marx-Allee: Magistrale in Berlin. Die Wandlung der sozialistischen Prachtstraße zur Hauptstadtstraße des Berliner Ostens, Berlin 1996, S. 141–162; Dieter Hannauske, Wohnungspolitik im Kalten Krieg. Zum Wohnungsbau in Ost- und West-Berlin 1949–1961, in: Berlinische Monatsschrift 3, 2001; Peter Müller, Symbolsuche. Die Ost-Berliner Zentrumsplanung zwischen Repräsentation und Agitation, Berlin 2005; Wolfgang Ribbe, Wohnen im geteilten Berlin. Stadtplanungen, Architektur und Wohnverhältnisse während des Kalten Krieges im Systemvergleich, in: Michael Lemke (Hrsg.), Konfrontation und Wettbewerb. Wissenschaft, Technik und Kultur im geteilten Berliner Alltag (1948–1973), Berlin 2008, S. 164. Zum Sport: Jutta Braun/Hans Joachim Teichler (Hrsg.), Sportstadt Berlin im Kalten Krieg. Prestigekämpfe und Systemwettstreit, Berlin 2006; Jutta Braun/Renè Wiese, Duell an der Spree – Sportkultur und Sportverkehr in Berlin (1949–1961), in: Lemke (Hrsg.), Schaufenster der Systemkonkurrenz, S. 343–366; Hans Joachim Teichler, Die Sportbeschlüsse des Politbüros. Eine Studie zum Verhältnis von SED und Sport mit einem Gesamtverzeichnis und einer Dokumentation ausgewählter Beschlüsse, Köln 2002; Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn: Der deutsch-deutsche Sport 1950–1972. Eine politische Geschichte, Paderborn u.a. 2007.

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schungslücken findet sich im Mangel an Abstimmung und Kooperation zwischen den mit Berlin befassten Zeithistorikern und Forschungsinstitutionen sowie eine andere im zuvorderst finanztechnisch bedingten Fehlen von größeren Projekten zum Thema Kalter Krieg und Berliner Systemkonkurrenz. Eine Ausnahme bildete das langfristige Vorhaben des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) „Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg“, in dessen Rahmen neben zahlreichen Artikeln bislang fünf Monografien, einschließlich der vorliegenden, erschienen.18 Drei weitere, die ebenfalls die Berliner Konkurrenz generell oder als einen wichtigen Aspekt thematisieren, werden bearbeitet und stehen in zwei Fällen kurz vor dem Abschluss.19 Zwei Sammelbände zu ausgesuchten Problemen des regionalen Systemwettbewerbs runden diese spezielle Forschung ab.20 Dennoch bietet der im Ganzen zu würdigende Fortschritt gerade in einigen methodischen Fragen Anlass für konstruktive Kritik. Zum einen zeigt sich mit Ausnahme der seinerzeit impulsgebenden Arbeiten von Ribbe und Schlegelmilch21 und den bereits genannten vergleichenden Untersuchungen immer noch eine gewisse Zurückhaltung vor integralen Gesamtberliner Analysen und Darstellungen.22 Zum anderen ist für die regionale Systemkonkurrenz in den für sie mit Abstand wichtigsten 50er Jahren die Einbeziehung der berlinnahen Gebiete Brandenburgs als Teil des Verflech-

18 Daniel Schwane, Wider den Zeitgeist? Konflikt und Deeskalation in West-Berlin 1949 bis 1965, Stuttgart 2005; Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem; Melanie Arndt, Gesundheitspolitik im geteilten Berlin 1948 bis 1961, Köln/Weimar/Wien 2009; Thomas Klein, SEW – Die Westberliner Einheitssozialisten. Eine „ostdeutsche“ Partei als Stachel im Fleisch der „Frontstadt“?, Berlin 2009. 19 Veronika Wabnitz, Die Schulpolitik in der Berliner Systemkonkurrenz 1948–1961; Enrico Heitzer, Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) im Kontext der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges in Berlin; Igor Polianski, Die „Natur“ des Kalten Krieges. Naturwissenschaftliche Präsentation und populärwissenschaftliche Propaganda im geteilten Berlin 1948–1961; Sven Schultze, Die „Grüne Woche“ und die Landwirtschaftsausstellung der DDR in Leipzig-Markkleeburg in der Systemkonkurrenz 1948–1961. 20 Lemke (Hrsg.), Schaufenster der Systemkonkurrenz; ders. (Hrsg.), Konfrontation und Wettbewerb. Wissenschaft, Technik und Kultur im geteilten Berliner Alltag (1948–1973), Berlin 2008. 21 Vgl. Wolfgang Ribbe, Berlin 1945–2000. Grundzüge der Stadtgeschichte (= Kleine Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin, Heft 6), Berlin 2002 und Schlegelmilch, Tendenzen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, S. 1–44. Gerhard Keiderling folgte einige Zeit später mit einer reflektierenden integralen Arbeit: Der Umgang mit der Hauptstadt, Berlin 1945 bis 2000, Berlin 2004. 22 Das scheint das im Übrigen gut gelungene neueste Buch über West-Berlin zu bestätigen. Vgl. Wilfried Rott, Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948–1990, Berlin 2009.

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tungsraums23 nicht befriedigend geklärt. Offenbar ist das im Rahmen der von der geteilten Hauptstadt dominierten Problematik nur über eine integrale Analyse zu leisten, die das Randgebiet als inhärenten Bestandteil der Untersuchung behandelt – wie es in der vorliegenden Monografie ansatzweise versucht wird. Daneben wären spezielle Studien über den Verlauf und die Auswirkungen des Wettbewerbs in differenziert zu berücksichtigenden Territorien des Landes Brandenburg bzw. seiner drei DDR-Bezirke wünschenswert und machbar. Auch sollten auf der gesamtnationalen Ebene verschiedene Aspekte zweistaatlicher Berlinpolitik, etwa deren Funktionsweisen und Gremien24, genauer untersucht werden. Die vorliegende Untersuchung stützt sich mit weit über eintausend ausgewerteten Aktenbänden in erster Linie auf die reichen Bestände des Landesarchivs Berlin (LAB). Hier gelang es in zeitaufwändiger wie reizvoller Arbeit, die schriftlichen Quellen der West-Berliner Stadtverwaltung (Hauptgruppe B) mit denen ihres Ost-Berliner Pendants (Hauptgruppe C) nach den verschiedenen Provenienzen unter dem Konkurrenzaspekt zusammenzuführen. Hinsichtlich der „klassischen“ Ressorts (u.a. Wirtschaft, Finanzen, Arbeit, Inneres, Bildung, Kultur und Stadtentwicklung), aber auch der politischen Leitungen (Magistrate, Senat und deren Gliederungen) sowie der Verfassungsorgane (Stadtverordnetenversammlung, Abgeordnetenhaus), korrespondieren beide Hauptgruppen strukturell und inhaltlich weitgehend. In der C-Hauptgruppe fanden sich die für die Analyse außerordentlich wichtigen Akten der Gesamtberliner SED, ihrer Landes/Bezirksleitung und der Kreisverbände sowie der im „Demokratischen Block“ und in der „Nationalen Front“ vereinten SED-Bündnisparteien und Massenorganisationen. Deren ungedruckte Materialien liefern u.a. aufschlussreiche Stimmungs- und Instrukteursberichte. Für West-Berlin existiert zwar eine gesonderte Aktengruppe „Organisationen und Verbände“, doch enthielt sie unter dem Konkurrenzgesichtspunkt nur wenig Substanzielles. Dafür bot vor allem der schriftliche Nachlass des Büros für Gesamtberliner Fragen des Senats und der Senatskanzlei eine Fülle von erstrangigen Informationen u.a. über die westlichen Aspirationen in der Systemauseinandersetzung, auch unter Berücksichtigung der westsektoralen Parteien und Interessenverbände. Verschiedene Stücke aus Nachlässen und viele „Streumaterialien“ im LAB runden den für die Arbeit genutzten Aktenfond ab. Überdies wertete der Verfasser in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen im Bun23 So lebten beispielsweise über 50 Prozent der Einwohner des Bezirks Potsdam Mitte der 50er Jahre in Orten, die unmittelbar an West-Berlin grenzten und deren Einwohner, wie zu sehen sein wird, von den Möglichkeiten dieser Teilstadt regen Gebrauch machten. Umgekehrt nutzten viele West-Berliner bis 1952 „Randberliner“ Angebote. 24 Vgl. hierzu beispielhaft: Stefan Creuzberger, Kampf für die Einheit. Das gesamtdeutsche Ministerium und die politische Kultur des Kalten Krieges 1949–1969, Düsseldorf 2008.

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desarchiv (SAPMO-BArch) alle für sein Thema in Frage kommende Akten des Zentralen Parteiarchivs der SED (DY 30), einschließlich wichtiger Nachlässe, sowie im Bundesarchiv Berlin ausgewählte Provenienzen des DDR-Ministerrates (Kultur, Wirtschaft, Handel und Versorgung) aus. Hinzu trat die Durchsicht von ebenfalls ungedruckten Quellen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), insbesondere seines Bestandes Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR. Zu den für die Analyse verwendeten gedruckten Quellen gehören diverse Protokolle, amtliche Druckschriften, Berichte, parteioffizielle Schriften, Periodika und nicht zuletzt Presseerzeugnisse: Zeitungen, Zeitschriften, aber auch „graue“ Propagandamaterialien des Kalten Krieges. Überdies nutzte der Verfasser im Bundesarchiv, Filmarchiv am Innsbrucker Platz, mit Gewinn die Wochenschauen beider Berliner Seiten. Einen wichtigen Platz nehmen die Befragungen von zahlreichen Zeitzeugen ein. Das resultiert vorrangig aus der Absicht des Verfassers, die Wahrnehmungen der Systemkonkurrenz in der „normalen“ Berliner Bevölkerung festzustellen und zu erfahren, woran sie sich aus welchen Gründen erinnerten. Es entstand ein breites Spektrum subjektiver Bilder vom Alltag der geteilten Stadt. Das entspricht dem Anspruch der Analyse als ein Beitrag zu einer politischen Gesellschaftsgeschichte. Konrad H. Jarausch wies auf das Phänomen hin, dass sich der Zeitzeuge „als wahrer Künder des Vergangenen“ sieht, während er „vom skeptischen Historiker“ bestenfalls als Quelle respektiert werde. Im Erzählen der Zeitzeugen stecke eben „ein Versuch, willkürlich erscheinende Begebenheiten zu Geschichten zu ordnen, d.h., narrative Moleküle zu verwandeln, die gleichzeitig eine Sinngebung mit einschließen“.25 Das trifft im Prinzip auch auf die Erinnerungen derer zu, die in der vorliegenden Darstellung ihre Spuren hinterließen. In ihrem Fall überrascht die große Übereinstimmung ihrer Erzählungen sowohl mit den Aktenüberlieferungen als auch untereinander. Zumindest sind die Kernaussagen ihrer Berichte in der Regel miteinander kompatibel. Diese Einschätzung wird aber möglicherweise auch dadurch etwas beeinflusst, dass dem Verfasser mit seinem Thema eine Doppelfunktion eigen ist: Er forscht als Wissenschaftler und ist selbst Zeitzeuge. Aber auch in diesem Fall behält Jarausch hoffentlich Recht: „In einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis verhindert ein Eingestehen von Subjektivität nicht die Aufarbeitung, sondern ist die Voraussetzung zu ihrer weitgehenden Überwindung.“26

25 Konrad H. Jarausch, Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: Jarausch/Sabrow (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis, S. 27. 26 Ebd. S. 35.

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An dieser Stelle möchte ich neben der Hausleitung des ZZF allen danken, die zur Realisierung des Buches beigetragen haben. Ein besonderes Dankeschön gebührt meiner Kollegin Jana Wüstenhagen für ihre konstruktive Kritik und die Fähigkeit, Wichtiges mit der ihr eigenen Freundlichkeit zu vermitteln. Eine große Hilfe waren mir die studentischen Hilfskräfte Stefan Jahrmärker, dem zuverlässigen „Famulus“ bei der aufwändigen technischen Bearbeitung des Manuskripts, und Florian Krug, der Korrektur las. Dank schulde ich auch meinen diskutierfreudigen Mitarbeitern im ZZF-Forschungsbereich Berlin/Brandenburg im Ost-West-Konflikt, namentlich Melanie Arndt für ihre unkonventionelle Hilfsbereitschaft. Hervorzuheben bleibt auch das Engagement von Waltraud Peters bei der Anfertigung der Druckvorlage. In die Würdigung mit eingeschlossen sind die Archivare des Landesarchivs Berlin, hier insbesondere die geduldige Barbara Schäche, sowie des Bundesarchivs Berlin/Koblenz für ihre kompetente und professionelle Arbeit.

I. Politik 1. Das gespaltene Berlin zwischen Realität und Wahrnehmung Berlins politisch-administrative Teilung im Herbst 1948 markierte formal den Endpunkt einer Entwicklung, die sich nach Kriegsende im Umfeld des beginnenden Kalten Krieges sehr bald abzuzeichnen begann. Die Spaltung der deutschen Hauptstadt war bereits sein Ergebnis, dynamisierte ihn aber in der Folgezeit rasant. Die sich aus verschiedenen Quellen speisende Berlinfrage als Teil des deutschen Problems erhielt nun ihren aktuellen Inhalt: Die Westmächte hielten unbeirrt an ihren verbrieften Berlinrechten fest und die Sowjetunion versuchte, sie ihnen streitig zu machen. Dieser Konflikt stellte das Grundmuster der internationalen Konkurrenz um Berlin dar.

1.1 Der „politische Sinn“ des geteilten Berlin Für die Deutschen lag das Berlinproblem in der Frage, ob die Metropole in sich und mit Deutschland wiedervereinigt und wieder Hauptstadt sein würde oder aber dazu verurteilt, zusammen mit der Bundesrepublik und der DDR weiter den separaten Weg zu bestreiten. Und die Berliner fragten sich, wie es mit ihnen weiterginge, wenn sich sowohl die regionale Spaltung als auch die Gefahr militanter Zuspitzungen im Ost-West-Konflikt nicht überwinden ließen. Beide konkurrierenden deutschen und alliierten Herrschaftseliten sahen in der Einbindung ihrer Berliner Sektoren die Ordnung des jeweiligen deutschen Präferenzstaates und in einander entgegengesetzte Bündnissysteme die Lösung der Berliner und deutschen sowie beinahe aller anderen Fragen. Es war klar, dass dieses Konzept beide Hälften Berlins in die „Lager“ der Systemauseinandersetzung hineinstellte: die Westsektoren in die Gruppe der demokratisch verfassten liberalen Rechtsstaaten und den Ostsektor in die Phalanx kommunistischer Diktaturen sowjetischer Prägung – wie immer und von welcher Position aus man das auch bezeichnete. Blieb Zweistaatlichkeit die Perspektive, dann bedeutete kategorische Systemeinbindung für die Berliner Politik und Gesellschaft gerade in der Polarisierungsphase des Ost-WestKonflikts extreme Abhängigkeit. Ein geteiltes Berlin war, für sich genommen, vor allem unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten, nicht lebensfähig, doch konnte diese Art von konkurrierender Integration die Tendenz zur Vertiefung der Separation Berlins nur verstärken. Wurde die Frage der Grundbindung des geteilten Berlins allgemein von der internationalen machtpolitischen Konstellation bestimmt, lagen die Stadt und ihre Gesellschaften in der Schwerkraft ihrer deut-

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schen Präferenzstaaten. Auch dadurch geriet das Berliner zum Teil des deutschen Problems. Unter diesen Bedingungen entstand nicht nur die Frage, welche konkreten Beziehungen die beiden Teile Berlins zu den deutschen Staaten, sondern auch zu sich selbst eingehen würden. 1948/49 war absehbar, dass die Perspektive der Integration neues Konfliktpotential anhäufte. Vor diesem Hintergrund verhärtete sich die Systemauseinandersetzung in Berlin in unregelmäßigen Abständen, was Konkurrenz zuvorderst in konfrontativen Formen bedeutete. Dabei vermengten sich internationale, deutsche und regionale Faktoren, die zum Wechselspiel von gegenseitiger Machtdemonstration, aber auch zu Verhandlungen der vier Großmächte beitrugen, sowie im Rahmen alliierter Berlininteressen deutsche inoffizielle Kontakte gestatteten. Auch sie hatten Anteil an pragmatischen Interberliner Konfliktbegrenzungen und technischen Regelungen. Ein „Sterben für Berlin“ wollte niemand, der Koreakrieg (1950–1953) mahnte zur Vorsicht. Unter diesen Bedingungen verlief die Berliner Systemkonkurrenz von 1948 bis zum Mauerbau ungleichmäßig. So durchlief sie z.B. 1950/51 eine relativ moderate Phase, die aber ab dem Frühjahr 1952 von einer Periode konfrontativer Eskalation abgelöst wurde. Restriktive Maßnahmen Ost-Berlins und die harsche Reaktion des Senats trieben sie an, der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führte sie zu einem Gipfelpunkt. Nach einer Beruhigung zu Zeiten des „Neuen Kurses“ der SED, der sie nach neuen Formen der Legitimation ihrer Macht suchen ließ und in der sie, wie der Senat, u.a. die Gesamtberliner Arbeit als Form der Konkurrenz weiter entwickelte, verband sich der Systemwettstreit mit dem zweiten internationalen Berlinkonflikt und neuen Ost-Berliner Krisenturbulenzen. 1.1.1 Die politisch-rechtliche Situation Rechtlich war der Status Berlins nach Kriegsende trotz späterer sowjetischer Einsprüche – und gerade auch deshalb – klar: Es galt das alliierte Berlinstatut.1 Doch während sein Ostteil räumlich und in jeder anderen Hinsicht unmittelbar mit dem DDR-Territorium verbunden war, lagen zwischen seinen Westsektoren und der Bundesrepublik lange Wege durch Ostdeutschland, das West-Berlin umgab und es zu einer „Insel“ werden ließ. Was sollte dieses von den alten Lebenslinien abgeschnittene West-Berlin sein, fragten sich nach 1948 nicht nur die Deutschen; würde es überhaupt überleben

1 Vgl. zu Genesis und Bestimmungen des alliierten Statuts von Berlin: Ernst R. Zivier, „Der Rechtsstatus des Landes Berlin“, Berlin (W) 41987, S. 13–17; 27–30; 53–59.

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können und, wenn ja, wie? War es eine Stadt oder ein Land?2, lautete ein weiteres Problemthema. Schließlich durfte es dann nicht das sein, was die West-Berliner politische Führung wollte und in der Berliner Verfassung vom 1. September 1950 festgeschrieben hatte: ein Land (das 12.) der Bundesrepublik Deutschland. Die Westalliierten akzeptierten den Anspruch im Prinzip, suspendierten die entsprechende Verfassungsbestimmung aber mit Blick auf den alliierten Status der Stadt (d.h. eigentlich auf die Sowjetunion). Ihr endlich als ein „deutsches Land und zugleich eine Stadt“ definierter Westteil gehörte damit rechtlich nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik, deren Gesetze, wie internationale Verträge und Verpflichtungen, jedoch von West-Berlin übernommen würden, wenn das Abgeordnetenhaus bzw. der Senat dem zustimmten.3 Ein „Kleines Besatzungsstatut“4 regelte die Beziehung der Westmächte zu ihren Sektoren und verschiedene Besatzungskompetenzen.5 Demgegenüber verzichtete die sowjetische Besatzungsmacht aus optischen Gründen6 für Ost-Berlin offiziell auf ein derartiges Regelwerk, griff aber im Vergleich mit den Westmächten praktisch viel stärker in politische und verwaltungstechnische, vor allem aber wirtschaftspolitische Entscheidungen der DDR- und 2 Vgl. Ernst Reuter, Die wirtschaftliche Lage Berlins. Vortrag vor der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Zürich am 18.6.1952, hrsg. vom Presseamt des Senats von Berlin, Berlin (W) 1962, S. 10. 3 Vgl. Schreiben der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin an den Regierenden Bürgermeister (Reg. Bgm.) und den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, über „die Möglichkeit der Mantelgesetzgebung“, 8.10.1951, in: Dokumente zur Berliner Frage 1944–1962, Zweite Auflage, München 1962, S. 166f. und Erklärung der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin vom 21.5.1952 über die Einbeziehung Berlins in internationale Verträge und Verpflichtungen der Bundesregierung, in: ebd., S. 175–179. 4 Vgl. das Besatzungsstatut für Berlin, 14.5.1949, in: ebd., S. 114–118. 5 Die Westalliierten erklärten (noch einmal), sie hätten den Wunsch, „den Berliner Behörden die größtmögliche Freiheit zu gewähren, die mit der besonderen Lage Berlins vereinbar ist“. Sie behielten sich jedoch das Recht vor, „Maßnahmen zu ergreifen, die zur Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen, zur Sicherung der öffentlichen Ordnung und zur Erhaltung des Status und der Sicherheit Berlins, seiner Wirtschaft, seines Handels und seiner Verbindungslinien notwendig sind“. Erklärungen der Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin vom 26.5.1952 anlässlich der Neuordnung der Beziehungen zwischen den Westmächten und der Bundesrepublik, in: ebd., S. 164–166. 6 In der ostdeutschen Öffentlichkeit versuchten SED und Magistratsbehörden, ihre völlige Unabhängigkeit glaubhaft zu machen. Beispielsweise erklärte der Stellv. OB Schmidt: „Für den sowjetischen Stadtkommandanten in Berlin besteht überhaupt keine Möglichkeit, die Entscheidungen der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats zu beeinflussen, wie das bedauerlicherweise in West-Berlin gang und gäbe ist.“ „Gespräch Waldemar Schmidts mit Werktätigen des VEB-Berliner Betonwerks“, 12.9.1957, in: LAB, C Rep.124, Nr. 194.

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Ost-Berliner Führung ein. Sie reglementierte und kontrollierte, nach 1955 allerdings mit abnehmender Tendenz, auch untergeordnete Staatsorgane und Produktionsbetriebe.7 Jedoch hielt auch sie zunächst die interalliierte Bestimmung ein, dass OstBerlin nicht Teil der DDR sei und – beispielsweise durch den Verzicht auf stimmberechtigte Ost-Berliner Abgeordnete in der DDR-Volkskammer – nicht von ihr regiert werden dürfe. Aber das war Makulatur. Ost-Berlin als „Hauptstadt der DDR“ wurde politisch, gesellschaftlich und sozioökonomisch in diesen deutschen Teilstaat eingebunden und entwickelte sich im Prinzip nicht anders als dieser. Parallel dazu blieb West-Berlin zwar Besatzungsterritorium, besaß aber in der Tendenz Handlungsspielräume und die Perspektive, seine politische und soziale Ordnung analog zu der in der Bundesrepublik zu entfalten, dessen Land es auch rechtlich werden wollte. Der Oberbürgermeister West-Berlins, Ernst Reuter, erklärte am 1. September 1949, man müsse, solange es das noch nicht sei, die Voraussetzungen einer „Einverleibung Berlins in die Bonner Bundesrepublik“ schaffen, und auch die Bundesregierung schien entschlossen, diese Stadt, „solange sie nicht de jure zwölftes Land sein darf, […] de facto als solches zu behandeln“.8 Das akzeptierte die Sowjetunion nach der Berlinkrise von 1948/49 über viele Jahre und damit auch, dass sich die West-Berliner „als in die Bundesrepublik integriert“ betrachteten und diese ihre diplomatische und konsularische Interessenvertretung wahrnehme.9 Gleichzeitig gab die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin dem WestBerliner Senat zu verstehen, dass sie sich jede Einmischung der SED in die Fragen der sowjetisch-West-Berliner Beziehungen verbete.10

7 Vgl. u.a. Aktennotiz des Amtes für Ernährung (des Ost-Magistrats) über „Besprechung in der Zentralkommandantur“, 22.6.1949, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 36. 8 Zitiert nach: Gerhard Keiderling, Die Berliner Krise 1948/49. Zur imperialistischen Strategie des Kalten Krieges gegen den Sozialismus und der Spaltung Deutschlands, Berlin (O) 1982, S. 394. 9 Protokoll des Senatsvertreters (Chef des Protokolls, Dr. Klein) bei den internen Kontaktgesprächen mit der Ost-Berliner sowjetischen Botschaft (für den Reg. Bgm. und den Senator für Bundesangelegenheiten Günther Klein), 27.6.1956, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 12258. 10 Klein berichtete, dass die Sowjetbotschaft ihm über „einen ausländischen Verbindungsmann“ sagen ließ, dass sich der DDR-Außenminister (Bolz) und der Berliner Bezirkschef der SED (Baum) über die internen Kontaktgespräche als ein „Rückschlag für die Politik der DDR“ beschwert hätten. Der sowjetische Botschafter (Puschkin) habe sich jedoch „diese Einmischung in sowjetische Angelegenheiten verbeten“. Ebd.

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1.1.2 Konkurrierende Ansprüche Beide Teile der Stadt wurden „amtlich“ und umgangssprachlich verschieden bezeichnet.11 Die Termini symbolisierten Besitzstände und Zugehörigkeiten. Doch standen hinter den Namen auch politische Absichten und Ansprüche, die der deutschen und internationalen Öffentlichkeit klar gemacht werden sollten. 1949 hatten die Regierungen beider Teile Deutschlands und Berlins den Wunsch nach der Einheit der Stadt mit der von beinahe allen Deutschen geteilten Anschauung verbunden, dass sie die Hauptstadt Gesamtdeutschlands war und wieder sein sollte. Nachdem die Blütenträume einer schnellen Wiedervereinigung nicht reiften, die Stadt als gesamtdeutsches politisches und kulturelles Zentrum zunehmend in Frage gestellt war und damit die wichtigsten Funktionen einer „Reichshauptstadt“ verlor, sprach man im Westen von der „Hauptstadt im Wartestand“. Das wahrte die Ansprüche, blieb aber unverbindlich und bot sowohl Optimismus und Hoffnung als auch Resignation und Absage Raum. Wie die reale Entwicklung changierte auch ihre Widerspiegelung in Politik und Gesellschaft. Da sich die Hauptstadtchancen im Kontext internationaler und deutscher Bedingungen verringerten, schwand mit den Erinnerungen an das Vorkriegsberlin auch allmählich das Bedürfnis, seinen politischen Metropolenstatus wiederherzustellen. War Berlin bis in die 50er Jahre hinein geradezu die Inkarnation nationaler Identität gewesen, baute sich dieses Merkmal beiderseits ab, während die Stadt im Westen, auch angesichts östlicher Bedrohungen, das Symbol für kämpferische Freiheit und west11 Die Behörden im Westteil der Stadt gebrauchten bis zum Mauerbau in chronologischer Reihenfolge, manchmal auch gleichzeitig, für ihr Territorium: „Berliner Westsektoren“, „West-Berlin“, häufig auch generalisierend „Berlin“. Überhöht hieß es das „freie Berlin“. Demgegenüber nannten sie den Ostteil der ehemaligen Reichshauptstadt „im innerdienstlichen Verkehr“ laut Rundverfügung des Innensenators vom 15.3.1953 „Sowjetsektor“ (auch „Ostsektor“) und dessen Magistrat „Verwaltung des Sowjetsektors“ (pejorativ: „StadtSowjet“). Ab Mitte der 50er Jahre setzte sich schließlich das Nomen „Ost-Berlin“, amtlich auch „Berlin (Ost)“, seltener „Berlin (DDR)“ durch, während dessen Verwaltung und die SED den Westteil der Stadt zunächst als „Westsektoren“, dann in der Regel als „Westberlin“ bezeichneten, aber den Begriff – im Unterschied zur Konkurrenz – als ein Wort schrieben. Demgegenüber sah sich Ost-Berlin anfangs als den „Demokratischen Sektor“ bzw. als „Demokratisches Berlin“ und ab Mitte der 50er Jahre als „Berlin, Hauptstadt der DDR“, manchmal auch kurz „Hauptstadt“ oder, wie im Westen, „Berlin“ getitelt. Das gesamte Berlin wurde lange Zeit von beiden Seiten als „Viersektorenstadt“ bezeichnet und zunächst auch als „Groß-Berlin“. Daneben verwendeten die östlichen Machthaber gegenüber WestBerlin pejorative Bezeichnungen: „Frontstadt“, „Pfahl im Fleische der DDR“, „Agentennest“, „Sumpf Westberlin“, denen die andere Seite euphemistisch Selbstbezeichnungen entgegenhielt: „Insel im roten Meer“, „Leuchtturm der Freiheit“, „Schaufenster des demokratischen Westens“ u.a.m.

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liche Überlegenheit blieb und als solches zur gesellschaftlichen Integration sowie zum Selbstverständnis seiner Bewohner beitrug. Für die SED hingegen besaß OstBerlin Doppelcharakter: Von 1949 bis etwa zur Mitte der 50er Jahre sah sie es zum einen als Hauptstadt Deutschlands – wobei intellektuell ein Gesamtberlin unterstellt wurde – und zum anderen gleichzeitig als Hauptstadt der DDR. Seit Mitte der 50er Jahre war dann nur noch von Berlin als Hauptstadt der DDR die Rede. Beide Teile erhoben Anspruch auf das ganze Berlin, was äußerlich schon durch die Heraldik12 ins Auge fiel. Aber nur Ost-Berlin nahm, weil es der Vereinnahmungsambition der SED entgegenkam, die seit 1920 amtliche Bezeichnung Groß-Berlin dauerhaft für sich in Anspruch13, nicht zuletzt, um sie dadurch auch historisch zu rechtfertigen. Doch mehr noch spielten bei der Legitimation der jeweiligen Machtverhältnisse von Anfang an ideologische und politische Motive eine Rolle, aber auch das gegensätzliche Selbstverständnis der Regierenden. Dabei definierten sich beide Seiten über Feindbilder, die im Kalten Krieg den notwendigen Kontrast zwischen eigener Rechtmäßigkeit und dem illegitimen Handeln des politischen Gegners ermöglichten. Für die SED war West-Berlin ein Hort der Reaktion, der Monopole und Militaristen. Es sei als „Frontstadt“ des Kalten Krieges durch illegale Akte der Westalliierten als deren Kreatur entstanden und befände sich nun in „völliger Abhängigkeit“ von Bonn. Während die einzelnen Injurien variierten14, blieb die östliche Behauptung konstant, dass West-Berlin keine Per-

12 Beide Seiten zeigten die Gesamtberliner Stadtfahnen und -wappen und unterstrichen auch durch andere tradierte Symbole (z.B. Brandenburger Tor) geschichtliche Ansprüche. 13 Die DDR ließ die amtliche Bezeichnung „Magistrat von Groß-Berlin“ erst 1976 zugunsten von „Magistrat von Berlin, Hauptstadt der DDR“ fallen. In West-Berlin verschwand die Bezeichnung „Groß-Berlin“ im Verlaufe des Jahres 1950 aus dem offiziellen Verkehr, wobei „Groß-Berlin“ insofern immer präsent war, als es den staatsrechtlich definierten territorialen Rahmen festlegte, der für die Entwicklung aller Stadtbezirke in der geteilten Großgemeinde noch 1948 auch aus alliierter Sicht verbindlich war. 14 Sie stempelten West-Berlin als „Agentennest“, moralischen und kulturellen Sumpf ab, zu dem auch Wechselstuben, die Grenzläden und die Grenzkinos gehörten. Die Amerikaner hätten einen Teil Berlins zur „Frontstadt“ gemacht, hieß es in einer SED-Argumentation: „Mit schreiender Reklame, überladenen Fassaden und ungesundem Luxus für einige Schmarotzer wird Reichtum vorgetäuscht, um das Elend der Menschen zu verdecken, das dahinter lauert. Denn das Gesicht der Straßen in Westberlin drückt nicht die tatsächliche Lebensart der Berliner aus, es ist Importware aus Amerika, eine der Segnungen der westlichen Welt, die Damenringkämpfe, Taxigirls, Künstlerelend, Bürsten-Bubis, Talmi-Glanz und Provokation im Gefolge hat. Unsere Menschen erkennen sehr wohl, wo die gesündere Atmosphäre herrscht, ob in der getarnten Kriegslüsternheit der Westmächte oder in der lebensbejahenden Begeisterung der echten Berliner.“ SED-Kreisleitung Friedrichshain, Abteilung Agitation, Argumentation 29/53, 12.10.1953, in: ebd., C Rep. 903–01–01, Nr. 245.

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spektive habe: Es sei „eine historische Episode“15. Demgegenüber verkörpere OstBerlin die Zukunft der gesamten Stadt und ganz Deutschlands. Die in Ost-Berlin geschaffene „volksdemokratische Ordnung“ sei ein Garant für die Erhaltung des Friedens und die Basis für eine demokratische Wiedervereinigung. So könne „niemand in Abrede stellen, daß in der gesellschaftlichen Entwicklung das demokratische Berlin den Westsektoren um eine ganze geschichtliche Epoche voraus ist“.16 Diese polarisierte Sicht fand ihre Bestätigung in den Berlinbildern der Bündnispartner in Ost und West, hier vor allem bei Politikern, Geisteswissenschaftlern und Publizisten. Während die Vertreter des Ostblocks zumeist den Unterschied zwischen Friedenswahrung im „demokratischen“ und Kriegsdisposition im westlichen Berlin herausstellten17, gingen Beobachter aus dem Westen bei der Beurteilung beider Berliner Systeme in der Regel stärker von einem ideologisierten politischen und wirtschaftlichen Vergleich aus.18 Hinzu trat die im Kalten Krieg übliche gegenseitige Verunglimpfung von führenden Berlinpolitikern. Im Westen standen Friedrich Ebert und die jeweiligen Ersten SED-Bezirkssekretäre am Pranger, im Osten vor allem Ernst Reuter, später noch massiver Willy Brandt.19 Von diesen gegensätzlichen Wahrnehmungen und Positionen aus erhoben beide Seiten ihren berlinpolitischen Alleinvertretungsanspruch: Sowohl die SED und der Ost-Berliner Magistrat20 als auch der Senat21 fühlten sich als einzige legitime Vertreter aller Berliner. Daraus folgte eine Art Gesamtberliner Anspruch, der sowohl eine Fürsorgepflicht auch für die Bewohner des jeweils anderen Teils 15 Disposition für einen Artikel des Magistrats: „9 Jahre demokratisches Berlin“, November 1957, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5535. 16 Waldemar Schmidt, „Bericht über Maßnahmen zur Durchführung des Gesetzes über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates in Groß-Berlin“, undatiert, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 195. 17 Vgl. V.N. Boldyrew, Westberlin und die europäische Sicherheit, Berlin (O) 1973, S. 10f. 18 Typisch dafür ist eine Äußerung des ECA-Administrators Paul G. Hoffmann; der Unterschied zwischen West- und Ost-Berlin sei „der gleiche wie zwischen wirtschaftlichem Leben und wirtschaftlichem Tod. Der Gegensatz zwischen der lebensvollen, helfenden Hand der Demokratie und der toten Hand des Kremls. Kommunismus lässt sich nirgends so eindrucksvoll demonstrieren wie in Berlin.“ Zitiert nach: Bennett, Bastion Berlin, S. 255. 19 Was ist Brandt für ein Deutscher, fragte der Ständige Stellv. OB Waldemar Schmidt rhetorisch: Er sei ein „Lügenapostel“ und ein von der Ullstein-Presse „wie ein Hollywood-Star zurechtgestutzter Scharlatan“, Rede Schmidts in der Beratung „Aus dem Berliner Rathaus“, 21.12.1958, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 195. 20 Vgl. Papier von Schmidt, November 1957, in: ebd., Nr. 194. 21 Reuter führte anlässlich seiner Regierungserklärung am 1.2.1951 über die Legitimität des Senats von Berlin aus, dass sich „der aus der Wahl des Abgeordnetenhauses hervorgegangene Senat als die einzige legale Regierung Berlins (betrachtet)“. Vgl. Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin, I. Wahlperiode, Bd.1, 1951, S. 18.

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unterstellte als ebenfalls den Auftrag, bei Planungen und staatlichen Maßnahmen, insbesondere aber bei der Gesetzgebung, immer den anderen Sektor „mitzudenken“. Dabei ging die SED davon aus, dass Ost-Berlin den demokratischen Kern der Stadt bilde, von dem sich die Westsektoren auf Dauer nicht absplittern ließen.22 Wenngleich der Senat eine derartige „Kernstaatstheorie“ nicht formulierte, sah er wie sein politischer Konkurrent die Notwendigkeit, vom eigenen Machtbereich aus gesamtstädtisch zu handeln.23 Das wurde, wie noch zu sehen sein wird, immer wieder angemahnt, weil der Senat und seine Gliederungen den Ostsektor im Tagesgeschäft häufig „vergaßen“. An die Führungspflicht der West-Berliner Administration erinnerte gerade Brandt den Senat, aber auch den Bundeskanzler.24 Im Osten wurde viel stärker unter propagandistischem Vorzeichen diskutiert und politisch-sozial geworben. Solange auch nur geringe Chancen dafür bestanden, die West-Berliner Bevölkerung „fürsorglich“ im Sinn von SED-Politik und „Schadensabwendung“ zu beeinflussen25, waren die Gesamtberliner Ansprüche der SED ernst gemeint, konkret und manchmal auch plausibel.26 Sie stießen aber auf ähnliche Alltagsprobleme wie im Westen; der Partei- und Verwaltungsapparat 22 Vgl. Ausarbeitung von Schmidt, November 1953, in: LAB, C Rep. 124, Nr.190. 23 Dafür plädierte der für Ostfragen kompetente Bgm. Franz Amrehn (CDU) eindringlich: Alle Senatoren und Abgeordneten müssten darauf achten, „dass sämtliche Planungen vom Einheitscharakter Berlins“ ausgingen. Protokoll über die 4.Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 20.5.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc.1636, Nr. 2070. 24 Brandt erinnerte Adenauer daran, dass bei der Fortsetzung des 1955 vom Bonner Wirtschaftskabinett beschlossenen Berliner Aufbauplanes die acht Ostbezirke der Stadt unbedingt „in den Wiederaufbau eingeschlossen werden müssen“. Die Planungen würden deshalb weiterhin für das Gebiet Groß-Berlin durchgeführt. Denkschrift des Reg. Bgm. Brandt für Adenauer, 5.5.1958, in: ebd., B Rep. 004, Acc. 2140, Nr. 193. 25 Der Ost-Magistrat habe eine Politik zu entwickeln, „die sowohl in der gesetzgeberischen Arbeit als auch auf allen anderen Gebieten den Lebensforderungen aller Berliner Einwohner entspricht“. Er werde „seine Anstrengungen und seine Bemühungen um deren Gesundheit und das Wohlergehen“ fortsetzen. Deshalb müsse er „künftig stärker die Initiative ergreifen, um durch seine, den Interessen der ganzen deutschen Nation entsprechende Politik eine Schädigung der Berliner Bevölkerung durch die Reuter-Verwaltung unmöglich zu machen“. Magistratsbeschluß Nr. 688 vom 18.4.1951, in: ebd., C. Rep. 100–05, Nr. 856, Bl. 136f, 140. 26 Die Berliner SED-Führung wollte bei der Realisierung von Gesetzen prüfen, inwiefern sie „in bezug auf Westberlin anzuwenden sind“. Einzelfragen seien unter diesem Aspekt zu klären. Die Stadträte wurden zur Ausarbeitung konkreter Pläne ihrer Verwaltungen für die Gesamtberliner Arbeit angehalten. Resümierend wurde erklärt, dass bei allen Ost-Berliner Maßnahmen und Beschlüssen die Auswirkungen auf West-Berlin zu beachten seien. BL der SED, „Entwurf der Grundsätze zur Gesamtberliner Arbeit der staatlichen Organe in GroßBerlin“, 9.8.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 299, Bl. 26, 28.

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beschäftigte sich zuvorderst mit den Problemen des Ostsektors. War er mangels realer Möglichkeiten überhaupt in der Lage, irgendwelche integralen Gesamtberliner Konzepte zu verwirklichen? Immer aber blickte die SED – wie ihre demokratische Konkurrenz in West-Berlin – im „Kampf um Berlin“ auf die politischen Zielvorstellungen der anderen Seite. Auch das führt zu der Frage nach der Sicht der politisch Verantwortlichen auf den „Zweck“ Berlins. 1.1.3 Berlin als „Schaufenster“ „Berlin muß und wird der Schlüssel sein, mit der das Tor des Ostens eines Tages aufgeschlossen wird. Wir in Berlin sind der zentrale Punkt, in dem sich Deutschlands Zukunft konzentriert“, hatte der Regierende Bürgermeister Reuter 1951 ausgeführt und in seiner pathetischen Art ausgerufen: „Wir in Berlin müßten uns als Leuchtturm fühlen, der in die politische Nacht hineinleuchte und auch dem Westen die richtige Fährte weise.“27 So verfolgten die westlichen demokratischen Eliten in dieser Phase des Kalten Krieges mit dem Berliner „Bollwerk der Freiheit“ tatsächlich das allerdings sehr vage Rollback-Konzept des Westens. Ein „Halt“ für die Sowjetunion in Berlin, wie es 1948 als Zeichen gesetzt worden war, ordnete sich jedoch plausibel in die amerikanische Containment-Politik ein, und das hieß in Verbindung mit der westlichen Befreiungsrhetorik faktisch harte Konfrontation mit dem Osten.28 Doch setzte West-Berlin dann viel stärker auf die von Reuter beanspruchte „Magnettheorie“. Anziehend müsste es sein, ein „Schaufenster des Westens“. Gerade deshalb bedeutete „Politik der Stärke“ für die wehrhafte Berliner Demokratie politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit, die dann – pars pro toto – irgendwann zur Freiheit und Wiedervereinigung ganz Europas führen müsse. „Damit war Berlin eine Rolle im Ost-West-Verhältnis zugefallen, die weit über die lokalen Gegebenheiten wirksam war.“29 Auch die SED definierte Berlin im konfrontativen Stil: „Wir sind uns bewusst, dass der DDR und ihrer Hauptstadt Berlin als vorgeschobenem Posten des sozialistischen Lagers eine besondere Pflicht er27 Rede Reuters auf der Tagung des Wirtschaftsverbandes der Deutschen Holzverarbeitenden Industrie in Goslar, 16. und 17.6.1951, in: „Der Berliner Holzmarkt“, Beilage zu „Norddeutsche Holzwirtschaft“, 28.6.1951. 28 Etwa, wenn Reuter Anfang 1950 anmerkte, West-Berlin würde auf die Ostzone wie „Dynamit“ wirken, und: „Wir werden den Druck auf die Ostzone in einem Ausmaß verstärken können, das wenige sich heute vorstellen können.“ Zitiert nach: Willy Brandt/Richard Loewenthal, Ernst Reuter, ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957, S. 609. 29 Dieter Mahncke, Berlin im geteilten Deutschland (= Schriften des Forschungsinstituts der deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik e.V., Bd. 34), München/Wien 1973, S. 117.

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wächst, die wir mit Hilfe aller Werktätigen in Deutschland lösen werden.“30 Demokratischer „Expansionismus“ und offensiver „Klassenkampf“ gingen in den Schützengräben des Kalten Krieges eine unlösbare Symbiose ein. Ähnlich dem Westen, freilich mit anderen Interessen und Zielstellungen, ging auch die östliche Seite von ihrer Überlegenheit aus, die ein „Schaufenster“ konstituieren sollte, das die West-Berliner magnetisch anzog. Die SED-Führung wusste, dass Wirtschaft und Soziales dabei eine entscheidende Funktion besaßen31. Sie warf gleichzeitig – wie es auch im Westen der Fall war – die Frage einer nach innen gerichteten integrativen Anziehungskraft auf. Doch während der Westen sie und letztendlich Stabilität vor allem durch die soziale Marktwirtschaft zu erreichen suchte, appellierte der Osten an eine Art „höhere Vernunft“, Herrschaftssicherung über das Bewusstsein in die gestaltende Kraft der Planwirtschaft zu erreichen. Die SED wusste aber auch, dass sie der von ihr angestrebten Systemveränderung in West-Berlin damit und durch administrative Maßnahmen, Dogmen und ideologische Litaneien kaum näherkommen würde.32 Da Systemveränderungen angesichts der internationalen Kräftekonstellation bei allen Wunschvorstellungen und militärischen Stärkebeschwörungen nicht von außen zu bewirken waren, konnten sie im Verständnis beider Konfliktparteien nur von innen heraus herbeigeführt werden. Beide standen a priori vor einer Doppelaufgabe: Gewinnung der differenzierten Berliner Gesellschaft im eigenen Herrschaftsbereich und im jeweils anderen. Dabei war 1948/49 noch nicht hinlänglich klar, ob und inwiefern sich in Berlin die parlamentarische Demokratie oder aber diktatorische Herrschaftsformen durchsetzen würden. Das warf auch die Frage nach den materiellen Ressourcen auf, über die der Osten zunächst im größeren Umfang als der Westen verfügte. Doch berührte das Problem, wie und womit der jeweilige politische Kontrahent niedergerungen werden könnte, in erster Linie das Potential der dort lebenden Menschen, ihre Interessen und Gefühlslagen. Hier zeigte sich schnell der Vorteil WestBerlins. Zum einen bekannte sich die überwiegende Mehrheit seiner Bevölkerung nach der Krise von 1948/49 demonstrativ zum Westen und lehnte eine kommu30 Disposition für einen Artikel des Magistrats, „9 Jahre demokratisches Berlin“, November 1957, in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5535. 31 „Auf ökonomischem Gebiet ist das demokratische Berlin zum Vorbild zu entwickeln. Das bedeutet Erfüllung und Übererfüllung der Pläne.“ SED-BL Berlin, „Entwurf der Grundsätze zur Gesamtberliner Arbeit der staatlichen Organe in Groß-Berlin“, 9.8.1957, in: C Rep. 902, Nr. 299, Bl. 26. 32 Der Aufbau des Sozialismus in Ost-Berlin sei „volkstümlicher und anziehender zu organisieren“, befand die SED-BL. Folgerichtig verlangte sie, den „demokratischen Teil Berlins“ so kraftvoll zu entwickeln, „dass sein Beispiel und Vorbild ständig nach Westberlin wirkt“. Das hieße auch „vorbildliche Behandlung aller Rat- und Hilfesuchenden, besonders aus Westberlin und Vermeidung aller bürokratischen Entscheidungen“. Vgl. ebd.

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nistische Inkorporierung ab. Zum anderen wollte seine politische Führung darauf vertrauen, dass die Ostdeutschen in West-Berlin nicht nur den „Vorposten der Freiheit“ sahen, sondern in der Dialektik des beiderseitigen Freiheitswillens auch zu Verbündeten wurden.33 Das wiederum war jedoch nicht zwingend der Fall, wenn es der SED in Berlin gelang, attraktive sozioökonomische Konzepte zu entwickeln und zu verwirklichen. Die mussten aber auch im wirtschaftlich instabilen West-Berlin her; „Kampfgeist“ allein genüge eben nicht.34 Die Politik beider Seiten benötigte eine tragfähige „Massenbasis“ zunächst zur Konsolidierung des eigenen Machtbereichs. Nur diese Grundlage eröffnete die Chance, den Kampf um das jeweils andere Berlin erfolgreich zu führen. Solange dieses Fundament aber nicht stand, blieb die beabsichtigte Übertragung des Modells DDR auf West-Berlin, respektive die des westlichen auf Ost-Berlin, eine Illusion. Die Ziele beschrieben zwar „Endzeitvorstellungen“, würden aber im Verständnis ihrer Apologeten nur schrittweise zu erreichen sein. Der generelle Weg schien dabei vorgezeichnet: Jede der konkurrierenden Seiten müsse versuchen, irgendwie Einfluss auf die Entwicklung der anderen zu nehmen. Die allgemeine östliche Formel lautete, dass die SED „die Führung des nationalen Kampfes in Berlin übernehmen und den nationalen Widerstand gegen die Versklavung Westberlins durch die westlichen Interventionsmächte verstärken (müsse)“. Dabei seien alle in West-Berlin „zersplittert wirkenden Kräfte der Friedensbewegung und der nationalen Bewegung“ mit dem antiintegrativen Nahziel zusammenzufassen, die West-Berliner von der „Frontstadtpolitik“ des Senats zu lösen und sie für den Abbruch „aller Beziehungen zu Bonn zu mobilisieren“.35

33 So sah der Senat die „kämpferische Entschlossenheit“ der Berliner als die aktuelle Grundlage der „selbständigen und freiheitlichen Existenz Berlins“ an. Sie sei jedoch nicht nur eine Entschlossenheit zur eigenen Verteidigung, sondern auch eine „Quelle der Kraft für die 18 Millionen Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone. Ohne Berlin, ohne seine freien Menschen, seine freie Presse, seine freien Rundfunksender und die Sympathie und Unterstützung der freien Welt wäre Mitteldeutschland längst hoffnungslos sowjetisiert.“ Entwurf zum Weißbuch des Senats: „Flüchtlinge überschwemmen die Insel Berlin“, 28.1.1953, in: ebd. B Rep. Acc. 2323, Nr. 267–272. 34 Diese „Kampfkraft“ der Berliner sei jedoch „keine feststehende und unveränderliche Größe. Sie unterliegt mannigfachen Abnutzungsfaktoren. Schon allein die Zeit nagt an dieser Kraft. Die Berliner können nicht jahrelang in der Hochstimmung der Blockade-Kampfzeit bleiben.“ Ebd. 35 Vgl. Waldemar Schmidt: „Bericht des Magistrats über Maßnahmen zur Durchführung des Gesetzes über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates in Groß-Berlin“, undatiert (Sommer 1952), in: ebd., C Rep. 124, Nr. 195.

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Umgekehrt versuchte die West-Berliner Politik, die Einbindung des Ostteils der Stadt in die DDR und dessen Sowjetisierung zu verhindern. 1.1.4 Revolutionäre oder demokratische Transformation? Beide Konzeptionen zielten auf Systemtransformation. Ob – wie es in Ost-Berlin hieß – die zwölf westlichen Stadtbezirke den „Anschluss“ an die Entwicklung OstBerlins finden müssten36, oder sich West-Berlin zur Wiedervereinigung äußerte: Die Absicht der Einverleibung war gegenseitig und schon mit konkreten Realisierungsüberlegungen verbunden.37 In Konkurrenz zueinander beschäftigten sich deutsche Politiker im Westen bereits mit ihren Folgen, etwa der postseparaten Wirtschaftsplanung.38 Ein Papier des Büros für Gesamtberliner Fragen beim Regierenden Bürgermeister thematisierte für den Fall, dass der „Tag F“ – die Wiedervereinigung in Berlin – eintrete, verschiedene Problemkreise: Im ersten wurden Sicherheitsmaßnahmen für Betriebe39 erörtert, im zweiten Versorgungsangelegen-

36 Entwurf der Entschließung zur Landesdelegiertenkonferenz der SED, 11.6.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 161, Bl. 86. 37 Beispielsweise hatte Reuter im Juli 1951 in einem internen Schreiben erklärt, dass es „im Falle einer Vereinigung von West- und Ostberlin nur eine Universität in Berlin geben (werde) und das wird die Freie Universität sein. Es werden noch brauchbare Institute aus dem Osten mit in die Universität eingebaut werden, jedoch wird die Universität ihren Schwerpunkt immer in Dahlem haben.“ Schreiben Reuters an Alvin E. Eurich (Ford Foundation), 11.7.1951, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 31–93. 38 Während der Senat für eine Einbeziehung Ost-Berlins in die Planungen des „Forschungsbeirates“ beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen plädierte, war Bundeswirtschaftsminister Erhard dagegen. Er sehe – so kritisierte das Büro für Gesamtberliner Fragen des Senats – „das Problem anscheinend nur vom westdeutschen Standpunkt aus“ und bewerte das mittel- und ostdeutsche Wirtschaftsgebiet als Absatzmarkt und Objekt für Investitionen seitens der Bundesrepublik. „Dabei erwarten z.B. die Industrie und sonstigen Wirtschaftsbetriebe in West- und Ostberlin, die noch nicht im Arbeitsprozess wieder eingestellten Facharbeiter sowohl als auch alle schon mehrjährigen Arbeitslosen am Tage F endlich den Lohn zu erhalten für ihre erbrachten Opfer und für das geduldige Ausharren“ bis zur Wiedervereinigung. „Probleme zum Tage F“, Anlage zum Kurzbericht über die bisherige Tätigkeit des Büros für Gesamtberliner Fragen, 13.3.1954, in: ebd. B Rep. 002, Nr. 12707. 39 In diesem Punkt („Beschlagnahmte Betriebe und Geschäfte“) wurde, „um Faustrecht und Plünderungen zu verhüten“, eine „polizeiliche Sicherstellung“ von Waren, Unterlagen, Mobiliar etc. verlangt sowie die eventuelle „Schutzhaft des letzten Inhabers“. Die früheren Besitzer hätten Eigentumsnachweise beizubringen. Für das Eingreifen der Polizei sei eine „Vorläufige Verordnung“ notwendig. Vgl. ebd.

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heiten40, im dritten die Arbeitslosenfrage41 und im aufschlussreichen vierten der Umgang mit der politisch bedingten „Freisetzung“ von Arbeitskräften.42 So schufen sich also nicht nur die SED und der DDR-Staat, sondern auch der Senat konzeptionelle Grundlagen für eine Systemtransformation. Dabei wusste freilich niemand sicher, ob sie, wie man im Westen meinte, über freie Wahlen oder den inneren Zusammenbruch des SED-Regimes zustande käme und in West-Berlin durch revolutionäre Veränderungen, an die Sowjets und SED zunächst dachten. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 gingen diese angesichts eigener Schwäche und der Konsolidierung West-Berlins jedoch von der Vorstellung ab, man könne dessen Verhältnisse über eine „Volksfront“ aller „antiimperialistischen“ Kräfte generell verändern. Allmählich entstand eine Konzeption gezielter Einflüsse auf West-Berlin mit dem Impetus, dort aktuelle Interessen durchzusetzen.43 Das zog die Konzentration auf wichtige Bereiche und Probleme der WestBerliner Politik und Gesellschaft nach sich. Dieser Wandel ging zwar nicht mehr von der Möglichkeit einer von der SED angetriebenen inneren revolutionären Umgestaltung aus, ließ aber offen, ob eine Systemtransformation West-Berlins 40 Die seit Jahren notleidende, aber bodenständig gebliebene Berliner Wirtschaft müsse durch „genügend Betriebsmittel und Rohstoffe gesichert werden“. Die wirtschaftliche Versorgung des bisherigen „Sowjetzonenbereichs“ habe in erster Linie durch die Berliner Industrie und Handwerksbetriebe zu erfolgen. Vgl. ebd. 41 In der Facharbeiterfrage sah das Büro viele Fälle, „wo sich Facharbeiter [in Ost-Berlin] so betragen haben, dass sie aus politischen Gründen nicht mehr auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz tätig sein können. Auf der anderen Seite wird der Bedarf an Fachkräften wahrscheinlich so groß werden, dass viele Kategorien von Facharbeitern schon bald nach dem Tage F ausgesprochen knapp sind.“ Es würden Spezialisten aus Westdeutschland, speziell von westdeutschen Firmen, benötigt, „die sich in den Wiederaufbau der bisherigen Sowjetzone einschalten wollen“. Dieser Einsatz dürfe aber auf keinen Fall ohne Berücksichtigung Berlins stattfinden, „wo noch qualifizierte Kräfte als Arbeitslose vorhanden sind“. Vgl. ebd. 42 Freigesetzte Arbeitskräfte am Tage F, zum Beispiel aus der Volkspolizei „und dem aufgeblähten Apparat der SED in Wirtschaftsverwaltung, Partei- und Organisationswesen könnten erst nach einer gewissen Überprüfungs- und Anlaufzeit“ wieder eingesetzt werden „und das auch erst, wenn besonders das neue Wirtschaftsleben im bisher sowjetisch besetzten Gebiet zum Anlaufen gekommen ist.“ Deshalb dürften diese Gruppen bei „öffentlichen Arbeiten in den Bereichen Eisenbahn, Straßen, Flüsse und Kanäle zum Einsatz kommen. Vgl. ebd. 43 Als Beispiel für ungezählte Äußerungen sei eine Äußerung des Ständigen Stellvertretenden Ost-Berliner OB Schmidt genannt: „Wir wollen, dass endlich die Politik im Schöneberger Rathaus geändert wird, und wir wollen auch, dass der Westberliner Bürgermeister [Brandt] weniger törichte und demagogische Reden hält, dafür aber mehr im Sinne der Verständigung und Entspannung der Lage in der Stadt handelt.“, Manuskript der Ansprache Schmidts im Berliner Rundfunk, 3.1.1958, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 195.

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durch den Druck einer überlegenen UdSSR noch eine Chance besaß. Aber auch im Westen schwand die Hoffnung auf einen schnellen und radikalen Systemwandel im Ostsektor. Die Absicht der schrittweisen Veränderung des jeweils anderen Berliner Teils und schließlich die Praxis, ihm gegenüber in der Systemauseinandersetzung Positionsvorteile zu erlangen, deutet nach Mitte der 50er Jahre auf einen beiderseitigen „reformistischen“ Kurs hin. Er bestätigte, dass der Kampf der einander entgegengesetzten Ordnungen um Überlegenheit eine alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens im geteilten Berlin erfassende Systemkonkurrenz darstellte. Im Politischen entwickelte sich dabei nach 1948 ein Grundmuster: Die aus Wahlen hervorgegangene politische Führung West-Berlins verweigerte dem nicht demokratisch legitimierten Regime im Osten der Stadt die politische Anerkennung, während die SED und ihre Bündnispartner genau das wollten und darum rangen. Jede Form von politischen Kontakten und Interaktionen zwischen beiden wurde im Untersuchungszeitraum von dem westlichen Grundsatz beherrscht, dass Demokraten mit der SED nicht offiziell und nur bedingt reden dürften.44 Dem hielt die SED entgegen, dass der Weg zum Wohle aller Berliner Verhandeln hieße. Auf diese negative Wechselbeziehung wirkte der internationale Kalte Krieg permanent ein. In seinem konfrontativen Geist blieb zumindest bis zum Mauerbau eine besonders aggressive „Berliner Strömung“ sowohl des Antikommunismus45 als auch des Antikapitalismus46 erkennbar. Unversöhnliche Konfrontation und zivilgesellschaftlicher Wettbewerb lagen jedoch dicht beieinander und gingen verschiedentlich Symbiosen miteinander ein, gelegentlich auch Kompromisse. Im Bereich der Ideologien suchte man sie jedoch in der Regel vergeblich. Das traf im Besonderen auf solche zu, die Herrschaft historisch legitimierten und die Geschichtspolitik und Erinnerung formten.

44 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.6.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 2. 45 Immer, wenn Redner bei öffentlichen Veranstaltungen „gegen die DDR, die SED und die Sowjetunion hetzten, ernteten sie großen Beifall“. Oft seien die Redner mit den Worten unterbrochen worden: „Alle Kommunisten totschlagen, nieder mit der Regierung der DDR usw.“ Bericht der SED-Landesleitung „über die Protestveranstaltung zu Hermann Hans Flade am 28.1.1951 in den Messehallen am Funkturm“, 29.1.1951, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 267. 46 Besonders in der SED wollte man „nicht vergessen, dass wir die Frontstadt Westberlin als Nachbarn haben und deshalb doppelt und dreifache Anstrengungen unternehmen müssen, um den Klassenfeind auf den Fersen zu bleiben“. Vgl. Redeentwurf von SED-Bezirksleitungsmitglied Willi Schmidt zur 2. Tagung der BL, 2.8.1960, in: ebd. C Rep. 902, Nr. 433, Bl. 16.

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1.1.5 Zweierlei Geschichtspolitik und gelenkte Erinnerung Bis 1947/48 gab es durchaus noch eine Art Gesamtberliner Geschichtspolitik, die zum einen auf alliierten Vorgaben, zum anderen aber auch auf einem gewissen Konsens zwischen den zugelassenen Parteien beruhte. Die Hinterlassenschaften der NS-Zeit machten eine Erneuerung der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im Sinne von Denazifizierung und Demokratisierung unumgänglich. Gerade in Berlin als ehemaliger deutscher und preußischer Hauptstadt wurde die Frage, wie mit dem historischen Erbe umzugehen sei, zu einem sehr praktischen Problem von Politik und gesellschaftlichem Alltag. Zunächst dominierte die Geschichte Berlins mit ihren landes- und lokalhistorischen Merkmalen aufgrund der von ihr über Jahrzehnte entwickelten Schwerkraft als Reichsmetropole die gesamtdeutsche und internationale Erzählung, obwohl sich wichtige Prozesse und Gestalten weniger berlingeschichtlich als durch ihre Bindung an die Hauptstadtfunktion verorteten und definierten. Genau dadurch entstand häufig der Eindruck einer metropolenzentrierten Historie und Geschichtspolitik. Auch schien man dem nationalen Wiedervereinigungsziel intellektuell auch dadurch etwas näher kommen zu wollen, dass man die deutsche streckenweise in der Berliner Erzählung aufgehen ließ. Unter den nach 1948 veränderten Rahmenbedingungen bildeten sich im geteilten Berlin zwei verschiedene Konzepte und Praktiken des Umgangs mit der Vergangenheit heraus. Jedoch stellten sich beiden Seiten faktisch die fundamentalen Fragen, inwiefern die Aneignung der Vergangenheit zum Instrument der Selbstlegitimierung einerseits und des politischen Angriffs auf den Systemkonkurrenten andererseits würde und dabei der Blick auf die jeweils andere Seite die eigene Geschichtspolitik beeinflusse. So ging es vor allem um die Funktionalisierung von Geschichte zur Stiftung bzw. Förderung regionaler politischer Identitäten sowie um das damit verbundene Problem, ob man sich eher einförmiger oder eher mehrdeutiger politischer Erinnerungen und Geschichtsbilder bedienen sollte. Prinzipiell standen beide Seiten in einer einheitlichen deutschen und Berliner Geschichte, beriefen sich aber auf unterschiedliche Traditionslinien. Gleich nach 1945 ging es sowohl den Verteidigern der pluralistischen Demokratie als auch den Anhängern der kommunistischen Parteidiktatur vorrangig darum, der geistigen Hinterlassenschaft der Geschichtspolitik der NS-Zeit entgegenzutreten und an positives „Erbgut“ anzuknüpfen. Mit dem Beginn des Kalten Krieges grenzte sich die SED immer schärfer von allen als „reaktionär“ empfundenen Prozessen und Personen der Vergangenheit ab, die keiner oder nur einer negativen Erinnerung für wert befunden wurden: Adel und Junkertum, fortschrittsfeindliche Bourgeoisie, „verräterische“ rechte Sozialdemokratie und eben Nazis, einschließlich der mit ihnen allen verbundenen Leistungen und Gedenkorte. Das gezielte Negieren und

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Vergessen betraf auch Landschaften und Gemeindewesen, die das Deutsche Reich in zwei Weltkriegen verspielt hatte. Berliner Geschichts- und Erinnerungspolitik spiegelte sich beiderseits – allerdings disproportional – wesentlich auf vier Umsetzungsebenen: Erstens als politische inklusive parteipolitische Auseinandersetzung, zweitens als publizistische Kontroverse in den Massenmedien, drittens im Stadtbild, also hinsichtlich der Namen von Straßen, Schulen und Institutionen wie aber auch in Denkmälern, historischen Gebäuden und Plätzen sowie viertens in der Gestaltung historischer Festakte und Jubiläen sowie von Museen und Ausstellungen. Am unmittelbarsten und schnellsten trat Geschichts- und Erinnerungspolitik in Straßenumbenennungen zutage. Während gleich nach der deutschen Kapitulation im gesamten Berlin alle nach herausragenden Nationalsozialisten benannten Namen von Straßen und Plätzen im Konsens aller politischen Kräfte „umgetauft“ worden waren, ging die Ost-Berliner Stadtverwaltung ab 1950 systematisch daran, unliebsame Ortsbezeichnungen zunächst in zentralen Lagen des sowjetischen Sektors zugunsten von kommunistischen Politikern, aber auch „Klassikern“ der marxistischen Arbeiterbewegung47, zu ersetzen. Im Mai 1951 geschah das in einer Großaktion auch mit 69 Straßen, die den Namen preußischer Adliger, Beamter, Politiker, Offiziere sowie von „altpreußischen Waffengattungen“ trugen.48 Die Namen einiger preußischer Militärreformer wurden verschont oder aber in Einzelfällen etwas verändert.49 1952 errreichte die von der Stadtmitte ausgehende Umbenennungswelle u.a. 16 Straßen des Bezirks Prenzlauer Berg.50 Weitere Aktionen vor allem zu Lasten von ehemals deutschen Landschaften und Städten östlich der Oder-Neiße-Grenze folgten. Da für die SED und ihre Bündnispartner durch das Ableben von DDR-Politikern, an die an prominenten Stellen erinnert werden sollte, ein permanenter Namensgeberbedarf entstand, fielen dem auch ideologisch wertfreie traditionelle Straßenbezeich-

47 Bereits 1950 wurde die Elsässer und Lothringer zur Wilhelm-Pieck-Straße und das Areal des beseitigten Schlosses (einschließlich Schlossplatz, Schlossbrücke und angrenzendem SBahnhof Börse) zum Marx-Engels-Platz. Vgl. Magistratsbeschlüsse Nr. 602 vom 21.12.1950 und Nr. 684 vom 23.4.1951, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 853 und 857. 48 Darunter fielen auch alle Bismarck-, Kaiser-, Königs-, Kronprinzen-, Prinzen-, Fürstenstraßen u.a.m. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 715 für die Sitzung am 31.5.1951, in: ebd., Nr. 858. 49 Weil die „fortschrittliche Einstellung des [preußischen] Prinzen Louis-Ferdinand allgemein anerkannt wird“, strich der Magistrat nur „Prinz“ aus dem Straßennamen. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 675 für die Sitzung am 12.4.1951, in: ebd., Nr. 856. 50 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 705, 24.5.1951, in: ebd., Nr. 857.

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nungen zum Opfer51, die man manchmal auch sozialistischen Aufbauprojekten52 darbrachte. Diese Tendenz setzte sich sowohl zentral53 als auch peripher, entgegen den Ansichten der nicht befragten, aber manchmal spöttelnden Bevölkerung54 zumindest bis Ende der sechziger Jahre fort. Neben kommunistischen und linken sozialdemokratischen Antifaschisten ließen Berliner SED und Magistrat an die Ahnherren und Funktionäre der deutschen und internationalen marxistischleninistischen Arbeiterbewegung sowie an historische Ereignisse in ihrem Kontext erinnern, aber auch an große Literaten und Künstler. In den Westsektoren der Stadt hingegen blieb ein vergleichbares Umbenennen aus. In der Zeit bis zum Mauerbau stand auf beiden Berliner Seiten weder geschichtspolitisch noch in der gelenkten Erinnerung die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Vordergrund. Zwar unterstrich die SED-Führung im Berliner Alltag ihren generellen antifaschistischen Alleinvertretungsanspruch: Straßen, Schulen und andere Institutionen hatten die Namen kommunistischer und (mit Abstand) linkssozialdemokratischer Widerständler erhalten; doch von einer weitgehenden, tieferen und systematischen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, seinen Ursachen, Strukturen und Wirkungen, sieht man von einigen respektablen künstlerischen Versuchen ab, konnte noch keine Rede sein. Im Westen sah es – auch dort mit einigen Ausnahmen im Gedenkstättenbereich55 – kaum anders aus. Wenn man im Nachkriegs-Berlin Nazidiktatur und antifaschis51 Beispielhaft die zur Otto-Nuschke-Straße mutierende Jägerstraße (später die in JohannesDieckmann-Straße umbenannte Mohrenstraße). Vgl. undatierter Beschluß (1958), in: ebd., C Rep. 902, Nr. 322, Bl. 7. 52 Mit dem Abschluss des Neubaukomplexes Heinrich-Heine-Viertel entschied sich die SED für die Umtaufung der lokalen Magistrale Neanderstraße (einschließlich des gleichnamigen U-Bahnhofs) in Heinrich-Heine-Straße. Neander hatte Anfang des 19. Jahrhunderts eine Lederlackierfabrik und 1833 (in Köpenick) eine Pappenmanufaktur sowie eine Wollspinnerei gegründet, die u.a. das preußische Heer belieferten. Er verlor sein Namenspatronat, weil er zu einem „aktiven Förderer des preußischen Militarismus“ erklärt wurde. Vorlage an das Büro der SED-BL Berlin, 23.3.1960, in: ebd., Nr. 423. 53 Vgl. Beschlüsse des Büros der SED-BL, Protokoll 012/61 der Sitzung am 18.5.1961 sowie Protokoll 014/61 der Sitzung am 8.6.1961, in: ebd., Nr. 469, Bl. 6 und Nr. 471, Bl. 6f. 54 Beispielsweise im Fall des Triftwegs (d.h. vom Vieh benutzter „Weg voller Löcher“), der in Hans-Loch-Straße umbenannt wurde, die immer noch voller Schlaglöcher war, und des Erntedankwegs in Hirseweg. Vgl. ebd. 55 1953 entstand auf dem Gelände des ehemaligen Zuchthauses Plötzensee eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, 1960 in der Neuen Wache unter den Linden das Mahnmal für die Opfer von Faschismus und Militarismus. Vorschläge an den Senat, in der Bendler-Straße, am Ort der Hinrichtung von Stauffenberg und zwei seiner Mitverschwörer, eine Gedenktafel anzubringen, liefen 1951 ins Leere. Vgl. Schreiben von Gerhard Graf von Schwerin an Reuter, 29.10.1951, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 927, Nr. 31–93.

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tische Opposition thematisierte, dann sicherlich in der Absicht eines ehrenden und mahnenden Gedenkens, aber auch gegenseitiger Schuldzuweisungen und des „Kleinredens“ von Widerstandsleistungen auf der jeweils anderen Seite. Im Osten, der bei der Verfolgung von Naziverbrechen unbestritten konsequenter vorging, sahen nicht nur kommunistische Parteifunktionäre die alten braunen Täter in den West-Berliner Verwaltungen zuhauf; das Gegenargument hieß, Diktatur sei gleich Diktatur, braun oder rot; gleiche Brüder gleiche Kappen. Dennoch entwickelte sich bei der Erinnerung an Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus, besonders aber an die Berliner Juden und ihre zerstörten Gemeinden, schon frühzeitig eine Art „einvernehmlicher“ Konkurrenz.56 Komplizierter gestaltete sich der beiderseitige Umgang mit der Hinterlassenschaft von Monarchie und Weimarer Republik. Die Systemauseinandersetzung der 50er Jahre zwang dazu, die Rolle des liberalen und demokratischen, aber auch des konservativen Berliner Bürgertums sowie das Wirken von Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung in der Wechselbeziehung zur Bourgeoisie zu thematisieren. Während in West-Berlin bei allen Kontroversen, vorrangig in der traditionell starken Sozialdemokratie, die demokratischen Umgangsformen sowie der Meinungspluralismus im Wesentlichen gewahrt und das historische Erbe zwar kritisch befragt, aber im Ganzen differenziert angenommen wurde, steckte die SED mehr noch in politischen als in ideologischen Schwierigkeiten. Sie propagierte ein marxistisch-leninistisches Geschichtsbild, das zu einer neuen sozialistischen Identität beitragen sollte, musste sich aber dabei gleichzeitig lebendig gebliebener Berliner Identitätsgefühle bedienen, die für den Zusammenhalt des ungefestigten eigenen Gesellschaftsgefüges unverzichtbar schienen. Dabei zeigten sich gegenläufige, aber auch sich ergänzende geschichtspolitische Tendenzen: einerseits das Bestreben, die kommunistische Tradition und Geschichtsinterpretation nahezu überall monopolistisch durchzusetzen und die Machtverhältnisse dadurch auch symbolisch zum Ausdruck zu bringen, andererseits der Versuch, auf die Befindlichkeit der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen und ganz bewusst nicht kommunistische, etwa sozialdemokratische, bürgerlich-liberale, christliche oder konservative Elemente, in die eigene Traditionspflege mit aufzunehmen, umso das „antifaschistisch-demokratische“ bzw. sozialistische Gesellschaftssystem insgesamt offener und anziehender zu gestalten. Im Umgang mit der konkurrierenden Sozialdemokratie blieb die SED bei der These, dass es in der deutschen Arbeiterbewegung – am deutlichsten 56 Es war kein Zufall, dass die mit finanzieller Unterstützung des Magistrats restaurierte Synagoge in der Ost-Berliner Rykestraße (geweiht am 28.8.1953) wenige Tage später (am 9.9.1953) ein West-Berliner Pendant erhielt. Wiederum kurz darauf (11.10.1953) wurde auf dem Jüdischen Friedhof im Ost-Berliner Stadtbezirk Weißensee ein Ehrenmal für die von den Nazis ermordeten Juden enthüllt.

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im zentralen Berlin – einen revisionistischen und einen revolutionären Flügel gegeben hätte57, dessen Fortsetzung die SED mit ihrem historisch richtigen Kurs auf die radikale Umgestaltung der Gesellschaft sei. Zwar wurde die SPD in der Zeit vor 1933 und ihre „rechte“ Führung, einschließlich ihrer Politik in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als arbeiterfeindlich bis „verräterisch“ dargestellt, doch aus handfesten politischen „Bündnis“gründen zwischen den einfachen „ehrlichen“ Sozialdemokraten und ihren West-Berliner Repräsentanten – Reuter, Suhr, Brandt, Neumann u.a. – differenziert. Dabei gingen die instrumentalisierten Erinnerungen an die Zeitgeschichte und die Bedürfnisse der aktuellen Politik eine enge Symbiose ein. Auf der anderen Seite besaßen die meisten Sozialdemokraten West-Berlins nach 1948 in der SED ihr totalitäres oder zumindest diktatorisches Feindbild. Der Konkurrenzkampf um die Erinnerung wandelte sich ideologisch, seine historische Dimension war beispielsweise an den einander entgegengesetzten Feiern zum 1. Mai ablesbar. Im Hintergrund stand immer der den Berliner Sozialdemokraten angelastete „Blutmai“ 1929, als der Berliner SPD-Polizeipräsident auf demonstrierende Arbeiter schießen ließ58: Die Ost-Berliner SED versuchte, in der revolutionären Tradition ihres „Kampftages“, West-Berliner „Werktätige“ systematisch zu ihrer rituellen Großveranstaltung auf den Marx-Engels-Platz zu ziehen59, der wie kein anderer Berliner Ort revolutionäres Aufbegehren nach dem ersten Weltkrieg (in der Novemberrevolution von 1918) und proletarische Kontinuität zu verkörpern schien. Parallel dazu verteidigten auf der zentralen Maifeier auf dem West-Berliner Platz der Republik SPD-Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre auch angesichts Tausender Ost-Berliner Zuhörer, anknüpfend an Ebert, Scheidemann und „Weimar“, den demokratischen Reformweg wider den Kommunismus.60 Demgegenüber verband die Ost-Berliner Führung anlässlich des 1. Mais und anderer Fest- und Gedenktage die revolutionäre mit der antifaschistischen Tradition, wenngleich in den 50er Jahren streng hierarchisch61 und manch57 Vgl. Wolfgang Ruge, Deutschland 1917–1933. Von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin (O) 1967, S. 83–92. 58 Vgl. ebd., S. 333f. 59 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 06/60 der Sitzung am 28.3.1960, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 421, Bl. 3 sowie Vorlage: „Vorbereitung des 1. Mai 1960 in Westberlin“, ebd., Bl. 74. 60 Vgl. Schreiben von Carlbergh an den Direktor der BVG, Borowiak, 23.4.1952, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1769, Bl. 12. 61 Beispielsweise sei bei allen öffentlichen Feiern und anderen Anlässen unbedingt darauf zu achten, „daß die Bilder des Generalissimus Stalin und Präsident Pieck nicht in gleicher Größe, sondern das Stalinbild im größeren Format angebracht werden“. Protokoll über die Ländersitzung der Abteilung Friedens- und Planpropaganda, 11.4.1951, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589.

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mal in seltsamen Bildfolgen62. Die gewollte Symbiose von revolutionärer Sozialdemokratie, ihren kommunistischen Fortsetzern und kämpferischem Antifaschismus fand einen symbolträchtigen Weiheort: 1951 wurde auf dem Zentralfriedhof in Berlin Friedrichsfelde die „Gedenkstätte der Sozialisten“ eröffnet. Das insgesamt gespaltene, aber nicht wirklich differenzierte Verhältnis von OstBerliner SED und Magistrat zur deutschen und Berliner Vergangenheit zeigte sich weiterhin in der Behandlung historischer Gebäude, Denkmäler und andere Kulturgüter. Natürlich spielte bei der Frage Abriss oder Neuaufbau ruinierter öffentlicher Stätten immer die Kostenfrage neben städtebaulichen und künstlerischen Aspekten eine Rolle, doch die Geschichtskonzeption der SED häufig die entscheidende. Ob sie als Stein gewordener Ausdruck der „reaktionären“ Traditionslinie deutscher und Berliner Geschichte (und des Preußentums) Dynamit und Spitzhacke zum Opfer fielen – wie das barocke Hohenzollernschloss – oder, beispielsweise Marstall, Zeughaus und Neue Wache, in alter Schönheit wiedererstanden, entschied vor allem das geschichtspolitische Urteil einer unfehlbaren, die Geschichte systematisch be- und entsorgenden Partei. Zwar gab es kein perfektes Schema und immer wieder Ausnahmen. In einigen Fällen bargen Bauarbeiter künstlerisch wertvolle Architekturteile, bevor die Ruine verschwand63; in anderen behinderte kirchlicher Protest den Abriss beispielsweise des „nicht förderungswürdigen“ Berliner Domes.64 Andere Kirchenruinen hingegen wurden beseitigt. Während es starken Bürgerinitiativen in West-Berlin gelang, bei allen Fehlentscheidungen und „Sünden“ der Administration wichtige historische Bausubstanz zu erhalten – etwa das Charlottenburger Schloss –, erhielt der von der SED durchaus wahrgenommene Wille der sich anders erinnernden Ost-Berliner Bevölkerung keine Stimme.65 Regte sich Widerspruch zur SED-Erinnerungspolitik, nicht selten beim ostsektoralen Denkmalschutz66, wurde ignoriert, diszipliniert – und weiter abge62 Beispielsweise anlässlich der Großkundgebung zum Gedenktag der Opfer des Faschismus am 11.9.1960 erging bezüglich der Auswahl und Reihenfolge von Porträts (auf dem AugustBebel-Platz) folgende Anweisung: „Ernst Thälmann, Katja Niederkirchner, Pfarrer Schneider, Werner Seelenbinder, Olga Benario-Prestes, Hans und Sophie Scholl, Rudolf Breitscheid, Philipp Müller und Helmut Just.“ „Plan für die Sichtagitation zum Gedenktag der Opfer des Faschismus, am 11.September 1960“, 12.8.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 434, Bl. 121. 63 Vgl. Notiz von Ebert, 23.9. 1957, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 353. 64 Vgl. Schreiben von Ebert an den Stellvertretenden OB Schmidt mit der Bitte um Weiterleitung an Chefarchitekt Henselmann, 6.3.1957, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 487. 65 Vgl. Schreiben der Abteilung Kultur des Magistrats, Referat Denkmalpflege, an OB Ebert, 19.8.1955, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 353. 66 Vgl. „Niederschrift über die Dienstbesprechung mit den Referatsleitern“, 1.11.1955, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 16.

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rissen.67 Aber gerade bei der Behandlung des „preußischen Militarismus“ taten sich Widersprüche auf. Wer war zu altpreußischen Zeiten ein reaktionärer und wer ein fortschrittlicher Militär? Deren Entsorgung begann, pragmatisch und symbolisch zugleich, im November 1949 mit der Überführung von 199 Generalssärgen aus der Gruft der zerstörten Berliner Garnisonskirche zum Stahnsdorfer Waldfriedhof68; im Frühjahr 1950 verschwanden die neben der Schinkelschen Neuen Wache aufgestellten Standbilder führender Militärs aus der Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege.69 Doch kehrten Scharnhorst, Gneisenau und Blücher einige Jahre später mit der Wiederbesinnung der SED auf progressive nationale Militärtraditionen an ihre angestammten Plätze zurück; andere Denkmäler preußischer Feldherren und Politiker verschwanden in den Magazinen – Schwerin, Zieten, aber auch der Freiherr vom Stein. Hingegen entstand der Friedhof der Märzgefallenen aus der bürgerlichen Revolution von 1848 mit seinen Ehrenmalen neu.70 Dieser Akt fügte sich in die von der SED gepflegte Erinnerung an revolutionär-demokratische deutsche und Berliner Traditionen harmonisch ein. Aber auch die West-Berliner Politik und Gesellschaft knüpften bewusst an sie an. SED und Magistrat erinnerten selektiv. Durch ihr geschichts- und kulturpolitisches Raster fielen die Biographien und Leistungen solcher konservativer und liberaler bürgerlicher Persönlichkeiten, die entweder des Verrats an der historischen Mission des progressiven Bürgertums nach 1848/49 und der Unterstützung der adligen Herrschaftseliten bezichtigt oder aber – Unternehmer, Politiker und Intellektuelle – als nicht gedenkwürdige Exponenten von Unterdrückung und Ausbeutung beurteilt wurden. Sie dienten hingegen als dunkler Kontrast zu den Kräften eines imaginären lichten „Fortschritts“. So versuchte insbesondere die Berliner SED, ihr recht simples Zwei-Linien-Schema einer volksfeindlichen reaktionären und einer volksnahen fortschrittlichen Linie in der Geschichte durchzuhalten. Sie geriet dabei in Schwierigkeiten, als eine Reihe marxistischer Historiker die Ambivalenz der historischen Situation stärker zu berücksichtigen begann, in der sich bestimmte Teile des Adels „progressiv“, Teile der Bourgeoisie jedoch „reaktionär“ verhalten hätten, etwa in der Berliner Stadtverordnetenversammlung zur Abwehr der von den Liberalen angestrebten Gewerbefreiheit durch die Lobby der Handwerkerkonkurrenz. Die West-Berliner Histori-

67 Vgl. ebd. und Vermerk des Stellv. OB Schmidt, 20.8.1955, in: ebd. 68 Vgl. Magistratsvorlage Nr. 297 zur Beschlußfassung in der Sitzung am 3.11.1949, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 833, Bl. 144. 69 Vgl. „Außerhalb der Tagesordnung“, 6.4.1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 846. 70 Stellungnahme der Abteilung Kultur des Magistrats, 8.1.1957, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 41.

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kerzunft hatte auch mit dieser Episode nie Schwierigkeiten.71 Die geschichts- und erinnerungspolitische Konkurrenz in der geteilten Stadt spiegelte sich ebenfalls in der Frage der Gestaltung der beiden Berliner Museumslandschaften. Der große bestehende regionalgeschichtliche Ausstellungsort, das „Märkische Museum“, wurde unter Ausbau der Erinnerung an die Berliner Arbeiterbewegung und kommunistische Stadtpolitik marxistisch-leninistisch überformt. Wenngleich das 1952 eingeweihte „Museum für deutsche Geschichte“ (MfDG) die gesamtnationale Geschichte vermittelte, blieb es doch für alle anderen Ost-Berliner Museen die erste geschichtsideologische sowie erinnerungspolitische museale Instanz.72 Von der Ost-Berliner Presse als Traditionshort gefeiert, geriet sie sofort ins Kreuzfeuer westlicher medialer Kultur- und Erinnerungskritik.73 Zwar besaß WestBerlin kein direktes Gegenstück zum MfDG, doch rekonstruierte der Senat vorhandene Museen mit unterschiedlichen Erinnerungsaufträgen und begann (1955) mit Neueinrichtungen, so im Schloss Charlottenburg.74 Beide Berliner Seiten begannen einen Wettstreit um museale Repräsentanz, insbesondere um wertvolle kulturgeschichtliche Exponate. Nachdem 1957 die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ gegründet und sie Ansprüche an die im Bombenkrieg in den Osten ausgelagerten Bestände angemeldet hatte, verlangten dessen Behörden Gleiches, freilich in umgekehrter Richtung. Nach 1954 begann unter Beteiligung der Besatzungsmächte „ein regelrechter ‚Wettlauf‘ um die Rückführung von Berliner Museumsgut als Symbol der neuen Bündnispartnerschaften auf beiden Seiten“75. Konkurrierende Erinnerungen traten im Gesamtberliner Alltag ständig in Erscheinung, sei es bei der Wiederbelebung alter Berliner Feste (wie des Stralauer Fischzuges) und Gaststättentraditionen oder anlässlich von Jubiläen, die hüben

71 Vgl. Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Revolution (1806–1847), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Erster Band. Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München ²1988, S. 442–447. 72 Vgl. Stefan Ebenfeld, Geschichte nach Plan? Die Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft in der DDR am Beispiel des Museums für Deutsche Geschichte in Berlin (1950 bis 1955), Marburg 2001, S. 83. 73 Vgl. z.B. „Neues Deutschland“, 19.1.1952; „Berliner Zeitung“, 25.1.1952 und (westlicherseits) „Die Zeit“, 31.1.1952 sowie „FAZ“, 24.1.1952. 74 Vgl. „Langfristiger Aufbauplan für Berlin“, 24.8.1955, in: LAB, B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408. 75 Nikolaus Bernau, Von der Kunstkammer zum Musenarchipel. Die Berliner Museumslandschaft 1830–1994, in: Alexis Joachimides u.a. (Hrsg.), Museumsinszenierungen. Zur Geschichte der Institution des Kunstmuseums. Die Berliner Museumslandschaft 1830–1990, Dresden/Basel 1996, S. 29f.

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und drüben gleichzeitig begangen wurden und die das Erinnern, beispielsweise an den volkstümlichen Heinrich Zille, mit dem Anspruch auf ihn verbanden.76 Politisch-ideologische Vereinnahmungen zeigten sich aber auch bei der Auseinandersetzung um namhafte Berliner Institutionen. Dafür sind 1960 die ostwestlichen Rangeleien um das 150. Jubiläum der Berliner Humboldt- (früher Friedrich-Wilhelm-)Universität ein markantes Beispiel.77 Natürlich stand die aktuelle Konkurrenz zwischen ihr und der Freien Universität im Hintergrund. Doch bewegte die Frage, wer denn auf die alte Alma Mater einen politischen, geistigen und moralischen Anspruch habe sowie ihre große humanistische und wissenschaftliche Tradition im Sinne Wilhelm von Humboldts weiterführte, die Gemüter von Universitätsleitungen, Kulturverwaltungen sowie Politikern. Der Verzicht auf eine Gegenveranstaltung der FU, die sich ebenfalls als einzige legitime Nachfolgerin der Universität Unter den Linden sah, resultierte letztendlich aus dem Versuch, die Feiern in Ost-Berlin mit der Absicht nicht zur Kenntnis zu nehmen, es selbst und seine Universität nicht aufzuwerten, sie im Gegenteil durch Ignoranz und westliche Solidarität zu isolieren.78 Dafür schaltete der Senat sogar das Bonner Auswärtige Amt ein.79 Geschichtspolitik machten aber auch die unauffälligeren Dinge des täglichen Lebens: Zeitungsbeiträge zur Berliner Geschichte, Rundfunksendungen, Theaterund Kinoprogramme, aber auch Münz-Gedenkprägungen, Medaillen und Briefmarken.80 76 Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL: „Heinrich-Zille-Gesellschaft“, 14.9.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 179/1, Bl. 223. sowie Meldung des Büros für Gesamtberliner Fragen an den Reg. Bg., 3.4.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 267. 77 Vgl. Tobias Schulz, Die Feiern zum 150-jährigen Gründungsjubiläum der FriedrichWilhelms-Universität 1960 im geteilten Berlin, in: Michael Lemke (Hrsg.), Konfrontation und Wettbewerb, Wissenschaft, Technik und Kultur im geteilten Berliner Alltag (1948– 1973), Berlin 2008, S. 63–84. 78 Eduard Neumann, der Rektor der FU, war der Auffassung, dass keine Möglichkeit bestehe, „die bei solchen Anlässen üblichen Begrüßungen und Huldigungen aus der internationalen gelehrten Welt gänzlich zu verhindern. Es muß auch damit gerechnet werden, daß auch Hochschulen der freien Welt zu den Gratulanten gehören werden.“ Die FU und die Westdeutsche Rektorenkonferenz seien deshalb der Auffassung, „daß auf eine Konkurrenzveranstaltung im freien Teil Berlins verzichtet werden müsse“. Schreiben von Neumann an Tiburtius, 18.6.1960, in: ebd. 79 Der Senat ersuchte das Auswärtige Amt in Bonn, „über seine diplomatischen Kanäle „eine Teilnahme ausländischer Wissenschaftler an der Humboldt-Feier zu verhindern“. Vgl. Aktenvermerk der Senatsverwaltung für Volksbildung, 5.10.1960, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 2875. 80 „Während die Briefmarken Westberlins Stätten der Tradition und des Fortschritts zeigen […] tragen die Briefmarken Ostberlins meist Köpfe sowjetischer Funktionäre.“ Berlin –

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Während in Ost-Berlin die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte der Stadt gleich nach ihrer Teilung systematisch begann, entstand ein diesbezügliches fachwissenschaftliches sowie öffentliches Interesse in ihrem Westteil erst relativ spät, unter dem Eindruck und auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges. Es war das besondere Bestreben des Büros für Gesamtberliner Fragen, in der Konkurrenz zu Ost-Berlin81 ein Gremium für die Auseinandersetzung im Nachkriegsberlin aus der Sicht der Zeitgeschichtsforschung zu schaffen. Die in West-Berlin im Frühjahr 1953 schließlich entstandene „Forschungsgruppe für Berliner Nachkriegsgeschichte“ sah sich als politisches Korrektiv zum Deutschen Institut für Zeitgeschichte in Ost-Berlin (DIZ).82 Der von Albrecht Lampe geleiteten Gruppe

Treffpunkt der Welt, Heft 2 „Das ist Berlin“, hrsg. vom Verkehrsamt der Stadt Berlin, Berlin (W) 1952, S. 4f. 81 Bereits im Juni 1949 war dort im Rahmen des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ ein „Arbeitskreis für die Geschichte“ Berlins unter dem für die Zeitgeschichtsforschung besonders zutreffenden Grundsatz gegründet worden: „Was heute nicht aufgezeichnet und festgehalten wird, ist morgen vergessen“. OB Ebert hatte gefordert, „die Quellen freizulegen, die eine reaktionäre Geschichtsschreibung zugeschüttet und vernachlässigt hat. Dann werden wir nicht nur tiefe Liebe zu unserer Heimatstadt schöpfen, sondern in den Lehren ihrer Geschichte auch neue Kraft für unseren leidenschaftlichen Willen finden, ein neues, blühendes Berlin zu bauen, das führend ist im Ringen unseres Volkes um seine nationale Wiedergeburt. Dann wird sie uns helfen, Berlin zu dem zu machen, was es sein muss: die Hauptstadt eines einigen, demokratischen und friedlichen Deutschlands.“ Zitiert nach: Albrecht Lampe, Die Forschungsgruppe für Berliner Nachkriegsgeschichte. Ihre wissenschaftliche und historisch-politische Aufgabe, Ausarbeitung, 13.7.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1764, Bl. 225. 82 Die West-Berliner Forschungsgruppe sehe es als wichtig an, „was gesammelt“ und wie es archivalisch angelegt werde. Genau das habe das „sowjetzonale System in voller Schwere“ erkannt und sich „unter Einsatz großer Mittel der archivalischen Forschung vor allem des letzten Jahrzehnts“ mit besonderer Aufmerksamkeit zugewandt. Aus der zeithistorischen Berlinforschung des Ostens gehe klar hervor, dass dort „künftige Geschichtsbilder bewusst schon in ihren archivalischen Ursprüngen vorgezeichnet werden sollen, was bereits weitgehend geschieht. Sie beruhen auf einem archivalischen Quellenmaterial, das zwar auch so umfassend wie möglich gesammelt, aber nur in zweckentsprechenden Teilen zur Verfügung gestellt, in anderen Teilen sekretiert, wenn nicht sogar absichtlich vernichtet wird“. Gegenüber diesen „ausgesprochenen Verfälschungen historischer Quellen ist die Forschungsgruppe für Berliner Nachkriegsgeschichte bestrebt, ihr Material objektiv zu werten, zu ordnen und in vollem Umfang für die Forschung und die parlamentarische Öffentlichkeit bereitzustellen“. Somit stehe die Gruppe in unmittelbarer Konfrontierung „mit gleichen Einrichtungen im Osten“. Ebd., S. 222 und 226.

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wurde angesichts der DIZ-Konkurrenz und Gegenarbeit eine „Schweigepflicht“ angeraten.83 Wie der hohe finanzielle Zuschuss für sie84 belegt auch das ihren großen Stellenwert im „Kampf um Berlin“. Doch wurden West-Berliner Maßnahmen zur Pflege von Berliner Nachkriegsgeschichtsbildern und Erinnerungen immer wieder von Ost-Berlin übertrumpft – beispielsweise im Magistrats-Jubiläumsjahr 1958.85 Mit der Gründung der Historischen Kommission zu Berlin (HIKO) im Jahr 1958 unterstrich die West-Berliner Regionalhistoriographie den Anspruch auf eine umfassende und gleichberechtigte Thematisierung der Geschichte der Stadt von ihren Anfängen bis zur unmittelbaren Gegenwart, während die SED die regionale Arbeiterbewegung, insbesondere ihre marxistisch-leninistische Spezies, in den Mittelpunkt ihrer gesamten historischen Reflexion über Berlin stellte.

1.2 Die Trennung von Administration und Infrastruktur nach 1948 1.2.1 Die Neuformierung der Bürokratie Im Verlauf der Berlinblockade zeichnete sich das Ende der formal noch gemeinsamen Verwaltung der Stadt und ihrer wirtschaftlichen Einheit ab. Dazu trugen sowjetische Direktiven bei.86 Aber auch von nichtkommunistischen Kräften vollzogene Schritte liefen auf eine administrative Trennung hinaus – etwa, wenn die Stadtverwaltung für Ernährung klammheimlich Personal und Materialien nach 83 Die Arbeit der West-Berliner Arbeitsgruppe unterliege einer notwendigen Schweigepflicht. Sie sei „für den Berliner Widerstandskampf besonders zwingend, da nachweislich in OstBerlin das sogenannte Deutsche Institut für Zeitgeschichte mit größter Unterstützung der dort zuständigen Regierungsstellen, aber nach ideologischen Gesichtspunkten, die gleiche Materie bearbeitet“., Schreiben von Kurt Eberhard Anders an Ernst Lemmer, 31.8.1954, in: ebd., Bl. 220. 84 Vgl. ebd., Bl. 254. 85 Die SED und der Magistrat organisierten eine Ausstellung „10 Jahre Arbeiter-und-BauernMacht“, ließen ein „Geschichtswerk“ über die Entwicklung Berlins seit 1945 verfassen und gaben ein Bilddokumentenband „10 Jahre Arbeiter-und-Bauern-Macht in Berlin“ heraus. Parallel dazu erschien eine „Massenbroschüre“ über den Ost-Berliner Aufbau 1948–1958 sowie ein DEFA-Dokumentarfilm über „10 Jahre demokratisches Berlin“. Außerdem wurden die Berliner Festtage 1958 „unter Anpassung an den 10. Jahrestag des demokratischen Berlin“ vorbereitet. Die organisatorischen Kosten dafür beliefen sich auf etwa 670.000 Ostmark. Vgl. Agitations- und Veranstaltungsplan zur Vorbereitung und Durchführung des 10. Jahrestages des demokratischen Berlin. Magistratsbeschluß Nr. 53/58, 14.3.1958, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 1057, Bl. 47–49, 52. 86 Vgl. Schreiben der „Unterabteilung U. Befehl 80“ an die sowjetische Zentralkommandantur (Major Klimow), 16.9.1948, in: LAB, C Rep. 113, Nr. 38.

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West-Berlin abzog.87 Nachdem die SED im turbulenten September 1948 durch groß angelegte Provokationen die Arbeit der Stadtverordnetenversammlung blockiert hatte, und diese deshalb ihren Sitz im Berliner Westen nahm, verlegten Teile des Magistrats ab Mitte Oktober ihre Zentralen ebenfalls in den britischen Sektor. Obwohl sich die definitive politische Spaltung der ehemaligen Reichshauptstadt erst mit dem Gründungsakt des separaten Ost-Berliner Magistrats im Dezember 1948 und westlicherseits durch die Ausrufung des „Politischen Notstands“ seitens der gewählten Stadtverordneten vollzog88, war sie vor allem durch einen bereits in Gang gesetzten Personalaustausch weit gediehen: Schon im September häuften sich die mit sowjetischem Einverständnis ausgesprochenen fristlosen Kündigungen von im Ostteil tätigen demokratisch gesinnten Magistratsangestellten89 und im anderen Teil der Stadt von SED-nahen Bediensteten durch die Westverwaltungen.90 Zwar untersagten sich Ost- und Westmagistrat gegenseitig politisch begründete Entlassungen91, doch nutzten sie propagandistisch verwertbare Präzedenzfälle im Gegenteil, um das Tempo von nunmehr systematischen Kündigungen zu beschleunigen. Beiderseits als die unfreiwillige Reaktion auf die 87 In Ost-Berlin wurde ärgerlich festgestellt, dass in den betroffenen Diensträumen fast nichts mehr vorhanden war, „weder Papier noch Bleistifte, sondern ein paar alte Ladenhüter, Gummiunterlagen für Schreibmaschinen und derartiger Kram“. Auch seien Angehörige des zuständigen Dezernats in den Westen verschwunden. „Vorlage für Herrn Letsch“ (mit Kopie in russischer Sprache), 1.9.1948, in: ebd., Nr. 39. 88 Vgl. die bekannten Vorgänge bei Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 63–71. 89 So wurde dem Angestellten des Ost-Berliner Ernährungsamtes Karl Reiffahrt im „Interesse der Säuberung der Verwaltung von reaktionären Elementen“ gekündigt. Er habe sich mit „jeder Demokratie hohnsprechenden“ politisch begründeten Entlassungen in West-Berlin solidarisiert oder sie doch „stillschweigend geduldet“. Wer sich so verhalte, sei, „ob er das will oder nicht, ein Feind der Demokratie. Eine demokratische Verwaltung kann nur von Demokraten aufgebaut und gehandhabt werden. Reaktionäre, gleich welcher Art, haben in ihr keinen Platz.“ Amt für Ernährung an das Hauptpersonalamt (Ost), 4.10.1948, in: LAB, C Rep. 113, Nr. 36. 90 Beispielsweise kündigten sie einer Angestellten im Bezirksamt Tiergarten wegen ihrer „antidemokratischen Haltung“, die in der „Billigung der Berlinblockade zum Ausdruck“ käme, fristlos und einer anderen (im Ernährungsamt Wedding), weil sie Bestrebungen unterstützt habe, die „nicht nur auf eine politische Diktatur“, sondern auch „auf die Blockade Berlins“ hinausliefen. Bezirksamt Tiergarten, Personalabteilung, an Frau Ursula Castner, 16.9.1948, in: ebd., Nr. 36 und Bezirksamt Wedding an Frau Gertrud Heidenreich, 30.9.1948, in: ebd. 91 Der Stadtrat für Ernährung des formal noch einheitlichen Magistrats, Faulsack, untersagte sogar seiner eigenen Abteilung förmlich „jede Entlassung aus politischen Gründen“. Vgl. Schreiben Faulsacks an die Unterabteilung U. Befehl Nr. 80 (in Ost-Berlin), „zu Hd. v. Herr Letsch“, 7.10.1948, in: ebd., Nr. 39.

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Maßnahmen der jeweils anderen Seite gerechtfertigt, waren sie in Wahrheit „gesinnungspolitische“ Akte. Bezeichnenderweise begründeten beide Seiten den offiziellen Hauptgrund für Pressionen mit „antidemokratischem“ Verhalten. Was kämpferisch motiviert und oft lautstark vorgetragen wurde, entpuppte sich als ein Elitenaustausch ohne sonderliche Komplikationen: Beamte und Angestellte mit kommunistischem Hintergrund wechselten aus dem Dienst des Westmagistrats in den des Ostens und „westlich Gesinnte“ nahmen die umgekehrte Richtung. Sicherlich gab es eine Reihe von persönlichen Härtefällen, aber kaum jemand von den Betroffenen fiel in ein berufliches oder soziales „Loch“.92 Die zentrale Personalausgleichsstelle des West-Magistrats und die neue Ost-Administration sorgten über den von beiden Seiten akzeptierten und förmlich geregelten Personalaustausch für die Entlassenen.93 Auch wuchs auf beiden Seiten der Anteil derer, die in Absprache mit ihren alten und zukünftigen Arbeitgebern im öffentlichen Dienst von sich aus undramatisch den Wechsel vollzogen. Zudem arbeiteten in den Magistratsverwaltungen Ost-Berlins im beiderseitigen Interesse Abwicklungskommissionen des Westmagistrats, die organisatorische und personelle Fragen klärten. Das geriet für die SED erst Anfang 1949 zu einem politischen Ärgernis94, zeigt aber, dass der Abbruch von Verwaltungsbeziehungen keineswegs abrupt war. Die Schaffung von parallelen Strukturen sowie die personelle Verstärkung von durch Weggang geschwächten Behörden, die zunächst häufig „reduzierte Ämter“ darstellten, war personalintensiv und teuer. Sie zog vor allem wirtschaftliche und soziale Probleme nach sich. Während sich der Wechsel der Dienststellen relativ schnell vollzog, bereitete dessen wohnungspolitische Seite häufig Schwierigkeiten. 92 Auf eine derartige Absicherung waren auch die Alliierten bedacht. So ließ sich die SMA davon unterrichten, dass die von den Westmaßnahmen Betroffenen neue Arbeitsmöglichkeiten im sowjetischen Sektor, Lebensmittelmarken u.a.m. bekämen. Vgl. Schreiben des Ost-Magistrats an den Chef der Garnison und (sowjetischen) Militärkommandanten der Stadt Berlin, 22.9.1948, in: ebd. Nr. 38. 93 Bei der Kündigung durch den Westmagistrat wurde den Betroffenen erklärt: „Zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz haben wir Sie der Personalausgleichsstelle des Magistrats von Groß-Berlin zur anderweitigen Unterbringung im Ostsektor Berlins namhaft gemacht. Ihr Arbeitsplatz wird im Wege des Personalausgleichs durch einen im Ostsektor gemaßregelten Angestellten besetzt.“ Schreiben des Bezirksamtes Reinickendorf an Franz Knipping, 10.9.1948, in: ebd., Nr. 38. 94 Der Ost-Berliner Magistratsdirektor (und spätere stellvertretende OB) Max Schmidt gab erst am 17.2.1949 die Anweisung, den Verkehr mit dem Westmagistrat (Deutschlandhaus) „in jeder Beziehung“ einzustellen. Das beträfe auch die westliche Abwicklungskommission. Es ginge doch nicht an, meinte er, „dass sich das Personal des Deutschlandhauses ständig in unseren Dienstgebäuden aufhält, wenn auch mit Arbeiten, die z.T. in unserem Interesse liegen“. Hausinterne Anordnung des Ernährungsamtes (Ost), 17.2.1949, in: ebd., Nr. 36.

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Geeigneter Wohnraum war auf beiden Seiten der Sektorengrenze knapp, und es dauerte in verschiedenen Fällen längere Zeit, ihn am neuen Wirkungsort zu finden. Ein Wohnungswechsel lag insbesondere im Interesse des Ost-Magistrats, der seine Neuzugänge der Gefahr des Einflusses ausgesetzt sah, den die westliche Umgebung auf sie auszuüben vermochte. So beschloss er, alle seine Mitarbeiter auf die Unterzeichnung eines besonderen Reverses festzulegen.95 Aber auch der Westmagistrat (seit Frühjahr 1951: Senat) versuchte sich der Treue seiner Beamten und Angestellten zu versichern. Er tat das zunächst juristisch: Alle im öffentlichen Dienst Beschäftigten, die nach dem 1. Dezember 1948 in ihren Ost-Berliner Dienststellen verblieben, seien durch diese Entscheidung ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen und könnten also keine Ansprüche mehr gegenüber dem Senat geltend machen. Bewarben sich die Betroffenen um eine Neueinstellung im Senatsdienst, sei zu prüfen, „ob sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen haben“. Das gelte insbesondere für diejenigen, die zum Zeitpunkt der Spaltung in West-Berlin wohnten, „sich aber dennoch für eine Tätigkeit bei Dienststellen im sowjetischen Sektor oder der sowjetischen Besatzungszone entschieden haben“. Insbesondere sei von Bedeutung, „ob und in welcher Weise sie sich damals politisch betätigt und ob sie die Loyalitätserklärung für die Verwaltung im sowjetischen Sektor abgegeben haben“.96 Gleichzeitig hielt der Senat Nebentätigkeiten seiner Bediensteten in Ost-Berlin für nicht vereinbar mit der von ihnen eingegangenen Verpflichtung, sich jederzeit für die freiheitlichdemokratische Grundordnung einzusetzen. Bis zum Mauerbau bat der Innensenator die Leiter aller Senatsverwaltungen und deren Gliederungen wiederholt, die Zustimmung zu derartiger Nebentätigkeit zu verweigern.97 An anderer Stelle wird zu sehen sein, dass diesem Ersuchen nur bedingt Erfolg zuteil wurde. Demgegenüber waren die Ost-Berliner Staatsdiener zwar fester in das Disziplinierungssystem der SED eingebunden, gaben ihr aber – bedingt durch deren zahlreiche Republikfluchten und Affinitäten zum West-Berliner „Schaufenster“ – ständig Anlass, die Treue und Verlässlichkeit ihrer Verwaltungs-„Kader“ zu be95 Sämtliche Angestellten der Gebietskörperschaft Gross-Berlin seien außer dem bereits geleisteten Eid (Runderlass vom 9.1.1947) durch Unterzeichnung eines zusätzlichen Reverses „nochmals zu verpflichten“. Er lautete: „Ich erkenne den provisorischen demokratischen Magistrat von Gross-Berlin und sein Programm an und verpflichte mich auf Grund des von mir geleisteten Eides zur loyalen Mitarbeit.“ Magistratsbeschluß Nr. 13, 6.12.1948, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 833, Bl. 47. 96 Rundverfügung des Innensenators, Nr. 51/53, 15.3.1953, in: ebd., B Rep. 012, Acc. 1016, Nr. 135. 97 Besonders eindringlich noch einmal 1959. Vgl. Rundverfügung des Innensenators, Oktober 1959, in: ebd., B. Rep. 004, Acc. 2404, Nr. 314.

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zweifeln. Nachdem sich der Ostmagistrat Anfang der 50er Jahre von vielen Mitarbeitern getrennt hatte, die im Osten beschäftigt waren, aber im Westen wohnten98, verbot die SED immer mehr Staatsfunktionären das Betreten der Westsektoren und dehnte entsprechende staatliche Anordnungen auf andere Beschäftigungsgruppen aus.99 Das stieß auf teilweise heftige Unmutsbekundungen, was die SED-Bezirksleitung Anfang 1955 zur Kritik an „Zuspitzungen“ sowie zu eigenen Initiativen zwang und sie zu einem Ersuchen an das ZK der SED veranlasste, endlich eine zentrale Direktive auszuarbeiten.100 Doch verstärkten sich die Widerstände, als die SED auch einfachen Angestellten in den Großbetrieben die bloße Durchfahrt durch West-Berliner Gebiet per S- oder U-Bahn verbot. Das bedeutete für viele Berufstätige Umwege und damit verbunden einen erhöhten Zeitaufwand.101 Mehr noch beunruhigte, dass man Ost-Berliner Angestellte im Fall ihrer 98 Vgl. Schreiben des Stellvertretenden OB für Volksbildung und Kultur, Fechner, an Ebert, 12.3.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. 99 Für ein West-Berlinverbot gab es keine gesetzliche Grundlage. Es wurde durch Anweisungen des DDR-Ministerrats geregelt und von den einzelnen Ministerien und Verwaltungen mit einigem zu Unsicherheiten führenden Interpretationsspielraum verwirklicht. Zunächst hatten nur Funktionäre und Angestellte in Leitungsfunktionen eine entsprechende, praktisch rechtsverbindliche, Verpflichtung zu unterschreiben. Bedingt auch durch den vorauseilenden Gehorsam von untergeordneten staatlichen Verwaltungen und von Großbetrieben wuchs die Tendenz zur Einbeziehung von Angestellten, die weder in sensiblen Sicherheitsbereichen arbeiteten noch Leitungsfunktionen wahrnahmen. Das verärgerte viele Betroffene und führte auch angesichts von Unklarheiten bei einzelnen Ministerien zu „einer Anzahl von politischen Störungen“. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 3/55, 16.8.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 247, Bl. 52f. 100 So sei beispielsweise die Anweisung des stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph vom 23.5.1955 von verschiedenen Ministerien fehlerhaft weitergeleitet worden. Sie hätten trotz Aussprachen „willkürlich die Maßnahmen, die zum Schutz des Staatsapparates gedacht waren, auf nachgeordnete Stellen und Betriebe ausgedehnt“. In Übereinstimmung mit dem DDR-Innenminister Maron wurde u.a. beschlossen, dass alle Ministerien und Staatssekretariate „Nomenklaturen der Mitarbeiter“ festlegen, „die nicht nach Westberlin gehen dürfen“. Das Innenministerium erhielt jedoch die Empfehlung, allen Ministerien mitzuteilen, dass die Verbotsmaßnahmen in den Betrieben sofort einzustellen seien. Vgl. ebd., Bl. 53. 101 Die SED-BL schätzte Mitte Mai 1958 ein, „daß im allgemeinen die politische Bedeutung dieser Maßnahme von den Kollegen nicht anerkannt wird“. In den Betrieben käme eine „gefährliche ironische Galgenhumorstimmung“ auf. So werde das teilweise weitläufige Umfahren West-Berlins als „Käses-Rundfahrt“, „Sputnikkreise“ und „Zirkus Maron“ bezeichnet. Der zusätzliche Zeitaufwand führe zu Verlusten bei der Freizeitgestaltung und zu Schwierigkeiten beim Einkauf, werde argumentiert. Auch artikulierten die Betroffenen ihr Unverständnis darüber, daß mit den Grenzgängern und Schiebern mit viel Geduld diskutiert werde, sie aber mit dem Durchfahrtsverbot „ohne Diskussion“ vor vollendete

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Weigerung, eine entsprechende Verpflichtung zu unterschreiben, tatsächlich aus ihren Betrieben entließ. Dies schien jedoch mehr eine vorbeugende als strafende und keine häufig angewendete Maßnahme gewesen zu sein. Zum einen war der Ost-Berliner Staatsapparat zu umfassenden Kontrollen nicht in der Lage, zum anderen stellte der West-Berliner Senat einige der Gemaßregelten demonstrativ in den öffentlichen Dienst West-Berlins ein.102 Auch vor dem Hintergrund der Republikflucht nahm die SED zeitweilig Zuspitzungen zurück, was der Westen aufmerksam registrierte.103 Dennoch trug das West-Berlin-Verbot nicht zuletzt durch die Angst des Einzelnen, denunziert zu werden104, zur Disziplinierung des Staatsapparates und letztendlich zur Formierung eines zuverlässigen Kaderstamms bei. Das betraf auch Funktionäre in den Randkreisen um West-Berlin als die lokalen Träger für technische Absprachen mit der Senats-Verwaltung.105 Es gehörte indirekt auch zur administrativen Spaltung der Stadt, wenn im Zuge der weiteren Zentralisierung Ost-Berlins 1952 aus den Landesleitungen verschiedener Parteien, Organisationen und Institutionen Bezirksleitungen wurden. Die Verwaltung bildete auf beiden Seiten der Stadt signifikante Besonderheiten aus. Wie geschildert, führte die Teilung zu parallelen Administrationen, die als „Normalbürokratien“ die laufenden Aufgaben in West und Ost im Wesentlichen spiegelgleich wahrnahmen. Doch daneben entstand unter den Bedingungen des Kalten Krieges beiderseits eine Spezies von Administration, die nur durch die Spaltung der Stadt zu erklären ist und keine bloße Erweiterung der „Normalbürokratie“ darstellte. Diese sich in West- und Ost-Berlin in den verschiedenen Bereichen von Politik und Gesellschaft höchst disproportional entwickelnde „Teilungsbürokratie“ nahm Aufgaben wahr, die sich sowohl aus Separationsprozessen ergaben als auch ihrer Überwindung dienen sollten. Dazu gehörten Verwaltungs-

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Tatsachen gestellt würden. Ebenfalls fragten sie, ob Angestellte denn weniger politisches Bewusstsein hätten als beispielsweise eine Konsumverkäuferin, die „bekanntlich durchfahren darf“. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL: „Diskussion zur Verordnung, daß Staatsangestellte nicht mehr durch den Westsektor fahren dürfen“, 23.5.1958, in: ebd., Nr. 620. Vgl. Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen (Carlbergh) an den Präsidenten des Landesarbeitsamtes, 16.8.1956, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 2206–2007. Auch dort wurde der starke „Widerstand“ in den VEB-Betrieben und – Mitte 1956 – ein Abschwächen der Ost-Berliner Verpflichtungskampagne wahrgenommen. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 78. So wurde z.B. in der Innenverwaltung des Magistrats eine Mitarbeiterin denunziert, die sich nicht an das Durchfahrverbot hielt. Vgl. „Protokoll der Dienstbesprechung beim Abteilungsleiter Innere Angelegenheiten“, 13.5.1958, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 16. Vgl. Sitzung des Politbüros des ZK der SED, Protokoll 33/59 vom 7.7.1959, in: SAPMOBArch, DY 30, JIV 2/2/657.

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stellen und Gremien wie das weiter oben thematisierte Büro für Gesamtberliner Fragen im Westen und spezielle Abteilungen im Ostmagistrat, die zur Regelung Gesamtberliner Probleme notwendig schienen und beispielsweise Flüchtlings- und Grenzgängerfragen behandelten, aber auch Angelegenheiten des technischen Verkehrs sowie von Ordnung und Sicherheit. Zwar wirkten in dieser zunächst nur als temporär geplanten „Teilungsbürokratie“ nicht die gleichen extensiven Wachstumstendenzen wie in der „normalen“ Administration, doch trug auch sie zum nachhaltigen Anschwellen des Berliner Verwaltungsapparates bei. 1.2.2 Die Teilung der Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur Auf der erörterten „Kadergrundlage“ verlief schrittweise die technische Spaltung: im November 1948 die der Straßenreinigung und Müllabfuhr, im Dezember der Verwaltung von Entwässerung und Stromversorgung, im Juli 1950 (teilweise) des Rohrnetzes der Wasserversorgung, im Mai 1952 der Telefonverbindung und im Januar 1953 schließlich des Straßenbahnverkehrs.106 Von erheblicher politischer Relevanz war die Frage der Stromversorgung. West-Berlin hatte einen Teil seiner Elektroenergie aus dem Ost-Berliner Großkraftwerk Klingenberg erhalten, wofür einige im Zonengrenzgebiet liegende Ortschaften der SBZ/DDR Strom aus der Bundesrepublik bezogen. Trotz gültiger Verträge sperrte der Magistrat Mitte 1950 seine Energieleistungen. Dahinter stand eine neue Konzeption der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland (SKK), die offenbar eine generelle „Verkehrstrennung vom Westen“ beabsichtigte. Deshalb kehrten die Sowjets nach eigenen Aussagen die bislang geltende Direktive, „sich mit dem Westen zu verständigen“, auch in der Stromfrage konfrontativ um.107 Sie beabsichtigten, zunächst mit auch die Wasserversorgung betreffenden Kündigungsdrohungen, die zwischen den beiden Magistraten ausge106 Vgl. Protokoll Nr. 22/1952 der Sitzung des Sekretariats der SED-Landesleitung vom 27.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 177, Bl. 11 sowie Gerhard Kunze, Grenzerfahrungen. Kontakte und Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und der DDR, Berlin 1999, S. 17. 107 Mit diesem „Vorschlag“ war der Vertreter der SKK (Gen. Martjuschin) beim Ostmagistrat (Frenzel) vorstellig geworden, der sofort die SED-Landesleitung (Jendretzky) informierte. Vgl. Schreiben von Frenzel an Jendretzky, 15.5.1950, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 473. Aus dem sowjetischen Vorschlag wurde im September 1950 eine Direktive für das Verhalten Ost-Berlins in der Strom- und Wasserfrage. Doch diskutierten die Verantwortlichen bereits weitergehende Maßnahmen zur völligen „Verkehrstrennung vom Westen“. „Vermerk [für Ebert] über die am 12.9.1950 gehabte Besprechung mit den Vertretern der Sowjetischen Kontroll-Kommission“ (Oberstleutnant Martichin und Oberleutnant Malichin) von Magistratsdirektor Frenzel, 13.9.1950, in: ebd., Nr. 177.

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handelten einzelnen technischen Abkommen in einen generellen offiziellen Vertrag umwandeln und die Wasserwerke der Westseite gleichzeitig zur Bezahlung ihrer angeblich noch anstehenden Schulden zu zwingen.108 Dahinter standen neben den politischen also auch ökonomische Interessen.109 Sie äußerten sich beispielsweise in der Höhe der Strompreisforderungen des Ost-Magistrats, die aber schließlich „innerdeutsch“ relativiert werden mussten.110 Für die SKK war bei allen Ultimaten eigentlich nur von Belang, ob eine harte Reaktion des Westens im sowjetischen Sektor zu erheblichen Störungen führen würde. Dieses Problem und die Frage, wie man möglicherweise auch das noch einheitliche U-Bahnnetz technisch teilen könnte111, diskutierte die Ostadministration ebenfalls, was aber nicht 108 Vgl. ebd. 109 Sie liefen u.a. auf eine Erhöhung des Strompreises für die Westsektoren und die ultimative Forderung nach zwei Mio. Westmark für östliche Wasserlieferungen hinaus. Die Sowjets stellten die Frage, „was passieren würde, wenn wir die Lieferungen vom Werk Johannisthal nach Neukölln einstellen würden?“ Sie gaben überdies zu erkennen, dass sie einem BVG-Abkommen nur zustimmen würden, wenn die Kostenanteile Ost-Berlins am Unterhalt der U-Bahn mit den Westgeldeinnahmen der DDR-Wasserwerke und der Stadtentwässerung gedeckt würden. Ebenso wollte der Osten den Erlös aus zukünftigen Stromabkommen nicht über das Frankfurter Interzonenabkommen verrechnen, sondern bat die zustimmend reagierende westliche Seite um die Einrichtung eines „frei verfügbaren Sonderkontos“. Vgl. ebd. und „Vermerk betr. Verhandlungen über die Erneuerung der Stromlieferungen Ost/West am 9.6.1950“, in: ebd. 110 Zunächst hatte Ost-Berlin 4,5 Pfennig pro kW gefordert, sah aber intern vier Westpfennig als akzeptabel an. Würde sie die West-BEWAG nicht zahlen, könne sie mit zusätzlichen Fernstromlieferungen aus der DDR nicht rechnen, sondern müsse sich im Gegenteil auf eine Verringerung einstellen, drohte der Ostmagistrat. West-Berlin hatte nur 2,5 Pfennige geboten. Die Ostseite geriet aber selbst unter Druck, als die Treuhandstelle für den Interzonenhandel erkennen ließ, dass der von der DDR gewünschten Verlängerung des Interzonen-Handelsabkommens nur dann nichts mehr im Wege stehe, wenn eine neue Berliner Stromvereinbarung abgeschlossen sei. Der Westen würde bereit sein, 2,8 Pfennige pro Kilowatt zu zahlen. Daraufhin entschied Ulbricht, dass der Magistrat darauf eingehen solle, wenn andere Lösungen nicht möglich seien. „Vermerk. Betrifft Stromverhandlungen Ost/West“, 3.11.1950, in: ebd. 111 So ergab sich die Frage, ob der Westen seine Wasserlieferungen nach Babelsberg einstellen würde, wenn Johannisthal Neukölln nicht mehr beliefere. Mehr Kopfzerbrechen bereitete die diskutierte generelle verkehrstechnische Trennung Berlins, wobei die SKK und der Magistrat die U-Bahn als schwierigsten Bereich ansahen. Die U-Bahnlinien C und D könnten, soweit sie den „demokratischen Sektor“ durchliefen, nicht betrieben werden, bestenfalls die Linie D unter Einsatz von Fahrzeugen der Linie E. Auf der Linie A gebe es „keine Reparaturmöglichkeiten, weil deren Waggons bis jetzt nicht aus dem Tunnel herausgebracht werden können“. Dabei wurden drei Vorschläge zur Lösung des Problems erörtert: Erstens könnte man mit einem Portalkran über dem U-Bahn-Schacht (kurz vor der Endstation Vinetastraße) die Wagen heraus- und hineinhieven, zweitens einen „170 m

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daran hinderte, die konfrontativen „Gedanken der Freunde“ unverzüglich umzusetzen.112 Dies fiel ihr umso leichter, als sie von der ablehnenden Haltung der Westverwaltung, über ein neues Stromabkommen offiziell zu verhandeln, wusste und im Juni 1950 bereits zwei Varianten für eine beabsichtigte plausible Kündigung vorlagen.113 Die Stromversorgung bildete also für die sowjetische Verwaltung den Anlass für die Planung einer generellen Spaltung des noch weitgehend einheitlichen Berliner stadttechnischen und Verkehrssystems. Zwar zeitigte das Problem insofern beträchtliche Wirkung, als es in West-Berlin die Modernisierung und Erweiterung der Energieerzeugung (Kraftwerk Ernst Reuter) immens beschleunigte, doch verlor es seine kurzfristig zentrale Funktion – auch blieben Abschaltungen eher die Ausnahme.114 Eine gewisse internationale Beruhigung der Lage in Berlin trug dazu bei, dass die detailliert ausgearbeiteten Pläne zur vollständigen Trennung von Infrastruktur und Verkehrssystemen vom Herbst 1950 bis in die ersten Monate des Jahres 1952 hinein ruhten. Dann allerdings wurden sie durch langen Tunnel von der A- zur E-Linie (Königstraße zur Klosterstraße) bauen oder aber drittens einen „Ausgangstunnel über der Endstation Vinetastraße entlang der Berliner Straße in Pankow“ ausbauen. Demgegenüber wurde die Trennung des Ost-Berliner Gasversorgungsnetzes vom Westen – nämlich durch Rohrverlegungen – als unproblematisch eingestuft. „Vermerk [für Ebert] über die am 12.9.1950 gehabte Besprechung […], 13.9.1950, in: ebd. 112 Die sowjetischen Vorstellungen gingen sofort in die Ost-Berliner Position ein, die dann bei den technischen Verhandlungen mit dem Westmagistrat vehement vertreten wurden. Selbst sowjetische Begrifflichkeiten und Formulierungen fanden sich in den Ost-Berliner Aufzeichnungen der Gespräche wieder. „Vermerk. Betr. Verhandlungen über Erneuerungen der Stromlieferungen Ost/West am 9.6.1950“, in: ebd. 113 Die West-Berliner Administratur lehnte offizielle Verhandlungen über ein Stromabkommen mit der Begründung ab, dass die BEWAG keine ihrer Gliederungen, sondern eine private AG sei. Diese Auffassung bildete für den Osten das politische Argument für die Einstellung seiner Stromlieferung nach West-Berlin am 1.7.1950. Für die Begründung in der Öffentlichkeit wurden zwei Möglichkeiten erwogen: Zum einen könnte man den bis zum 30.6.1950 gültigen Vertrag mit der BEWAG einfach auslaufen lassen und müsste zunächst nicht von unpopulären Absperrmaßnahmen sprechen. Sollte ab 24.00 Uhr erkennbar sein, dass der Westen „nicht mit genügender Kapazität fährt“ und deshalb weiter „von uns“ Strom entnimmt, „bliebe uns immer noch der Weg unter Hinweis auf den Stromdiebstahl des Westens das Netz zu trennen“. Zum anderen könnte man der WestBerliner Seite kurz mitteilen, „daß wir das Abkommen als abgelaufen betrachten“ und das Stromnetz am 1.7.1950, 00 Uhr innerhalb von 48 Stunden trennen. Die Ost-Berliner Magistratsverwaltung (Frenzel) schlug vor, nach der ersten Variante zu verfahren. Vgl. Schreiben der Abteilung Verkehr und Betriebe (Frenzel) an OB Ebert, 28.6.1950, in: ebd. 114 So stellte Ost-Berlin am 31.1.1953 seine Stromlieferungen für Nikolskoe, die Pfaueninsel und einige Gebäude an der Glienicker Brücke ohne Vorankündigung ein. Der Senat ließ daraufhin ein Notkabel legen. Vgl. „Neue Zeitung“, 1.2.1953.

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die Verhandlungen über den Deutschlandvertrag der Westmächte mit der Bundesrepublik und deren geplanten Beitritt zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) aktiviert. Wie schon 1948/49 nahm Berlin im östlichen Konzept eine wichtige Position ein. Die Kernfrage schien zu lauten, inwiefern die Sowjetunion über den „Mechanismus“ West-Berlin Einfluss auf die Westintegration der Bundesrepublik zu nehmen vermochte – sie durch den „Hemmschuh“ Berlin wenigstens abbremste, wenn sie denn nicht mehr zu verhindern war. Die weitreichenden Teilungspläne, in jedem Fall mehr als strategische „Sandkastenspiele“, führen jedoch zu der Frage, ob Deutschlandvertrag und EVG nicht primär den Anlass und die Legitimation für einen bislang nicht gewagten Schritt zur perfekten technischen Spaltung Berlins abgaben, und ob die Separatplanung nicht letztendlich das Ziel eines ungestörten, also vom Westteil isolierten, Ost-Berlins leitete. Für eine diesbezügliche Prioritätsthese, die ein „sowohl als auch“ einschließt und Wechselwirkungen berücksichtigt, spricht die östliche Praxis, nach der westlichen Ablehnung der Stalinnoten im Frühjahr 1952 nicht mehr so sehr die Verhinderung der Westintegration, sondern die Instrumentalisierung ihrer Folgen und damit Berlin in den Vordergrund zu rücken. In diese Strategie passten sich Maßnahmen zur Realisierung eines „technischen“ Zieles ein, für das zentrale Pläne ja bereits vorlagen. Die Stalinnote vom 10. März 1952 mit ihrer Offerte: Einheit Deutschlands gegen Neutralität des Landes, war noch nicht veröffentlicht, als der Magistrat die SKK über eine (offenbar von den Sowjets angeregte) strategische „Übung“ informierte. Man wolle die Belieferung West-Berlins mit Strom total abbrechen und das mit „größeren Störungen“ in der ostdeutschen Energieversorgung begründen.115 Die geheime Aktion wurde „stabsmäßig“ geplant und erweitert. Anfang Juni 1952 informierte der Magistrat die SKK über den Abschluss der Vorbereitungen zur totalen Trennung des Strom-, Wasser- und Gasnetzes. In OstBerlin betraf das nur noch einige Straßen und Häuser, deren Versorgung sofort „störfrei“ zu machen sei.116 Das erforderte nur partielle infrastrukturelle Eingriffe und wies eher darauf hin, dass die SED eine größere Aktion in Angriff nahm. Sie folgte alsbald. Zunächst verfügte die DDR-Regierung, offiziell als Reaktion auf die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages in Bonn, die Abriegelung der Straßenverbindungen zwischen West-Berlin und seinem brandenburgischen Umland. Am 29. Mai beschloss das Sekretariat der SED-Landesleitung – sicherlich im Auftrag von SKK und Politbüro – „Maßnahmen zum Schutze des demokratischen Sektors“. Sie sahen prophylaktisch den Abbruch des gesamten Verkehrs nach West-

115 Schreiben von Frenzel an die SKK (Martinjanow), 7.3.1952, in: LAB, C Rep. 114, Nr. 167. 116 Vgl. Schreiben von Frenzel an die SKK (Maloschew), 4.6.1952, in: ebd.

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Berlin vor, also auch den der S- und U-Bahn.117 Über diese Pläne war der Senat offenbar informiert, nicht aber über ihren älteren Ursprung.118 Tatsächlich standen sämtliche verkehrstechnische Maßnahmen in der Kontinuität der Planungen vom Spätsommer 1950.119 Dass sie bei leitenden SED- und Magistratsfunktionären präsent, wenngleich nicht durchgängig aktuell waren, zeigen auch vertrauliche Papiere der Ost-BVG. Beispielsweise ging sie im Juli 1951 von der Möglichkeit einer Beendigung des sektorenüberschreitenden U- und Straßenbahnverkehrs aus.120 Die Einbeziehung politisch subalterner, aber vertrauenswürdiger Funktionäre ist ein Indiz dafür, dass auf den Entscheidungsebenen verschiedene Beschlüsse bereits prinzipiell gefasst waren, deren langfristige technische Realisierung jedoch den Fachleuten unterlag. Das betraf seit September 1950 insbesondere den komplizierten U-Bahnbereich, Anfang 1953 nun aber auch die Straßenbahn. Doch stand zunächst eine „genauere Überlegung“ über den „Eventualfall“ bei der U-Bahn an, mit dem „in aller Kürze zu rechnen“ sei.121 Die SED nahm eine angeb-

117 Aus der detaillierten Analyse der sich im Ernstfall ergebenden Eingriffe in das S-Bahnnetz ging u.a. hervor, dass der Verkehr auf einigen Strecken (Oranienburg – Wannsee; Velten – Rangsdorf; Gesundbrunnen – Zehlendorf) zunächst gänzlich eingestellt würde und andere nur noch teilweise befahrbar wären. Bericht der Abteilung Wirtschaftspolitik des Magistrats an das Sekretariat der SED-BL „Betr. Durchführung des Beschlusses des Sekretariats vom 29.5.1952 über die zu treffenden Maßnahmen zum Schutze des demokratischen Sektors“, in: ebd. 118 Am 5.3.1953 erklärte das Gesamtberliner Büro dem Reg. Bgm. in einer Meldung, dass die ihm bekannten Pläne „für weitere Absperrmaßnahmen“ vom Osten offenbar nicht mehr verfolgt würden; sie könnten aber dennoch „jeder Zeit realisiert werden“. Man besitze ostdeutsches Material für die Planung einer restlosen Trennung und datiere die Ausarbeitung der Pläne mit dem Dezember 1952. Die Ursachen für die Nichtverwirklichung der Teilungspläne im Jahr 1952, zu denen auch die Schaffung einer 200 m breiten quer durch Berlin verlaufenden „toten Zone“ gehört habe, sah das Senatsorgan in der ablehnenden Haltung der betroffenen Bevölkerung und der Angst der SED vor „Unruhen“. Meldung des Büros an den Reg. Bgm., 5.3.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 300, 307–309, 325. 119 Vgl. dazu auch das streng vertrauliche Papier der BVG (Ost) für die Magistratsabteilung Verkehr und Städtische Betriebe (Frenzel), „Eventual-Verkehrsplan bei einer vollkommenen Trennung der Westsektoren vom demokratischen Sektor und der DDR“, 8.9.1950, in: ebd., C Rep. 114, Nr. 169. 120 Vgl. Papier der BVG (Ost) an Frenzel, 21.7.1951, in: ebd. 121 Sie stellte eine Modifizierung der Planungen von 1950 dar. Es ging vor allem um die Kürzung verschiedener Linien und um deren Energieversorgung. Auch baute man seit Sommer 1951 tatsächlich an einem Verbindungstunnel zwischen den Linien A und E. Über den dabei geplanten Abriss von Teilen der alten Klosterkirche und der Klosterschule – beides Ruinen – behielt sich der OB ein letztes Wort vor. Vgl. „Vorbereitende Maßnah-

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lich vom Westen ausgehende Bedrohung wahr, die zumindest dadurch etwas Substanz erhielt, dass die SED nach ihren repressiven Maßnahmen vom Mai und Juni 1952 Gegenaktionen erwartete. Die Unterstellung westlicher Spaltungspläne besaß sowohl politische Legitimations- als für den Einzelnen auch Motivationsfunktionen. Ängste schürte die SED besonders bei der Ost-Berliner U-Bahnverwaltung; sie trieben seltsame Sicherheitsblüten122 und trugen zur allgemeinen Konfrontations-Psychose bei. Einen Sonderfall bildete die Straßenbahn. Bis zum 15. Januar 1953 hatte sie auf sechs Linien (23, 24, 35, 36, 74, 95) die Sektorengrenzen überquert. Das Ende ihres grenzüberschreitenden Verkehrs war, möglicherweise auch aus Konkurrenzgründen, vielleicht schon Ende 1952 geplant worden.123 Als die Ost-BVG, entgegen verbindlicher Absprachen, auf diesen Durchgangslinien plötzlich weibliche Straßenbahnfahrer einsetzte, ließ die West-BVG sie nicht passieren. Diese provozierte Reaktion nahm die östliche Seite zum Anlass für die Spaltung des Berliner Straßenbahnnetzes. Das brachte dem Magistrat und der Staatspartei wenig, aber den verärgerten Fahrgästen längere Wege.124 Zwar blieb ein erster Vorstoß125 der West-BVG im Juli 1953 zur Wiederherstellung des Status quo ante ergebnislos, doch sah die SED diese Frage einige Jahre später als geeignet an, sie für eine propagandistische Kampagne gegen West-Berliner Fahrpreiserhöhungen zu nutzen.

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men für den Fall der vollkommenen Trennung der Westsektoren vom Demokratischen Sektor und der DDR“, 24.8.1952, in: ebd., Nr. 169 und Aktenvermerk, 28.8.1951, in: ebd. So wurde die Beobachtung der West-Berliner U-Bahn perfektioniert und einzelne Erkenntnisse im Sinne des Schlusses gedeutet, dass der Westen eine Abspaltung der U-Bahn vom Osten beabsichtige. Als Indizien dafür galten, dass sich ein West-Berliner Bahnmeister im U-Bahnhof Kochstraße ein Schlafquartier eingerichtet habe und auf der Westlinie C nächtliche Zugfahrten stattfänden, ohne dass die Abteilung U-Bahn im sowjetischen Sektor davon verständigt worden war. „Größte Wachsamkeit“ sei geboten. Deshalb müssten die nächtlichen Fahrten der West-U-Bahn durch Ost-Berlin studiert werden, „da möglicherweise schon jetzt nach und nach Maschinen und Geräte vom Bw [Bahnbetriebswerk] Seestraße nach dem Süden von Berlin geschafft werden“. „Bericht über die Vorgänge bei der West-BVG“, 2.8.1952, in: ebd. In Konkurrenz zueinander hatten Ost- und West-Berlin parallel moderne „großräumige Straßenbahnwagen“ projektiert. Der Magistrat zeigte sich unangenehm überrascht, dass im Westen bereits einige „geräumige Straßenbahnzüge für je 200 Fahrgäste“ in Betrieb gingen, während sich in Ost-Berlin der Einsatz der neuen Züge verzögerte. Schreiben des Magistrats, Abteilung Verkehr, an die SKK, 8.12.1952, in: ebd., Nr. 167. Jetzt fuhren die Straßenbahnen der Ost- und Westseite bis an die Sektorengrenze und wendeten dann. Die Fahrgäste gingen in beiden Richtungen zu Fuß über die Grenze und stiegen in die jeweils andere Linie um. Vgl. Schreiben der Direktion der BVG-West an die Direktion der BVG-Ost, 7.7.1953, in: ebd., C Rep. 114, Nr. 167.

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Den Hintergrund bildete das Ziel, den Senat zu offiziellen Verhandlungen mit dem Magistrat zu nötigen.126 Ein entsprechender Politbürobeschluss127 lässt vermuten, dass der SED-Führung der Preis „durchgehender Straßenbahnen“ dafür nicht zu hoch war. Am 27. Mai 1952 unterbrach die östliche Administration den gesamten Telefonverkehr zwischen beiden Teilen der Stadt sowie zwischen West-Berlin und der DDR; 3.910 Ortsleitungen wurden abgeschaltet. Die Aktion war „Chefsache“ der Sowjets. Sie ließen sich detailliert über die bis Mitte 1953 andauernde Demontage der technischen Anlagen berichten.128 Die Durchtrennung des bislang gemeinsamen Telefonnetzes mit der fadenscheinigen Begründung, es sei von DDRfeindlichen Kräften missbraucht worden, stellte für die Berliner eine besondere Härte dar. Die SED bot 70 Leitungen für den handvermittelten Verkehr an. Das lehnte der Westen ab, auch weil er Lauschaktionen befürchtete.129 Während auf anderen Feldern – etwa beim Verkehr nach 1953 – eine leichte Verbesserung der Kommunikation einzutreten schien, verschlechterten sich die Fernsprechbedingungen in der geteilten Stadt weiter. So wurde auch der „Dienstleistungsverkehr“, d.h. Direktverbindungen, die beispielsweise bei der Eisenbahn, der Feuerwehr und zwischen den Fernsprechämtern bestanden, „allmählich abgebaut“. Schließlich stand für alle der etwa 70 West-Berliner Bahnhöfe im September 1956 nur noch eine Sonderleitung nach Ost-Berlin zur Verfügung. Der Senat richtete für dessen Bürger 39 Sprechstellen in West-Berliner Postämtern längs der Sektorengrenze ein, von denen aus sie mit Ostgeld innerhalb der Westsektoren telefonieren konnten.130 Das war ein „Tropfen auf den heißen Stein“. Deshalb prüfte der Senat „in Fühlungnahme mit dem Bundespostminister“ die Möglichkeit der Wiederherstellung des Innerberliner Fernsprechnetzes und war bereit, die auf West-Berliner 126 Als in West-Berlin im Frühsommer 1956 eine Protestwelle gegen die Fahrpreiserhöhungen der BVG-West einsetzte, schloss sich die SED den populären Rücknahmeforderungen an und verband sie mit dem Angebot zur Wiederherstellung des einheitlichen Berliner Straßenbahnnetzes. Eine Fahrt mit ihr sollte dann überall – wie im „demokratischen Sektor“ – nur 20 Pfennige kosten. Vgl. Schreiben des stellv. OB Schmidt an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Neumann, 2.7.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1314. 127 Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll Nr. 26/56 der Sitzung am 5.6.1956, in: SAPMOBArch, DY 30, JIV 2/2/480, S. 4f. 128 Schreiben der Ost-Berliner Oberpostdirektion an die SED-BL (Jendretzky), 6.5.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 1321. 129 Vgl. Günter Erler, Telefonieren in Berlin. 50 Jahre Fernamt Winterfeldtstraße (= Berliner Forum 3/79), hrsg. vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin (W) 1979, S. 29. 130 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 19.

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Gebiet liegenden Telefonkabel wieder instand zu setzen. Der zuständige Senator schlug vor, die Wiederherstellung der Telefonverbindung „nicht als besondere Aktion“ zu realisieren, sondern dezent und schrittweise.131 Aber erst für April 1957 war eine diskrete Fühlungnahme mit der Ostseite vereinbart und dafür ein Beauftragter des Senats benannt worden. Warum ein Treffen nicht stattfand, ist dem Vf. unbekannt. Offenbar blockierte der Magistrat und ließ die bereits in die Öffentlichkeit durchgesickerte Nachricht dementieren.132 Aber auch der an der Wiederherstellung des einheitlichen Telefonnetzes prinzipiell interessierte Senat wollte sie nicht für den Preis offizieller Verhandlungen. Politisch unflexibel, vertat er 1961 in zwei Fällen die Chance, einen Ansatzpunkt für die Wiederherstellung des Netzes zu schaffen. In einem Fall verweigerte er der „Berliner Bank“ im Westen einen direkten Draht zur Ost-Berliner Notenbank133 und fand dabei die Unterstützung der kleinlich argumentierenden Berliner Landeszentralbank.134 Im anderen Fall sperrte sich der Chef der Landespostdirektion dem Antrag der Schwedischen Staatsbahn auf Einrichtung einer direkten Telefonverbindung zwischen den Filialen ihres Unternehmens in beiden Teilen der Stadt. Da das 131 Vgl. Schreiben des Reg. Bgm. Suhr an den Senator für das Post- und Fernmeldewesen Klein, 10.2.1955, in: ebd., B Rep. 003–01, Nr. 63 und von Klein an den Präsidenten der Landespostdirektion Berlin (Hoffmann), 10.6.1955, in: ebd. Klein war der Meinung, man dürfe auch die Presse hierüber nicht informieren; so könnte vielleicht im Laufe eines Monats der alte Fernsprechzustand wieder hergestellt werden. 132 Die im Ostteil erscheinende „Berliner Zeitung“ vom 4.4.1952 stellte Verhandlungen nur dann in Aussicht, wenn „Monopolisten“ und „Militaristen“ im Westen „nichts mehr zu sagen haben […] und die Telefongespräche der Bevölkerung nicht mehr von amerikanischen und englischen Abhördiensten überwacht werden“. 133 Die „Berliner Bank“ begründete plausibel die Dringlichkeit einer direkten Telefonverbindung, die von Ost-Berlin bereits genehmigt worden war. Vgl. Schreiben der „Berliner Bank“ an den Senator für das Post- und Fernmeldewesen, 9.5.1961, in: LAB, B Rep. 003– 01, Nr. 42. Die Begründung der Ablehnung lautete wie folgt: „Im Zusammenhang mit gewissen in letzter Zeit beobachteten Bestrebungen der Ostseite, in West-Berlin wirtschaftlich Fuß zu fassen, ist der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen, daß das Interesse des Ostens an der Herstellung einer solchen Leitung ähnlichen Motiven entspringt.“ Deshalb sei zu empfehlen, den Antrag der „Berliner Bank“ aus „politischen Gründen“ abzulehnen. Vermerk der Senatsverwaltung für das Post- und Fernmeldewesen (Tondeur), 10.5.1961, in: ebd. 134 Ihr Präsident argumentierte, sie verfüge selbst über keine Direktverbindung zur OstBerliner Notenbank; er könne es deshalb nicht billigen, dass West-Berliner Geschäftsbanken mit dieser „unkontrollierte telefonische Direktverbindungen“ erhielten. Im Übrigen sei zu befürchten, dass bei einer Genehmigung sofort zahlreiche andere Berliner Banken gleiche Anträge stellten, „die dann nicht abgelehnt werden könnten“. Vermerk von Tondeur, 12.5.1961, in: ebd.

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Ersuchen vom schwedischen Vizekonsul in Berlin unterstützt worden war, beschäftigten sich der Regierende Bürgermeister Brandt und Senator Günter Klein mit dem Problem. Kleins Haltung war prinzipieller Natur und begründet, aber nicht eben originell und auch nicht den Eindruck eines besonderen Interesses an Telefonverbindungen mit Ost-Berliner Stellen erweckend.135 1.2.3 Gesamtberliner Regelungen Der administrativen Teilung der Stadt standen jedoch nicht nur der Einheitswille und das Zusammengehörigkeitsgefühl der überwiegenden Mehrheit der Berliner, sondern auch Faktoren gegenüber, die sich für beide Verwaltungen aus dem Zwang ergaben, die technisch-organisatorischen Voraussetzungen des Lebens in der gespaltenen Großgemeinde sichern zu müssen. Die über Jahrzehnte gewachsenen Verflechtungen innerhalb Berlins und zwischen ihm und seinem brandenburgischen Umland, das Verkehrsnetz, die Versorgungsstränge u.a.m. ließen sich, wie schon zu sehen war, nicht so einfach und vor allem nicht kurzfristig trennen. Hinzu trat bei offenbar nicht wenigen Berliner Politikern und Angehörigen des öffentlichen Dienstes in beiden Teilen der Stadt die Überzeugung oder doch Vermutung, dass der mehr durch äußere politische Einflüsse eingetretene Zustand nicht dauerhaft sei und bald wieder zusammengeführt würde, was man gerade teilte. Auf beiden Seiten lautete nach der überstandenen Berlinkrise die Frage, inwiefern der Kalte Krieg vernünftigen Alltagsregelungen noch Platz ließ und nicht nur lebenswichtige technische, sondern auch administrative Kontakte gestattete. Nicht zufällig standen ab dem Sommer 1949 finanzielle Fragen im Vordergrund, auf deren Klärung auch die SMA drängte. Sie forderte von der WestBerliner Zentralbank u.a. die Herausgabe von 180 Mio. Ostmark, gestattete aber 135 Klein fragte Brandt, was der Osten „mit diesem plötzlichen Entgegenkommen“ bezwecke. Es würde ihn nicht wundern, wenn nun die beiden Intourist-Büros, die Polnische, Tschechische und Jugoslawische Militärmission und vielleicht auch ausländische Journalisten direkte Leitungen nach Ost-Berlin zu ihren Botschaften, zu ADN „oder womöglich mit dem Presseamt von Ulbricht oder Grotewohl“ wünschen. Er schlug Brandt vor, in dieser Sache nichts zu unternehmen, ohne „daß wir diese Frage mit den Alliierten und dem Auswärtigen Amt vertraulich besprochen haben. Vielleicht haben die Alliierten ein gewisses Interesse an einer Verstärkung ihres Telefonkontaktes mit sowjetischen Dienststellen? Auf jeden Fall sollte vermieden werden, daß zwischen den Rathäusern und den Bezirksämtern direkte Verbindungen hergestellt werden. Wenn von alliierter und bundesdeutscher Seite keine Bedenken vorgebracht werden sollten, könnte man vielleicht auf technischer Ebene versuchen, zwischen beiden Polizeiverwaltungen sowie den zuständigen Stellen für Seuchenbekämpfung, Jugendfürsorge u.a.m. genauestens zu kontrollierende Gesprächsverbindungen mit Ost-Berlin zu haben.“ Schreiben von Klein an Brandt, 11.6.1960, in: ebd.

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dem Ost-Berliner Stadtkontor Verhandlungen über gesperrte Mietzahlungen, über die Behandlung von Uraltkonten sowie über die Abwehr von Banknotenfälschungen. Überdies besaßen Ost wie West ein Interesse an einer Vereinbarung bezüglich von Verrechnungen im intersektoralen Handelsverkehr. Daneben nahmen die Versorgungsämter beider Stadtverwaltungen Gespräche über den Lebensmittelhandel sowie zur Seuchen- und Schädlingsbekämpfung auf.136 Einige Wochen später fanden harte wiewohl konstruktive Verhandlungen zwischen den Verkehrsabteilungen beider Magistrate über Fragen des Verkehrs, der Strom- und Gasversorgung, der Be- und Entwässerung sowie über die Müllabfuhr statt. Man sprach noch von der Fortsetzung der „einheitlichen Verkehrsplanung und Verkehrsgestaltung“, insbesondere über die gemeinsame Unterhaltung und Finanzierung der U-Bahn. Die westliche Seite schlug verschiedene Kompensationsmodelle vor, die für den devisenschwachen Osten vorteilhaft schienen und von ihm durchaus als Vorschläge zur innerstädtischen „Normalisierung“ wahrgenommen wurden.137 Dazu trug sicherlich bei, dass der West-Berliner Verhandlungsführer (Magistratsdirektor Kraft) viele Vorstellungen seines Ost-Berliner Gesprächspartners (Frenzel) – vorbehaltlich der Zustimmung durch dessen Oberbürgermeister – akzeptierte.138 Dass beide Seiten Lösungen mit dem größten eigenen Vorteil verbanden, trat sehr deutlich bei den Verhandlungen über das Post- und Fernmeldewesen zutage. Dabei ging man in Ost-Berlin Ende August 1949 noch von zwei Möglichkeiten aus: Entweder würden die beiden separaten Postverwaltungen wieder zusammengelegt oder aber sie wirkten „zunächst“ weiter getrennt, wenn in Berlin die politische Spaltung fortbestehe. Obwohl der Ostmagistrat Letzteres für 136 Vgl. SED-Sekretariat Bruno Baum, „Bericht über eine Aussprache“, 19.7.1949, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 473. Das Dokument zeigt nebenbei, dass die Kartoffelkäferplage bereits 1949 ein Problem war und nicht, wie von der SED und der UdSSR 1950 behauptet, von den USA gezielt hervorgerufen würde. 137 Abt. Verkehr und Versorgungsbetriebe (Ost), „Vorschläge zur Normalisierung auf dem Gebiete Verkehr, Versorgungsbetriebe Städtische Betriebe“, 22.8.1949, in: ebd. Auf die östliche Seite kämen u.a. 200.000–300.000 Westmark für den Unterhalt der U-Bahn zu, die teilweise durch Gegenleistungen (Reparaturen westlicher Omnibusse mit westlichen Ersatzteilen in Ost-Berlin) abgegolten werden könnten. 138 So die genannte Kompensation von U-Bahnkosten, die Anrechnung der Leistungen östlicher Wasserwerke und bei der Stadtentwässerung sowie bei der Müllabfuhr (täglich etwa 20 Waggons). Schwierigkeiten bereiteten die Wasserpreise. Während der Osten für den Kubikmeter 21 Westpfennige verlangte, wollte die Gegenseite nur vier zahlen. Demgegenüber trat Kraft erfolgreich für eine Abschaffung von Fahrgenehmigungen für WestBerliner Fahrzeuge im Ost-Berliner Nahverkehr ein. Abt. Verkehr und Versorgungsbetriebe (Ost), „Vermerk: Betr. Verhandlungen mit Herrn Magistratsdirektor Kraft von der Westverwaltung am 17.8.1949“, 20.8.1949 und Telefonat zwischen Kraft und Frenzel, 12.9.1949, in: ebd.

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wahrscheinlicher hielt139, ließ er formal auch den anderen Lösungsweg offen. Im September 1949 entwarf die Berliner SED-Führung schließlich „Richtlinien zur Normalisierung des Berliner Lebens“. Als Grundsatz galt, dass Verhandlungen der einzelnen Magistratsabteilungen mit der West-Berliner Verwaltung nur auf Gebieten erfolgen dürfen, „die ihrer Natur nach nicht auf einer höheren Ebene verhandelt werden müssen“. Das schlösse Gespräche über eine einheitliche Verwaltung und Währung, aber auch über allgemeine Wirtschafts- und Handelsbeziehungen sowie den Zahlungs- und Verrechnungsverkehr, aus. Zwar sollten die Ostvertreter bei Verhandlungen immer wieder auf die „Unsinnigkeit der doppelten Währung und der Spaltung Berlins“ hinweisen, doch hätten die Besprechungen der „Normalisierung von Fragen des täglichen Lebens“ zu dienen. Dabei seien Formalitäten, insbesondere Genehmigungsverfahren, streng zu beachten. Das bedeutete faktisch eine enge Kompetenzbegrenzung für die Ost-Berliner Bevollmächtigten.140 Auch zu den Verhandlungsmodi wurden klare Direktiven formuliert und interessanterweise angemerkt, dass „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ die „Einschaltung der Besatzungsmächte […] nicht zweckmäßig“ sei.141 Das prinzipielle Einverständnis insbesondere der Sowjets muss freilich vorausgesetzt werden, worauf ihr großes Interesse an der Regelung von „strategischen“ Verkehrs- und technischen Fragen hinweist. Die SED ordnete sie im Richtlinienpapier vom September 1949 hierarchisch: An erster Stelle standen die Probleme des Verkehrs, 139 Setze sie sich durch, müssten der Leistungsvergleich und damit verbundene Gebührenfragen im Mittelpunkt stehen. Die Ostbehörden konstatierten ein erhebliches Gefälle von Ost nach West. So würde der sowjetische Sektor bei Brief- und Paketsendungen etwa das Zehnfache der Aufwendungen des Westens erbringen. Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Post- und Fernmeldewesen, an den SED-Landesvorsitzenden Bruno Baum: „Vorschläge zur Verbesserung und Normalisierung des Post- und Fernmeldewesens in Berlin durch Behebung von Schwierigkeiten, die für die Bevölkerung und die beiden Postverwaltungen in Berlin durch die Spaltung entstanden sind“, 31.8.1949, in: ebd. 140 Die Verhandlungen seien vorher vom zuständigen Stadtrat und vom Oberbürgermeister zu genehmigen und ebenfalls interessierte Abteilungen „rechtzeitig hinzuzuziehen“. Komme es zu Vertragsabschlüssen, müssten die Verhandlungsführer gegenüber ihren Gesprächspartnern geltend machen, dass die Vereinbarungen der Genehmigung des Magistrats oder des Oberbürgermeisters bedürfen. Vgl. Entwurf für Richtlinien zur Normalisierung des Berliner Lebens, 2.9.1949, in: ebd. 141 „Es werden zunächst unmittelbare Verhandlungen mit Dienststellen der Westverwaltung angeregt werden müssen, möglicherweise unter vorheriger Fixierung der wichtigsten Verhandlungspunkte. In diesen Verhandlungen werden zweckmäßigerweise Arbeitsausschüsse oder Kommissionen gebildet, die paritätisch zusammengesetzt sein müssen und die dann Einzelheiten ausarbeiten. Die Justizverwaltung bedient sich der noch nicht gespaltenen Rechtsanwaltskammer, über die Vorschläge an die Westberliner Justizverwaltung gemacht werden. Auch hier sollten jedoch direkte Verhandlungen angestrebt werden.“ Ebd.

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gefolgt von denen der Ver- und Entsorgung (Gas, Wasser, Müllabfuhr). Im Anschluss wurden Vorschläge zu Regelungen im Gesundheitswesen, bei der Feuerwehr, der Polizei, der Justiz142 und der Ernährung diskutiert.143 Den Schluss bildeten Erörterungen über Absprachen in der Landwirtschaft, im Bankbereich, beim Post- und Fernmeldewesen sowie bei Arbeit und Sozialem.144 Demgegenüber gingen die Vorstellungen des Westmagistrats/Senats zur Überwindung der politischen Separation Berlins stärker von prinzipiellen Grundsätzen aus: Beseitigung der diktatorischen Verhältnisse in Ost-Berlin, Rücknahme der repressiven SEDSpaltungsmaßnahmen und schließlich Gesamtberliner freie Wahlen. Das lief jedoch auf den von den Kommunisten vehement bekämpften demokratischen Systemwechsel hinaus, der für sie nicht verhandelbar war und auch immer unwahrscheinlicher wurde. Die West-Berliner Politik argumentierte aber auch deshalb „grundsätzlich“, weil angesichts eigener wirtschaftlicher und sozialer Probleme die Furcht vor einer Inkorporation in den sowjetischen Herrschaftsbereich anhielt. Angebote der SED zur „Normalisierung“ der Verhältnisse durch technische Kontakte und andere partielle Offerten beargwöhnte die Westverwaltung sofort als Infiltrationsversuche sowie als raffinierte Politik zur schrittweisen Anerkennung des SED-Regimes. Gleichwohl sah sie in den folgenden Jahren, dass auch vom Osten vorgeschlagene Übereinkünfte zur Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Strukturen sowie von alltagspolitischen Gemeinsamkeiten unumgänglich waren.145 Im Unterschied zur Ost-Berliner Administratur, die technische Kontakte vorrangig als eine Konsequenz aus dem alliierten Berlinstatus und als Möglichkeit sowohl der eigenen Herrschaftssicherung als auch der Einflussnahme auf West-Berlin sah, konzipierte die Gegenseite diese Kontakte in erster Linie als 142 In Sachen Feuerwehr verlegte sich die SED auf die Beseitigung der „gegenseitigen Verbote, in den anderen Sektor zu fahren“; für den Polizeibereich auf die „gemeinsame Verbrechensbekämpfung“. Dies impliziere die Wiederherstellung des Informationsaustauschs zwischen dem Ost-Berliner Polizeipräsidenten und den Westinspektionen. Überdies sollten die Justizorgane Urteile, insbesondere Scheidungsurteile, gegenseitig anerkennen. Ebd. 143 Hier bestand beim Ost-Magistrat ein Interesse an der Klärung der Frage, ob die so genannten Reisemarken der SBZ für West-Berliner wieder eingeführt werden und auch in den Ost-Berliner Gaststätten gelten sollten. Die SED plädierte offenbar auch für die Reaktivierung des früheren Clearing-Systems, dem der Westen prinzipiell zugestimmt hatte. Eine Ost-Berliner Entscheidung stand hingegen deshalb noch aus, weil die sowjetische Kommandantur eine entsprechende Anfrage der Ostverwaltung noch nicht beantwortet hatte. Das betraf auch die von ihr gewünschte Vereinbarung „über die einheitliche Gestaltung der Lebensmittelkarteneinstufung“. Ebd. 144 Vgl. ebd. 145 Vgl. Protokoll über die 4. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 20.5.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070.

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menschliche Erleichterungen, die zur allmählichen Überwindung der Sektorengrenzen beitrügen. In dem Maße, wie sich West-Berlin stabilisierte und sich dabei Sowjetisierungsängste abschwächten, gewann diese Vorstellung an Bedeutung, während die SED angesichts ihrer zunehmenden sozioökonomischen und ideologischen Schwierigkeiten sowie des Scheiterns von Überlegenheitskonzepten den innerstädtischen Regelungsbedarf zu minimieren suchte. Zwar hielt sie an wichtigen Abmachungen fest, zumal, wenn sie finanziellen Gewinn erbrachten, baute aber die administrative Zusammenarbeit insbesondere seit 1952 weiter ab. Die Tendenz zu Abgrenzung und Sprachlosigkeit im Verwaltungsbereich verstärkte sich aber auch deshalb, weil beide Seiten eigentlich banale technische Akte zunehmend politisierten. Die „Herstellung technischer Kontakte (sei nur) zu fördern“, wenn sie denn ernst gemeint seien, wie es der Senat formulierte146, so sie offiziell angebahnt würden, wie der Ostmagistrat konterte.147 Dieses destruktive Interaktionsschema löste sich auch in den späteren 50er Jahren nicht auf.148 SED und Magistrat besaßen kaum noch Interesse an Verwaltungskontakten, wenn sie propagandistisch nichts nutzten oder, wie angeführt, finanziell keine Gewinn-

146 Vgl. Schreiben von Senatsrat Kraft an den stellvertretenden Ost-Berliner OB Schmidt, 19.12.1956, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 181. 147 OB Ebert hatte am 6.6.1956 dem Reg. Bgm. Suhr, offiziell zur „Abwendung“ der WestBerliner Fahrpreiserhöhungen, ein persönliches Gespräch vorgeschlagen, was dieser erwartungsgemäß ablehnte. Doch griff der Senat den „Ball“ insofern auf, als er den Senatsrat Kraft bevollmächtigte, der Ostseite anzubieten, stattdessen „über Fragen der Wiederherstellung von technischen Verbindungen zwischen beiden Stadthälften zu sprechen“. Ebert antwortete, dass man, „solche wichtigen Fragen“ nicht auf verwaltungstechnischer Ebene regeln könne. Vgl. Schreiben von Ebert an Suhr, 6.6.1956 und von Suhr an Ebert, 11.6.1956 sowie von Kraft an Schneider (Ostmagistrat), 8.6.1956, und von Ebert an Suhr, 15.6.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1314. 148 Als Brandt, seit 1957 Reg. Bgm., Ebert übermitteln ließ, dass ein Bevollmächtigter des Senats am 30.6.1958 zur Erörterung technischer Probleme zur Verfügung stehe, wenn die Ost-Berliner Verwaltung „sich in der Lage sieht, einige der gestellten Fragen positiv zu beantworten“, lehnte Ebert ab: Die Offerte sei „in Form und Inhalt ungehörig“. Brandt hatte den Osten ersucht, die schlimmsten Auswüchse der Berliner Spaltung „in zehn Fragen“ gemeinsam zu überwinden, aber angemerkt, dass die Spaltung „durch die Maßnahmen der Behörden Ost-Berlins und der DDR“ verursacht worden sei. Auch im Einzelnen waren die Vorschläge Brandts für die SED unannehmbar: Aufhebung der Reise- und Besuchsbeschränkungen für West-Berliner in der DDR, Abschaffung der Auto- und Wasserstraßengebühren, Freigabe der Kleingärten von West-Berlinern in den Randgebieten und Wiederherstellung des Telefonnetzes sowie des sektorenübergreifenden Straßenbahnverkehrs. Auch sollten städtebauliche Probleme behandelt werden. Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 33.

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chancen boten.149 Jedoch stellte sich dabei wiederum die Frage, inwiefern es in verschiedenen Magistratsabteilungen nicht doch Bestrebungen gab, die Einheit der Stadt in der Gewissheit der eigenen Überlegenheit wieder herzustellen oder deren weitere alltägliche Spaltung wenigstens aufzuhalten. Offenbar berieten sich nicht wenige Magistratsangestellte, auch auf den mittleren Leitungsebenen, ernsthaft darüber, was denn „vor Ort“ getan werden könne, um die „Aufnahme von Verbindungen zu westberliner Verwaltungsstellen“ zu ermöglichen. Es spricht nicht gegen ihren guten Willen, wenn sie das durch eine intensive „Aufklärungsarbeit“ in West-Berlin zu flankieren gedachten.150 Dem stand freilich entgegen, dass auch Ost-Berliner „Spitzenpolitiker“ keine wirklichen Handlungsspielräume besaßen und beispielsweise Ebert als SED-Politbüromitglied propagandistische Aktionen, wenn nicht von der sowjetischen Besatzungsmacht, so aber doch von der SED-Führung, zumeist von Walter Ulbricht selbst, „absegnen“ lassen musste.151 1.2.4 Probleme im Alltag Dass die Spaltung des Berliner Verkehrswesens bis zum Mauerbau nur partiell blieb, lässt sich vor allem mit dem alliierten Status der Stadt sowie dessen internationaler Anerkennung erklären. Auch wenn die Sowjetunion Anfang der 50er Jahre eine technische Abschnürung West-Berlins verfolgt hatte, konnte sie letztlich nur in diesem vorgegebenen Rahmen handeln. Ihre Trennungsversuche stießen dabei aber immer wieder auf westlichen Widerstand, mit dem sie in der Regel pragmatisch umging und größeren Komplikationen auswich. Während die sowjetischen Konzepte in Vielem voluntaristisch schienen, ließ sich die SED auch verkehrspolitisch von ihrem Ziel leiten, die Position Ost-Berlins durch Anerkennungsakte des Westens zu stärken und den alltäglichen Einfluss West-Berlins zu verringern. Der ökonomische Pragmatismus der SED stand dazu in keinem prinzipiellen Widerspruch. Gerade das Verkehrsproblem bestimmte die politischen Haltungen der Berliner wesentlich mit: „Die Erfahrung hat bewiesen, daß die 149 So machen die Westgeldeinnahmen verständlich, dass West-Berliner auch noch nach dem Wegfall der Möglichkeit, in die berlinnahen Gebiete zu fahren, beispielsweise die Rennbahn Hoppegarten unweit der Stadt ohne Passierschein und die Randberliner Friedhöfe mit einem problemlos zu erhaltenden, aber kostenpflichtigen Dauerpassierschein aufsuchen konnten. Ebenfalls war die Bestattung von West-Berlinern auf Friedhöfen im Ostteil der Stadt noch möglich. Vgl. ebd., C Rep. 902, Nr. 254, Bl. 2f. 150 „Niederschrift über die Referatsleiter-Besprechung am 2. August 1956“, in: ebd., Nr. 16. 151 So war auch seinem bereits behandelten Brief an Suhr vom 15.6.1956 eine diesbezügliche „Absprache mit dem Genossen Walter Ulbricht“ vorausgegangen. Vgl. Schreiben Eberts an den 1. Sekretär der SED-BL, Neumann, 15.6.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1314.

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Frage des einheitlichen Verkehrs von der Bevölkerung immer außerordentlich stark beachtet wurde. In dieser Frage zeigt sich, wie tief im Bewusstsein aller Berliner die Frage der Einheit der Stadt verwurzelt ist, gleichgültig von welchem politischen Standpunkt aus er [der Berliner] das sieht. Jede Veränderung im Verkehr zwischen Osten und Westen hat regelmäßig in der Bevölkerung große Diskussionen hervorgerufen, ganz abgesehen von den Wirkungen, die diese Frage in der Belegschaft der BVG selbst hat.“152 Diese Erkenntnis des Ost-Berliner Verkehrsstadtrates, der faktisch die Problemsicht des Senats teilte, zeugt vom Realitätssinn einer Reihe von Ost-Berliner Politikern und Funktionären. Gewachsene Gemeinsamkeiten – soweit sie den Zielen der Machtsicherung nicht widersprachen – wollten sie offenbar nicht brutal auflösen. Der Stadtrat war sich des daraus resultierenden Widerspruches bewusst, der sich vor allem im Bereich der U- und SBahn auftat.153 Ökonomisch spielten sie innerhalb des Berliner Verkehrs die herausragende Rolle. Doch gab nur die U-Bahn als gemeinsames Unternehmen bei Verhandlungen zwischen beiden Teilen der BVG ein Thema ab. Denn die S-Bahn stand unter dem Dach der Deutschen Reichsbahn.154 Bis zur Mitte der 50er Jahre hatte sich bei der U-Bahn nach einer ungeregelten Übergangszeit155 eine probate Arbeits- und Kostenteilung herausgebildet.156 Sah man von kleineren Vorfällen ab, 152 „Der Verkehr über die Sektorengrenzen“. Abteilung Verkehr des Magistrats (Frenzel) an die SED-BL, Abteilung Wirtschaftspolitik, 28.12.1954, in: ebd., C Rep. 114, Nr. 167. 153 Wenn einerseits die Haltung der Berliner eine unumstößliche Tatsache sei, so dürfe auf der anderen Seite nicht übersehen werden, „daß dem Gegner durch die zwischen Osten und Westen verkehrenden Verkehrsmittel ein Einfallstor in den demokratischen Sektor offensteht, das für ihn wichtig ist. Es muss auch darauf hingewiesen werden, daß die Belegschaft der U-Bahn der BVG des demokratischen Sektors sehr stark vom Westen her politisch beeinflusst wird […] und schließlich erweisen sich U-Bahn und S-Bahn als Hauptwege für den illegalen Warenverkehr von Osten nach dem Westen.“ Ebd. 154 Vgl. zum Problem Reichs- und S-Bahn nach 1948: Burghard Ciesla, Als der Osten durch den Westen fuhr. Die Geschichte der Deutschen Reichsbahn in Westberlin, Köln/Weimar/Wien, S. 77–123. 155 Nach der administrativen Teilung sei „eine Abgrenzung des beiderseitigen Aufgabengebietes“ erforderlich gewesen, aber ein von der West-BVG angefertigter Protokollentwurf „über die gegenseitig getroffenen Abmachungen“ nicht schriftlich bestätigt worden. Die Verrechnung der Leistungen war dann „stillschweigend und zugunsten der Ostseite erfolgt“, berichtete die West-BVG ohne Angabe konkreter Daten. Schreiben der BVG (West) an den Senator für Verkehr und Betriebe, 11.3.1952, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1857, Nr. 3104–3108. 156 Jede Seite war verantwortlich für die Instandhaltung der Gleise auf ihrem Territorium; die Fahrzeuge wurden in der Regel von der West-BVG unterhalten. Das befreite die Ostseite in dieser Sache von permanenten Materialschwierigkeiten. Die für die DDR entstehenden Kosten wurden nach 1953 mit den Leistungen ihrer Stadtentwässerung für West-Berlin

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war sie auch deshalb beinahe problemlos, weil sich die Betreiber an ihre Absprachen hielten.157 Nach dem 17. Juni 1953, der vorübergehend zu einem Rückgang der U-Bahnnutzung durch die West-Berliner geführt hatte158, schien sich die technische Kooperation weiter zu verbessern. Die SED nahm die West-Berliner U-Bahnleistungen insbesondere beim Einsatz der sich zu zwei Dritteln (1953) in westlichem Besitz befindlichen Wagen auch deshalb gern in Anspruch, weil sie vergeblich auf die Lieferung von Waggons aus sowjetischen Reparationsbeständen wartete.159 Nach dem 17. Juni 1953, als der Neue Kurs in der DDR auch die innerdeutschen Beziehungen zu entspannen versprach, dachten beide Berliner Seiten sogar über neue gesamtstädtische U-Bahnprojekte nach. Atmosphärisch mag zu den beiderseitigen Informationen und ersten Planungsabsprachen160 auch das wachsende gegenseitige Vertrauen der mit dieser Sache befassten Behörden und Technikern beigetragen haben, wohl aber auch der gemeinsame Wunsch, Berlin

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verrechnet (1956: Stadtentwässerung 1,3 Mio., U-Bahn 952.800 Westmark). Vgl. ebd., Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 80. Kleine Reibereien, die dadurch entstünden, dass „von der einen oder anderen Seite“ Propagandamaterial in die Wagen gelegt werde, die in den jeweils anderen Sektor hinüberfahren, „fielen nicht ins Gewicht, zumal solche Fälle zu unserer Kenntnis kommen und die Ostseite durch sofortige Taten bewiesen hat, daß sie die vereinbarte Handlungsweise, wonach man gegenseitig politische Propaganda in den über die Sektorengrenze hinausfahrenden BVG-Verkehrsmitteln vermeiden soll, einzuhalten beabsichtigt“. Schreiben der BVG (West) an den Senator für Verkehr und Betriebe, 11.3.1952, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1857, Nr. 3104–3108. Während die U-Bahnen im Berufsverkehr überfüllt seien, nehme ihre Benutzung durch West-Berliner „unter Einwirkung der politischen Situation“ tagsüber – besonders aber abends – deutlich ab. Vgl. „Bericht über die Lage des BVG-Verkehrs“, 9.11.1953, in: ebd., C Rep. 114, Nr. 167. Die UdSSR hatte der S-Bahn (durch Kauf) 118 Wagen aus Reparationsgut zurückgegeben. Da sie in der Sowjetunion keine Verwendung gefunden hatten, hoffte die OstBerliner Verwaltung, dass auch die 120 „als Reparation abgegebenen U-Bahnwagen“ zurück nach Berlin kämen. „Die Rückgabe würde die Verkehrssituation im demokratischen Sektor sehr erleichtern.“ „Entwicklung, Stand und Perspektiven der BVG“, 9.11.1953, in: ebd. Die Konsultationen knüpften an ältere gesamtstädtische U-Bahnplanungen an. So wollte West-Berlin u.a. die Linie Weißensee – Potsdamer Platz bis Steglitz fortführen sowie eine neue Verbindung von Lichterfelde nach Moabit (über Bundesallee und Zoo) schaffen und alle übrigen Strecken verlängern. Der Magistrat plante den Neubau (ab 1956) der Trasse Weißensee – Potsdamer Platz und Verlängerungen (Linie A bis Schönhauser Allee – Nordend, Linie C über Friedrichsfelde bis Karlshorst, Linie E vom Alexanderplatz nach Moabit und Linie B von Warschauer Brücke über Bersarinstraße, Dimitroffstraße, Eberswalder Straße nach Moabit) sowie die „Schließung zum Ring über den Großen Stern und Nollendorfplatz“. Ebd.

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wieder zu einer echten Weltstadt auszubauen. Ebenfalls ist anzunehmen, dass die politischen und technischen Projektanten über gegenläufige strategische „Ernstfall“-Planungen der Sowjets und der SED-Führung nicht bzw. unzulänglich informiert waren oder aber mit dem östlichen „Tauwetter“ die Zeit ständiger Konfrontation in der Tendenz für beendet hielten. Ost-Berliner Politiker zogen zudem eine eindrucksvolle, auch finanziell attraktive Verkehrsbilanz.161 Inzwischen hatte sich auch der Fahrpreismodus eingespielt, und die Berliner wussten mit ihm umzugehen.162 Auch der Westen hob den reibungslosen innerstädtischen BVG-Verkehr immer wieder hervor, insbesondere die einvernehmliche Aufstellung der Fahrpläne.163 Ebenso verlief die Abstimmung mit der auch betriebstechnisch durch die DDR betreuten S-Bahn relativ konfliktarm. Allerdings konstatierte der Senat ab 1955 zunehmend technische Mängel auf verschiedenen Streckenabschnitten. So seien die Gleisanlagen zwischen Spandau und Pichelswerder „betriebsgefährlich“. Auch schaltete sich gelegentlich die West-Berliner Währungsüberwachungsstelle bezüg161 Seriösen Statistiken zufolge beförderte die U-Bahn allein von Ost nach West jährlich etwa 38 Mio. Fahrgäste (über 100.000 täglich). Die Einnahmen betrugen pro Kalenderjahr 6,2 Mio. Ostmark. Der Verkehr in umgekehrter Richtung war etwa gleich stark, wurde aber vom Magistrat nicht bilanziert, da das Fahrgeld im Westen entrichtet wurde und ihm zustand. Die grenzüberfahrenden Straßenbahnen (Linien 3, 74, 95, 96) hatten der DDR (bis 1953) jährlich 62.000 Ostmark eingetragen. Vgl. „Der Verkehr über die Sektorengrenzen“. Abteilung Verkehr des Magistrats (Frenzel) an die SED-BL, Abteilung Wirtschaftspolitik, 28.12.1954, in: ebd. 162 Ost-Berliner erhielten bei der West-BVG, die im Monatsdurchschnitt etwa 1,8 Mio. „Ostfahrscheine“ ausgab, einen Rückfahrschein in den Ostsektor für 30 Ostpfennige. Das sah die Ost-BVG nicht gern, wollte sie doch, dass die Bewohner des sowjetischen Sektors ihre Rückfahrkarten bei ihr erwarben, und auch der West-BVG entstanden durch dieses Prozedere Währungsverluste (1956: Juli 397.000, August 426.000, September 377.000 Westmark). Aber auch West-Berliner machten von dieser Regelung illegal Gebrauch, was „kaum zu kontrollieren sei“, weil an den Kassen nicht immer nach den Ost-Personalausweisen gefragt würde. Ebd. Die Tarifgestaltung spiegelte (auch aus westseitiger Sicht) eine enge Verbindung der beiden BVG-Teile wider. Prinzipiell galten in WestBerlin gelöste Fahrscheine auch für die Fahrt in den Osten, und ebenso hatten die dort gekauften Tickets auf den Strecken in den Westsektoren Gültigkeit. Nachzahlungen wurden nicht verlangt. Auch Monatskarten „galten über die Sektorengrenzen hinweg“. Umsteiger zur Straßenbahn besaßen jedoch nur innerhalb des betreffenden Währungsgebietes Gültigkeit. Übergangsfahrscheine zwischen U- und S-Bahn wurden (seit Mai 1954) nur im Ostsektor ausgegeben. Verärgert zeigte sich die West-BVG über West-Berliner, die zu Fuß über die Sektorengrenze in den Ostteil Berlins gingen, „um drüben gegen Ostgeld ihre Fahrt in die Westsektoren anzutreten“. Schreiben des Verkehrssenators Theuner an den Reg. Bgm. Suhr, 22.2.1955, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 8631/1. 163 Vgl. ebd.

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lich von Reklameverträgen mit der Deutschen Reichsbahn ein. Deren Fahrpreisregelung unterschied sich zwar von der im BVG-Bereich, hatte mit ihr aber auch „Unregelmäßigkeiten“ gemeinsam, die zu einer zusätzlichen Konkurrenz für die West-Berliner Seite führten.164 Auch einige andere technische Fragen normalisierten sich nach 1953. Dabei besaßen die sowjetischen Direktiven nach wie vor eine Schlüsselfunktion.165 Wie bereits angedeutet, verlor beispielsweise das zeitweilig brisante Thema Stromversorgung an Bedeutung. Da der Stromaustausch zur Marginalie geriet und der DDR kaum Devisen einspielte, schlossen beide Teile der BEWAG lediglich einen Vertrag „auf gegenseitige Hilfeleistung bei längerem Stromausfall“.166 Unspektakulär blieb auch der geringe Austausch von Stadtgas. Nur die Wasserversorgung machte zeitweilig noch Schlagzeilen. Im Normalfall ebenfalls nicht umfangreich167, führte die Hitzewelle im Juli 1957 zu Trinkwasserproblemen im WestBerliner Stadtbezirk Neukölln. Als die West-Berliner die Ost-Berliner Wasserwerke um Hilfe baten, versorgte das große Werk Johannisthal das westsektorale Notstandsgebiet mit täglich 7.000 Kubikmeter Wasser. Es trübte sich durch eine Pressekampagne auf beiden Berliner Seiten ein, als der Magistrat offenbar unrichtige Angaben über die Höhe der Lieferungen machte und eine Polemik gegen die West-Berliner Wasserwirtschaft begann, nachdem die West-BEWAG die in ihrer Sicht überhöhten Zahlungsforderungen abgelehnt hatte.168 Hingegen blieb das 164 Ostbewohner konnten die in ihrem Sektor in Ostmark gekauften S-Bahn-Fahrkarten, einschließlich Rückfahrkarten, auf allen Berliner Strecken benutzen. Unterbrachen sie die Fahrt in West-Berlin, wollten aber mit der S-Bahn weiterbefördert werden, mussten sie ihre Fahrkarte in Westmark bezahlen. Denn es galt prinzipiell, dass in den Westsektoren S-Bahntickets nur gegen Westmark erworben werden durften. Da aber West-Berliner ihre Fahrkarten im Ostsektor unkontrolliert kaufen konnten, nutzten sie diese illegale Möglichkeit aus. Durch den billigen Fahrpreis (20 Pfennige) sei die S-Bahn eine „starke Konkurrenz“ geworden, merkte das Gesamtberliner Büro an. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 80. 165 Vgl. „Bericht des Magistrats über „Spaltungsmaßnahmen der BVG-West“ an die SKK, 15.1.1953, und Schreiben des Magistrats an die SKK, 18.4.1953, in: ebd., C Rep. 114, Nr. 167. 166 Stromlieferungen reduzierten sich auf so genannte „Grenzstromlieferungen“ für grenznahe Bereiche, die vom Stadtbezirk Mitte und der Energiewirtschaft Potsdam zum Gegenwert von jährlich etwa 20.000 Westmark erbracht wurden. Darüber hinaus versorgte die Deutsche Reichsbahn in West-Berlin gelegene Bahnhöfe, Werkstätten u.a.m. mit OstEnergie. Vgl. ebd., Bl. 71. 167 Vgl. ebd., Bl. 84. 168 Die Ost-Berliner Wasserwerke hatten nach West-Berliner Erkenntnissen etwa 30.000 Kubikmeter Wasser nach Neukölln gepumpt, der Lieferant sprach aber von 75.000 und verlangte dafür 10.000 Westmark. Der Magistrat begründete die mögliche „Schummelei“

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Geschäft mit den „trüben Wassern“ von Anfang an klar und durchschaubar: Die West-Berliner Abwässer gelangten auf die im Ostteil der Stadt gelegenen Rieselfelder169, und der DDR wurden dafür Westmarkwerte (jährlich 1,3 Mio. DM) als Äquivalent für die vom Westen erbrachten U-Bahn-Leistungen gutgeschrieben. So zeigte sich der östliche Staatshaushalt in hohem Maße an einem reibungslosen Geschäft interessiert, und auch aus diesem Grunde stellte die SED-Politik diesen Deal nie in Frage.170 Diesmal war es der Senat, der aus politischen Gründen eine Trennung des Abwassersystems zu planen begann. Dahinter stand die Befürchtung, dass die östliche Seite „aus unvorhersehbaren Gründen“ eines Tages die Übernahme der West-Berliner Abwässer verweigern könnte und damit eine „ernste Gefährdung“ für die Bevölkerung eintrete. So behandelte der Senat den Bau eigener Kläranlagen als ein Projekt von „politischer Bedeutung“, dem er die gleiche Dringlichkeitsstufe wie die „Bevorratung Berlins“ zumaß.171 Es scheiterte an der Kostenfrage. In den 50er Jahren wurde das Für und Wider größerer stadttechnischer Investitionsvorhaben immer auch von der Überlegung berührt, ob eine mit dem schlechten Zustand des West-Berliner Rohrsystems. Man habe große Mengen des gelieferten Wassers zum Säubern der völlig verschlammten Rohre benutzen müssen, „damit die Bevölkerung [in Neukölln] nicht eine jaucheähnliche Flüssigkeit, sondern einwandfreies Trinkwasser erhält“. So müssten die West-Berliner wissen, „in welch katastrophalem Zustand sich die Hauptspeiseleitungen auf westberliner Gebiet befinden“. Demgegenüber seien die Rohrleitungen im „demokratischen“ Sektor „ständig in einem einwandfreien Zustand“. Vgl. Die Darstellung des Westens in: ebd., Nr. 2166, Bl. 66 und die des Magistrats: Fernschreiben des stellvertretenden OB Schmidt an alle Ost-Berliner Bezirksbürgermeister, 20.7.1957, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 181. 169 Das von James Hobrecht zu Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts konzipierte Berliner Entwässerungssystem, das für viele Großstädte der Welt zum Vorbild wurde, bildete noch eine technische Einheit. Etwa 90 Prozent der West-Berliner Abwasser gelangten über Druckrohre und Pumpstationen ins insgesamt 18.000 ha große Rieselfeld OstBerlins. Der Westteil der Stadt verfügte nur über eine kleine Fläche (Karolinenhöhe). 170 Es bestand immer ein enger Kontakt zwischen den damit befassten Ost- und WestBerliner Dienststellen. Dem Senat wurde von persönlichen Beziehungen der Verantwortlichen berichtet, die sich in West-Berlin zu Gesprächen träfen. Probleme würden schnell und unbürokratisch gelöst. Der Kubikmeterpreis für Abwässer aller Art war einvernehmlich auf 1,3 Westpfennige festgelegt worden. Dafür übernahm die DDR vertraglich auch Wartungsarbeiten (Reparaturen, Reinigung, Entkrautung der Rohre u.a.m.) Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 69. 171 Außerdem sei die vorhandene Entwässerungstechnik überholt. Sie vergrößere die Gefahr der Nitratbelastung des Grundwassers und müsse insgesamt modernisiert werden. WestBerlin benötige drei Klärwerke, die 1954 mit 87 Mio. Westmark veranschlagt wurden, ein Jahr später bereits mit 99,3 Mio. Vgl. Schreiben des Senators für Verkehr und Betriebe (Ullmann) an den STS im Bundeswirtschaftsministerium (Westrick), 7.2.1954, in: ebd., B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408.

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mögliche Wiederherstellung der Einheit Berlins sie nicht überflüssig machten. Was von beiden Seiten im Propagandakrieg als Beweis für aggressiv-expansionistische Ziele ausgelegt wurde, war häufig nur die, freilich nie unpolitische, Frage, was denn in diesem „Ernstfall“ mit den separaten Stadtwirtschaftsbereichen geschehe und ob sich die jeweilige andere Seite nicht gegen eine Übernahme wehren würde.172 Im Alltag war von solchen Eventualitäten wenig zu spüren. Die Berliner wollten Normalität, so eigenartig sie sich auch gestalten mochte. Vor allem verlief der für sie so wichtige Postverkehr „reibungslos“.173 Kleinere Querelen entstanden eigentlich nur in der West-Berliner Verwaltung; so stritten sich 1960 der Senator für Bundesangelegenheiten mit der Landespostdirektion darüber, ob Briefsendungen weiter mit der S-Bahn transportiert werden dürften oder aber nicht.174 172 So führte die Hauptverwaltung der West-Berliner Gaswerke gegenüber dem Büro für Gesamtberliner Fragen an, dass man im Fall der Wiedervereinigung „ohne weiteres in der Lage (sei)“, die Ost-Berliner Gaswerke zu „übernehmen“. Denn es stünde „uns genügend fachlich geschultes Personal zur Verfügung“, und die „Betriebsweise (sei) genau bekannt“. Doch könne „von der Gegenseite“ nicht nur an den empfindlichen Stellen der Werke, sondern auch praktisch an jeder Maschine und jeder Apparatur „Sabotage“ geübt werden. „Wir rechnen nicht damit.“ „Auch die Verwaltung und das Rechnungswesen können zügig eingegliedert werden; es sei denn, daß Bücher und Belege vernichtet werden. Ihr Ersatz wäre aber möglich, wenn auch nur durch mühsame Klebearbeit. Wir haben darin Übung“ (Gemeint war die Situation der Spaltung der Stadtwirtschaft 1949). Schreiben, 6.3.1952, in: ebd., B Rep. 003, Acc. 1857, Nr. 3104–3108. 173 Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156. 174 Das Büro vertrat die Auffassung, dass durch die „Beförderung der Briefzusteller mit der SBahn eine Gefährdung der Postbenutzer“ einträte. Die Landespostdirektion widersprach: Diese Befürchtung gründe sich auf die Annahme, „daß ein Zusteller versehentlich versäumen könnte, die S-Bahn vor Erreichung der Sowjetzone zu verlassen“. Dem sei man aber von Anfang dadurch begegnet, dass immer mehrere Zusteller gemeinsam die S-Bahn benutzen und es streng untersagt sei, „daß ein einzelner Zusteller mit der S-Bahn in sein Revier fährt“. Überdies könne die oberste Postbehörde nicht erkennen, „welches Interesse die sowjetzonalen Organe an der einmaligen und rein zufälligen Erlangung von Post, die […] überwiegend für private Personen anfällt, überhaupt haben könnten […]. Eine Einzelaktion ließe sich auch im Wege des Straßenüberfalls auf einen bestimmten Zusteller durchführen, ohne daß dieses […] verhindert werden könnte.“ Die Erfahrung lehre, dass der Postbetrieb auch in der Nähe der Sektoren- und Zonengrenze „ohne den geringsten Zwischenfall abgewickelt worden ist“. Schreiben der Landespostdirektion an den Senator für Post- und Fernmeldewesen, 16.5.1960, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2069. Doch musste die Landespostdirektion, nachdem auch der Senator für Bundesangelegenheiten sich in dieser Frage gegen sie gestellt hatte, ihre Ämter anweisen, von der Benutzung der S-Bahn Abstand zu nehmen. Vgl. Schreiben der Landespostdirektion an den Senator für Post- und Fernmeldewesen, 26.10.1960, in: ebd.

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Hier zeigte sich im Kleinen, dass auch in der technischen Verwaltung des Westens vernünftiges pragmatisches Denken in einen Gegensatz zu den Sicherheitsdoktrinen des Kalten Krieges geriet. 1.2.5 Die Kooperation von Polizei, Justiz und Behörden Die den beiden Seiten mehr oder weniger aufgezwungene „Vernunftkooperation“ funktionierte, für viele überraschend, im Polizeibereich am besten. Der OstBerliner Polizeipräsident hatte ihre Notwendigkeit nach der Berlinkrise „konservativ“, aber plausibel begründet: Die Spaltung der Polizei habe „in erster Linie den Gesetzesübertretern gedient und verhindert, daß die Kriminalität in Berlin durch einheitliche polizeiliche Maßnahmen gesenkt wurde. Das Ansehen der Polizei als ein Instrument der Ordnung muss in den Augen der Bevölkerung sinken, wenn sie täglich erlebt, daß die Polizei der verschiedenen Sektoren nicht nur neben-, sondern sogar gegeneinander arbeitet.“175 In Kenntnis der Auffassung seines WestBerliner Amtskollegen schlug er u.a. einen Arbeitsausschuss auf sektoraler Ebene für ganz Berlin und die Wiederherstellung der gekappten Fernschreibverbindungen sowie konkrete Kooperationsbeziehungen zwischen allen Polizeidisziplinen, in erster Linie der Kriminalpolizei, vor.176 Zwar kam es nicht zur Bildung von gemeinsamen Gremien, doch stimmten sich die Polizeiführungen u.a. bei informellen Treffs über wichtige gemeinsame Maßnahmen ab und setzten sie in der Regel auch durch. Im November 1950 staunte sogar die amerikanische Besatzungsmacht über die professionelle Zusammenarbeit der Ordnungshüter aus Ost

175 Vertraulich. Der Polizeipräsident in Berlin: „Arbeitsplan zur Durchführung der polizeilichen Arbeit in Gross-Berlin“, 17.8.1949, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 473. 176 Eine zu schaffende „Kriminalpolizeizentrale“ müsse über alle Nachrichtenmittel verfügen und allen Dienststellen die notwendigen Anweisungen geben, „die sofort befolgt werden“. Schließlich sei es nicht hinnehmbar, dass getrennte Präsidien es vielen Rechtsbrechern ermöglichten, „sich nach Überschreitung der Sektorengrenze der weiteren Strafverfolgung zu entziehen“. Im Übrigen sollten nicht nur die Fernschreibverbindungen wieder hergestellt werden, sondern auch die telefonischen „Querverbindungsleitungen“. Der Polizeipräsident in Ost-Berlin plädierte auch für einheitliche Berliner Personalausweise sowie einheitliche Kennzeichen der Kraftfahrzeuge. Die Arbeit der Schutzpolizei könne durch die „Schaffung der Freizügigkeit in der Verfolgung auf frischer Tat“, durch die Koordinierung der gemeinsamen Arbeit an den Schnittpunkten der Grenzen und die Hebung der Verkehrsdisziplin in ganz Berlin verbessert werden, meinte er, aber auch die Wirksamkeit der Verwaltungspolizei durch Gemeinsamkeiten auf den Gebieten Pass- und Meldewesen, Ausländer und Staatenlose sowie Gewerbekontrolle. Schließlich würde auch die Ausgabe einheitlicher Fernsprechverzeichnisse die Sicherheitslage verbessern. Ebd.

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und West.177 Einige Jahre später würdigte der Senat deren intensivierte Zusammenarbeit bei der Verbrechensverfolgung und Hilfen für die Bevölkerung – vor allem bei Krankheits- und Todesfällen. Durch 31 Gesamtberliner Polizeitreffen sei im Zeitraum von 1955/56 eine „sachliche Kooperation“ zustande gekommen, die sich insbesondere bei der Aufklärung von Mord- und Raubdelikten sowie von Brandstiftungen und Schrottdiebstählen bewährt habe.178 Dabei spielte sicherlich eine systemübergreifende Polizei-Solidarität eine Rolle, die von der Ost-Berliner SED-Führung nicht gern gesehen wurde. Als sich der Kalte Krieg nach 1956 wieder zu verschärfen begann, sah sie sich aus ideologischen Gründen genötigt, gegen das „Versöhnlertum“ bei der Volkspolizei vorzugehen, das „bis in die Kaderabteilung des Präsidiums“ reiche, und Maßnahmen gegen die Westaffinität von Polizeiangestellten und ihren Familien zu ergreifen.179 Dennoch blieb die intersektorale Zusammenarbeit der Polizei bis zum Mauerbau im Wesentlichen erhalten. Im Kontrast dazu stellten gemeinsame Einsätze der Feuerwehren von Ost und West eine Ausnahmeerscheinung dar. So ergab sich gelegentlich das eigenartige Bild, dass bei Bränden nahe der Sektorengrenzen Feuerwehren auch aus dem jeweils anderen Teil der Stadt zwar anrückten, aber aus hoheitsrechtlichen Gründen über die Grenzlinie hinaus nicht eingreifen konnten, „obwohl sie vor Ort ihre Hilfe anboten“.180 Auch so griff der Kalte Krieg immer mehr in den Alltag administrativer Entscheidungen ein. Dem standen wiederum teilweise reibungslose 177 Geradezu begeistert berichteten die Medien von gemeinsamen Aktionen der West- und Ostpolizei bei der Verfolgung von Bankräubern quer durch Berlin: Verbrecher hatten in Ost-Berlin ein gepanzertes Auto überfallen, in dem das Geld eines HO-Ladens transportiert wurde, und dabei einen Bankboten und einen Volkspolizisten getötet. Die spektakuläre Aktion endete mit der Verhaftung der Räuber im amerikanischen Sektor. Vgl. Office der HICOG, Berlin Element, Public Relations Branch, 8.11.1950, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3363/1. 178 Vgl. Berlins West-Ost-Problem, Stand: 15.12.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 48. 179 So wurde kritisiert, dass die SED-Grundorganisation des VP-Präsidiums „in völliger Verkennung ihrer Aufgaben“ keine Einschätzung über den politisch-moralischen Zustand ihrer Mitarbeiter vorgenommen habe und „blind“ gegenüber negativen Tendenzen sei – „angefangen von einfachen ideologischen Unklarheiten […] über Erscheinungen der Aufweichung und des Revisionismus bis hin zu offener Parteifeindlichkeit“. Gleich eine ganze Gruppe der III. VP-Bereitschaft würde West-Berliner Kinos besuchen, andere träfen sich regelmäßig mit Bekannten privat in West-Berlin und viele Polizistenehefrauen kauften dort auch ein. Abteilung Sicherheitsfragen der SED-BL: „Bericht über die Ergebnisse der Überprüfung der verkehrspolizeilichen Arbeit im Bereich des Präsidiums der Volkspolizei Berlin in der Zeit vom 2.-14.6.1958, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 337, Bl. 73f. 180 Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 20.

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Kontakte im Rechtswesen gegenüber. Allen voran gaben die Amtsgerichte gegenseitigen Rechtshilfegesuchen in der Regel statt, „soweit die Dinge nicht ins Politische gehen“. Dazu gehörte auch die Überstellung von Gesetzesbrechern. WestBerliner Anwälte waren an Ost-Berliner und Ost-Berliner Rechtsvertreter in West-Berliner Gerichten tätig, ebenso arbeiteten in einigen Fällen auch die Staatsanwaltschaften zusammen, insbesondere aber die Standesämter.181 Westsektorale Rechtsanwälte unterhielten im Ostteil der Stadt bis weit in die 50er Jahre hinein noch private Praxen182, die sich vorrangig dem Zivilrecht widmeten. Sie beschäftigten sich häufig mit Erbschaftssachen. Da in beiden Teilen Deutschlands und Berlins noch das gleiche Erbrecht galt, war beiderseitiges Erben prinzipiell möglich. Schwierigkeiten bereitete lediglich das Ost-Berliner Verbot, geerbtes Bargeld von dem einen in das andere Währungsgebiet zu verbringen; der Begünstigte konnte jedoch beim Ost-Berliner Stadtkontor ein „Westsektorenkonto“ einrichten und durfte, wenn er Ostgeld erbte oder durch Nachlassverkauf erwarb, anfallende Erbschaftssteuern und Gebühren in dieser Währung begleichen.183 Vergleichsweise intensiv und in der Form korrekt arbeiteten die separaten Berliner Behörden in Jugendfragen zusammen184, während die Jugendgerichtshilfe, außer in Strafsachen, ihre Kontakte 1952 abgebrochen hatte, sie aber 1958 – zögerlich – wieder aufnahm.185 So zeigte sich, dass die zweite Berlinkrise (1958 bis 1963) auch in wichtigen Amtshilfe-Bereichen kaum negative Wirkungen besaß. Diese Art von Zusammenarbeit funktionierte trotz partieller Rückschläge über den Mauerbau hinaus. Im wechselseitigen Amtshilfeverkehr vermittelten Dienststellen, Bildungseinrichtungen, Archive, Universitäten u.a.m. auf Anfragen hin Informatio181 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.6.1956, in: ebd., Nr. 2154, Bl. 31. 182 Über deren Entwicklung ist wenig bekannt. Für den April 1953 lassen sich noch 45 in Ost-Berlin tätige Rechtsanwälte aus dem Westen ausweisen. Vgl. ebd., Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 208. 183 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 11. 184 Hier waren besonders die Ost-Berliner Verantwortlichen aktiv, die sich bei den WestBerliner Stellen in Jugendangelegenheiten meldeten, ihnen sozialfürsorgliche Berichte sandten und gelegentlich sogar zu Gesprächen sowie Verhandlungen nach West-Berlin kamen. Ost-Berliner Fürsorgeeinrichtungen beantworteten Anfragen „stets korrekt und sachlich“, lobten die West-Berliner Behörden. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., Nr. 2154, Bl. 34. 185 Die Ursachen für den Abbruch lagen vorrangig im Westen. Die einzelnen Bezirksämter besaßen kaum ein Interesse an Kontakten, die sie auch nicht massiv wieder aufleben lassen wollten. Nähmen sie an Ost-Berliner juristischen Verhandlungen teil, so müsse man damit rechnen, dass die östliche Seite entsprechende Gegenleistungen verlange, lautete die Begründung. So lehnte man auch jede „Berührung in schriftlicher Form mit Dienststellen der SBZ oder Berlin (Ost)“ ab. Vgl. ebd., Nr. 2157, Bl. 28.

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nen, insbesondere zur Unterstützung von Versicherungsträgern. Diese Anfragen wurden, wie der Senat bestätigte, „in der Regel einwandfrei“ beantwortet.186 Pragmatismus überbrückte auch hier einige Klüfte des Kalten Krieges und politische Not machte erfinderisch – manchmal mit heiteren Zwischentönen.187 Anderes wurde „administrativ“ toleriert. Ein Beispiel von einiger Bedeutung bildete das noch zu erörternde Lohnausgleichsverfahren für die Grenzgänger in beiden Berliner Richtungen, ein anderes – im Ätherkrieg erstaunliches – diskrete Absprachen zwischen Ost-Berliner Staatlichem Rundfunkkomitee und SFB.188 Die Tendenz zu einem eher vorsichtigen Umgang miteinander verstärkte sich in dem Maße, wie pragmatische Fragen zu einer Lösung drängten, auch wenn sie politisch und ideologisch von einiger Brisanz schienen. Dabei spielte immer die Erfahrung eine Rolle, dass Restriktionen der Einen zu Repressionen der Anderen führten. So bewegten sich auch schwierige Genehmigungsverfahren oft zwischen den Polen pragma186 Das betraf vor allem Pensions- und Rentensachen wie Versorgungsfragen überhaupt. Vgl. „Kontakte zwischen den Behörden des Landes Berlin und Dienststellen in der Sowjetzone und im Sowjetsektor von Berlin“, undat., offenbar Frühjahr 1961, in: ebd., Acc. 2404, Nr. 314. 187 Weil es keine Telefonverbindungen mehr gab, verständigte sich die geteilte Post schriftlich oder schickte Fahrradboten hin und her; die BVG kommunizierte über das interne Betriebstelefonnetz der U-Bahn und die Bundesbahn mit der Reichsbahn über S-BahnFernsprecher. Da auch zwischen den West- und Ostteilen der BEWAG und GASAG keine Telefonverbindung mehr bestand, aber der fachliche Kontakt „unbedingt notwendig“ war, tauschten auch sie, wie ebenfalls die Wasserwerke, Kuriere aus. Gerade die Stadtentwässerung, die im hohen Maß „aufeinander angewiesen“ war, fand Kommunikationsmöglichkeiten. Immer wieder zwangen alltägliche Unstimmigkeiten im Verkehrswesen und in den Versorgungssystemen zu schnellem Handeln. Nicht zuletzt mussten Differenzen im Schiffsverkehr und bei der Instandhaltung der Wasserwege zügig ausgeräumt werden. Der wichtigste Platz für inoffizielle Behördenkontakte bildete die so genannte „Schleuseninsel“ im Tiergarten. Sie war deshalb ein „neutraler Punkt“, weil sie einerseits im Westsektor lag, aber andererseits der Verwaltung des Ostmagistrats unterstand, der alle Schleusen im Stadtgebiet beaufsichtigte. Hier trafen sich die Abgesandten vieler gleichgelagerter Ostund West-Berliner Verwaltungsressorts diskret und zeigten, wie die Beamten des Bausenators berichteten, „zahlreiche Berührungspunkte mit ihren Fachkollegen im Osten“. Hingegen beschränkten sich die beiden Zollverwaltungen auf Kontakte „durch Zuruf“ unmittelbar an den Sektorengrenzen oder auf den Austausch von „inoffiziellen Briefen“ an den Interzonen-Kontrollpunkten. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1958, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 34. 188 Bei Bedarf wandte sich das Komitee an den SFB mit der Bitte um Schaltungen von Leitungen. Der Sender beantragte sie bei der Landespostdirektion, die dann das WestBerliner Funkamt beauftragte, die Schaltungen mit den „zuständigen Stellen der SBZ“ vorzunehmen. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand vom 15.3.1957, in: ebd., Nr. 2155, Bl. 48.

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tischer Rücksichtnahme und Unterbindung von „Feindpropaganda“. Das ließ sich am Beispiel von westlichen Genehmigungen für den „DEFA-Augenzeugen“ besonders deutlich erkennen.189 1.2.6 Symbolische Aktionen und verschenkte Möglichkeiten Ambivalenzen in der Kontaktfrage zeigten sich bei publikumswirksamen Aktionen. So plädierte die Kulturabteilung des Magistrats für die Übergabe der in OstBerlin eingelagerten Teile (Trinkschale und allegorische Figuren) des 1951 am Lietzensee aufgestellten Schiller-Denkmals „als Geschenk an den Westmagistrat anlässlich des Schillerjahres“ (1955).190 War das noch ein weitgehend unpolitischer Akt kulturellen Gemeinschaftssinns gewesen, brachte die vom Senat ermöglichte Wiederaufstellung der Schadow’schen Quadriga auf das Brandenburger Tor (August 1959) für die SED ein politisch-ideologisches Problem mit sich. Denn bei dieser sich seit 1956 hinziehenden spektakulären Angelegenheit konnte sich der Senat am Ende als großzügiger Spender (des in West-Berlin gegossenen Kunstwerkes) darstellen und den Akt gleichzeitig als eine symbolträchtige Geste für die Einheit Berlins glaubhaft machen. Die SED-Führung hatte diese Dimension offenbar unterschätzt, konnte die Aktion aber mit Rücksicht auf die Öffentlichkeit und auf die eigenen Pläne zur Restaurierung des historischen Stadtzentrums nicht beenden. So beschloss sie, alle Versuche des Senats, die Quadriga als Symbol für die Unteilbarkeit Berlins zu betrachten, zu konterkarieren und als eine Art ideologischer Gegenmaßnahme westlich des Brandenburger Tors zwei große Fahnenmaste aufzustellen, „auf denen die rote und die schwarz-rot-goldene Fahne aufgezogen 189 Als die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ beim Senat die Drehgenehmigung für ein Autorennen auf der AVUS beantragte, neigte die zuständige Senatsverwaltung dem Ersuchen zu: Einerseits habe man in gleicher Sache bereits in den Vorjahren positiv entschieden, andererseits sei westlichen „Wochenschauen“ die „Aufnahme von Ereignissen im Ostsektor von Berlin“ nicht verwehrt gewesen. „An dem Festhalten an dieser Gegenseitigkeit haben wir m.E. ein besonderes Interesse“, meinte der zuständige Ressortchef. Überdies sollte man „in dieser Richtung“ vorhandene Beziehungen nicht abbrechen oder gar durchschneiden, „wenn nicht konkrete politische Gesichtspunkte […] dies erfordern. Da es sich bei der Wochenschau nur um unmittelbare Aufnahme an Ort und Stelle handelt, dürfte eine Gefahr politischer Propaganda nicht bestehen“, wie das allerdings bei den Reportagen des Rundfunks bei verschiedenen Veranstaltungen im Westsektor der Fall gewesen wäre. Vermerk von Senatsdirektor von Philippsborn, 9.5.1952, in: ebd., B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 141. 190 Abteilung Kultur des Magistrats an den stellvertretenden OB Fechner, 15.10.1954, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 26. Das Original des von Reinhold Begas geschaffenen Kunstwerkes (1871) befand sich bis 1935 auf dem Gendarmenmarkt, wo es 1986 wieder aufgestellt wurde.

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werden“.191 Demgegenüber zeigte der Senat ebenfalls kein sonderliches Interesse an einer Einheitssymbolik, die sich nicht direkt gegen den Osten richtete. Als Suhr die Alliierten bat, einen Teil des geschichtsträchtigen Kontrollratsgebäudes (ehemaliges Kammergericht und Sitz des Alliierten Kontrollrats) für die West-Berliner Justizverwaltung freizugeben, weigerten sie sich: Der Westen dürfe nicht den Anschein einer Beseitigung des letzten Symbols der Einheit erwecken.192 Im Senat versteifte sich der Ablehnungskurs gegenüber solchen Ost-Berliner Offerten, die zumindest auf den ersten Blick vernünftig schienen und die aus einer souveräneren Sicht der Dinge unter dem Gesichtspunkt hätten geprüft werden können, ob sie nicht Ansätze für eine regionale Entkrampfung, vielleicht sogar Vorteile für die West-Berliner, boten. Da die SED zwar offizielle Kontakte als Voraussetzung und als Beweis für die tatsächliche Anerkennung ihres Regimes wollte, sie aber in Kenntnis der West-Berliner Verweigerungshaltung nicht erwartete, konnte sie an den Senat alle nur denkbaren Angebote adressieren, die der dann auch prompt ablehnte. Dieser Ritus nahm dem Senat die Chance, die östliche Seite auf ihre propagandistischen Offerten festzulegen und so möglicherweise auf Verpflichtungen, die ihr auch aus offiziösen Abkommen erwachsen wären. Ausgangspunkte dafür ergaben sich u.a. 1957 aus östlichen Angeboten von Passierscheinen für West-Berliner, die in die Berliner Randgebiete fahren wollten.193 Natürlich waren diese Gestattungsscheine kostenpflichtig, hätten aber 1957/58 zum Testfall für die vom Magistrat angekündigten „Reise-Erleichterungen“ werden können, von denen er sich – offenbar aus Sicherheitsgründen – stillschweigend zurückzog.194 Es fragt sich auch, was geschehen wäre, wenn das Angebot der unter chronischem Devisenmangel leidenden DDR zu umfangreichen Lebensmittellieferungen nach West-Berlin – an erster Stelle Frischmilch – nicht abgelehnt, sondern aus politischen Gründen angenommen worden wäre.195 Es war für Verhandlungen mit der

191 „Trotzig“ wurde angemerkt, dass die Aufstellung der Quadriga und die „Bestimmung des Zeitpunktes hierfür“ allein Sache Ost-Berlins sei. Beschluß des Büros der SED-BL., Protokoll Nr. 4/58 vom 6.3.1958, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 324, Bl. 12. 192 „Vermerk über die Kommandantenbesprechung bei General Gèze am Dienstag, dem 27. März 1956“, 27.3.1956, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 4800. 193 Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156, Bl. 47. 194 Vgl. ebd., Nr. 2158, Bl. 48. 195 Der Magistrat hatte vertraglich vereinbarte Dauerlieferungen von Milch ab dem zweiten Halbjahr 1958 in Aussicht gestellt, der zuständige Senator (Hertz) aber abgelehnt: WestBerlin habe, auch wenn eine teilweise Belieferung „aus seinen alten Einzugsgebieten“ zu begrüßen wäre, trotz der langen Transportwege zu den westdeutschen Milchproduzenten keine Versorgungsschwierigkeiten. Außerdem könne es sich nicht plötzlich „von bewährten Lieferanten“ trennen. Vgl. Schreiben des Ost-Berliner Stadtrats Schneider an Wirt-

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östlichen Seite unter der Bedingung offener Sektorengrenzen eigentlich zu spät, als der Senat über eine Flexibilisierung seiner Position zu verschiedenen Fragen intensiver nachzudenken begann. Einen Anstoß dafür gab der Regierende Bürgermeister mit seiner Kritik am offensichtlichen Desinteresse seiner Verwaltungen am Ostteil der Stadt. Dies müsse sich nun ändern.196 Im Ergebnis der noch keineswegs endgültigen Überlegungen über neue Kontaktanstrengungen gegenüber Ost-Berlin entstand im Februar 1961 ein geheimes dreiteiliges Papier.197 Zwar wichen seine Autoren aus dem Büro für Gesamtberliner Fragen vom Prinzip der Nichtanerkennung der DDR und des Magistrats nicht ab, stellten aber pragmatische Möglichkeiten im täglichen Umgang miteinander stärker in interaktive Kontexte; und sie gingen dabei mehr als bislang von nicht konfrontativen internationalen Veränderungen wie auch von einigen innerdeutschen Fortschritten aus. Wirtschaftliche Interessen der DDR wurden jetzt als Triebkraft weiterer Verbesserungen hervorgehoben und für sie konkrete Anreize benannt.198 An ihrer finanziellen Fundierung müsste sich die Bundesregierung beteiligen, hieß es. Die „im engeren Sinn“ auf Berlin bezogenen Vorschläge (I. Teil) brachten, neben der Wiederholung von Altbekanntem, tatsächlich Neues.199 Diese Aussage gilt auch für die

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schaftssenator Hertz, 23.8.1958 und Antwortschreiben von Hertz an Schneider, undat., in: ebd., C Rep. 124, Nr. 181. Es sei eben „politisch nicht vertretbar, daß die Senatsverwaltungen und ihre Chefs über Teilprobleme West-Berlins berichteten, ohne daß nicht jedes Mal – und sei es mit einigen Anmerkungen – auf die Situation im Sowjetsektor eingegangen und damit deutlich gemacht wird, daß wir trotz der Spaltung in einer Stadt leben“. Brandt wies die Senatoren an, in ihren Berichten „nach Möglichkeit“ auf die entsprechende Lage in Ost-Berlin hinzuweisen und jeweils einen Beamten aus ihren Verwaltungen zu benennen, der den Kontakt zum Büro für Gesamtberliner Fragen halten solle. Schreiben von Brandt an alle Senatsmitglieder, 6.3.1961, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 7850. Geheim. Der Bürgermeister von Berlin. Büro für Gesamtberliner Fragen, 7.2.1961, in: ebd., Nr. 10988. Neue Vereinbarungen im Interzonenhandel hätten „auf Teilgebieten Verbesserungen im technischen Ablauf des Berlin-Verkehrs gebracht. Weitere Verbesserungen „erscheinen nicht ausgeschlossen, sei es, weil den Zonenbehörden zusätzliche Vorteile im Warenverkehr geboten werden können, sei es, weil der Versuch einer Besserung des politischen Klimas zwischen Ost und West den Abbau technischer Behinderungen begünstigen könnte“. So sei zu überlegen, ob man sich an den Straßenbau- und Unterhaltskosten der „Zone“ beteilige sowie die Autobahngebühren pauschalisiere. Gedacht war u.a. an eine zweite Fahrbahn (mit Brücken) für die Autobahn Berlin-Marienborn und neue Autobahnbrücken auf anderen Strecken sowie an Hilfen für den Osten zum zweigleisigen Ausbau seiner Eisenbahnen. Ebd. So der Vorschlag von „gebietlichen Abrundungen“, d.h. des Austauschs kleinerer Territorien in Berlin und zur Öffnung des Teltowkanals für den Schiffsverkehr. Überdies sollten

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Bereiche Berlin-Verkehr und den Austausch zwischen den beiden deutschen Staaten (II. Teil).200 Wenngleich erst Jahre nach dem Mauerbau, wurde doch eine Reihe dieser Vorschläge verwirklicht, einige in Kooperation mit den Westmächten, die im Papier als wichtige Partner figurierten.

1.3 Gesamtberlin in der politischen Arbeit 1.3.1 Organe, Gremien, Ziele Einen Gesamtberliner Anspruch erhoben beide Seiten. Seine Durchsetzung warf die Frage auf, wer sich im geteilten Berlin mit den jeweils hinter der Sektorengrenze wirkenden Konkurrenten befassen sollte. Entsprechende Personen und Institutionen mussten den Blick zwar auf die Gegenseite richten, brachten aber immer auch die eigene Seite als Bestimmungsort und Vergleichsgröße mit ein, waren also auch in dieser Hinsicht von Gesamtberliner Natur. SED und Staatsapparat sowie die in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Blockparteien und Massenorganisationen betrieben nach den Vorgaben des Politbüros und der Berliner SED-Führung eine hochzentralisierte „Gesamtberliner“ Arbeit, die – häufig als „Westarbeit“ oder „Arbeit mit Westberlin“ bezeichnet – eine systematische Beeinflussung der dortigen Verhältnisse mit dem Ziel ihres schrittweisen Wandels zugunsten des Sozialismus beabsichtigte. Die Gesamtberliner Arbeit nach und in West-Berlin unterschied sich zur Westpolitik gegenüber der Bundesrepublik nicht in dieser Zielstellung und nur wenig in ihren generellen Methoden, sondern viel mehr durch die besonderen politischen und logistischen sowie instrumentellen Bedingungen des Verflechtungsraums, zu denen die intersektoral organisierte legale SED gehörte. Die zentralen Beschlüsse fielen in ihrem Politbüro oder im Sekretariat des ZK. Sie richteten, je nach Bedarf, zu speziellen Fragen WestBerlins Ad-hoc-Kommissionen ein, die bis zum Mauerbau der Gesamtdeutschen (respektive West-) Kommission des Politbüros unterstanden. Die eigentliche Dauererlaubnisscheine für Besucher von Friedhöfen in der DDR und für Stadtrandsiedler (etwa 40.000 West-Berliner) ins Gespräch gebracht werden. Ebd. 200 An erster Stelle rangierten die Erwartungen in mehr Verkehrs-Freizügigkeit: die Vereinfachung der Personenabfertigung an den Kontrollpunkten, die völlige oder teilweise Wiedereröffnung der 1952 geschlossenen Übergangsstellen zwischen West-Berlin und den Randgebieten sowie eine „großzügigere Handhabung“ des Reiseverkehrs von WestBerlinern in die „Zone“. Für den Handel und Güterverkehr wurde vorgeschlagen, Bahnpostwagen an allen Zügen zuzulassen und alle im Interzonenverkehr eingesetzten LKW zu verplomben, um Kontrollen auf den Transitstrecken durch die DDR vermeiden zu können. Schließlich sollte das Permit im Schiffsverkehr wegfallen und er freier gestaltet werden – u.a. ohne Bestimmung der „Feierabend-Ankerplätze“. Ebd.

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Arbeit „vor Ort“ leistete jedoch die Landes- bzw. Bezirksleitung der SED, die als Gesamtberliner Partei über eine gesamtstädtische Organisation verfügte. Sie leitete ihre den Ost-Berliner Kreisverbänden gleichgestellten West-Berliner Kreisleitungen zunächst direkt an.201 Die Bezirksleitung schuf sich Mitte 1952 mit dem „Arbeitsbüro Westberlin“ ein zunächst 12 hauptamtliche Mitarbeiter umfassendes Führungsinstrument. Der Generalsekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht, ließ sich über dessen Aufbau genau berichten.202 Schnell trat die ursprünglich geplante analytische Funktion des Büros zugunsten politischer und organisatorischer Aufgaben zurück.203 Das Arbeitsbüro leitete den angeblich überparteilichen „Berliner Ausschuß“ an, der als faktisches SED-Gremium u.a. über Planungsfragen und den Einsatz der finanziellen Mittel entschied, die er direkt von der GroßBerliner Parteizentrale erhielt. Demgegenüber wurden die der SED organisatorisch nicht unterstellten Blockparteien und Massenorganisationen vom Bezirksverband Groß-Berlin der Nationalen Front geführt.204 Daneben befassten sich in einigen DDR-Ministerien sowie im Magistrat und seinen Gliederungen, aber auch in Ost-Berliner Großbetrieben, zumeist kleinere Struktureinheiten oder Einzelpersonen mit der Gesamtberliner Arbeit auf staatlicher Ebene. Der SED-Apparat leitete auch sie zentral und aufwändig an. Doch zeigte sich das ganze System von Anfang an überfordert.205 Das umso mehr, als die Gesamtberliner Arbeit in toto nicht nur auf Positionsvorteile für die SED in der West-Berliner Gesellschaft angelegt war, sondern auch auf die Integration der Ost-Berliner in den Realsozialismus. Systemübergreifende Interaktionen gingen beiderseits noch verbreitet von einer generellen Verflechtung aus, obwohl diese bereits in Vielem Fiktion oder 201 1959 erhielt die West-Berliner SED besondere Leitungen, blieb aber der gemeinsamen Bezirksleitung Groß-Berlin unterstellt. Das änderte sich erst, als die West-Gliederung 1962 per neuem Statut einen eigenen Vorstand wählte, sich aus der Gesamtberliner Organisationsstruktur löste und sich offiziell SED-Berlin (West) nannte. Die politische Autonomie blieb jedoch auch dann nur scheinbar, als sie ab 1969 Sozialistische Einheitspartei Westberlin (SEW) hieß. 202 Vgl. Schreiben des Ersten Sekretärs der SED-LL Jendretzky an Ulbricht, 2.5.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 375. 203 Vgl. Sekretariatsvorlage „Aufgaben der Abteilung Arbeitsbüro Westberlin“, 18.8.1952, in: ebd., Nr. 166, Bl. 56. 204 Dem „Berliner Ausschuß“ mit seinen offenbar 80 hauptamtlichen Mitarbeitern wurden beispielsweise 1952 2,09 Mio. Ostmark zur Verfügung gestellt, die Nationale Front OstBerlins erhielt jährlich etwa eine Mio. Ostmark aus dem Magistratshaushalt. Vgl. Papier des Arbeitsbüros, 24.7.1952, in: ebd., Nr. 164, Bl. 116 und Magistratsbeschlüsse, in: ebd., C Rep., 100–05, Nr. 846, Bl. 67 und Nr. 875, Bl. 90. 205 Vgl. u.a. die Beschwerden über die Effektivität des Arbeitsbüros in der SED-Sekretariatsvorlage vom 6.8.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 165, Bl. 82.

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aber nicht erwünscht war. Das traf bedingt auch für die westliche Seite zu. Allerdings ließ sich die auf Ost-Berlin bezogene Gesamtberliner Arbeit in den Westsektoren weder einer staatlichen noch nichtstaatlichen oder überhaupt einer einheitlichen Richtung und Organisation zuordnen. Im Abgeordnetenhaus fungierte in Abstimmung mit den parallelen Organen des Bundes der Gesamtberliner Ausschuss. Ihm fielen Beschlüsse aber auch deshalb schwer, weil im Senat zunächst kein Gremium existierte, das sie wirksam operationalisiert hätte. Nach langwierigen Diskussionen entstand ein „Büro für Gesamtberliner Fragen“, auf das an anderer Stelle noch eingegangen wird. Sieht man von dieser politischen Senatseinrichtung ab, befassten sich primär gesellschaftliche Organisationen und Verbände des Westens, aber auch private Initiativen, mit dem Einwirken auf Ost-Berlin. Ihre Tätigkeit zeigte aber kaum Systematik, folgte keinem zwischen ihren Trägern abgestimmten Generalkonzept und auch im Einzelnen selten koordinierten Plänen oder Programmen. Sie war jedoch inhaltlich von einem integrativen Merkmal gekennzeichnet: dem Antikommunismus. Demgegenüber verband im Osten ein normativer und struktureller Antikapitalismus die einzelnen Teile des Subsystems Gesamtberliner Arbeit. 1.3.2 Die Strategie und Taktik der SED 1.3.2.1 Die SPD in West-Berlin als wichtigste Zielgruppe

Seit der Teilung der Stadt erfasste die Gesamtberliner Tätigkeit der SED – ähnlich ihrer auf die Bundesrepublik bezogenen Westarbeit – zwei große Gruppen: die Arbeiterbewegung mit der SPD und den Gewerkschaften sowie das heterogene Bürgertum. Wichtigstes Objekt blieb während der gesamten Untersuchungszeit die Berliner Sozialdemokratie, die der SED-Führung zwar prinzipiell als ideologischer Hauptgegner galt, aber in ihren Konzepten – je nach aktueller Lage – zwischen „Erbfeind“ und potentiellem Bündnispartner changierte. Dabei zog sie ins Kalkül, dass sowohl die Berliner SPD als auch die Gewerkschaften nach 1945 eine besondere Entwicklung genommen hatten, die sowohl vom Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur206 als auch vom alliierten Status Berlins bestimmt wurde. Dazu gehörte die von den Besatzungsmächten garantierte Zulassung von SPD und SED in der ganzen Stadt, was sowohl Chancen bot als auch Risiken mit sich

206 Vgl. das Standardwerk zur Gesamtauseinandersetzung in der unmittelbaren Nachkriegszeit : Harold Hurwitz (unter Mitarbeit anderer Autoren), Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945 (in vier Bänden), Köln 1983 bis 1990.

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brachte.207 Insbesondere trug diese Verfasstheit wesentlich zu methodischen Unterschieden zwischen der Arbeit der SED in der Bundesrepublik und der in WestBerlin bei: Während sie im ersten Fall aus rechtlichen und räumlichen Gründen zu immer neuen Installationen von verdeckten Organisationsformen und Aktivitäten gezwungen war, fiel diese Notwendigkeit in West-Berlin weitgehend weg. Die Nutzung „legaler“ Gesamtberliner Kader, Netzwerke und Verbindungen erübrigte sie. Auch deshalb zeigte sich insgesamt ein Primat der offiziell-propagandistischen sowie „missionarischen“ Gesamtberliner Tätigkeit der SED gegenüber der geheim-infiltrativen. Das galt insbesondere dem Umgang mit der Berliner SPD. Das Ziel, sie für sich zu vereinnahmen, sie allmählich zur Hauptkraft eines antikapitalistischen Systemwandels in West-Berlin umzugestalten, war angesichts ihrer demokratischen Positionen und staatstragenden Funktionen illusionär. Daran änderte auch die von der SED favorisierte Sozialdemokratische Aktion nichts, die sich als berlinweit organisierte Opposition zur SPD darstellte, aber von 1948 bis zu ihrer Auflösung 1961 eine beinahe wirkungslose Splittergruppe blieb. So konnte es für die SED nur heißen, die Sozialdemokratie unter Verwendung alter Muster zu spalten, linke Tendenzen und ihre Träger zu fördern und letztendlich die „ehrlichen, klassenbewussten“ Parteimitglieder von ihrer rechten „verräterischen“ Führung zu trennen. Das hinderte die SED jedoch nicht daran, auch sie – je nach Situation und Interessenlage – für „gemeinsame Ziele“ zu gewinnen, in wichtigen Fragen Bündnisse schließen zu wollen und die viel strapazierte „Aktionseinheit“ herzustellen.208 Dabei erinnerte die SED besonders an die gleichen historischen Wurzeln beider Parteien sowie an Berliner Gemeinsamkeiten in den Jahren von 1945 bis 1948. Der antisozialdemokratische Zick-Zack-Kurs der SED, häufig eine Mischung aus Umarmung des Konkurrenten und Erstickungsversuchen, scheiterte nicht nur an den prinzipiellen Gegensätzen, sondern auch tagespolitisch. Die meisten Berliner Sozialdemokraten erklärten offen, dass mit der SED, die mit ihnen angeblich brüderlich zusammengehen wolle, sie aber im Osten verhafte und einsperre, eine Aktionseinheit nicht in Frage komme.209 Diese rigide 207 Vgl. Siegfried Heimann, Die Wiederbegründung der Berliner SPD 1945 und die Behauptung als selbstständige Sozialdemokratie in ganz Berlin im Jahre 1946, in: Zwangsvereinigung von SPD und KPD in Berlin, hrsg. vom SPD-Parteivorstand Berlin, Berlin 1996. 208 Beispielsweise bei der Entnazifizierung, bei der Auseinandersetzung um das Berufsbeamtentum sowie bei der Gesundheits- und Schulpolitik. Vgl. Bestätigte Vorlage des Sekretariats der SED-LL Groß-Berlin, 4.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 174, Bl. 42. 209 Die Vertrauensleute der SED notierten sich das häufige Argument von SPD-Arbeitern, man mache keine Aktionseinheit mit Menschen, die Sozialdemokraten in Ost-Berlin „des Nachts von der Straße weg verhaften“. Abt. Leitende Organe der SED-Bezirksleitung: Tagesbericht Nr. 2, 12.6.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 602. Selbst in Betrieben, deren sozialdemokratischen Belegschaften als offen für linke politische Argumente galten, äußere

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Verweigerungshaltung trug zum Feindbild SPD bei. Sie zahlte mit gleicher Münze zurück.210 Die scheinbare Schizophrenie der SED-Führung, die SPD häufig gleichzeitig zu verteufeln und zu umwerben, ihren Führern gelegentlich richtiges politisches Denken zu bescheinigen, häufiger aber klassenfeindliches Handeln, erfuhr eine Doppelung: Denn die SED-Führung kritisierte die von ihr auf ideologische Feindschaft eingeschworenen Parteimitglieder als „Sektierer“, wenn sie sich so verhielten, wie sie es ihnen geboten hatte. Sie würden mit ihrem „Sektierertum“ die Chancen für Gemeinsamkeiten mit den Sozialdemokraten verspielen211, die ihrerseits mit pauschalen Vorurteilen auf alles reagierten, was SED hieß. Deren Gesamtberliner Kontaktversuche blieben ohne Resonanz, und SED-Emissäre und Ost-Berliner Gewerkschaftsdelegationen beschwerten sich, dass sie zusammen mit ihren Schreiben und Resolutionen, u.a. anlässlich von Parteitagen der WestBerliner SPD, regelrecht „hinausgeworfen“ und obendrein beschimpft worden seien.212 Die Animositäten verstärkten sich, als die SED-Konkurrenz versuchte, eine „linke Opposition innerhalb der SPD“ zu fördern. Damit lehnte die kommunistische Führung jedoch die von ihr lange Zeit erörterte Möglichkeit einer WestBerliner Parteigründung links von der SPD respektive von kommunistisch initisich eine „verknöcherte Voreingenommenheit“ gegen die SED und alles, was die Vorzüge des sozialistischen Aufbaus in Ost-Berlin herausstelle. Bestenfalls würden die Ost-Berliner Delegationen freundlich behandelt, wenn es ihnen um Soziales sowie Alltags- und kulturelle Probleme ginge. Politischen Themen jedoch wichen SPD-Arbeitnehmer in der Regel aus. Vgl. Stenographische Niederschrift des Groß-Berliner SED-Bezirksparteiaktivs vom 11.1.1955, in: ebd., Nr.109 und 610. 210 Die Auseinandersetzungen zwischen SED-Mitgliedern und Sozialdemoraten waren häufig im höchsten Maße emotional aufgeladen und von wechselnden Schuldzuweisungen gekennzeichnet. Als beispielsweise anlässlich der Beisetzung eines alten SPD-Genossen der offizielle SED-Vertreter äußerte, die SPD-Führer seien vor 1933 die Verräter gewesen und seien es auch heute, schrie der erboste Berliner SPD-Landesvorsitzende Franz Neumann: „Das zahlen wir euch heim.“ Wochenbericht, 3.2.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 610. 211 Vgl. Protokoll 8/55, Sitzung des Politbüros am 11.2.1955, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/405, Bl. 2. 212 Das geschah besonders rigoros beim 6. SPD-Landesparteitag im Januar 1955. Die SEDFührung wollte erreichen, dass bei den damit verbundenen Vorstandswahlen „nur Leitungsmitglieder gewählt werden, die konsequent gegen die Pariser Verträge und für die Verständigung eintreten“ und eine neue SPD-CDU-Koalition definitiv verhinderten. Den Misserfolg lastete die SED-BL der ungenügenden Arbeit mit der SPD-Basis an; in Sonderheit hätten die SPD-Kommissionen bei den Berliner Kreisleistungen und die Betriebsausschüsse SED-SPD versagt. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Bericht über die Arbeit mit den SPD-Genossen […] vom 7.1.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 610.

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ierten Plattformen endgültig ab.213 Das geschah nicht von ungefähr im Zusammenhang mit dem Abschluss der Pariser Verträge und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik. Deshalb stand für die SED seit Ende 1954 der Kampf gegen den „amerikanischen Flügel“ der rechten SPD-Führung im Vordergrund ihrer Gesamtberliner Arbeit. Tatsächlich lehnten viele Sozialdemokraten einen Wehrbeitrag ab oder schwankten in dieser Sache. Als die SED unter dem Einfluss des XX. Parteitages der KPdSU eine taktische Umorientierung im Umgang mit der SPD vornahm, deren Verdienste sie im Prinzip anerkannte und ihr unter Zurücknahme der bisherigen Polemik Gespräche vorschlug214, betraf das deren West-Berliner Gliederung allerdings weit weniger. Den wichtigsten Grund dafür lieferte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, der in der SED-Führung als Exponent des „amerikanischen Flügels“ in den SPD-Vorständen galt.215 Der von der SED beobachtete „Gegensatz der Politik der SPD in Westdeutschland zur Politik der rechten SPD-Führung in Westberlin“ bildete den politischen Hintergrund für neue polemische Angriffe, ideologische Abgrenzung und tendenziöse Forderungen.216 213 Es ginge nicht mehr an, dass die SED für eine „kleine Gruppe“ West-Berliner SPDOppositioneller Plattformen und Erklärungen entwickle. Sie müssen hingegen „mit einigen sozialdemokratischen Genossen so […] arbeiten, dass sie selbst in der Lage sind, die Prinzipien des Kampfes der Opposition innerhalb der SPD zu entwickeln und diese Opposition auch zu führen“. Vorlage an das Büro der SED-BL Groß-Berlin: „Erklärung der linken Opposition in der SPD“ 4.11.1955, und Protokoll Nr. 9/1953 der Sitzung des Sekretariats des SED-BL am 26.2.1953, in: ebd., Nr. 161, Bl. 5. 214 Vgl. Michael Lemke, Eine neue Konzeption? Die SED im Umgang mit der SPD 1956– 1960, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 361–377. 215 Er stelle sich „eindeutig gegen die Beschlüsse des Münchner Parteitages [der SPD 1957] und gegen die jetzt von der SPD-Bundestagsfraktion und von Ollenhauer erhobenen Forderungen gegen die Atomrüstung in Westdeutschland“. Vorlage der Abteilung Massenorganisationen (A) der SED-BL: „Politik und Maßnahmen zum außerordentlichen Landesparteitag der SPD am 12. Januar 1958“, 14.12.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 319/1, Bl. 31. 216 Der SPD seien für ihre Versammlungen sogar Schulräume in Ost-Berlin zu Verfügung gestellt worden, „um die Kräfte zu mobilisieren gegen die Arbeiter- und Bauern-Macht“, empörte sich der Erste Sekretär der SED-BL. Man müsse der SPD also fürderhin sagen: „Wollt ihr bei uns auftreten, bitte schön, dann verständigen wir uns über die gemeinsamen Maßnahmen im Kampf gegen Imperialismus und Militarismus, überlegen wir, wie wir gemeinsam gegen die Politik des Adenauerregimes vorgehen […] Wer also den Gedanken der Aktionseinheit der Arbeiterklasse will und nicht Feind der DDR ist, wird immer unsere Unterstützung finden. Wer aber in dieser oder jener Form das imperialistische Regime in Westdeutschland rechtfertigt, kann nicht von uns erwarten, daß wir ihnen dafür

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Der konfrontative Kurs zeigte sich insbesondere im Umgang mit der seit 1947 in ganz Berlin zugelassenen Sozialistischen Jugend Deutschlands „Die Falken“. Von der konkurrierenden Berliner FDJ eben noch umworben und mit Kontaktofferten geradezu überschüttet217, gerieten sie bald wieder zu einer im Ostsektor als illegal behandelten Organisation, mit der sich die FDJ nicht einlassen dürfe, sondern sie im Gegenteil bekämpfen müsse.218 Nach wie vor sah die SED in der WestBerliner SPD und den ihr nahestehenden Organisationen einen Störfaktor für den sozialistischen Aufbau Ost-Berlins. Angesichts der zugespitzten Berliner Systemauseinandersetzung verwunderte es nicht, dass die West-Berliner SPD auf ihrer Seite der „Barrikade“ ein Interesse daran besaß, „oppositionelle Elemente“ im Osten um sich zu scharen und dort „ihre Basis in der Bevölkerung zu verbreitern“.219 1.3.2.2 Der „innere Feind“: Die SPD in Ost-Berlin

Das betraf erstrangig die Arbeit der im Ostsektor wohnenden Sozialdemokraten, die sich in der Regel in dessen legalen Kreisverbänden organisierten, in hohem Maße Gesamtberliner Arbeit leisteten und auch so erheblich zur Geschlossenheit der Berliner SPD beitrugen. Von Anfang an behandelte sie die SED als eine Art „fünfte Kolonne“ im sowjetischen Sektor. Vom SPD-Landesvorstand nach Kräften politisch, organisatorisch und finanziell unterstützt, befanden sich die OstBerliner SPD-Mitglieder, die sich 1946 der Zwangsvereinigung mit der KPD konsequent entzogen hatten, inmitten des SED-Herrschaftsgebietes in einer „Diaspora“. Zwar stellte die SED bereits 1950 eine „zum Teil selbst herbeigeführte die Möglichkeit geben. Der demokratische Sektor Berlins ist also kein Tummelplatz für die Lobreden auf die Herrschaft der Bourgeoisie.“ Referat von Alfred Neumann, Stenographische Niederschrift der Tagung des Groß-Berliner Bezirksparteiaktivs, 19.2.1957, in: ebd., Nr. 109. 217 Vgl. Schreiben der FDJ-Bezirksleitung Groß Berlin (Hans Modrow) an den Landesvorstand der Sozialistischen Jugend Deutschlands „Die Falken“, 16.4.1956, in: ebd., Nr. 255, Bl. 27f. 218 Ost-Berliner „Falken“ hätten ihre Bejahung des DDR-Staates schriftlich niederzulegen und an Wandzeitungen zu veröffentlichen. Treten sie gegen die „Arbeiter- und BauernMacht“ ein, seien ihnen die Stipendien zu entziehen. Anträge ihres Landesvorstandes für Jugoslawien- und andere Auslandsreisen „sind nicht zur Kenntnis zur nehmen“ oder bei Einzelpersonen so zu behandeln, „dass diese im Endergebnis keinen Pass erhalten“. Besorgten sie sich diesen in West-Berlin, seien sie rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Vorlage von Modrow: „Ergänzung zum Beschluß vom 7.3.1957 zur Behandlung der illegalen Arbeit der Falken im demokratischen Sektor“, 30.4.1957, in: ebd., Nr. 290, Bl. 163f. 219 Vorlage an das Büro der BL „Zur Lage in der SPD im demokratischen Sektor“, 30.5.1956, in: ebd., Nr. 257, Bl. 45.

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Isolierung“ dieser Sozialdemokraten fest, gestand aber, dass es ihr trotzdem nicht gelungen sei, die Ost-SPD „als Agent zu liquidieren und die SPD-Arbeiter für die antifaschistisch-demokratische Ordnung zu gewinnen“. Im Gegenteil sei der Einfluss der Teilpartei „groß genug“, um „alle destruktiven und rückständigen Kräfte um sich zu sammeln“.220 In der Tat übten die (1956) fast 7.000 Ost-Berliner SPDMitglieder vorrangig in den größeren ostsektoralen Produktionsbetrieben auf die Arbeiter einen erheblichen Einfluss durch Diskussionen und Gespräche aus. Sie waren von der SED schwer zu kontrollieren.221 Da sie ständig präsent seien und Kontakte zur Zentrale der Partei und ihren Gliederungen in West-Berlin unterhielten, beurteilte sie die SED als eine oppositionelle Kraft, von der die „feindliche Ideologie ständig in die Arbeiterklasse hineingetragen wird“.222 In der Ablehnung jeglicher Kooperation durch die erdrückende Mehrheit der Ost-Berliner Sozialdemokraten sah die SED eine Bestätigung ihres besonderen Feindbildes. Tatsächlich traten sie für die Existenz zweier Arbeiterparteien in der Stadt ein und verweigerten sich „sinnlosen Gesprächen“ auch deshalb, weil sie die Einheitspartei nicht an ihrer Propaganda, sondern an ihrer repressiven Praxis maßen.223 Zwar konnte die SED die legale Ost-Berliner SPD und ihre Gesamtberliner Arbeit nicht verbieten. Sie durfte auch keine undifferenzierte offene Verfolgung riskieren, die in West-Berlin zu einer Verschlechterung der eigenen Wirkungsmöglichkeiten geführt hätte. Die SED griff deshalb zu schwer nachweisbaren Mitteln einer im Ganzen systematischen Disziplinierung und stellte darüber hinaus bei nicht zu verhindernden Aktionen der Ost-Berliner SPD-Gliederungen Forderungen.224 Während der gesamten Zeit des Bestehens der SPD im Berliner Ostsektor wirkte ein generelles Interaktionsmuster: Während die Sozialdemokraten an ihrer Position festhielten, versuchte die SED sie im Sinne des Aufbaus des Sozialismus 220 SED-LL Groß-Berlin: „Untersuchung und Einschätzung der Lage in der SPD im demokratischen Sektor Berlins in Bezug auf die Wahlen“, undat. (1950), in: ebd., C Rep. 901, Nr. 402. 221 Vorlage für das Büro der BL: „Zur Lage in der SPD im demokratischen Sektor“, 30.5.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 257, Bl. 45–50. 222 Protokoll Nr. 013/58, Sitzung des Büros der SED-BL am 2.-4.6.1958, in: ebd., Nr. 333, Bl. 11. 223 Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Anhang zum Wochenbericht vom 3.2.1955“, 4.2.1955, in: ebd., Nr. 610. 224 Als beispielsweise bekannt wurde, dass der Kreuzberger Bezirksbürgermeister und SPDPolitiker Willy Kressmann in einer geschlossenen Mitgliederversammlung im OstBerliner Prenzlauer Berg sprechen wollte, beschloss das Büro der SED-BL als erste Maßnahme „die verstärkte Antragsstellung für die Gewährung öffentlicher Räume für die Versammlung der SED in West-Berlin“. Protokoll Nr. 019/56 der Sitzung des Büros der SED-BL am 16.8.1956, in: ebd., Nr. 269, Bl. 3.

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„gleichzuschalten“. Zuwiderhandlungen ahndete sie häufig als Verstoß „gegen die Prinzipien der sozialistischen Gesetzlichkeit“ und übte mehr noch über sozioökonomische Mechanismen Druck aus. Gleichzeitig drängte die SED-Führung den West-Berliner SPD-Vorstand, auf eine antikommunistische Beeinflussung ihrer Ost-Berliner Gliederung zu verzichten und deren „friedensfeindliche Betätigung“ nicht nur zu unterbinden, sondern auch zu verurteilen. Da sich die Behinderungen für die Ost-SPD nach 1955 verstärkten, mehrten sich die an die Adresse der Westalliierten gerichteten Beschwerden des SPD-Landesvorstandes. Wiederholt bat er sie, in dieser Sache bei der sowjetischen Kommandantur vorstellig zu werden.225 Das wurde zur Routine und zeitigte in der Regel keine sichtbaren Ergebnisse. 1.3.2.3 Die Methoden und Effekte der politischen Arbeit der SED

Bereits 1949 hatte sich der SED die Frage nach der Effektivität ihrer Gesamtberliner Arbeit gestellt. Bis zum Mauerbau standen dabei zwei miteinander verbundene Probleme im Vordergrund: die Systematisierung und die „vernünftige“ Schwerpunktsetzung der Arbeit. Von Anfang an hätten sich die eher sporadischen Aktionen zum Nachteil einer „wirklichen systematischen Arbeit“ bemerkbar gemacht, resümierten die Verantwortlichen. Dabei stand die Kritik an der gezielten „Patenschaftsarbeit“ von Ost- über West-Berliner Produktionsbetriebe im Vordergrund. Gerade sie hätte den Vorteil eines überschaubaren Einflussfeldes mit Möglichkeiten der Kooperation verbinden können. SED, FDGB und andere Massenorganisationen seien zu isoliert vorgegangen und sollten denn auch mehr miteinander „eine Belebung“ der Gesamtberliner Arbeit erreichen.226 In den ersten Jahren nach 1948 lag ihr inhaltlicher Schwerpunkt neben dem durchgängigen Friedensthema auf West-Berliner sozialpolitischen Alltagsfragen, die ein großes öffentliches Interesse versprachen. Die Skala reichte von Aktionen gegen die Exmittierung verschuldeter Handwerksmeister über Protestkundgebungen gegen den Abbau der einheitlichen Krankenversicherung sowie Spendenaktionen für die Organisation „Sozialhilfe“ bis hin zu solidarischen Zuwendungen an in Schwierigkeiten geratene West-Berliner.227 Politische Absichten schimmerten insbesondere

225 Vgl. Schreiben der Senatskanzlei (Klein) an den amtierenden Reg. Bgm. Amrehn, 10.1.1956, in: ebd., B Rep. 902, Nr. 3548/II. 226 Schreiben des Sekretariats Lena Fischer an den Ersten Sekretär der SED-LL Groß-Berlin, Jendretzky, 27.12.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 375. 227 Vgl. Bericht des SED-Landesvorstands, 18.1.1949, in: ebd., Nr. 265; Sekretariatsvorlage, 15.7.1952, in: ebd., Nr. 163, Bl. 146 sowie bestätigte Vorlage des Sekretariats der SED-LL, 4.11.1952, Nr. 174, Bl. 41.

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bei den Notprogrammen zu Gunsten von Intellektuellen und Künstlern durch.228 Allerdings erbrachten die in der Regel aufwändigen Aktionen, auch gegen westsektorale Preiserhöhungen, nicht den erwarteten Erfolg: „Man schimpft zu einem Teil auf den Westmagistrat, während andere Teile die Politik der DDR und der Sowjetunion [für die Preissteigerungen] verantwortlich machen. Nirgendwo in diesen Diskussionen wird die Ursache in der Remilitarisierung gesehen“229, kritisierte die SED-Landesleitung. Ebenso unbefriedigend verlief die zunächst aussichtsreichere Tätigkeit im Spektrum der West-Berliner Arbeitslosen. Zwar schürten die von der SED initiierten und gesteuerten West-Berliner Erwerbslosenausschüsse antikapitalistische Stimmungen und soziale Proteste – gelegentlich ließen sich auf den „Stempelstellen“ auch Tumulte inszenieren.230 Doch blieben die meisten Arbeitslosen „friedlich“231 und verhielten sich den Parolen der verdeckt agierenden SED gegenüber resistent. Vermeintliche Fortschritte232, mehr aber noch Misserfolge bei der Formierung der West-Berliner Arbeitslosen zu einer oppositionellen Kraft, ließen aufwändige Aktionen weiter anschwellen233, brachten aber keine Bewegung gegen die politischen und sozialen Verhältnisse in West-Berlin zustande.234 Einen weiteren Schwerpunkt ihres Gesamtberliner Wirkens bildete die Einflussnahme der SED auf die Gewerkschaften in West-Berliner Unternehmen. Für jeden SED-

228 Vgl. Groß-Berliner Komitee der Kulturschaffenden: „Bericht“. Anlage zum Protokoll 25/1952 der Sitzung des Sekretariats der SED-BL am 11.12.1952, in: ebd., Nr. 179, Bl. 51, 55–59. 229 Sektor Parteiinformation der SED-LL: „Stimmungen in Westberlin über die neuen Preiserhöhungen“, 21.2.1951, in: ebd., Nr. 267. 230 Sektor Parteiinformation: „Stimmungen und Mitteilungen aus dem Kreis Neukölln“, 12.1.1951, in: ebd. 231 Vgl. ebd. 232 Allzu leicht wurden einige spontane Protestkundgebungen als eine „wirkliche Bewegung der Erwerbslosen“ ausgegeben, vielleicht auch tatsächlich so wahrgenommen. Vgl. Protokoll Nr. 22/1952 der Sitzung des Sekretariats der SED-BL am 27.11.1952, in: ebd., Nr. 177, Bl. 35. 233 Eine Forcierung war u.a. im Herbst 1952 und im Frühjahr 1953 zu beobachten. Vgl. Sekretariatsvorlage, 10.9.1952, in: ebd., Nr. 167, Bl. 153; Protokoll Nr. 17/1952 der Sitzung des Sekretariats der SED-BL am 23.10.1952, in: ebd., Nr. 173, Bl. 11; „10. Tagesbericht“, 21.11.1952, in: ebd., Nr. 275 sowie Beschluß des Sekretariats der SED-BL vom 22.10.1953, in: ebd., Nr. 182, Bl. 22. 234 Vgl. Arbeitsbüro Westberlin: „Vorlage über die Lehren aus der Vorbereitung und Durchführung der allgemeinen Konferenz der Erwerbslosen Westberlins am 27.3.1953“, 8.4.1953, in: ebd., Nr. 167, Bl. 30.

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Parteikreis bestimmte sie West-Berliner Schwerpunktbetriebe235, in denen häufig SED-Betriebsgruppen präsent waren. Da die SED seit Anfang der 50er Jahre die „Konzentration der gesamten Kraft“ auf die betriebliche Arbeit als die „zentrale Aufgabe der Partei in Westberlin“ ansah236, entwickelte sie dafür ein weit gefächertes methodisch-instrumentales System und spezielle Leitungsapparate.237 Wenngleich die Ost-Berliner Vertrauensleute bei verschiedenen Lohn- und betrieblichen Fragen partiell durchaus Erfolge verbuchen konnten, blieben diese in der Regel immer dann aus, wenn sie die Belegschaften von West-Berliner Großbetrieben mit offenen oder verdeckten politischen Forderungen der SED und des FDGB konfrontierten. Das betraf vor allem Streiks. Entstanden sie auf Initiative West-Berliner Arbeitnehmer und ihrer gewerkschaftlichen Interessenvertreter, unternahm die SED sofort alles, um die Kontrolle über sie zu erlangen und sie zu politisieren.238 Die Ost-Berliner SED-Zentrale registrierte überdies aufmerksam alle Anzeichen auf mögliche Arbeitskämpfe in West-Berlin239 und bereitete sie propagandistisch sowie organisatorisch vor. Dabei bediente sie sich in Großbetrieben auch der Taktik, vorsichtigere Betriebsräte mit Hilfe ihrer streikbereiten Belegschaften zu Kampfmaßnahmen zu zwingen. Das führte, wie überhaupt Wunschdenken und Fehlanalyse, häufig zu peinlichen „Schlappen“240. Auch sie widerspiegelten in den 50er Jahren trotz Zentralismus und einheitlichen SEDDirektiven konzeptionelles und organisatorisches Chaos. Dazu trugen die häufig wechselnden innen-, aber auch außenpolitisch bedingten Herausforderungen bei, auf die der Osten oft nicht vorbereitet war und auch deshalb hektisch reagierte: etwa anlässlich der Berliner Außenministerkonferenz Anfang 1954.241 Gesamtber235 Beispielsweise wurden die Firmen Schwarzkopf und Schering dem Kreis Wedding zugeschlagen. Darüber hinaus übernahmen Betriebe in Ost-Berlin die Patenschaft über in West-Berlin gelegene Werke – etwa die VVB Metallurgie über Siemens, das Transformatorenwerk Oberschöneweide über Zeiss-Ikon. Vgl. Bericht über die Kreissekretariatssitzungen, 9.1.1952 und „Betrifft Patenarbeit“, 18.1.1951, in: ebd., Nr. 267. 236 Vgl. Arbeitsplan der Abteilung Leitende Organe für die Zeit vom 1.10. – 31.12.1952, in: ebd., Nr. 171, Bl. 72. 237 Vgl. ebd., Bl. 64–68. 238 Vgl. Protokoll Nr. 15/1952 der Sekretariatssitzung am 9.10.1952, in: ebd., Nr. 171, Bl. 6. 239 Zahlreiche Dokumente über die Taktik der SED bei West-Berliner Arbeitskämpfen finden sich in: ebd., Nr. 267. 240 Diese traten z.B. ein, als der Betriebsrat von „Blaupunkt“ im April 1952 „Kampfmaßnahmen“ ablehnte und sich die von der SED falsch eingeschätzte Belegschaft ebenfalls als daran „uninteressiert“ zeigte. Vgl. „Informationsnotiz“ der SED-LL Groß-Berlin, 8.4.1952, in: ebd., Nr. 386. 241 Die Kampagne nahm selbst für östliche Verhältnisse eine erstaunlich propagandistische Dimension an. So waren täglich 500 SED-Referenten unterwegs, um in Betrieben, Schu-

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liner Arbeit vollzog sich zunehmend kampagnenhaft, hyperaktiv und mit Parolen, die zur immer neuen Bildung von Gesamtberliner Komitees und anderen plakativen Gremien aufforderten.242 Auch die häufig beliebige massenhafte Verteilung von Flugblättern und anderem Propagandamaterial zeigte kaum Wirkung. Desgleichen gerieten die als gesamtstädtisch verstandenen kommunistischen Presseorgane – Tageszeitungen wie das überregionale „Neue Deutschland“243, der „Vorwärts“ als Stimme der SED-Bezirksleitung Groß-Berlin oder die nur kurzlebige „Berliner Volkszeitung“ – schnell zu Makulatur.244 Nicht anders erging es den von der Nationalen Front in West-Berlin herausgegebenen Bezirkszeitungen, die 1953 mit lokalen und Gesamtberliner Themen zwar insgesamt eine Auflage von über 116.000 Stück erreichten, aber kaum gelesen wurden.245 So war die kommunistische Berliner Presse mehr vom Prinzip der Quantität als von qualitativen sowie wirtschaftlichen Gesichtspunkten geleitet und enorm reformbedürftig. Etwas mehr Zuspruch erfreuten sich die nicht weniger propagandistischen Gesamtberliner Gespräche, die das Amt für Information des Ost-Berliner Magistrats seit 1952 mit West-Berlinern über ausgesuchte politische Probleme durchführte. An ihnen nahmen jeweils etwa 80 Gäste teil, die in lockerer Atmosphäre bis zu fünf Stunden mit Ost-Berliner Funktionären diskutierten.246 Doch zielte der Diskurs weniger auf die Klärung Gesamtberliner Probleme als auf die „ständige Popularisierung der Erfolge der Friedenspolitik des Magistrats und auf die Aufklärung über die Katastrophenpolitik des Reuter-Senats“.247 Den daraus resultierenden Rückgang von West-Berliner und bundesrepublikanischen Teilnehmern an derartigen Veranstaltungen fingen auch pauschalisierte Einladungen zu Gesprächen mit dem Magist-

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len und Wohngebieten West-Berlins „Aufklärungsarbeit“ zu leisten, und überall entstanden „Gesamtberliner Komitees“. Vgl. Protokoll 3b/54 der SED-Sekretariatsbesprechung am 26.1.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 203, Bl. 135f. Vgl. Protokoll Nr. 62/53, Beschluß der SED-Sekretariatssitzung am 17.12.1953, in: ebd., Nr. 188, Bl. 2–4. In West-Berlin nahm Mitte 1952 die Zahl der „ND-Abonnenten“ deutlich ab. Das war auch eine Reaktion der West-Berliner Kommunisten auf die für sie unverständlichen Maßnahmen der SED seit Mai des Jahres. Vgl. SED-Sekretariatsbeschluß vom 25.8.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 166, Bl. 262. Vgl. Sekretariat der SED-BL: „Schaffung einer Wochenzeitung der Partei in Westberlin“, 10.10.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 181, Bl. 28. Diese Presseorgane würden „stapelweise als Altpapier“ weggeschafft, klagte die Agitationsabteilung der SED-BL. Vgl. „Bericht an das Sekretariat“, 13.4.1953, in: ebd., Nr. 167, Bl. 85. Vgl. „Bericht über die Arbeit des Amtes für Information beim Magistrat von GroßBerlin“, August 1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 165, Bl. 144. Magistratsbeschluß Nr. 943 vom 16.4.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 865, Bl. 68.

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rat248 nicht auf. Dennoch sahen die Westalliierten in ihnen, zu Unrecht, eine politische Gefahr.249 Hatten Anfang der 50er Jahre noch eine Reihe von WestBerlinern an den guten Willen der Ost-Administration zur Wiederherstellung der städtischen Einheit geglaubt, waren sie bald desillusioniert. In der Tat entpuppten sich auch scheinbar als gesamtstädtisch angelegte Maßnahmen, wie die Gründung der Heinrich-Zille-Gesellschaft im September 1953, als eine „Unterstützung der politischen Arbeit in Westberlin“.250 Im Spätsommer 1955 registrierte die SEDBezirksleitung, dass die Arbeit nach West-Berlin „keine Steigerung“ mehr erfahren habe. Der Einsatz dort beschränke sich auf die Verteilung von Materialien, während die notwendigen persönlichen Gespräche mit West-Berlinern gescheut würden.251 Die Gesamtberliner Arbeit der SED und ihrer Verbündeten steckte in einer Krise. 1.3.2.4 Der Westeinsatz in der Krise

Daran hatten die herkömmlichen Methoden und Instrumentarien einen gehörigen Anteil. So erwies sich die Praxis, SED-Genossen aus Ost-Berlin sowie Mitglieder von gesellschaftlichen Organisationen, Betrieben, Verwaltungen u.a. im anderen Teil der Stadt unter Angabe von Sollzahlen nach einen bestimmten Modus massenhaft als Propagandisten einzusetzen, als ineffektiv. Das zeigte sich bereits an den Auflagen für die Stadtbezirke anhand der vorgegebenen und erreichten Beteiligungszahlen. Tabelle 1: Vergleich von Soll und Ist bei einer Propagandaaktion am 26. und 27.10.1956 Stadtbezirk Soll Ist In Prozent Mitte 1120 632 56,4 Friedrichshain 1130 704 62,3 Pankow 1050 329 31,3 Lichtenberg 800 782 keine Angaben Prenzlauer Berg 500 348 keine Angaben Quelle: Einsatzbericht, 31.10.1956, in: ebd., Nr. 614.

248 Besucher aus der Bundesrepublik und West-Berlin erhielten eine Art Blankoeinladung des Magistrats. Ihr Interesse an ostwestlichen Gesprächen wurde prinzipiell unterstellt und ein Besuchstermin zwecks „zwangloser Unterhaltung“ im Magistrat vorgeschlagen. Dabei biete sich auch die Gelegenheit, „persönliche Wünsche und Kritiken“ an seiner Verwaltung zu äußern. Vgl. formalisierte Einladung, undat., in: ebd., C Rep. 124, Nr. 9. 249 Vgl. Office der HICOG, Berlin Element, Public Relations Branch, 20.11.1950, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3363/1. 250 Vorlage für das Sekretariat der SED-BL: „Heinrich-Zille-Gesellschaft“, 14.9.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 179/1, Bl. 223. 251 Abteilung Leitende Organe: Wochenbericht, 3.9.1955, in: ebd., Nr. 611.

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Im Weiteren beanspruchten das Verteilen von Propagandamaterial, die Teilnahme an „spontanen“ Diskussionen mit West-Berliner Zielgruppen sowie die Teilnahme an den organisierten Protestkundgebungen und Demonstrationen in den Westsektoren für den Einzelnen viel Zeit. Erfolge zeigten sich ihnen hingegen kaum; parallel dazu vergrößerte sich jedoch die Angst vor West-Berliner Gegenmaßnahmen.252 Vor allem bei FDJlern, von denen nicht wenige den Westeinsatz anfangs als patriotisches Handeln und einige wohl auch als Abenteuer gesehen hatten, wuchsen angesichts der feindseligen Haltungen der West-Berliner und der Knüppel der „Stumm-Polizei“ Frust und Furcht. Zwar beachteten sie aus eigenem Interesse die ihnen in Ost-Berlin „eingebleuten“ Sicherheitsvorschriften253, doch diese und ihre beinahe rituelle Umsetzung waren auch den westlichen Ordnungshütern bekannt.254 Sie „verdroschen“ die FDJ-Demonstranten, wenn sie nicht einen rettenden S-Bahnhof erreichten.255 War das Murren über die häufigen 252 Vgl. Einsatzbericht, 31.10.1956, in: ebd., Nr. 614. 253 Der damalige Geschichtsstudent Werner Klein (Jg. 1934) berichtete von der ständig wiederholten FDJ-Leitungsauflage, beim Auslegen von Flugblättern in mehrstöckigen Wohnhäusern immer nach dem Prinzip „von oben nach unten“ zu verfahren. Würden sie in der ersten oder zweiten Etage beginnen, liefen sie Gefahr, dass ihnen im „Ernstfall“ der Fluchtweg abgeschnitten würde. Sie hätten keine Dokumente mit sich zu führen oder irgendwelche Dinge (Partei- oder FDJ-Abzeichen), die sie als Mitglied der SED oder einer Massenorganisation identifizierten. So verbot sich auch das Tragen von FDJ-Hemden. Bei der Teilnahme an Demonstrationen ging es vor allem darum, das Terrain durch intensive Beobachtung zu sichern („Gibt es Anzeichen für einen Polizeieinsatz?“) und immer die optimale Rückzugsmöglichkeit im Auge zu behalten. Bei einer Verfolgung durch die Westpolizei galt die größtmögliche Zerstreuung der Ostteilnehmer. Würden sie dennoch „geschnappt“, seien den Westbeamten nur Name und Adresse des Einzelnen mitzuteilen. Interview mit Werner Klein, 18.7.2007. 254 Die Westeinsätze erfolgten nach einem Schema: Die SED-Bezirksleitung Groß-Berlin teilte den Ersten Kreissekretären der SED/FDJ den Auftrag unter Angabe von Ort und Ziel der Aktion mit. Sie bestellten daraufhin die Sekretäre für Agitation und Propaganda der Kreisleitungen zu sich, vermittelten ihnen die Informationen und präzisierten die Aufgaben. Die den Agit.-Prop.-Funktionären unterstellten Instrukteure für Westarbeit der Betriebe und Institutionen wurden dann in die jeweilige Kreisleitung beordert, um die konkreten Direktiven entgegenzunehmen. Teilnehmer des Einsatzes erhielten aus Sicherheitsgründen „erst in letzter Minute“ Angaben über Ziel und Ort der Aktion. Ebenfalls aus Sicherheitsgründen wurden zwei Stunden vor dem Beginn der Aktion auf den WestBerliner S-Bahnhöfen die diensttuenden „Fahrkartenknipser“ abgelöst und durch Vertrauensleute der SED ersetzt, „damit zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Männer in der Wanne sitzen“. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc.1636, Nr.2154, Bl. 21. 255 „Wir hatten immer eine fürchterliche Angst, wenn wir in West-Berlin – besonders im Wedding – demonstrieren sollten“, erinnert sich der damalige Kunststudent Erwin Lüdke

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Westeinsätze bis etwa zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der Regel noch verhalten gewesen, nahm es in vielen Ost-Berliner Parteiorganisationen danach die Form deutlicher Kritik an. So sprachen sich beispielsweise „eine ganze Gruppe von Genossen“ in den Großbetrieben Bergmann-Borsig und Chemie Grünau gegen die Arbeit in West-Berlin aus, „weil das aufgebrachte Opfer in keinem Verhältnis zum Erfolg (stünde)“.256 Viele Genossen würden jedoch prinzipieller fragen, ob die Westeinsätze nicht überhaupt unsinnig seien, „solange wir nicht mit Westberlin in den Preisen und im Angebot gleichziehen können“.257 Andere Parteimitglieder versuchten, durch subjektive Argumente und Ausreden von Westeinsätzen freigestellt zu werden. Auch häuften sich Klagen über ungenügende Informationen bei der Vorbereitung von Einsätzen, fehlende Systematik und organisatorische Pannen. Die Berliner SED-Leitung reagierte rigide: „Der Parteiauftrag entscheidet, wer nach Westberlin zu gehen hat.“258 Das Problem des auch statistisch relevanten „Drückens“ ging sie partei-disziplinarisch an, und sie versuchte es ebenfalls durch den Ausbau des Apparates hauptamtlicher Instrukteure zu lösen. Sie trugen in der Hauptsache die Verantwortung für die „Patenarbeit“ nach West-Berlin, übten aber gleichzeitig eine indirekte Kontrolle über die OstBerliner Kader aus. Insgesamt blieb die Methode des Einsatzes „grosser Massen“ bei der Gesamtberliner Arbeit „trotzdem recht unwirksam“, wie der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung im Juli 1957 selbstkritisch feststellte.259 Gleichwohl bildeten Prinzip und Praxis des Kadereinsatzes nur einen der operativen Schwachpunkte. Ein anderer lag in den West-Berliner Gliederungen der SED. Von Ost-Berlin zentral angeleitet, besaßen sie keinen Handlungsspielraum, trugen aber die Hauptlast und das Risiko der alltäglichen Auseinandersetzung. Wenngleich es in den lokalen und betrieblichen Parteiorganisationen, die einem permanenten personel-

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(Jg. 1930). Zwar habe niemand eingestehen wollen, dass er „Schiss“ vor der Westpolizei hatte, „aber es wurde ungemütlich, als die dann anrückte. Die waren wohl deshalb so schnell da, weil sie ihre Informanten im Osten hatten und schon auf uns lauerten. Ich konnte gut rennen, aber einmal haben sie mich doch erwischt und mir ein paar Schläge auf den ‚Allerwertesten‘ verpasst.“ Vgl. Interview mit Erwin Lüdke, 20.10.2007. Abteilung Leitende Organe: „Einschätzung der Arbeit der Kreisleitungen“, 29.9.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 605. Abteilung Organisation und Kader: „Einschätzung über den Stand der Auswertung des V. Parteitages in den Grundorganisationen“, 13.8.1958 in: ebd., Nr. 621. So der Erste Sekretär der SED-BL Groß Berlin, Kiefert, in seinem Referat: „Wie spiegelt sich die Gesamtberliner Arbeit der Partei auf den Kreis-Delegiertenkonferenzen wider?“, 6.6.1958, in: ebd. Vgl. (beschlossene) Vorlage von Bruno Baum für das Sekretariat der SED-BL, 1.7.1957, in: ebd., Nr. 315, Bl. 31.

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len Schrumpfungs- und Überalterungsprozess unterlagen260, noch „klassenbewusste“ Altkommunisten gab, zeigten sich bei ihnen ähnliche Symptome wie bei ihren Ost-Berliner Genossen. Sie wichen aber nicht nur vor dem Terror West-Berliner Organe zurück, meinte ihre Führung, sondern sähen in erster Linie die Sicherung ihres Einkommens sowie ihrer guten Renten. Vor allem seien sie nicht überzeugt davon, „dass der Kampf um die Einheit Berlins erfolgreich sein wird, solange sie leben“. So sei auch ihre „ungenügende Verbindung mit den Massen“ ein weiteres Zeichen für die nicht nur physische Überalterung der West-Berliner SEDMitglieder. Gegen ihr „Kapitulantentum“ müssten die Kreissekretäre und Leitungskader energisch ankämpfen.261 Bei den im Berufsleben stehenden Kommunisten, so konstatierte die Führungsebene, zeigten sich zudem Loyalitätskonflikte. Tatsächlich scheuten sie sich häufig, gegen die sie beschäftigenden Unternehmen aufzutreten. Selbst als Mitglieder von Betriebsräten weigerten sie sich in verschiedenen Fällen, die Belegschaften in den Großbetrieben zum Arbeitskampf aufzurufen.262 Die „Kampffähigkeit“ der westlichen Gliederungen sei in den Klein- und Mittelbetrieben aber noch geringer, merkte die Landesüberprüfungskommission der SED an, und von einer kommunalpolitischen Arbeit könne leider auch keine Rede sein.263 Im Herbst 1951 nannte sie eine weitere ideologische Ursache dafür264, und diskutierte für ein als zentral betrachtetes Kaderproblem, – den „illegalen“ Umzug von WestBerliner SED-Genossen in den Osten265 – Lösungsvorschläge. So sollten in OstBerlin arbeitende, aber im Westteil wohnende zuverlässige SED-Mitglieder dort hauptamtliche Funktionen übernehmen. Seit dem Spätsommer 1953 favorisierte die Partei dann aber die Verstärkung der West-Berliner Parteiorganisation per Umzug vertrauenswürdiger Genossen aus dem Ostsektor.266 Das schien umso 260 Vgl. Struktur der SED-Kreise „Westberlins“, undatiert (1951), in: ebd., C Rep. 901, Nr. 375. 261 „Bericht über die Arbeit der Kreissekretariate und des Apparates im Kreis […]„, undatiert (1951), in: ebd., C Rep. 901, Nr. 183. Es war aber weniger „Kapitulantentum“ als schlicht Frust, wenn West-Berliner SED-Funktionäre feststellten, dass ihnen „die Menschen die Türe vor der Nase zuwerfen“, wenn „wir mit Material aus dem Osten kommen.“ Ebd. 262 Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Bericht über die Realisierung der Beschlüsse der II. Parteikonferenz.“, 30.10.1952,, in: ebd., Nr. 275. 263 Vgl. Landesüberprüfungskommission der SED-LL: „Einschätzung des Zustandes der Parteiorganisation, ihrer Kampffähigkeit und ihrer Massenarbeit“, in: ebd., Nr. 254. 264 „Mangelndes Vertrauen zur Kraft der Arbeiterklasse“ und „in die Stärke des Weltfriedenslagers.“ Ebd. 265 So seien 1.795 SED-Genossen 1950 „ohne Genehmigung“ ihrer Partei in den Ostsektor gezogen. Vgl. ebd. 266 Vgl. „Arbeitsplan des Westbüros […]„, 1.9.1953, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 179, Bl. 25.

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dringlicher, als infolge der repressiven Maßnahmen der DDR im Jahre 1952 immer weniger im Westteil lebende SED-Genossen bereit waren, dort Verantwortung zu übernehmen, und sich die Parteiaustritte häuften.267 Der Unmut trat auch bezüglich der dogmatisch agierenden Parteipresse stärker zutage. Wie geschildert, wurde sie von den West-Berlinern weitestgehend abgelehnt. Aber auch SEDMitglieder kauften, abonnierten und lasen sie immer seltener. Viele von ihnen nahmen sie weniger als Hilfe denn als Hemmnis für ihre Gesamtberliner Arbeit wahr. Dieses Schicksal ereilte auch die seit 1956 zunächst zehntägig in 10.000 Exemplaren erscheinende SED-Zeitung „Die Wahrheit“.268 Die Parteibasis kritisierte, dass sie die Arbeit der Leitungen einschließlich von Fehlverhalten einiger Funktionäre nicht thematisierte, während die Bezirks-Parteikontrollkommission bei ihnen zunehmend Betrugsfälle, Unehrlichkeit, „kleinbürgerliches Verhalten“ und Karrierismus registrierte.269 Wichtige politische Hintergründe für die Kritik an der Gesamtberliner Arbeit der SED bildeten dann die im Dezember 1958 anstehenden West-Berliner Wahlen270 sowie die erstarkende westliche Konkurrenz im Kulturleben der geteilten Stadt. Im Frühjahr 1958 spiegelten interne Diskussionen und Papiere die Einsicht wider, dass nun irgendetwas geschehen müsse. Zunächst dekretierte die SEDBezirksleitung dem Magistrat die Grundsätze für seine Gesamtberliner Arbeit, die sich in dessen Beschluss vom März 1958 wiederfanden271, aber weder inhaltlich noch methodisch einen wirklichen Reformansatz boten. Allerdings führte die Vorbereitung einer Nomenklatur der für den Westeinsatz vorgesehenen SEDKader zu einigen Korrekturen. So hob die SED-Bezirksleitung alle, teilweise grotesken, Bestimmungen272 über das Verbot des Betretens der Westsektoren durch 267 An einem einzigen Tag, den 5.9.1952, verließen in Neukölln sieben Mitglieder die Partei. Vgl. Sekretariat der SED-LL, Anfang Oktober 1952, in: ebd., Nr. 173, Bl. 205, 207. 268 „Die Wahrheit“ sei in der West-Berliner Öffentlichkeit „nicht populär“. Große Teile der Betriebsarbeiter würden sie überhaupt nicht kennen, 15 bis 20 Prozent ihrer Auflage blieben liegen. Sie koste die Partei im Monat 7.093 Westmark, fahre aber nur Verluste ein. Papier der SED-BL Groß Berlin: „Über das Informationsblatt der SED ‚Die Wahrheit‘“, 12.10.1956, in: ebd., Nr. 278, Bl. 76, 78. 269 Vgl. Bezirks-Partei-Kontrollkommission, 27.3.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 165, Bl. 200–212. 270 Vgl. Protokoll Nr. 37/58 der Sitzung des Politbüros der SED am 9.9.1958, in: SAPMOBArch, DY 30, J IV 2/2/609, Bl. 3–5. 271 Vgl. „Grundsätze zur gesamtberliner Arbeit der staatlichen Organe vom Groß-Berlin“, 6.3.1958,in: LAB, C Rep. 902, Nr. 324, Bl. 23–34. 272 So wurde plötzlich erkannt, wie widersinnig es doch sei, dass gerade für die Gesamtberliner Arbeit geeignete Genossen und zuverlässige Mitarbeiter des Staatsapparates nicht nach West-Berlin fahren durften. Grotesk werde diese undifferenzierte Bestimmung beispiels-

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Mitarbeiter staatlicher Dienststellen, von Parteien, Massenorganisationen und Betrieben Ost-Berlins für die Dauer ihres Westeinsatzes auf. Dieser dürfe aber nicht zur „Wahrnehmung persönlicher Interessen in Westberlin“ genutzt werden.273 Gegen diesen „liberalisierenden“ Beschluss, insofern er Familienmitglieder von Volkspolizisten betraf, legte das Ost-Berliner Polizeipräsidium „aus Sicherheitsgründen“ Verwahrung ein.274 Ebenso wie schon der Verbotsbeschluss setzte dessen Aufhebung einen komplizierten bürokratischen Prozess in Gang, der letztendlich zu einer weiteren Aufblähung des Westapparates und neuem Aktionismus führte.275 Er produzierte, etwa beim FDGB, eindrucksvolle Zahlen276, blieb aber ineffektive Betriebsamkeit. Das Desaster ihrer Gesamtberliner Arbeit wurde im Dezember 1958 voll erkennbar, als die SED bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus lediglich 1,9 Prozent der Stimmen erhielt und daraus Konsequenzen ziehen musste. Unter dem Eindruck der durch das Chruschtschow-Ultimatum entstandenen neuen Situation beschloss die SED-Führung, wie geschildert, im Februar 1959 für West-Berlin eine organisatorisch eigenständige Parteileitung zu bilden. Eine „Freie“ Stadt konnte aus optischen Gründen nicht mehr ein Parteibezirk der DDR-Metropole sein. Nachdem Anfang des Monats unter Vorsitz von Bruno

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weise dadurch, dass die Ost-Berliner Parteihochschule hier studierenden West-Berliner Parteischülern verbiete, sich in West-Berlin politisch zu betätigen, glossierten Parteifunktionäre. Vgl. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL: Vorlage für das Büro der BL. 29.5.1958, in: ebd., Nr. 333, Bl. 170. Vgl. ebd. Vgl. Schreiben des Präsidiums der VP an die SED-LL (Jendretzky), 22.3.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 441. So mobilisierte die SED im Januar 1959 für die massenpolitische Arbeit in West-Berlin 1.700 Ost-Berliner Parteimitglieder. Sie kamen in der Regel einmal pro Woche mit „ihren Westberliner Verbindungen“ zusammen. Im Laufe des Jahres seien 20 Genossen für die hauptamtliche Tätigkeit in den westsektoralen SED-Kreisleitungen als „Kreissekretäre und Mitarbeiter im Apparat ausfindig zu machen“. Diverse Parteiaufträge wurden vergeben und neue Kommissionen gebildet. Sie entstanden auch im FDGB unter Kontrolle des Magistrats. Vgl. Vorlage an das Büro der SED-BL: „Direktive für die gesamtberliner Arbeit der Partei und Massenorganisationen“, 21.1.1959, in: ebd., Nr. 371, Bl. 44–50 und „Protokoll der Dienstbesprechung beim Abteilungsleiter Innere Angelegenheiten“ (des Magistrats), 15.4.1957, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 16. Der FDGB hob hervor, dass 1958 exakt 1.388 Delegationen aus volkseigenen Betrieben West-Berliner Unternehmen, aber umgekehrt auch 316 West-Berliner Abordnungen Ost-Berliner Werke besucht hätten. Aufgelistet wurden auch Kulturveranstaltungen, Beratungen, Studienfahrten u.a.m. der Ost- Gewerkschaft mit West-Berliner Arbeitern. Vgl. Vorlage des FDGB-Bezirksvorstandes Groß-Berlin „zur Verbesserung der Gewerkschaftsarbeit nach Westberlin“, 15.1.1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 373, Bl. 57.

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Baum eine aus 13 Personen bestehende „Kommission für Westberliner Fragen“277 gebildet worden war, konstituierte sich am 26. April 1959 unter Gerhard Danelius als ihrem Sekretär eine West-Berliner Parteileitung. Ihr gegenüber blieb die SEDBezirksleitung Groß-Berlin jedoch weisungsberechtigt.278 Parallel dazu bildete sich die Abteilung West-Berlin der FDJ zum „Arbeitsbüro Westberlin“ der FDJ um.279 Diese Maßnahmen sollten mit methodischen Veränderungen verbunden werden. Für entsprechende Schritte setzte sich der flexibel agierende Danelius ein, wenn er die Gesamtberliner Politik „planmäßiger, zielstrebiger, differenzierter, einfacher und ideenreicher“ zu gestalten beabsichtigte: „Die bisherige Methode des massenhaften Einsatzes von Agitatoren aus dem demokratischen Sektor in Westberlin ist überholt.“ Stattdessen würde „ein Kader von Agitatoren“ ausgewählt werden, „die über entsprechende Eignung, Erfahrung, Wendigkeit und Standfestigkeit verfügen und regelmäßig für ihre Arbeit geschult werden“. Das ziehe die Notwendigkeit nach sich, dass alle Parteien, Massenorganisationen, Institutionen u.a.m. ihre Arbeit nach West-Berlin verstärkten und inhaltlich intensivierten, „vor allem durch persönliche Kontaktaufnahme mit dem Ziel, Aussprachen auf allen Ebenen, mit allen Schichten u.s.w. herbeizuführen“.280 Deshalb schuf die neue Leitung zusätzlich eine betriebliche Ebene der Parteitätigkeit. Neben der bisherigen Gesamtberliner Arbeit nach dem Territorialprinzip „betreuten“ nunmehr Ostbetriebe ihre West-Berliner Pendants: Die BVG Ost die BVG West, die Müllfahrer Mitte die Müllfahrer Tempelhof, das Gaswerk Prenzlauer Berg das Gaswerk Mariendorf u.s.w.281 Auch schlug die SED bei ihrer Werbung für eine „freie Stadt“ West-Berlin moderate Töne an. Zwar war die beabsichtigte Herauslösung der Teilstadt aus ihrem westlichen Kontext nicht weniger illuso-

277 Vgl. Arbeitsbüro an das Büro der SED-BL, 4.2.1959, Nr. 373/1, Bl. 65. 278 Ihre bisher für West-Berlin zuständige Abteilung A wurde aufgelöst und bei der neuen „Parteileitung für Westberlin“ fünf Arbeitsgruppen gebildet sowie 12 „Operativinstrukteure“ zur Anleitung der westsektoralen Parteikreise eingesetzt. Vgl. Beschluß, Protokoll Nr. 013/59 der Sitzung des Büros der SED-BL am 21.5.1959, in: ebd., Nr. 380, Bl. 4. 279 Vgl. Beschluß, Protokoll Nr. 015/59 der Sitzung des Büros der SED-BL am 11.6.1959, in: ebd., Nr. 382, Bl. 6. 280 Dies müsse dann so geschehen, „dass Arbeiter zu Arbeiter, Handwerker zu Handwerker, Ärzte zu Ärzte […] Kontakt finden und halten.“ Diese Tätigkeit sei von der „Kommission für gesamtberliner Arbeit beim Berliner Ausschuss der Nationalen Front“ zu koordinieren. Sekretariat Danelius: „Anlage A zur Vorlage über das Auftreten unserer Partei in Westberlin“, 31.3.1959, in: ebd., Nr. 377, Bl. 63, 66. 281 Vorlage an das Büro der SED-BL: „Direktive für die Gesamtberliner Arbeit der Partei und Massenorganisationen“, 21.1.1959, in: ebd., Nr. 371, Bl. 50.

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risch, doch klangen einige konkrete Angebote des Ostens durchaus vernünftig.282 Die in direkter Anlehnung an ein Danelius-Papier erfolgte Planung des Magistrats konkretisierte einige Vorstellungen, verdeutlichte aber auch die klassenkämpferischen Ziele der Gesamtberliner Initiativen.283 Die Korrekturen an ihrer Art und Weise verschärften jedoch das Glaubwürdigkeitsproblem mehr als sie es zu mildern vermochten. Vor dem Hintergrund der omnipräsenten Berlinkrise ging vor allem der Einfluss der SED in den West-Berliner Betriebsgewerkschaften weiter zurück.284 Parallel dazu vergrößerten sich die Schwierigkeiten mit der Parteipresse. Da sämtliche 12 Bezirkszeitungen „keinerlei Wirkung haben und keinerlei politischen Nutzen bringen“, stellte man sie mit Beschluss vom 14. Dezember kurzerhand ein.285 Die inzwischen dreimal pro Woche erscheinende „Die Wahrheit“ geriet in die hämische Kritik der West-Berliner.286 Die Zeitung kostete die SED Ostmark und Devisen, brachte ihr aber nur ansteigende Verluste ein.287 Ebenso beunruhigten neue Kaderprobleme: Jetzt suchte die Partei wieder ein Abwandern junger Genossen von West- nach Ost-Berlin zu verhindern. Das lähme die 282 So schlug die SED die „Durchführung von Kulturfahrten in die DDR und [die] Zulassung von Reisebüros in Westberlin“ sowie Schritte für den Abschluss eines Kulturabkommens zwischen beiden Teilen Berlins und auch ein Handelsabkommen vor. Außerdem plädierte sie für ein vergrößertes West-Berliner Produktionsvolumen sowie für intensivierte Exporte nach Ost-Berlin. Sekretariat Danelius: „Plan für das Auftreten unserer Partei in Westberlin […]„, 31.3.1959, in: ebd., Nr. 377, Bl. 51, 53, 56. 283 Grundlage aller Offerten blieb die Umwandlung West-Berlins in eine „freie entmilitarisierte Stadt“. Einzelne Forderungen zielten auf gravierende Veränderungen im Innern, die sowohl auf einen schrittweisen Systemwandel als auch auf eine Anerkennung der DDR und der Ost-Berliner SED-Herrschaft hinausliefen. In diesem Sinne seien West-Berliner an den von ihnen stark besuchten Ost-Berliner Zielorten für ein Gesamtberliner Gespräch anzusprechen: in Theatern, Museen, Freibädern. Auch könnten hervorragende östliche Kulturgruppen und Künstlerkollektive in den Westsektoren um Sympathien werben. Vgl. ebd., Bl. 50–52 und „Plan der gemeinsamen Kommission des Magistrats von Groß-Berlin und des Ausschusses der Nationalen Front […]„, undatiert (Frühjahr 1959), in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5534. 284 Bericht der Brigade der SED-BL Groß-Berlin, 23.10.1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr.412, Bl. 17–20. 285 Vgl. Beschluß, Protokoll Nr. 20/59 der Sitzung des Sekretariats der SED-BL am 17.12.1959, in: ebd., Nr. 415, Bl. 6. 286 West-Berliner hätten den Verteilern des kommunistischen Presseorgans auf offener Strasse zugerufen: „Macht aus den Zeitungen Toilettenpapier“, „Haut ab nach dem Osten“ u.a.m. Kurzinformation, 23.9.1959, in: ebd., Nr. 622. 287 Pro Woche kostete „Die Wahrheit“ die SED jetzt 67.630 West- und 42.426 Ostmark. Dem standen auf der Einnahmenseite lediglich 7.693,50 Westmark (Abonnements 6.633,50 und freier Verkauf 1.160,00 Westmark) gegenüber. Vgl. „Vorläufiger Monatsetat für „Die Wahrheit“, 24.4.1959, in: ebd., Nr. 401, Bl. 17.

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„Kampfkraft“ der Partei.288 Natürlich besaß das Argument, dass Mitglieder der SED und deren Anhänger in West-Berlin „vor dem Druck des Antikommunismus“ zurückwichen289, einiges für sich. Doch war mit „Antikommunismus“ immer die Summe aller Faktoren gemeint, die der Berlinpolitik der SED im Wege standen – äußere und systeminhärente. Der Begriff stellte letztlich auch die kürzeste Begründungs- und Entschuldigungsformel für eigenes Versagen dar. Überdies begann die SED schon vor dem Mauerbau das Interesse an einer in ihrem Sinne Gesamtberliner Politik zu verlieren. Ein nicht von außen bewirkter Systemwandel in West-Berlin erschien zunehmend aussichtslos. Deshalb verkündete die SED im Mai 1960 eine klare Zweiteilung ihrer Berliner Parteiarbeit. In der Hauptstadt der DDR habe sie „den sozialistischen Aufbau auf allen Gebieten zu beschleunigen und alle Kraft auf die Lösung der ökonomischen Hauptaufgabe zu konzentrieren“. In West-Berlin ging es ihr hingegen um den „Kampf gegen den deutschen Militarismus und Imperialismus für Frieden, Freiheit, Fortschritt und soziale Sicherheit.290 Wenngleich zu einer konzeptionellen Veränderung ihrer Gesamtberliner Arbeit nicht in der Lage, setzten SED und Magistrat während der gesamten 50er Jahre ihre Bemühungen um die Gewinnung von im weitesten Sinne bürgerlichen Kräften West-Berlins unter gesamtdeutschen und Berliner Einheitslosungen kontinuierlich fort. Das betraf sowohl renommierte Einzelpersönlichkeiten und Verbände als auch Parteien und Organisationen. Mit im Vordergrund stand, wie angeführt, die Ausweitung des intersektoralen Handels, an dem Ost-Berlin ein erhebliches Interesse besaß. Der 1954 gegründete „Ausschuß zur Förderung des Berliner Handels“ gab sich überparteiisch, war aber tatsächlich eine SED-Gründung.291 Das Bemühen um Unternehmer, Publizisten, Künstler und bürgerliche Intellektuelle intensivierte sich, als das Politbüro und die Berliner SED-Führung nach dem XX. Parteitag der KPdSU die Auffassung vertraten, dass es in den Westsektoren reale Möglichkeiten für eine „entscheidende Wendung“ insbesondere durch das Engagement bürgerlicher Demokraten für die zu entfaltende Friedensbewegung gebe. Die West-Berliner Verfassung enthalte nämlich „eine Anzahl Artikel“, die „fort-

288 Vgl. „Aktennotiz über eine Aussprache mit dem Gen. Danelius“, 24.10.1960, in: ebd., Nr. 1239. 289 Vgl. Bericht des FDGB Bezirksvorstandes Groß-Berlin „über die nationale Gewerkschaftsarbeit nach Westberlin“, 23.2.1961, in: SAPMO-BArch, DH/1/24746. 290 Entwurf: „Entschließung der Bezirksdelegiertenkonferenz der SED Groß-Berlin“, Mai 1960, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 428/1, Bl. 1. 291 Vgl. Schwane, Wider den Zeitgeist?, S. 92f.

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schrittliche Bedeutung“ hätten292, meinten sie. Das war ein neuer Zungenschlag. In diesem Kontext wollte die SED bei der West-Berliner CDU Misstrauen gegenüber den „reaktionären Führungskräften in der westdeutschen CDU“ wecken. Auch das sei eine Gesamtberliner Aufgabe, der sich vorrangig die Ost-CDU annehmen müsse.293 Dabei gedachte die kommunistische Führung, die über viele Jahre tradierten persönlichen und institutionellen Verbindungen zwischen christdemokratischen und liberalen Politikern sowie anderen Persönlichkeiten Berlins, aber auch Animositäten zwischen ihnen und westdeutschen Politikern, für ihre Ziele zu nutzen.294 Das zeitigte ebenfalls keinen nachhaltigen Erfolg, führte aber erneut zu der Erkenntnis, dass weniger die Kommunisten als ihre „bürgerlichen“ Bündnispartner aus CDU, LDPD und NDPD in der Lage schienen, im konservativen und liberalen Spektrum West-Berlins einige wichtige Kontakte herzustellen und dabei häufig an alte Bekanntschaften anzuknüpfen. Bei SED und Magistrat ergab sich der Eindruck, dass Gesamtberliner Arbeit mit den „Bürgerlichen“, vor allem mit „materiell eingestellten Wirtschaftlern“, einfacher sei als mit den sperrigen Sozialdemokraten.295 1.3.3 Gesamtberliner Politik in den Westsektoren 1.3.3.1 Das Büro für Gesamtberliner Arbeit

Natürlich konnten sich West-Berliner Politik und gesellschaftliche Kräfte bei ihrem Bemühen, Gemeinsamkeiten zu erhalten, ebenfalls auf intersektorale Verflechtungen und gewachsene persönliche Beziehungen stützen. An sie knüpfte insbesondere die SPD an, die eine Befreiung der Sozialdemokraten aus den Fesseln der Einheitspartei beabsichtigte. Dem schien entgegenzukommen, dass einige westdeutsche SPD-Führungskräfte nicht glaubten, dass Ost-Politiker mit sozialdemokratischer Vergangenheit freiwillig und aus Überzeugung der SED dienten.296 Als gesamtstädtisch zu bezeichnende Kontakte zwischen ehemaligen und 292 Stenographische Niederschrift der Tagung des Groß-Berliner Bezirksparteiarchivs vom 19.2.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 109. 293 Vorlage für das Büro der SED-BL: „Unterstützung der CDU bei der Entwicklung einer gesamtberliner Arbeit“, 19.8.1957, in: ebd., Nr. 300, Bl. 55f. 294 Vgl. Michael Lemke, Die infiltrierte Sammlung. Ziele, Methoden und Instrumente der SED zur Formierung einer bürgerlichen Opposition in der Bundesrepublik 1949–1957, in: Tilman Mayer (Hrsg.), „Macht das Tor auf“, Jakob-Kaiser-Studien, Berlin 1996, S. 171–234. 295 Vgl. ebd., S. 179. 296 Ein ehemaliger Parteifreund Eberts, der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Memmingen, L. Riedmüller, meinte in einem freundlichen Brief an das Ost-Berliner Stadtoberhaupt, er könne sich über die politische Tätigkeit seiner früheren SPD-Freunde

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aktiven SPD-Genossen, wie ebenfalls von Mitgliedern der CDU und FDP WestBerlins zu den „bürgerlichen“ Parteien in Ost-Berlin, bedurften zunächst keiner besonderen Vermittlungsstellen, wie sie sich SPD, CDU und FDP zur Aufrechterhaltung ihrer Verbindungen zur DDR mit ihren Ostbüros geschaffen hatten.297 Überdies besaßen die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien Gesamtberliner Fachausschüsse, die spezifische Interessen und Meinungen in die offizielle Berlinpolitik einbrachten. Problematischer sah es mit staatlichen Kontakten aus, die sich dem Senat aus den bekannten Gründen verboten, aber unumgänglich schienen. So durfte nicht der Eindruck entstehen, dass er seiner Gesamtberliner Rhetorik keine Taten folgen lasse und Ost-Berlin eigentlich „abgeschrieben“ sei. Zwar gab es mit dem Ausschuss für Gesamtberliner Fragen des Abgeordnetenhauses eine parlamentarische Instanz, die über die Grundlinien der sektorenübergreifenden Politik beriet, einige prinzipielle Beschlüsse fasste und finanzielle Probleme behandelte. Doch blieb die Arbeit des Gremiums merkwürdig blass, und es verlegte sich bei der Behandlung Ost-Berlins sehr stark auf Deklamationen. Bereits Reuter hatte erkannt, dass eine Senatsstelle notwendig sei, die sich konkret mit der Entwicklung im sowjetischen Sektor, mit der Verbindung zu ihm und den sich daraus ergebenden Fragen explizit beschäftige. Am 4. Juli 1951 einigten sich die Fraktionen von SPD, CDU und FDP nach einigen Diskussionen auf einen Dringlichkeitsantrag, mit dem sie dem Abgeordnetenhaus empfahlen, ein „Gesamtberliner Büro“ mit detaillierten Aufgaben298 zu schaffen. Die dann vom Stadtparlament beschlossene Dienststelle erhielt ihren hohen politischen Rang auch dadurch, dass sie dem Regierenden Bürgermeister (seit 1955 dem Bürgermeister von Berlin) nur freuen, wenn die Sowjetunion tatsächlich die Einheit Deutschlands und einen wirklichen Frieden wolle. Aber das sei sichtbar nicht der Fall. Deshalb meinte er, dass der „liebe Fritz“ (Ebert), so wie er ihn kenne, auf die „russische Propaganda“ nicht hereinfalle. Er erkläre sich Eberts Tätigkeit „als unter dem Zwang der Verhältnisse diktiert“. Dazu gehöre wohl auch die Inhaftierung von SPD-Mitgliedern und jungen Leuten mit einer anderen als der offiziellen Meinung. Schreiben von Riedmüller an Ebert, undatiert, offenbar Herbst 1951, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 372. 297 Vgl. Wolfgang Buschfort, Parteien im Kalten Krieg. Die Ostbüros von SPD, CDU und FDP, Berlin 2000. 298 Seine wichtigsten Aufgaben waren die Koordination aller Gesamtberliner Belange im Bereich der Verwaltung des Landes Berlin, die Förderung menschlicher Beziehungen zwischen beiden Teilen der Stadt, insbesondere auf kulturellem und sozialem Gebiet, die Milderung der aus der Spaltung resultierenden Härten, die Beobachtung und Auswertung aller Vorgänge im öffentlichen Leben des sowjetischen Sektors sowie die Rechtsvergleichung. Im Weiteren sollte es die Funktion eines Gesamtberliner Informations- und Beratungsdienstes wahrnehmen sowie Dokumentationen und Veröffentlichungen Gesamtberliner Charakters erarbeiten. Vgl. Walter Krumholz, Berlin-ABC, Berlin (W) und München 1969, S. 135.

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direkt unterstellt war und ihr ein hochrangiger Beirat299 attachiert wurde. Am 18. Januar 1952 begann das Büro, das (bis 1959) von einem „gestandenen“ Sozialdemokraten, dem ehemaligen Charlottenburger Bezirksrat für Wirtschaft, Ernst Carlbergh, geleitet wurde, seine halb konspirative300, personell aber wenig aufwendige Tätigkeit. Dessen fünf (später sieben) Mitarbeiter unterlagen einer besonderen Disziplinar- und Sicherheitsordnung301, leisteten aber eine sehr effektive Arbeit. Inhaltlich stand dabei die Zusammenarbeit beider Teile Berlins im Vordergrund sowie organisatorisch-methodisch die Bündelung und Koordinierung der dafür notwendigen Ressourcen und finanziellen Mittel. In ihrer integrativen Funktion setzte das Gesamtberliner Büro in Absprache mit den Parteien – insbesondere dem Fachausschuss für Gesamtberliner Fragen des SPD-Landesverbandes – zwar Schwerpunkte, avancierte aber allmählich zu einer „Zentralstelle“, die sich um beinahe alle Gesamtberliner Probleme kümmerte und diverse Entscheidungen traf. Ein besonderes Augenmerk richtete das Büro auf „Angelegenheiten der Grenzgänger und politisch Gemaßregelten“. Allein das zog den Aufbau eines administrativen Netzwerkes nach sich, an dem u.a. die Lohnausgleichskasse, das Landesarbeitsamt, der Hauptwirtschaftler für das Notstandsprogramm, die Senatsverwaltungen Finanzen, Inneres sowie Arbeit und Soziales beteiligt waren. Häufig traten zwischen ihnen Meinungsverschiedenheiten über Hilfen für OstBerliner auf, die das auch als „Gutachterstelle für die Registrierung politisch Gemaßregelter“ figurierende Büro in der Regel zugunsten der Betroffenen aufzulösen versuchte. Wenngleich es aus den genannten Gründen auf Publizität keinen Wert legte, konsultierten es Ost-Berliner Bürger zunehmend und baten um Rat sowie

299 Bestehend aus dem Regierenden Bürgermeister, dem Präsidenten des Abgeordnetenhauses und den Fraktionsvorsitzenden der dort vertretenen Parteien. 300 Der Kalte Krieg forderte der Ost-Berlin betreffenden Tätigkeit des Büros Diskretion als eine Voraussetzung für Effektivität ab. Viele politisch sensible Einzelvorgänge konnten nur mit großem persönlichen Engagement und „Fingerspitzengefühl“ und ohne Öffentlichkeit behandelt werden. Der Senat honorierte die auch in dieser Beziehung außergewöhnliche Stellung und Leistungsbereitschaft der Büromitarbeiter mit einem überdurchschnittlichen Gehalt, vermied es aber – beispielsweise durch den Verzicht auf ihren Nachweis in seinem offiziellen Stellenplan –, Aufmerksamkeit auf das Gremium zu lenken. Vgl. Schreiben der Senatskanzlei an die Senatsverwaltung für Inneres, 28.5.1952, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 9642. 301 Sie betraf sowohl die Gewährleistung der politischen Tätigkeit des Senats als auch die persönliche Sicherheit der Büromitarbeiter. Da die politisch Verantwortlichen immer mit der Möglichkeit von Entführungen durch den Osten rechneten, wurden Disziplinverstöße – wie im Fall einer Sekretärin des Büros – konsequent geahndet. Vgl. Schreiben von Carlbergh an Bürgermeister Amrehn, 14.10.1955, in: ebd., Nr. 2206/2207.

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politische und materielle Unterstützung.302 Das Büro erhielt im Alltag ebenfalls den Charakter einer Gesamtberliner „Klagemauer“. Seine Mitarbeiter lernten zwischen ernst zu nehmenden Problemlagen der Einzelnen und materieller Vorteilssuche zu unterscheiden, konnten dabei aber nicht verhindern, dass ihr Gremium auch für politische Denunziationen und Beschuldigungen genutzt wurde, die Ost-Berliner gegen Ost-Berliner erhoben. Insgesamt verstärkten dessen ungezählte Kontakte die fürsorgliche Komponente seiner Arbeit, insbesondere für jene im sowjetischen Sektor, die sich in sozialen und rechtlichen Notsituationen befanden. Sein systematisch ausgebautes gesamtstädtisches Verbindungsnetzwerk sorgte insbesondere für einen gesicherten Informationsfluss von Ost nach West. Auch dadurch entwickelte sich das Büro zum bestinformierten Gesamtberliner Kontaktgremium, das dem Senat seriöse Analysen Ost-Berlins sowie realistische Prognosen zu liefern vermochte.303 Es war jedoch nicht nur der wichtigste Berater der offiziellen Gesamtberliner Politik, sondern ebenfalls dessen Begutachter und gelegentlicher Kritiker.304 Selbst ein „Kind“ der Berliner Systemauseinandersetzung, trug das Büro in verschiedenen Fällen zu ihrer Abschwächung dadurch bei, dass es Erkenntnisse und Einschätzungen lieferte, die spekulativen Annahmen über Ziele, angeblich geplante Maßnahmen der SED sowie „Elendserzählungen“ aus OstBerlin widersprachen und damit antikommunistischer Hysterie entgegenwirkten.305 Andererseits ließen die Analysen bei allen Unschärfen tatsächliche östliche Planungen erkennen und ermöglichten es dem Senat, Gegenmaßnahmen vorzubereiten. Die politische Funktion des Gremiums erfuhr durch dessen intensive Zusammenarbeit mit Rundfunk und Presse eine Erweiterung. So konsultierte es der RIAS bei der Vorbereitung und Durchführung von Sendereihen über Gesamtberliner, auf den Osten zugeschnittene Probleme.306 Das Büro beriet die Westpresse 302 Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2071. 303 Davon zeugen zahlreiche spezielle Rapporte aus Ost-Berlin, in erster Linie aber die halbjährlichen „Berlins West-Ost-Probleme“ sowie die Jahresberichte. 304 Vgl. u.a. Vermerk des Gesamtberliner Büros zum Protokoll der Besprechung der Leiter der Zuzugstellen, 2.2.1956, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 7879/1. 305 Vgl. Vermerk des Gesamtberliner Büros, 30.5.1958, in: ebd. Im konkreten Fall war durch eine Fehlmeldung des „Tagesspiegels“ vom 25.5.1958 über angebliche Repressionen der Volkspolizei gegen Grenzgänger eine Kette von Falschinformationen entstanden, die Carlbergh sachlich zurückwies. 306 Ein signifikantes Beispiel dafür bieten die Fachkonsultationen bei der Sendereihe: „Das Berliner Problem der Woche.“ So wurden Antworten auf wichtige Fragen gegeben, u.a., ob die Ost-Berliner Behörden einem Bürger die Wohnung wegnehmen können. Vgl. Vermerk des Gesamtberliner Büros: „Betr. Aktuelle Fragen für die beabsichtigte neue RIAS-Sendung“, 14.3.1953, in: ebd., 7879/2.

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und lancierte bestimmte Nachrichten für ostsektorale Zielgruppen in auflagenstarken Tageszeitungen.307 Erheblich war auch sein kulturpolitischer Einfluss. Es setzte sich vehement für die Schaffung von Bedingungen ein, die den OstBerlinern eine gleichberechtigte Teilnahme am westsektoralen Kulturleben gestatteten. Bei der Realisierung des noch näher zu untersuchenden Gesamtberliner Kulturplans beanspruchte das Büro dann folgerichtig eine zentrale Position. Einen großen Anteil am Gesamtvolumen seiner Tätigkeit nahm die praktische Alltagsarbeit ein. Zum einen standen Maßnahmen zur Betreuung von politisch repressierten wie auch in wirtschaftliche Bedrängnis geratenen Ost-Berlinern auf der Tagesordnung, aber ebenfalls Hilfen für Rentner und Jugendliche aus dem Ostsektor, kulturelle Zuschüsse vielerlei Art, die Organisierung von Stadtrundfahrten und des Fahrkartenverkaufs für Ost-Berliner BVG-Nutzer u.a.m.308 Eine der wichtigsten operativen Aufgaben des Büros bestand im Verteilen der aus verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Quellen fließenden Geldmittel zur Finanzierung von Gesamtberliner Aufwendungen und ihrer Träger. Bedingung war, dass sie sich in irgendeiner Weise gesamtstädtischen Problemen widmeten und erkennbar zur Bewahrung des Verflechtungsraumes beitrugen. Das galt auch für die Subventionierung kultureller Veranstaltungen, Ausstellungen, Filme und Publikationen. Für die Entscheidung gab es Kriterien und ein Auswahlverfahren. Hauptproblem blieb, dass das Geld zunächst nicht eben reichlich floss und sich die Schar der Aspiranten ständig vergrößerte. Ab Mitte der 50er Jahre standen dann jedoch erheblichere Summen bereit, über deren Verteilung das Büro an Reputation gewann. Neben den Beihilfen für kulturelle Institutionen wie die Freie Volksbühne (weil sie 25.000 Ostabonnements nachweisen konnte)309, Subventionen für bestimmte Theater- und andere Eintrittskarten, für Sportvereine (mit einem Anteil Ostmitglieder), Dampferfahrten, Feiern für Ost-Berliner u.a.m. nahmen die im weiten Sinn mit der Ostkonkurrenz begründeten Zuwendungen einen großen Anteil ein.310 Erhebliche Zuschüsse erhielten auch das Kuratorium 307 Vgl. Vermerk des Gesamtberliner Büros, 27.8.1957, in: ebd., Nr. 7879/1. 308 Vgl. Schreiben des Fachausschusses Gesamtberliner Fragen des SPD-Landesverbandes Berlin an den SPD-Landesvorstand, 8.12.1955, in: ebd., B Rep. 200–17, Nr. 53. 309 Vgl. Schreiben des Senators für Volksbildung an die Senatskanzlei, 18.2.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1785, Bl. 3. 310 So erhielten der „Bund der Berliner und der Freunde Berlins e.V.“ jährlich 30.000 Westmark, das privatrechtliche August-Bebel-Institut mit seinen Gesamtberliner Bildungskursen sowie einige Zeitschriften, die angeblich auch Ost-Berliner lasen, einige Tausend Westmark. Vgl. Büro für Gesamtberliner Fragen, 1953–1954, Fonds, in: ebd., Bl. 4–7. Der Bundesjugendring als Herausgeber der Zeitschrift „Blickpunkt“ argumentierte, dass sie auch „in Hinblick auf das tägliche Erscheinen der sowjetzonalen Jugendzeitschrift ‚Junge Welt‘‛ mit einer Million Auflage“ unbedingt weiter erscheinen müsse. Vgl. ebd., Bl.

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Unteilbares Deutschland, das „zum Studium der Verhältnisse in der Sowjetzone“ eingerichtete „Haus der Zukunft“ in Grunewald311 und nicht zuletzt Jugendorganisationen wie „Die Falken“312 mit Ost-Berlin-Kontakten. Waren verschiedene Unterstützungen einmalig, erhielten sie bestimmte Empfänger kontinuierlich. Beispielsweise für Betreuungsaktionen zu Gunsten politischer Häftlinge, ihrer Angehörigen in Ost-Berlin sowie der „politisch Gemaßregelten“ stellte das Büro laufend finanzielle Mittel zur Verfügung.313 Verschiedentlich jedoch nicht. Hier handelte es sich zum größten Teil um private Projekte künstlerischer Natur, deren Weiterfinanzierung es z.B. im Fall des Dokumentarfilms „Berlin, wie es weint und lacht“ 1957 aus wirtschaftlichen Gründen ablehnte.314 Die konkrete Angelegenheit deutete jedoch auf eine allgemeine Tendenz hin: Denn von einer „Gesamtberliner“ Politisierung315 der Projekte erwarteten die Antragsteller größere Bewilligungschancen, die durch die latente Drohung mit der östlichen Konkurrenz316

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7–10, und Schreiben des Landesjugendringes Berlin an die Berliner Vertretung des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen, 25.9.1952, in: ebd., Bl. 55. Vgl. Schriftverkehr des Büros für Gesamtberliner Fragen mit dem Kuratorium Unteilbares Deutschland, in: ebd., Nr. 1768 (ganze Akte) und ebd., Bl 5, 27. Sie bekamen u.a. Geld für Zeltlager, Feiern, Eintrittskarten, Bildungsveranstaltungen, Stadtrundfahrten und Reisen, auch Auslandsaufenthalte. Vgl. ebd., Nr. 1761, Bl. 11, 14, 20, 35, 63, 100, 144. Vgl. ebd., Nr. 1766, Bl. 5,27. Das Büro verweigerte einen Zuschuss, weil der Schöpfer des Streifens, der bekannte Filmproduzent Leo de Laforque, dafür bereits erhebliche Summen erhalten habe, keine Aussagen über die Fertigstellung des Filmes mache und überdies „Worte der Entrüstung“ mit Drohungen verbinde. Vgl. Schreiben von Carlbergh an den UFA-Vorstand, 21.6.1957, in: ebd., Nr. 1758, Bl. 23. Trotz der Absage, „meine schwierige und im Dienste der Öffentlichkeit und der Welt stehende Aufgabe zu fördern“, schrieb de Laforque, sei er gerade dabei, „die Grenzzonen Berlins in Farben filmisch aufzunehmen. Für Verbandszeug bei etwaigem Beschuss durch Vopos oder Sowjetposten ist gesorgt“, „für verlorengegangene Freiheit“ könne er allerdings nicht garantieren. Sein Film sei kulturell, pädagogisch, historisch und städtebaulich höchst bedeutsam, aber auch politisch „in Bezug auf die Gesamtberliner, gesamtdeutschen und vor allem abendländischen Fragen“. Er sei ein „Politikum hochpotenzierter Art“, „da zumal der Film das intensivste, suggestivste und weitverbreitete Massenbeeinflussungsmittel ist“. Schreiben von de Laforque an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 14.7.1957, in: ebd., Bl. 14f. An Carlbergh hatte er am 3.7.1957 geschrieben, dass es schließlich um „einen der monumentalsten Dokumentarfilme im Kampf um die Erhaltung des Abendlandes, im Kampf um Berlin selbst (geht)“. Ebd., Bl. 19. Es komme immer wieder „zu Vorstößen der ostsektoralen Behörden, ich solle doch den in Arbeit genommenen Film über Berlin auch in ostsektoralen Gebieten drehen anstatt nur im Westen Berlins, immer mit der Lockung, dass mir jede denkbare Summe zugesteuert würde […] Ferner wurden mir bedeutende Subventionen für andere Filme und eine Opti-

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optimierbar schienen. Fühlte sich das Büro bei einer Ablehnung nicht so sicher, holte es sich von seinen Oberen Rückendeckung.317 Die schien umso mehr geboten, als die Verteilung der aus dem Gesamtberliner Kulturplan ab 1957 fließenden Mittel in Millionenhöhe mehr Öffentlichkeit und somit auch mehr Kritik auf sich zog. Gleichwohl blieb die Selbsteinschätzung des Gesamtberliner Büros von 1959 im Wesentlichen gültig: Es sei die „wichtigste Kontaktstelle zwischen Ost- und Westberlin“ und seine vielfältigen Aufgaben dienten „ausnahmslos dem Ziel, die Bedeutung Berlins als Stätte freier menschlicher Begegnung zwischen Ost und West zu erhalten und die Folgen der Spaltung unserer Stadt zu mildern“.318 Daran ändert auch der Umstand wenig, dass diese Institution ein Phänomen der Berliner Systemkonkurrenz und als solche zeitbedingt war. Mit der Zerstörung der intersektoralen Verflechtungen durch den Mauerbau wurde das Büro obsolet. 1962 beendete es seine Tätigkeit. 1.3.3.2 Antikommunistische Initiativen

Auf die Frage des Weiterwirkens ehemals gemeinsamer Einrichtungen sowie von Gesetzen, Ordnungen und Vorschriften aus der Zeit vor 1948 konnte WestBerlins Politik im Prinzip nur in dem Umfang einwirken, wie es den östlichen Herrschaftsinteressen nicht widersprach. Im offenen soziokulturellen Alltag war das zwar anders, doch zeigte sich hier besonders, dass die primären finanziellmateriellen Voraussetzungen für die Gesamtberliner Arbeit ein komplexes Dauerthema bildeten und für den von fiskalischen Schwierigkeiten geplagten Senat ein immer im gesamtdeutschen Kontext darzustellendes Entwicklungsproblem. So erklärte er der Bundesregierung permanent, die West-Berlin betreffenden Förderungspläne seien immer unter dem Aspekt zu betrachten, dass alle Schritte, „bisherige und künftige“, die „räumliche und kulturelle Einheit der Stadt“ unterstellen.319 So entstand ein Junktim zwischen westlichen Subventionen und fiktiver on auf einen größeren Farbspielfilm bei der DEFA zugesagt“, behauptete de Laforque. Er habe das aber im Vertrauen auf finanzielle Zuwendungen für seinen Berlin-Film durch die West-Berliner Behörden abgelehnt. Neue Besucher bei ihm aus dem Osten seien jetzt u.a. der Leiter der DEFA und Karl-Eduard von Schnitzler. „Sie locken wieder mit Unsummen von Geld.“ Schreiben von de Laforque an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Brandt, 5.6.1957, in: ebd., Bl. 44. 317 Der Filmemacher habe bereits Mittel für seinen Berlinfilm erhalten. (Soll man dieses „Faß ohne Boden“ noch weiter subventionieren?, fragte das ablehnende Büro.) Schreiben von Legien, Büro für Gesamtberliner Arbeit, an Bgm. Amrehn, 31.7.1957, in: ebd., Bl. 12. 318 Jahresbericht 1959/60 des Büros für Gesamtberliner Fragen, undatiert, (1960), in: ebd., Nr. 9642. 319 „Vorbemerkungen“ zum „langfristigen Aufbauplan für Berlin“, in: ebd., B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408.

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Gesamtberliner Perspektive. Dieses Konstrukt legitimierte die in der Regel hoch angesetzten Investitionsforderungen mit, legte aber den Senat auf eine viel weit gefasstere Einheits-Propaganda fest, als sie sein pragmatisches Gesamtberliner Büro betrieb. Dafür standen die Massenmedien, aber auch eigene Film- und Druckerzeugnisse, zur Verfügung. Insbesondere erreichten verschiedene Sendeund Artikelreihen ein breites Berliner Publikum. Eine rege, zumeist verdeckte Kommunikation zwischen den Senats-Dienststellen und Ost-Berliner Bürgern entstand indes durch Briefaustausch bzw. direkte Gespräche. Zumeist ließen sich die Berliner aus dem „demokratischen“ Sektor in verschiedenen Sachen auch außerhalb des Gesamtberliner Büros beraten, erbaten praktische Unterstützung oder wollten in irgendwelchen Senatsämtern ihrem Ärger über die Behörden und Verhältnisse an ihren Wohnorten auch einfach nur „Luft machen“, gelegentlich auch ihnen Verdächtige denunzieren.320 Zum Gesamtberliner Alltag der Behörden gehörte auch, dass viele Kontaktsuchende aus dem Osten an nichtstaatliche Organisationen weitervermittelt wurden – teils aus finanziellen, teils aber auch aus Kompetenzgründen. Hier zeigten sich besonders christliche und nichtkonfessionelle Hilfsorganisationen mit einem berlinspezifischen sozialen Auftrag gefordert. Daneben verstanden sich jedoch antikommunistische Gründungen als die wahren Vertreter des Gesamtberliner Gedankens und seiner praktischen Umsetzung. Betrachteten sich einige von ihnen, etwa die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU)321, der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ)322 sowie die „Arbeitsgemeinschaft West-Ost-Hilfe“ als gesamtdeutsch, so besaßen sie doch alle einen starken Bezug zu Berlin oder hatten, wie die kurzfristige „Liga für Geistesfreiheit“, dort ihren Ausgangspunkt.323 Eine gewisse Anziehungskraft auf die Berliner aller Sektoren übte der „Internationale Kongreß für kulturelle Freiheit“ aus, der zunächst als Gegenveranstaltung zu den Kongressen der östlich initiierten Friedensbewegung fungierte, dann aber, ebenfalls nicht zufällig, in Berlin gegründet324, zu einer Institution wurde, „die Sowjetkommunismus und Nationalkom320 Vgl. ebd., Nr. 2071. 321 Vgl. zur KgU: Kai-Uwe Merz, Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948–1959, München 1987 und Gerhard Finn, Nichtstun ist Mord. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, Bad Münstereifel 2000. 322 Vgl. zur Entstehung, den Aufgaben und der Arbeitsweise des UFJ: Siegfried Mampel, Der Untergrundkampf des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen in West-Berlin (= Schriften der Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bd. 1), Berlin 4 1999, S. 6–27. 323 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 21.9.1948. 324 Der auf Initiative des amerikanischen Journalisten Melvin J. Lasky geschaffene Kongreß hatte sich erstmals im Juni 1950 zusammengefunden. Den propagandistischen Effekt der

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munismus unterschiedslos in eins“ setzte und ein Programm des geistigen „Roll Back“ formulierte.325 Später wurde bekannt, dass den „Kongreß“ als Berlin- und deutschlandpolitisches Instrument des Westens der amerikanische Geheimdienst CIA finanzierte.326 Unabhängig davon polarisierte er die Berliner Kulturkonkurrenz und Politik hochgradig.327 Der „Kongreß“ und andere antikommunistische Organisationen, die ihre politische Tätigkeit, wie im Fall der KgU, zunächst mit kulturellen und sozialen Zielen humanistisch verbanden, betrieben zunehmend beinharte Subversion und Spionage, scheuten dabei auch fragwürdige Methoden nicht und hielten angesichts des stalinistischen Terrors militante, von den Westalliierten oft tolerierte Aktionen328 für angemessen. Sie erreichten eine tatsächlich nicht unerhebliche Anzahl von Ostdeutschen und über ihre gesamtstädtische Arbeit auch viele Ost-Berliner. Da sie unter extrem antikommunistischen, genuin konfrontativen, Vorzeichen operierten und wenig Rücksichten auf verschiedene Folgen nahm, gefährdete beispielsweise die KgU viele östliche Oppositionelle.

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Berliner Luftbrücke nutzend, inszenierte sich der Kongreß als eine „kulturelle Luftbrücke“. Vgl. Karin Westermann, Mitte und Grenze. Motive konservativer Kulturpolitik am Beispiel Berlins 1945–85, Frankfurt am Main u.a. 1989, S. 195. Vgl. dazu auch: Diethelm Prowe, Weltstadt in Krisen, Berlin/New York 1973, S. 64f. Franziska Meyer, „Auch die Wahrheit bedarf der Propaganda“: Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Folgen, in: Eine Kulturmetropole wird geteilt. Literarisches Leben in Berlin (West), Eine Ausstellung des Realismusstudios der NGBK, Berlin (W) 1987, S. 33. Vgl. „Der Tagesspiegel“, 4.10.1967. In Ost-Berlin nahmen Kulturschaffende, u.a. Johannes R. Becher und Bertolt Brecht, sofort Stellung gegen den Kongreß, dem dort im Juli 1950 eine nicht sehr erfolgreiche Schriftstellertagung entgegengesetzt wurde. Vgl. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1989, S. 250–252. Zur Beteiligung vgl. „Der Tag“, 24.6. und 25.6.1950 sowie „Die Neue Zeitung“ (Berliner Zeitung), 29.6.1950. Berühmt-berüchtigt wurden die zahlreichen Aktionen der KgU per Gasballons, die im Ostsektor und im berlinnahen Raum zerplatzten, um Flugblätter zu streuen. Das gefährdete die Luftsicherheit über den betroffenen Territorien, führte aber stärker noch zu einer „Ballonpsychose“ der Ost-Berliner Volkspolizei, die, an Szenen des Luftkrieges im Zweiten Weltkrieg erinnernd, Einsatzstäbe bildete, „starke oder schwache Ballontätigkeit“ meldete, die Verfolgung der Flugkörper aufnahm und sie zu vernichten versuchte – zum Gaudium vieler Kinder und anderer Schaulustiger. Vgl. Verlaufsbericht des Einsatzstabes des Bezirks Berlin, 9.8.1958, in: LAB, C Rep. 104, Nr. 324. Die Westmächte teilten der Senatskanzlei vertraulich mit, dass sie ein Verbot der Balloneinsätze nicht beabsichtigen und sie es begrüßten, „wenn man sich im allgemeinen möglichst wenig über den ganzen Fragenkomplex mit den deutschen Behörden zu unterhalten hätte“. Schreiben des Chefs der Senatskanzlei an den Reg. Bgm. Suhr, 26.10.1955, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 4800.

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Auch der UFJ ängstigte Ost-Berliner329 zeitweise offenbar mehr als er ihnen psychologisch half. Unter diesem Aspekt blieben auch Arbeitsgemeinschaften und ad hoc-Bündnisse zwischen diesen Organisationen, staatlichen Stellen und anderen politischen Kräften330 im Kalten Krieg zweifelhaft. Das betraf auch die Informationskontakte zwischen dem Gesamtberliner Büro und der KgU.331 Andererseits verweigerten sich vor allem Berliner SPD-Politiker deren militanten Druckerzeugnissen332 und den teilweise als unanständig empfundenen Praktiken.333 So wurde die KgU trotz ihres mutigen Einsatzes in beiden Teilen Berlins wegen ihrer radikalen Mentalität und der Gefährlichkeit ihrer Einsätze zunehmend abgelehnt. Ulbricht bot der West-Berliner SPD sogar ein gegen die KgU gerichtetes Berliner 329 Der UFJ verschickte über verschiedene Kanäle „Warnlisten“ derer in der DDR und OstBerlin, die sich nach seinen Erkenntnissen verschiedener Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber Ostdeutschen schuldig gemacht hätten. Die Listen gingen gleichzeitig an westdeutsche Regierungsstellen, Gerichte und andere Gremien. Vgl. „Warnlisten“, in: ebd., Acc. 1512, Nr. 1787 und Schreiben des UFJ an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 7.5.1953, in: ebd. Der UFJ verschickte überdies politische „Informationsbriefe“ in den Osten. Käme solch eine Sendung in die DDR-Briefkontrolle „wird der Empfänger schwer geschädigt, und darin liegt eine große Gefahr, der erste Erfolg wäre eine peinliche Haussuchung […]“. Viele Empfänger „zitterten geradezu in Erwartung eines nächsten Briefes“, schrieben Ost-Berliner am 20.2.1959 an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Daraufhin wurde von dieser Versandpraxis abgegangen. Vgl. ebd., Acc. 1636, Nr. 2069 und Schreiben von Carlbergh an die Senatskanzlei, 14.4.1959, in: ebd. 330 Anfang der 50er Jahre entstanden „gemischte“ Arbeitsgemeinschaften wie die „Arbeitsgemeinschaft West-Ost-Hilfe“ häufig aus bestimmten Anlässen; im konkreten Fall in der Folge der Ost-Berliner Weltjugendfestspiele 1951. Die vor allem Kontakte mit OstBerliner Jugendlichen bezweckende Arbeitsgemeinschaft West-Ost-Hilfe setzte sich aus Vertretern der West-Berliner Politik, des Abgeordnetenhauses, des Verbandes der Heimatvertriebenen, des Caritasverbandes, des Landesjugendrings, des Ringes Politischer Jugend des DGB, aber auch von der KgU und UFJ zusammen. Willy Brandt wurde Vorsitzender, Ernst Tillich (KgU) sein Stellvertreter. Vgl. Protokolle, 30.10.1951 und 27.11.1951, in: ebd., Nr. 3406–3407. 331 Vgl. Schreiben der KgU an das Gesamtberliner Büro, 18.3.1953 und desselben an die KgU, 4.5.1953, in: ebd., Nr. 2206–2207. 332 So die in Millionenauflage erscheinende antikommunistische Satire-Zeitschrift „Tarantel“. 333 Als die „Welt im Film“ Nr. 292/1951 zeigte, wie die KgU in einem Charlottenburger Postamt ein Paket an Stalin mit einem Stacheldrahtkranz zur Erinnerung „an die deutschen Kriegsgefangenen, Verschleppten und Insassen von sowjetischen KZs“ aufgab, fand sie zumeist noch Beifall. Hingegen wurde die von der Organisation inszenierte Verteilung der „Tarantel“ durch Flüchtlinge in der Uniform von Volkspolizisten (sie trugen Armbinden mit der Aufschrift „Abgeworben“) u.a. von der SPD als „geschmacklos“ kritisiert. Protokoll der 29. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 27.9.1956, in: LAB, B Rep. 012, Nr. 184.

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Bündnis an, als er davon hörte, dass sie (angeblich) SPD-Funktionäre bespitzelte.334 In verschiedenen Fällen sah der Senat seine Gesamtberliner Arbeit durch rechtspopulistische Verbindungen gefährdet. So löste er im Januar 1953 die besonders über jugendliche Anhänger verfügende „Arbeitsgemeinschaft Nation Europa“ auf. Berlin sei „kein Tummelplatz für Hasardeure, vor allem auch dann nicht, wenn es sich um jugendliche Mitläufer Unbelehrbarer handelt“. Im Hintergrund stand offenbar auch die Befürchtung, dass sie möglicherweise von der SED für ihre Gesamtberliner Ambitionen instrumentalisiert werden könnten.335 Auch hier artikulierte sich aufeinander bezogenes Handeln. 1.3.4 Die Brückenfunktion der Kirchen Echte Gesamtberliner Arbeit leisteten die Kirchen. Zum einen waren sowohl die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg – Lutheraner wie Reformierte – als auch die Katholiken des Bistums Berlin gesamtregional organisiert. Das betraf Leitungshierarchien und Gemeindevertreter gleichermaßen. Auch stimmten kirchliche Verwaltungs- und Sektorengrenzen häufig nicht überein. So verliefen die sektoralen Demarkationslinien durch eine Reihe von Kirchgemeinden. Zum anderen betonten die Großkirchen, dass für sie politische Grenzen in Deutschland und Berlin nicht gelten336 und sie nicht nur die Einheit des Vaterlandes sowie ihrer Hauptstadt, sondern auch die der Gläubigen gewahrt wissen und verteidigen wollten. Insbesondere sah sich die Evangelisch-Lutherische Kirche BerlinBrandenburg unter ihrem Bischof Otto Dibelius, seit 1949 auch Ratsvorsitzender der EKD, dazu berufen. Der als nationalpatriotisch und religiös konservativ geltende Geistliche, einst Mitbegründer der Bekennenden Kirche, war der SED aber nicht nur suspekt, weil er in dem Ruf stand, am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, den „Ausgleich“ der Nazis mit den Konservativen von der Kanzel der Garnisonskirche herab abgesegnet zu haben, sondern in der deutschen Frage, unabhängig vom Wollen der SED, aktiv wurde – u.a. bei der sowjetischen Besatzungsmacht.337 334 Vgl. Referat Ulbrichts, Stenographische Niederschrift der Parteiaktivtagung der SED-BL Groß-Berlin am 21.5.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 110. 335 Presseamt des Senats, 29.1.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 592. 336 Vgl. Berliner Begleiter (Sonderauflage für die Publikationsstelle des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen, Bonn), hrsg. vom Freideutschen Kreis Berlin, S. 22. 337 Vgl. Elke Scherstjanoi/Christian Stappenbeck, „Dibelius war in Karlshorst …, wollte Mittelsmann sein zwischen der SKK und Adenauer …“. Ein geheimes Gespräch zwischen Bischof Dibelius, Armeegeneral Tschujkow und Politberater Semjonow im November 1951, in: DA, 28, 1995, S. 71.

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Natürlich war die in der DDR und in Berlin traditionell starke evangelische Glaubensgemeinschaft der atheistischen Diktatur auch aus prinzipiellen Gründen ein Dorn im Auge, und ihre Führung blieb – etwa Ministerpräsident Grotewohl aus Überzeugung – kirchenfeindlich. Dazu trug der Umstand bei, dass die Kirche die letzte legale Institution war, „die sich auf geltendes Recht berief und von dieser Position her die letzte Instanz oppositioneller Politik darstellte“.338 Doch konnte sich die SED angesichts der starken Verankerung dieser Institution in der Bevölkerung einen offenen Kampf nicht leisten. Vorsicht war auch geboten, weil die West-Berliner politische Konkurrenz demonstrativ für die Freiheit und Belange der Religionsgemeinschaften eintrat, wohl wissend, auf wessen Seite zuvorderst die Amtsträger standen. Dennoch versuchte die SED gerade in Kirchensachen, auf der Basis ihrer Bündnispolitik Gläubige und Anhänger der evangelischen, aber auch anderer Religionsgemeinschaften für sich zu gewinnen und sie in eine oppositionelle Position gegenüber ihren Oberen zu manövrieren. Das fiel der Berliner SEDFührung mit ihrer nationalen und Gesamtberliner Rhetorik auch deshalb nicht leicht, weil die Kirche nichts anderes wollte, als das Politbüro verkündete: die Einheit. Insofern konnte die Parteiführung offiziell kaum etwas dagegen einwenden, dass die Kirchen sowie ihre Gliederungen und diversen Einrichtungen in allen Teilen der Stadt mit einer Vielzahl von Aktivitäten auch sektorenübergreifend arbeiteten. Ebenso integrativ wirkten ihre bedeutenden sozialen Netzwerke, von Krankenhäusern über Altersheime bis hin zu Bahnhofsmissionen. So durfte die SED auch dem Begehren der EKD nicht im Wege stehen, den lange geplanten gesamtdeutschen Evangelischen Kirchentag 1951 in beiden Teilen Berlins abzuhalten. Die SED machte „gute Miene“ zum bösen Spiel, tolerierte die demonstrative Anwesenheit West-Berliner und bundesrepublikanischer evangelischer Politiker339, stellte unentgeltlich Veranstaltungsorte zur Verfügung und legte noch einen Bargeldzuschuss von 100.000 Ostmark340 obendrauf. Offenbar sahen DDRund Ost-Berliner Führung in diesem Kirchentag mehr eine propagandistische Chance als ein ideologisches Risiko.341 Doch mit der akuten Systemkrise ab dem 338 Erhard Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, Bonn 1997, S. 71. 339 U.a. Bundestagspräsident Herrmann Ehlers und der West-Berliner Volksbildungssenator Joachim Tiburtius. Vgl. Axel Steinhage/Thomas Flemming, Berlin – Vom Kriegsende bis zur Wende: 1945–1989. Jahr für Jahr. Die Ereignisse in der geteilten Stadt, Berlin1 1995, S. 51. 340 Vgl. Frank Zschaler, Öffentliche Finanzen und Finanzpolitik in Berlin 1945–1961. Eine vergleichende Untersuchung von Ost- und West-Berlin (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 88), Berlin/New York 1995, S. 118. 341 Beispielsweise wurde ein Brief Wilhelm Piecks an die Kirchentagsbesucher in 800.000 Exemplaren und von der Ost-CDU eine propagandistische Broschüre verteilt. Vgl. Proto-

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2. Halbjahr 1952 wendete sich das Blatt: Die repressiven Maßnahmen gegen die evangelische Kirche, insbesondere gegen ihre Jugendorganisation, die „Junge Gemeinde“, bedrohten verschiedene Gläubige empfindlich, führten aber ebenfalls zu Solidaritätseffekten und vermochten die Gesamtberliner Arbeit der großen Religionsgemeinschaften nicht zu lähmen. Die kirchenpolitischen Turbulenzen der SED betrafen auch die im Umgang mit dem Staat außerordentlich behutsam agierende katholische Kirche. In Berlin und Brandenburg weniger mitgliedsstark und einflussreich, suchte sie im Interesse ihres Kirchenvolkes zwar immer nach Kompromissen mit dem atheistischen Staatskurs, war aber in prinzipiellen Fragen nicht minder konsequent. Überdies beharrte sie auf der räumlichen und politischen Unteilbarkeit des Bistums Berlin. Noch bis Mitte 1952 hielten sich DDRRegierung und Magistrat mit unfreundlichen Maßnahmen gegen dessen Administration zurück. Im Gegenteil gewährten sie in Konkurrenz zum Senat für den Wiederaufbau der Berliner Hedwigskathedrale – der Bischofskirche – Anfang 1950 150.000 Ostmark342 und sagten der katholischen Kirche am 29. Oktober 1951 verbindlich zu, den 75. Deutschen Katholikentag, ähnlich dem Evangelischen Kirchentag, zu unterstützen. Unter dem Eindruck der „Verschärfung des Klassenkampfes“ vollzogen DDR-Regierung und Magistrat Mitte Juli 1952 jedoch eine Kehrtwende, verweigerten seinen Organisatoren nunmehr die Ost-Berliner Tagungsstätten und Gemeinschaftsquartiere sowie die bereits eingeplanten Sonderzüge und Fahrpreisermäßigungen. Doch führte dieser Affront zu einem Bekenntnis der 120.000 Teilnehmer des Katholikentages zur Einheit Berlins und zu einer entsprechenden demonstrativen Erklärung von Papst Pius XII.343 Überdies erstaunte viele Beobachter die medienwirksame Solidarisierung der Berliner Protestanten mit ihren katholischen Glaubensbrüdern. Auch konnte die östliche Seite nicht verhindern, dass der Katholikentag auch praktisch eine Gesamtberliner Dimension annahm: Die Ost-Berliner Gotteshäuser waren überfüllt, und niemandem war verboten, Sonderveranstaltungen, wie sie beispielsweise in der grokoll Nr. 78/51 der Sitzung des Sekretariats des ZK am 18.6.1951, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3/205, Bl. 2f. 342 Die West-Berliner Administration war angesichts ihrer prekären finanziellen Lage vom Wiederaufbau der barocken Kathedrale offenbar wenig begeistert. Doch lieferte WestBerlin im Werte von 150.000 Westmark Baumaterial (Eisenwaren) und zahlte aus der Senatskasse 40.000 Westmark. Vgl. undatierte Information, in: LAB, C Rep. 104, Nr. 481. 343 Pius erklärte: „Ihr habt als Tagungsort Berlin gewählt und euch aus Ost und West dort eingefunden, um laut zu bekunden: wir gehören zusammen, und die Jahre der Heimsuchung, weit entfernt, uns zu trennen oder einander zu entfremden, haben das Bewußtsein, daß wir Brüder und Schwester sind, nur geschärft […]“. Zitiert nach: Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (Hrsg.), Gott lebt. 75. Deutscher Katholikentag, Paderborn 1952, S. 13. Vgl. dazu auch Curt Riess, Berlin Berlin 1945–1953, Berlin (W) 1953, S. 226.

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ßen Corpus-Christi-Kirche stattfanden, im Westteil der Stadt zu besuchen. Die Gläubigen stilisierten die Massentreffen zur „großen Einheit am Altare des Herrn“ und den Kirchentag mit seinen vielen religiösen und kulturellen Veranstaltungen auch zu einer symbolischen „Abwehr der Mächte des gottesfeindlichen Materialismus und des gottfernen Liberalismus im Osten und im Westen“.344 Das ging freilich auch an die Adresse der Sozialdemokratie und der liberalen Demokraten, verärgerte aber die SED folgerichtig am meisten. Sie verschärfte ihren kirchenfeindlichen Kurs, der besonders Ost-Berliner Schulen und Kindergärten, aber auch finanzielle Fragen betraf.345 Staatliche Mittel für die Kirchen sollten nun in erster Linie für die Erhaltung denkmalswerter kirchlicher Bauten verwendet werden; schließlich sei der Magistrat an neuen christlichen Gemeindehäusern, Jugendheimen und Verwaltungsbauten „nicht interessiert“, erfuhr das DDR-Amt für Kirchenfragen.346 Das ließ sich jedoch nicht so wie gedacht verwirklichen, weil die SKK nach Beschwerden von „kirchlichen Würdenträgern“ diskret mitteilen ließ, dass man ihnen „Gebäude zur Nutzung“ bereitstellen möge.347 Nach einer vorübergehenden Entspannung im Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften im Zuge des „Neuen Kurses“ der SED setzte sich in OstBerlin bereits ab dem Frühjahr 1954 wieder eine repressive Kirchenpolitik durch. Sie zielte auf eine wirtschaftliche Schwächung der Betroffenen und auf die Erschwerung ihrer Gesamtberliner Tätigkeit.348 Zwischendurch gab es aber immer wieder Phasen der Entspannung. Sie resultierten aus der Erkenntnis der SED, dass der sozialistische Aufbau in der DDR und Ost-Berlin kaum ohne die religiös gebundenen Bürger, keinesfalls aber gegen sie, betrieben werden könne. Diese Ein344 Wallfahrt nach Berlin. Ein dokumentarischer Bildbericht über den 75. Deutschen Katholikentag 1952 in Berlin, hrsg. vom Lokalkomitee des 75. Deutschen Katholikentages 1952 Berlin, Berlin 1952. 345 Vgl. Schreiben des Stellvertretenden OB Fechner an Ebert, 6.3.1953, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 876, Bl. 31. 346 Vgl. Schreiben des Stellvertretenden OB Schneider an das DDR-Amt für Kirchenfragen, 24.4.1953, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 481. 347 So war u.a. das Schloss Biesdorf im Gespräch. Vgl. Schreiben des Stellvertretenden OB Neumann an „Genosse Beljajew“ (SKK), 2.4.1953, in: ebd., C Rep.124, Nr. 9. 348 Die SED-BL verwies auf die Notwendigkeit, alle Anträge der Kirchen „und Sekten“ auf Genehmigung von Grunderwerb in Ost-Berlin „sowie geplante Erweiterungen von Krankenhäusern und Altersheimen“ zurückzuweisen. Aus dem Berliner Haushalt seien 1954 an die Kirchen keine finanziellen Zuwendungen mehr geflossen. Außerdem habe die „Einschränkung von Zuzugsgenehmigungen für konfessionelle Gemeindeschwestern […] auch den Bestand von konfessionellen Gemeindeschwesterstationen verringert“. SED-BL Groß-Berlin: „Bericht […] Die Politik der Partei in Kirchenfragen“, 23.4.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 223, Bl. 72.

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sicht hielt aber nie lange an. Eine allgemeine Zuspitzung der Lage setzte 1957 mit dem Abschluss des Militärseelsorgevertrages zwischen der Evangelischen Kirche und der Bundesregierung ein. Dibelius, einer seiner Initiatoren, wurde als „Atombischof“ denunziert und ihm das Betreten des sowjetischen Sektors verboten. Von nun an stand für die SED der Kampf gegen dieses Abkommen und gegen die „reaktionären Kirchenleitungen“ im Vordergrund. Zwar gelang es ihr, die Gesamtberliner Arbeit der EKD zu behindern – etwa mittels der Weigerung, Kirchensteuern durch die staatliche Administration einzuziehen, der Einschränkung des Religionsunterrichts an Ost-Berliner Schulen sowie Kampagnen für die weltliche Jugendweihe.349 Zur Torpedierung einer Gesamtberliner Solidarität der Glaubensgemeinschaften ging der Magistrat sogar dazu über, die Konkurrenz für die Großkirchen, religiöse Sekten, u.a. mit der Bereitstellung von Predigträumen zu unterstützen, auch in der Absicht, diese Gemeinden von alternativen WestBerliner Kultstätten fernzuhalten.350 Doch wurde die Praxis seelsorgerischer, sozialer und kultureller Interaktionen durch diese u.a. Maßnahmen zunächst weniger getroffen, als die SED-Politiker gehofft und Christen befürchtet hatten. Klugerweise gingen Staatspartei und Behörden auch jetzt nicht zu einem Frontalangriff über, sondern versuchten nach der Kaltstellung von Dibelius vielmehr, die berlin-brandenburgischen evangelischen Kirchenführungen auf ihre Seite zu ziehen – weiterhin aber auch Pfarrer und einfache Gemeindemitglieder. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Delegierten zu den in Berlin stattfindenden EKD-Generalsynoden in den Frühjahren 1958 und 1959.351 Angesichts der Pressionen gegen Dibelius und seinen Verwaltungsapparat, der gegen die Kirchenleitungen gerichteten Spaltungsversuche sowie der Politik der Abgrenzung OstBerlins von den Westsektoren verweigerten sich die Synodalen jedoch und tagten trotz der Angebote aus Ost-Berlin im Februar 1959 ausschließlich im anderen Teil der Stadt. Der Magistrat sah sich „brüskiert“, waren ihm doch nicht einmal, wie sonst üblich, Einladungen zugegangen.352 Da der Senat etwa zeitgleich mit den Auseinandersetzungen um den Militärseelsorgevertrag seine Subventionen für die evangelische Kirche, hier besonders für ihr nahestehende kulturelle Institutionen, unter Gesamtberliner Aspekten verstärkte, sah die SED darin dessen Absicht, die christliche Bevölkerung der Stadt für seine berlinpolitischen Ziele zu gewinnen. 349 Vgl. Berliner Begleiter, S. 22. 350 Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Kultur, an die Stellvertreterin des OB, Johanna Blecha, 26.11.1956, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 41. 351 Vgl. „Maßnahmen zur Generalsynode der Evangelischen Kirche am 26. und 27.4.58“, 16.4.1958, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 327, Bl. 149. 352 Vgl. „Einschätzung der Synode der EKD vom 8.-13.2.1959 in West-Berlin“, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 481.

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Zur Verwunderung der Senatsverwaltung reagierte die SED jedoch mit Toleranz: Beispielsweise durften selbst als ideologisch gefährlich eingestufte Theaterstücke u.a. der Christlichen Bühne Berlin („Das Ensemble“) in Ost-Berlin aufgeführt werden.353 Ebenfalls hatte die SED aus den Folgen ihres Fehlverhaltens gegenüber den Katholiken und ihrem Kirchentag 1952 gelernt. Trotz der erkennbaren Hintergründe, den (78.) Katholikentag 1958 wieder nach Berlin einzuberufen354, stimmte Ost-Berlin, ohne politische Bedingungen zu stellen, zu und half, ihn materiell-technisch, aber auch organisatorisch, abzusichern.355 Zwar lehnte die SED ab, was Papst Pius XII. euphorisch behauptete356, doch sah der Katholizismus sie in einem milderen Licht, und schließlich schien ihr offensichtliches Kalkül aufzugehen, der „renitenten“ evangelischen Obrigkeit in Berlin einen dialogfähigen und kompromissbereiten katholischen Klerus gegenüberzustellen. Diese Taktik resultierte aus einer Veränderung der kirchenpolitischen Konzeption der SED, die sie anlässlich des 78. Katholikentages offenbar erprobte. Nach außen gab sie sich liberal und großzügig und vermied alles, was den Eindruck erwecken konnte, dass sie die katholische Kirche in Berlin repressiv behinderte. Stattdessen organisierten SED und Magistrat langfristig und systematisch „Gegenveranstaltungen“, um die „gesamte Berliner Bevölkerung“ anzuziehen.357 Der Staatssekretär für Kirchenfragen wies den Magistrat deshalb explizit an, eine Reihe von Sport- und 353 „Diese Aufführungen haben, wenn auch verständlicherweise keine Unterstützung, so doch von Seiten des Ost-Magistrats und der anderen Behörden seit Jahren eine Duldung erfahren, die sonstwo kaum zu verzeichnen ist.“ Schreiben von Carlbergh an den SPDAbgeordneten Franz Neumann, 5.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1760, Bl. 160. 354 Dies sei der ausdrückliche Wunsch des Klerus und der führenden Laien aus der Berliner und mitteldeutschen Diaspora. Die Berliner Katholiken reagierten erfreut. Sie würden „jedes Opfer freudig und mit frohem Herzen wie 1952 bringen“. Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (Hrsg.), Unsere Sorge der Mensch – Unser Heil der Herr. Der 78. Deutsche Katholikentag vom 13. August bis 17. August 1958 in Berlin, Paderborn 1958, S. 22f. 355 Für die in Ost-Berlin veranstalteten Gottesdienste und Kundgebungen habe die Volkspolizei „für glatte Abwicklung des Verkehrs“ u.a.m. gesorgt und so zum Gelingen des Tages beigetragen. Sie habe Zurückhaltung geübt und die Organisation den Veranstaltern überlassen. Hier wie in der Zuweisung von Quartiersräumen zeigten die Beamten des Großberliner Magistrat loyales Entgegenkommen“, urteilte Emil Dovifat, der Vorsitzende des Lokalkomitees. Ebd., S. 17. 356 „Berlin ist das Wahrzeichen eines auseinandergerissenen Volkes […] Dieses Band der Einheit bleibt […] Berlin ist Schnittpunkt zweier entfremdeter Welten. Aber auch den scheinbar unversöhnlichen Gegensatz, der sie scheidet, hat in diesen Tagen auf einer höheren Ebene euer Glauben und Lieben überwunden […]“ Zitiert nach: ebd., S. 7f. 357 Besprechung beim STS für Kirchenfragen, 11.1.1958, in: LAB, C Rep. 104, Nr. 324.

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Kulturveranstaltungen vorzubereiten, „die den Umfang und die Ausgestaltung haben, daß sie die Menschen von den Veranstaltungen des Katholikentages ablenken“.358 Parallel dazu bereitete sich eine große Anzahl Agitatoren der Nationalen Front auf eine „Aufklärungs“-Kampagne vor. Darauf war die katholische Kirche aber gut vorbereitet. In diesem ideologischen Konkurrenzkampf gelang es der SED nicht, „die Arbeit der katholischen Kirche zu durchkreuzen“, weil die „sportlichen und politischen Gegenveranstaltungen nur zu einem geringen Prozentsatz von Teilnehmern am Katholikentag besucht wurden“.359 Vor allem bedauerte die SED, dass es der katholischen Kirche augenscheinlich gelang, die Jugend von den „Agitatoren der Nationalen Front fern zu halten“.360 Auch blieben Bespitzelungen und „Schnüffeleien“ der SED und der Staatsorgane ohne nennenswertes Ergebnis.361 Dieser Misserfolg trug dazu bei, dass trotz positiver Signale beispielsweise aus der Ost-Berliner Kulturwelt362 der für den Sommer 1961 geplante Evangelische Kirchentag in Berlin nur noch in seinem Westteil stattfinden durfte. Das enttäuschte insbesondere die berlin-brandenburgische Kirche, die ein Mindestmaß an Kooperation mit der SED bewahren musste, um ihr als legale Opposition gegenüberzutreten. Zuweilen aber provozierte die Evangelische Kirche die SED mit Gesamtberliner „Show“-Veranstaltungen, etwa den Predigten des ihr verhassten US-amerikanischen „Evangelisten“ Billy Graham 1960.363 Zwar ging nach 1957 die Rolle der Kirche als geschlossene Opposition in Berlin allmählich zu Ende364, doch blieb sie bis zum Mauerbau die letzte Gesamtberliner Instanz, die sich einer Spaltung und sektoralen Verinselung durch mannigfaltige Interaktionen zwischen Ost und West zu entziehen vermochte. 358 Schreiben des STS für Kirchenfragen an den Magistrat von Groß-Berlin, undatiert (Juli 1958), in: ebd. 359 Magistrat von Groß-Berlin, Referat Kirchenfragen, Bericht, August 1958, in: ebd. 360 „Stimmungsberichte“, 15.8.1958, in: ebd. 361 Vgl. ebd. 362 Vgl. „Protokoll des am 21.1.1961 tagenden Kulturausschusses“, 11.1.1961, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1260. 363 Wie vom Veranstalter geplant, zogen Grahams Veranstaltungen in einem Großzelt vor der Reichstagsruine unmittelbar an der Sektorengrenze Tausende Ost-Berliner an. Die SED stand dem trotz scharfer Kontrollen und Gegenpropaganda machtlos gegenüber. Der OstBerliner Magistrat protestierte beim Senat offiziell gegen die Gesamtberliner Aktion als „Provokation“, für die der Senat die „volle Verantwortung“ trage. Vgl. Schreiben der Deutschen Evangelischen Allianz (Paul Schmidt und Max Kludas) an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 1.7.1960, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1565, Bl. 48 sowie Schreiben des amtier. OB Waldemar Schmidt an den Reg. Bgm. Brandt, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 181. 364 Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 117 f, S. 122.

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1.4 Die Schlacht um freie Wahlen 1.4.1 Die SED in der Defensive und die innere Opposition Im Oktober 1946 hatten die letzten demokratischen Wahlen im Gesamtberliner Rahmen stattgefunden, für die SED mit ihren 19,8 Prozent der Stimmen und die sowjetische Besatzungsmacht eine herbe Enttäuschung, eine „Stunde der Desillusionierung“. Seit dem Herbst 1948 existierten in Berlin nun zwei Stadtverwaltungen, aber nur in seinem Westteil eine parlamentarische Vertretung der Bevölkerung – die im Herbst 1946 demokratisch gewählte Stadtverordnetenversammlung, in der die SED aus eigenem Willen nicht mehr präsent war. Bereits am 5. Dezember 1948 fanden in West-Berlin Wahlen zu diesem höchsten Verfassungsorgan statt365, aus denen die SPD mit absoluter Mehrheit hervorging. Sie stellte mit Ernst Reuter wieder den Oberbürgermeister.366 Die SED hatte sich an diesem Urnengang nicht beteiligt. Da in Ost-Berlin nach der politischen Spaltung der Stadt Wahlen nicht stattgefunden hatten, fiel es der SED und dem von ihr getragenem Magistrat – formal eine „Allparteienkoalition“ unter Einschluss einiger Vertreter der Massenorganisationen – schwer, sich als demokratisch darzustellen. Sie gestalteten ihre Legitimation folgerichtig propagandistisch: Die Arbeit der Stadtregierung sei besonders volksnah, nehme die Interessen aller Berliner wahr und sei sehr effektiv. Zwar agierte die SED bei allen Eigeninteressen faktisch im sowjetischen Auftrag, konnte ihn aber aus verständlichen Gründen nicht geltend machen. So gab es rechtlich und im Prinzip auch politisch nichts, was ihre legislativen und exekutiven Handlungen, auch in Hinsicht auf den anderen Teil Berlins, hinreichend begründet hätte. Der Ost-Magistrat besaß seit dem 2. Dezember 1948 lediglich einen „Geschäftsverteilungsplan“, der die staatlichen Leitungsstrukturen (sowie die Kompetenzen der einzelnen Verwaltungen und ihrer Leiter) festhielt.367 Angesichts der politischen Stimmung der Bevölkerung wagte die SED Wahlen zu einer Ost-Berliner Volksvertretung nicht. Selbst Wahlen nach Einheitslisten wollte sie auch deshalb nicht riskieren, weil die mit ihr konkurrierende SPD – wie sie selbst – im gesamten Berlin organisiert sowie auch handlungsfähig war und über einen starken Rückhalt bei den Ost-Berlinern verfügte. Am 6. Dezember 1948 präzisierte der Ostmagistrat seine um wenige Tage ältere Erklärung, 365 Die SPD erhielt 51,8 Prozent der Stimmen, die CDU 24,3; die FDP/LDP 10,2 Prozent. 366 Nach der Genehmigung der neuen West-Berliner Verfassung durch die Alliierte Kommandantur am 1.10.1950 wurde die Stadtverordnetenversammlung in das Abgeordnetenhaus und der Westmagistrat in den Senat umgewandelt. Aus dem Oberbürgermeister wurde der Regierende Bürgermeister. 367 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 1, 2.12.1948 („Geschäftsverteilungsplan“), in: LAB, C Rep. 100–05, Bl. 7.

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dass seine „Wahl“ (vom 30. November 1948 auf dem Höhepunkt der Berlinkrise) „nur ein aus der Not der Stadt und ihrer Bevölkerung entstandenes Provisorium darstellt“. Er versicherte: „Sobald die selbstverständlichen Voraussetzungen geschaffen sind, auf der Grundlage einer fortschrittlichen Verfassung und einer demokratischen Wahlordnung allgemeine, gleiche und geheime Wahlen im ganzen Stadtgebiet durchzuführen, wird der Magistrat sein Mandat in die Hand der Volksvertretung zurückgeben. Helft uns, diese Möglichkeit baldigst zu schaffen.“368 Zunächst plante er offenbar nicht, die West-Berliner zu einem Boykott der Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung aufzurufen; das geschah dann aber kurzfristig doch.369 Mit den westsektoralen Dezemberwahlen 1948 verstärkte sich für die SED das eigene Legitimationsdefizit insofern, als die West-Berliner mit ihrer Entscheidung auch die legislativen Maßnahmen im Umfeld der Berlinkrise guthießen. Diesem Votum kamen einige populistische Aktionen des Ostens nicht bei.370 Es verunsicherte den Ostmagistrat auch organisatorisch. Erst Ende März 1950 legte er eine autoritative Geschäftsordnung vor.371 Sie regelte die Aufgaben des Oberbürgermeisters, des Magistrats insgesamt sowie seiner einzelnen Mitglieder und nachgeordneten Organe. Am 6. Juni folgte eine formal staatsrechtliche „Hauptsatzung“. Der Begriff „sollte anzeigen, dass Berlin nicht ein Land sei, für das der Begriff ‚Verfassung‘ anzuwenden gewesen wäre, sondern lediglich eine Stadtgemeinde sei“. Geschäftsordnung und „Hauptsatzung“ erhoben „nach ihrem Wortlaut Geltungsansprüche für das gesamte Stadtgebiet“.372 In diesen Dokumenten trat deutlich die Einheit von Legislative und Exekutive hervor, die der Magistrat als zentrales Organ verkörperte. Das Prinzip der Gewaltenteilung war durch das Fehlen einer unabhängigen Justiz ebenfalls aufgehoben. Das wichtigste Au368 Magistratsbeschluß Nr. 12, 6.12.1948, in: ebd., Nr. 833, Bl. 42. 369 Die Einfügung zum Wortlaut der Erklärung lautete: „Beteiligt Euch nicht an den Spalterwahlen! Kämpft mit dem aus dem Volke gekommenen und von seinem Vertrauen getragenen Magistrat für ein einheitliches Berlin, die Hauptstadt der ungeteilten demokratischen Republik.“, ebd. 370 Etwa durch das hinlänglich bekannte Angebot der Ostverwaltung an die West-Berliner, ihre Lebensmittel im Ostteil der Stadt zu beziehen oder durch andere kleine Vergünstigungen. Vgl. ebd., Bl. 132. 371 Vgl. Verordnungsblatt der Stadt Berlin (VOBL.) I, 1950, S. 69ff. Eine starke Position nahm laut Geschäftsordnung der Oberbürgermeister als Vorsitzender des Magistrats ein, der dessen Amtsgeschäfte führte und Groß-Berlin auch nach außen vertrat. Er besaß in allen Fragen die Richtlinienkompetenz und das Recht, die Durchführungen seiner Anweisungen auf allen Ebenen zu kontrollieren. Das schloss die Pflicht der einzelnen Geschäftsbereiche des Magistrats und seiner Gliederungen ein, dem Oberbürgermeister laufend über alle wichtigen Vorgänge und Maßnahmen zu berichten. 372 Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 68.

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genmerk legten die Schöpfer der „Hauptsatzung“ auf eine zentralistische Verwaltungsstruktur, die den östlichen Stadtbezirksleitungen kaum Handlungsspielräume oder gar Autonomie gewährte und sie zu funktionalen Teilen eines einheitlichen Apparates degradierte. So spiegelte sich in Ost-Berlin der leninistische „demokratische“ Zentralismus als leitendes Prinzip wider, das auch in der SBZ/DDR und in den „volksdemokratischen“ Staaten herrschte. Doch verstummte darüber nicht der Ruf der OstBerliner nach freien Wahlen, die von der politischen Konkurrenz in der gleichen Stadt vorexerziert wurden. Nach den ersten Wahlen zur DDR-Volkskammer im Oktober 1950, an dem der Ostsektor aufgrund des Vier-Mächte-Status nicht teilnahm, verstärkte sich ihr Unwille über Abstimmungen nach Einheitslisten, die sie als das sahen, was sie waren: eine politische Farce. Diese Stimmung, die sich seit 1949 u.a. in der oppositionellen Aktion „weißes F“ als Symbol für Freiheit (und freie Wahlen) Luft machte373, nahm 1950 eine neue Dimension an. Überall, hauptsächlich in den Ost-Berliner S- und U-Bahnhöfen, lagen kleine weiße „aus Papier geschnittene ‚F‘ wie gesät“374. Angesichts der durch die DDR-Scheinwahlen angeheizten Verärgerung griffen die drei in der West-Berliner Stadtverordnetenversammlung vertretenen demokratischen Parteien nun die Idee der SPD auf, die Ost-Berliner aufzufordern, wenn sie denn nicht frei wählen könnten, vom 2. bis 10. Oktober 1950 die Stammabschnitte ihrer Lebensmittelkarten (für den Monat September 1950) als Zeichen ihres Willens ins Schöneberger Rathaus zu senden, die „kommunistische Terrorherrschaft im Sowjetsektor zu beenden“ und Berlin „auf der Grundlage freier und geheimer Wahlen“ wieder zu vereinen.375 Stadtverordnetenversammlung und Senat riefen offiziell zu dieser Aktion im Pathos der Zeit376 auf und organisierten sie, zeigten

373 Die kleinen gemalten oder ausgeschnittenen „F“ waren seit 1949 überall in Ost-Berlin zu sehen. Vgl. u.a. „Die Welt“, 22.8.1949 und „Der Tagesspiegel“, 10.12.1949. 374 Am 25.4.1950 setzte eine neue Welle ein: „Angehörige der ostsektoralen Widerstandsbewegung“ seien unterwegs, „um den gesamten Sowjetsektor mit dem großen, weißen ‚F‘, dem Zeichen der Freiheit und dem Symbol für die gesamtberliner Wahlen zu zeichnen. […] Die Volkspolizei arbeitete fieberhaft.“ Sie wollte unter anderem mit motorisierten Streifen „Angehörige der Widerstandsgruppe“ stellen. „Sozialdemokrat“, 26.4.1950. 375 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 13.10.1950 und Ferdinand Friedensburg, Berlin. Schicksal und Aufgabe, Berlin (W) 1953, S. 50. 376 Im gemeinsamen Aufruf an die „wahlberechtigte Bevölkerung des sowjetischen Sektors von Berlin“ war eine genaue Regieanweisung enthalten. Vgl. Berliner Schicksal 1945–52. Amtliche Berichte und Dokumente, hrsg. im Auftrage des Senats von Berlin vom Büro für Gesamtberliner Fragen, Berlin (W) 1952, S. 103.

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sich dann aber von ihrer immensen Wirkung überrascht.377 Sie beschäftigte tagelang die Presse378 und die Wochenschauen379 des Westens. Die Aktion führte zu einer Propagandaschlacht, als die Ost-Berliner Zeitungen erbost reagierten.380 Weitere Gegenmaßnahmen der SED deuteten sich an.381 Diese Art Volksbefragung wurde von Aktionen gegen das SED-Regime und ihre Volkskammer-Wahlinszenierung im Oktober 1950 wirkungsvoll flankiert: Einige Minuten allgemeiner Arbeitsruhe in West-Berlin sowie des Gedenkens und Schweigens an ausgesuchten Orten, von Funk, Presse und Film professionell in Szene gesetzt382, verfehlten ihre Wirkungen nicht. Und wenn dann seit Oktober 1950 die „Freiheitsglocke“, ein Geschenk des US-amerikanischen Volkes an die Berliner, feierlich ertönte, mochte das für viele klingen, als würde nun der Sieg der Demokratie über die Diktatur eingeläutet. Jedenfalls stellte die Stammabschnittsaktion einen propagandistischen Erfolg des Westens dar. Trotz des Risikos für die daran beteiligten Ost-Berliner, das in diesem Fall wohl weniger groß war, als Historiker später vermuteten383, beeindruckte die Wahlaktion allein schon durch ihre hohe Beteiligung. Inwiefern sie jedoch politisch etwas bewegt hat, bleibt eine offene Frage. Sicherlich kann man den Standpunkt beziehen, dass dieser „Wahlersatz“ möglicherweise mehr zur Schürung von Spannungen in der Stadt beigetragen hat als zur Delegitimierung des SED-Regimes. Doch trug diese Aktion den politisch-emanzipatorischen Be-

377 Der Westmagistrat meldete 375.712 eingegangene Stammabschnitte der Ost-Berliner September-Lebensmittelkarten, 14.590 Stammabschnitte der Karten anderer Monate, 33.024 Stammabschnitte aus der SBZ und 13.333 von Kinderkarten. Überdies hätte man 10.693 Zustimmungserklärungen in Briefform erhalten. Vgl. ebd. 378 Die West-Berliner Presse publizierte den Aufruf, warnte aber aus Sicherheitsgründen: Die Ost-Berliner sollten unbedingt den Namen auf ihrem Stammabschnitt beseitigen, keinen Absender angeben und den Umschlag unfrankiert in einen beliebigen Postkasten in WestBerlin einwerfen. Vgl. „Der Tagesspiegel“, 3. und 6.10.1950 sowie „Die Neue Zeitung“, 3.10.1950. Sie brachten unter anderem Bilder von Ernst Reuter beim Auszählen der Stammabschnitte, die säckeweise ins Schöneberger Rathaus getragen würden. 379 Vgl. „Welt im Film“, Nr. 280, 1950, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. 380 So bezeichnete die Ost-Berliner „Tägliche Rundschau“ vom 13.10.1950 die Aktion als „Schwindelmanöver“. Der West-Berliner Magistrat habe „Riesenmengen von Stammabschnitten drucken lassen“. 381 Lowell Bennet führte an, die Ost-Berliner Behörden hätten in Rundfunk und Presse mit Strafen gedroht und versucht, Postkästen aufzubrechen. Vgl. Bennet, Bastion Berlin, S. 266ff. Belege für diese Aussagen ließen sich in den Quellen allerdings nicht finden. 382 Der Ritus des Gedenkens wurde besonders eindringlich von „Welt im Film“, Nr. 281, 1950 (in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz) bebildert. 383 Vgl. Prowe, Weltstadt in Krisen, S. 65f.

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strebungen vieler Ost-Berliner und ihrem demokratischen Willen Rechnung. Wie anders auch hätte 1950 in der Wahlfrage etwas in Bewegung geraten können? Zumindest deuten die Quellen an, dass die SED dieses Problem mehr denn je als eine Kardinalfrage der Macht erkannte und – etwas flexibler als zuvor – nach Lösungswegen suchte. Das stand zum einen mit den Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus am 3. Dezember 1950 im Zusammenhang, bei denen die SPD ihre absolute Mehrheit verlor und fortan mit der CDU koalierte, sowie zum anderen mit dem formalen Eingehen der Sowjetunion auf die westliche Forderung nach freien Wahlen. Auslöser dafür war der mit Moskau abgestimmte Brief Grotewohls an Adenauer vom 29. November 1950 mit dem Angebot eines paritätisch zusammengesetzten gesamtdeutschen konstituierenden Rates aus Mitgliedern der Volkskammer und des Bundesparlaments. Er sollte die deutsche Wiedervereinigung und damit auch Wahlen maßgeblich vorbereiten. Der Vorschlag führte zu einer plötzlichen Rücknahme der SED-Polemik gegen den Westen und zu einer im Osten abgestimmten parallelen Aktion nach West-Berlin. Ebert und die OstBerliner Nationale Front schlugen in gesonderten Schreiben an Reuter „freie demokratische Wahlen im März 1951“ und – analog zum gesamtdeutschen konstituierenden Rat – die Bildung eines gemeinsamen „Ausschusses“ beider Magistrate zu deren Vorbereitung vor. Dazu gehöre auch der Abzug aller Besatzungstruppen und die „Aufhebung der Sektorengrenzen“ zur Sicherung der Wahlen.384 Reuter bestätigte den Brief Eberts, ging aber, um den Anschein eines offiziellen Kontaktes auf der Ebene der Oberbürgermeister zu vermeiden, inhaltlich nur auf das Schreiben der Nationalen Front ein – in unversöhnlicher Diktion.385 Dennoch hakte Ebert nach, als er im Februar 1951 gegenüber dem Präsidenten des neuen Abgeordnetenhauses, Otto Suhr, das Angebot freier, demokratischer Wahlen in ganz Berlin wiederholte386, wobei Hans Jendretzky, der Erste Sekretär der SED384 Schreiben von Ebert an Reuter, 30.11.1950, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1857, Nr. 3104– 3108. 385 Reuter entgegnete, dass freien Wahlen nichts anderes im Wege stünde, „als die Gewaltherrschaft, die über die Bevölkerung im Ostsektor gegen den Willen der Einwohner ausgeübt wird. Wenn die Ursupatoren und der sie schützende Apparat verschwindet, dann steht der freien, politischen Willensbildung im einheitlichen Berlin […] nichts mehr entgegen […]. Alle anderen Vorschläge sind bloße Spiegelfechtereien.“ Zitiert nach: Schreiben Eberts an den Ausschuss der Nationalen Front, 30.11.1950, in: ebd. 386 Im November 1950 habe er, Ebert, Prof. Reuter freie demokratische Wahlen in ganz Berlin im März 1951 und „einen gemeinsamen Ausschuss für die Vorbereitung und Durchführung dieser Wahlen“ vorgeschlagen. Reuter habe ihm daraufhin am 2.12.1950 formal mitgeteilt, dass er den Brief den Führern der „drei demokratischen Parteien Berlins“ zur Kenntnis geben werde. Nach der Neubildung der West-Berliner Verwaltungsorgane dürfe er deshalb annehmen, „dass die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien zu

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Landesleitung, sich erst der Zustimmung Ulbrichts versicherte.387 Für offizielle Verhandlungen mit dem Senat rechnete sich die SED jetzt offenbar größere Chancen aus, weil nach der West-Berliner Dezemberwahl von 1950 eine etwas andere Lage eingetreten zu sein schien und sich auch die Bundesregierung mit den Offerten der SED beschäftigte.388 Nach dem Scheitern ihrer Initiative verhärteten sich auch die Berliner Fronten wieder. So setzte die SED das Thema Wahlen im späten Frühjahr 1951 abrupt von der Tagesordnung ab, als sie, im Zusammenhang mit der westdeutschen Debatte um die Wiederbewaffnung, in der DDR und in der Bundesrepublik sowie in beiden Teilen Berlins eine Volksbefragung durchführen ließ.389 Diese Aktion mag einigen Partei- und Staatsfunktionären als Revanche für die Volksabstimmung der Ost-Berliner per Stammabschnitt vorgekommen sein. In der Situation des Frühjahrs 1951 war sie aber vielmehr die Antithese zur gerade erneuerten westlichen Maximalforderung nach freien Wahlen. Für WestBerlin blieb die kommunistisch gesteuerte Volksbefragung ohne Folgen, wenngleich sie der Senat offenbar befürchtet hatte. Im Hintergrund standen dabei die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten West-Berlins und die Sorge, die östliche Kampagne könnte soziale Unzufriedenheit zugunsten der SED-Ziele schüren. So verbot der Senat nicht nur die Volksbefragung aus verfassungsrechtlichen sowie politischen Gründen, sondern auch deren West-Berliner Trägerorganisationen, musste allerdings generelle Verbote modifizieren.390 Für die SED standen Aufwand und Ergebnis der sich eigentlich gegen die West-Berliner Verhältnisse richtenden Aktion in keinem vertretbaren Verhältnis. Unmengen von teurem Propagandamaterial wurden bereitgestellt und ein Heer von Instruk-

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den Vorschlägen Stellung nehmen“, schloss Ebert moderat. Entwurf des Schreibens von Ebert an Suhr, 2.2.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 402. Schreiben von Jendretzky an Ulbricht, 3.2.1951, in: ebd. Michael Lemke, Eine deutsche Chance? Die innerdeutsche Diskussion um den Grotewohl-Brief vom November 1950 auf der Entscheidungsebene, in: ZfG, 1, 1996, S. 25–40. Allen Teilnehmern an diesem in der Bundesrepublik aus verfassungsrechtlichen Gründen untersagten Referendum wurde Anfang Juni 1951 die Frage vorgelegt, ob sie gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland im Jahre 1951 seien. Die von den „Gewalthabern der Sowjetzone“ betriebene Volksbefragung sei verfassungswidrig und dazu bestimmt, unter Verschleierungen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik und West-Berlins „zu untergraben“. Alle Träger der Aktion (außerhalb der SED) wurden verboten. Der Polizeipräsident erhielt Order, jede Betätigung solcher Vereinigungen für die Volksbefragung zu unterbinden. Am 21.5. wurden jedoch FDJ und VVN (per Senatbeschluß 380) „zunächst“ vom Verbot ausgenommen. Offensichtlich hatte die sowjetische Besatzungsbehörde gegen das Vorgehen im Fall der in Berlin legalen VVN und FDJ protestiert. Vgl. Senatsbeschluß Nr. 304, 30.4.1951 und Nr. 380, 21.5.1951, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 31–93.

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teuren und Helfern mobilisiert.391 Alle Fäden liefen in der SED-Landesleitung zusammen. Dabei zeigten die Initiatoren und die Träger der Befragung, dass sie die Auseinandersetzung mit der häufig überreagierenden Westpolizei392 trainiert hatten, sowie taktisches Geschick und Flexibilität vor Ort.393 Doch erkannte die SED, dass der Volksbefragung im Westteil der Stadt kein Erfolg zuteil werden würde, weil ihr seine Bevölkerung ablehnend, ja feindlich gegenüberstand.394 Etwas größere politische Tragweite besaß die Volksbefragung in Ost-Berlin. Zwar war sie, wie immer bei derartigen Großaktionen, als Kampagne vorrangig zur Mobilisierung der „Massen“ geführt worden. Ihre politisch-ideologische Bedeutung lag jedoch stärker in dem Problem, wie sie die Ost-Berliner im Umfeld der westsektoralen Wahlen und der zeitgleichen Verweigerung einer demokratischen Willensäußerung im Ostteil der Stadt sowie der plakativen Forderung der SED nach Gesamtberliner „demokratischen“ Wahlen wahrnahmen. Zunächst fiel auf, dass der zur Abstimmung gestellte Vorschlag, der für sich genommen zustimmbar schien, kaum mit den Inhalten der Propaganda korrespondierte, die den „Entscheid“ begleiteten: Verurteilung des westlichen Systems, seiner Träger und Repräsentanten, Lobpreisungen der Verhältnisse im Osten sowie immer wieder Produktionsverpflichtungen der „Werktätigen“. Um Stimmungen „abzufragen“, bot die Aktion jedoch ausgezeichnete Möglichkeiten. Zum einen entstand durch das Ansprechen der Bürger „vor Ort“ zwangsläufig eine Situation des Meinungsaus391 Sekretariat des ZK der SED, Protokoll Nr. 66 der Sitzung am 4.5.1951, in: SAPMOBArch, DY 30, J IV, 2/3/193, Bl. 2. 392 Freiwillige Helfer der Volksbefragung berichteten der Zentrale von kurzzeitigen Verhaftungen und Verhören der „Stumm-Polizei“. Es habe überdies Zwangsstellungen und Haussuchungen gegeben. Vgl. Auswertung der Instrukteursberichte, 8.6.1951, in: LAB, C Rep. 001, Nr. 268. 393 Instrukteure und Befragungshelfer lieferten laufend Informationen über die von Plakaten, Flugblättern und Sonderzeitungen begleiteten Eintrags-Aktionen in die vorbereiteten Listen: Man spreche die West-Berliner auf der Straße, in Bahnhöfen, in S-Bahnzügen, aber auch auf Friedhöfen u.a.m. an. „FDJ-Gruppen fahren [von Ost-Berlin] in die Westsektoren, musizieren mit Akkordeons, spielen einen Tusch, sprechen die Menschen kurz an und führen Abstimmungen durch.“ Auch an ihrem Arbeitsplatz, an Haltestellen, in Arztpraxen sowie in den Rathäusern, Schulen und Kneipen würden sie kontaktiert. In Kreuzberg sei gezeigt worden, wie eine „Abstimmung von Balkon zu Balkon“ funktioniere. „Betrifft Volksbefragung“, 31.5.1951, in: ebd., Nr. 267 und „Auswertung der Instrukteurberichte“, 8.6.1951, in: ebd., Nr. 268. 394 Die Stimmungsberichte an die SED-Landesleitungen wurden immer pessimistischer. Man stoße in West-Berlin auf eine Front von Ablehnung. Die Erklärung dafür fanden die Verantwortlichen im gestiegenen „Einfluss des RIAS und der Westpresse“. Das Resümee lautete: „Die Bevölkerung wird in der Ablehnung aggressiver. Besonders hervorzuheben ist die Zahl der weiblichen Denunzianten.“ Bericht, 25.6.1951, in: ebd.

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tauschs. Und ob die Befragten abstimmen wollten oder dazu gedrängt wurden: Die SED benötigte aus ideologischen Gründen die Unterschrift des Einzelnen und musste deshalb Zögern und sogar Widerrede in Kauf nehmen. Auch war es kaum möglich, Verweigerungen mit Repressionen zu belegen. Zum anderen konstituierte sich kurzfristig eine spezielle Kampagnenbürokratie. Sie fing Volksmeinungen sowie Stimmungen auf und gab sie mittels ihres professionellen Berichtssystems direkt an die SED-Führung weiter. Sieht man von einigen subjektiven Fehlleistungen in der Befragungsbürokratie sowie von Beschönigungen des Verhaltens und der Aussagen von Befragten vor allem in Großbetrieben ab, entsteht nicht nur der Eindruck des Unmittelbaren, sondern auch die weitgehend gesicherte Vermutung, dass die SED-Führung im Ganzen gesehen die Wahrheit erfuhr und es ihr also an Informationen über den Inhalt der Kritik in der Wahlfrage nicht fehlte. Gleichzeitig bekam sie in dieser günstigen Kommunikationssituation genauere Einblicke in die soziale Lage ihrer Bürger und hörte diesbezügliche Beschwerden395, über die sie, wie später bei anderen „Wahlen“, nicht so einfach hinweggehen konnte. In dieser Beziehung bildete der als gesamtstädtisch angelegte Volksentscheid für die SED möglicherweise eine Ereignisachse: Die Zeit vor Mitte 1951 als Konstitutionsphase des politischen und gesellschaftlichen Systems hatte sozioökonomisch die Möglichkeiten und Grenzen des „volksdemokratischen“ Aufbaus in Berlin umrissen, aber die SED dabei noch nicht von der Illusion befreit, dass man vielleicht doch noch zu einer Wiedervereinigung der Stadt durch die Übertragung des (modifizierten) östlichen Modells auf ihren Westteil gelangen könnte. Danach setzte die Periode der akuten Desillusionierung ein: Die wirtschaftliche Entwicklung geriet in stärkere Turbulenzen und zeigte erste Krisensymptome, und die Einheit zu den eigenen Bedingungen entpuppte sich jetzt definitiv als politisches Trugbild. Diese Tendenz signalisierte die Volksbefragungsaktion massiv. Die Ost-Berliner erklärten unverblümt, wie u.a. das Beispiel einer Betriebsversammlung im VEB „Deutscher Kraftverkehr“ zeigt396, dass sie das 395 Auf den Versammlungen im Rahmen der Volksbefragung klagten viele Bewohner OstBerlins über ihre schlechten Wohnverhältnisse; die magistratseigenen Häuser würden nicht repariert; es gäbe kein Material, nicht einmal Glühbirnen. Alles mögliche fehle: der Konsum biete nur Schuhe in schlechter Qualität an, es gebe keine Tüten und auch nicht genügend Waschpulver und Zahnpulver u.s.w. Besonders bewege die Bürger aber, dass heranwachsende Kinder so wenig Butter und Milch erhielten. Vgl. ebd. 396 Die Vertrauensleute der SED-Landesleitung übermittelten die Kernsätze der Diskussion in diesem Großunternehmen: „Warum überhaupt Volksbefragung? Wir wollen freie Wahlen in ganz Deutschland.“ In anderen Betrieben sei geäußert worden: „Wir sind doch alle für den Frieden, warum brauchen wir dann noch eine Volksbefragung?“ In Diskussionen in Friedrichshain und auf dem Potsdamer Platz hätten die Befragten ebenfalls geäußert, dass man natürlich einen Friedensvertrag wolle, aber gemeint, der Osten sei schuld

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Abstimmungs-Manöver der SED durchschauten und Wahlen nach westlichem Muster wollten und nicht etwa eine Volksabstimmung über einen „Friedensvertrag“ als Wahlersatz. Natürlich wussten die Diskutanten, dass die SED-Spitze unter freien Wahlen etwas anderes verstand als die von ihr als „Werktätige“ Bezeichneten. Sie wegen ihrer Forderung zu disziplinieren, verbot sich aber auch deshalb, weil sie schließlich nichts anderes verlangten, als die Partei zu wollen vorgab. In gleichem Maß beunruhigten die SED Informationen über die Haltung vieler Arbeiter zur Sowjetunion397 sowie zu ihrer Lebenssituation, die das Wahlproblem erheblich tangierten.

1.4.2 „Volksvertretung“ gegen „freie Wahlen“ (1954) Nach dem Scheitern interalliierter Bemühungen und der Aktion der UNO, die Bedingungen für gesamtdeutsche Wahlen in beiden deutschen Staaten und in Berlin zu prüfen398 sowie der sich anschließenden Stalinnoten vom 10. März 1952 und 9. April 1952 schien die Wahlfrage für die SED und die DDR-Staatsführung kein Problem mehr zu sein. Doch brachte sie der Umstand, dass es in Ost-Berlin weder eine gewählte noch eine ernannte, sondern überhaupt keine Volksvertretung gab, weiter in Schwierigkeiten. Der Gesamtberliner Anspruch, die intensivierte Inbesitznahme Ost-Berlins als Hauptstadt der DDR und nicht zuletzt das Ringen der SED um internationale Beachtung verdeutlichten ihr, ihren Verbündeten und natürlich dem Magistrat, dass diesem Zustand abgeholfen werden müsse. Ein plausibles Konzept dafür besaß jedoch niemand. Woher dann die dubiose Idee kam, in Ost-Berlin eine „Volksvertretung Groß-Berlin“ zu installieren, ohne sie wählen zu müssen, bleibt schleierhaft. In einer von Ebert im Januar 1953 vorgedaran, dass er bislang nicht zustande gekommen sei: „Der Osten, denn ihr habt Deutschland gespalten.“ Auch habe er zuerst wieder aufgerüstet; die Remilitarisierung finde also im Osten statt. „Wer verschiebt denn das kostbare Uran nach Rußland“, sei noch angefügt worden. Aus mehreren Ost-Berliner Betrieben wurde bekannt, dass man durchaus für eine Volksbefragung eintrete, wenn sie über die „Oder-Neiße-Grenze“ stattfinde. Sektor Parteiinformation der SED-Landesleitung: „Betrifft Volksbegehren“, 31.5.1951, in: ebd., Nr. 267. 397 Wenn Arbeiter fragten, warum man die Russen als Vorbild hinstelle, die doch „von uns“ erst Kultur gelernt hätten, schwangen alte und neue antirussische Ressentiments mit. Schwerwiegender in der aktuellen Situation waren Vorwürfe gegen die Rüstungsmentalität der Sowjetunion und ihre undurchsichtige Politik in der Frage freier Wahlen. Oft war, laut Instrukteursberichten, aber auch zu hören, dass Moskau „unsere Männer aus der Gefangenschaft entlassen“ oder sie doch „wenigstens schreiben lassen“ solle. Ebd. 398 Vgl. Michael Lemke, Einheit oder Sozialismus? Die Deutschlandpolitik der SED 1949– 1961, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 181–194.

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stellten Magistratsvorlage wurde ihre Notwendigkeit mit der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus begründet. Das verlange eine „weitere Demokratisierung der Organe der Staatsmacht der Hauptstadt und die Verbesserung ihres Aufbaues und ihrer Arbeitsweise nach dem Beispiel der Deutschen Demokratischen Republik“. Der Oberbürgermeister registrierte dafür die einmütige Zustimmung des „Demokratischen Blocks“.399 Der sofort folgende Magistratsbeschluss sah die Schaffung einer „Volksvertretung Groß-Berlin“ und von „Volksvertretungen der Stadtbezirke“ vor. Erstere sollte 130 ernannte Mitglieder umfassen, die „bis zur Durchführung von Wahlen aus Vertretern der im Demokratischen Block vereinigten Parteien und Massenorganisationen“ zusammengestellt werde.400 Dem elitären Prozedere haftete a priori ein peinlicher Beigeschmack an, doch zeigten sich viele Berliner mehr belustigt als verärgert. Dennoch signalisierte diese Entscheidung die prinzipielle Abneigung der SED gegen demokratische Wahlen auch in der Zukunft. Es war wohl auch mehr die Außensicht, die Ebert zu einer Gesamtberliner Begründung veranlasste.401 Dass der entsprechende Provisoriumsvorbehalt eigentlich Makulatur war, zeigt die folgende Praxis.402 Damit verschärfte sich der Widerspruch zwischen gesamtstädtischen Ansprüchen und der Abgrenzungsrealität des Magistrats. Die ernannten Gremien führten dann insbesondere deshalb ein Schattendasein, weil sie weder legislative Kompetenzen noch praktische Handlungsspielräume besaßen. Was abzusehen war, trat auch ein: Diese „Volksvertretungen“ versagten. Sie hätten sich nicht „zu den lei399 „Magistratsvorlage Nr. 1250 zur Beschlußfassung für die öffentliche Magistratssitzung, am 19.Januar 1953“, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 874, Bd. 2. 400 Es sollten „in der gesellschaftlichen Arbeit erfahrene Bürger Berlins […] vorzugsweise aus dem Kreis der Nationalpreisträger, Helden der Arbeit, Aktivisten, Verdiente Techniker, Lehrer und Ärzte des Volkes, Meisterbauern und Betriebsleiter“ sein. Die „Volksvertretung“ habe „nach Bedarf“ zusammenzutreten, jedoch mindestens einmal in drei Monaten. Magistratsbeschluß Nr. 1264, 19.1.1953, in: ebd., Bl. 124. 401 Man müsse es „ablehnen, Wahlen nur in einem Teil unserer Stadt durchzuführen, weil das nicht nur eine Anerkennung, sondern nach unserer Überzeugung auch eine Vertiefung der Spaltung Berlins bedeuten würde. In der Gewissheit aber, dass Gesamtberliner Wahlen in nicht zu ferner Zukunft doch Wirklichkeit werden, wird die Ordnung für den Aufbau und die Arbeitsweise der Organe der Staatsmacht in Berlin und in den Stadtbezirken als eine ‚vorläufige‘ bezeichnet.“ Rede des OB auf der außerordentlichen öffentlichen Magistratssitzung am 19.1.1953, in: ebd., Bl. 107. 402 Beispielsweise wurde im März 1953 der ursprüngliche Text eines Verordnungsentwurfes ersatzlos gestrichen, wonach alle „Bürger der Hauptstadt Deutschlands, Berlin“, also auch die West-Berliner, das Recht hätten, sich an die Organe des Magistrats mit Anregungen, Anträgen und Beschwerden zu wenden. Vgl. Magistratsvorlage Nr.16 für die Sitzung am 10.3.1953, in: ebd., Nr. 876, Bl. 80.

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tenden Zentren des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus in ihrem Territorium“ entwickelt. Die Arbeit der zentralen „Volksvertretung“ Groß-Berlins sei faktisch wirkungslos403, merkte der Magistrat lakonisch an. Im Verlaufe der ersten Monate des Jahres 1954 entschlossen sich die SED und die Magistratsleitung, zumindest den Wahlstandard der DDR zu übernehmen und am 17. Oktober 1954, erstmals nach der Spaltung Berlins, in seinem Ostteil Wahlen nach Einheitsliste durchzuführen. Dieser Zeitpunkt wurde fixiert, weil im Dezember in West-Berlin Abgeordnetenhauswahlen anstanden, die, von der SED als Konkurrenz gesehen, „demokratisch“ zu übertrumpfen seien. Im Ergebnis der propagandistisch aufgebauschten Pseudowahl im Oktober konnten sich die Ost-Berliner weder für einen Kandidaten noch für eine Partei entscheiden, ermöglichte dieser Akt jedoch formal die Konstituierung der ersten Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung. In ihr war die SPD nicht vertreten. Sie hatte sich dem Oktoberentscheid angesichts der undemokratischen Wahlbedingungen in Ost-Berlin und der „Drangsalierungen von SPD-Mitgliedern“ entzogen.404 Was wäre geschehen, wenn sie sich dennoch beteiligt hätte? Bezüglich der Dezemberwahlen 1954 zum West-Berliner Abgeordnetenhaus änderte die SED ihre Position. Bislang hatte sie, trotz ihrer prinzipiellen Berechtigung sowie vergleichsweise guter personeller und materieller Vorraussetzungen, dort noch an keiner Wahl teilgenommen und das mit undemokratischen Verhältnissen in West-Berlin, Willkür gegen Mitglieder der SED u.a.m. begründet. Der Grund wird eher die Erkenntnis gewesen sein, dass für sie eine Beteiligung sinnlos, möglicherweise sogar politisch schädlich gewesen wäre. Warum sie 1954 antrat, wird auch aus den Akten nicht hinreichend erkennbar. Die offizielle Teilnahmebegründung durch die SED lief auf die Behauptung hinaus, es sei schon ein Erfolg für sie, wenn sie den „adenauerhörigen Schreiber-Senat gezwungen (habe)“, sie zur Wahl zuzulassen. Sie beteilige sich an ihr, um mit ihrem Einzug ins Abgeordnetenhaus eine zusätzliche Basis für ihre politische Arbeit in West-Berlin zu schaffen, eine „Tribüne“, von der aus sie „die Grundfragen der deutschen Politik […] in Verbindung mit dem Berliner Problem“ entwickeln könnte. Dass sie zur Mobilisierung der Massen demagogisch argumentieren würde, war keine Besonderheit dieses Wahlkampfes, sondern ein allgemeines Merkmal kommunistischer Konkurrenzpolitik im Kalten Krieg.405 Doch liegt die Vermutung nahe, dass die SED 403 Magistrat von Groß-Berlin: „Die staatspolitische Massenarbeit der Volksvertretung der Stadtbezirke“, 6.10.1953, in: ebd., C Rep.902, Nr. 1313. 404 Vgl. „Telegraf“, 4.9.1954. 405 Schreiben des Landesamtes für Verfassungsschutz Berlin an den Senator für Inneres, Fischer, 14.10.1954, in: LAB, B Rep. 004, Acc. 4164, Nr. 761.

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„Farbe“ bekennen und sich als inzwischen einflussreiche politische Kraft darstellen wollte. Selbstbewusster geworden, rechnete sie sich offenbar reale Chancen aus, in das Abgeordnetenhaus, wenn vielleicht auch knapp, einzuziehen. Vermutlich spielten auch außenpolitische Überlegungen eine Rolle, etwa wenn die Sowjetunion der Meinung gewesen wäre, man sollte die SED auf der Basis alliierten Rechts international aufwerten. Dass ihre Teilnahme an demokratischen Wahlen, die man den Ost-Berlinern verweigerte, für sie nicht zur Sympathiewerbung beitragen dürfte, nahm sie augenscheinlich nicht als Problem wahr. Auch kam ihr Beschluss nicht unvorbereitet. Etwas zögerlich hatten, sozusagen als „Vorhut“, verschiedene SED-Kreisleitungen in Schreiben an West-Berliner Bezirksbürgermeister bereits im Juni 1954 eine Teilnahmeabsicht erkennen lassen. Es folgte der offizielle Antrag der SED-Bezirksleitung an den West-Berliner Wahlleiter.406 Auf die sachliche Anfrage ihres Ersten Sekretärs an den Regierenden Bürgermeister, Walther Schreiber (CDU), ob die SED bei der Wahlvorbereitung die gleichen Rechte wie jede andere Partei habe – beispielsweise bei der Benutzung öffentlicher Räume – antwortete er ebenfalls sachlich.407 Allerdings musste sich Schreiber mit der Kritik vieler West-Berliner an der Zulassung der SED als der „Partei der Diktatur“ auseinandersetzen. Er tat das öffentlich und sehr polemisch: Wenn der Westen unablässig für freie Wahlen als die unverzichtbare Vorraussetzung für die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit eintrete, könne man jetzt nicht „das Recht auf freie Wahlen“ leugnen und es der „landesverräterischen“ SED entziehen.408 In der Tat erhielt die SED alle ihr zustehenden Rechte, und hätte, falls sie es denn wollte, Demokratie „vor Ort“ lernen können. Zwar trug sie im Landeswahlausschuss, in den sie zwei Vertreter entsandte, Beschwerden über tatsächliche oder vermeintliche Behinderungen ihres Wahlkampfes vor, agierte aber insgesamt frei. Allerdings machte sich gleichzeitig der starke Antikommunismus in der Ber406 Vgl. Verschiedene Schreiben der SED-Kreissekretäre an West-Berliner Bezirksbürgermeister, in: LAB, B Rep. 004, Acc. 4161, Nr. 761 und Schreiben von Bruno Baum an den West-Berliner Wahlleiter, 21.9.1954, in: ebd. 407 Vgl. Schreiben von Alfred Neumann an Schreiber, 24.9.1954, und die Antwort Schreibers an Neumann, 4.10.1954, in: ebd. Der Reg. Bgm. schrieb, dass die SED nach der Berliner Verfassung die gleichen Rechte, „aber auch die gleichen Pflichten“ habe. 408 Ebenso machte Schreiber geltend, dass die SED von den Alliierten für ganz Berlin zugelassen worden war und dieser Akt nach wie vor – auch für den Senat – rechtsverbindlich sei. Er gab zu bedenken, dass eine Teilnahmeverweigerung zu dem „schädlichen Eindruck“ geführt hätte, „als hielten wir einen Erfolg der SED für möglich und verboten aus Sorge hierüber die Partei. In Wirklichkeit sind wir einer sicheren Niederlage der terroristischen, landesverräterischen SED gewiss […] Der Wahltag wird ein Tag des Strafgerichts über die SED werden.“ Manuskript der Rede des Reg. Bgm. Schreiber im Süddeutschen Rundfunk, 10.11.1954, in: ebd.

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liner Bevölkerung bemerkbar, wobei SED-Funktionäre häufig rigide Ablehnung durch Privatpersonen mit staatlicher Repressalie verwechselten.409 Wenngleich die meisten Kandidaten der SED für das Abgeordnetenhaus aus dem Osten der Stadt, genauer aus dem Apparat der Bezirksleitung kamen, besetzte sie die Liste der Bewerber im Weiteren prominent. Helene Weigel, die Intendantin des „Berliner Ensembles“, und Arthur Werner, Berlins erster Nachkriegsoberbürgermeister, waren die Spitzenkandidaten, und es bewarben sich auch der Physiker Robert Havemann sowie die ehrwürdige Luise Kähler, einst Gefährtin August Bebels, die von der SED bis dahin ignoriert worden war. Auch das war ein Indiz dafür, dass die Einheitspartei die Sozialdemokraten als Wählerpotential ins Auge nahm.410 Ihr Wahlaufruf zielte weiter auf Bevölkerungsschichten, die entweder stark national und patriotisch motiviert waren oder sich aus sozialen Gründen mit den WestBerliner Verhältnissen unzufrieden zeigten – Arbeitslose, schlechtverdienende Jugendliche sowie andere sozial Schwache. Ein Hauptaugenmerk legte die SED neben den Sozialdemokraten auf Gewerkschaftler. Das fand auch in der Programmatik411, in Wahlkampfforderungen sowie politischen Offerten seinen Aus409 Man habe der SED keine öffentlichen Räume zur Verfügung gestellt und verboten, an sie Schulräume zu vergeben. Einige Gastwirte hätten sich geweigert, ihre Lokale für SEDWahlveranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Dies sei auf Anweisung der Polizei geschehen. Sie habe auch bewirkt, dass eine Druckerei ihre Zusage für die Herstellung von Propagandamaterial zurückzog. Die SED-Vertreter im Landeswahlausschuss beschwerten sich ebenfalls über einen SPD-Abgeordneten, der im RIAS dazu aufgefordert hätte, der SEDPropaganda in West-Berlin keine Chance zu geben. Aus diesen Gründen unterzeichnete die SED eine West-Berliner Parteienvereinbarung „gegen die Auswüchse von Wahlpropaganda“ nicht. Niederschrift über die 1. Sitzung des Landeswahlausschusses, 16.10.1954, in: ebd., Acc., 4164, Nr. 759. 410 Vgl. „Vorwärts“ (Ost-Berlin), 15.10.1954. 411 Die SED nehme an den Wahlen teil, hieß es patriotisch, „weil sie die große vaterländische Aufgabe der Wiederherstellung der Einheit des demokratischen Deutschlands und damit der Einheit eines demokratischen Berlins für unaufschiebbar und für die vornehmste Pflicht aller Deutschen hält.“ Auf sozialem Gebiet sah die Partei eine allgemeine Misere. Die Mehrheit der Bevölkerung, behauptete sie, sage offen: So geht es in West-Berlin nicht mehr weiter! „Das ist auch unsere Meinung.“ Denn 60 Millionärsfamilien beherrschten die Stadt, die Profite stiegen und deshalb auch die Preise, die Mieten und Steuern. Die Reallöhne sänken weiter, und es gebe 200.000 Erwerbslose. Überdies würden in der Verwaltung „die alten faschistischen Beamten“ sitzen. Sie, wie die „Agentenzentralen“, seien sofort zu entfernen. Die SED trete für „Sauberkeit“ in der Verwaltung, Polizei und Justiz ein. „Mit eisernem Besen muß Westberlin von allen Schiebern, Spekulanten und Gangstern reingefegt werden.“ Außerdem wolle die SED die Wiederherstellung der einheitlichen Sozialversicherung. Wahlaufruf der SED zu den West-Berliner Wahlen, in: LAB, B Rep.004, Acc. 4164, Nr.761.

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druck. Sie spiegelten durchgängig ostdeutsche und sowjetische Ziele, aber auch soziale Forderungen vieler West-Berliner. Die SED führte ihren Wahlkampf vergleichsweise aufwändiger als die demokratischen Parteien. Die dabei anfallenden immensen Kosten trugen der DDR-Staatshaushalt sowie die SED über Mitgliederbeiträge und Gewinne aus Parteibetrieben. Kostenmildernd wirkte, dass die hauptamtliche Parteibürokratie nicht extra für den Wahleinsatz honoriert, sondern über feste Gehälter finanziert wurde und zudem für das Heer der Ehrenamtlichen Kosten – außer Spesen – kaum anfielen. Teuer hingegen kamen der OstBerliner Führung die zahlreichen kulturellen Veranstaltungen zu stehen, die sie als Bestandteil des Wahlkampfes künstlerisch hochrangig besetzte.412 Ansonsten führte die SED einen im Wesentlichen professionellen, wenngleich in Vielem noch unsicheren Wahlkampf, der auch gekennzeichnet war durch den hohen Mobilisierungs- und Ausbeutungsgrad der eigenen Genossen und zahlreicher in ihrer großen Mehrzahl aus dem Osten kommender Wahlhelfer. Auffällig war die hohe, durch Druck verstärkte Disziplin innerhalb der Grundorganisationen der SED.413 Die perfekte Organisierung von Aktionen nötigte ihren Konkurrenten manchmal unterschwellig Achtung ab. Die Berichte westlicher Beobachter – zuvorderst die des Landesverfassungsschutzes – vermittelten dem Senat sachliche Informationen414, die sich weitgehend mit denen in den Berichten der SED412 Vor allem begeisterten sowjetische Künstler – Sänger, Tanzensembles und Orchester. Die SED organisierte Konzerte mit renommierten Dirigenten und Klangkörpern, bunte Unterhaltungsabende mit bekannten Künstlern aus Ost-Berlin, Theaterveranstaltungen sowie Filmmatineen u.a.m. Diskussionspodien, gesamtdeutsche Gespräche, Sonderaustellungen und andere politische Formen der Einflussnahme lösten sich mit den künstlerischen Aktivitäten ab. Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Kultur, an die SEDBL, 8.11.1954, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 26. 413 Jedes Ost-Berliner SED-Mitglied habe mindestens dreimal in der Woche „zum Einsatz nach West-Berlin“ zu gehen, befand die Bezirksleitung der Partei. Genossen der SEDGrundorganisationen, „die vor dem Einsatz zurückweichen“, seien sofort vor die Kreisleitung zu laden „und sie entsprechend dem Statut mit parteimäßigen Erziehungsmitteln zur Einhaltung der Beschlüsse zu veranlassen“. Es spielte das Abschreckungsprinzip eine Rolle, wenn die Parteileitung anordnete, „einzelne Beispiele […] zur Mobilisierung der anderen Parteiorganisationen auszuwerten“. Protokoll Nr. 44/1954 der Sitzung des Büros der SED-BL vom 25.11.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 199/1, Bl. 284. 414 So erfuhr der Innensenator u.a. von Einsätzen des FDGB und der DSF, – letztere widme etwa 80 Prozent ihrer Kraft dem Wahlkampf – von der Verstärkung der „Haus-zu-Haus“Agitation der SED sowie des personellen Einsatzes (um die 3.000 Mitglieder der SED und Massenorganisationen). Aber auch Angehörige der DDR-Ministerien und öffentlichen Einrichtungen seien zwecks Wahleinsatz in West-Berlin von ihren Dienststellen beurlaubt worden. Der Verfassungsschutz signalisierte die jeweils aktuellen Zielrichtungen der SED und merkte auf der Grundlage seiner Quellenerkenntnisse resümierend an, dass sie

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Vertrauensleute deckten. Es überraschte auf keiner Seite, dass die SED bei der Wahl am 5. Dezember 1954 nur 2,7 Prozent der gültigen Stimmen erhielt. 1.4.3 Die Wahlen von 1958 in Westberlin und ihre „Lehren“ Bei der nächsten Wahl zum Abgeordnetenhaus (7. Dezember 1958) aktualisierte die SED ihre Wahlziele: Es ging jetzt um die Isolierung Brandts und der „adenauerhörigen“ West-Berliner Parteiführung innerhalb der SPD und, damit verbunden, um das Angebot der Kommunisten an sie, „an einem Senat mitzuarbeiten, der die Koalition mit der Adenauer-CDU und damit die Frontstadtpolitik beseitigt“. Dabei spielte zum einen die bereits erörterte veränderte Taktik der SED gegenüber der Sozialdemokratie eine Rolle und zum anderen, dass sich die SPD seit 1954 in einer Koalition mit der CDU befand. Dass die SED-Führung bei ihren drängenden Offerten an die SPD ein gewachsenes Selbstbewusstsein entwickelte415, war 1958 auch das Ergebnis der relativen Stabilisierung der SEDHerrschaft in der DDR und ihrer Hauptstadt sowie erster internationaler Achtungserfolge. Auch methodisch erfuhr die Wahlstrategie der SED durch die stärkere und systematischere Einbeziehung der DDR-Massenmedien eine wesentliche Verbesserung.416 Dennoch wies das SED-Politbüro den von der SEDBezirksleitung Berlin erarbeiteten Entwurf des Wahlaufrufs zurück: Es fehle ein „roter Faden“. Man müsse das Wesentliche deutlicher herausstellen und die Notwendigkeit betonen, die Frontstadtpolitik und die „Atmosphäre des kalten Kriegs in Westberlin“ zu beseitigen. Weiter habe klarer zutage zu treten, „dass es unserer die Wahlen nicht als Kampf der Parteien betrachte, sondern als „Kampf der Bevölkerung gegen die Feinde der Deutschen“: Monopole, Militaristen, Revanche-Politiker. Gleichzeitig lege die SED Gewicht auf die Aufdeckung West-Berliner Korruption und Skandalaffären. Schreiben des Landesamtes für Verfassungsschutz an Innensenator Fischer, 5.11.1954, in: ebd., B Rep. 004, Acc. 4164, Nr. 761. Aber auch die Vertrauensleute des Senats berichteten ausführlich über den SED-Wahlkampf, seine Strukturen und Formen. So war ihm bekannt, dass die SED ein spezielles, auf privaten Wohnungen basierendes Stützpunktsystem errichtete, von dem aus Einsätze koordiniert und dirigiert wurden. Informationen gingen auch über die Art und Weise des Vorgehens der Ost-Wahlhelfer in den ihnen zugeteilten Straßen und Häusern ein. Vgl. Berichte, in: ebd.; hier insbesondere die Information vom 4.11.1954. 415 Der Sekretär der SED-BL Berlin, Baum, meinte, „man möge in sozialdemokratischen Kreisen nicht daran zweifeln, dass unser Einfluss in den letzten drei Jahren gewachsen ist, dass also gar kein Zweifel darüber besteht, dass wir 1958 in das Abgeordnetenhaus einziehen.“ Manuskript Baums „Nicht länger Frontstadtkurs“, 7.9.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 304, Bl. 14f. 416 Arbeitsbüro (A) der SED-BL: „Die Lage in Westberlin und unsere Aufgaben“, 19.12.1957, Vorlage für das Büro der BL, in: ebd., Nr. 310, Bl. 40.

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Regierung ernst ist mit der Herstellung normaler Verhältnisse in ganz Berlin“. Schließlich ginge es darum, die Zustände in West-Berlin zu verändern.417 Großen Wert legte die SED-Führung auf ihr Angebot, West-Berlin mit Lebensmitteln zu beliefern. Unabhängig davon, dass die dem Senat angebotenen Nahrungsmittellieferungen (Gemüse und Butter) in Ost-Berlin interne Versorgungsprobleme aufgeworfen hätten418, lassen die intensiven Diskussionen über die Lösung von eventuell eintretenden Belieferungsschwierigkeiten die Ernsthaftigkeit der Offerte erkennen. Sie konnte im Kalkül der SED möglicherweise zu einem langerhofften offiziellen Abkommen führen, zeigte deren guten Willen zur Entspannung in Berlin und schien gleichzeitig geeignet, die Leistungsfähigkeit Ost-Berlins als „Schaufenster“ des Sozialismus herauszustellen. Auch die dem Politbüro der SED von der Bezirksleitung vorgelegten Vorschläge an den Senat drückten eine Modifizierung des östlichen Konzepts aus. Es ging, wie an anderer Stelle ausgeführt, nicht mehr um revolutionären Systemwandel in West-Berlin, sondern konkret um die Effektivierung des realsozialistischen Einflusses auf den anderen Teil Berlins, letztendlich um Positionsvorteile in der regionalen Konkurrenz.419 Das Ziel der Beendigung der SPD/CDU-Koalition verband sich mit der Frage, wo und wie die SED neue Bündnispartner finden könnte. Ihre Führung suchte sie nun stärker in der SPD und fragte sich ernsthaft, unter welchen Bedingungen die SED in WestBerlin Regierungsverantwortung mit übernehmen und so zu einem inneren Wandel beitragen könne. Methodisch änderte sich beim Wahlkampf, sieht man von der bereits angesprochenen stärkeren Einbeziehung der Massenmedien ab, allerdings wenig. Das schon bei den Wahlen von 1954 sichtbare Grundmuster blieb deutlich erkennbar420, ebenfalls dessen populistische Prägung. Aber auch Dema-

417 Es müsse also zum Ausdruck kommen, „welche Rolle die SED dabei spielt“. Dazu gehöre, dass aus dem Wahlaufruf zu erkennen sein müsse, welche realen Forderungen „sich die SED zu eigen mache“ und wer denn West-Berlin gefährde. Auch sollte man sich, wenn von ökonomischen Maßnahmen gesprochen werde, „klarer ausdrücken und nicht nur von wirtschaftlichen allgemeinen Fragen (reden)“. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 0 VI1/58 vom 11.9.1958, in: ebd., Nr. 340, Bl. 4. 418 Vgl. Vorlage für das Büro der SED-BL, 22.9.1958, in: ebd., Nr.341. 419 Darauf zielten dann die revidierten Wahlprogrammvorschläge der Bezirksleitung: Ein erweitertes Wirtschaftsangebot an den Senat, Vorschläge zur Minderung der Arbeitslosigkeit in West-Berlin und zur Lösung des Grenzgängerproblems und ein – nicht näher bestimmter – „Vorschlag, der die Reisen Westberliner Bürger betrifft.“ Protokoll Nr. 0 VII/58 der Sitzung des Büros der SED-BL, 22.9.1958, in: ebd., Nr. 341, Bl. 3. 420 Vgl. Sektor Parteiinformation der SED-BL: „Information über den Wahlkampf in Westberlin (1.Tagesbericht)“, 25.11.1958, in: ebd., Nr. 622.

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gogie konnte ein neues Desaster nicht verhindern: Am Wahltag verbuchte die SED lediglich 1,9 Prozent der gültigen Stimmen für sich. Ein Resümee der Darstellung der SED-Position zu Volksbefragungen und Wahlkämpfen kommt nicht an der Erkenntnis vorbei, dass sie als eine marxistisch-leninistische Kaderpartei demokratische Wahlen als Mittel bürgerlicher Macht- und Herrschaftssicherung prinzipiell ablehnte. Hinzu trat die tiefsitzende Erinnerung an die Gesamtberliner Wahlen im Herbst 1946, die für die SED einen Misserfolg darstellten, dessen Wiederholung sie fürchtete. So fiel es ihr in den untersuchten West-Berliner Wahlen nicht leicht, sich an bürgerliche Spielregeln zu halten, gesellschaftliche Kontexte zu begreifen und sich den „feindlichen“ Gegebenheiten anzupassen. Natürlich stand auch die Berliner SED in der Tradition der Wahlen und Wahlkämpfe der deutschen Kommunisten in der Weimarer Republik. Im Unterschied zu ihnen war die SED in Ostdeutschland nach 1945, in welcher Gestalt auch immer, „ernannte“ Regierungspartei, in West-Berlin jedoch Opposition, allerdings nicht parlamentarisch, sondern außerparlamentarisch, und sie war es fundamental. In den West-Berliner Wahlschlachten änderte sich ihr politisches Axiom nicht, dass bürgerliche Wahlen eigentlich nur sinnvoll seien, wenn aus ihnen eine Volksfront unter Führung der Kommunisten hervorginge, die zur Veränderung bestehender kapitalistischer Verhältnisse berufen und in der Lage sei. Während die SED freie Wahlen für die DDR ablehnte, weil das Machtverlust bedeutet hätte, versuchte ihre West-Berliner Parteiperipherie im obrigkeitlichen Auftrag, ihre politische Emanzipation und ihren Einfluss in den Westsektoren über eben dieses „bürgerliche“ Instrument zu erreichen. Dabei lebte in der SED und ihren West-Berliner Gliederungen eine von der deutschen Arbeiterbewegung längst gestellte Frage wieder auf: Inwiefern können demokratische Wahlen die Verhältnisse im Sinne einer Verbesserung der Lage der Mehrheitsgesellschaft verändern und möglicherweise zu sozialistischen Verhältnissen führen? Die SED hat das auch für die DDR geltende Legitimationsproblem bis an ihr Ende nicht „experimentell“ zu lösen versucht. Die Teilnahme an den Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus war aber ihr Versuch, sozusagen in „Feldforschung“ – auf einem politisch und territorial überschaubaren Gelände – zu erfahren, ob und wie man sich an demokratischen Wahlen beteiligen könne. Das Ergebnis bestätigte die Vorbehalte der Partei. Dennoch lernte sie bedingt aus beiden West-Berliner Wahlen. Sie erfuhr, dass der bürgerliche Rechtsstaat, wie immer er und seine Gesellschaft auch antikommunistisch penetriert sein mochten, demokratische Prinzipien achtete und der Opposition, auch einer radikalen, ihre verfassungsmäßigen Rechte garantierte. Das räumte das kommunistische Misstrauen in die bürgerlichen Verhältnisse zwar nicht aus, milderte es aber. Es blieb die stalinistische Mentalität der SED, die legalen Wahlkämpfe ohne Not immer wieder auch konspirativ zu führen, stärker

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1954 als 1958. Doch andererseits konnte sie in der „Retorte“ West-Berlin Demokratie einüben, Wahlkampfstrategien effektivieren sowie Methoden erproben und modernisieren. Dazu gehörte auch, dass sie sich als Oppositionspartei zunehmend der allerdings in West-Berlin wenig erfolgreichen Taktik bediente, die Parteien im konkurrierenden Lager gegeneinander auszuspielen und marktwirtschaftliche Widersprüche zu instrumentalisieren. Es zeigte sich alles in allem, dass demokratische Wahlen von der SED als Mittel des „Klassenkampfes“ verinnerlicht wurden und die Idee dominierte, sie unter parlamentarischen Verhältnissen gegen den bürgerlichen Staat zu kehren. Auf der anderen Seite zog auch der Senat Lehren. Sie waren eher positiv. So bestätigten sich die Befürchtungen nicht, dass die SED über den Wahlkampf merklichen Einfluss auf die West-Berliner nehmen und dabei sozial unzufriedene Bevölkerungsteile mobilisieren könne. Im Gegenteil hatte der Wahlkampf die Überlegenheit der westlichen Ordnung herausgestellt und ihre Herrschaftsmethoden und Machtinstrumente als effektiv charakterisiert. Auch durfte der Westen annehmen, dass sich die SED auch in zukünftigen Berliner Wahlkämpfen an die „Spielregeln“ halten würde. So unterstrichen die Wahlergebnisse, dass alle Überlegungen und Forderungen, der SED eine Wahlbeteiligung durch Verfassungsänderung zu verwehren oder zu erschweren, überflüssig, ja schädlich, seien.421

2. Östliche Jugendtreffen und westsektorale „Gegenspiele“ 2.1 Das Pfingsttreffen der FDJ von 1950 In beiden Teilen Deutschlands und Berlins spielte die Jugend bei der Konsolidierung der einander entgegengesetzten Ordnungen eine zentrale Rolle. Ihr gehörte die Zukunft. Sie war begeisterungsfähig und prädestiniert, politische und gesellschaftliche Zielvorstellungen nachhaltig umzusetzen. Das sahen Demokraten nicht anders als Kommunisten. Die SED ging davon aus, dass die ostdeutsche Jugend durch eine Kombination von sozialen Vorteilen mit den Verheißungen der 421 Auch die amerikanische Militärregierung hatte eine diesbezügliche Änderung der Berliner Verfassung erwogen, sie aber praktisch nicht weiter verfolgt. Suhr meinte, man solle sie „nach Möglichkeit nicht verändern, da sie unter Mitarbeit der Vertretung der Sowjets entstanden sei und die Möglichkeit der Vertretung von Ostabgeordneten im Berliner Parlament mit sich bringe. In diesem Sinne könne West-Berlin mit größerem Recht für das ganze Berlin sprechen als die Bundesregierung für ganz Deutschland“. Vermerk über eine Besprechung des Reg. Bgm. mit Mr. Dowling, stellvertretender amerikanischer Hoher Kommissar für Deutschland, und amerikanischen Beamten, 12.2.1955, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 4800.

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1954 als 1958. Doch andererseits konnte sie in der „Retorte“ West-Berlin Demokratie einüben, Wahlkampfstrategien effektivieren sowie Methoden erproben und modernisieren. Dazu gehörte auch, dass sie sich als Oppositionspartei zunehmend der allerdings in West-Berlin wenig erfolgreichen Taktik bediente, die Parteien im konkurrierenden Lager gegeneinander auszuspielen und marktwirtschaftliche Widersprüche zu instrumentalisieren. Es zeigte sich alles in allem, dass demokratische Wahlen von der SED als Mittel des „Klassenkampfes“ verinnerlicht wurden und die Idee dominierte, sie unter parlamentarischen Verhältnissen gegen den bürgerlichen Staat zu kehren. Auf der anderen Seite zog auch der Senat Lehren. Sie waren eher positiv. So bestätigten sich die Befürchtungen nicht, dass die SED über den Wahlkampf merklichen Einfluss auf die West-Berliner nehmen und dabei sozial unzufriedene Bevölkerungsteile mobilisieren könne. Im Gegenteil hatte der Wahlkampf die Überlegenheit der westlichen Ordnung herausgestellt und ihre Herrschaftsmethoden und Machtinstrumente als effektiv charakterisiert. Auch durfte der Westen annehmen, dass sich die SED auch in zukünftigen Berliner Wahlkämpfen an die „Spielregeln“ halten würde. So unterstrichen die Wahlergebnisse, dass alle Überlegungen und Forderungen, der SED eine Wahlbeteiligung durch Verfassungsänderung zu verwehren oder zu erschweren, überflüssig, ja schädlich, seien.421

2. Östliche Jugendtreffen und westsektorale „Gegenspiele“ 2.1 Das Pfingsttreffen der FDJ von 1950 In beiden Teilen Deutschlands und Berlins spielte die Jugend bei der Konsolidierung der einander entgegengesetzten Ordnungen eine zentrale Rolle. Ihr gehörte die Zukunft. Sie war begeisterungsfähig und prädestiniert, politische und gesellschaftliche Zielvorstellungen nachhaltig umzusetzen. Das sahen Demokraten nicht anders als Kommunisten. Die SED ging davon aus, dass die ostdeutsche Jugend durch eine Kombination von sozialen Vorteilen mit den Verheißungen der 421 Auch die amerikanische Militärregierung hatte eine diesbezügliche Änderung der Berliner Verfassung erwogen, sie aber praktisch nicht weiter verfolgt. Suhr meinte, man solle sie „nach Möglichkeit nicht verändern, da sie unter Mitarbeit der Vertretung der Sowjets entstanden sei und die Möglichkeit der Vertretung von Ostabgeordneten im Berliner Parlament mit sich bringe. In diesem Sinne könne West-Berlin mit größerem Recht für das ganze Berlin sprechen als die Bundesregierung für ganz Deutschland“. Vermerk über eine Besprechung des Reg. Bgm. mit Mr. Dowling, stellvertretender amerikanischer Hoher Kommissar für Deutschland, und amerikanischen Beamten, 12.2.1955, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 4800.

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marxistisch-leninistischen Ideologie für die neue Gesellschaft und die politischen Ziele der SED zu gewinnen sei. Die Mobilisierung der Jugend war deshalb ein Hauptanliegen der FDJ. Sie stellte als einzige in der DDR zugelassene politische Jugendorganisation zwar formal einen parteiübergreifenden Verband dar, fungierte aber längst als jugendpolitisches Instrument der SED.422 Deren Mobilisierungsstrategien lehnten sich stark an die deutsche Jugendbewegung in der Weimarer Republik an. Diese „Weimarer“ Traditionslinie schimmerte vor allem bei Massenaufmärschen und Großkundgebungen durch. Fackelzüge, Staffelläufe, paramilitärische Sportveranstaltungen u.a.m. waren aber sowohl von den Nationalsozialisten als auch vom Stalinismus mit der Tendenz zur Perfektion weiterentwickelt worden.423 Dass Berlin für Großaktionen dieser und anderer Art auch nach 1949 die politische Hauptbühne bildete, lag in dieser zentralistischen Tradition. So plante die SED das erste für Pfingsten geplante „Deutschlandtreffen der Jugend“ (27. bis 30. Mai 1950) gesamtnational, also unter Beteiligung bundesdeutscher und WestBerliner Jugendlicher, als Zustimmungsdemonstration für die SED und die Sowjetunion. Das Konzept des Pfingsttreffens ging nicht einfach von einer „Friedensdemonstration“ der über 500.000 erwarteten FDJ-ler und anderen deutschen Jugendlichen aus und auch nicht nur von einem „machtvollen Bekenntnis“ zur Einheit Deutschlands. Erich Honecker, Erster Sekretär des Zentralrats der FDJ, plante einen „Marsch auf Berlin“424 in der Absicht, mit fünf Marschsäulen vom Osten der Stadt in West-Berlin einzumarschieren und dort die Schlagkraft der FDJ zu demonstrieren. Die in ihren Blauhemden uniformierten jungen Menschen sollten Stärke und Entschlossenheit zur Schau stellen, den West-Berliner Magistrat und die Westalliierten verunsichern und die Bevölkerung beeindrucken. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Denn ein solcher Durchzug durch die Westsektoren bot durchaus die Chance, deren innere Verhältnisse zumindest kurzfristig dadurch zu erschüttern, dass man das Sicherheitssystem West-Berlins etwas durcheinander brachte und hier die Sympathien derjenigen weckte, die sich sozial und politisch benachteiligt fühlten sowie „national“ dachten. Honecker verkündete, man werde den „Kriegshetzern zu Pfingsten eine Antwort erteilen, wie sie Deutschland bisher noch nicht gesehen hat. Bei dieser Gelegenheit werden wir

422 Vgl. Ulrich Mählert/Gerd-Rüdiger Stephan, Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996. 423 Vgl. ebd, S. 80f. 424 Vgl. Riess, Alle Straßen, S. 182ff.

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auch demokratische Zustände in West-Berlin einführen.“425 Laute Ankündigungen der ostdeutschen Medien folgten. Schließlich witterten die West-Berliner in dieser offenen Herausforderung eine Bedrohung der Stadt426, einen neuen Vorstoß der Sowjets, um West-Berlin zu unterwerfen. Zwar wiederholte sich die östliche Phrase von einer „friedlichen Eroberung Berlins“; doch was verstanden SED und FDJ tatsächlich darunter? Überdies kursierten Gerüchte, die Blauhemden wollten auch die West-Berliner Rathäuser besetzen, und als das eigens für den Umzug durch West-Berlin geschaffene Marschlied „Die Freie Deutsche Jugend stürmt Berlin“ (Text Kurt Bartels, Melodie André Asriel) überall in Ostdeutschland erklang, schien das eine aggressive Absicht zu bestätigen. Mitte März gab der West-Magistrat bekannt, dass er den Marsch der FDJ durch sein Verwaltungsgebiet nicht gestatten werde, lud aber alle Jugendlichen aus dem Osten nach WestBerlin ein, wenn sie denn in friedlicher Absicht einzeln oder in kleinen Gruppen kämen. Da das Politbüro der SED weiterhin konfrontativ plante427, setzte sich in West-Berlin eine mit konkreten Abwehrmaßnahmen verbundene Bedrohungsperzeption durch, die auch die Bundesregierung und die Westalliierten teilten. Scharfe Presse- und Politikerpolemiken spitzten die Lage zu428 und erzeugten beiderseits Hysterie. Offenbar war es die an einem neuen Berlinkonflikt nicht interessierte Moskauer Führung um Stalin, die das SED-Politbüro und damit die FDJ veranlasste, ihr risikoreiches Konfrontationskonzept zurückzunehmen429, um es durch „heitere Spiele“ zu ersetzen.430 425 Zitiert nach Dieter Borkowski, Für jeden kommt der Tag … Stationen einer Jugend in der DDR, Berlin 1990, S. 218f. 426 Vgl. Prowe, Weltstadt in Krisen, S. 60. 427 Vgl. Sitzung des Sekretariats des ZK der SED, Protokoll Nr. 93 vom 17.3.1950, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3–93. 428 Vgl. „Telegraf“ Nr. 49, 26.2.1950; Nr. 72, 25.3.1950; Nr. 84, 9.4.1950 sowie Nr. 123, 28.5.1950. Vgl. dazu auch Arno Scholz, Berlin im Würgegriff, Berlin (W) 1953 und Dennis L. Bark, Die Berliner Frage 1949–1955, Berlin/New York 1972, S. 133. 429 Vgl. Michael Lemke, Die „Gegenspiele“. Weltjugendfestival und FDJ-Deutschlandtreffen in der Systemkonkurrenz 1950–1954, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR in Europa – zwischen Isolation und Öffnung (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 140), Münster 2006, S. 3–9. 430 Jetzt betonten die Partei- und Staatsfunktionäre, dass Pfingsten für die Jugend in Berlin ein Fest der Lebensfreude sein würde, aber natürlich auch Ausdruck der engen Verbundenheit der Jugend mit der Regierung. Die gab sich würdevoll-feierlich: Ministerpräsident Otto Grotewohl lud die westdeutschen Jugendlichen im Auftrag des ZK offiziell zum Deutschlandtreffen ein und garantierte ihnen den Schutz der Regierung der DDR. Geschenke für die internationalen Delegationen lagen bereit. Vgl. Sitzung des ZK der SED, Protokoll Nr. 106 vom 10./11.5.1950, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3–106 und Sitzung des Sekretariats des Zentralrates der FDJ, Protokoll Nr. 64, in: ebd. DY 24/2396.

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Die darauf folgende Beruhigung bewirkte in West-Berlin ebenfalls einen Wechsel der Abwehr- in eine „Willkommens“-Konzeption. Mit dem Beginn des Deutschlandtreffens strömten Tausende von FDJ-lern über die Sektorengrenze – zunächst ängstlich, dann unbefangener, mit oder ohne Blauhemd. „Ganze Schwärme von FDJ-Mitgliedern besuchen trotz Verbots der SED West-Berlin“, kommentierte „Welt im Film“ seine freundlichen Bilder.431 Die FDJ-Führung fühlte sich düpiert, beobachtete die Entwicklung jedoch sorgsam und hielt die Fakten relativ objektiv fest. Demzufolge fuhren während des Pfingsttreffens 200.000 FDJ-ler in den Westteil der Stadt, und da viele mehrmals kamen, wurden insgesamt 1.004.206 Besuche registriert. Vor allem ging das „Kaffee-und-KuchenKonzept“ des Westens auf. Zahlreiche West-Berliner luden Jugendliche zu sich ein. Tausende junge Sachsen, Thüringer, Mecklenburger und Brandenburger wurden mit Kakao, Rosinenbrot, Schokolade, Keksen, Apfelsinen, Zigaretten und Getränken bewirtet. Auf erstaunliche Resonanz stießen die kurzfristigen Aufrufe des Reuter-Magistrats mit der Bitte um Sachspenden und finanzielle Zuwendungen durch Privatpersonen und Firmen. Auch die meisten anderen Aktionen waren improvisiert: Viele Kinos und einige Theater gaben Freikarten aus; Sonderveranstaltungen beispielsweise im „Titania-Palast“ zogen pro Abend bis zu eintausend FDJ-ler an. Auf dem Kurfürstendamm und am Zoo flanierten Tausende Blauhemden. Da sie die BVG-West unentgeltlich beförderte, gelangten sie in alle Teile der West-Sektoren, auch in die stark frequentierten internationalen Ausstellungen am Funkturm. Mit 15.000 Neugierigen erlebte der RIAS einen kaum zu verkraftenden Ansturm. Hier, wie anderswo und ebenfalls auf den Straßen, konnten auch kontroverse Meinungen frei geäußert werden. Auch andere eigens für die OstBerliner kurzfristig auf die Beine gestellte Aktionen stellten eine echte Konkurrenz für die Ost-Berliner Pfingstveranstaltung dar. Angesichts ihres für den Westen erfreulichen Verlaufs und der östlichen Ohnmacht entwickelten die westlichen Werbemethoden erhebliche Dynamik. West-Berliner Jugendverbände und Organisationen mobilisierten ihre Mitglieder, die im anderen Teil der Stadt Teilnehmer des Deutschlandtreffens ansprachen und sie zum Besuch der Westsektoren einluden. Lautsprecherwagen an den Sektorengrenzen forderten ebenfalls dazu auf. Als antikommunistische Extremisten die Situation nutzten und per Raketen Flugblätter in den Osten schossen mit dem Aufruf, gegen das sowjetische Terrorregime Widerstand zu leisten, und sie im Osten massenweise Zettel klebten („Iwan, zieh Leine“; „500.000 deutsche Kriegsgefangene möchten Pfingsten auch in Berlin sein“), entstand tatsächlich der Eindruck, dass eigentlich nur der Westen

431 Vgl. Welt im Film, Nr. 262/1950, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz.

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aggressiv sei.432 Diese Beobachtung war insofern richtig, als sich FDJ und SED auf die Sicherung des Deutschlandtreffens im Ostsektor beschränkten und gegenüber West-Berlin weitgehend eine Abwehrposition einnahmen. Jetzt zeigte sich der östliche Wandel des offensiven in ein defensives Konzept in der täglichen Praxis. Doch beide Seiten sahen, dass das weitgehend auf Improvisation basierende „Kaffee-und-Kuchen-Konzept“ des Westens im Wesentlichen über einen nicht politischen Mechanismus funktionierte. Es zog die Ostjugend durch attraktive Konsum- und Freizeitangebote an und kam ihrer Neugier sowie Abenteuerlust entgegen. Dessen ungeachtet war der politische Gewinn für den West-Berliner Systemkonkurrenten erheblich. Zum einen stellte die Stippvisite so Vieler in West-Berlin, die eigentlich zur kommunistischen Jugendschau delegiert worden waren und von der SED gerade noch als treue Verfechter ihrer Friedens- und Einheitspolitik gelobt wurden, nichts anderes dar als eine Blamage. Zum anderen konnten die Gäste die West-Berliner Verhältnisse selbst in Augenschein nehmen und sich ein eigenes Bild machen. Dies bezog die weit verbreitete Wahrnehmung mit ein, dass man im Westen seine Meinung sagen und frei diskutieren dürfe. Da sie die Verhältnisse im Osten kannten, boten sich viele sozialpolitische, wirtschaftliche sowie kulturelle und alltagspolitische Vergleiche an. Doch zeigte sich das aufeinander bezogene Feiern nicht nur als Kampf der politischen Eliten, sondern auch im Alltag der Bevölkerung. Sie nahm das Jugendfest als ein Gesamtberliner Gaudium.

2.2 „Berlin ruft die Jugend der Welt.“ Die III. Weltfestspiele von 1951 Als der Rat des kommunistisch gesteuerten Weltbundes der Demokratischen Jugend Ende 1950 die Weltfestspiele nach Ost-Berlin einberief, hatten sich die deutschland- und berlinpolitischen Interessen der UdSSR und der SED im Prinzip nicht geändert. Die Spiele würden als international drapierte Propagandaschau unter ähnlichen Losungen wie das Pfingsttreffen 1950 stattfinden: Kampf um den Frieden und gegen westdeutsche Remilitarisierung sowie Wiederherstellung der deutschen und Berliner Einheit. Zwar war das Weltjugendfestival die zentrale Aufgabe für die FDJ, die auch als offizieller Träger der Spiele figurierte. Doch wusste ein jeder, dass der Ost-Berliner Magistrat die organisatorische Hauptlast tragen würde. Er bezeichnete den Beschluss des Weltbundes als eine „Auszeichnung“ für Berlin und den „Beweis dafür, dass in den Augen der demokratischen Menschen der ganzen Welt Berlin nicht nur die Hauptstadt Deutschlands geblieben ist, sondern […] als ein Kraftzentrum im Kampf um den Weltfrieden aner432 Vgl. ebd. sowie „Die Neue Zeitung“, 1.6.1950; Hanns Peter Herz, Momentaufnahmen aus einer geteilten Stadt, in: Rexin (Hrsg.), Radio-Reminiszenzen, S. 182f.

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kannt wird“.433 Die Stadtverwaltung betrachtete die Weltfestspiele als eine allgemeine Mobilisierung der Werktätigen, sah sie aber auch als Chance, die eigenen berlinpolitischen Vorstellungen zu popularisieren434 und handfeste städtische Interessen durchzusetzen. Das betraf vor allem die Verbesserung der Infrastruktur der Teilstadt, den Wiederaufbau und die Instandsetzung von Wohnungen und öffentlichen Einrichtungen sowie einfache Verschönerungsmaßnahmen. Grundsätzlich ging die SED davon aus, dass die Spiele die Aufbauarbeiten generell beschleunigten und für die Wiedergewinnung des kulturellen Niveaus Berlins als Weltstadt warben. Angesichts der West-Berliner Konkurrenz und des teilweise desolaten baulichen und verkehrstechnischen Zustands im Ostteil forderte sein Magistrat jetzt mit dem Verweis auf das Ereignis bei der Regierung der DDR und dem SED-ZK bislang gesperrte sowie zusätzliche finanzielle Mittel an und gestaltete den Einsatz eigener Ressourcen flexibler. „Berlin wird in der Vorbereitung der Stadt sein Gesicht verändern“435, versprach er der Bevölkerung. Die Ost-Berliner Nationale Front veröffentlichte einen umfangreichen Plan zur Massenmobilisierung. Sie rief die Bevölkerung „laufend zur freiwilligen Aufbauarbeit“ bei der Enttrümmerung und Verschönerung vor allem der „Aufmarschstraßen“ und zur Ausschmückung der Häuser und Straßen auf. SED, FDJ und Magistrat begannen energisch mit der Vorbereitung der weit gefächerten Ost-Berliner Programme für das Festival, das zum Prestigeobjekt geriet. Der „allergische“ Punkt des Ganzen lag in der selbst gestellten Aufgabe, die beim Pfingsttreffen 1950 als peinlich wahrgenommenen Besuche der FDJ-ler in West-Berlin diesmal zu verhindern. Diesem Ziel müssten u.a. Organisation und Versorgung Rechnung tragen. Im Unterschied zur gelungenen Improvisation zu Pfingsten 1950 arbeitete der Senat in Absprache mit der Bundesregierung und den Alliierten parallel zu den ostdeutschen Vorbereitungen an einem „Gegenplan“, hütete sich allerdings, ihn so zu nennen und konkrete Vorstellungen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Gegen die Auffassung einiger an einem „Gegenfestival“ interessierter Organisationen – etwa der KgU436 – setzte sich die Auffassung des Leiters des Presseamtes beim Senat, Hans Hirschfeld, durch, dass der Eindruck einer zentralen westlichen Gegenaktion mit propagandistischen Großveranstaltungen aus politischen Gründen unbedingt zu vermeiden sei. Auch müsse die Arbeit „möglichst geräuschlos 433 Magistratsbeschluß Nr. 606a, 16.12.1950, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 854, Bl. 3. 434 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 688, 18.4.1951, in: ebd., Nr. 856, Bl. 137. 435 Vorbereitungen zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten, 14.2.1950, in: ebd., C Rep. 101. 436 Vgl. Ernst Tillich, „1. Arbeitsentwurf zur Vorbereitung der ‚Weltjugendfestspiele‘“, 4.5.1951, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1382, Nr. 17/5.

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nach außen“ aufgenommen und vom gerade gebildeten Hauptausschuss in die Arbeitsausschüsse verlagert werden.437 Hirschfeld, als der vom Regierenden Bürgermeister mit der Federführung Beauftragte, setzte die Nichtübernahme des Betätigungsverbotes für die bundesdeutsche FDJ (vom 26. Juni 1951) auf WestBerlin durch, es hätte die Verhaftung eines jeden „Blauhemdes“ dort nach sich gezogen, sowie zum anderen den Grundsatz, dass – anders als zu Pfingsten 1950 – improvisierte und unkontrollierbare private Initiativen auszuschließen seien. Der Senat und die am inoffiziellen „Gegenfestival“ beteiligten Kräfte beschlossen, die FDJ-ler zwar nicht „amtlich“ nach West-Berlin einzuladen, sie aber unter der Losung „Wir zeigen euch die freie Welt“ zum Besuch zu ermuntern und ihnen „menschlich näher zu kommen“, sie aber nicht zum Bleiben zu verleiten.438 Diese Strategie stützte sich einerseits auf das bewährte „Kaffee-und-Kuchen“-Modell und andererseits auf ein attraktives Angebot an Kultur, Sport und politischer Diskussion. Dabei würden die West-Berliner öffentlichen Jugendheime als organisatorische Stützpunkte und Begegnungsorte die optimale Variante sein.439 WestBerlin sollte insgesamt „Normalität“ zeigen und die Schaulust und Wissbegier seiner jugendlichen Gäste ausnutzen.440 Trotz verschiedener disziplinarischer und sicherheitstechnischer Maßnahmen im Ostsektor besuchten mit dem Beginn des Weltjugendfestivals Zehntausende FDJ-ler West-Berlin. Sowjetunion und SED gingen klugerweise zur Praxis der Duldung dessen über, was nicht zu verhindern war. Dabei spielte vielleicht weniger die Frage der administrativen Durchführbarkeit von Sperren eine Rolle als vielmehr die politische Konzeption des Festivals als offen, frei und fröhlich. Vor allem diejenigen, die West-Berlin aus eigener Anschauung nicht kannten, kamen aus Neugierde und der Lust auf Abwechslung. Auch sorgten Westreklame und 437 Vgl. Vermerk über die Besprechung am 5.4.1951 im Hauptschulamt, in: ebd. Dem Hauptausschuss mit oberster Weisungsbefugnis gehörten die Vertreter der Besatzungsmächte, der Bundesregierung und des Senats an. Dem Gremium unterstanden vier Arbeitsausschüsse: der Ausschuss für Sportfragen (Leitung Sportverband Berlin), für kulturelle Fragen (Leitung „Kulturkongress“, Birkenfeld), für Jugendfragen (Leitung Landesjugendring), für Politik und Presse (Leitung „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ – Tillich). Teilnehmer: Verwaltungen und Zentraldienststellen des Senats, Bundesministerien für gesamtdeutsche Fragen und Inneres, Alliierte Hohe Kommission, politische Parteien, Landesjugendring, Ring Politischer Jugend, DGB, Kongress für Kulturelle Freiheit, KgU, Vereinigung Freiheitlicher Juristen. Vgl. ebd. 438 Betr.: Weltjugendfestspiele (WJFS), Bezug: Hauptschulamtskonferenz am 4.6.1951, in: ebd. 439 Protokoll über die Arbeitsbesprechung der Pressereferenten am 12.7.1951, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3245/1. 440 Vgl. Vermerk Hirschfelds, 9.6.1951, in: ebd., Nr. 3387, Bd. 2.

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Flüsterpropaganda für detaillierte Information. So sprach es sich schnell herum, dass es überall freien Eintritt und obendrein noch Gutes zu essen gebe. Politische Motive besaßen die meisten nicht. Natürlich zogen die 81 zentralen und 108 bezirklichen kulturellen Veranstaltungen im Westen an. Das Gleiche galt für Dutzende Sportaktionen. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich, mit einem erheblichen Abstand zu allen anderen Einrichtungen, die Westkinos. Sie zeigten schier pausenlos Filme, die der Osten nicht bot – Wildwestfilme vor allem. Gut frequentiert waren auch große bunte Veranstaltungen u.a. im „Titania-Palast“ und die kleineren in Zeitungsredaktionen und beim RIAS-Berlin, der bei seinen insgesamt 60.000 östlichen Gästen erfolgreich Sympathiewerbung betrieb.441 Der eigentliche Ansturm erfolgte, wie im West-Berliner Konzept vorgesehen, auf die ausgewählten 40 gut präparierten Jugendheime. Wenngleich sie der Hauptort der politischen Diskussion sein sollten, trat doch ihre Versorgungsfunktion sofort in den Vordergrund. Zwar übertrieben die Organisatoren der West-Berliner Gegenspiele, wenn sie meinten, „allein schon der Hunger“ treibe die FDJ-ler hierher.442 Die täglichen Rationen im Ostteil der Stadt waren zwar nicht üppig, aber nach den Normen des Jahres 1951 ausreichend.443 Dass sich viele FDJ-ler dennoch über die Ost-Berliner Festival-Verpflegung beschwerten444, lag auch daran, dass sie mehr und vor allem Besseres erwartet hatten und zudem „Pannen“ die Versorgung und damit die Stimmung beeinträchtigten. Ihre Kritik – berechtigt oder unberechtigt – diente aber auch der Begründung ihrer Abstecher in den Westen. Die Gastgeber dort nahmen das „Hungerargument“ der jugendlichen Ostbesucher häufig für 441 Vgl. Herz, Momentaufnahmen, S. 93. 442 Bundesjugendausschuß Spandau an das Berliner Jugendbüro, 11.8.1951, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3387, Bd. 1. 443 Es gab täglich pro Person 220g Kochwurst, 300g Brot, 50g Kekse oder Zwieback, 200g Schmelzkäse und eine warme Mittagsmahlzeit, Vgl. ebd., B Rep. 013, Acc. 1160, Nr. 72. 444 „Die ganze Stimmung hängt mit dem Essen […] zusammen“, glaubte zum Beispiel die SED-Kreisleitung Pankow. „Schlechte Stimmungen, Meckereien und Nörgeleien“ seien besonders bei den älteren Festivalteilnehmern zu beobachten, berichteten Instrukteure. In Friedrichshain klagten aber auch jüngere Freunde über die einseitige Verpflegung – zu Mittag häufig nur Graupen. Es werde kein Fett ausgegeben und einige würden nicht satt. Auch die SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg berichtete von Verpflegungsdefiziten. Es mangele an Brot und eben an Fett. Auch klappe die Versorgung mit warmen Speisen nicht. Daraufhin sei von Teilnehmern geäußert worden, „sie würden ihre Sachen packen und nach Hause fahren“, wenn sich nichts ändere. Andere FDJ-ler hätten gerufen: „Nie wieder nach Berlin, hier gibt es nichts zu essen.“ Doch trat eine sofortige Änderung ein, etwa bei der Brotversorgung. Jetzt gäbe es davon so reichlich, dass „täglich Berge von Brot vernichtet wurden“. Sektor Parteiinformation der SED-LL: „Auswertung der Berichte über die Durchführung der Weltfestspiele (Demokratischer Sektor)“, Nr. 116, 10.8.1951 und Nr. 117, 11.8.1951, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 269.

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bare Münze, übersahen aber nicht, dass Ost-Berlin ebenfalls attraktive Kulturund Sportveranstaltungen anbot. Der Konkurrenzdruck erhöhte sich auf beiden Seiten. Ausschuss stand gegen Ausschuss, Kommission gegen Kommission, Attraktion gegen Attraktion. Im Hintergrund agierte in Ost und West eine kämpferische „Festspiel“-Bürokratie. Beide Konfliktparteien lieferten sich bei der Werbung für die eigene Sache und um immer neue Teilnehmer regelrechte Propagandaschlachten.445 Doch verlief solange alles gewaltlos, bis am 15. August plötzlich mehrere Tausend FDJ-ler in Blauhemden in drei geschlossenen Marschblöcken (Neukölln, Wedding und Kreuzberg) laut singend und Fahnen schwenkend, aber diszipliniert, in West-Berlin einmarschierten. Die West-Berliner Polizei stoppte sie mit Brachialgewalt. Sie setzte Wasserwerfer und Schlagstöcke ein. An den Ausschreitungen nahmen auf Seiten der Polizei auch West-Berliner Bürger teil.446 Es entluden sich bislang unbekannte Aggressionen. Das war das eigentlich Erschreckende. Stellenweise, wie im Wedding und in Neukölln, spielten sich bürgerkriegsartige Szenen ab. Viele FDJ-ler wehrten sich und warfen mit Steinen; einige Hundert von ihnen wurden zum Teil erheblich verletzt, Dutzende verhaftet. Das fadenscheinige Argument der SED und der FDJ lautete, Reuter habe die Teilnehmer der Weltfestspiele nach West-Berlin eingeladen. Nun seien sie gekommen und brutal zusammengeschlagen worden. Das sei eine verbrecherische Handlung. Demgegenüber verwies die westliche Seite darauf, dass sie zwar alle Festivalteilnehmer in den Westsektor eingeladen habe, aber nicht alle auf einmal und nicht in großen geschlossenen Formationen mit Fahnen und klingendem Spiel. Der Osten habe provozieren wollen. Formal war der Senat im Recht. Jedoch hätte er sich an die eigene Erkenntnis halten können, dass die Marschierer verleitete junge Menschen waren, die es doch eigentlich von der Überlegenheit der Demokratie zu überzeugen galt. Stattdessen hielt er sich an eine in dieser Sache fragwürdige Gefahrenabwendung und praktizierte Abschreckung – möglicherweise das Hauptanliegen der harten Gegenaktion. Die eigentliche Perfidie lag aber im rücksichtslosen Handeln der östlichen Seite. Die kommunistische Führung besaß eine Fürsorgepflicht gegenüber den FDJ-lern. Sie wurden skrupellos instrumentalisiert und einer sichtbaren Gefahr 445 Vgl. Lemke, Die „Gegenspiele“, S. 26–34. 446 Sie habe die Stumm-Polizei (Stupo) noch angestachelt: „Schlagt sie tot – schickt sie zurück nach Moskau.“ Viele Bewohner hätten aus den Fenstern mit Blumentöpfen nach den FDJ-lern geworfen und sie mit Wasser übergossen bzw. mit auf die Demonstranten eingeschlagen. Immer wieder, so wurde berichtet, erklangen Rufe: „Schlagt doch diese Hunde tot“ und „haut sie raus“ wie auch „tagelang haben sie sich [im Westen] sattgefressen und jetzt kommen sie stänkern“. Sektor Parteiinformation, „Betrifft: Durchgeführte Aktion in Westberlin anlässlich der Weltfestspiele am 15.8.1951“, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 269.

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ausgeliefert.447 Als die Weltfestspiele nach 14-tägiger Dauer am 19. August beendet waren, zogen die Konkurrenten Bilanz. Sie fiel auf beiden Seiten prinzipiell positiv aus. Jeder fühlte sich als Sieger. Die SED-Führung nahm das Festival als Beweis dafür, dass die Jugend fest hinter ihr, der DDR und der Sowjetunion stehe. Sie sah den Mobilisierungsauftrag erfüllt. Die „Schlappe“, die der FDJ-Verband durch den massenweisen West-Besuch ihrer Mitglieder hinnehmen musste, wurde vom FDJ-Zentralrat zunächst in dürren Worten festgestellt und den FDJLandesverbänden aufgetragen, sich mit allen Jugendlichen auseinanderzusetzen, „die während der III. Weltfestspiele die Westsektoren aufgesucht haben“. Jetzt, in der „Periode der Auswertung der Festspiele steht die sehr wichtige Aufgabe vor uns, diese Jungen und Mädchen davon zu überzeugen, dass sie einen großen Fehler gemacht haben“. Demgegenüber sprach der Westen von den Weltfestspielen als „Niederlage des Kommunismus“. West-Berlin habe „seine wahre Funktion erfüllt“ und allen, „die frei diskutieren wollten, die Tore weit geöffnet und sich jeder Diskussion gestellt. Herzhaft und schlagfertig hat der einfache Berliner auf der Straße, an den Sektorengrenzen und wo immer sich Trauben von Diskutierenden bildeten, seinen Mann gestanden“.448 Wenngleich die West-Berliner „Gegenspiele“ ihr politisches Ziel im Wesentlichen erreicht hatten449, blieb doch erkennbar, dass die favorisierte politische Diskussion und das Gespräch über deutsche und Berliner Probleme hinter dem „Kaffee-und-Kuchen“-Konzept zurückgetreten war. Unter den Bedingungen des drohenden Beitritts der Bundesrepublik zur EVG beschloss die SED für Pfingsten 1954 ein weiteres Deutschlandtreffen wieder unter Beteiligung westdeutscher und West-Berliner Jugendlicher. Gleichzeitig sah sie sich mit neuen innenpolitischen Anforderungen konfrontiert, die einerseits der 1952 verkündete Aufbau des Sozialismus und der „Neue Kurs“ sowie andererseits das Desaster am 17. Juni 1953 bestimmten. Jetzt hieß die wichtigste innen- und gesellschaftspolitische Aufgabe Konsolidierung der DDR. Das zog eine aktuelle jugendpolitische Demonstration nach sich. Der nicht sonderlich engagierte Senat und das politische West-Berlin reagierten auf diese neue Herausforderung faktisch mit dem bewährten „Kaffee-und-Kuchen“-Konzept, das allerdings qualitativ hinter seinen Umsetzungen 1950 und 1951 zurückblieb. Auch deshalb zeigte es 447 Vgl. Lemke, Die „Gegenspiele“, S. 35–39. 448 Sitzung des Sekretariats des Zentralrats der FDJ, Anlage 2 zum Protokoll Nr. 210 vom 8.9.1951, in: SAPMO-BArch, DY 24/2415 und Scholz, Berlin im Würgegriff, S. 280f. 449 So seien 1.004.206 junge Ostdeutsche (Mehrfachregistrierung) in West-Berlin betreut worden. Etwa jeder dritte Teilnehmer der Weltfestspiele habe es aufgesucht. Vgl. Bericht des Berliner Jugendbüros, Ende August 1951, in: LAB, B Rep. 013, Acc. 1160, Nr. 72.

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diesmal nicht die erwartete Wirkung. Überdies hatten die Ost-Berliner Veranstalter aus den vorausgegangenen Festivals gelernt: Die 700.000 FDJ-ler erhielten Südfrüchte, Kuchen, Zigaretten u.a.m.450 Vor allem aber zeigten sich die Jugendlichen, die in einem weit geringeren als dem vom Senat kalkulierten Umfang451 nach West-Berlin kamen, im Unterschied zu 1950 und 1951 auch dem Westen gegenüber kritischer.452 Darauf waren die Organisatoren der West-Berliner Gegenveranstaltungen wenig eingestellt. Es rächte sich, dass sie bei allen kulturellen und anderen Veranstaltungen, die im Übrigen nicht das hohe Niveau der Vorgängeraktionen erreichten, dem politischen Gespräch wenig Aufmerksamkeit widmeten. Das kritisierte insbesondere der West-Berliner Jugendring, aber auch die West-Berliner Sozialdemokratie.453 Der Motiv- und Mentalitätswechsel innerhalb der FDJ ließ sich aber ebenso auf eine zeitweilig weniger dogmatische SEDJugendpolitik zurückführen, die vielen jungen Menschen in der sozial noch durchlässigen Gesellschaft der DDR und Ost-Berlins privilegierte Lebens- und Aufstiegschancen bot. So versagte 1954 eine Gegenkonzeption, die den ostdeutschen Jugendlichen westliche Kultur und demokratische Wertvorstellungen vermitteln 450 Die „Verpflegungsstäbe“ der HO und des Konsums meldeten dem Magistrat ständig den neuesten Stand. Danach wurden Bananen, Orangen und „verschiedene Spezialgemüse“ geliefert. Allein der Konsum erhielt 55 t Bananen. Demgegenüber sei die Versorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse „weiterhin unzureichend“. Trotz Schwierigkeiten stellte die Tabakindustrie 26 Mio. Zigaretten „über Normalbedarf“ zur Verfügung. Vgl. Aktennotiz über die „Versorgung der Berliner Bevölkerung und Jugendfreunde anlässlich des Deutschlandtreffens“, 1.6.1954, in: LAB, C Rep. 113, Nr. 552 und Information an die Abteilung Handel und Versorgung, 1.6.1954, in: ebd. 451 Lakonisch konstatierten Senat und Jugendbüro: Die Zahl der in West-Berlin erwarteten Besucher sei „hinter den Erwartungen zurückgeblieben“. Für „Berge eingepackter Brote“ und andere Lebensmittel fanden sich keine Abnehmer. Bericht an den Senat, 9.6.1954, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2177. 452 „Wenn man sich an die großen Aufzüge der FDJ-ler 1950 und 1951 in Westberlin erinnert, die mutig und unbesorgt im Blauhemd in ganzen Scharen durch Westberlin spazierten, muss man aber zugeben, dass das instinktive Schwärmen für den Westen inzwischen bei der Jugend der SBZ abgenommen hat“, konstatierten die West-Berliner Organisatoren. Ebd. 453 So meinte der „Sozialdemokratische Pressedienst“ vom 14.6.1954 realistisch: „Abgesehen davon, daß der Wink mit dem Brotkorb nicht mehr allzu zugkräftig ist, sollte man sich bei einer ideologischen Beeinflussung in größere geistige Unkosten stürzen. Es wurden zur Werbung für den Westen erotische Magazine verteilt mit den enthüllten Reizen einiger Damen und ziemlich unästhetischen Boogie-Akten […] Das ist alles doch Wasser auf die Mühlen der Gegenpropaganda und wird vielen Jugendlichen die Feststellung abnötigen, daß manches doch richtig sei, was ihnen die SED-Agitation seit Jahren in die Ohren trommelt.“

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wollte, aber dabei auf ein „Schaufenster“- und Konsumkonzept zurückgriff, das sich den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Berliner Konkurrenzkampfes nicht hinreichend anpasste.

3. Exkurs: Berlin-Werbung und Politik

3.1 Grundlagen, Konzepte, Probleme Gries, Ilgen und Schindelbeck bestimmen Werbung als „auf das Wirkungsmaximum angelegte Kommunikation“, die den beworbenen Gegenstand häufig verdichte und überhöhe. Bei ihrem Ziel, Stimmungen, Meinungen und Hoffnungen für ihre Zwecke auszunutzen454, gehe Werbung selektiv vor, klammere Negatives aus und popularisiere Positives – „die schöne heile Welt“.455 Zwar allgemeiner Natur, treffen diese Definitionen für das geteilte Berlin ganz besonders zu. Die Aussagekraft von Werbung456 als geschichtswissenschaftliches Phänomen im Berlin der 50er Jahre ist in einer ausgezeichneten Magisterarbeit457 thematisiert worden. Natürlich war Werbung in Berlin wie überall ein Konglomerat von Absatzund Standortwerbung, kommunaler Öffentlichkeitsarbeit, von Image- sowie Fremdenverkehrsreklame, Agitation, Propaganda u.a.m. Sie bildete aber in einer geteilten „Hauptstadt des Kalten Krieges“ signifikante Besonderheiten aus. Ein weit gefasstes Verständnis von Werbung als Konkurrenz muss für Berlin mehr als anderswo von einer intensiven „wechselseitigen Kommunikationsgeschichte“458 ausgehen, die methodisch von Vergleichen lebt. Bereits 1947 hatte im kriegszerstörten Berlin eine Wirtschafts- und Imagewerbung eingesetzt, die noch weitgehend unpolitisch war. Mit dem Kalten Krieg verlor sie diese „Unschuld“, veränderte ihre Strukturen sowie wichtige Merkmale. Neue Orte und Institutionen einer beiderseits politischen Werbung entstanden, 454 Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck, Magische Formeln. „Mach mal Pause“ – „Keine Experimente“: Zeitgeschichte im Werbeslogan, in: dies. (Hrsg.), „Ins Gehirn kriechen!“, Werbung und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1995, S. 92. 455 Vgl. Simone Tippach-Schneider, Das große Lexikon der DDR-Werbung. Kampagnen und Widersprüche, Macher und Produkte, Marken und Warenzeichen, Berlin 2002, S. 8. 456 Vgl. allgemein dazu u.a. Katherine Pence, Schaufenster des sozialistischen Konsums. Texte der ostdeutschen „cosumer culture“, in: Alf Lüdtke/Peter Becker (Hrsg.), Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte, Berlin 1997, S. 91f. sowie Konrad Dussel, Wundermittel Werbegeschichte? Werbung als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 42 (1997), S. 416–430. 457 Vgl. Jan Teuwsen, Berlin-Werbung im Zeichen der Systemkonkurrenz, Wiss. Arbeit zur Erlangung des Grades Magister Artium (M.A.), HU Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Berlin 2007. 458 Vgl. ebd., S.4.

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wollte, aber dabei auf ein „Schaufenster“- und Konsumkonzept zurückgriff, das sich den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Berliner Konkurrenzkampfes nicht hinreichend anpasste.

3. Exkurs: Berlin-Werbung und Politik

3.1 Grundlagen, Konzepte, Probleme Gries, Ilgen und Schindelbeck bestimmen Werbung als „auf das Wirkungsmaximum angelegte Kommunikation“, die den beworbenen Gegenstand häufig verdichte und überhöhe. Bei ihrem Ziel, Stimmungen, Meinungen und Hoffnungen für ihre Zwecke auszunutzen454, gehe Werbung selektiv vor, klammere Negatives aus und popularisiere Positives – „die schöne heile Welt“.455 Zwar allgemeiner Natur, treffen diese Definitionen für das geteilte Berlin ganz besonders zu. Die Aussagekraft von Werbung456 als geschichtswissenschaftliches Phänomen im Berlin der 50er Jahre ist in einer ausgezeichneten Magisterarbeit457 thematisiert worden. Natürlich war Werbung in Berlin wie überall ein Konglomerat von Absatzund Standortwerbung, kommunaler Öffentlichkeitsarbeit, von Image- sowie Fremdenverkehrsreklame, Agitation, Propaganda u.a.m. Sie bildete aber in einer geteilten „Hauptstadt des Kalten Krieges“ signifikante Besonderheiten aus. Ein weit gefasstes Verständnis von Werbung als Konkurrenz muss für Berlin mehr als anderswo von einer intensiven „wechselseitigen Kommunikationsgeschichte“458 ausgehen, die methodisch von Vergleichen lebt. Bereits 1947 hatte im kriegszerstörten Berlin eine Wirtschafts- und Imagewerbung eingesetzt, die noch weitgehend unpolitisch war. Mit dem Kalten Krieg verlor sie diese „Unschuld“, veränderte ihre Strukturen sowie wichtige Merkmale. Neue Orte und Institutionen einer beiderseits politischen Werbung entstanden, 454 Rainer Gries/Volker Ilgen/Dirk Schindelbeck, Magische Formeln. „Mach mal Pause“ – „Keine Experimente“: Zeitgeschichte im Werbeslogan, in: dies. (Hrsg.), „Ins Gehirn kriechen!“, Werbung und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 1995, S. 92. 455 Vgl. Simone Tippach-Schneider, Das große Lexikon der DDR-Werbung. Kampagnen und Widersprüche, Macher und Produkte, Marken und Warenzeichen, Berlin 2002, S. 8. 456 Vgl. allgemein dazu u.a. Katherine Pence, Schaufenster des sozialistischen Konsums. Texte der ostdeutschen „cosumer culture“, in: Alf Lüdtke/Peter Becker (Hrsg.), Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte, Berlin 1997, S. 91f. sowie Konrad Dussel, Wundermittel Werbegeschichte? Werbung als Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 42 (1997), S. 416–430. 457 Vgl. Jan Teuwsen, Berlin-Werbung im Zeichen der Systemkonkurrenz, Wiss. Arbeit zur Erlangung des Grades Magister Artium (M.A.), HU Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Berlin 2007. 458 Vgl. ebd., S.4.

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die in unterschiedlichen Bereichen wirkte, sie durch Interaktionen verband und nachhaltig durchdrang. Bei der Berlin-Werbung im Kalten Krieg geht es an dieser Stelle nicht um die wirtschaftliche Seite des Phänomens, sondern um Fragen nach den Zielen, Methoden und Institutionen einer ordnungsspezifischen politischkulturellen Werbung, deren sich ihre Auftraggeber und Träger in der Berliner Systemkonkurrenz bedienten. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zeigen sich konzeptionell und praktisch, aber auch bei der Schaffung von kommunalen Grundlagen der Werbung, beispielsweise für den Tourismus? Werbung im Berlin der 50er Jahre hieß ein unverwechselbares Image nicht nur vom eigenen Berliner Teil, sondern auch von der Gegenseite zu entwerfen und populär zu vermitteln. Es gehört zu den Berliner Besonderheiten, dass diese Arbeit zunächst stärker um die Integration der Berliner in ihre Präferenzordnungen warb, als sie nach außen wirken und tatsächlich international sein konnte. So beeinflusste die Gesamtberliner Konfliktdimension den Charakter und die konkrete Ausgestaltung der Berlin-Werbung maßgeblich, was nicht ohne Rückkopplungseffekte blieb. Beide Seiten einte das gemeinsame Ziel, Berlin in Erinnerung an seine große Zeit vor 1933 in jeder Beziehung höchstmögliche Attraktivität und Anziehungskraft zu verleihen – sei es als zukünftig wieder gemeinsame Metropole oder aber geteilt in zwei separate Großgemeinden. Wie geschildert, unterschieden sich beide wesentlich dadurch, dass West-Berlin vor allem wirtschaftliche und Standortwerbung zur Sicherung seiner Existenz betrieb, Ost-Berlin hingegen darauf weitgehend verzichten konnte. Während im ersten Fall kapitalistischer Markt und politische Westintegration zu einer entsprechenden freiheitlich-marktwirtschaftlichen Imagewerbung zwangen, verhielt sich Ost-Berlin diesbezüglich wie ein Teil der sie umgebenden DDR. Es musste weder erhebliche Leistungen bei seiner Integration in den Sowjetblock noch zwingend eine zum Selbsterhalt notwendige Wirtschaftswerbung erbringen. Auch als diese sich ansatzweise zu entwickeln begann, war sie mehr zur Unterstützung des politischen Images gedacht als unmittelbar produkt- oder standortwerbend; im Austausch mit den Planökonomien der sozialistischen Staaten spielte sie eine noch geringere Rolle als im marginalen Handel mit kapitalistischen Staaten. Produktreklame im ostdeutschen Binnenland war angesichts von Planwirtschaft und fehlendem Wettbewerb ebenfalls verzichtbar, erhielt aber eine Funktion bei der Steuerung des Konsums. Sie pries an, was relativ problemlos produziert werden oder aber schlecht abgesetzt werden konnte, bildete aber ein farbiges Element im Ost-Berliner Alltag. Beide Magistrate begannen sofort nach der Spaltung Berlins mit der Imagewerbung. Eine gemeinsame propagandistische Grundlage stellte für beide der Verweis auf die großen eigenen Aufbauleistungen dar. Sie wurden jedoch so unterschied-

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lich bewertet wie kommentiert. Die politische Propaganda übernahm es, das jeweils eigene Berlin als einzig rechtmäßig, demokratisch und von der Bevölkerung geliebt, aber auch für alle anderen als schöner, interessanter und lebenswerter darzustellen, als es beim Kontrahenten der Fall sei. Beide Seiten betrieben eine Werbung in Gegenbildern, letztendlich auch dort, wo man Politik nicht vermutete – etwa, wenn westliche Reklame für irgendetwas assoziierte, dass Ost-Berlin darüber nicht oder nur in sehr viel schlechterer Qualität verfüge, es aus diesen oder jenen Gründen zur Herstellung unfähig, ungeeignet oder überfordert sei. Dessen totalitäres System, die Planwirtschaft und ihre Träger u.a.m. trügen die Schuld daran, dass die Bedürfnisse der Menschen im Osten nicht oder nicht wie gewünscht befriedigt würden; Konsum und kulturelle Angebote blieben hinter denen West-Berlins weit zurück, der Alltag Ost-Berlins sei trist, seine Fassaden grau, seine Bewohner geduckt und gedemütigt. Entsprechende Projektionen schienen sich durch die massenhaften Besuche im „magnetischen“ West-Berlin zu bestätigen. Im Gegenzug belegte die SED West-Berlin mit den hinlänglich bekannten Verbalinjurien. Dass Imagewerbung in der Regel immer den anderen Teil der Stadt zu erreichen suchte, bestätigten spektakuläre, sehr aufeinander bezogene Propagandaaktionen.459 West-Berlin besaß bei seiner Imagewerbung gegenüber dem Ostteil der Stadt einen fundamentalen Vorteil: Während sich sein marktwirtschaftlich-pluralistisches System allmählich selbst zu tragen begann und sich wichtige Grundlagen für die Imagewerbung automatisch herstellten, musste sie die herrschafts- und planwirtschaftliche Ordnung Ost-Berlins durch ständige administrative Eingriffe und Regelungsmechanismen weitgehend schaffen und kontrollieren. Das geschah aber keineswegs kontinuierlich und systematisch, sondern schien häufig von Alltagsaufgaben und ideologischen Nachfragen diktiert zu sein. War die repräsentative Ausgestaltung Ost-Berlins immer eine allgemeine Vorraussetzung für politische Werbung, ging sie z.B. bei der Stadtplanung, unter Betonung der historischen Architektur, eine enge Symbiose mit der Vermittlung des realsozialistischen Geschichtsbildes ein. Dabei kam zunehmend der internationale Aspekt ins Spiel. Schließlich sah sich das offizielle Ost-Berlin „als der westlichste Repräsentant des 459 Als beispielsweise West-Berliner Zeitungsverleger am Potsdamer Platz ein Gerüst mit einer Leuchtschrift errichteten, die Tagesnachrichten optisch bis weit hinein in den Ostsektor vermittelte, reagierten dessen Staatsorgane zunächst mit der Drohung, sie zu zerstören, praktisch aber dann mit der Installation großdimensionierter Sichtwerbungen mit „auswechselbaren Streifen für [die] schnelle Veränderung von aktuellen Parolen“ – Elektronische Anlagen waren zu teuer. Vgl. Bennett, Bastion Berlin, S. 265 und Information, undatiert (1952), in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5270.

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sozialistischen Weltlagers“ sowie zugleich als das „verbindende Tor zwischen dem freien sozialistischen Osten und dem kapitalistischen Westen“. Auch deshalb seien öffentliche Gebäude nicht nur wieder aufzubauen460, sondern auch andere bedeutende Bausubstanz „in (einen) würdigen Zustand“ zu versetzen. Gerade für die Optik Reisender sei es wichtig, beispielsweise „das Antlitz der Umgebung des Alexanderplatzes wesentlich zu verbessern“, Bahnhöfe (wie den Bahnhof Friedrichstraße) zu „repräsentativen Empfangsbahnhöfen“ für internationale Gäste auszubauen und damit zu einem Mehr an „weltstädtischem Charakter“ OstBerlins beizutragen. Dazu gehöre auch der Ausbau des Verkehrsnetzes mit einer ebenfalls ins Auge fallenden Erneuerung des Wagenparks. Auch hätte in den Verkehr „mehr Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Bequemlichkeit“ einzuziehen. Außerdem stand in diesem Kontext die Umwandlung des Flughafens Schönefeld in einen modernen Großflughafen an. Besonders wichtig nahm die Ost-Berliner Führung den Ausbau repräsentativer wissenschaftlicher Zentren. So erfuhr man, dass Ost-Berlin ein wichtiger Standort des Fernsehens werden würde – die Laborversuche für das Farbfernsehen seien bis 1960 abzuschließen.461 Deutlich stand hinter vielen werbeträchtigen Absichten die teilweise hämische Kritik aus WestBerlin. Ständig wurde dem weltstädtischen Kurfürstendamm die „trostlose“ Friedrichstraße gegenübergestellt und den modernen West-Berliner Kaufhäusern der beklagenswerte Zustand derer im Ostteil der Stadt.462 Darauf reagierte die SED 460 Vgl. „Vorschlag der Bezirksleitung Berlin der SED für den 2. Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft in Berlin 1956–1960“, 2.8.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 261, Bl. 42f., 47f. 461 Vgl. ebd., Bl. 31, 44, 47f. 462 So entstehe das KaDeWe in der Tauentzienstraße im alten Glanz, während Kaufhäuser im Osten – namentlich Wertheim am Potsdamer Platz – Ruinen blieben. Der Kurfürstendamm mit seinen breiten Bürgersteigen „ruht nicht, bis der Morgen graut, um dann gleich wieder eine funktionierende, nüchtern schöne Geschäftsstraße zu sein. Kosmetik und Mode werfen in den Schaukästen dieser Straße ihre Verlockungen […]. Hier bedeutet das Leben Sehnsucht und Abenteuer […].“ In der Friedrichstraße, nicht weit entfernt vom Ku’damm, hingegen „noch immer Ruinen und lauter tote, leere Stellen“. Das sei früher die City gewesen, die Geschäftswelt. „Das war früher ein legitimer Nerv der Stadt. Heute scheint das schon in Asien zu liegen.“ Vgl. Berlin – Treffpunkt der Welt, hrsg. vom (West-)Magistrat von Groß-Berlin, Verkehrsamt, Berlin 1950, Heft 1, S. 50 und Heft 3, S. 38. Die Werbung Ost-Berlins schlug zurück: Der Ku’damm sei ein architektonischer Schandfleck im Herzen Berlins, eine „bloße Aneinanderreihung“ von „Konkurrenzfassaden“ und überhaupt der Tummelplatz von Schiebern, Spekulanten, Faulenzern, Dirnen und Konzernherren. Karl-Heinz Metzler/Ulrich Dunker, Der Kurfürstendamm. Leben und Mythos des Boulevards in 100 Jahren deutscher Geschichte, hrsg. vom Bezirksamt Wilmersdorf von Berlin aus Anlass der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin 1987, Berlin (W) 1986, S. 218–225.

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mit Zukunftswerbung: „Das demokratische Berlin muss ein anziehendes Einkaufszentrum für ganz Deutschland werden.“ Neben Verkaufsstätten mit höchstem Standard hätten aber auch andere anziehende neue Einrichtungen zu stehen, u.a. eine moderne Ausstellungshalle in der Nähe der Stalinallee und ein Planetarium. Überhaupt sei mehr an die Freizeitgestaltung und an das Vergnügen der Bevölkerung und ihrer Besucher zu denken: an Restaurants, Gartencafés u.a.m.463 Waren Plan und die für die Imagewerbung verwertbare Wirklichkeit zwei unterschiedliche Dinge, konnten SED und Magistrat doch tatsächlich Erfolge vor allem bei der touristisch interessanten Rekonstruktion des historischen Zentrums (mit Ausnahme des ursprünglich geplanten Wiederaufbaus des Schlosses Monbijou) und einiger innerstädtischer Kernbereiche und Plätze vorweisen. Demgegenüber wurden die anderen eingangs vorgestellten Positionen nicht oder nur unzureichend erfüllt. Das betraf vorrangig die Modernisierung und den Ausbau des Verkehrsnetzes; nur beim Großflughafen Schönefeld ging es gut voran. Das464 wie die Entwicklung der wenigen repräsentativen Cafés in Ost-Berlin sowie einiger auch West-Berliner anlockenden HO-Läden verfolgte die in dieser Sache etwas beunruhigte Konkurrenz aufmerksam.465 Da jedoch Investitionsmittel, Material und Arbeitskräfte fehlten, geriet die Ost-Berliner Stadtsanierung insgesamt und das damit verbundene Straßen- und Fassadenprogramm weiter ins Hintertreffen. Es wurde geflickt, aber nicht wirklich verändert. Zwar mangelte es nicht an flammenden Aufrufen an die Bevölkerung, die sichtbaren Zeichen für den Verfall zu beseitigen466, und NAW-Einsätze setzten hier mit deutlichem Bezug auf den politischen Gegner467 an. Doch alle „Verschönungs“-Kampagnen, „Leuchtprogramme“, um die Stadt heller zu machen und Schaufenster – sowie Hausgestaltungswettbewerbe besaßen keine nachhaltige Wirkung. So waren sie für die Imagewerbung nach außen wenig verwendbar. Hinzu trat eine um sich greifende, jeder Werbung abträgliche Gleichgültigkeitsmentalität nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch bei der Verwaltungsbürokratie. Ihre „Schlampereien“ waren dort 463 Vgl. „Vorschlag der Bezirksleitung der SED […]“, 2.8.1956 (wie Anm. 460), Bl. 30, 50. 464 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1958, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 12f. 465 Allen voran das Café Warschau, das beinahe ausschließlich von West-Berliner Geschäftsleuten besucht werde. Vgl. ebd., Nr. 2154, Bl. 32 und Meldung von Carlbergh, 19.8.1953, in: ebd., Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 84. 466 Vgl. Magistratsvorlage Nr. 968 für die Sitzung am 15.2.1952: „Maßnahmen zur Verbesserung der Straßenordnung und des Straßenbildes“, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 866, Bl. 58f. 467 So lautete eine Losung: „Jeder geborgene Ziegelstein ein Grabstein für die Kriegstreiber [im Westen].“ „Zum Plan ‚Neuer Kurs‛ 1954“, 16.2.1954, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 177, Bd. I.

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besonders signifikant, wo der Ausflugsverkehr Hochburgen besaß.468 Allerdings führten der Unmut der Bevölkerung, aber auch die obrigkeitliche Einsicht, insbesondere die touristische Visitenkarte Ost-Berlins verbessern zu müssen, zumindest zur Rekonstruktion und zum Ausbau traditioneller Erholungs- und Vergnügungsparks – des Treptower Parks und des Plänterwalds, des Volksparks Friedrichshain und des beliebten Praters in der Kastanienallee.469 Ein Problem blieb allerdings bestehen: Die mangelhafte Gastronomie, die zu den am meisten kritisierten und ironisierten Phänomenen einer speziellen Imageverschlechterung geriet.470 Es war Ausdruck der zunehmenden Politisierung, dass die Verantwortlichen in Ost-Berlin seit 1957 und die im Westen der Stadt mit dem Beginn der zweiten Berlinkrise bei der Imagewerbung Veränderungen vornahmen, die beiderseits unter Gesamtberliner Vorzeichen standen. 1957 erfolgte auf Anweisung des Magistrats eine Konzentration der innerstädtischen „Verschönerungen“ unmittelbar an den Sektorengrenzen.471 Diese Sicht-Reklame erhielt kurzfristig eine konzeptionelle Fundierung, als die SED und ihre Werbefachleute seit Anfang 1959, auch als Reaktion auf West-Berliner Aktivitäten, ihre Berlin-Werbung „besonders auf gesamtdeutsche Werbung“ einstellten.472 Das ließ im Umfeld der Berlinkrise sowie der Anerkennungsbemühungen der DDR das gewachsene Interesse der SED an einem besseren internationalen Image ihrer Hauptstadt erkennen. Auch das zwang jetzt dazu, den zurückgebliebenen Ost-Berliner Restaurant-

468 In Treptow seien Kioske und Verkaufsstände in einem „unmöglichen Zustand“, berichtete der Stellvertretende OB Fechner nach einer Visite entsetzt: „In den Straßen liegen viele Schutthaufen, besonders die Bahnhöfe Baumschulenweg und Treptow machen einen außerordentlich unsauberen Eindruck.“ An einem HO-Geschäft klebte sogar noch ein Schild mit der Verkündung des Ausnahmezustandes (vom Juni 1953). Die Fassaden der Häuser, auch der Lokale der Nationalen Front, befänden sich in einer erbärmlichen Verfassung. Schreiben Fechners an OB Ebert, 20.1.1954, in: ebd., Nr. 238. 469 Vgl. Chefarchitekt Henselmann: „Programmvorschlag zur Entwicklung eines Vorprojektes für den Volkspark Treptow“, 9.6.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 994; Beschluß der SED-BL Berlin über die Gestaltung des Volksparks Friedrichshain 1956, ebd., Nr. 246, Bl. 38–41 und ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2158, Bl. 6. 470 Die Schuld an der schlechten Verkaufs- und Service-Kultur sei bei „Funktionären“ zu suchen, die das Personal nicht richtig anleiteten und kontrollierten. Es fehle aber auch an „materiellen Anreizen“ für die Mitarbeiter. Abteilung Handel und Versorgung des Magistrats: Bericht, 13.10.1953, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 606. 471 Vgl. Magistratsbeschluß 55/58, 14.3.1958, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 1057, Bl. 61. 472 Schreiben des Direktors der Berlin-Werbung Berolina, Pittermann, an Fechner, 14.9.1959, in: ebd. C Rep. 121, Nr. 38.

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und Hotelbau zu intensivieren.473 Ein Zwang entstand auch deshalb, weil viele Besucher des sowjetischen Sektors in der zugespitzten Situation des Berlinkonflikts in West-Berlin übernachten mussten. Demgegenüber tat sich die WestBerliner Stadtregierung mit der politischen Image- und Sympathiewerbung weit weniger schwer, meinte aber, auf relativ hohem Niveau eine neue politische Qualität erreichen zu müssen. Sie sei notwendig, um der sowjetischen Gefahr begegnen helfen zu können: „Die Beeinflussung des In- und Auslandes durch publizistische Mittel im weitesten Sinne ist für Berlin eine der wenigen Möglichkeiten, um Unterstützung in unserem Kampfe zu erlangen. Aus diesem Grunde ist es besonders wichtig, dass die politische Berlin-Information zentralisiert wird und bestimmte Schwerpunkte in dieser Öffentlichkeitsarbeit gebildet werden“. Es ginge nicht mehr allein darum, „die in- und ausländischen Organe der öffentlichen Meinungsbildung zu erreichen, sondern auch gesellschaftliche Organisationen und Einzelpersonen“. Zur Berlin-Werbung gehöre deshalb auch die „staatsbürgerliche Erziehung und Fortbildung“, die u.a. von der Landeszentrale für Bildungsarbeit geleistet werde.474 So verstärkte sich auch bei West-Berliner Politikern die politische Propaganda als Kernstück und Mittel der Werbung im Kalten Krieg. Zunehmend bereitete ihnen die „sowjetzonale“ Berlinpropaganda in den „arabischen Staaten und den neutralen Ländern Asiens“ Sorge. Deshalb planten Bundesregierung und Senat eine mit neun Mio. Westmark veranschlagte „Aktion Berlin“ als „Aufklärungsfeldzug“ im Ausland über die Lage der deutschen Hauptstadt und die Berlinfrage.475 Am stärksten jedoch stand die an anderer Stelle explizit untersuchte kulturelle Konkurrenz im Zeichen der Werbung: Da Chruschtschow „die Errichtung eines beachtlichen Fonds zur Aufklärung des Auslandes über Berlin“ durchgesetzt habe, erfordere das zuvorderst kulturpolitische Gegenmaßnahmen zur Optimierung der Image-Werbung.476 Damit im Zusammenhang stand seit 1958 eine Profilierung der politischen Werbung für West-Berlin als Stätte der Begegnung zwischen Ost und West sowie als „Schaufenster der westlichen Welt“ und Zufluchtsort für Flüchtlinge.477 473 Für den Bau des Hotels Berlin-Tourist wurden Mittel bis zu 9,85 Mio. Ostmark, für das Restaurant Moskwa (in der Stalinallee) 4,01 Mio. zur Verfügung gestellt. Vgl. Protokoll Nr. 017/60, Beschluß des Büros der SED-BL vom 1.8.1960, in: C Rep. 902, Nr. 432, Bl. 7. 474 „Herrn Chef der Senatskanzlei: Betrifft Koordinierung der politischen Berlin-Information“, 3.10.1959, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3833 und „Zur Besprechung am 8. Oktober 1959“, 6.10.1959, in: ebd. 475 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 15.1.1959. 476 Schreiben von Wallner-Basté an Senatsdirektor Hirschfeld, 13.1.1959, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1738. 477 Vgl. Berliner Begleiter, S. 44.

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3.2 Institutionen und Gremien Die Berlin-Werbung als Ganzes und die ihrer Teile478 bedurfte in beiden Teilen Berlins Institutionen. Schneller als in Ost- konstituierten sie sich in West-Berlin. In Ost-Berlin entstanden Verzögerungen durch eine Unterbewertung von Werbung an sich, der immer der Ruch kapitalistischer Profitmentalität und Professionalität anhaftete. Überdies betrachteten die mit Werbung direkt oder indirekt befassten Stellen Ost-Berlin zunächst immer als einen DDR-Bezirk, der werbungstechnisch im Prinzip nicht anders zu bewerten sei als die übrige Republik. Auch spielte die östliche Auffassung eine Rolle, dass Werbung in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen stecke, ergo auch von ihnen allen betrieben werden müsse. Dieser Ansatz wäre als pluralistisch zu bezeichnen, wenn nicht hinter ihm die zentrale Ziel- und Verfügungskompetenz der SED gestanden hätte. Werbung blieb ihr monopolisiertes Instrument, wenngleich deren Akteure zunehmend über gewisse operative Handlungsspielräume verfügten. Die Gestaltungsmöglichkeiten waren in West-Berlin ungleich größer, weil es als quasi Bundesland die Werbung im Innern und nach außen selbst bestimmen konnte – freilich eingeschränkt durch finanzielle Abhängigkeiten von „Bonn“ und dessen Interessen im Ausland. Nach 1948 befassten sich mehrere Verwaltungsbereiche des Westmagistrats/Senats mit der Werbung, ohne dass dabei Ressortdenken Platz gegriffen hätte. So gab es auch keine strenge Trennung mehr zwischen den Kompetenzen des weitgehend mit der Inlandsinformation beschäftigten Presseamtes und denen des vorrangig für die Außendarstellung und die Werbung für den Fremdenverkehr zuständigen Verkehrsamtes. Daneben produzierten beispielsweise die Landesbildstelle und (seit 1958) die Landeszentrale für politische Bildungsarbeit als Gliederungen des Senats Material für die Berlin-Werbung, die gleichfalls von den einzelnen Senatsverwaltungen relativ autonom, aber in der Regel zwischen ihnen abgestimmt betrieben wurde. Dieser interne Pluralismus konnte sich auch deshalb ungeregelt entfalten, weil die West-Berliner Verfassung eine allgemeine Richtlinienkompetenz des Regierenden Bürgermeisters nicht vorsah479, sie in konkreten Werbefragen auch eher hinderlich gewesen wäre. Dennoch vermochte er auch hier zu steuern, blieb aber in prinzipiellen Fragen wiederum an das Votum des Abgeordnetenhauses gebunden. So hatte Reuter bereits, um Kompetenzrangeleien und Überschneidungen zu vermeiden, ohne Schwierigkeiten durchgesetzt, dass die „zusammenfassende Federführung für alle Maßnahmen auf dem Gebiete der 478 Teuwsen gliedert sie nach politischer Image- und Sympathie- sowie Hauptstadtwerbung, Fremdenverkehrs-, kultureller und Wirtschaftswerbung (einschließlich der Wiederaufbau- und Standortwerbung). Vgl. Teuwsen, Berlin-Werbung, S. 2. 479 Vgl. ebd., S. 16.

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Werbung“ zunächst beim Transport- und Verkehrsamt des Senats zu liegen habe.480 Bereits im Herbst 1949 bildete sich ein interinstitutioneller „BerlinWerbeausschuss“ aus Vertretern einiger Verwaltungen des Senats, seiner Kanzlei, des Presse- und Verkehrsamtes sowie des Abgeordnetenhauses, dem auch der Bundesbeauftragte für die Förderung der Berliner Wirtschaft (Gerd Bucerius) angehörte.481 Dieser seit 1952 von der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Ernährung geleitete Berlinausschuss profilierte sich rasch zu einem Entscheidungsund Koordinationsgremium für alle Werbeangelegenheiten und koordinierte Senats- und nichtstaatliche Institutionen einschließlich solcher der Wirtschaft. Er verfügte über einen beträchtlichen Einfluss und mit dem Verleger und Journalisten Bucerius über einen tatkräftigen Mann, über den viele Initiativen der Bundesrepublik – Bucerius unterstand formal dem Bundeswirtschaftsminister – in die Berlin-Werbung einflossen.482 Neben dem Ausschuss, der an staatliche Instanzen und private PR-Unternehmen durch den beträchtlichen Etat des Verkehrsamtes483 abgesicherte Werbeaufträge vermittelte, gewann das Presse- und Informationsamt des Senats werbepolitisch an Bedeutung. Sie nahm weiter zu, als der Regierende Bürgermeister – offenbar aus internen Gründen – das Presseamt unter der Leitung von Egon Bahr umstrukturierte und es offiziell zur Koordinierungsstelle für die Berlin-Werbung avancierte.484 Die in der West-Berliner Öffentlichkeit begrüßte485 zentralisierende Neuordnung zeigte, dass die Berlin-Werbung unter Brandt zur „Chefsache“ wurde. Seit 1958 war eine Verstärkung des Netzwerkes aller an ihr Beteiligten sowie eine deutliche Intensivierung der Berlin-Propaganda zu beobachten.486 Im Ausland übernahm sie die weitgehend aus dem öffentlichen Haushalt finanzierte gemeinnützige Gesellschaft Inter Nationes.487 Demgegenüber ließen es die angeführten anerkennungspolitischen Zwänge und der V. Parteitag der SED als geraten erscheinen, ein zentrales Ost-Berliner Werbeinstitut zu errichten. Zwar hatten das Amt für Information und andere Gliede480 Vgl. Rundverfügung Reuters Nr. 20/1949 vom 21.6.1949: Werbung für Groß-Berlin, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3224. 481 Vgl. Information, undat. (1953), in: ebd., B Rep. 010–01, Acc. 2161, Nr. 516. 482 Vgl. Teuwsen, Berlin-Werbung, S. 17. 483 Vgl. ebd. 484 Vgl. ebd., S. 18. 485 Vgl. „Die Welt“, 12.2.1960. 486 Vgl. Vermerk von Wallner-Basté, 5.7.1958, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1737. Die Partner im Netzwerk waren neben dem Verkehrsamt die West-Berliner Akademie der Künste, eine Reihe Senatsdienststellen, privatwirtschaftliche Institutionen, aber auch Radiosender, Verlage, Schriftsteller und Künstler. Vgl. internes Material: „Maßnahmen zur Information über Berlin“, 14.4.1959, in: ebd. 487 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 15.1.1959.

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rungen des Magistrats nach 1950 Werbefunktionen übernommen, traten aber weder koordinierend noch gar als professionelle Agenturen in Erscheinung. Auch einige andere, bedingt als Vorläufer der dann Ende 1957 beschlossenen „BerlinWerbung Berolina“ anzusprechende Gremien taten das nicht. Hier handelte es sich um das 1951 gegründete, der Magistratsabteilung für kommunale Wirtschaft unterstellte Informationsbüro am Alexanderplatz und um den im gleichen Jahr konstituierten Berliner Ausstellungs- und Werbebetrieb (BAB). Letzterer übernahm es, u.a. Messen zu organisieren und städtische Werbeflächen zu betreuen. Für den Fremdenverkehr zeichnete seit 1955 das DDR-weite Deutsche Reisebüro (DER) auch für Ost-Berlin verantwortlich. Und mit der ebenfalls das gesamte Ostdeutschland erfassenden Deutschen Werbe- und Anzeigengesellschaft (DEWAG) stand ihm auch eine zentrale technisch-organisatorische Werbeanstalt zur Verfügung.488 Zwar unterstand die DEWAG als „zentraler Dienstleistungsbetrieb für Werbung“489 der Agitationsabteilung des ZK der SED, was eine „unpolitische“ Tätigkeit a priori ausschloss, arbeitete aber dennoch weitgehend professionell. Das galt auch für die, allerdings stärker kontrollierte, im Bereich des DDRAußenhandels tätige „Interwerbung“. In West-Berlin sah man der konkurrierenden Berolina-Werbung mit einiger Neugierde entgegen.490 Laut Statut figurierte sie als nachgeordnete Einrichtung des Magistrats von Groß-Berlin mit der Aufgabe, alle Werbemaßnahmen des Magistrats, von zentralen staatlichen Stellen, von Organisationen, Institutionen und Betrieben in Berlin bzw. für Berlin zu koordinieren.491 Zwar besaß Berolina in dieser Funktion einige organisatorisch-operative Handlungsmöglichkeiten, aber kein politisches Entscheidungsrecht. Auch lässt sich nicht erkennen, dass es insgesamt nennenswerte Initiativen entwickelte. Diese Aussage wird auch nicht dadurch relativiert, dass der durchaus ideenreiche Leiter von Berolina, Heinrich Pittermann, der SED-Bezirksleitung gelegentlich „immediat“ zuarbeitete.492 Prinzipiell gingen dessen Berichte an seinen formell obersten Dienstherrn, den für Berolina zuständigen Ost-Berliner Stadtrat und 488 Vgl. Teuwsen, Berlin-Werbung, S. 26f., 31. 489 Vgl. Simone Tippach-Schneider, Messemännchen und Minol-Pirol. Werbung in der DDR, Berlin 1999, S. 27. 490 Auch deshalb, weil sie Besucher aus der Bundesrepublik und West-Berlin mit neuen Methoden „besser und wirkungsvoller“ zu erfassen und zu leiten beabsichtigte. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156, Bl. 34. 491 Vgl. Anlage zum Protokoll Nr. 28/58 der Magistratssitzung am 7.2.1958: Statut und Arbeitsprogramm des Werbeinstituts „Berolina“, in: ebd., C Rep. 100–5, Nr. 1054. 492 Vgl. Pittermann, Vorlage für das Büro der SED-BL: „Plan der Berlin-Werbung für das Jahr 1959“, 7.1.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 38.

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stellvertretenden Oberbürgermeister Herbert Fechner, der zugleich der SEDBezirksleitung Groß-Berlin angehörte. Hier schloss sich der Kreis ParteiMagistrat. Vergleicht man die Position des West-Berliner Presseamtes mit der von Berolina, lassen sich Ähnlichkeiten bei ihrer organisierenden und koordinierenden Tätigkeit feststellen, große Unterschiede jedoch in ihrer politischen Funktion: Das Presseamt war politischer Akteur und bestimmte Entscheidungen wesentlich mit; Berolina hingegen blieb ein ausführendes Organ formal des Magistrats, faktisch der SED.

3.3 Methoden und Instrumentarien So unterschiedlich die konkurrierenden Institutionen der politischen BerlinWerbung auch prinzipiell sein mochten, so sehr glichen sie sich in ihren Modi. Das lag in der Natur der Sache, die den methodisch-instrumentalen Katalog begrenzte. West-Berlin war schon zu Beginn der 50er Jahre eine Stadt des Verkehrs und der Automobile. Sie warb optisch mit ihren gepflegten Hauptstraßen, Reklamen und bunten Leuchtschriften, die sich im Ostteil der Stadt tatsächlich „kläglich“ ausnahmen.493 Überhaupt faszinierten die Westsektoren mehr durch Licht – wörtlich genommen durch Leuchten und Lichterketten sowie das nächtliche Anstrahlen öffentlicher Gebäude.494 Aber auch im Ostsektor lautete die widersprüchliche Parole: „Unsere Stadt soll heller, sauberer, geselliger werden; kurzum Berlin muß die schönste, kulturreichste Stadt Deutschlands werden.“495 Hüben und drüben informierten Anschläge und Programme an den traditionellen Litfasssäulen, an Häuserwänden, in den Verkehrsmitteln und anderswo über Kulturund andere Veranstaltungen. Auch fehlte es nicht an üppigem Fahnenschmuck besonders an Feiertagen und zu besonderen Anlässen.496 Eine besondere Rolle spielte die Plakatkunst. Sie verwendete neben flotten Berliner Sprüchen häufig berlintypische Motive: Wappentier, Brandenburger Tor auf beiden Seiten, Funkturm und Siegessäule im Westen. In Ost-Berlin mit seinem Anspruch als „Stadt

493 Vgl. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder, Werbebroschüre, Ausgabe Berlin, Hamburg 1951, S. 43. 494 So präsentierte sich der „Tauentzien“ im Licht von 32 modernen Röhrenleuchten zu jeweils 1,20 m Länge. Am Abend des 22.1.1951 „entstand dort erstmals nach dem Krieg ein Lichtmeer von 201000 Lumen.“ „Die Neue Zeitung“, 22.1.1953. 495 Berlin wirbt!, Metropolenwerbung zwischen Verkehrsreklame und Stadtmarketing 1920– 1995, hrsg. vom Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der FU Berlin, Berlin 1995, S. 30. 496 Vgl. Schreiben des West-Berliner Verkehrsamtes an den Chef der Senatskanzlei, 10.11.1952, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 8631/1.

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des Friedens“ grüßten die viel plakatierte Picasso-Taube und anderes497 aus dem Hause der von der SED manchmal kritisierten DEWAG- Werbung.498 Sie bevorzugte politische Transparente und Spruchbänder, die im Westen fehlten, der wiederum stärker mit lustigen Aufklebern und Andenken warb. Der „BerlinKitsch“ blühte zwar auch im Osten, aber aus planwirtschaftlichen Gründen nicht so üppig wie bei der Konkurrenz. Diese arbeitete auch stärker mit populären Berlin-Büchern („Heimweh nach dem Kurfürstendamm“), „süßlichen“, aber volkstümlichen Schallplattentiteln („Kleiner Bär von Berlin“), aber auch anspruchsvollen Fotoserien („Das neue Gesicht Berlins“).499 Im Westen produzierten private Unternehmen eine Reihe von Berlin-Werbefilmen, teils informeller und ästhetischer, teils aber auch politischer Natur.500 Der Senat stimmte 1953 auch dem Projekt eines längeren „frischen und optimistischen“ Berlinfilms mit „politischen und wirtschaftlichen Werbewirkungen“ zu.501 Der Magistrat bevorzugte hingegen kostengünstigere Dia-Reihen, die in den Lichtspielhäusern, aber auch in einem motorisierten Tageskino, gezeigt wurden.502 Vorbild dafür war ein West-Berliner, über 12 Meter langer Büssing-Werbungsbus mit einer modernen Lautsprecherund Filmvorführanlage.503 Überhaupt ging es in beiden Teilen der Stadt um neue Methoden, Techniken und werbespezifische Innovationen. Dabei hatte man im Osten manchmal die vergleichsweise originelleren Ideen: Ein neues touristisches Servicesystem mit handlichen Plänen der Wege und Wanderrouten sowie entsprechenden Hinweisen in den Straßen. Orientierungs- und Werbetafeln, aber auch Auskunftsautomaten und eine spezielle telefonische Dienstleistungsagentur sollten entstehen. Magistrat und Berolina-Werbung dachten auch an ein „Haus 497 Etwa (Juni 1952) die Plakate: „Stimmen unserer Friedensfahrer“, „Aufbauerfolge April“, „Berlin räumt auf“, „Note der UdSSR“, „Frohe Ferientage für alle Kinder“ und nicht zuletzt die Serie „Schaubilder Stalinallee“. Vgl. Amt für Information des Magistrats: Protokoll über die Arbeitsbesprechung im Referat Friedens- und Planpropaganda, 26.6.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5270. 498 Die Graphiker hatten sich des Vorwurfs von SED-Funktionären zu erwehren, dass viele ihrer Plakate darstellerisch-künstlerisch oder politisch nicht ihren Anforderungen entsprächen. Vgl. „Protokoll über die Graphiker-Besprechung am 29. September 1952“, in: ebd. 499 Vgl. Schreiben des Verkehrsamtes Berlin an den Chef der Senatskanzlei, 10.11.1952, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 8631/1 und Arno Scholz, Insel Berlin, Berlin (W) ³1955, (Fotos). 500 Vgl. Schreiben der Senatskanzlei an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 12.2.1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163. 501 Vgl. ebd. und Exposé zu einem geplanten Berlin-Film, 21.9.1953, in: ebd. 502 Vgl. „Arbeitsplan der Berolina-Werbung für das Jahr 1959“, 9.12.1958, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 38. 503 Vgl. „Die Neue Zeitung“, 20.1.1953.

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der Information“ am Alexanderplatz und an großzügige Ausstellungshallen. Ebenfalls thematisierten sie die bessere Nutzung von Veranstaltungen und Volksfesten.504 Es gehörte zu den kleinen Ironien der Stadtgeschichte, dass der Westteil der Stadt viele Ost-Berliner Planungen bei sich verwirklichte. Einige finanziell weniger aufwendige Ziele wie die Schaffung neuer Werbeflächen – etwa die Nutzung zusätzlicher Buswartehäuschen – wurden allerdings zum Vorteil der Ost-Berliner realisiert.505 Natürlich unterhielten Presse und Rundfunk in beiden Hälften Berlins eine lebhafte und differenzierte Berlin-Werbung. Sie nahm schnell die Form eines Konkurrenzkampfes im Äther an. Daneben traten Berlinbroschüren zunehmend in den Vordergrund des beiderseitigen Werbeinteresses. Einerseits zeichnete sich eine steigende Nachfrage durch die Berliner selbst, andererseits bei den Besuchern der Stadt ab. Politische Werbedarstellungen wie der vergleichend angelegte West-Berliner kleine Dreibänder „Berlin – Treffpunkt der Welt“506 waren eigentlich schon zu umfangreich und für Touristen kein rechtes Lesevergnügen. Während im Westteil der Stadt eine Fülle von gedruckten Stadtführern existierte, fehlten sie in Ost-Berlin zunächst gänzlich.507 Kein Mangel herrschte hingegen beiderseits an politischen Reklamebroschüren.508 Seit Ende der 50er Jahre legte das Presseamt des Senats noch größeren Wert auf gut lesbare Berlinführer und – insbesondere für Jugendliche – auf „kurze übersichtliche“ Informationsbroschüren und Bildbände.509 Unter der Regie Bahrs, seines straff führenden Leiters510, erschienen zu brisanten Berliner und weltpolitischen Ereignissen kleine problemorientierte Darstellungen als politische Imagewerbung.

504 Vgl. „Arbeitsplan der Berolina-Werbung für das Jahr 1959“, 9.12.1958, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 38. 505 An den Straßenbahnhaltestellen errichtet, um sie als „Sichtwerbeflächen“ nutzen zu können, kamen die Ost-Berliner zu Wartehäuschen. Vgl. ebd., C Rep. 101, Nr. 5270, undatiert (1952). 506 Vgl. Berlin – Treffpunkt der Welt, Bd. 1–3, hrsg. vom Verkehrsamt Berlin (W), Berlin 1951–1952. 507 Vgl. Berlin wirbt!, S. 28. 508 Sie wurden auf beiden Seiten in hoher Auflage gedruckt: die West-Berliner Broschüre „Mein Berliner Tagebuch“ (1959) in 150.000 Exemplaren; „Berlin – Schicksal und Sendung“ sowie „Berlin – Tatsachen und Zahlen“ zusammen in 380.000 Exemplaren auf deutsch und in vier Fremdsprachen. Vgl. LAB, B Rep. 002, Nr. 3373. 509 Vgl. interne Informationen der Senatskanzlei, 9.5. und 22.6.1961, in: ebd., Nr. 3833, Bd. 1. 510 Über Bahrs konzentrierten Leitungsstil geben prägnant Auskunft: Beschlußprotokoll der Koordinierungsbesprechung am 28.3.1960 und „Bericht über Kooperation der BerlinInformation“, 22.3.1960, in: ebd.

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3.4 Fremdenverkehr im Wettbewerb Beide Seiten konnten zwar ihre Vorteile preisen und den jeweiligen Konkurrenten „drüben“ in einem möglichst schlechten Licht erscheinen lassen, durften dabei aber den Bogen nicht überspannen. Übertriebene Feindbilder bargen die Gefahr in sich, dass potenzielle Besucher der Stadt generell von einer Visite abgeschreckt würden. Gerade für West-Berlin entstand bei der Image- und touristischen Werbung ein Spannungsfeld: Einerseits musste „die politisch-geographische Lage der Stadt so akzentuiert werden, daß sie Anreize für eine Reise nach Berlin bot“ und andererseits die heikle West-Berliner politische Sonderrolle heruntergespielt werden, „um den Reisenden die Angst […] zu nehmen.511 Nicht zu Unrecht warnten West-Berliner Zeitungen beispielsweise vor den Folgen von aufgeblähten „Menschenraubgeschichten“.512 Anfang der 50er Jahre gab es noch genügend Fälle der Verweigerung Berlins als Reiseziel, offenbar aus diesem Grund.513 Dennoch zog das kulturelle Berlin zunehmend an, vor allem dessen Theater- und Veranstaltungswelt. Beide Stadtverwaltungen sahen die Bedeutung eines lebendigen Fremdenverkehrs; der Senat als Vertreter einer „Insel“ prononciert unter wirtschaftlichen und politischen514, der Magistrat mehr unter politisch-ideologischen Aspekten.515 Beide handelten jedoch immer in deutschen und internationalen Korrelationen. Bedeutend aktiver als die Ost-Berliner Führung agierte dabei der „touristische“ Senat. Er betrieb eine erstrangige Werbung für West-Berlin als Ort von nationalen und internationalen Kongressen und Tagungen. Diesbezüglich hatten das Verkehrsamt und andere Senatsstellen bereits zu Beginn der 50er Jahre mit aufwändigen Kampagnen in der Bundesrepublik und im Ausland begonnen. Die Amtszeit des strategisch denkenden Bahrs zeichnete sich dann auch durch 511 Berlin wirbt!, S. 25. 512 Vgl. Sylvia Conradt/Kirsten Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt: Leben in Berlin 1945–1961, Darmstadt 1987, S. 114. 513 Vgl. Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen an Senatsdirektor Klein, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593. 514 Für keine andere Stadt in der Welt könne „die Erkenntnis von der Bedeutung des Fremdenverkehrs als Mittel der Verbindung und des Verstehens zwischen Menschen und Völkern mehr Gültigkeit haben als Berlin“, meinte der Verkehrssenator 1958. In ihrer „insularen Lage“ benötige die Stadt einen starken Fremdenverkehr „vor allem aus wirtschaftlichen und politischen Gründen“. Die Stellung Berlins im Verkehr, hrsg. vom Senator für Verkehr und Betriebe, Berlin (W) 1958, S. 30. Vgl. dazu auch: Hanns W. Schwarze, Ärgernis oder Bindeglied – Was geht Berlin die anderen an?, Hannover 1960, S. 54. 515 Vgl. Protokoll der Dienstbesprechung beim Abteilungsleiter Innere Angelegenheiten des Magistrats“, 28.8.1956, in: LAB, C Rep. 104, Nr. 16.

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diplomatische Werbereisen von Berliner Sonderbotschaftern und Attachés ins Ausland aus.516 In der Tat stiegen die Tagungs- und Kongressbesuche besonders nach 1958 an und damit – einschließlich des „Normaltourismus“ – die Zahl der Übernachtungen.517 Sie stellten besonders für das Hotel- und Gaststättengewerbe einen erheblichen Wirtschaftsfaktor dar. Hatte die westliche Teilstadt 1956 bereits über 6.000 Hotelbetten verfügt, reichten sie insbesondere in Saisonzeiten nicht mehr aus. Durch ERP-Mittel unterstützt, begann ein außerordentlich dynamischer Bau neuer Hotels – auch die der gehobenen Kategorien.518 Während West-Berlin um 1957 bereits etwa 8.000 Hotelbetten zur Verfügung standen, waren es im Ostsektor ca. 1.500 in Hotels, die größtenteils dem internationalen Niveau nicht entsprachen.519 Auch das führte zu einer sehr vorsichtigen Werbung für Ost-Berlin u.a. als Tagungs- und Kongressort. Da aber ebenfalls DDR-Bürger relativ häufig nach Berlin kamen – auch, um, wie zu sehen war, an Veranstaltungen in seinem Westteil teilzunehmen – suchten viele von ihnen dort Quartiere. Das war ein Phänomen mit hoher politischer Brisanz auf beiden Seiten. Da der Senat den Besuchsverkehr aus dem Osten „aus politischen Gründen“ förderte, sah er sich, wie ebenfalls bereits dargestellt, gezwungen, seine Subventionen für ihn mit Hilfe der Bundesregierung zu intensivieren. Letztlich trug auch das zum Bau touristischer Unterkünfte bei. Wenngleich die Übernachtungen von Ostdeutschen nach 1953 zurückgingen520, blieben sie doch bis zum Mauerbau ein wesentlicher gesamtnationaler Faktor, der auch auf die Intensität innerdeutscher Begegnungen schließen ließ. Dazu gehörten auch die Kurzbesuche von DDR-Bürgern. Zwar verfügte der Senat über keine genauen Zahlen, schätzte aber die Visiten der 516 Vgl. Die Stellung Berlins im Verkehr, S. 30. und Reinhard Appel, Die Regierenden von Berlin seit 1945. Die Nachkriegsgeschichte der Stadt im Spiegel ihrer Bürgermeister. Mit 176 historischen Fotos, Berlin 1996, S. 168–170 und die Stellung Berlins im Verkehr, S. 30. 517 Beispielsweise registrierten die Behörden für 1957 1.084.365 Gesamtübernachtungen (davon 786.451 von Inländern und 297.914 von Ausländern). Es fanden 500 Tagungen und Kongresse statt. Von 1950 bis 1957 habe sich die Zahl der Inlandsgäste verdoppelt, die aus dem Ausland verfünffacht. Allein von 1955 auf 1956 sei die Zahl der Übernachtungen von 800.000 auf 950.000 gestiegen. Vgl. ebd., S. 31 und Berlins West-OstProbleme, Stand: 15.3.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 17. 518 Darunter das Berlin-Hilton mit 600 Betten. Vgl. Die Stellung Berlins im Verkehr, S. 32. 519 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 17. 520 1951 wurden 181.088 Übernachtungen von DDR-Bürgern gemeldet, 1954 nur noch 79.691 (1952 = 181.023, 1953 = 158.636). Den Rückgang führte der Verkehrssenator auf den Umstand zurück, dass diese Besucher Hotelquartiere in West-Berlin nicht mehr bezahlen könnten. Er forderte für sie neue Übernachtungssubventionen. Vgl. Schreiben von Theuner an den Reg. Bgm. Suhr, 7.4.1955, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 8631/1.

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nicht in West-Berlin übernachtenden ostdeutschen Touristen (ohne Ost-Berliner) auf 50.000 pro Tag.521 Demgegenüber zog der „demokratische“ Sektor trotz des historischen Stadtkerns sowie seiner berühmten Museen und Theater weniger Besucher als der Nachbar und Konkurrent an, sah sich aber dennoch nicht nur bei deren Unterbringung, sondern auch Versorgung großen Schwierigkeiten gegenübergestellt. Das umso mehr, als die SED und ihre Administration aus ideologischen sowie Sicherheitsgründen faktisch ein touristisches Konzept verfolgten, das auf eine möglichst lückenlose Betreuung der Gäste baute – eine Mischung aus Fürsorglichkeit und Kontrolle. Vielen „Fremden“, die sowohl den einen als auch den anderen Berliner Teil besuchten, fiel auf, dass die touristischen Betreuungsangebote im Westen zahlreich waren, man sie ihnen aber im Unterschied zur OstBerliner Servicementalität nicht aufnötigte. Für eine liberale Handhabung der Betreuung hatte u.a. Reuter bereits prinzipielle Grundlagen formuliert.522 Wenngleich der Magistrat die touristische Versorgung mit „Speis’ und Trank“ allmählich in den Griff bekam und dabei mitunter brillant improvisierte, blieb die Übernachtungsfrage der allergische Punkt. Noch Ende des Dezenniums plante die Berlin-Werbung Berolina auf der Grundlage begrenzter Mittel für den Hotelbau angesichts einer „zu erwartenden Steigerung des internationalen Fremdenverkehrs im Zuge der [erwarteten] Anerkennung der DDR“ den Auf- und Ausbau internationaler Campingplätze in reizvoller Berliner Landschaft.523 Um mehr Besucher ohne Übernachtungswünsche nach Ost-Berlin zu ziehen, entwickelte der Magistrat ein durchaus vernünftiges Konzept für den hauptstädtischen Nahtourismus. Da es sowohl auf Gäste als auch auf die eigene Bevölkerung zielte, besaß es eine Doppelfunktion.524 Zumindest indirekt sprach das 1956 von der SED-Bezirksleitung gebildete Ost-Berliner „Komitee für Wandern und Touristik“ auch westliche Besucher an. In der Parteizentrale ging man davon aus, dass Berlin als Hauptund Großstadt eine Profilierung der „Touristenbewegung“ unbedingt benötigte.525 In diesem Zusammenhang überdachte die SED-Bezirksleitung seit dem Sommer 1958 ein Modell, das es auch West-Berlinern gestatten würde, Naherho521 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1959, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2158, Bl. 61. 522 Wenn viele Besucher Berlins nicht wünschten, während ihres Aufenthaltes „irgendwie von amtlicher Seite ‚behandelt‛ zu werden‘, sollte man das unbedingt akzeptieren und es ihnen überlassen, z.B. an einer Führung teilzunehmen oder aber nicht.“ Schreiben von Reuter an den Senator für Bau- und Wohnungswesen, Mahler, 14.1.1952, in: ebd., Acc. 1346, Nr. 512. 523 Vgl. Berlin-Werbung Berolina, Vorschlag für die Errichtung „Internationaler Campingplatz Berlin“, 6.11.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 38. 524 Vgl. Vorschläge der Abteilung Kunst und kulturelle Massenarbeit der SED-BL Berlin, 21.6.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 234/1, Nr. 38. 525 Vgl. Beschluß der SED-BL Berlin, 14.2.1956, in: ebd., 252/1, Bl. 70.

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lungsgebiete in den Ost-Berliner Randgebieten aufzusuchen: organisiert, kontrolliert und „gegen West(mark)“.526 Der Senat ging auf derartige Vorstellungen nicht ein, weil die SED ihre Realisierung von offiziellen Verhandlungen abhängig machte. Überdies bereitete der Mauerbau solchen Ideen endgültig ein Ende. Es blieb bei kontrollierten Stadtrundfahrten mit sorgsam ausgewählten Zielen.

3.5 „Baustellen“-Tourismus und politische Stadtrundfahrten Für die politische Berlin-Werbung von einiger Bedeutung waren die beiderseitigen, nach festen Programmen ablaufenden Bus-Stadtrundfahrten. Sie beabsichtigten in erster Linie, Berlinern und Touristen aus dem In- und Ausland den Aufbau des jeweils eigenen Sektors als modern, schön und der Konkurrenz auch sozial überlegen vorzustellen. Als der östliche Magistrat Ende 1951 mit den von ihm organisierten Fahrten für West-Berliner und Westdeutsche in die Stalinallee, zum Hochhaus an der Weberwiese, begann und der Senat 1952 mit Bustouren zunächst zum Hochhaus am Roseneck und dann ins Reuter-Viertel nachzog, entwickelte sich ein reger „Baustellentourismus“.527 Von beiden Stadtregierungen subventioniert, trug er die Züge einer mit einer Gesamtberliner Camouflage versehenen besonderen politischen Wettbewerbsdisziplin, die zwei Ziele miteinander verband: die Zustimmung des eigenen und die politische Gewinnung des jeweils anderen Bevölkerungsteils.528 Dabei standen für die SED die West-Berliner im Mittelpunkt ihres ideologisch überhöhten politischen Interesses529, für den Senat Ost-Berliner und DDR-Bewohner offenbar

526 Im SED-Sekretariat sah man neben dem ökonomischen Nutzen („große Einnahmen in Westgeld“) eine Reihe politischer Vorteile. Das bei den West-Berlinern weit verbreitete Argument, private und Gruppenreisen in die DDR würden ihnen von der SED verwehrt, würde wegfallen und die Reisen stünden „nach wie vor oder eher noch besser als zuvor unter Kontrolle“. Überdies kämen West-Berliner, die sich ausdrücklich zu verpflichten hätten, die Gesetze der DDR auf ihrer Reise verbindlich anzuerkennen, dadurch „zweifellos auch in Widerspruch zu den westberliner Behörden“. Sekretariat Baum: Vorschlag zur Regelung von Fahrten westberliner Bürger in die DDR“, 18.8.1958, in: ebd., Nr. 339, Bl. 14. 527 Vgl. dazu Warnke, Baustellen-Tourismus im Kalten Krieg, S. 5. 528 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 56. 529 Vgl. Anlage zum Protokoll Nr. 22/1952 der SED-Sekretariatssitzung am 27.11.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 177, Bl. 35 und „Analyse des Ausstellungspavillons an der Weberwiese“, 29.5.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr.497.

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gleichrangig. Seine Ziele waren aber ähnlich gelagert.530 Neben den normalen kostenpflichtigen Stadtrundfahrten bot er für Ostdeutsche an Sonntagen eine dreieinhalbstündige Gratis-Rundfahrt mit insgesamt fünf, ab 1956 mit sieben Bussen an. Diese „Coca-Cola-Fahrten“ erfreuten sich großer Beliebtheit.531 In Ost-Berlin ging täglich ab Bahnhof Friedrichstraße alle zwei Stunden ein Besichtigungsbus ab. Diese normale Rundfahrt durch den Ostsektor kostete den Teilnehmer 2,50 Ostmark.532 Westdeutsche und West-Berliner zahlten jedoch ebenfalls nichts, wenn sie an einer vom Magistrat organisierten speziellen Baustellenfahrt, der direkten Konkurrenz zu den Sonntagstouren des Senats, teilnahmen. Sie endeten beiderseits mit Kaffee und Kuchen.533 Beiden Seiten waren auch bestimmte Gemeinsamkeiten der Darstellung ihrer Vorzüge eigen.534 Aber nur der Osten bediente sich dabei gelegentlich einer „fünften Kolonne“.535 In verschiedenen Fällen lud der Magistrat in Ost-Berlin weilende Gäste aus der Bundesrepublik zu aufgelockerten Kaffee-Empfängen in die Ost-Berliner Rathäuser ein, um die 530 Vgl. Redemanuskript Reuters für die RIAS-Sendereihe „Wo uns der Schuh drückt“, 15.8.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc.1512, Nr.1770, Bl. 25f. 531 Die Firma Coca-Cola spendete jeden Sonntag 200 Flaschen ihres Erzeugnisses für diese Fahrten – „zur allgemeinen Freude der Ostberliner“. Vom 1.1. bis 15.9.1956 seien 9.488 Teilnehmer gezählt worden, insgesamt bislang 33.600 Personen. Vgl. ebd., Nr. 1788, Bl. 153, ebd., Acc. 1636, Nr. 2070, sowie Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, ebd., Nr. 2154, Bl. 58. 532 Ebd. 533 Vgl. ebd. und Albrecht Steinecke, Freizeit in räumlicher Isolation. Prognosen und Analysen zum Freizeit- und Fremdenverkehr der Bevölkerung von Berlin (West). (= Berliner geografische Studien, Bd. 21.), Berlin (W) 1987, S. 133. Steineckert gibt die jährliche Teilnehmerzahl mit 11.000 an. Bis Ende 1958 wären es auf 251 Sonntagsfahrten insgesamt 68.537 Ostdeutsche gewesen. 534 Beide Veranstalter hoben das Neue jeweils als ihre eigene Leistung hervor. Bei den WestBerliner Rundfahrten standen dabei spektakuläre Bauten im Vordergrund: wichtige Gebäude des Hansaviertels, das „Hochhaus am Roseneck“ und die „modernste Kongreßhalle der Welt“. Die Stadtbilderklärer kontrastierten sie mit ihren Vorgängerbauten – elenden „Mietskasernen“ mit „stickigen Hinterhöfen“. In Ost-Berlin war das zwar auch der Fall, aber man verglich stärker mit der angeblichen Baumisere in West-Berlin. Bei Busfahrten seien auch ausgesuchte Zahlen Ost-Berlins und seiner Stadtbezirke denen West-Berlins gegenüberzustellen, lautete die zentrale Anweisung. Vgl. für West-Berlin: Stadtrundfahrt durch Berlin, Berlin (W) 91962 (Reiseführer) und für Ost-Berlin: Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 01/58 der Sitzung am 23.1.1958, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 321, Bl. 7. 535 Bei den Busrundfahrten des Senats seien Genossen einzuschleusen, die den Veranstaltern gezielt kritische Fragen stellten. Überdies berichteten SED-Vertrauensleute über den Verlauf der Sonderfahrten mit Ostdeutschen. Vgl. Abteilung leitende Organe der SED-BL: „Informationsnotiz“, 30.12.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 275.

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Gäste über die „wirklichen Verhältnisse und die großen Erfolge“ im „demokratischen“ Sektor „aufzuklären“.536 Während der Senat seine Sonntagsfahrten kontinuierlich durchführte und über die Teilnehmerzahlen genau „Buch“ führte, wies der Magistrat, der offiziell keine Sonderomnibusfahrten unternahm, seine unregelmäßigen „Baustellen“-Fahrten statistisch nicht aus. Sie lagen quantitativ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht unter den West-Berliner Ergebnissen. Über ihre Wirkung lassen sich ebenfalls nur Vermutungen anstellen. Wenn westdeutsche Ost-Berlin-Besucher ein reges Interesse an regulären Stadtrundfahrten besaßen und das Besichtigungsangebot zu erweitern wünschten, entsprach das in der Regel touristischen, nicht politischen Motiven. Mit dieser Erkenntnis hatte sich der Senat im Frühjahr 1957 zu einer inoffiziellen Anfrage beim Magistrat durchgerungen, ob es nicht möglich sei, die West-Berliner Stadtrundfahrten nach Potsdam auszudehnen. Der Magistrat lehnte mit der Begründung ab, dass Potsdam nicht zum Berliner Stadtgebiet gehöre und er deshalb nicht die Möglichkeit habe, „Ihren Antrag zu prüfen“. Das stehe ausschließlich der DDR-Regierung zu.537 Aber auch die Ost-Berliner Verantwortlichen sahen die Perspektive von „nicht unbedeutenden politischen Erfolgen“ durch ein erweitertes touristisches Programm – etwa den Einbezug der Potsdamer Schlösser. Die Sache müsse aber die östliche Seite, nicht West-Berlin initiieren, meinten sie. Mit Jahresbeginn 1959 erteilte der Magistrat West-Berliner Reisebus-Unternehmen einige Lizenzen, aus denen sich für ihn eine sehr erfolgreiche Zusammenarbeit ergab. Da die WestBerliner Teilnehmer in die Tausende gingen, kämen hohe Valutabeträge zusammen.538 Die SED-Bezirksleitung Berlin gab sogar ihr Einverständnis zu erweiterten lizenzierten Reiseprogrammen von West-Berlin aus in die DDR; denn solche Busfahrten ermöglichten es, „auf die West-Berliner Bürger unseren politischen Einfluss geltend zu machen“.539 Doch schob der Mauerbau dem anlaufenden Programm einen Riegel vor. Insgesamt bestätigt sich, dass im geteilten Berlin Wirtschaft-, Image- und Fremdenverkehrswerbung u.a.m. kaum scharf zu unterscheiden sind. Alle Kategorien der Werbung wurden auf beiden Seiten politisch penetriert, ohne dass sie spezifi536 In der Regel schloss sich danach eine Besichtigungsfahrt durch die Stalinallee an. Die Verwaltungen meldeten, dass die meisten Besucher versprachen, „– und wir glauben wirklich in ehrlicher Absicht –“, nach ihrer Rückkehr Verwandten und Bekannten im Westen wohlwollend zu berichten. Bericht des Stadtbezirks Prenzlauer Berg, 2.11.1953, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 898. 537 Vgl. Schreiben von Senatsrat Kraft an den Stellvertretenden Ost-Berliner OB Schmidt, 22.3.1957 und Antwort Schmidts an Kraft, 11.4.1957, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 181. 538 Vgl. Schreiben von Pittermann an Fechner, 14.9.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 38. 539 Ebd.

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sche Eigenwerte aufgaben. Bei vielen Ähnlichkeiten der Ziele und Methoden verfügte die pluralistisch strukturierte politische Werbung in West-Berlin gegenüber derjenigen im Ostteil der Stadt eindeutig über die größeren Handlungsspielräume. Zwar wurde auch dort auf diesem Gebiet systemintern diskutiert und konkurriert – etwa um konkrete Werbeaufträge, bei der Verteilung von Ressourcen sowie um Erfolgsanteile. Doch verliefen Interaktionen nicht auf der Grundlage pluralistischer Entscheidungen und Aushandlungsprozesse zwischen den professionellen Gestaltern und der normsetzenden Ost-Berliner Parteiführung. Sie bestimmte Werbung maßgeblich als ein Instrument zur inneren Stabilisierung ihres Herrschaftssystems, während in West-Berlin diese Aufgabe nach demokratischen Spielregeln gelöst wurde und sich allmählich zugunsten der Werbung nach außen abschwächte. Dennoch blieben sie und ihre professionellen „Macher“ auf beiden Seiten der Konkurrenz in hohem Maße politisch gelenkt.

4. Die Eskalation des Berliner Systemkonflikts (1952–1954) 4.1 Der östliche Frontalangriff auf West-Berlin 1952 Als Oberbürgermeister Ebert erfuhr, dass sich der Senat für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ausgesprochen habe, wollte er diesen eigentlich nur symbolischen Akt „nicht so unbemerkt hinnehmen“540 Wenngleich der entsprechende Montan-Unions-Vertrag West-Berlin 1951 nur indirekt betraf, war doch klar, dass dessen Bindungen an die Bundesrepublik in dem Maße stärker würden, wie deren Westintegration voranschritt. Eine neue Runde der innerdeutschen und Berliner Konfrontation begann. Welchen Stellenwert der Westen Berlin bei möglichen Konflikten in der Integrationsfrage beimaß, blieb offen. Eine Krise wie 1948 befürchtete er offenbar nicht. Doch musste er damit rechnen, dass der Osten einen wie auch immer gearteten Druck auf Berlin ausüben könnte, um den Souveränitätsvertrag der drei Westmächte mit Bonn (Deutschlandvertrag) sowie die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu blockieren. 1951 ließen sich irgendwelche Planungen dafür aber nicht erkennen. Politischpropagandistische Zuspitzungen entstanden jedoch relativ unabhängig von diesem Problem im Berliner Alltag. Es waren eher zufällige Ereignisse mit erheblichen Folgen, die fragen lassen, warum man sie auf beiden Seiten für die regionale Systemauseinandersetzung nutzte.

540 Protokoll über die 133. (ordentliche) Magistratssitzung am 28.6.1951, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 859, Bl. 46.

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sche Eigenwerte aufgaben. Bei vielen Ähnlichkeiten der Ziele und Methoden verfügte die pluralistisch strukturierte politische Werbung in West-Berlin gegenüber derjenigen im Ostteil der Stadt eindeutig über die größeren Handlungsspielräume. Zwar wurde auch dort auf diesem Gebiet systemintern diskutiert und konkurriert – etwa um konkrete Werbeaufträge, bei der Verteilung von Ressourcen sowie um Erfolgsanteile. Doch verliefen Interaktionen nicht auf der Grundlage pluralistischer Entscheidungen und Aushandlungsprozesse zwischen den professionellen Gestaltern und der normsetzenden Ost-Berliner Parteiführung. Sie bestimmte Werbung maßgeblich als ein Instrument zur inneren Stabilisierung ihres Herrschaftssystems, während in West-Berlin diese Aufgabe nach demokratischen Spielregeln gelöst wurde und sich allmählich zugunsten der Werbung nach außen abschwächte. Dennoch blieben sie und ihre professionellen „Macher“ auf beiden Seiten der Konkurrenz in hohem Maße politisch gelenkt.

4. Die Eskalation des Berliner Systemkonflikts (1952–1954) 4.1 Der östliche Frontalangriff auf West-Berlin 1952 Als Oberbürgermeister Ebert erfuhr, dass sich der Senat für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ausgesprochen habe, wollte er diesen eigentlich nur symbolischen Akt „nicht so unbemerkt hinnehmen“540 Wenngleich der entsprechende Montan-Unions-Vertrag West-Berlin 1951 nur indirekt betraf, war doch klar, dass dessen Bindungen an die Bundesrepublik in dem Maße stärker würden, wie deren Westintegration voranschritt. Eine neue Runde der innerdeutschen und Berliner Konfrontation begann. Welchen Stellenwert der Westen Berlin bei möglichen Konflikten in der Integrationsfrage beimaß, blieb offen. Eine Krise wie 1948 befürchtete er offenbar nicht. Doch musste er damit rechnen, dass der Osten einen wie auch immer gearteten Druck auf Berlin ausüben könnte, um den Souveränitätsvertrag der drei Westmächte mit Bonn (Deutschlandvertrag) sowie die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu blockieren. 1951 ließen sich irgendwelche Planungen dafür aber nicht erkennen. Politischpropagandistische Zuspitzungen entstanden jedoch relativ unabhängig von diesem Problem im Berliner Alltag. Es waren eher zufällige Ereignisse mit erheblichen Folgen, die fragen lassen, warum man sie auf beiden Seiten für die regionale Systemauseinandersetzung nutzte.

540 Protokoll über die 133. (ordentliche) Magistratssitzung am 28.6.1951, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 859, Bl. 46.

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4.1.1 Der Fall Kamieth als propagandistischer Prolog Der von niemandem gewollte Tod des parteilosen Ost-Berliner Reichsbahnreviervorstehers Ernst Kamieth, der im Handgemenge mit dem Leiter eines WestBerliner Polizeireviers einen tödlichen Schlag gegen den Kopf erhielt, war Folge einer illegalen Aktion der Westpolizei – das Ganze spielte sich auf Reichsbahngelände ab. Diese nach bürgerlichem Recht als Körperverletzung mit tödlichem Ausgang beurteilte Handlung nahm die SED zum Anlass für eine aufwändige Kampagne gegen die Verhältnisse in West-Berlin.541 Die Beerdigung des Opfers geriet zu einer propagandistischen SED-Großveranstaltung, die nichts anderes bezweckte als Massenwirksamkeit sowie Solidaritätseffekte, aber auch für die Medien in OstBerlin verwertbare Reaktionen der „Stummpolizei“.542 Das Ereignis zog in den folgenden Monaten immer stärkere Kreise. In beiden Berliner Teilen erlebte die Sicherheitspropaganda einen neuen Höhepunkt. Die Ost-Berliner Presse konstru541 In Ost-Berlin behandelte der von der SED gelenkte sogenannte „Groscourth-Ausschuss“ den Fall Kamieth. Er bildete verschiedene Zeugengruppen, die Tathergang und medizinische Todesursachen bezeugten und ebenfalls den „amerikanischen Auftrag“ des Täters (Zenker) „beweisen können“. Eine andere Gruppe war ausgewählt, um „im weiteren die Provokationen im amerikanischen Auftrag“ zu benennen. In der Ost-Berliner Propaganda wurde die Sache Kamieth als „erster faschistischer Mord“ in Berlin bezeichnet. Durch sie sei jedoch „die Aktionseinheit im großen Umfang in Berlin Tatsache geworden“. Gleichzeitig hob die SED die Affäre auf eine „höhere“ ideologische Abstraktionsebene: Am Tatort seien „beide Lager aufeinandergestoßen, die Kräfte des Friedens und die Kräfte des Krieges“. „Betr.: Mord an dem Kollegen Kamieth“, 19.11.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 393 und Sekretariat Lena Fischer: „Aktennotiz zur Vorbereitung der Beisetzung des Kollegen Kamieth“, 10.11.1951, in: ebd. 542 Die Beisetzung Kamieths war in erster Linie eine politische Großveranstaltung. Auf dem Potsdamer Platz fand eine Trauerkundgebung unter der Losung statt: „Ernst Kamieth, Dein Tod verpflichtet uns zum verstärkten Kampf um Einheit und Frieden.“ Für die eigentliche Beerdigung kamen verschiedene Demonstrationsvarianten für den Fall in Betracht, dass die West-Berliner Administration „Einschränkungen oder ein Verbot“ dieser Aktion anordnen würde. Der Plan sah vor, „dass einige Tausend Eisenbahner“, die als Kollegen des Verstorbenen in Ost und West mobilisiert worden waren, sich vor der Kundgebung auf dem Potsdamer Platz „nach einem genauen Plan in der Nähe des Friedhofes [im Westen] aufhalten, umso jede Maßnahme der Stummpolizei [Abriegelungen] rings um den Potsdamer Platz unwirksam zu machen. Sollte die Polizei die Beisetzung von Kamieth in Westberlin ablehnen, müssen neue Maßnahmen festgelegt werden.“ Vgl. ebd. Es existieren von der Beisetzung 17 umfangreiche SED-Berichte über die Teilnehmer und deren Verhalten sowie über die Maßnahmen der West-Berliner Polizei, der es nicht gelungen sei, „unsere Friedenskämpfer“ abzudrängen. Vgl. „Betrifft: Aktion Ernst Kamieth“, 13.11.1951, in: ebd., Nr. 272.

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ierte einen Zusammenhang zwischen dem „faschistischen Mord“ an Kamieth im amerikanischem Auftrag sowie der Politik der USA bei der Wiederaufrüstung Westdeutschlands. Sie wiederum stehe in Verbindung mit der anwachsenden Sabotage und Spionage gegen Ost-Berlin. Deshalb seien dort, aber auch in den West-Berliner Gliederungen der SED, mehr Wachsamkeit und Sicherheit geboten.543 Das betraf insbesondere die keineswegs problemlose Verstärkung der OstBerliner Volkspolizei544 durch zuverlässige Kader.545 Die Sicherheitshysterie der SED und des Magistrats wurde von West-Berliner antikommunistischen Organisationen erheblich angetrieben, die beispielsweise in vielen Ost-Berliner Hausfluren massenhaft Flugblätter mit Warnungen vor Sympathisanten und „Handlangern“ des dortigen „totalitären Regimes ablegten“.546 Diese in den meisten Fällen vom UFJ getragenen Warnaktionen trugen denunziatorische und letztlich auch

543 So suchten im Pankower Zigarettenwerk Garbaty Parteileitung und Sicherheitskräfte angestrengt nach internen „feindlichen Elementen“, die den RIAS über eine Parteiaktivtagung informiert hatten; und selbst gegenüber dem SED-Kreissekretariat Charlottenburg wurde nicht nur der Verdacht mangelnder Wachsamkeit erhoben: Die meisten Funktionäre seien „irgendwie kaderpolitisch belastet“ und eigentlich unzuverlässig. Landes-ParteiKontrollmission an die SED Kreis-Kontroll-Kommission Pankow, 24.3.1952, in: ebd., Nr. 444. Auch zogen die Parteiorgane den Schluss, dass nur Verrat im Spiel sein könne, wenn die Westpolizei bereits vor dem Beginn von intern bestens vorbereiteten Geheimaktionen Gegenmaßnahmen ergriff. Vgl. „Protestdemonstration gegen den Generalkriegsvertrag im Kreis Kreuzberg, am 29.5.52 (Kottbusser Tor)“, 29.5.1952, in: ebd., Nr. 274. 544 Bisherige Werbungen für die Berliner VP lagen in der Hand der staatlichen Organe, sollten nun aber „unmittelbar durch die Partei“ erfolgen. Sie wollte vor allem junge Arbeiter gewinnen. Der DDR-Innenminister untersagte der Berliner SED-Führung allerdings Werbungen „in der Republik“. Dort hatte man ähnliche Kaderprobleme. Außerdem gebe es noch „Hunderte von VP-Angehörigen“ ohne eigene Wohnung in Ost-Berlin. Man komme personalpolitisch mehr und mehr in eine „außerordentlich schwierige Lage“. Vgl. Schreiben von Schmidt an Jendretzky, 20.2.1952 und 19.3.1952, in: ebd., Nr. 441. 545 Als Kandidat für die VP in Berlin komme jeder „unbescholtene Bürger“ Ost-Berlins sowie seiner Randgebiete in Frage, „die nicht an die Westsektoren angrenzen“. Die Bewerber müssten „ein entwickeltes Staatsbewusstsein besitzen“ und im Alter von 18–30 Jahren (aber nicht über 40) sein. Nach der sozialen Herkunft sollten es hauptsächlich Arbeiter und werktätige Bauern sowie ein „kleiner Prozentsatz Angestellte“ sein, die nicht unter 1,65 m groß sein dürften. „Bewerber mit jugoslawischer Gefangenschaft werden nicht eingestellt“ und ebenfalls nicht solche, „die starke westliche Bindungen nach Westberlin oder Westdeutschland haben“ – oder dort mehr als ein Jahr in westalliierter Kriegsgefangenschaft waren bzw. dort „eine der verschiedensten Schulen bzw. Kurse besucht haben“. Präsidium der VP Berlin: „Einstellungsbedingungen für den Dienst in der Volkspolizei“, 25.5.1952, in: ebd. 546 Vgl. Bericht, 31.3.1952, in: ebd., Nr. 206.

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erpresserische Züge.547 Hinzu trat, dass sich die teilweise spektakulären Konfrontationsprogramme der KgU – 1952 verstärkte sie die Einsätze von Flugblattballons – mit keineswegs fruchtlosen Kooperationsappellen an den Senat verbanden.548 Das entging dem Osten nicht. Als Reaktion auf die eigentlich als Abwehrmaßnahmen gedachten West-Berliner Maßnahmen, die in der Regel weder als staatlich noch als offiziell firmierten, intensivierte die SED in West-Berlin ihre Infiltrationsversuche in der organisierten Jugend549 und bei Arbeitslosen550. So startete sie auf der Basis einer „breiten Massenstimmung“ eine demagogische Kampagne gegen die „Verkupplung deutscher Mädchen an die imperialistischen 547 So wurden Bewohner Ost-Berlins in UFJ-Schreiben beschuldigt, im Auftrage des Staatssicherheitsdienstes Kollegen zu bespitzeln. Dieser ostzonale Dienst sei jedoch eine „verbrecherische Organisation“, und alle, die mit ihr zusammenarbeiteten, würden „eines Tages ihrer gerechten Strafe zugeführt“. Bevor man aber über die „evtl. notwendige Registrierung in unserer entsprechenden Kartei schlüssig (werde)“, gebe man der angesprochenen Person „Gelegenheit zu einer Äußerung. Möglicherweise handelt es sich auch nur um ein Mißverständnis. Dieses müßten sie aber beweiskräftig aufklären können. Wir stellen Ihnen anheim, eine solche Aufklärung in die Wege zu leiten.“ Schreiben des UFJ an Ursula Mansche, 18.10.1952, in: ebd., Nr. 206. 548 Die KgU habe sich als der „hauptsächliche Gegner des Ministeriums für Staatssicherheit erwiesen“, erfuhr der Senat. Sie habe alle Nachrichten über das MfS und seine ihm untergebenen Stellen systematisch gesammelt und die ostdeutsche Bevölkerung vor ihm gewarnt. Jetzt trete man an die Arbeitsgemeinschaft West-Ost-Hilfe des Senats mit der Bitte heran, der KgU „alle bei Ihnen eingehenden diesbezüglichen Meldungen über Struktur, Arbeitsweise und Personalien des MfS laufend zur Verfügung zu stellen“. Es sei selbstverständlich, „dass nur eine solche Zentralisierung ein karteimäßig umfassendes Bild über den SSD [Staatssicherheitsdienst] geben kann ebenso wie eine sachgemäße und intensive Bekämpfung dieser Organisation“. Schreiben von Ernst Tillich, KgU, an den Senat von Berlin, Senatspresseamt (Hirschfeld), 8.4.1952, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3406–3407. 549 Im Mittelpunkt standen die „Falken“, die Jungsozialisten und die DGB-Jugend, aber auch christliche Jugendorganisationen. Mit ihnen und den jungen Arbeitslosen sei im Kampf „gegen die Wiederbewaffnung zu gemeinsamen Aktionen“ zu schreiten. Das Schwergewicht der Arbeit sei mehr als bisher auf die Bildung von FDJ-Gruppen und Stützpunkten in den West-Berliner Großbetrieben zu legen. „Entwurf der Arbeitsentschließung der Landesdelegiertenkonferenz der FDJ am 17. und 18.5.1952“, in: ebd., Nr. 158, Bl. 246. 550 Es sollte versucht werden, über das Engagement für Arbeitslose „die Stimmung der Massen in unserem Sinne zu beeinflussen“. Die SED entwickelte Mitte Juni 1952 ein politisch-propagandistisches Programm, das insbesondere Einsätze in West-Berliner Großbetrieben vorsah und auf die Formierung einer Opposition gegen den Deutschlandvertrag abzielte. Arbeitsämter und Erwerbslosenausschüsse seien dabei zu Propagandastützpunkten auszubauen, Material und Agitatoren flexibel einzusetzen sowie neue Demonstrationen und Kundgebungen auszulösen. Vorlage für das Sekretariat der SED-Landesleitung: „Weitere Maßnahmen für die Steigerung der Massenarbeit in Westberlin“, 13.5.1952, in: ebd., Nr. 159, Bl. 20f.

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Besatzungsmächte“. Der perfide Angriff gab die „moralische“ Kulisse für das Ziel ab, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu diskreditieren.551 Ingesamt entstand im Frühjahr 1952 auch im Westen der Eindruck einer propagandistischen Offensive der SED, hinter der die generelle These stand, dass die Remilitarisierung zum Ruin West-Berlins und zu einer dramatischen Verschlechterung der individuellen Lebenslagen beitrage.552 Gleichzeitig ließ der Angriff jedoch erkennen, dass die kommunistische Politik, einschließlich ihrer Berliner Vertreter, dieser Entwicklung machtlos gegenüberstand. Ähnlich hilflos und aggressiv reagierte aber auch die politische Führung WestBerlins auf die neue Attacke der SED. Das schlug sich im rigideren Umgang der West-Berliner Polizei mit den Teilnehmern von kommunistischen Demonstrationen nieder, die seit den Weltjugendfestspielen im Sommer 1951 etwas weniger hart angefasst worden waren. Jetzt wurde wieder mehr „geknüppelt“, und viele, aber beileibe nicht alle WestBerliner, fanden das gut.553 Was die West-Berliner Politiker im liberalen Spektrum 551 Es ginge im Kontext der „Entfaltung des Massenkampfes in Westberlin“ sowie der „Konstituierung des Volksausschusses für einen Friedensvertrag“ um „eine breite Kampagne für den Schutz, die Ehre und die Würde der deutschen Frauen und Mädchen“. Es hieß dann bezeichnend, dass sie „kein Freiwild für englische Kolonialoffiziere“ seien und deshalb gegen den Generalvertrag gekämpft werden müsse, der eben das herbeiführe. „Wir werden es verhindern, dass man unsere Jungen zu Söldnern macht und unsere Mädchen zu Prostituierten! Verteidigt die Ehre und die Würde der deutschen Frau gegen die amerikanische Demoralisierung.“ In diesem nationalistischen Sinn wurden Maßnahmen gegenüber westalliierten Offizieren und den Militärkommandanturen geplant. SED-Landesleitung: „Steigerung der Volksbewegung für den Abschluss eines Friedensvertrages und die Schaffung der demokratischen Einheit Deutschlands“, Vorlage für das Sekretariat, 23.4.1952, in: ebd., Nr. 158, Bl. 27. 552 Die West-Berliner Steuergelder flössen in die Bundesrepublik zur Rüstungsfinanzierung und „die untragbaren Lasten durch Bereitschaftspolizei und Besatzungstruppen führen zur Pleite der Reuter-Verwaltung, die unaufhaltsam näherrückt.“ Papier der SEDLandesleitung, Frühjahr 1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5270. 553 Offenbar die Mehrheit der vom Amt für Information beim Magistrat befragten WestBerliner plädierte für ein hartes Vorgehen der Westpolizei gegen die Demonstranten aus dem Osten. Die meisten Passanten meinten, es sei ganz richtig, dass sie von der Polizei aus den Westsektoren „rausgehauen“ werden; „was suchen sie auch hier. Wir wollen gar nichts mit ihnen zu tun haben. Sollen sie doch drüben machen, was sie wollen, aber uns in Ruhe lassen.“ Andere meinten, es sei doch klar, „daß sie ihr Fett abkriegen. Was bleiben sie nicht drüben.“ Eine Frau erklärte, sie „möchte mal sehen, wie die hauen würden, wenn unsere Falken […] in Ostsektor demonstrieren würden“. Einige West-Berliner waren sogar der Auffassung, „dass unsere Westpolizei noch viel zu human ist. […] So wie man unsere Leute drüben behandelt, denke Sie doch an die Prozesse und Behandlung in Zwickau, Glauchau, Bautzen usw. Nee, mit Humanität kriegen wir die nicht klein.“ Eine weitere Frau empörte

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aber zunehmend besorgte, war die eigene Unfähigkeit, der sich verschlechternden Tendenz auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen etwas Konstruktives entgegenzustellen. Das lag auch daran, dass sie die Ost-Berliner zunehmend als bedauernswerte Opfer sahen, deren Lage man, soweit wie möglich, erleichtern müsse, die aber faktisch nicht mehr handlungsfähig seien. Auch diese Haltung bewirkte, dass sich systemkritische und oppositionelle Ost-Berliner vom Westen verlassen fühlten. Ein aus Ost-Berlin an die CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus gerichtetes anonymes Memorandum554 bewirkte jedoch eine ernsthafte Diskussion des Problems im Senat und im Büro für Gesamtberliner Fragen. Die CDUFraktion machte sich dabei das zentrale Argument des Memorandums zu eigen: Nicht nur repressive Maßnahmen in Ost-Berlin hätten bewirkt, dass dort Menschen „die sonst noch sehr eifrig mitkämpften, sich zurückgezogen haben […]. Der Ostberliner fühlt sich vollständig zurückgesetzt.“ Die Fraktion schlug vor, ihn insbesondere von Seiten des RIAS „mehr persönlich anzusprechen“, kleinere Versammlungen an der Sektorengrenze zur „regeren Fühlungnahme“ zu organisieren sich darüber, dass die West-Berliner im Osten ihre Meinung nicht sagen dürfen; „weshalb sollen wir die Hetze hier dulden?“ Nur wenige – z.B. ein Student und eine Passantin – waren mit der Behandlung der Demonstranten nicht einverstanden. „Mit diesen brutalen Methoden kann man niemanden, der eine andere Meinung hat, überzeugen, meinte der Student und die Frau, dass man die Leute demonstrieren lassen solle, sie gingen ja dann doch „ruhig und von selbst wieder“. Amt für Information: „Bericht über Demonstrationen am Bahnhof Gesundbrunnen“, 25.4.1952 und Bericht „Demonstration in der Brunnenstraße“, 25.4.1952, in: ebd., Nr. 5589. 554 Das Memorandum war mit „Die Stimme Ostberlins“ betitelt. Selbst West-Berliner Radiosendungen wie „Berlin spricht zur Zone“, so wurde kritisiert, gäben den Ost-Berlinern das Gefühl, „sie selbst seien so gut wie hilflos; sie seien nur noch Objekte für den Westen sowohl als für den Osten. Tatsächlich sind die Menschen durch Jahre hindurch daran gewöhnt worden, dass sogar alles, was eigentlich sie selbst sagen müssten, jedes Mal von draußen gesagt wird. Das muss mit der Zeit ungünstig auf ihr Selbstbewusstsein wirken.“ Deshalb sollte man im Gegensatz zur bisherigen westlichen Praxis den Ost-Berlinern „das Gefühl zu geben versuchen, dass auch sie selbst noch etwas tun können“. Ost-Berlin müsse durch neue Methoden „selbst zu Wort kommen“ – vor allem durch neue Sendungen des RIAS, vielleicht durch eine Sendung „Die Stimme Ostberlins“, nicht etwa: „Wir sprechen zu Ostberlin“. Auch sollten West-Berliner Politiker und Parlamentarier sich öfter „zum Sprachohr Ostberlins“ machen und die demokratischen Parteien Stellung zur Situation und zu Vorgängen dort beziehen. Die diktatorischen Machthaber des Ostens „müssen durch die Stimme Berlins laufend in Verlegenheit gebracht werden […] Sie muss drängen und fordern und anklagen und einen Schandpranger errichten für die Verbrecher und Verbrechen an Ostberlin und den Ostberlinern […] Sie muss ein nicht zu überhörendes Sprachrohr der unterdrückten Ostberliner und für deren Sorgen und Nöte werden überall dort, wo die Betroffenen nicht unmittelbar reden können.“ Memorandum „Die Stimme Ostberlins“, undatiert (1952), in: ebd., B Rep. 002, Nr. 2192–2193.

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und gerade das „Misstrauen“ bei der Ost-Berliner Jugend durch persönliche Kontakte zu beseitigen. Das Problem der Wiedervereinigung Berlins dürfe dabei nicht in den Hintergrund treten.555 So richtig die Überlegung auch war, so sehr stellte sich die Frage nach ihrer Realisierung. Eigentlich schlug die CDU Formen vor, die ebenso von der SED in Berlin seit Jahren massiv, aber wenig erfolgreich praktiziert wurden. Wenngleich Methoden im Prinzip wertfrei sind, erhielten sie im Berliner Kalten Krieg auf beiden Seiten eine unverwechselbare Einfärbung durch politische Zielsetzungen, Ideologien und Mentalitäten. Es verstärkte sich die Tendenz, den Gegner zu diffamieren, gegen ihn Verbündete zu finden und seine Positionen unter allen Umständen zu unterminieren. Im Frühjahr 1952 deutete sich zuvorderst atmosphärisch an, dass sich in Berlin etwas Gefährliches zusammenbraute. 4.1.2 Die Sperrmaßnahmen und Restriktionen von 1952 Inzwischen war die Stalinnote vom 10. März 1952 vom Westen „abgeschmettert“ worden. In ihrem Aufruf zum 1. Mai 1952 stellte die SED diese den „tiefsten nationalen Interessen des deutschen Volkes“ entsprechende sowjetische Initiative der „Katastrophenpolitik der westberliner Verwaltung“ gegenüber, die zu „entlarven“ sei. Gemeint war damit die Zustimmung des Senats zum noch verhandelten Deutschland- und EVG-Vertrag. Das schien „Klassenkampf“-Routine zu sein. In der Anlage zum Beschluss der SED-Landesleitung fand sich jedoch der dann nicht veröffentlichte Satz, dass „Maßnahmen einzuleiten (seien), die die ganze Berliner Bevölkerung vor den Auswirkungen dieser imperialistischen Politik schützen“.556 Die Stellungnahme des Magistrats zur soeben veröffentlichten zweiten Stalinnote vom 9. April 1952 mit dem formalen Angebot freier Wahlen unterstrich die „feierliche Verpflichtung“, sich den Imperialisten und ihren „Handlangern Adenauer, Reuter und Konsorten – diesen Volksverrätern“ – im Bündnis mit allen Berlinern zu widersetzen. Unterschwellig assoziierte der Magistrat eine nationale Notstandssituation: Wenn die beiden Westverträge abgeschlossen würden, ergeben sich die Notwendigkeit und die Pflicht des im allgemeinen Interesse handelnden Magistrats sowie der SED und der DDR-Regierung, mit „größter Entschlossenheit“ zu reagieren.557 Dieser in Ost-Berlin erwartete Fall trat ein, als am 26. und 27. Mai 1952 in Bonn bzw. Paris der Deutschland- sowie der EVG-Vertrag unterzeichnet wurden. Sie bedurften zwar der Ratifizierung durch die Parlamente ihrer Teil555 Schreiben der CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (Karl Brammer), 31.3.1952, in: ebd. 556 Anlage zum Beschluß der SED-LL, Nr. 938, 3.4.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 865, Bl. 44. 557 „Stellungnahme des Magistrats von Groß-Berlin zur Antwortnote der Regierung der UdSSR an die Westmächte vom 9. April 1952,“ in: ebd.

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nehmerstaaten, konnten dann aber vom West-Berliner Abgeordnetenhaus übernommen werden. Wie an anderer Stelle bereits genannt, verfügte die Regierung der DDR am 26. Mai als Reaktion auf die Unterzeichnung der beiden Westverträge die schlagartige Abriegelung der meisten Straßenverbindungen zwischen West-Berlin und seinem Brandenburger Umland sowie einen Tag später die Kappung sämtlicher Telefonleitungen zwischen West-Berlin und dem Ostteil der Stadt, aber auch zwischen West-Berlin und der DDR. Ab 1. Juni 1952 durften West-Berliner nicht mehr ungehindert in die Berliner Randgebiete fahren, sie benötigten jetzt dafür eine Genehmigung – einen Passierschein. Zwar stellten diese Aktionen nur einen Teil des Katalogs östlicher repressiver Maßnahmen dar, die ebenfalls das Grenzregime zwischen der DDR und der Bundesrepublik veränderten558, traf aber die West-Berliner besonders hart – insbesondere die Eigentümer von Parzellen, Erholungsgrundstücken und anderen Immobilien sowie von kleinen Gewerbebetrieben, die in den Berliner Randgebieten lagen. Zwar besaßen sie die Möglichkeit, über Passierscheine ihren Besitz im Brandenburgischen zu erreichen. Doch schränkte die Praxis das weitgehend ein. Leitet man von der Arbeit der in Ost-Berlin gelegenen Passierscheinstellen den Grad der Bereitschaft der SED ab, den Betroffenen wirklich zu helfen, kommt man zu einem negativen Urteil.559 Die Stimmung der Antragsteller wurde zwar genau erfasst560, führte aber 558 So wurde die innerdeutsche Grenze durch einen 10-m-Kontrollstreifen, einen 500-mKontrollstreifen und eine 5-km-Sperrzone abgeriegelt. Der von der DDR bisher geduldete kleine Grenzverkehr über die „grüne Grenze“ war nun nicht mehr möglich. 559 Der formlose Antrag wurde in der für das Reiseziel zuständigen Ost-Berliner Passierscheinstelle nebst ausgefülltem Fragebogen und zwei Lichtbildern entgegengenommen. Zunächst erhielt der Betroffene seinen Passierschein noch am Tag seines Ersuchens, schon bald aber erst am darauffolgenden Tag nach 16.00 Uhr. Im Durchschnitt wurden pro Stelle täglich etwa 300 Antragsteller gezählt. Allerdings häuften sich die Beschwerden darüber, dass West-Berliner vor geschlossenen Türen ständen – „trotz Schild“, man habe geöffnet. Bericht über Schutzmaßnahmen der DDR, 26.6.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 560 Die Antragssteller klagten über das oft stundenlange Warten und eben über die nicht eingehaltenen Öffnungszeiten. Ein West-Berliner bemerkte, dass es ihm nun „bald reicht. Über eine Stunde steht man hier wie ein Affe und kein Mensch sagt einem, ob man heute noch abgefertigt wird.“ Ein anderer äußerte: „Na, mit uns können sie es ja machen.“ Ein weiterer Antragssteller berichtete, er sei schon zum vierten Mal hier und säße jetzt schon mehrere Stunden im Warteraum. Eine West-Berlinerin, so der Bericht, habe lakonisch angemerkt, „zur Trauerfeier komme ich natürlich zu spät, aber die Urnenbeisetzung werde ich wohl noch schaffen. Das hat hier so lange gedauert, dass aus einem Schwerkranken inzwischen ein Toter wurde. Und die Toten werden nie wieder lebendig. Das vergesse ich denen hier nicht!“ Es häuften sich auch die Beschwerden über die anfallenden hohen Kosten und dass man die Passierscheine in Westgeld bezahlen müsse. „Ich denke, das ist hier

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zu keiner Änderung der bürokratischen Genehmigungsverfahren, sondern eher zu weiteren Verschlechterungen.561 Schließlich war es den etwa 45.000 West-Berliner Eignern überhaupt nicht mehr möglich, an ihren Ostbesitz zu gelangen, ihn zu nutzen und persönlich zu verwalten. Zwar enteignete ihn die DDR nicht formal, stellte ihn aber unter Treuhandschaft, was unter den obwaltenden Bedingungen faktisch Enteignung hieß. Nur in einigen Fällen gelang es West-Berlinern, für ihre Ostgrundstücke zunächst nichtstaatliche Verwalter zu finden. Doch bald erwies sich diese partielle Regelung ebenfalls als nicht mehr gangbar562, einschließlich ihrer finanziellen Konsequenzen.563 Die faktische Enteignung im Osten ließ die Flut derer anschwellen, die beim Senat um Rat und Tat baten. Da kaum jemand das demagogische Angebot der DDR annahm, vom Westen in ihre im Osten gelegenen Sommerhäuser und Lauben umzuziehen, forderten die verprellten Grundstücksinhaber den Senat auf, irgendwelche Schritte zu unternehmen, um wieder an ihren Besitz zu gelangen. Die West-Berliner Administration registrierte die Geschädigten und erreichte damit zunächst die Grenze ihrer Möglichkeiten. ein ungesetzliches Zahlungsmittel“, habe sich ein Antragssteller gewundert. „Es hieß doch jedenfalls immer so […]. Und auf einmal wollen sie es sogar haben. Na, das verstehe, wer will.“ Die Berichterstatter des Magistrats bemerkten abschließend, dass sämtliche Bemerkungen bei vielen Antragstellern „allgemeine Zustimmung“ hervorriefen. Man habe gelächelt und gemeint, mit uns könne man es ja machen, hier sei man machtlos, „aber es wird schon anders werden, dann werden wir ja sehen.“ Ebd. 561 Besonders seien die Angestellten der Passierscheinstellen verärgert darüber gewesen, dass die West-Berliner „keinerlei Verständnis für die Notwendigkeit der Sicherheitsmaßnahmen (hätten)“ und nur ihren „persönlichen Kummer oder Ärger“ sahen. Absolut niemand habe mit der östlichen Position sympathisiert. Ebd. 562 Mit der DDR-Regierungsverordnung vom 17.7.1952 waren staatliche Treuhänder eingesetzt worden. Diese Regelung erfuhr nach dem 17. Juni 1953 in der Art eine vorübergehende Liberalisierung, als Westeigentum nur so lange öffentlich verwaltet wurde, bis der Eigentümer die Einsetzung eines DDR-Verwalters seiner Wahl beantragt hatte. Jedoch bestimmte eine neue Verwaltungsordnung (1.12.1953), dass alle bisherigen vom Eigentümer Bevollmächtigten wieder zu „entfernen“ und durch Verwalter zu ersetzen seien, „die für diese Tätigkeit besonders geeignet sind“. Die Beurteilung dessen stand dem zuständigen Rat des Kreises zu, der auch das Recht der Zwangsverwaltung durch Treuhänder oder „Abwesenheitspfleger“ erhielt. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 26. 563 Seit 1955 verlangten die Ostverwaltungen „in vielen Fällen“ die Zahlung von Steuern und Gebühren für die Westgrundstücke in Westmark. Zunächst weigerte sich die WestBerliner Zentralbank, Überweisungen von Westmarkbeträgen in den Osten zu genehmigen, fand sich dann aber mit diesem Transfer ab. Da etwa die Hälfte der Grundstücksbesitzer in schwierigen finanziellen Verhältnissen lebte und die Ostverwaltungen ihre Stundungsgesuche prinzipiell ablehnten, gerieten die Betroffenen in Schwierigkeiten. Sie endeten oft mit der Aufgabe ihres Eigentums. Vgl. ebd.

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Die Betroffenen resignierten, wie die diskreten Beobachter der SED feststellten564, bildeten dann aber schnell Interessenverbände, die in West-Berlin auf eine Entschädigung für ihr verlorenes Eigentum drängten.565 Dazu sah sich der immer wieder in die Kritik geratende Senat zunächst nur in Ausnahmefällen in der Lage. Gegenmaßnahmen schienen umso mehr geboten, als die DDR seit Juni 1952 die Kleinbetriebe566 von West-Berlinern auch formal enteignete und deren Inhaber sowie auch andere ihre Verluste geltend machten.567 Die Gesamtbilanz enthielt nicht die in Ost-Berlin gelegenen Wohnhäuser und Grundstücke, die als Westeigentum von der volkseigenen Wohnungsverwaltung des Magistrats ab 1952 schrittweise in Treuhand genommen wurden.568 Bei allem übersah die SED, dass viele brandenburgische Ortschaften, wie Potsdam, Glindow und Werder, beliebte Ausflugsziele auch der West-Berliner gewesen waren, deren Ausbleiben die Kommunen wirtschaftlich erheblich schädigte. Kurzfristig verödeten im Randberlin 564 Alle gingen davon aus, dass sie ihre Grundstücke für längere Zeit oder gar für immer nicht mehr nutzen könnten. Einige befürchteten auch eine formale Enteignung. Vgl. Berichte (Finzel und Aderhold), 13.6. und 27.6.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 565 Vgl. Eingabe des deutschen Siedlerbundes, Landesverband Berlin, an den Senat, 4.5.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2069. Man erbat sich zwar „Hilfen und Entschädigungen“, bezeichnete jedoch die „ordnungsgemäße Rückgabe des geraubten Eigentums“ als „primäres Ziel“. Senat und Abgeordnetenhaus wurden heftig kritisiert, weil sie sich angeblich darum nicht kümmerten. 566 Der in Zepernick bei Bernau ein gutgehendes Fotogeschäft (Fotohandel, Fotokopieranstalt und Fotoatelier) besitzende, in West-Berlin wohnende Hans Kosinski schilderte, dass er seit dem 31.5.1952 seinen Betrieb (mit 14 Angestellten) nicht mehr betreten durfte, diesen nur kurzfristig über Vertrauensleute aufrecht erhalten konnte und Anfang Juli 1952 auch formal enteignet wurde. Plötzlich sei er völlig mittellos und auch ohne jede West-Berliner Unterstützung gewesen. Das Beispiel stand für viele Kleinunternehmer. Vgl. Schreiben von Kosinski an das Büro für Gesamtberliner Fragen, Carlbergh, 11.7.1952, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2077. 567 Der Interessenverband West-Berliner Grundstücks- und Geschäftseigentümer (Ostgeschädigte) e.V. verwies auf diejenigen, die durch „Enteignungswellen“ und „Pankower Absperrmaßnahmen“ Industriebetriebe, Geschäfte sowie Haus- und Grundbesitz verloren hätten. Sie seien zu „Opfern des Kalten Krieges“ geworden, „ohne aber als solche anerkannt zu werden“. Insgesamt seien 45.000 Familien betroffen. (Mit 1.400 Industriebetrieben, 8.000 Wohnhäusern, 20.000 Siedlungs- und Wochenendhäusern, 200 Büro- und Geschäftshäusern, 94.000 Stallungen, 200 Äcker und Wiesen sowie 200 Schiffen). „Die Welt“, 17.5.1955. 568 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 1151, 30.10.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 871, Bl. 44. Über die Gesamtanzahl der in Ost-Berlin staatlich verwalteten Wohnungen liegt dem Vf. nur eine Angabe (Sept. 1956) zum Stadtbezirk Mitte vor. Von etwa 15.000 Wohnungen seien ca. 20 Prozent Westeigentum gewesen. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 8.

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ganze Siedlungen.569 Konnten damit zusammenhängende Probleme nach einiger Zeit auch behoben werden, durften DDR-Regierung und SED nicht darauf hoffen, dass die West-Berliner sich mit den Repressionen so einfach abfänden.570

4.2 Die „Vergeltung“ des Westens Dass Senat und Öffentlichkeit zu Gegenmaßnahmen entschlossen sein könnten, lasen die Verantwortlichen in Ost-Berlin zunächst an der Stimmung der WestBerliner Arbeiterschaft ab. Die Informanten des Magistrats registrierten Erbitterung über die „Schutzmaßnahmen“ der DDR wie aber auch die Erwartung, dass nun sowohl die Schutzmächte als auch der Senat reagierten.571 Einem Dringlichkeitsantrag der SPD-Fraktion stattgebend, erklärte das Abgeordnetenhaus am 3. Juli 1952, dass Zwangsverkäufe oder Enteignungen von West-Berliner Besitz im Ostsektor oder in der Ostzone „rechtlich unwirksam“ seien. Aktionen folgten in zwei Richtungen: Erstens sollten die Namen derjenigen Ostdeutschen im Polizeiund Verwaltungsdienst veröffentlicht werden, „die sich in besonderem Maße bei den Schikanen gegen Westberlin hervortun“ – unter gleichzeitiger Bekanntgabe ihrer Unrechtshandlungen. Zweitens seien die Namen der westsektoralen Gewerbetreibenden, die unter Umgehung der Interzonenhandelsvorschriften illegal Waren aus dem Ostsektor einführten, ebenfalls bekanntzugeben. Sie seien überdies „dazu zu verurteilen, diesen Tatbestand durch Aushang in ihren Geschäften der Öffentlichkeit mitzuteilen“. Aber auch die Namen solcher West-Berliner, die „ohne Not“ als „Ostkäufer“ figurierten, „seien gleichfalls durch Veröffentlichung in ihrem Wohnbezirk der Bevölkerung bekanntzumachen“. SPD und Senatskanzlei prüften zwei weitere repressive Maßnahmen: Schritte gegen kommunistische Sympathisanten sowie gegen SED-nahe Nutzer von Garten- und Laubengrundstücken in West-Berlin.572 Sie beriefen sich dabei auf die Forderung der empörten West-Berliner nach „Vergeltung“, die von ihrer Presse konfrontativ kommentiert wurde.573 Seitens der Politik setzte sich der sozialde569 So waren beispielsweise in Körbiskrug (bei Königswusterhausen) von den 300 Siedlern 80 Prozent West-Berliner. Schnell rückten Leute aus dem Osten nach. Vgl. ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. Vgl. dazu auch Steinecke, Freizeit in räumlicher Isolation, S. 115–117. 570 Bericht, Amt für Information, 29.7.1952, in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5589. 571 Bericht (Finzel): „Schutzmaßnahmen der DDR. Arbeitsamt Sonnenallee“, 6.6.1952, in: ebd. 572 Senatskanzlei: „Betr. Dringlichkeitsantrag der Fraktion der SPD über Gegenmaßnahmen gegen Schikanen der Sowjetzonen 1952“, 3.7.1952, in: ebd., B Rep.002, Nr. 7892. 573 Vgl. „Berliner Anzeiger“, 4.7.1952. Die Tageszeitung berief sich auf Lipschitz: Die Bevölkerung erwarte eine „politische Aktion“. Würde man sie nicht durchführen, könnte das als Schwäche ausgelegt werden. Man befinde sich „in einer Kampf- und Frontsituation“.

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mokratische Abgeordnete Joachim Lipschitz an die Spitze der Bewegung.574 Senat und Bezirksbürgermeister diskutierten verschiedene Vorstellungen über Exmittierungen von SED-Parteigängern, Grundstückskündigungen, Ausweisungen u.a.m.575, stießen jedoch auf erhebliche rechtliche und technische Bedenken.576 Auch Reuter teilte sie.577 Aber selbst der Beschluss des Abgeordnetenhauses vom 574 Lipschitz war zu diesem Zeitpunkt Bezirksrat für Finanzen in Neukölln. Er plädierte u.a. für den Ausschluss der Kommunisten vom Lohnausgleichsverfahren. 575 Der „Rat der Bürgermeister“ diskutierte die Information des Senators für Bau- und Wohnungswesen, demnach man nur die Kleinpachtverordnung so verändern könne, „dass die rechtliche Möglichkeit geschaffen wird, Anhängern der östlichen Ideologien, die Kleingärten, Kleingärtengrundstücke der öffentlichen Hand bewirtschaften, durch Kündigung zu entfernen“. Einigen Bürgermeistern – so Willy Kressmann aus Kreuzberg – ging es aber auch darum, solchen Personen die Wohnungen zu kündigen und sie dann aus WestBerlin auszuweisen. Die Bürgermeister wollten diese Sache aber als „streng vertraulich“ behandelt wissen. Schreiben des Bezirksbürgermeisters von Schöneberg an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 19.9.1952, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 7892. Das Büro sah die einzige Möglichkeit für Exmittierungsmaßnahmen im § 2 des West-Berliner Mietschutzgesetzes. Es bestimmte, dass ein Hauswirt beim Gericht Räumungsklage beantragen kann wegen „erheblicher Belästigung“. Dafür sei aber Vorraussetzung, „dass der Betreffende sich z.B. als Propagandist zu erkennen gegeben hat, indem er vielleicht in seinen Wohnräumen illegale Mitgliederversammlungen der SED stattfinden lässt und so das seinige tut den Frieden der Hausgemeinschaft zu stören“. Aber in diesem Falle müsse er seine Wohnung, jedoch nicht West-Berlin verlassen. Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen (Völcker) an den stellv. Bgm. Schmiljan, 1.10.1952, in: ebd. 576 Die Frage, ob es möglich sei, die der östlichen Ideologie anhängenden Grundstücksbesitzer zu ermitteln – gleichviel wo sie wohnen – setze eine genaue Kenntnis der Anschriften der Hausbesitzer West-Berlins voraus, meinte das Büro für Gesamtberliner Fragen. „Nach einem Versuch über das Grundbuchamt an das von uns erwünschte Adressenmaterial heranzukommen, erscheint diese Möglichkeit nunmehr nur noch über die Währungsüberwachungsstelle zu bestehen.“ Das sei aber schwierig und zeitaufwändig. Aktennotiz des Büros (Pflamm), 28.10.1952, in: ebd., Nr. 7853. 577 In einem Schreiben an Reuter hatte die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) „Vergeltungsmaßnahmen gegen die Enteignungsaktion der Ostsektor-Verwaltung“ angeregt und die „Beschlagnahme von Grundstückseigentum kommunistischer Funktionäre“ verlangt, die in West-Berlin wohnen. Der Reg. Bgm. antwortete, dass eine „Beschlagnahmeaktion“ die Gefahr mit sich bringe, „dass Denunziationen Tür und Tor geöffnet werden und nicht genügend überlegte Gegenmaßnahmen in größerem Ausmaße westlich eingestellte Grundstücksbesitzer und Kleinsiedler dann auch in den Randgebieten Berlins treffen, auf deren Verbleiben Wert gelegt werden muss …. Eine Mitgliedschaft in der SED bietet keine rechtliche Handhabe für die Beschlagnahme von Grundstücken, denn ebenso wie die Zugehörigkeit zur SPD im Ostsektor ist die Mitgliedschaft in der SED in Westberlin erlaubt.“ Auch verhalten sich die kommunistischen Exponenten an ihren Wohnsitzen als „ruhige Bürger“. Die Möglichkeit, ihnen die Wohnungen wegen Störun-

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3. Juli – eigentlich eine Kombination von strafendem „An-den-Pranger-Stellen“ mit abschreckender Repressalie – ließ sich rechtstaatlich nicht verwirklichen. Flankierende Maßnahmen gegen Personen, die illegal Waren aus dem Osten einführten, verliefen, wie noch zu sehen sein wird, nach einigen Ansätzen im Sande. Hier baute sich schon insofern ein Hindernis auf, als der Wechselkurs Westmark-Ostmark es allen Berlinern ermöglichte, bestimmte Warenmengen nach West-Berlin zu verbringen. Mehr Aussicht auf Erfolg besaß die Absicht, SEDnahe Grenzgänger von Ost- nach West-Berlin von dem für sie günstigen offiziellen Lohnausgleich auszuschließen. Verordnungen über den Ausschluss vom Lohnausgleichsverfahren aus politischen Gründen bestanden bereits seit Mitte 1949.578 Das entsprach dem Beschluss des Abgeordnetenhauses, Verfechter der östlichen Ideologie nicht mehr durch öffentliche Mittel zu unterstützen. Doch ließ sich die Frage schwer beantworten, wer denn konkret zu diesem Personenkreis gehöre. Eine Verschärfung der „Vergeltung“ wurde weiterhin von West-Berliner Kommunalpolitikern betrieben.579 Das warf aber in der folgenden Zeit ebenfalls schwierige Rechtsfragen auf und bot der SED zudem einen „Beweis“ für ihre These von der demokratiefeindlichen und unsozialen Westverwaltung. Als noch schwieriger erwies es sich, den Beschluss des Stadtparlamentes zu realisieren, an den Schikanen besonders beteiligte Ost-Berliner „vorzuführen“. Abgesehen von den Schutzmaßnahmen der anderen Seite stellten die mit einer Materialzusammenstellung beauftragten westsektoralen Bezirksämter resignativ fest, dass diese

gen des Hausfriedens zu kündigen, wäre von den Gerichten nicht gesehen worden, würde wohl auch seitens der Hausbesitzer kaum erwogen. Die beabsichtigte generelle Regelung in der Frage östlich eingestellter Siedler habe sich bereits „nach Angaben der Kleingartenämter und des Zentralverbandes der Kleingärtner als ein Fehlschlag herausgestellt.… Wenn überhaupt Möglichkeiten für eine gewisse Wiedervergeltung bestehen, so sehe ich sie bei ostzonalen Behörden, die Grund- und Hausbesitz in Westberlin haben.“ Deshalb habe er seine diesbezügliche „einwandfreie Statistik“ über Ostbewohner mit WestBerliner Haus- und Grundbesitz, vor allem aber der „ostzonalen Behörden“, in Auftrag gegeben. Schreiben von Reuter an die DAG, 21.10.1952, in: ebd., Nr. 7853. Daraufhin liefen geforderte Informationen ein – beispielsweise über den West-Berliner Hausbesitz des Schriftstellers Arnold Zweig. Sie blieben jedoch ohne die angekündigten Konsequenzen. Vgl. Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen an Bezirksbgm. Batzel (Charlottenburg), 10.11.1952, in: ebd. 578 Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 115–129. 579 Hier war der eigenwillige SPD-Bürgermeister von Kreuzberg Kressmann (Spitzname: „Texas-Willy“) federführend. Er bediente sich dabei nicht schlechthin unkonventioneller Mittel, sondern gegenüber den des Kommunismus Verdächtigten geradezu inquisitorischer Befragungsmethoden und rigider sozialpolitischer Mittel. Aber auch Lipschitz bediente sich ihrer. Vgl. ebd. S. 140f.

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Aufgabe technisch kaum lösbar sei.580 Schließlich waren „einige wenige Namen“ von Ost-Berliner Staatsanwälten sowie offiziellen Mitarbeitern des MfS und des DDR-Innenministeriums gesammelt581, doch besaß das für sie kaum eine Bedeutung: Sie kamen nicht nach West-Berlin, und dass die Meisten der Genannten sich an den Handlungen größtenteils von Amts wegen beteiligten, war nicht unbekannt. Auch lief die West-Berliner Drohung, sie würden sich bei einer späteren Wiedervereinigung zu verantworten haben, eher ins Leere. Hingegen musste es das Image derjenigen treffen, die in Ost-Berlin im Geheimen als Informanten und Zuträger arbeiteten. Bei ihrer durchaus wirksamen Enttarnung spielte, wie schon angedeutet, die „ständige Abstimmung“ von Senatsstellen mit der KgU und den „Freiheitlichen Juristen“ eine Rolle.582 Insgesamt jedoch zeitigte die West-Berliner „Vergeltungs“- und Abschreckstrategie nicht die erhofften Ergebnisse. In gewisser Weise war das auch das Ergebnis eines Lernprozesses: Politische Probleme ließen sich nicht unter Suspendierung legaler Mittel und in einem „rechtsverdünnten“ Raum lösen; auch würden sich fragwürdige Methoden583 letztendlich gegen die offene Gesellschaft wenden. Insofern befand sich die bürgerliche Rechtsstaatlichkeit in einem Konflikt mit den Bedürfnissen des Kalten Krieges. Wenn dennoch von Wirkungen der gegen die SED-Diktatur gerichteten Gegenmaßnahmen die Rede sein kann, waren sie ambivalent: Zum einen hatte WestBerlin in den Augen vieler seiner Bürger zumindest die Entschlossenheit gezeigt, östliches Unrecht nicht einfach hinzunehmen. Dabei galt, dass politische Argumente und Moral offensivfähig seien. Doch wirkte sich negativ aus, dass die WestBerliner Gegenaktionen – auch die lediglich geplanten – seit Juni 1952 zum Berliner Propagandakrieg584 beitrugen und damit zur Eskalation der Konfrontation. Ebenso unerwünscht war, dass die SED die West-Berliner Reaktion zum Anlass für weitere repressive und die Stadt spaltende Maßnahmen nahm.

580 Vgl. Schreiben des Bezirksamtes Kreuzberg an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 10.9.1952, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 7892 581 Schreiben von Völcker an Schmiljan, 1.10.1952, in: ebd. 582 Aktennotiz des Büros für Gesamtberliner Fragen, 18.7.1952, in: ebd. 583 Es mehrten sich die auch von Reuter befürchteten Denunziationen über angebliche von Kommunisten durchsetzte Laubenkolonien, die auch als Stützpunkt für Propagandamaterial bezeichnet wurden u.a.m. Schreiben des Polizeipräsidenten von Berlin, Abt. IV, an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 9.2.1954, in: ebd., Nr. 7853. 584 Roggenbuch schilderte anschaulich den Innerberliner publizistischen Schlagabtausch als Katalysator für neue Konfrontationen. In der Tat waren die Eskapaden der „Kampfpresse“ kaum noch zu überbieten. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S.141.

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4.3 Die fatale Wechselwirkung zwischen antikommunistischer Hysterie und „Klassenkampf“ Die Ost-Berliner standen den Sperr- und Enteignungsmaßnahmen ihrer politischen Führung kritisch bis ablehnend gegenüber. Die Repressionen beeinträchtigten häufig auch ihr Alltagsleben, zumindest hatten viele unter ihnen in WestBerlin Freunde und Verwandte, die das SED-Vorgehen auf die eine oder andere Art betraf. Andere zeigten sich über die Zukunft Berlins besorgt. Dazu gehörten auch diejenigen Ost-Berliner, die im Westteil der Stadt ebenfalls Grundstücke und Häuser besaßen.585 Sie fragten sich angesichts der Enteignung im Osten, ob nicht als Reaktion darauf Gleiches mit Gleichem vergolten werden würde. Am stärksten schien die Grenzgängerei von Ost nach West gefährdet. Denn als die Verwaltung in Ost-Berlin ab Sommer 1952 allen dort tätigen West-Berlinern eine Übersiedlung nahelegte586, dem aber nur wenige folgten, drohten ihnen Sanktionen der SED. Wie noch zu sehen sein wird, verband die Partei den gewünschten Abfluss dieser „Unzuverlässigen“ mit einer Kampagne gegen den Kauf von Waren im Osten.587 Offensichtlich war auch sie als eine Antwort auf die West-Berliner Gegenaktionen gedacht, entsprang aber auch systeminternen Interessen. Im Zuge des Schlagabtausches wuchsen Kontrollen und Schikanen auch gegenüber bundesdeutschen West-Berlinbesuchern an. Zwar bekundete der Magistrat nationale Verantwortung und suchte den Kontakt zu ihnen, aber jetzt offenbar viel stärker in der Absicht, über sie gesammelte Daten für die „weitere Auswertung“ zu nutzen.588 Die West-Berliner Auseinandersetzung mit den Ost-Berliner Willkürmaßnahmen erhielt noch einmal einen kräftigen Impuls, als Mitarbeiter des MfS den West-Berliner Juristen Walter Linse nach Ost-Berlin entführten, der im Auftrage des UFJ wiederholt SED-Unrechtsakte angeprangert hatte. Angesichts dieses kriminellen Aktes kochte in West-Berlin der „Volkszorn“ über. Etwa 30.000 Menschen forderten am 8. Juli 1952 vor dem Schöneberger Rathaus die sofortige Freilassung Linses. Reuter hielt eine emotional aufgeladene Rede, in der er genau

585 Genaue Zahlen fand der Vf. nicht. Für März 1957 waren dem Senat ca. 2.000 im Osten lebende Eigner von Grundstücken in West-Berlin gemeldet worden. Schreiben des Finanzsenators an den Senator für Inneres, 16.3.1959, in: ebd., B Rep.004, Acc. 1650, Nr. 24/1. 586 Insbesondere von „Spezialisten, Wissenschaftlern, Künstlern, Kulturschaffenden und Gelehrten“. Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 136. 587 Vgl. ebd., S. 139. 588 Vgl. „Bericht über die Arbeitsbesprechung des Referats Friedens- und Planpropaganda“, 28.6.1952, in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5270.

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die Gegenmaßnahmen ankündigte589, die er intern ablehnte. Das Stadtoberhaupt argumentierte dabei unter vorrangig sicherheitspolitischem Aspekt. Es kam an bei den West-Berlinern, wenn er als mögliche Gegenmaßnahme bei einer weiteren Zuspitzung der Situation Straßensperren und Schlagbäume an wichtigen Punkten der Sektorenübergänge und die technische Verbesserung der Polizeitruppe ankündigte sowie „die Bewaffnung der Mitglieder unserer Kampftruppen […] und sonstg. [sonstiger] freiheitlicher Organisationen“. Das klang martialisch und sollte es auch sein. Die Kundgebung demonstrierte jedenfalls Einmütigkeit und Abwehrentschlossenheit.590 Die SED fühlte sich provoziert. In ihren Augen war der Fall Linse nur ein Aufhänger für den Westen, um gegen den „demokratischen“ Aufbau Ost-Berlins noch systematischer vorgehen zu können. Tatsächlich stellte die politische Affäre Linse eine Art Pendant zum Fall Kamieth dar. Beide waren, so unterschiedlich sie schienen, Marksteine der Innerberliner Konfrontation und Katalysatoren des regionalen Kalten Krieges. Die Westmedien verbreiteten in der Folge immer neue Informationen sowohl über den Fall Linse als auch über neue Drangsalierungen West-Berlins; der Osten leugnete sie vehement, hielt aber an Enteignungen591 sowie an der Taktik der „Nadelstiche“ fest.592 Doch reagierte die 589 „Kommunistische Sammelbecken, wie bestimmte Laubenkolonien“ wolle er ausräumen; „die Ausgabe öffentlicher Mittel (Unterstützung, Rente, Geldumtausch) an alle Kommunisten wird eingestellt werden müssen, der Wohnraum, über den sie noch verfügen, wird von Maßnahmen betroffen werden, alle SSD-Agenten, deren wir habhaft werden können, werden unnachsichtig zur Verantwortung gezogen, unseren Juristen müssen wir bei grundsätzlichen Entscheidungen nachhelfen, aus öffentlichen Geldern werden wir Belohnungen aussetzen für Menschen, die bei der Ergreifung von SSD-Leuten, sonstigen Spitzeln […] beteiligt sind […]. Und wer für das Sowjetregime schwärmt, soll auch ins Paradies gehen. Wir hindern niemand daran, uns zu verlassen, im Gegenteil, wir sind froh, wenn wir diese Unruhestifter endlich los sind.“ Bericht (Finzel und Aderhold), 11.7.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 590 Die SED-Vertrauensleute berichteten ihren Auftraggebern sachlich: Die Kundgebungsteilnehmer seien mit Reuters Ausführungen einverstanden gewesen, er habe ständig Beifall und bejahende Zwischenrufe erhalten, und Pfuirufe ertönten immer dann, wenn von der SED- und Magistratspolitik die Rede war. Ebd. 591 So startete die SED-Bezirksleitung Anfang 1953 eine Aktion zur Registrierung von Booten, Kähnen und anderen Wasserfahrzeugen von West-Berlinern. Sie ordnete an, Boote von Arbeitslosen, Rentnern und Unbemittelten nach West-Berlin „auszuschwimmen“, aber solche von „Gewerbetreibenden, Handwerkern, Unternehmern oder aus einem ähnlichen Personenkreis, in der Mehrzahl also gutes Bootsmaterial“ zu beschlagnahmen. Diese Wasserfahrzeuge sollten „nach dem Zeitwert taxiert“ und verkauft werden. Abteilung Leitende Organe der Partei, Sektor Sport: „Betr. Regelung und Verwertung der sichergestellten Sportboote von Westberlinern“ (für Jendretzky), 13.4.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1362.

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SED Berlins erkennbar verunsichert. Wirtschaftliche Probleme mehrten sich, und die Ost-Berliner artikulierten soziale und politische Unzufriedenheit nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand. Im letzten Drittel des Jahres 1952 wurden erste spontane Streiks in Ost-Berliner Betrieben bekannt.593 Sie, wie entsprechende Gegenmaßnahmen, standen im Zusammenhang mit dem von vielen als eine „Wurzel des Übels“ betrachteten umfassenden Aufbau des Sozialismus, den die SED auf ihrer II. SED-Parteikonferenz im Juli 1952 verkündet hatte. Zeitgleich setzte der erhöhte Druck aus West-Berlin ein.594 Er war für die SED ein Ausdruck für die „gesetzmäßige“ Eskalation des „Klassenkampfes“ beim Übergang in die sozialistische Entwicklungsetappe und trug zur Verschärfung ihres rigiden Sicherheitskurses bei. Anlass dafür boten immer wieder sowohl „Hetzschriften des Geg592 Im zweiten Halbjahr 1952 mehrten sich Informationen über Beschlagnahmungen der VP von Geld und Waren aus West-Berliner Besitz sowie von Willkürakten gegen westsektorale Autofahrer auf den Straßen im anderen Teil der Stadt. Vgl. Information der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe, 18.12.1952, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 8631/1. 593 Im Berliner Glühlampenwerk wurde die wöchentliche Arbeitszeit ohne Vorankündigung von 45 auf 48 Stunden erhöht. Aus Protest darüber „hielten die Arbeiter bei Schichtwechsel die Maschinen an, so dass etwa anderthalb Stunden nicht gearbeitet wurde. […] Ungefähr 140 Kollegen waren daran beteiligt. Im VEB Fortschritt-Werk III (Textilproduktion) versuchte die Betriebsleitung, für die dort beschäftigten Frauen neue Arbeitsnormen, die für sie einen „wesentlich niedrigeren Verdienst“ bedeuteten, „administrativ einzuführen“. 100 Arbeiterinnen legten daraufhin die Arbeit nieder „und waren nur schwer zu bewegen, diese wieder aufzunehmen“. Aus der Hauptwerkstatt Omnibus Treptow wurde eine Protestveranstaltung und ein zweieinhalb Stunden dauernder Streik der Beschäftigten als Folge von angekündigten Verschlechterungen ihrer „Privilegien“ (Treueprämie, Ruhegeld, Mietszuschuss, freie Fahrt auf BVG-Linien) gemeldet. Arbeiter anderer Großbetriebe kündigten wegen der „Ausarbeitung neuer Arbeitsnormen“ ihr Arbeitsverhältnis. Als bei der Bau-Union Berlin drei Beschäftigte einer Arbeitsnormerhöhung freiwillig zustimmten, seien sie von ihren Kollegen krankenhausreif geschlagen worden. In anderen Fällen hätten Arbeitsniederlegungen gerade noch verhindert werden können. Die SED-Bezirksleitung machte für diese Tendenz „das falsche Verhalten“ von Betriebsfunktionären verantwortlich, aber auch den Einfluss des RIAS. Sie zeigte sich überdies empört über Betriebsangehörige, die sich „dazu hergeben eine solche Bewegung zu organisieren“. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL Berlin: „Bericht über Störungen in einigen Betrieben des demokratischen Sektors von Groß-Berlin“, 7.11.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 443. 594 Die Psychose, gegen „Spione, Agenten, Saboteure und Diversanten“ pausenlos kämpfen zu müssen, brachte die SED-Direktive mit sich, „unverzüglich Überlegungen anzustellen, welche Einrichtungen sehr wichtig sind“. Sie seien „besonders zu schützen“. Deshalb müssten die Werktätigen in den Betrieben „ihre Maschinen und Einrichtungen in persönlichen Schutz nehmen“. SED-Kreisleitung Köpenick: „Köpenicker Plan“, 26.8.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 166, Bl. 158.

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ners“595 und der Verdacht, er dringe systematisch in die Berliner SED und die Massenorganisationen ein596, als auch vermehrt Meldungen über tatsächliche oder vermeintliche Sabotageakte in Ost-Berliner Betrieben. Dabei entwickelte sich die Tendenz, alle für Produktionsstörungen und Sachbeschädigungen verantwortliche Ursachen – auch „Schlampereien“ und Unfälle – als gezielte politische Schädlingsarbeit zu deuten.597 Das fiel der SED-Landesleitung umso leichter, als die Westpresse, teilweise mit unterschwelliger Schadenfreude, über besonders heikle Sabotagefälle in Ost-Berliner Betrieben berichtete.598 In gewisser Weise ein leichtes Opfer ihres Sicherheitssyndroms, sah sich die SED in ihrer Anschauung bestätigt, dass die Hauptschuldigen an den östlichen Misserfolgen in West-Berlin säßen. Als der Vorsitzende der SKK, Armeegeneral Tschuikow, von den Hohen Kommissaren der drei Westmächte am 1. Oktober 1952 die sofortige Schließung aller „Spionage-, Diversions- und Terrorzentralen“ in West-Berlin und die Einstellung ihrer Tätigkeit gegen den demokratischen Sektor von Berlin forderte, eröffnete er damit eine neue propagandistische Offensive, die der SED jedoch keine Entlastung brachte. Im Gegenteil fühlten sich die antikommunistischen Organisationen jenseits der Sektorengrenzen in ihrer subversiven Arbeit bestätigt. Das wiederum spornte die Ost-Berliner Führung sowie ihre Sicherheits- und Justizorgane zu einer noch härteren Praxis gegen Vergehen an, die häufig post factum, durch fantasievolle Konstruktionen, zu politischen Straftaten umgedeutet wurden und die Beschuldigten „als imperialistische Agenten“ erscheinen ließen.599 Zum 595 Vgl. „Bericht über die Realisierung der Beschlüsse der II. Parteikonferenz“, 30.10.1952, in: ebd., Nr. 275. 596 Die zahlreichen Berichte über „Einschleusungen“ von feindlichen Agenten in die SED und die Massenorganisationen – auch in deren West-Berliner Gliederungen – erinnern in Vokabular und Stil an die Sprache der stalinistischen „Säuberungen“ im Osteuropa der Nachkriegszeit. Vgl. insbesondere: „Bericht über Versuche des Klassenfeindes, Agenten in unsere Massenorganisationen und Partei einzuschleusen und zu provozieren“, in: ebd., Nr. 443. 597 Beispielsweise brannte am 24.10.1952, verursacht durch Funkenflug bei Schweißarbeiten, das Dachgeschoss des Schweinestalls im Volkseigenen Gut (VEG) Schönerlinde ab. Die Sicherheitsorgane gingen sofort von Sabotage aus und verhafteten den Schweißer. Es seien 800 m² des Daches restlos vernichtet worden, hieß es, und ein Schwein sei „bei den Löscharbeiten ertrunken“. Sekretariat Bruno Baum, Aktenvermerk, 4.11.1952, in: ebd. 598 So habe die West-Berliner Tageszeitung „Telegraf“ mit „besonderer Schadenfreude“ vom Textilwerk Fortschritt III in Ost-Berlin berichtet, wo immer wieder Kleider zerschnitten wurden. Vgl. Schreiben der SED-Landesleitung (Jendretzky) an die Verwaltung für Staatssicherheit (Fruck), 28.7.1952, in: ebd. 599 1952 verurteilten die Ost-Berliner Gerichte gehäuft wegen „Erfindung und Verbreitung friedensgefährdender tendenziöser Gerüchte“. Gerade Jugendliche wurden auch des „friedensgefährdenden Verhaltens“ oder des „Vergehens gegen den Frieden“ bezichtigt, teils

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System von politisch motivierter Bestrafung und Abschreckung gehörte die „massenwirksame“ Auswertung von Strafprozessen; geeignete Verfahren sollten – als eine Art „Schauprozesse“ – nicht nur öffentlich geführt, sondern verstärkt in Belegschaftsversammlungen und durch die „demokratische Presse“ ausgewertet werden. Im Anschluss an die parteiinternen Diskussionen im zweiten Halbjahr 1952 fand Anfang 1953 in Ost-Berlin eine „Vereinfachung“ statt: Nach den Untersuchungen durch Polizei und Sicherheitsorgane müsse der Generalstaatsanwalt für die Eröffnung von wichtigen Berliner Prozessen „die Genehmigung der B.L. [der SED] einholen, während für weniger wichtige Prozesse die Genehmigung durch die Kreisleitung erfolgen kann“. Eigentlich, so hieß es, habe der Generalstaatsanwalt die von der Partei beschlossenen Prozesse „lediglich zu bestätigen“.600 Im Umfeld der „Schutzmaßnahmen“ gegen West-Berlin und der ebenfalls konfrontativen Reaktionen seiner Politiker hatte sich das politische Klima im geteilten Berlin erheblich verschärft. Nervosität herrschte auf beiden Seiten.

5. Der 17. Juni 1953 als Gesamtberliner Erfahrung 5.1 Der „Neue Kurs“ und die Krise aus West-Berliner Sicht Die West-Berliner fanden, nachdem sich die unmittelbare Erregung über die DDR-Schikanen gelegt hatte, relativ schnell zu ihrer im Alltag bewährten Gelassenheit zurück. Einige praktische Maßnahmen des Westens601 trugen dazu mehr bei als kämpferische Reden und Vergeltungspläne. Allmählich begann sich auch die wirtschaftliche und soziale Lage im westlichen Stadtstaat zu verbessern. Anders sah es in Ost-Berlin aus, das immer enger in die DDR eingebunden wurde und deshalb auch bei ihrer sich seit Mitte 1952 entwickelnden Systemkrise als Teil eines Ganzen figurierte. Nicht der Beschluss über den Aufbau des Sozialismus an sich, sondern die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen stürzten die ökonomisch wegen „loser“ politischer Redereien, teils auch in Verbindung dieser mit „rowdyhaftem“ Verhalten. Die gegen sie verhängte Strafe betrug durchschnittlich neun Monate bis drei Jahre; ältere Arbeiter und Gewerbetreibende erhielten für diese Vergehen bis zu sechs Jahre Haft. Vgl. ebd., C Rep. 108, Nr. 52. Weitere Prozessunterlagen finden sich in den Bänden 53, 54 und 56. 600 Vorlage der Abteilung Staatliche Verwaltung der SED-BL für das Sekretariat der BL, 14.3.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 165, Bl. 94. 601 Im Januar 1953 wurde in Spandau die einhunderttausendste Tonne Steinkohle eingelagert. Damit konnte die BEWAG die Westsektoren für sechs Monate versorgen. Reuter hielt eine Ansprache, in der er „diesen Kohlenvorrat als die beste Warnung gegen jedwede mögliche Absicht einer neuen Beeinträchtigung West-Berlins“ bezeichnete. „Der Tag“, 22.1.1953.

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System von politisch motivierter Bestrafung und Abschreckung gehörte die „massenwirksame“ Auswertung von Strafprozessen; geeignete Verfahren sollten – als eine Art „Schauprozesse“ – nicht nur öffentlich geführt, sondern verstärkt in Belegschaftsversammlungen und durch die „demokratische Presse“ ausgewertet werden. Im Anschluss an die parteiinternen Diskussionen im zweiten Halbjahr 1952 fand Anfang 1953 in Ost-Berlin eine „Vereinfachung“ statt: Nach den Untersuchungen durch Polizei und Sicherheitsorgane müsse der Generalstaatsanwalt für die Eröffnung von wichtigen Berliner Prozessen „die Genehmigung der B.L. [der SED] einholen, während für weniger wichtige Prozesse die Genehmigung durch die Kreisleitung erfolgen kann“. Eigentlich, so hieß es, habe der Generalstaatsanwalt die von der Partei beschlossenen Prozesse „lediglich zu bestätigen“.600 Im Umfeld der „Schutzmaßnahmen“ gegen West-Berlin und der ebenfalls konfrontativen Reaktionen seiner Politiker hatte sich das politische Klima im geteilten Berlin erheblich verschärft. Nervosität herrschte auf beiden Seiten.

5. Der 17. Juni 1953 als Gesamtberliner Erfahrung 5.1 Der „Neue Kurs“ und die Krise aus West-Berliner Sicht Die West-Berliner fanden, nachdem sich die unmittelbare Erregung über die DDR-Schikanen gelegt hatte, relativ schnell zu ihrer im Alltag bewährten Gelassenheit zurück. Einige praktische Maßnahmen des Westens601 trugen dazu mehr bei als kämpferische Reden und Vergeltungspläne. Allmählich begann sich auch die wirtschaftliche und soziale Lage im westlichen Stadtstaat zu verbessern. Anders sah es in Ost-Berlin aus, das immer enger in die DDR eingebunden wurde und deshalb auch bei ihrer sich seit Mitte 1952 entwickelnden Systemkrise als Teil eines Ganzen figurierte. Nicht der Beschluss über den Aufbau des Sozialismus an sich, sondern die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen stürzten die ökonomisch wegen „loser“ politischer Redereien, teils auch in Verbindung dieser mit „rowdyhaftem“ Verhalten. Die gegen sie verhängte Strafe betrug durchschnittlich neun Monate bis drei Jahre; ältere Arbeiter und Gewerbetreibende erhielten für diese Vergehen bis zu sechs Jahre Haft. Vgl. ebd., C Rep. 108, Nr. 52. Weitere Prozessunterlagen finden sich in den Bänden 53, 54 und 56. 600 Vorlage der Abteilung Staatliche Verwaltung der SED-BL für das Sekretariat der BL, 14.3.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 165, Bl. 94. 601 Im Januar 1953 wurde in Spandau die einhunderttausendste Tonne Steinkohle eingelagert. Damit konnte die BEWAG die Westsektoren für sechs Monate versorgen. Reuter hielt eine Ansprache, in der er „diesen Kohlenvorrat als die beste Warnung gegen jedwede mögliche Absicht einer neuen Beeinträchtigung West-Berlins“ bezeichnete. „Der Tag“, 22.1.1953.

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schwache DDR und Ost-Berlin in Turbulenzen. Zum einen riss die für 1952/53 nicht bilanzierte Schaffung einer „Nationalarmee“ neue Lücken in den Etat602, zum anderen wurde die Staatskasse durch die beginnende landwirtschaftliche Kollektivierung und den beschleunigten Aufbau einer eigenen Schwerindustrie belastet. Auch die Umwandlung der Länder in Bezirke und das bereits erwähnte erweiterte Grenzsicherungssystem kosteten Geld. Ebenfalls negativ wirkte sich der neue Schub von Verstaatlichungen in der ostdeutschen Wirtschaft aus.603 Ab Herbst 1952 gingen die staatlichen Organe zu einer rigideren Handhabung der Finanzpraxis über; Kredite für private Unternehmen wurden gekündigt und neue verweigert, verschiedene Betriebe konfisziert. Produktionsrückgänge bei den privaten Produzenten, aber auch in der von ihnen belieferten staatlichen Industrie, nahmen zu, Materialprobleme häuften sich. Hinzu kam der verstärkte Druck der SED auf verschiedene oppositionelle und nicht konforme gesellschaftliche Kräfte in den bürgerlichen Parteien und in der Arbeiterschaft, die gegen Apparate, staatliche Willkür und bedrückende Lebensverhältnisse allmählich aufzubegehren begannen. Repressive Maßnahmen trafen in Ost-Berlin besonders die Kirchen und ihre eigensinnigen Gruppen in der Jugend.604 Doch nahmen die Ost-Berliner zuvorderst die prekäre Versorgungssituation wahr. Da die allgemeine Nahrungsmittelkrise zu einer Verknappung von Lebensmitteln führte, ordnete die DDRRegierung Preiserhöhungen für Waren auf Lebensmittelkarten an.605 Das war für die Ost-Berliner besonders ärgerlich, weil die Preise in der Hauptstadt sowieso schon über denen in den DDR-Bezirken lagen. Als die SED nun auch noch eine Kampagne zur Erhöhung der Arbeitsnormen begann, lehnten sich viele Ost-

602 Vgl. Torsten Dietrich, Kanonen statt Butter. Aufrüstung und Militarisierung der DDR als Krisenursache 1952/53, in: Stefanie Wahl/Paul Werner Wagner (Hrsg.), Der Bitterfelder Aufstand. Der 17. Juni 1953 und die Deutschlandpolitik, Ereignisse – Zeitzeugen – Analysen, Leipzig 2003, S. 97–102. 603 1952 arbeiteten noch über 530.000 Beschäftigte – etwa ein Viertel der industriellen Arbeitskräfte in der DDR – in 16.753 privaten Industriebetrieben. Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR, Berlin (O) 1956, S. 126. 604 Die SED beauftragte den Magistrat im April 1952 „die Zusammenfassung und Tätigkeit von Jugendlichen aller Religionsgemeinschaften, die über den gesetzlich festgelegten Rahmen der Religionsausübung hinausgeht (wie z.B. Jugendwanderungen, Feldlager, Rüstzeitlager, Laienspiele, Laienchöre u.s.w.) zu unterbinden“. „Betr.: Maßnahmen gegen die reaktionäre Tätigkeit unter kirchlichem Deckmantel, besonders unter der Jugend“, 7.4.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 167, Bl. 62. 605 Der Ministerrat der DDR erhöhte die Kartenpreise für Fleisch- und Wurstwaren, Marmelade, Kunsthonig, Fruchtsirup und Kuchen. Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL, 16.4.1953, in: ebd., Bl. 233.

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Berliner Arbeiter auf.606 Aus der Bevölkerung heraus sammelten Frauen zunächst gegen die Preiserhöhung Unterschriften, die sie der DDR-Regierung mit geharnischten Kommentaren zu überreichen gedachten.607 Obwohl diese Stimmungen von ihnen hätten wahrgenommen werden müssen und sie über alarmierende Tendenzen in Wirtschaft und Sozialem informiert waren, verhielten sich Partei, Regierung und Magistrat, als bestünde für den sozialistischen Aufbau keine ernste Gefahr. Gerade für Ost-Berlin, wo viele Nachrichtenfäden zusammenliefen und sich auch die Zentralen der Verwaltungs- und Sicherheitsapparate befanden, verwundert im Nachhinein, warum Probleme, wenn sie denn so augenscheinlich wie im Frühjahr 1953 waren, von den Herrschenden ignoriert wurden. Inwiefern in der Gedankenwelt führender SED-Politiker „historisches Siegesbewusstsein“ waltete oder sie sich ggf. eines sowjetischen Eingreifens sicher waren, ist nicht mehr genau festzustellen. Klar ist hingegen, dass sie auf dem Höhepunkt der politischen und gesellschaftlichen Totalkrise im Wesentlichen nur mit repressiven Mitteln reagierten. Hatten sie sich zuvor noch eines relativ differenzierten Spektrums der Sozialpolitik bedient, die das diktatorische System allerdings nicht hinreichend zu stabilisieren vermochte, fiel dieses Instrument nun relativ plötzlich aus. Doch stellt sich die Frage, wie denn die SED angesichts des herannahenden wirtschaftlichen Bankrotts soziale Gegenstrategien hätte entwickeln sollen. Of606 Im Kabelwerk Oberspree (KWO) seien sogar die Genossen gegen die Preiserhöhung. Sie meinten, es sollten doch überall in der DDR den Intelligenzlern mit ihren hohen Gehältern monatlich 100 Mark abgezogen werden, das würde reichen, um die Preiserhöhung ohne Verlust rückgängig machen zu können. Dann müsste man nicht den Arbeitern, „von denen man schon Normerhöhung verlangt, die hohen Preise zahlen lassen“. Die „schlechte Stimmung“ der Belegschaftsmitglieder in diesem Großbetrieb komme am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass sie aus Protest gegen die Preiserhöhung in ihrem betriebseigenen HO-Verkaufsladen keinen Kuchen und keine Süßwaren kauften „und abends die Verkäuferin noch im vollen Besitz der Ware ist“. Ähnlich sei die Stimmung im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) und im IFA-Motorenwerk: „Wenn die Preise steigen“, könne man keine Normerhöhung mehr vornehmen. Andere Arbeiter meinten verärgert, nun seien die Normen erhöht worden und man hatte gedacht, dass dafür jetzt die Preise gesenkt werden, „und das Gegenteil tritt ein“. Im IFA-Motorenwerk äußerten Kollegen: „Die neuen Preise könnt ihr gleich auf die Transparente zum 1.Mai schreiben.“ Abteilung Leitende Organe der SED-BL: „Stimmung zur Preisregulierung aufgrund des Ministerratsbeschlusses vom 18.4.1953“, 22.4.1953, in: ebd., Nr. 601. 607 Die Frauen empörten sich: „Unsere Presse schreibt von Preiserhöhungen um 20% und hier sind es 70%. Die Männer verdienen nicht so viel und es reicht nicht mehr aus.“ Sie kündigten an, am 1. Mai auf öffentlichen Plätzen zum Protest gegen die Preiserhöhung aufzurufen, die sie sich unter keinen Umständen gefallen lassen wollten. Auch beabsichtigten sie, Unterschriften zu sammeln. Es sei ihnen gleich, „wenn sie eingesperrt werden“, hieß es im Bericht. Informationsnotiz Nr. 229, 23.4.1953.

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fenbar sah sie in dieser Situation ihr Heil in der Flucht nach vorn. Die Schwäche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaftspolitik wurde durch Verwaltungsdirigismus zu beheben versucht und dabei eine doppelte Progression übersehen: Plötzlicher Abbau der sozialpolitischen Instrumentarien (und Fähigkeiten) bei gleichzeitiger Reduzierung noch vorhandener politischer und gesellschaftlicher Toleranzräume. Als die SED versuchte, die Krisendynamik mit Appellen an das Bewusstsein der „Werktätigen“ insbesondere in der Frage der Normerhöhungen abzubremsen, trat genau das Gegenteil der Absicht ein: Die Arbeiter fühlten sich verhöhnt – wozu die von der SED gebotenen Mobilisierungsstimuli608 und hanebüchenen Unwahrheiten609 kräftig beitrugen. Wann und inwiefern die Sowjetunion die kritische Lage in der DDR und im allergischen Punkt Ost-Berlin erkannte und wie sie diese beurteilte, ist ebenfalls nicht hinreichend geklärt. Tatsache ist, dass sie nicht wirksam half; die erbetenen Zusatzlieferungen an Lebensmitteln sowie an Rohstoffen für die industrielle Produktion blieben aus. Überdies war kaum zu verstehen, dass die UdSSR den kosten- und materialintensiven Aufbau einer rüstungsrelevanten Schwerindustrie verlangte, aber der DDR weiterhin Reparationen auferlegte. Zur allgemeinen Verärgerung trugen aber nicht nur die heftig diskutierten Normerhöhungen bei, sondern – vor allem im Osten Berlins – der innerdeutsche Vergleich. Zwar konnte von einem bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder und einer sich selbst tragenden Konjunktur in West-Berlin noch nicht die Rede sein, doch nahmen dort Industrieproduktion und Handelsumsätze sowie ein damit verbundener Ausbau des Sozialstaates einen erheblichen Aufschwung. Den ostdeutschen „Werktätigen“ fiel besonders ins 608 Die „Kampfparole“ zum 1. Mai 1953 in Ost-Berlin verband Losungen gegen die Ratifizierung der „Kriegsverträge“ (EVG- und Deutschlandvertrag) und gegen „alle Formen der Frontstadtpolitik in West-Berlin“ mit der Aufforderung zu „konkreten Selbstverpflichtungen“. Dazu gehöre „der Kampf für die […] freiwillige Erhöhung der Normen und Schaffung fortschrittlicher, technisch begründeter Arbeits-, Materialverbrauchs-, Energieund Maschinennutzungsnormen“. Abteilung Agitation der SED-BL: „Arbeitsprogramm für die politische Vorbereitung des 1. Mai“, 31.3.1953, in: ebd., Nr. 164, Bl. 62. Des Weiteren sollten zu Ehren des 60. Geburtstags von Ulbricht derartige Verpflichtungen der „Werktätigen“ abgegeben werden. Allerdings verzichtete die Parteiführung auf die Umbenennung der Prenzlauer Allee in Walter-Ulbricht-Straße. Auch sollte die geplante große Geburtstagsveranstaltung für ihn im Ost-Berliner Friedrichstadtpalast ausfallen. Protokoll Nr. 16/53 der Sekretariatssitzung der SED-BL am 16.4.1953, in: ebd., Bl. 10, 16. 609 So wurde behauptet, die Normerhöhung sei zu einer „breiten Bewegung“ geworden. Sie habe den Ministerrat veranlasst, „den werktätigen Menschen ein konkretes Ziel zu geben, nämlich bis zum 30.6.1953 eine allgemeine Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens 10% zu erreichen. Das wird zweifellos das schönste Geburtstagsgeschenk für den Genossen Walter Ulbricht bedeuten.“ Argumentation (der SED-Kreisleitung Friedrichshain) Nr. 19/53, 1.6.1953, in: ebd., C Rep. 903–01–01, Nr. 245.

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Auge, dass die Arbeiter und Angestellten „drüben“ inzwischen besser verdienten als sie und das Angebot an zumeist erschwinglichen Waren im Westen und seinem „Schaufenster“ Berlin ungleich mannigfaltiger und in der Regel auch von besserer Qualität war als in den heimischen Konsum- und HO-Läden. Insgesamt sammelte sich in der DDR und ihrer Metropole in hohem Tempo Konfliktstoff an. Angesichts der akuten Krise ging die Staatsmacht noch schärfer gegen nicht konformes Verhalten vor. Ein fataler circulus vitiosus war im Gange: Repressionen riefen Widerstände verschiedenster Art hervor und diese wiederum neue Unterdrückungsmaßnahmen. Damit wuchs gerade in der Zentrale Ost-Berlin der teure Sicherheitsapparat weiter an. In diesem Bedingungsgefüge fand die westliche Forderung nach freien Wahlen zunehmend Resonanz. Sie bedeutete in der ostdeutschen Perspektive die Beendigung der SED-Herrschaft und der sowjetischen Besatzung plus die Erhöhung des Lebensstandards. Das Desaster ihrer „Westarbeit“ verschärfte die Schwierigkeiten für die SED. Denn Erfolge in ihrer Politik gegen die Westintegration der Bundesrepublik sowie die einseitige Bindung West-Berlins an „Bonn“ hätten politisch möglicherweise eine Entlastung der inneren Linie ihrer „Klassenkampf“-Front zur Folge gehabt. Insbesondere wirkte der intensivierte Abgrenzungskurs610 gegenüber dem anderen Teil Berlins besonders kontraproduktiv. Der Senat verfolgte die Krisenaktionen der östlichen Seite aufmerksam, die Indizien für weitergehende Absperrpläne der SED verdichteten sich im April 1953 erheblich.611 Indirekt gehörte die Art und 610 Die Westpresse meldete seit Anfang Januar 1953, dass immer mehr Ost-Berliner Geschäfte im Grenzbereich schließen mussten. Das betraf besonders die zahlreichen Verkaufsläden zwischen Stettiner Bahnhof (Nordbahnhof) und Schwedter Straße. Für andere grenznahe Straßen und Häuser wurden bereits „Hinteraufgänge“ für Zeitungsfrauen, Postboten, Polizei und Feuerwehr geschaffen, um den Zugang über die an den Westen grenzenden Haupteingänge zu verhindern. Vgl. „Der Tag“, 9.1.1953. 611 Ost-Berliner Studenten müssten sich bereits bei ihrer Immatrikulation für das Studienjahr 1953/54 schriftlich verpflichten, „Westberlin nicht zu betreten“. Besonders beunruhigten den Senat die verschärften Kontrollen an allen Ost-Berliner Bahnhöfen, damit verbundene Festnahmen (vom 1.1.1953 bis Mitte April 1953 angeblich 5.300) sowie die weitere Schließung von Geschäften und Werkstätten in den Grenzstraßen Ost-Berlins und den „Randdörfern um Westberlin“. Senatsvertrauensleute teilten mit, dass die SED die „Evakuierung von Zivilbewohnern“ aus diesen Randgebieten vorbereite. Vgl. Meldung des Gesamtberliner Büros an den Reg. Bgm., 24.4.1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 234. Verdachtsmomente schienen sich in der Woche vom 18. bis 24.4.1953 zu erhärten: Tag für Tag würden zwischen der Ostzone bzw. dem Ostsektor und WestBerlin „neue Stacheldrahtzäune errichtet, Fahrbahnhindernisse angelegt und verstärkt, Gräben und Bretterzäune gebaut und Baumsperren errichtet. Die Ostbewohner sollen von jeder Berührung mit dem gefährlichen Westen abgehalten werden.“ Davon sei nun auch der Verkehr zwischen der „SBZ“ und Ost-Berlin „zur Erschwerung von Fluchten“

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Weise der Auseinandersetzung der West-Berliner Politik und Öffentlichkeit mit der zugespitzten Lage „drüben“ ebenfalls zu den Bedingungen, die zum Volksaufstand der DDR am 17. Juni 1953 beitrugen. Zunächst jedoch zog die sowjetische Führung die „Notbremse“. Spät, sehr spät, war sie sich der auch ihre Interessen bedrohenden Situation in der DDR bewusst geworden. Im Präsidium der KPdSU brachen Meinungsverschiedenheiten darüber aus, ob und wie man die DDR halten sollte. Das Problem wurde mit einem Kompromiss gelöst: Nicht prinzipiell der DDR-Sozialismus sollte zurückgenommen werden, sondern per sowjetischer Ministerratsverfügung vom 2. Juni 1953 die Forcierung seines Aufbaus.612 Das bedeutete auch eine Aussetzung von Sowjetisierungen in der DDR und Ost-Berlin. Einen Tag darauf überreichte die Regierung der UdSSR der eiligst nach Moskau bestellten SED-Führung das Papier „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“. Es enthielt konkrete Anweisungen zur Entspannung der Krisensituation und war insgesamt vom Grundsatz einer Rücknahme der Repression insbesondere gegen die Kirchen, die privaten Eigentümer und Bauern sowie Schüler und Studenten geprägt. Daneben ordnete es die Beseitigung sozialer Verschlechterungen für die Bevölkerung u.a.m. an, stellte aber die Erhöhung der Arbeitsnormen nicht in Frage. Das sollte für OstBerlin von besonderer Bedeutung sein, in gewisser Weise aber auch der sowjetische Auftrag an die SED, ihre Beziehung zu den Deutschen im Westen im Sinne ihrer Gewinnung für die kommunistische Politik und Wiedervereinigung zu verbessern. Die Direktive wurde vom Politbüro wortgetreu übernommen und ihre Bestimmungen – als die der SED plakatiert – sofort umgesetzt. Ost-Berlin erfuhr das am deutlichsten.613 Die einschneidende Korrektur erhielt die Bezeichnung „Neuer Kurs“. Er war sowohl Krisenmanagement als auch ein möglicher Ansatz für eine moderatere SED-Politik im Umgang mit der Gesellschaft der DDR sowie dem westlichen „Klassenfeind“ und zeitigte in der DDR und Ost-Berlin in jeder Beziehung bedenkliche Ergebnisse. Erleichterung und Freude wechselten bei der betroffen. „Vermerk für den Herrn Regierenden Bürgermeister. Wochenbericht des Gesamtberliner Büros vom 18. bis 24. April 1953“, in: ebd. 612 Vgl. Elke Scherstjanoi, Die sowjetische Deutschlandpolitik nach Stalins Tod 1953, Neue Dokumente aus dem Archiv des Moskauer Außenministeriums, in: VfZ, 46, 1998, S.497– 549 und Gerhard Wettig, Sowjetische Wiedervereinigungsbemühungen im ausgehenden Frühjahr 1953, in: DA, 25, 1992, S. 943–958. 613 Ganz schnell wurden alle Verfahren gegen Personen eingestellt, die des illegalen Warentransports nach West-Berlin beschuldigt worden waren. Diesem „Startschuss“ folgte die Ankündigung, dass alle „politischen Urteile“ (die es offiziell bis dahin gar nicht gab) „mit dem Ziel der Strafminderung und Entlassung aus der Strafhaft“ überprüft würden. Relegierte Schüler und Studenten durften an ihre Bildungsstätten zurückkehren, die Junge Gemeinde und gemaßregelte Christen ihre legale Tätigkeit wieder aufnehmen, u.a.m.

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Bevölkerung mit Skepsis und weitergehenden Forderungen ab. Viele bislang Drangsalierte, aber auch Zehntausende Arbeiter und Bauern, sahen den „Neuen Kurs“ als Eingeständnis des Fiaskos der Diktatur und als Zeichen ihrer Schwäche.614 Gerade für Ost-Berlin bezeugen die Quellen, dass große Bevölkerungsteile der SED weiter misstrauten.615 Kriterium für die Ehrlichkeit der SED sei die Frage der Normerhöhung616, aber gerade hier zeige sich, dass sie gar keinen neuen Kurs wolle, meinten Ost-Berliner Arbeiter. Sie handle eben im Auftrag Moskaus und wolle ihnen nur „Sand in die Augen streuen“.617 Doch hier differenzierten die 614 Vgl. Lemke, Einheit oder Sozialismus?, S. 262–266. 615 In vielen Betrieben Ost-Berlins seien die Arbeiter skeptisch geblieben. Sie fragten, was jetzt mit den Normerhöhungen geschehe und: „Warum wurden die Maßnahmen vorher erst beschlossen, wenn sie jetzt widerrufen werden?“ Ein Arbeiter hätte vor seinem Kollektiv drastisch angemerkt: „Da siehste mal, was für einen Mist die SED wieder gebaut hat, erst jagen sie die Bauern weg und jetzt holen sie sie wieder zurück […]. Jetzt kommt die SED und will einem wieder Marmelade und Honig ums Maul schmieren. Jetzt haben sie erkannt, dass sie am Ende sind.“ Ein Aktivist im VEB Bergmann-Borsig erklärte, die Verantwortlichen, „die so einen Mist verzapft haben, müssten bestraft werden“. Leitende Organe der SED-BL: „Tagesmeldung Nr. 1 über die Stimmung in den Betrieben zum Kommunique des Polit-Büros des ZK der SED vom 9.6.53“, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 602. 616 Wenige Tage nach dem Kommunique der SED vom 9.6.1953 konzentrierte sich die Diskussion in den Ost-Berliner Betrieben auf diese Frage. Intelligent argumentierten Arbeiter des Transformatorenwerkes Oberspree: Wenn die jetzt getilgten Fehler von der Regierung gemacht seien, „so könne auch der Beschluß über die Normerhöhung ebenfalls falsch sein“. Die von ihnen empfohlene Konsequenz ging aber über die Normfrage weit hinaus: Eine Regierung, „die so schwerwiegende Fehler begehe“, könne „doch nicht mehr unsere Regierung sein“. Nur, weil freie Wahlen anstünden, „ist die Regierung zu dieser Maßnahme [„Neuer Kurs“] gezwungen. Die SED wird bei dieser Wahl keine 5% kriegen“. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Tagesbericht Nr. 2, 12.6.1953, in: ebd. 617 Die Informanten der SED-Bezirksleitung im RAW notierten sich folgende Arbeitermeinungen: „Diese Maßnahmen sind ein Befehl aus Moskau; Malenkow [sowjetischer Ministerpräsident] will unseren Arbeitern Sand in die Augen streuen“; „durch den Tod Stalins ist eine Änderung in der Politik der SU eingetreten. Malenkow gehört nicht zu den Revolutionären“; „der hohe Kommissar Semjonow hat neuen Schwung in unsere Regierung gebracht und war mit den unverständlichen Verordnungen nicht einverstanden.“ Aus Industriebetrieben in Berlin Köpenick wurde bekannt, dass viele Beschäftigte den „Neuen Kurs“ so interpretierten, dass durch ihn das Problem der deutschen Einheit „sehr akut“ geworden sei. Andere fragten, warum man denn keine Wahlen durchgeführt habe; sie müssten kommen, und: „Warum hat man nicht die UN-Kommission reingelassen?“ Arbeiter hätten aber auch salopp geäußert, dass erst der Hohe Kommissar aus Russland kommen musste, um „uns einen auf den Deckel zu geben“. Im VEB Bergmann-Borsig legten Arbeiter den „Neuen Kurs“ als eine Folge der Verhandlungen in Korea aus, vor allem

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Kritiker der SED offensichtlich zu wenig, denn viele Parteimitglieder sahen die Lage nicht viel anders als sie und übten Selbstkritik, die glaubhaft schien.618 Wenngleich verschiedene Gliederungen der SED die Illusion weckten, dass der „Neue Kurs“ nun alles wieder in Ordnung bringe und man durch ihn größere Einflussmöglichkeiten auf West-Berlin gewinne, zeigten sie sich von den in Aussicht gestellten besseren Beziehungen zu ihm als Wert an sich angetan.619 In der SED-Basis mehrten sich die Stimmen für eine Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands. Da die Parteiführung „angeschlagen“ war, räumten auch viele OstBerliner mit nichtkommunistischem Hintergrund diesem Ziel durchgängig eine größere Chance ein. Die der SED abgerungenen Zugeständnisse im Verkehr mit dem West-Berliner Nachbarn schienen sie darin nur zu bestätigen. Zumeist berührten sie ureigenste Interessen und Wünsche.620 Teilten die West-Berliner Poliaber des „Führungswechsels in der SU“. Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen: „Betr.: Kommunique des Politbüros vom 9.6.1953“, 12.6.1953, in: LAB, C Rep. 903, Nr. 602. Vgl. dazu auch: Tagesbericht Nr. 2, 12.6.1953, in: ebd. 618 Eine ganze Reihe von Parteileitungen in den Ministerien und Verwaltungen wiesen selbstkritisch darauf hin, dass die falschen Maßnahmen „unser aller Schuld“ seien. Das heiße, „daß wir Genossen in den Grundorganisationen die Dinge und die Stimmung der Bevölkerung so gesehen und dargestellt haben, wie wir sie sehen wollten“. Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen: „Betr. Stimmungen zum Kommunique des Polit-Büros aus Ministerien und Verwaltungen“, 11.6.1953, in: ebd., Nr. 602. 619 Bei den Genossen in den zentralen Verwaltungen Ost-Berlins würde zum Ausdruck gebracht, „daß die nun aufgehobenen Maßnahmen, die in der Bevölkerung eine gewisse Spannung erzeugt hatten, nunmehr beseitigt sind“. Von allen Angesprochenen wurde auch betont, „daß uns dieser Beschluß näher zur Einheit Deutschlands bringt. Vor allem wird die Lockerung bei der Ausgabe von Interzonenpässen und Aufenthaltsgenehmigungen begrüßt.“ Der Vorschlag des Politbüros werde „auch die Bundesrepublik in Bezug auf die Bundestagswahlen in unserem Sinne und darüber hinaus die ganze außenpolitische Situation günstig beeinflussen“. Insbesondere bei der technischen Intelligenz sei die Möglichkeit des „Erfahrungsaustauschs mit unseren westdeutschen Fachkollegen durch direkte Teilnahme an Fachtagungen in Gesamtdeutschland“ sehr begrüßt worden. Ebd. 620 Durchgängig in allen Ost-Berliner Betrieben war es Überzeugung, eine Wiedervereinigung Deutschlands und Berlins würde nun „in nicht allzu langer Zeit“ möglich werden. Besonders wurde die Politbüroankündigung begrüßt, dass die Kontrollpunkte zwischen der DDR und dem „demokratischen Sektor“ alle wieder geöffnet und die Zugkontrollen in der U- und S-Bahn aufgehoben würden. Auch die angekündigte „Überprüfung der Straßenkontrollen“ an den Sektorenübergängen „mit dem Ziel der Erleichterung“ stimmte die Berliner optimistisch. Liberalisierungen waren vor allem im Bildungsbereich angekündigt worden – etwa die Einstellung aller Verfahren wegen Verstößen gegen die OstBerliner Schulpflichtordnung, die den Besuch West-Berliner Schulen verbot, sowie eine Anordnung, dass im Westteil lebende Lehrer, die in Ost-Berlin arbeiteten, nicht mehr entlassen würden, wenn gegen sie „keine politischen Bedenken“ bestünden. Für Studen-

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tiker diese Sicht eher nicht, schlossen sich ihr doch viele „kleine Leute“ im Westteil Berlins auch in der Hoffnung an, jetzt werde überall ein Wandel zum Besseren eintreten. Es spricht für die These, dass die Stadt in Alltag und Kultur sowie bezüglich ihrer (grenzüberschreitenden) informellen Informationssysteme noch weitgehend eine Einheit bildete, wenn die Wahrnehmung und Beurteilung des „Neuen Kurses“ durch die West-Berliner weitgehend denen der Ost-Berliner entsprach.621 Wie im Osten war auch im Westteil der Stadt viel Hoffnung im Spiel622, und auf beiden Seiten betrachteten die Berliner die Einheit der Stadt als einzig vernünftige Perspektive. Wenngleich immer auch Skepsis mitschwang, sahen sie die Möglichkeit, die SED-Diktatur irgendwie zu beenden. Schlagartig stieg der Kurs der „Berlin-Aktie“. Die politischen Korrekturen in Ost-Berlin „habe eine plötzliche wesentliche Verbesserung des Wertes der Ostmark zur Folge gehabt (von 6,15 auf 5,45)“, meldete die Senats-Wirtschaftsverwaltung. Der Lockerung des Verbots für West-Berliner, im Ostsektor einzukaufen, folgte auch, „dass viele West-Berliner wieder die Ostberliner Gaststätten besuchen und auch

ten, die ebenfalls in West-Berlin wohnten, sollten Erleichterungen beim Zugang zum Studium in Ost-Berlin geschaffen werden. Protokoll Nr. 25/1953 der Sekretariatssitzung (der SED-BL) am 11.6.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 174, Bl. 4. 621 Von Ost-Berlin aus systematisch zu den Ereignissen befragte West-Berliner äußerten, dass die Veränderungen eigentlich zu erwarten gewesen wären, „denn der RIAS hätte schon vor Tagen davon gesprochen“. Die Ursachen für den „Neuen Kurs“ sahen mehrere Interviewte im Tode Stalins – „Malenkow ist nicht so hart“ – und in dem „Befehl Moskaus“. Das alles sei eben kein SED-Beschluß. BEWAG-Arbeiter und andere West-Berliner meinten, der SED sitze „das Messer an der Kehle, wenn sie noch eine Weile so weitergemacht hätten, wäre alles in die Brüche gegangen“. Ein Bauarbeiter erklärte, „jetzt, wo so viele Menschen bei euch abgehauen sind, merkt sie [die SED] die Fehler.“ Befriedigt fügte er hinzu, dass nun die Flüchtlinge in West-Berlin endlich zurück könnten; man wolle „diese Menschen auch endlich los sein“. Arbeiter in den Adrema-Werken Tiergarten diskutierten prinzipieller: „Die Regierung der DDR ist unfähig, die Belange der Werktätigen zu vertreten. Sie müsste infolgedessen abgesetzt werden.“ Doch artikulierte sich eine Reihe der West-Berliner Befragten moderater: „Im Osten muß man eben etwas tun, weil im Westen nur Schaufensterpolitik getrieben wird. Die offene, ehrliche Stellungnahme wird dazu führen, daß der Osten Zuspruch bekommt.“ (Siemens-Arbeiter). Andere sahen eine allgemeine Entspannung und hofften, dass „sich auch die Dinge in Berlin“ änderten, denn die Leidtragenden seien doch die Menschen in der Stadt (Arbeiter in Tempelhof). Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Tagesbericht Nr. 2, 12.6.1953, in: ebd., Nr. 602. 622 Wie angeführt, hofften die West-Berliner Eigentümer von Immobilien und anderen Sachwerten auf die Rückgabe ihres rechtmäßigen Besitzes und auf freien Zugang zu ihm. Vgl. ebd.

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Ostberliner Handwerksbetriebe […] für Dienstleistungen in Anspruch nehmen“.623 Auch insofern besaß der „Neue Kurs“ eine Gesamtberliner Dimension.

5.2 Ein Volksaufstand für das ganze Berlin Doch wer geglaubt hatte, dass sich mit den Korrekturen der SED die Lage entspannen würde, irrte. Die meisten Ostdeutschen mißtrauten der Staatspartei weiter. Viele sahen im „Neuen Kurs“ ein taktisches Manöver oder warteten einfach ab. Dennoch nahm die politische Korrektur, wie geschildert, zahlreichen Bürgern der DDR, aber gerade auch Ost-Berlins, Ängste. Sie sagten jetzt unbequeme Wahrheiten und stellten Forderungen. Natürlich stand dabei die unmittelbare Erfahrung im Hintergrund, dass die SED schwächelte und sie die rigorose Politik der Stalinzeit offenbar nicht mehr durchzuhalten vermochte. Für die Entladung von Unzufriedenheit und Veränderungswillen ergab sich auch mental eine günstige Situation. Die Weigerung von Partei und Regierung, die willkürlich verfügte zehnprozentige Normerhöhung zurückzunehmen, brachte das Fass dann zum Überlaufen. Sturmzeichen hatte es in den Vortagen in Hülle und Fülle gegeben. Am 16. Juni rollten die ersten Streikwellen über das Land. Der Damm brach am 17. Juni 1953. Die Regierung und ihre bewaffneten Kräfte sahen sich außerstande, den schnell eskalierenden Volksaufstand niederzuschlagen. Die sowjetischen Organe verhängten über Groß-Berlin und in 167 der 217 Stadt- und Landkreise der DDR den Ausnahmezustand.624 Ost-Berlin bildete ein Zentrum des Volksaufstandes. Wolfgang Ribbe hat dessen Verlauf bündig zusammengefasst und bewertet.625 Niemand hatte ihn provoziert, geplant, zentral geleitet oder die einzelnen Kräfte koordiniert. Er war nicht einfach Ausdruck des Aufbegehrens gegen die Herrschaft der SED und die Sowjetisierung der DDR. Noch weniger stellte er einen nur sozial bedingten Protest gegen die miserablen Lebensverhältnisse in der DDR und ihrer Hauptstadt oder gar einen „Berliner Unwillen“ gegen die Normerhöhung dar. Er artikulierte sich ebenfalls in hohem Maße deutschland-, aber auch berlinpolitisch. Im Laufe weniger Stunden mehrten sich die Sprechchöre und Losungen, die freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands forderten. Als z.B. vor dem Haus der Ministerien in der Ost-Berliner Leipziger Straße

623 Vermerk der Senatsverwaltung für Wirtschaft, 13.7.1953, in: ebd., B Rep. 010 A-01, Acc. 1999, Nr. 432. 624 Vgl. Arnim Mitter/Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDRGeschichte, München 1993, S. 104. 625 Vgl. Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 106–114.

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ein Plakat mit der Forderung „Für freie Wahlen“ auftauchte, wurde es „stürmisch beklatscht“.626 Mit wenigen Ausnahmen zog sich die Führung der SED in den Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht zurück. Das Politbüro, verwirrt, demoralisiert und zu wirksamen Maßnahmen im Konflikt mit den eigenen „Werktätigen“ nicht in der Lage, fand jedoch schnell eine „Argumentation“. Offenbar lieferten der politische Kopf Semjonow und sein Beraterkreis dafür die Richtlinien: Die Schuldigen seien im Westen und vor allem in West-Berlin zu suchen. Irregeleitete „Werktätige“ und zum Streik verführte Arbeiter seien West-Berliner Provokateuren, faschistischen und konterrevolutionären Elemente auf den „Leim“ gegangen. Noch am 17. Juni tauchten die Begrifflichkeiten „konterrevolutionärer“ bzw. „faschistischer“ Putsch respektive „Putschversuch“ auf. Parallel zu den unsinnigen Schuldzuweisungen konstruierten Besatzungsmacht und SED-Führung noch eine andere Argumentationslinie: Die Mehrzahl der Werktätigen stände zu Partei und Regierung, zeigte Besonnenheit und bereitete der „Konterrevolution“ eine Abfuhr. Diese verlogene Interpretation blieb bis zum Ende der DDR offiziell. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 überraschten die Bundesregierung und den Senat. In seinem Vorfeld waren sie so sehr mit inneren Problemen beschäftigt – die einen mit der bevorstehenden Bundestagswahl, die anderen mit sozialökonomischen Problemen –, dass sie wichtige Veränderungen in der DDR erst sehr spät zur Kenntnis nahmen. Auch erste Anzeichen von Unruhen, kritische Situationsberichte und ein Ansteigen der Flüchtlingszahlen sah der Senat offenbar nicht als Indizien für eine Zuspitzung der Ost-Berliner Situation an. Obwohl er immer vom lebendigen Freiheitswillen der Menschen im sowjetischen Sektor sprach, rechnete er mit keinerlei Aufstandsbewegung. Da er, wie die Bundesregierung, wusste, dass ein wie auch immer gearteter Versuch zur Abschüttelung der sowjetischen Herrschaft in der DDR nicht nur erfolglos, sondern auch blutig enden würde, vermied er jede Ermunterung der Ostdeutschen zu einem Aufbegehren. Und so wollten weder Adenauer noch Reuter am 17. Juni, auch angesichts eigener fehlender Möglichkeiten, „Öl ins Feuer gießen“. Im Senat und im Abgeordnetenhaus zeigte sich deshalb auch kaum jemand glücklich darüber, dass der West-Berliner DGB-Vorsitzende Ernst Scharnowski die Arbeiter im Westteil Berlins leidenschaftlich zur Solidarität mit ihren Ost-Berliner Kollegen aufrief. Zudem mussten auch die Westalliierten befürchten, dass damit der Verdacht einer westlichen Einmischung in die Hoheit der sowjetischen Besatzungsmacht entstand.627 Aber es war nicht zu leugnen, dass der West-Berliner RIAS zumindest indirekt ins Ge626 Bericht Nordens an Grotewohl, 17.6.1953, in: SAPMO-BArch, DY30, J IV 2/202/14. 627 Vgl. Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 109.

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schehen eingriff, als er über dessen Verlauf und bevorstehende Aktionen der Streikenden berichtete und ihnen sowie ihren Sympathisanten auf diese Weise wichtige Informationen übermittelte. Ebenfalls konnte niemand vermeiden, dass der Konflikt zwischen Sowjets und Volkspolizei auf der einen und den Streikenden auf der anderen Seite eine Reihe West-Berliner in den Ostteil zog, teils aus Solidarität, teils auch nur – vor allem bei Jugendlichen – aus Lust am Abenteuer. Doch auch hier handelte es sich um spontanes Agieren. Während die Westmächte sich nicht einmischten und sich auch danach mit der Aufrechterhaltung ihres Status in Berlin begnügten, mussten Bundesregierung und Senat nach der gewaltsamen Beendigung des Volksaufstandes als ein gesamtdeutsches, aber auch Gesamtberliner Ereignis irgendwie Stellung beziehen. Adenauer hielt am Nachmittag des 17. Juni im Bundestag zwar eine Protestrede, beabsichtigte aber keine weiteren Schritte. Sein engerer Beraterkreis drängte ihn, sofort nach Berlin zu reisen.628 Adenauer lehnte zunächst ab. Er habe „außenpolitische Bedenken“ und müsse einen Termin in Paris wahrnehmen.629 Doch ließ er sich zur Teilnahme am Trauerakt für die Opfer des Volksaufstandes in der DDR vor dem Schöneberger Rathaus eine Woche nach dem Ereignis bewegen. Seine Rede traf nicht nur die Stimmung der hier versammelten 100.000 Berliner, sondern die der meisten Deutschen. Die Worte, man werde den Aufstand nicht vergessen und nicht ruhen und nicht rasten, bis alle Deutschen wieder in Freiheit leben könnten und „bis ganz Deutschland wieder vereint ist in Frieden und Freiheit“630, trugen ihm Beifall und Sympathie ein. Reuter weilte am 17. Juni in Wien zu einem offiziellen Besuch. Er brach ihn umgehend ab und traf am 18. Juni in Berlin ein, um Sofortmaßnahmen anzuordnen. Im Ostteil der Stadt waren sie bereits in vollem Gang.

5.3 Nach dem Junisturm: Sofortmaßnahmen in Ost-Berlin Zunächst reagierte die Sowjetunion mit Sicherheitsdirektiven. Sie betrafen zuvorderst die „Kampfkraft“ der Ost-Berliner Volkspolizei631 und einen weitgefassten 628 Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende von Brentano winkte mit dem „Zaunpfahl“, wenn er schrieb, dass man die „politisch bedeutsame Geste“ eines sofortigen Berlin-Besuchs „nicht allein der SPD überlassen“ dürfe. Schreiben von Brentanos an Adenauer, 17.6.1953, in: BA Koblenz, NL 239/162, Bl. 161. 629 Vgl. Im Zentrum der Macht. Das Tagebuch von Staatssekretär Lenz 1951–1953, bearb. von Klaus Gotto u.a., Düsseldorf 1989, S. 652. 630 Zitiert nach Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 84. 631 Die sowjetischen Organe gingen davon aus, dass die Ost-Berliner Volkspolizei „ungeachtet der Standhaftigkeit ihrer Angehörigen im Kampf gegen die faschistischen Pogromstifter nicht imstande war, die von den Provokateuren organisierten Unruhen aus eigener Kraft

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Maßnahmenkatalog, der sowohl auf sie und die Schaffung von „Kampfgruppen“ zugeschnitten war als auch Maßnahmen gegen den westlichen Einfluss632 enthielt. Im Weiteren wandte sich der sowjetische Hochkommissar gegen die Tendenz in der SED, vorschnell nach der Losung: „Schluss mit der Stimmung der Reue“ zu verfahren633 und untersagte ihr soziale Versprechungen gleich welcher Art.634 zu liquidieren“. Die Berliner Volkspolizei sei zu verstärken, wobei nur Personen in Frage kämen, „die sorgfältig überprüft wurden“ und den Ausbildungskurs erfolgreich absolviert hätten. Umstrukturierungen innerhalb der Polizei Ost-Berlins seien ebenso notwendig wie Gehaltserhöhungen für deren Angehörige, die 10–15 Prozent mehr Geld bekommen müssten als die Polizei in der „Provinz“, und die man neu uniformieren sollte, „damit die Offiziere und Unteroffiziere der Volkspolizei der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik eine schöne Uniform aus guten Wolltuchen haben“. „Merkblatt“ (des sowjetischen Hochkommissars), undatiert, offenbar 10.10.1953, in: SAPMO-BArch, NY 4090/303, Bl. 326–329. 632 Die Standorte der kasernierten und nichtkasernierten Volkspolizei seien „so zu wählen, daß die Einheiten […] in einigen Minuten an volkswirtschaftlich wichtigen Objekten eintreffen können“, und es sei für alle wichtigen volkswirtschaftlichen Objekte „ein sicherer Schutz aus geprüften und politisch der demokratischen Ordnung ergebenen Personen zu organisieren“ – was faktisch die Konstituierung von „Kampftruppen der Arbeiterklasse“ hieß. Die sowjetischen Organe ordneten „eine strenge Überwachung und sorgfältiges Abhören der Telefongespräche zur Aufdeckung der Spionage und Provokateure“ an; „verdächtige Gespräche“ seien zu unterbrechen und die „Zensur und die Überprüfung des Schriftwechsels aus Westdeutschland und Westberlin“ zu verstärken. Neue Störsender „zwecks Paralysierung des feindlichen Einflusses der Radiosendungen des RIAS“ sollten bezeichnenderweise in der Nähe von Arbeiterwohngebieten errichtet werden. 633 Bereits während der 15. Tagung des ZK der SED Ende Juli 1953 hatte sich das Ende der „Büßerstimmung“ angedeutet. Ministerpräsident Grotewohl, der sich mit einer opportunistischen Meisterleistung von seiner Kritik an dem ungeliebten Ulbricht zurückzog, avancierte zum Wortführer gegen die angebliche Entwicklung der SED zur „Büßergemeinde“. Diese Wendung kam den sowjetischen Stellen dann doch etwas zu plötzlich, um glaubwürdig zu erscheinen. Die Losung „Schluß mit der Stimmung der Reue“ akzeptierten sie zunächst nicht. „Die gegenwärtige Lage und der neue Kurs der Partei.“ Aus der Rede Grotewohls auf der 15. Tagung der SED, 24.-26.7.1953, in: „Neues Deutschland“, 29.7.1953 und „Merkblatt“ (der Administration des sowjetischen Hochkommissars), undatiert, offenbar Juli oder August 1953, in: SAPMO-BArch. NY 4090/303, Bl. 282. 634 So untersagte „Karlshorst“, der Sitz des Hohen Kommissars, auch fürderhin, davon zu reden, „daß das Lebensniveau in West-Deutschland höher als in der DDR ist“ und verbot Preissenkungen: „Es darf nicht eine große Versprechung über Preissenkungen […] gegeben werden, da dieses eine Desorganisation der Versorgung und des Finanzsystems hervorrufen kann. Man muß sich mit allgemeinen Behauptungen über diese Frage begrenzen.“ Auch die Mahnung, unbedingt zu verhindern, dass verantwortliche Funktionäre der SED und des Staatsapparates „hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln und Industriewaren und Kohle“ sowie in Sachen Rentenerhöhungen „unbedachte Versprechungen“

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Demgegenüber folgte er Anfang Juli 1953 dem Wunsch des SED-Politbüros „angesichts der Unzufriedenheit der Bevölkerung“ die Sektorengrenzen „umgehend zu öffnen“. Diese Maßnahme besaß einen berlinpolitisch entspannenden Nebeneffekt, der dem „Neuen Kurs“ entsprach. Sie kam der SED dann allerdings recht teuer zu stehen, weil sie zusätzliche Maßnahmen und Polizeikräfte zur „Sicherung des demokratischen Sektors“ u.a. durch erheblich mehr und schwerere Bewaffnung sowie neue Dislokationsstrukturen erforderte.635 Nach der Niederschlagung des Volksaufstands artikulierten sich in Ost-Berlin Schmerz und Enttäuschung. Da es unmittelbar nach dem Ereignis aber nicht als sicher galt, ob die Unruhe in der Bevölkerung wirklich gebannt war, orientierte sich die SED unter Einhaltung der sowjetischen Direktiven an den Fragen, wie zunächst eine Entschärfung der prekären Situation und danach eine dauerhafte Stabilisierung der DDR erreicht werden könne. Auch innenpolitisch schien eine Fortsetzung des jäh unterbrochenen „Neuen Kurses“ angeraten; im Zentrum von Wirtschaft und Sozialem stand die wichtige Versorgungsfrage. Während die politischen Korrekturen relativ einfach erschienen, das kulturelle Leben allmählich in Gang kam636 und der FDGB zur Beruhigung der Lage für die Industrie Lohnerhöhungen verkündete637, bildete die Lebensmittelfrage das schwierigere Problem. Sowjetische Zusatzlieferungen waren noch nicht in Sicht, und die Ost-Berliner Stadtbezirke meldeten Angebotslücken, die ein Stimmungstief in der Bevölkerung hervorriefen.638 Eine gewisse Entspannung brachte tatsächlich die Öffnung der Sektorengrenzen mit sich639, doch erleichterte sie kaum die Lage im Nahrungsmit-

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machten, besaß eine gesamtdeutsche und Gesamtberliner Konkurrenzdimension. „Merkblatt“ (der Administration des sowjetischen Hochkommissars), undatiert, offenbar Juli oder August 1953, in: ebd., Bl. 281f. Beschluß des Politbüros [anwesend „Gen. Mironitschenko“ als Vertreter des sowjetischen Hohen Kommissars], Protokoll 46/53 vom 4.7.1953, in: ebd. DY 30, J IV 2/2/300, Bl. 2. Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 24.6. lief der Spielbetrieb der Theater bei zunächst noch „schwachem Besuch“ wieder an. Vgl. Schreiben des Stellverstretenden OB Fechner an Ebert, 25.6.1953 und 29.6.1953, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 238. In Berlin stiegen die Stundenlöhne um 7 bis 10 Pfennige. Vgl. Schreiben des FDGBBundesvorstands an das Sekretariat der SED-BL, 16.7.1953, in: ebd., C. Rep. 902, Nr. 176, Bl. 213. Es fehle vor allem Milch und Butter. Vgl. „Durchsage von Edith Völker“, Verwaltung Berlin-Köpenick, undatiert, wahrscheinlich 20.6.1953, in: ebd., C Rep. 920, Nr. 115962. Die Öffnung der Sektorengrenzen habe zu einer „Befriedung der Bevölkerung“ geführt. Das war nicht nur politisch gemeint: „Viele Menschen begrüßen die Maßnahmen in erster Linie, weil sie nicht mehr stundenlange Wege zu machen haben und weil sie nun wieder ihre Verwandten besuchen können. Eine ganze Reihe von Menschen spricht aber offen aus, daß sie nun endlich wieder im Westen einkaufen können, vor allem Kleinigkeiten des persönlichen Bedarfs wie z.B. Schuhe, kosmetische Artikel, Nägel, Holzschrauben.“ Lei-

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telbereich. Um sie zu verbessern, trafen SED-Bezirksleitung und Magistrat zwei Entscheidungen: Zum einen erhielt der private Lebensmittelhandel die ihm im Mai 1953 radikal gekürzten Kontingente in vollem Umfang mit der Aussicht auf deren Erhöhung zurück. Er durfte auch wieder an der wichtigen Ost-Berliner Bedarfsermittlung teilnehmen.640 Zum anderen wurde eine Krisenversorgung organisiert, die auf effektivere Kooperation, Nutzung aller Reserven und Zügigkeit der Belieferung setzte. Vieles erinnerte an Kriegszeiten.641 Ab Ende Juni 1953 bildete die Rubrik „Kritik und Beschwerden der Bevölkerung“ den wichtigsten Punkt der regelmäßigen Tagesberichte der SED-Bezirksleitung, was vom Bemühen um eine größere Nähe zur Bevölkerungsbasis zeugte. Sie schien jetzt umso mehr geraten, als neben dem Lebensmitteldesaster nun auch der Mangel an Bettwäsche, Konfektion und „guten Schuhen“ zutage trat: „Wo bleiben die Importschuhe?“, fragte die Bezirksleitung. Sie kritisierte nun auch die bis dahin beschönigende Berichterstattung, die mit der tatsächlichen Situation nicht übereinstimme.642 Nach der westlichen Lebensmittelspende im Juli und August 1953, auf die noch eingegangen wird, und dem Wirksamwerden von sowjetischen Nahrungs-Soforthilfen gelang der SED eine Stabilisierung der Versorgung, die allerdings nicht flächendeckend ausfiel und sowohl zu eigenartigen Disproportionen im Warenangebot als aber auch vorübergehend zu mehr „Markt“ führte. Die Ur-

tende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Tagesbericht Nr. 27“, 14.7.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 603. 640 Vgl. Information der Abteilung Handel und Versorgung des Magistrats, 29.6.1953, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 605. Die SED beschloss die Aufhebung der Belieferungsstopps nicht nur für den privaten Einzelhandel, sondern auch für den privaten Großhandel. Vgl. „Zusatzplan für das 2. Halbjahr des Volkswirtschaftsplanes 1953 in Groß-Berlin“, 24.6.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 174/1, Bl. 217f. 641 In Ost-Berlin wurde Anfang Juli 1953 eine Kommission der SED-Bezirksleitung mit „außerordentlichen Vollmachten“ gebildet. Ihr unterlag u.a. die „sofortige Abnahme von Obst und Gemüse beim Erzeuger“, deren Verteilung an die Verkaufsstellen, die „Sicherung und Konservierung überschüssiger Mengen“ dieser Waren und eine „bewegliche Preisgestaltung“. Obst- und Gemüseimporte seien dem Oberbürgermeister sofort zu melden. Außerdem habe die Kommission die Transportmittel zu sichern. Bei Zucker sei eine „tägliche Menge zur Abgabe“ festzulegen und die Rohfettlieferung zu gewährleisten. Für Milch und Fleischkonserven wurden neue Preisregelungen angestrebt. Nicht zuletzt sollte die Getränkeversorgung gesichert werden. Protokoll Nr. 29/1953 der Sekretariatssitzung der SED-BL am 2.7.1953, in: ebd., Nr. 175, Bl. 10. 642 Vgl. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Tagesbericht Nr. 24“, 4.7.1953, in: ebd., Nr. 603.

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sache dafür lag im wachsenden Wettbewerb zwischen staatlichem und privatem Ost-Berliner Handel als Folge der genannten Liberalisierung.643 Allerdings führte die vorrangig aus politischen Gründen und Ängsten betriebene Warenkonzentration in Ost-Berlin zu chaotischen Erscheinungen. Plötzlich traten Überangebote bei gerade noch knappen Industrieprodukten und sowjetischen Fleischkonserven auf, die nur „schwer absetzbar“ seien und deshalb billiger wurden.644

5.4 Politische Konsequenzen in West-Berlin Im organisatorischen Mittelpunkt der Aktionen des Senats und nichtstaatlicher Organisationen stand am 17. Juni 1953 das Senatsbüro für Gesamtberliner Fragen. Zunächst sah es sich mit dem Problem konfrontiert, Tausende Streikende, aber auch Unbeteiligte, die durch die Abriegelung der Übergänge zwischen OstBerlin und den Westsektoren durch Sowjets und KVP sowie im „Eifer des Gefechts“ nach West-Berlin abgedrängt worden waren, wieder in den Osten zurück643 Für das III. Quartal 1953 wurde der Nahrungsmittelplan wesentlich erhöht: bei Fleisch und Fleischwaren von 12.774 t auf 14.521 t, bei Butter von 2.798 auf 3.722 t, bei Margarine von 2.213 auf 2.872 t, bei Zucker von 5.273 auf 7.949 t. Zusätzlich wurden dem Handel Industriewaren, Stoffe, Radios, Nägel und Glühbirnen zur Verfügung gestellt. Es fehlte jedoch weiter an Frischfleisch und Käse. Mitbedingt durch die westlichen Lebensmittelspenden, die Zurückhaltung beim Kauf sowjetischer Fleischkonserven und durch Gerüchte über bevorstehende Preissenkungen ging der Umsatz des staatlichen Handels seit September 1953 zurück. Angesichts eines plötzlichen Überangebotes an bestimmten Fetten musste der Magistrat Preissenkungen für Schmalz genehmigen. Auch führte er aufgrund eines Nachfragerückgangs bei Motorrädern, Fahrrädern und anderen Industriewaren einen Kauf auf Raten ein. Der sofort Initiativen entwickelnde private Handel verbesserte sein Warenangebot, das häufig besser war als in den HO- und Konsumverkaufstellen. Da der „private Einzelhandel alle Waren zum Verkauf“ erhalte, sei es „jetzt die Aufgabe des gesellschaftlichen Handels, sein Warensortiment zu vergrößern […], um im Wettbewerb mit dem privaten Einzelhandel Schritt zu halten“, mahnte die SED-Bezirksleitung. „Bericht über Maßnahmen zur besseren Versorgung der Bevölkerung“, 13.10.1953, in: ebd., Nr. 181, Bl. 114 und Protokoll Nr. 50/1953 der Sekretariatssitzung am 22.10.1953, in: ebd., Nr. 182, Bl. 6. 644 So wurde viel mehr Weißkohl geliefert, „als Berlin verkraften kann“. Während die Belieferung mit Butter, Margarine, Öl, Fisch, Schlachtfetten und Nährmitteln als „gesichert“ galt, reichten z.B. Eier und Frischfleisch nicht aus. Disproportionen gab es ebenfalls bei Industrieartikeln. Preiswertes Porzellan war kaum erhältlich, dafür gab es aber „riesige Lagerungen an Steingutgeschirr“, das man eventuell in West-Berlin loszuwerden gedachte. Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Vermerk, 5.8.1953, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 606 und Bericht, 16.10.1953, ebd.

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zuführen. Das Büro startete zu diesem Zweck bereits am Mittag des 17. Juni einen kostenlosen „Sondereinsatz“ der BVG, den es später durch „Transportmittel der städtischen Betriebe“ verstärkte. Reuter wurde durch „Kurzberichte“ ständig auf dem Laufenden gehalten. Im Verlaufe des Nachmittags gelang dem Büro kurzfristig eine Kooperation mit den Bezirksbürgermeistern, dem DRK und karitativen Verbänden zur „Betreuung der Demonstranten“. Es ging jetzt vorrangig um Versorgungsprobleme und um die Unterbringung von etwa 6.000 Demonstranten in Sammellagern und anderen Massenquartieren. Am 18. Juni kamen noch einmal 9.500 Ost- und Randberliner hinzu.645 Eine Reihe von ihnen erhielt nicht nur Lebensmittel, sondern auch Bekleidung und Schuhwerk.646 Sieht man vom politischen Kontext der Hilfen ab, handelte es sich hier um humanitäre Sofortmaßnahmen. Die Sache erhielt prinzipiellen Charakter, als der Präsident des Abgeordnetenhauses Suhr dem Regierenden Bürgermeister am 19. Juni vorschlug, aus Verantwortung für die Opfer der politischen Auseinandersetzung und ihre Angehörigen „sofort und praktisch wirksame Hilfe zu leisten“. Er regte dafür einen „Dispositionsfonds“ zur Verfügung Reuters an. Bei der Unterstützung der Bedürftigen sollte man seines Erachtens darauf achten, dass die am 17. Juni Geflohenen nicht Flüchtlinge, sondern „gefährdete Mitbürger Berlins“ seien. Sie sollten mindestens dieselben materiellen Unterstützungen wie die „normalen Flüchtlinge“ erhalten und darüberhinaus die Chance, „sich als Berliner Bürger im Westsektor niederzulassen“.647 Noch am gleichen Tag folgte ein entsprechender Beschluss des Senats mit der Selbstverpflichtung, weitere Maßnahmen zu beraten. Das Abgeordnetenhaus könne, falls parlamentarische Beschlüsse geboten seien, vorher nicht in die Sommerferien gehen. Aber noch standen schnelle Hilfen im Vordergrund des Handelns.648 Dazu gehörte auch die Erteilung einer befristeten Zugangsgenehmigung von drei Monaten für die noch in West-Berlin verbliebenen „Abgedrängten“. Sollte für sie die Rückkehr in den Ostsektor unmöglich sein, sei ihnen der Antrag auf eine Notaufnahme nahezulegen, „damit sie in den Genuss aller Rechte kommen können, die politischen Flüchtlingen zustehen“.649 Den Anfang 645 Erläuterungen zum Kurzbericht über die bisherige Tätigkeit des Büros für Gesamtberliner Fragen, 13.3.1954, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 12707. 646 Ebd. 647 Schreiben von Suhr an Reuter, 19.6.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 2466, Nr. 3113. 648 Vgl. Senatsbeschluß Nr. 3421 vom 19.6.1953, in: ebd. So übernahm der Senat auch die Bestattungskosten für die getöteten Opfer und beauftragte die Sozialämter mit der Betreuung und Unterbringung der Geflüchteten. Auch konnten vorübergehend alle Ostdeutschen West-Berliner BVG-Verkehrsmittel uneingeschränkt „gegen Ostgeld“ benutzen. 649 Senatsbeschluß Nr. 3466 vom 29.6.1953, in: ebd. B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 52.

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des offiziellen Gedenkens an den 17. Juni stellte am 23. Juni die Trauerfeier für die Opfer des Volksaufstandes dar, der, folgte man Suhr, nicht Erinnerung, sondern Gestaltung der Zukunft bedeute. Für die SPD war er „ein Tag der Verpflichtung“, die Spaltung des deutschen Vaterlandes zu überwinden, und für die drei Westmächte Symbol für Einheit und Freiheit.650 Am 3. Juli 1953 erklärte der Bundestag den 17. Juni 1953 als „Tag der deutschen Einheit“ zum gesetzlichen Feiertag. Die Befindlichkeit der West-Berliner unmittelbar nach dem Aufstand lässt sich prägnant an den Berichten der SED-Bezirksleitung ablesen, während Vor-OrtRapporte in den West-Berliner Quellen weitgehend fehlen. Dieser Tatbestand zeigt, dass die Folgen des 17. Juni, wenngleich er ein Gesamtberliner Ereignis war, in erster Linie ein mentales Problem der „Ostsektoralen“ blieb. Die SED gestand mit ihren Beobachtungen in West-Berlin jedoch faktisch ein, dass die Anteilnahme dort ein erstrangiger Einflussfaktor blieb und die Berliner Verflechtung auch so weiter wirkte – möglicherweise nun noch stärker. Ihre „Gegner“-Analysen stellten heraus, dass die West-Berliner im Ergebnis des Aufstandes in erster Linie ihre individuellen Interessen hervorhoben: Es ginge ihnen um den freien Zugang nach Ost-Berlin, um die Möglichkeit, dort weiter einzukaufen und – den Betroffenen – um die Rückgabe ihrer Grundstücke und Betriebe. Zwar gebe es nach dem 17. Juni in den Westsektoren „keine Pogromstimmung“ gegen die östliche Politik, stellten die SED-Beobachter fest, doch seien die meisten der Befragten der Meinung, eine Partei und Regierung, die derartige Fehler begangen habe, sei „nicht mehr tragbar“. Die SED erfuhr, dass ihre Politik „von den breiten Massen nicht verstanden wurde und wird“. Die West-Berliner stünden ihr ablehnend, teilweise feindlich, gegenüber, und sie bewerteten die Gewalt gegen die Aufständischen des 17. Juni als „Rückzug“ in ihre „alte“ Politik. Selbst große Teile der Arbeiterklasse glaubten dem RIAS und der Westpresse. Dass so viele Menschen aus dem „demokratischen Sektor“ und der DDR „im großen Ausmaß in der letzten Zeit“ in West-Berlin einkauften, sähen die West-Berliner als Beweis für die Überlegenheit der dortigen Marktwirtschaft und umgekehrt als Zeichen des schlechten Lebensstandards im Osten. Der 17. Juni sei in ihren Augen ein „Protest gegen die schlechten Lebensverhältnisse“ gewesen, die Mehrheit der West-Berliner Arbeiter habe ihn deshalb begrüßt – wie sie auch die Parole: „Sturz der Regierung“ billig650 Suhr meinte, man müsse diesem Tag einen neuen Sinn dadurch geben, dass man sich selbst eine Aufgabe stellte. Man sei eben „nicht hierher gekommen, um Erinnerungen auszutauschen und zurückzublicken, sondern um im Namen und im Geist der Männer des 17. Juni die Zukunft zu gestalten […]. Die 18 Millionen sollen wissen, daß sie nicht verlassen sind und daß sie sich auf uns verlassen können.“ Vgl. die Reden Suhrs und des SPDBundesvorsitzenden Ollenhauer sowie ein Telegramm der Hohen Kommissare, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 5476.

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ten. Zu dieser Sicht trügen die „Tausenden“ Besucher aus dem Ostteil der Stadt bei, die so täten, als seien sie „am Verhungern“, und die „in einer unverschämten Art“ gegen die Verhältnisse in der DDR „hetzten“. Gleichzeitig sei sich aber die Bevölkerung West-Berlins am 17. Juni ihrer „Insellage“ bewusst geworden. Sie fürchte den Ausbruch „eines bewaffneten Konfliktes und die Gefahr eines Krieges“.651 Auch hätten sich die Folgen des Ausnahmezustandes negativ auf ihre Einkäufe in Ost-Berlin niedergeschlagen, was der West-Berliner Handel auszunutzen verstehe.652 Andere Ost-Berliner Quellen sprechen hingegen von „Pogromstimmungen“ in den West-Berliner Betrieben gegen dort beschäftigte SED-Genossen, bestätigen aber massiv die bereits angeführte Furcht „vor kriegerischen Verwicklungen“. Ein Teil der Bevölkerung mache „Angsteinkäufe“.653 SED und Magistrat nahmen aber nicht nur die verbreitete Auffassung der West-Berliner zur Kenntnis, dass die SED „endgültig abgewirtschaftet“ habe; sie würden den 17. Juni bereits als „Volksaufstand“ bezeichnen und verurteilten „relativ einmütig“ den Terror bei seiner Niederschlagung. Verärgerung bei der SED riefen auch WestBerliner Solidaritätsaktionen „an der Basis“ für die Opfer des Volksaufstands hervor. Tatsächlich sammelten für sie Betriebsräte und Arbeiter in ihren Betrieben Geld, es gingen Unterschriftenlisten umher, in denen sie das Vorgehen gegen Ost-Berliner Streikkämpfer anprangerten; die Arbeiter versicherten allen Betroffenen im Ostteil Berlins ihre „volle Sympathie und tatkräftige Unterstützung“.654 In einigen Betrieben – so bei der BVG – verpflichtete sich der größte Teil der Kollegen, „einen Stundenlohn für die notleidende Bevölkerung in der Ostzone zu geben“.655 Aber auch im Alltag der West-Berliner Stadtbezirke wurde in kleinerem Rahmen Solidarität mit den Ost-Berlinern geübt.656 Von dieser Basis aus erging ebenfalls die Initiative zum „Bau eines Freiheitsdenkmals“ für die Beteiligten des Aufstandes. Damit einher ging antikommunistische Randale, die für die SED aber 651 Arbeitsbüro Westberlin der SED-BL: „Die faschistische Provokation am 17. Juni 1953 und ihre Auswirkungen auf Westberlin“, 21.7.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 177, Bl. 16. 652 So hätten West-Berliner Händler versucht, „aus der Notlage Nutzen zu ziehen und die Preise für Kartoffeln zu erhöhen“ (die man sonst im Osten kaufte). Erregte West-Berliner Frauen hätten dagegen heftig protestiert und in einigen Bezirken gedroht, „die Stände umzukippen“, Ebd., Bl. 32. 653 Vgl. Protokoll Nr. 25a/53 der Sekretariatssitzung am 21.6.1953, in: ebd., Nr. 174/1, Bl. 152. 654 Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Informationsnotiz, 22.6.1953, in: ebd., Nr. 602. 655 Vgl. Informationsnotiz Nr. 319 und 355, in: ebd., Nr. 604. 656 Beispielsweise veranstalteten West-Berliner am 14.7.1953 auf dem Oranienplatz einen Verkauf von Milch und Kirschen, die von Ost-Berlinern 1:1 erworben werden konnten. Vgl. Informationsnotiz Nr. 257, 14.7.1953, in: ebd., Nr. 603.

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weniger schwer wog als die von ihr besorgt festgestellten „ernsten Anzeichen des Zurückweichens der West-Berliner Genossen vor dem faschistischen Terror“.657 Das betraf auch die große Lebensmittelspendenaktion, die im Juli 1953 in WestBerlin anlief.

5.5 Der Aufstand als traumatische Erfahrung Am 17. Juni 1953 erlitt der Volksaufstand zwar eine Niederlage, war aber noch nicht überall beendet. Auch in Ost-Berlin gab es „Nachbeben“, und die SED war sich deren Stärke und Reichweite nicht sicher. Noch am 22. Juni lag der SEDBezirksleitung die „begründete Annahme“ vor, dass es zu einem Streik bei der Reichsbahn kommen würde.658 Vor allem aber wirkte in der DDR-Hauptstadt schon jetzt das „Bauarbeitersyndrom“. Bauarbeiter hatten am 16./17. Juni die Unruhen ausgelöst, und viele von ihnen fehlten am 22. Juni auf den Baustellen Stalinallee und Staatsoper noch immer, während in nahezu allen anderen Betrieben wieder gearbeitet wurde.659 Das war Anlass genug für eine Reorganisation der Ost-Berliner Bauindustrie, eine Mischung aus administrativen und strukturellen „antikapitalistischen“ Maßnahmen. Es ging der SED jetzt darum, noch widerständige Bauarbeiter insbesondere durch Isolation politisch handlungsunfähig zu machen.660 Aber auch in vielen Ost-Berliner Großbetrieben – etwa bei Schering 657 Zumeist radikalisierte Jugendliche hatten in Parteilokalen und Kreisbüros der SED (Steglitz und Zehlendorf) Zerstörungen angerichtet, die insbesondere auf Losungen, Transparente und „Bilder von Arbeiterführern“ zielten. Politisch ernster für die SED-Führung waren Ängste bei ihren West-Berliner Mitgliedern und die „Abweichler“-Position einiger; Ulbricht habe bei ihnen keine Sympathien, und auch sie äußerten: „Der Spitzbart da oben muß verschwinden.“ Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Informationsnotiz, 22.6.1953, in: ebd., Nr. 602. 658 Bei der Beratung am 22.6. in der SED-BL wurde die allgemeine Lage als „sonst ruhig“, die „Stimmung jedoch (als) gespannt“ bezeichnet. Man rechnete weiter mit dem Versuch des „Gegners“, neue Aktionen auszulösen. Protokoll Nr. 26/1953 der Sekretariatssitzung am 22.6.1953, in: ebd., Nr. 174/1, Bl. 155f. 659 Auf der Baustelle Staatsoper fehlten 104 Bauarbeiter unentschuldigt, in der Stalinallee insgesamt 225. Vgl. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Informationsnotiz, 22.6.1953, in: ebd., Nr.602. 660 Von allen Baustellen der Stalinallee und am Krankenhaus Friedrichshain seien „alle politisch unzuverlässigen sowie demoralisierten Elemente konsequent zu entfernen“, desgleichen „unverzüglich“ die „feindlichen Kräfte“ in den Verwaltungen der VEB Bau, Ausbau, Industriebau und Tiefbau. Darüber hinaus wurde die „Verquickung zwischen volkseigenen und privaten Baubetrieben auf einer Baustelle und innerhalb eines Bauobjektes“ verboten. Die VE-Betriebe hätten Bauvorhaben vollständig zu übernehmen und die privaten Betriebe „dürfen nur Aufträge für selbständige Bauobjekte erhalten“. Den VEB sei unter-

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und dem EAW J. W. Stalin – tauchten immer wieder Forderungen nach freien Wahlen und deutscher Einheit, aber auch nach höheren Stundenlöhnen, Abschaffung der Normen, wöchentlicher Auszahlung des Lohnes, einer „richtigen Gewerkschaftsabteilung im Betrieb“ sowie nach Preissenkungen auf. Überdies wurde Straflosigkeit für die Streikenden vom 16. und 17. Juni und der Abzug aller Besatzungstruppen „und der russischen Panzer“ verlangt. Die SED-Vertrauensleute berichteten, dass „ein großer Teil der Arbeiter“ äußerte, der 17. Juni sei keine Provokation des Westens gewesen und die jetzt eingetretenen Maßnahmen der Regierung wären von den Arbeitern erzwungen worden. Im Übrigen verträten sie mehrheitlich immer noch die Auffassung, „dass es richtig war, am 17. Juni auf die Straße zu gehen und zu streiken“.661 Ein anderer interner Bericht führte an, dass viele Arbeiter sich in den Betrieben „noch zurückhaltend“ verhielten und schwiegen: „Zum Teil sind sie bedrückt über die Ausmaße des Streiks und der Demonstration, zum Teil aber halten sie sich mit Äußerungen zurück aus Furcht, dass sie dadurch Unannehmlichkeiten hätten“. Die Rücknahme der Normerhöhung stehe laut Bericht aber im Mittelpunkt der Diskussionen am Arbeitsort. Die Kollegen stellten „mit Genugtuung“ fest, „dass es nun wohl nicht mehr möglich sei, die Normen administrativ festzulegen“. Ein weiteres Thema bilde die Verhängung des Ausnahmezustandes durch die sowjetische Besatzungsmacht. Die überwiegende Mehrheit der Ost-Berliner, so hieß es sehr vorsichtig, bringe ihr gegenüber „eine gewissen Abneigung zum Ausdruck“, die sich bei einem „kleineren Teil“ bis zur „Feindseligkeit“ steigere. „Im gleichen Atemzug wird ebenfalls gegen die VP und KVP gehetzt.“662 Diese insgesamt sachlichen Informationen geben auch insofern ein realistisches Bild der Lage, als sie die Zurückweisung der Schuldbehauptungen der SED am Aufstand und das Fortbestehen der Forderungen dokumentieren, die zu ihm geführt hatten. Gleichzeitig lässt sich aus den Reaktionen der Führung ablesen, dass sie ihre Version vom 17. Juni als westlich gelenktem faschistischen sagt, an private Bauunternehmen Material, Werkzeuge und Maschinen zu verleihen und deren Belegschaften weiterhin am subventionierten Werkessen teilhaben zu lassen. Im Weiteren ordnete die SED für den Weiterbau der Stalinallee die Schaffung einer einheitlichen „Bauunion Friedrichshain“ an, und schließlich seien alle „Genossen Baufach- und Hilfsarbeiter“ sowie die Genossen der kaufmännischen und technischen Intelligenz, die u.a. nach Stalinstadt an der Oder abgezogen waren, wieder in die Stalinallee zu holen. Dort sei auch eine „provisorische Parteileitung Baustellen Stalinallee“ zu bilden. Vorlage für das Sekretariat der SED-BL: „ Betr. Reorganisation der Berliner Bauindustrie und Verstärkung der Parteiarbeit an den Baustellen der Stalinallee“, 2.9.1953, in: ebd., Nr. 179, Bl. 53. 661 Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, Tagesbericht Nr. 8, 19.6.1953 und Nr. 25, 6.7.1953, in: ebd., Nr. 602. 662 Tagesbericht Nr. 9, 20.6.1953, in: ebd.

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Putschversuch entweder verinnerlicht oder doch gut gelernt hatte und sie bereits einige Wochen nach dem Ereignis wieder den Weg zu ihren dogmatischen Positionen vor dem „Neuen Kurs“ einschlug.663 Während viele SED-Mitglieder tatsächlich über die Fehler ihrer Partei nachdachten und sie sicherlich auch bereuten, vielleicht auch nach neuen Ansätzen suchten, um die Kluft zwischen Partei und Volk irgendwie zu überwinden, empfanden ihre Führer den 17. Juni als eine Art „Betriebsunfall“, dessen Folgen am besten durch die „bewährten Methoden des Klassenkampfes“ zu überwinden seien: Niederhaltung des politischen Gegners, undifferenzierter Antikapitalismus und soziale Demagogie. Gerade in Berlin gaben die sowjetischen Organe diese Grundlinien vor oder billigten sie zumindest. Sicherheit hieß jetzt die Parole664 und Bestrafung der „Rädelsführer des 17. Juni“ bei Schonung der Mitläufer, der vom „Gegner“ Verführten.665 Hier wollte die SED nicht strafen, sondern von neuen Protesthandlungen abschrecken. Dass der alte Machtapparat bald wieder intakt war und die „Werktätigen“ in gewohnter Weise administrierte, zeigt eine instinktlose Anordnung des DDR-Arbeitsministeriums: Die durch die Teilnahme am Aufstand entstandenen Fehlstunden könnten natürlich nicht bezahlt werden.666 In den folgenden Jahren entwickelte sich bei der SED das Syndrom 17. Juni. Zum einen versuchte ihre Berliner Parteiorganisation, die vom Volksaufstand beeinflusste Arbeiterschaft wieder restlos „in den Griff“ zu bekommen; und zum anderen bemühte sie sich vorrangig um dessen Neutralisierung im Denken ihrer Bürger. Die wichtigste Problemgruppe stellte dabei die Jugend dar, die überdies 663 Der SED-Ideologe und langjährige Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ Hermann Axen kritisierte, „daß es in den Betrieben bisher nicht gelungen sei, ganze Gruppen von Provokateuren oder Faschisten zu entlarven“. Die SED-Kreisleitungen gingen „noch zu zögernd an die Lösung dieser Frage heran“. Protokoll Nr. 41/1953 der Sekretariatssitzung am 3.9.1953, in: ebd., Nr. 179, Bl. 4. 664 Bereits am 2.7.1953 wurde die Zahl der Ost-Berliner freiwilligen VP-Helfer von 1.000 auf „zunächst einmal“ 10.000 erhöht. Protokoll Nr. 29/1953 der Sekretariatsleitung am 2.7.1953, in: ebd., Nr. 175, Bl. 16. 665 Vgl. zur Bestrafungspraxis in Ost-Berlin: Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 112f. 666 „Wo in Betrieben und anderen Einrichtungen Arbeitsniederlegungen erfolgt sind, kann für die nicht geleisteten Arbeitsstunden auch keine Entlohnung erfolgen nach dem Grundsatz, daß Löhne und Gehälter nur für tatsächlich geleistete Arbeit gezahlt werden. Wer seiner Arbeit nicht nachgegangen ist, und dadurch Störungen im normalen Ablauf unserer Wirtschaft und insbesondere Produktionsausfall verschuldet hat, kann dafür keine Entlohnung erwarten.“ Nur wer an der „Bewachung des Betriebs“ teilgenommen habe, würde nach seinem bisherigen Durchschnittsverdienst bezahlt. Anordnung des Ministeriums für Arbeit, 19.6.1953, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Abteilung Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (PAAA/MfAA), A15563.

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durch den West-Berliner Einfluss am stärksten gefährdet schien.667 Wenngleich die Partei- und Staatsorgane den Arbeiterwiderstand beschwiegen, waren sie jedoch in den Betrieben nicht vor „Schmierereien“ und Flugblättern gefeit, die an den 17. Juni erinnerten. Für die Berliner SED konnte ein einziges Flugblatt der Beweis dafür sein, dass im betreffenden Betrieb noch „feindliche Kräfte“ vorhanden waren.668 Diese Wahrnehmung zog in der Regel neue Sicherheitsmaßnahmen nach sich, die das Bild des Volksaufstandes kurzfristig mehr auffrischten als verblassen ließen. Das war 1954 besonders sichtbar. Der Erste Sekretär der SEDBezirksleitung hatte für den ersten Jahrestag des 17. Juni einen besonderen Sicherheitsplan ausarbeiten lassen und ihn an den Magistratsapparat und die Werkleiter durchgestellt: Vor allem müsste es mit der Versorgung, dem Verkehr und der Naherholung klappen.669 Als allerdings die BGL der VEB Hochbau (Friedrichshain) für ihre in der Stalinallee tätigen Bauarbeiter für den 12. Juni 1954 eine Dampferfahrt organisierte, witterte die SED eine „neue Provokation“. Hatte nicht der Bauarbeiterstreik am 17. Juni auf einer Dampferfahrt (am 13. Juni 1953) seinen fatalen Ausgang genommen?670 Aber nicht nur in diesem Fall671 folgten Sicherheitsmaßnahmen: Sie waren beispielsweise auch an Ost-Berliner Schulen spürbar.672 Als aber alles ruhig blieb und diejenigen West-Berliner, die den Tag in Ost-Berlin feierten, ebenfalls keinen Ärger machten, herrschte bei den

667 Der „zersetzende Einfluß des Gegners unter der Jugend (sei) sehr stark“ Es gebe Fälle – so in der Lehrwerkstatt des VEB Fortschritt Berlin – bei denen Lehrlinge „hetzten“, weil ihre Väter am 17. Juni 1953 verhaftet und eingesperrt worden waren. „Bericht über die Ergebnisse der Untersuchungen der massenpolitischen Arbeit des FDJ“, 18.1.1954, in: ebd., Nr. 1357. 668 Vgl. Protokoll Nr. 2/1954 der Sekretariatssitzung am 14.1.1954, in: ebd., Nr. 202, Bl. 8f. 669 Protokoll Nr. 19/54 der Sekretariatssitzung am 26.5.1954, in: ebd. Nr. 213/1, Bl. 270. 670 Vgl. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 87f. 671 Die SED argwöhnte: „Die schwache politisch-ideologische Arbeit durch die BGL, der schlechte Organisationsstand des FDGB auf dieser Baustelle lässt darauf schließen, dass hier der Gegner versucht, eine neue Provokation zu starten.“ Deshalb werde ein Vertreter der zentralen Parteileitung am 12.6.1954 an der Fahrt teilnehmen. Ihr „Initiator“ sei namentlich bekannt. Abteilung Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen, „Wochenbericht“, 13.5. 1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 606. 672 Die Kreisleitung Friedrichshain teilte der BL „besorgt“ mit, dass einige Grundschulen zum 17.6.1954 Wandertage angesetzt hätten, die von der Abteilung Volksbildung im Rat des Stadtbezirks genehmigt worden seien. Daraufhin führte die SED-Kreisleitung Aussprachen sowohl mit der Abteilung Volksbildung als auch den Pädagogischen Räten der Schulen zur „Klärung dieser Frage“. Ein Lehrer habe seinen Schülern erklärt, am 17.6. sei schulfrei. „Diese Äußerung wird untersucht.“ Leitende Organe […], Informationsnotiz Nr. 457, 17.6.1954 und Nr. 459, 19.6.1954, in: Nr. 607.

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Verantwortlichen Erleichterung: Der 17. Juni 1954 signalisierte „Normalität“.673 Ab Mitte der 50er Jahre ging die SED- und Staatsführung stärker dazu über, alle Erinnerungen an den Volksaufstand zu tilgen. Das nahm stellenweise skurrile Züge an.674 Gezieltes Vergessen bildete auch den Grund dafür, dass die SEDBezirksleitung auf eine ursprünglich für den 17. Juni 1957 geplante große Kampfgruppendemonstration verzichtete.675 Allerdings konnte niemand verhindern, dass in Ost-Berlin verschiedene soziale Gruppen und Einzelpersonen, zumeist in überschaubaren Konfliktsituationen, gelegentlich den Geist des 17. Juni heraufbeschworen. So meinten Mitarbeiter der Ost-Berliner Industrie- und Handelskammer Anfang 1955 besorgt, der „Neue Kurs“ sei bereits wieder zum „Alten Kurs“ geworden. Wenn wir (die SED) „die Zügel weiter so anziehen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn es wieder einen 17. Juni gibt“. Einige Einzelhändler meinten, im März oder April könne es „soweit sein“.676 Parteiintern spielte der Volksaufstand jedoch weiterhin eine wichtige Rolle. Nach den „Säuberungen“ von unzuverlässigen Parteimitgliedern stellte die Parteibürokratie bei Ost-Berliner Kaderangelegenheiten, speziell bei Aufnahmen von Kandidaten oder neuen Mitgliedern der SED, die Frage, wie sich die Betreffenden am 17. Juni 1953 verhalten haben.677 In den Aufnahmeanträgen fand sich eine neue Rubrik: „Verhalten am 17.6.1953“. Sie wurde auch nach dem Mauerbau fortgeführt.678 Obwohl die SED und viele „Werktätige“ nicht mehr über den Volksaufstand sprachen, hatte ihn die kommunistische Führung, aber auch die 673 Alles sei im Wesentlichen normal verlaufen, insbesondere in den Betrieben. Dort „wo Kollegen fehlten“, wurde untersucht, welche Gründe dafür vorlagen. Viele West-Berliner hatten den für sie freien Tag genutzt, um ihn im Ost-Berliner Grünen zu verleben. Es seien zusätzlich 142 S-Bahnzüge nötig gewesen, um die auf 120.000 geschätzten Besucher vorrangig nach Grünau und zum Müggelsee zu befördern. Informationsnotiz Nr. 458, in: ebd. 674 Vgl. Michael Lemke, Der 17. Juni 1953 in der DDR-Geschichte. Folgen und Spätfolgen, in: APuZ, B 23/2003, 2.6.2003, S. 14. 675 Vgl. Beschluß „Maßnahmen der Partei zum 17. Juni 1957“, Protokoll Nr. 015/57 der Sitzung des Büros der SED-BL am 6.6.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 293, Bl. 4. 676 Abteilung Leitende Organe und Massenorganisationen, Wochenbericht, 11.1.1955, in: ebd., Nr. 610. 677 Bei der Beurteilung gab es eine Hierarchisierung; vorbildlich, einwandfrei, abwartend. Häufig tauchten bei den Begründungen kurze Texte auf: Sie oder er sei für vorbildliches Verhalten am 17.6.1953 ausgezeichnet worden, war bei der VP eingesetzt, habe „ohne Unterbrechung“ im Betrieb gearbeitet oder „ohne Unterbrechung“ studiert. „Ohne Unterbrechung“ war das gängige Synonym für: „hat am faschistischen Putsch“ nicht teilgenommen. Vgl. ebd., hier vor allem die Nr. 260/1 (Bl. 16, 18, 23, 26) und das Schreiben der SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg an das Büro der SED-BL, 26.5.1956, in: ebd., Nr. 993. 678 Vgl. ebd., Nr. 233, 375, 416 (1958); 472 (1961).

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Apparate, tief verinnerlicht. An jedem Jahrestag des Volksaufstandes wiederholten sich inzwischen ganz unsinnige Sicherheitsvorkehrungen679; das Misstrauen galt vorrangig den sensiblen Bereichen Produktion und Handel sowie schwer kontrollierbaren Berufsgruppen.680 Dennoch tauchte der 17. Juni in Krisensituationen in der Erinnerung hin und wieder681 wie ein Gespenst auf, das sich zu materialisieren drohte und die Obrigkeit erschreckte. Indirekt war der Tag auch präsent, als die SED den West-Berlinern im Jahr des Mauerbaus riet, statt seiner zu gedenken, ihn in der schönen Natur zu verbringen – mit Erfolg, wie die Ost-Berliner Führung meinte.682 Demgegenüber bildete der Volksaufstand in West-Berlin zwar keine Konstante der Politik mehr, erfuhr jedoch nach Bedarf Aktualisierungen.683 679 Ständig wurde von den Ost-Berliner Großbetrieben am 17. Juni erhöhte Wachsamkeit verlangt. Bei den SED-Kreisleitungen bildeten sich militärisch organisierte „Agitations“und „Aktivgruppen“ in Zivil, die bei „Störversuchen“ sofort einsetzbar waren, und dem Präsidenten der Ost-Berliner VP befahl die SED-Führung noch 1959 anläßlich des 17.6. die Verstärkung der Sektorengrenzen. „Stellungnahmen zu den Maßnahmen des Gegners am 17. Juni“, Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 015/59 vom 11.6.1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 382, Bl. 3. 680 Besonders wurde auf die Präsenz der „Werktätigen“ an ihrem Arbeitsplatz geachtet. Sogenannte „Stimmungskontrollen“ erfolgten 1960 in den Schwerpunkten Markthalle und HO-Warenhaus am Alexanderplatz. Schwer kontrollierbar waren hingegen die Berliner Binnenschiffer, von denen einige unter allerlei Vorwänden am 17. Juni nicht arbeiteten. „Kurzinformation“ der SED-BL, 17.6.1960, in: ebd., Nr. 628. 681 Etwa, wenn „Klassengegner“, wie es die SED-Bezirksleitung sah, in den Ost-Berliner Geschäften „bestimmte Mängel in der augenblicklichen Versorgung“ ausnutzten, um „die Bevölkerung für einen neuen 17. Juni aufzuputschen“. Beispielsweise habe eine Hausfrau angesichts der miserablen Angebotslage gesagt: „Bei euch fehlt ja alles. Aber es kommt sowieso bald anders, wenn der nächste 17. Juni kommt.“ „Kurzinformation“, 26.5.1961, in: ebd., Nr. 632. Diese Stimmung schien in der akuten Systemkrise der DDR ab 1960 verbreitet gewesen zu sein. So wurde von Mitarbeitern des Instituts für Regelungstechnik im Friedrichshain berichtet, die reale „Symptome eines 17. Juni“ sähen. „Information über Argumente und Stimmungen“, 13.6.1961, in: ebd. 682 Die SED-BL habe den vom Senat zur Gedenkfeier für den Volksaufstand aufgeforderten West-Berlinern geraten, stattdessen den 17. Juni „in schöner Umgebung“ zu verbringen – auch „im demokratischen Berlin“. Sie resümierte: „Die Mehrheit der Westberliner Bevölkerung folgte diesem Rat.“ Es ist nicht klar, ob die BL tatsächlich geglaubt hat, dass dieses West-Berliner Feiertagsverhalten das Ergebnis ihres „Rates“ war. Bericht der SED-BL zur 6. Bezirksleitungssitzung, 6./7.7.1961, in: ebd., Nr. 473, Bl. 35. 683 Wenn es, wie die UdSSR und die SED vorgeschlagen hatten, „zwei deutsche Friedensverträge“ geben sollte, dann würde – meinte der Reg. Bgm. Brandt – die deutsche Forderung auf Selbstbestimmung wie vor acht Jahren „niedergewalzt“ werden. Das sei der Versuch, „den Aufstand des Jahres 1953 zum zweiten Mal niederzuschlagen“. Rede Brandts auf der Gedenkfeier zum 17. Juni 1961, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 5476.

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Auch das unterstreicht, dass der Volksaufstand zwar ein singuläres Ost-, in seinen Kontexten und Folgen aber auch ein gesamtdeutsches und ebenfalls Gesamtberliner Ereignis war. Als Nachkriegszäsur hat er Politik und Gesellschaft auf beiden Seiten disproportional mitgeprägt. Durch den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erlitten die DDR und ihre Hauptstadt, so wie sie von der SED und ihren Bündnispartnern 1949 in Umkehrung westlicher Magnetvorstellungen als deutsche Vorbilder konzipiert worden waren, ihr eigentliches Desaster auch und vor allem deutschland- und berlinpolitisch. In dieser „Stunde der Wahrheit“ stellte sich eben nicht nur die Frage, wie es mit der DDR und Ost-Berlin weitergehen würde. Kaum jemand übersah, dass für die Konsolidierung der Verhältnisse in West-Berlin vom ostdeutschen Volksaufstand ein deutlicher integrativer Schub ausging. Nicht zuletzt waren es West-Berliner, die sich gegen die Neutralitäts- und Sicherheitsofferten einer Sowjetunion aussprachen, die gerade gezeigt hatte, was von ihren Friedensbeteuerungen zu halten war, und die Panzer gegen ihre Landsleute auffahren ließ. Konnte ein Beweis für die „sowjetische Gefahr“ deutlicher ausfallen? Nicht von ungefähr erhielt die „Politik der Stärke“ – 1953 allemal – in den Westsektoren eine gewisse Volkstümlichkeit. Auch verfestigte sich der Alleinvertretungsanspruch. Hatte der Westen die Verweigerung von offiziellen Kontakten zur DDR und Ost-Berlin bislang mit der fehlenden Legitimation der SED begründet, so argumentierten Senat und Bundesregierung nun noch stärker moralisch: Die Bevölkerung der Ostzone habe der SED am 17. Juni jedes Vertretungsrecht abgesprochen. Bundesregierung und Senat vollzögen mit ihrer Gesprächsverweigerung deshalb nichts anderes als das Votum der Ostdeutschen über die „Pankower“. Ein Abgehen vom Alleinvertretungsrecht würde „eine Beleidigung der zahllosen Opfer an Leben und Freiheit“ und „Verrat“ an den Ostdeutschen sein.684 Und wenn für verschiedene Kräfte in beiden Teilen Deutschlands und Berlins das ostdeutsche Modell bislang noch als akzeptable Alternative zur westdeutschen Entwicklung galt, war es für viele, in ihrem Urteil bisher Schwankende das, was es war: eine stalinistische Diktatur.

5.6 Amerikanisches „Affenfett“ als politische Waffe? Bereits vor dem 17. Juni 1953 hatte es in der Regierung der USA Überlegungen gegeben, die ostdeutschen Bürger, vorrangig aber die des sowjetisch besetzten Sektors von Berlin, durch Lebensmittelspenden zu unterstützen. Doch erst nach 684 Erklärung Adenauers: „Meine lieben Landsleute in Ostberlin und in der Sowjetzone“, 4.9.1953, RIAS Berlin, 22.15 Uhr, in: Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus (StBKAH), Jg. 1953, Nr. IV, S. 2.

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dem Scheitern des Volksaufstandes entschlossen sich Präsident Eisenhower und seine Berater, eine derartige Aktion tatsächlich durchzuführen.685 Natürlich dachten sie auch an eine konkrete humanitäre Hilfe, stärker jedoch an die weitere Destabilisierung der ostdeutschen Verhältnisse, deren sowjetischer Garantiemacht man eine neue „Schlappe“ bereiten wollte. Denn zum einen sollte die Lebensmittelspende eine effektive Sympathiewerbung für den Westen mit der Absicht verbinden, die Sowjets und die SED im symbolträchtigen Berlin zu delegitimieren und dadurch zu blamieren, dass die kommunistische Herrschaft als unfähig vorgeführt würde, die fundamentalen Bedürfnisse der Ostdeutschen zu befriedigen. Und zum anderen trug eine begrenzte Unterstützungsaktion nicht zu einer unerwünschten Festigung der wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR bei.686 Als die Sowjetunion, wie erwartet, ein offizielles Hilfsangebot der USA für Ostdeutschland im Umfang von 15 Millionen Dollar zurückwies, lief das „Eisenhower-Paket-Projekt“, wie es nun hieß, in Absprache mit der Bundesregierung an. Ein entsprechender Briefwechsel zwischen Eisenhower und Adenauer, dem das Hilfsprogramm Vorteile für die Bundestagswahlen im Herbst 1953 verschaffen sollte687, wurde am 10. Juli veröffentlicht. Er klärte, dass es sich um eine koordinierte Aktion mit dem Hauptschauplatz Berlin handeln würde, bei der die USA zwar den finanziellen Löwenanteil trugen, aber sich auch die Bundesrepublik an den Kosten beteiligte. Mit von der Partie war der Senat von Berlin. Näher dran an den Problemen Ost-Berlins und der stadtnahen Randgebiete, setzte er sich seit Jahren, jetzt aber unter dem frischen Eindruck des 17. Juni, für eine Unterstützung der Menschen in dieser Region ein und entwickelte im Kontakt mit der Bundesregierung konkrete Vorstellungen.688 Wichtiger Beweggrund für eine schnelle Hilfe war das Drängen der SPD. Sie forderte den sozialdemokratisch geführten Senat auf, „alles zu tun, um schnellstens Hilfsmaßnahmen für die notleidenden Menschen im Osten unserer Stadt durchzuführen“.689 Die Stadtregierung aus SPD und CDU wusste, dass sie angesichts der angespannten Haushaltslage dazu allein nicht in der Lage war. Doch erklärte sie sich intern bereit, 685 Vgl. Christian F. Ostermann, „Die beste Chance für ein Rollback“? Amerikanische Politik und 17. Juni 1953, in: Christoph Kleßmann/Bernd Stöver (Hrsg.), 1953 – Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa, Köln u. a. 1999, S. 126. 686 Vgl. ebd. 687 Vgl. ebd., S. 127. 688 Vgl. Schreiben von Reuter an Vizekanzler Franz Blücher, 10.7.1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 927, Nr. 31–91. 689 Schreiben von Franz Neumann, Vorsitzender des SPD-Landesverbandes Berlin, an Reuter, 9.7.1953, in: ebd.

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„verwaltungsmäßig eine solche Aktion durchzuführen, wenn Mittel von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt werden“.690 Nachdem die prinzipiellen Fragen mit ihr und den USA geklärt waren, übernahm der Senat die Organisation und das verwaltungstechnische Prozedere einschließlich der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen.691 Die über Rundfunk, Presse und Aushänge in West-Berlin informierten Ost-Berliner und DDR-Bürger meldeten sich in den Bezugsscheinstellen der für sie zuständigen West-Berliner Stadtbezirke und erhielten gegen die Vorlage ihres Personalausweises einen Bezugsschein über eine Dose Schmalz (800g), vier kleine Dosen Kondensmilch, 500g Hülsenfrüchte und ein Kilogramm Mehl pro Person. Die Lebensmittel stammten vorrangig aus der „Bundesreserve“, die gebildet wurde, um West-Berlin im Fall einer erneuten sowjetischen Blockade für sechs Monate zu versorgen. Diese Reserve füllten Sofortlieferungen der USA laufend auf.692 Einem interministeriellen Gremium aus Senat und Bundesbehörden oblag die Kontrolle der Aktion, die sich dann jedoch als schlecht vorbereitet erwies. So führte der Mangel an Absprachen zwischen den Senatsabteilungen Wirtschaft und Ernährung sowie zwischen diesen und dem gesamtdeutschen Ministerium zu empfindlichen Pannen. Transport und Nachschub klappten nicht, bspw. ging das Mehl aus, weil die Kapazität der örtlichen Mühlen nicht ausreichte und der westdeutsche Großhandel zu spät eingeschaltet wurde, und es fehlte Verpackungsmaterial. Teilweise fand der Senat Ersatzlösungen.693 Doch zeigte sich das schwierigste Problem im unerwartet heftigen Ansturm auf die Ausgabestellen, vor denen sich lange Schlangen von Ost-Berlinern und DDR-Bürgern bildeten. In den ersten Tagen der Aktion warteten sie bis zu 14 Stunden, konnten häufig an dem für sie bestimmten Abholtag nicht mehr abgefertigt werden und mussten deshalb – kamen sie von weither – irgendwo übernachten. Überdies fehlte es an Hilfskräften, die sich vorrangig aus den Senatsverwaltungen und dem übrigen öffentlichen Dienst der Westsektoren rekrutierten. Diese freiwillig Täti690 Schreiben von Reuter an Neumann, 10.7.1953, in: ebd. 691 Vgl. die fünfseitigen „Richtlinien für die Durchführung der Lebensmittelhilfe für Bewohner des sowjetischen Sektors von Berlin und der sowjetischen Bestatzungszone“, Senator für Wirtschaft und Ernährung, 23.7.1953, und die diversen organisatorischen Festlegungen. Unterstrichen wurde, dass alle in den Bezugsschein-Ausgabestellen beschäftigten Kräfte dazu angehalten werden müssten, die Unterlagen auch „außerhalb der Dienstzeiten vor fremden Zugriffen zu sichern“. Überdies dürften in den „Deutschen Personalausweis“, der beim Empfang der Lebensmittelspende von den Ostdeutschen vorzulegen sei, „auf keinen Fall“ Eintragungen vorgenommen werden. Ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1770, Bl. 109–129. 692 Vgl. ebd., Bl. 24, 114–117. 693 Vgl. Protokoll „Versorgung der Ostbewohner“, Sitzung der interministeriellen Konferenz im Hause des Senators für Wirtschaft und Ernährung, in: ebd., Bl. 103f.

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gen leisteten ein gewaltiges Arbeitspensum und arbeiteten zu Beginn der Kampagne oft auch die Nächte hindurch. Die bestehende Personallücke gedachten die Verantwortlichen durch die Mobilisierung der Stadtbezirksverwaltungen und durch Hilfeersuchen an das Rote Kreuz sowie an Wohlfahrts- und andere Organisationen zu schließen.694 Da dies jedoch keine Sache von Stunden war, nahm die Entwicklung angesichts des Massenandrangs kritische Züge an – allein an den ersten beiden Tagen, am 27. und 28. Juli, wurden 250.000 „Spendeneinheiten“ ausgegeben. Zeitweilig drohte die Entwicklung außer Kontrolle zu geraten und in ein organisatorisches Chaos zu versinken. Die Polizeiführungen von Zehlendorf, Wilmersdorf und Reinickendorf meldeten, dass sie „nicht mehr Herr der Lage“ seien. Angesichts der Schwierigkeiten einer Aktion, die zunehmend Eigendynamik entwickelte, aufwändiger wurde und auch teurer als geplant, zeigte sich bei Senatsbeamten Skepsis gegenüber ihrem Gelingen. Doch obsiegte der Wille der in der interministeriellen Konferenz versammelten Verantwortlichen, „durchzuhalten“.695 Diese Entschlossenheit, aber auch Flexibilität und Phantasie, halfen, die erheblichen Anfangsprobleme relativ zügig zu überwinden. Die Frage, warum Hunderttausende Bewohner des Berliner Ostsektors und der DDR – hier besonders aus den brandenburgischen Randgebieten der Hauptstadt – die Risiken und Strapazen des Päckchenempfangs in West-Berlin auf sich nahmen, lässt sich nur aus der Situation des Jahres 1953 erklären. In Ostdeutschland herrschte zwar keine Hungersnot, aber, wie geschildert, eine akute Lebensmittelknappheit. Angesichts des prinzipiellen Versorgungsproblems konnte die einmalige und begrenzte Lebensmittelspende nicht mehr sein als ein „Tropfen auf dem heißen Stein“. Doch boten Büchsenmilch und Schmalz für viele Ostdeutsche kurzfristig eine gewisse Entspannung der angespannten Konsumlage, zumindest aber eine Bereicherung des familiären Speisezettels.696 Dies umso mehr, als die 694 Vgl. ebd., Bl. 105. 695 Ein Vertreter des Senats erklärte: „Wir stehen mitten in einer politischen Aktion. Man darf nicht nach den Kosten fragen, sonst hätte man die Aktion gar nicht erst starten dürfen. Wir müssen mit dieser Aktion durchkommen.“ Ebd., Bl. 104. 696 Im Westteil der Stadt wurden viele DDR-Bürger mit der immer gleichen Frage konfrontiert: „Lohnte es sich bei den doch verhältnismäßig geringen Mengen und bei 30, 40, 50 Mark Fahrgeld, das dafür ausgegeben werden musste?“ Als typisch wurde die Antwort einer alten Frau bezeichnet, die mit ihrer kleinen Enkelin aus Zittau kam: „Wissen Sie, das ist wie 1945. Hat es sich damals gelohnt, dass man für einen Sack Zuckerrüben oder Kartoffeln ein paar Tage unterwegs war? Ja, sehen Sie, das war gar keine Frage. Wenn es eben keine Kartoffeln oder, wie jetzt, kein Fett gibt, dann haben die paar Büchsen einfach einen Wert, der in Geld einfach nicht auszudrücken ist.“ Rundfunkdienst Bonn, Deutsche Fragen – Informationen für Ost und West, 19.8.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1770, Bl. 21.

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Möglichkeit bestand, dass ein Mitglied der „Sippe“ die Rationen für alle oder mehrere Angehörige abholte. Nur so war die Sache einigermaßen rentabel, zumal, wenn man aus Dresden, Erfurt und anderswo anreiste. Auf die Situation nicht vorbereitet, befanden sich die DDR-Staats- und Parteiführung sowie der OstBerliner Oberbürgermeister in einer Zwickmühle: Einerseits waren Partei und Staatsapparat durch den Volksaufstand geschwächt, und es bestand die Gefahr, dass rigorose Maßnahmen, von denen man überdies nicht wusste, wie sie im Umfeld des „Neuen Kurses“ konkret auszusehen hätten, in Ost-Berlin neue Unruhen entfachten. Andererseits konnten sie den durchschaubaren Versuch des Westens nicht einfach hinnehmen, das System der DDR durch die Verschärfung der Gegensätze zwischen der kommunistischen Führung und der Bevölkerung weiter zu destabilisieren. So beabsichtigte das Gegenkonzept folgerichtig Eindämmung und Schadensbegrenzung mit zunächst vorrangig propagandistischen Mitteln. Die von Presse, Rundfunk und Agitatoren verbreitete argumentative „Linie“ baute sich, nach dem „Startschuss“ eines formalen Protestes des sowjetischen an den amerikanischen Hochkommissar697, wie folgt auf: Durch den „gescheiterten Putschversuch“ vom 17. Juni seien den Amerikanern viele ihrer Agenten in der DDR verlorengegangen, die Aktion „der Eisenhower, Adenauer, Reuter und Konsorten“ habe deshalb den Zweck, „neue Agenten zu werben“. Jeder, der zu den Registraturstellen in West-Berlin käme, müsse eine Unterschrift leisten, die ihn erpressbar mache. Im gleichen Zuge legten die amerikanischen Geheimdienste eine Agentenkartei an. Jeder „anständige Mensch sei deshalb verpflichtet, diejenigen unermüdlich und kameradschaftlich aufzuklären und zurückzuhalten, die glauben, für fünf Mark die Zukunft ihrer Familie und ihrer Kinder aufs Spiel setzen zu können, indem sie den Friedensstörern helfen, den Krieg vorzubereiten“.698 Appelle dieser Art sowie an die „nationale“ und persönliche Würde, aber auch an die Agentenängste der Ostdeutschen699, fruchteten indes ebenso wenig 697 Der sowjetische Hohe Kommissar Semjonow warf seinem amerikanischen Kollegen Conant ein „plumpes Propagandamanöver“ vor, das „mit Sorge um die wahren Interessen der deutschen Bevölkerung nichts zu tun hat“. Im Weiteren stellte er fest, „dass die amerikanischen Besatzungsbehörden in Berlin in letzter Zeit zu Maßnahmen greifen, die mit den elementaren Forderungen nach Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung unvereinbar sind“. „Neues Deutschland“, 26.7.1953. 698 Ebd. 699 In der SED-Propaganda artikulierte sich ein platter Antiamerikanismus, der an die „Ehre“ des Einzelnen appellierte: Die Amerikaner treiben „mit Ihnen ein böses Spiel“ und wollen „Sie erneut ins Unglück stürzen“, hieß es. „Überlegen Sie doch einmal: So wie sie nicht einfach Geld zum Fenster hinauswerfen, so tun dies erst recht nicht die Kapitalisten. […] Auf solche Betrügereien werden Sie als Mensch mit Ehrgefühl, Überlegung und Gewissen doch nicht hereinfallen! Bürger der DDR haben es nicht nötig, sich mit Bettelpaketen für

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wie die Apostrophierung der Spende als „amerikanisches Affenfett“700 und die Reueartikel von „geläuterten“ Ost-Berlinern, die bekannten, auf die Sache hereingefallen zu sein, sie aber jetzt durchschauten.701 Auch verliefen die zahlreichen agitatorischen Einsätze und Störversuche der SED und ihrer Verbündeten in West-Berlin schon deshalb ohne den gewünschten Erfolg, weil die West-Polizei durch ihre geheimen Ost-Berliner Informanten von den konkreten Planungen wusste und Provokationen in der Regel schon im Ansatz verhinderte.702 Es entwickelte sich ein „Katze-und-Maus-Spiel“, das in der Retrospektive eher wie eine Berliner Komödie wirkt, aber im Sommer 1953 bitter ernst war703 und vorrangig im Westen den undifferenzierten Antikommunismus verschärfte. Als die „Überzeugungsarbeit“ der SED und die Denunziationen der Spendenempfänger die Aktion mehr popularisierten als von ihr abhielten und gezielte Störmanöver, wie die Beseitigung von Informations-Plakaten des Senats, die Verbreitung von Falschmeldungen sowie gefälschten Lebensmittelgutscheinen704 kaum Wirkung zeigten, setzten ab Anfang August systematischer repressive Maßnahmen ein.705 Immer neue Sanktionen706 konnten den Strom der Paketempfänger zwar gelegent-

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die Ziele des Kalten Krieges kaufen zu lassen.“ Flugblatt der SED „Umsonst ist am teuersten“, undatiert, wahrscheinlich Anfang August 1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1771, Bl. 426. Vgl. Manuskript der Rede des Stellv. OB, Waldemar Schmidt, zum Tag der Opfer des Faschismus, undatiert, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 190. Beispielsweise habe eine namentlich genannte HO-Angestellte auf das Paket verzichtet, „um nicht Agentin des CIC zu werden“. „Neues Deutschland“, 16.8.1953. Vgl. die Berichte des Büros für Gesamtberliner Fragen über die „Taktik der SED bei den Störaktionen vor den Westberliner Lebensmittel-Verteilungsstellen und deren Auswirkungen“, 15.8.1953, in: Ebd., Nr. 1770, Bl. 13–15. Weitere Berichte ebd., Bl. 31–33. Vgl. „Vermerk für den Herrn Regierenden Bürgermeister. Wochenbericht [des Büros für Gesamtberliner Fragen] vom 5.–11.9.1953“, in: ebd., Nr. 1788, Bl. 20. Vgl. ebd., Nr. 1770, Bl. 43 und „Der Tag“, 30.7.1953. Vgl. ausführlich: Michael Lemke, Büchsenmilch als politische Waffe? Die westliche Lebensmittelaktion nach dem 17. Juni 1953 als innerdeutsche Systemkonkurrenz, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Agenda DDR-Forschung. Ergebnisse, Probleme, Kontroversen (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 112), Münster 2005, S. 133–157. Die nach dem 1.8. eingeleiteten Kontrollen und Schikanen reichten von der Veröffentlichung der Namen und Adressen von Paketabholern in der ostdeutschen Presse über die Beschlagnahmung der Lebensmittelspenden an den Grenzübergängen bis hin zu meistens kurzfristigen Verhaftungen und Verhören. In der Regel warf man den Paketempfängern vor, westliche Agenten zu sein, im Dienste der KgU oder anderer republikfeindlicher Organisationen zu stehen. Die Meldungen über Strafandrohungen u.a. bei Passvergehen mehrten sich. Die Grenzkontrolle wurde verschärft und angeordnet, dass alle Personen festzustellen seien, die Pakete aus West-Berlin abholten. In einer vom Präsidium der

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lich abschwächen, jedoch nicht unterbrechen. Sowohl die Berichte der SED als auch die des Senats und der West-Berliner Presse zeugten aber von der zunehmenden Gewaltbereitschaft der Menschen, die ihre Lebensmittelpakete nicht hergaben, und bei der Volkspolizei, die genau das wollte.707 Die Berichte über „Fledderungen“ von Lebensmittelpaketen, an denen auch „ehrenamtliche“ Vertrauensleute der SED und Hilfspolizisten teilnahmen und die daraus folgende Verachtung der Bevölkerung trugen zu einer hochgradigen Polarisierung der Fronten bei. Die Konfrontation erreichte ihren Höhepunkt, als die SED dazu überging, ihre Argumentation in die Tat umzusetzen, nicht die gut versorgten DDR-Bürger, sondern die „verelendeten“ West-Berliner Erwerbslosen und Rentner hätten die westliche Lebensmittelhilfe nötig. Lautsprecheransagen forderten auf den Ost-Berliner Bahnhöfen dazu auf, ihnen die erhaltenen Lebensmittel „freiwillig“ zu spenden. „Schallendes Gelächter“ tönte zurück.708 Die Staatsorgane versuchten durch Druck und Nötigung, dann aber auch durch Beschlagnahmen, ihre Absicht zu erreichen. Zwar wehrten sich viele der Betroffenen, und es kam zu neuen Tumulten, doch wurden die konfiszierten Lebensmittel zentnerweise709 zu einem von der SED geschaffenen „Zentralen Erwerbslosen-Ausschuss“ geleitet und über bestimmte Verteilerstellen in Ost-Berlin an die West-Berliner Zielgrup-

Volkspolizei an alle VP-Inspektionen gerichteten, von der KgU veröffentlichten Anordnung wurde die Beschlagnahmung der Pakete befohlen, „auch wenn es sich um keine ganzen bzw. vollständigen Pakete handelt“. Überdies seien alle Personalausweise der festgestellten Personen einzuziehen, sie „genau zu registrieren“ und zwei Exemplare der Registrierlisten an das zuständige VP-Kreisamt bzw. die VP-Inspektion mit der Auflage zu übersenden, eine der Listen an das jeweilige SED-Kreissekretariat weiterzureichen. Den Operationsstäben der Volkspolizei sei täglich „über die Ergebnisse der getroffenen Maßnehmen und über besondere Vorkommnisse“ sowie über die Anzahl der abgenommenen Pakete und Personalausweise zu berichten. Der Personenverkehr der Reichsbahn aus der DDR nach Ost-Berlin wurde zeitweilig rigoros eingeschränkt und der per Autobus oder Lastkraftwagen gänzlich unterbunden. Damit entstand über einige Wochen eine Art interne „Berlin-Blockade“. Vgl. ebd., S. 144–152. 707 Auf dem S-Bahnhof Fredersdorf bei Berlin begleiteten mehrere Hundert Menschen die Durchsuchungen der VP mit Pfiffen und Pfui-Rufen, befreiten drei verhaftete Frauen aus deren Gewahrsam und provozierten den Eingriff von zwei sowjetischen Soldaten, von denen einer Warnschüsse abgegeben habe. Vgl. LAB, B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1771, Bl. 394 und „Der Kurier“, 14.9.1953. Die „Neue Zeitung“ vom 9.9.1953 meldete sogar einen Todesfall. Als ein Volkspolizist einer Frau ihr Paket abnehmen wollte, habe sie ihm im Eifer der Auseinandersetzung mit der in West-Berlin erhaltenen Schmalzfleischbüchse „den Schädel eingeschlagen“. Diese Meldung wird von den gesichteten Akten nicht bestätigt. 708 Vgl. ebd., Nr. 1770, Bl. 36. 709 Vgl. ebd.

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pen gebracht.710 Mit einer bislang nicht gekannten Perfidie gaben SED und Magistrat diese gewaltsame Umkehr der westlichen Hilfsmaßnahme als freiwillige solidarische Aktion von Ost-Berlinern aus, die das wahre Ziel der westlichen Propagandaaktion erkannt und sich zur Unterstützung der Bedürftigen im Westen entschlossen hätten.711 Der Senat reagierte mit einer Presseoffensive, verbesserte die Spendenorganisation und vor allem das Sicherheitssystem.712 Es zeugte davon, dass auch er überreagierte.713 Trotz der SED-Repressionen führte er die Aktion fort. Am 14. September meldete die Westpresse die viermillionste Paketausgabe, am Ende der Kampagne am 3. Oktober seien es 5.559.866 gewesen. Diese Angabe bestätigte im Wesentlichen auch das MfS. Zweifellos genoss der Senat die prekäre Lage der kommunistischen Machthaber, „in der sie tun mögen, was sie wollen – sie machen es falsch“.714 Bekannt ist der drastische Ausspruch Reuters, dass die Aktion wie ein „Artillerieangriff“ gewirkt und eine „Fortsetzung des 17. Juni mit anderen Mitteln“ ermöglicht habe.715 Dennoch beabsichtigte der Senat, so sehr ihm die Ohnmacht der SED in der Berliner Systemkonkurrenz ins Konzept passte und er die Spendenaktionen für sich zu instrumentalisieren wusste, keine Eskalation der Spannungen. Zum einen nicht, weil er einen neuen 17. Juni vermeiden wollte und zum anderen nicht, weil 1953 nicht hinlänglich klar war, ob West-Berlin angesichts der noch immensen eigenen Probleme dem Druck des Ostens ganz unbeschadet standhalten würde. Auch befürchtete der Senat, dass, wie nach dem Volksaufstand, viele im Osten „Abgestrafte“ und Verängstigte in die WestSektoren kämen und hier versorgt werden müssten. Dagegen sträubten sich gerade 710 Die Aktion hatte bereits am 27. Juli mit einem symbolisch-propagandistischen Akt begonnen, als „östlich eingestellte“ Erwerbslose und Rentner West-Berlins nach Moabit dirigiert wurden, wo sie – so die Beobachter des Senats – „unter Ansprachen und Fotografieren von ihren ‚Ostberliner Landsleuten‘ Lebensmittel überreicht bekommen sollten“. „Vermerk für den Herrn Regierenden Bürgermeister. Wochenbericht [des Büros für Gesamtberliner Fragen] vom 25.–31.7.1953“, in: ebd., Nr. 1788, Bl. 144. 711 Vgl. „Neues Deutschland“, 8.8.1953. 712 Vgl. Aktennotizen des Büros für Gesamtberliner Fragen, 29.8.1953 und 29.10.1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1771, Bl. 354 und 422. 713 Die Leiter der Ausgabestellen hätten laufend darauf zu achten, ob sich von seinen Angestellten „jemand Notizen“ machte, „damit dann energisch eingegriffen werden kann“. Überdies sei das Personal zu überprüfen und alle Kräfte abzulösen, die in Ost-Berlin wohnen oder „bis vor kurzem“ dort lebten und arbeiteten. Auch im Schriftverkehr gab es umständliche Neuregelungen. Schreiben des Senators für Wirtschaft und Ernährung an die Bezirksämter, 17.9.1953, in: ebd., Bl. 388. 714 Manuskript Reuters für die Sendereihe „Wo uns der Schuh drückt“, in: RIAS Berlin, 15.8.1953, in: ebd., Bl. 24. 715 Zitiert nach: Ostermann, „Die beste Chance“, S. 133.

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das Landesarbeitsamt, aber auch politische Stellen des Senats. Sie meinten, die „Abholer der Lebensmittelspenden“ könnten erkennen, dass „die Lebensmittelaktion […] in erster Linie eine psychologisch-politische [sei]“ und sie sich eigentlich „über die Tragweite ihres Berliner Besuches“ klar sein müssten.716 Leitende Beamte der Senatsverwaltung plädierten für ein Ende der Lebensmittelaktion. Tatsächlich schürte die Hilfskampagne die Spannungen zwischen Ost und West. Sie drohte, nicht nur die Lage in Ost-Berlin, sondern auch im Westteil der Stadt zu destabilisieren. So sahen sich deren Verantwortliche vor die Frage gestellt, ob neue Turbulenzen im Umfeld des „Paket-Krieges“ der Sowjetunion nicht Gründe für Einmischungsversuche liefern könnten. Auch sahen sie, dass die Bilder der sich häufig mit der FDJ und anderen „gelenkten“ Demonstranten herumprügelnden West-Berliner Polizei nicht den Eindruck von Normalität und souveränem Handeln vermittelten. Aus der Auseinandersetzung um die Lebensmittelhilfe, die mit der Konfrontation zwischen SED-Staat und seinen Bürgern eine wichtige innenpolitische Dimension besaß, ging der Westen deshalb als Sieger hervor, weil er sich durch eine Entscheidung insbesondere der Ost-Berliner durchzusetzen vermochte und dabei Überlegenheit glaubhaft machte. Die Aktion erreichte die Delegitimierung der kommunistischen Diktatur wesentlich dadurch, dass er in einem sehr symbolischen Akt – aber dennoch konkret – das bot, was die andere, für das Wohl ihrer Bevölkerung eigentlich verantwortliche Seite, versprach, aber nicht hinreichend halten konnte: Nicht die Sowjetunion und die DDR, sondern Amerika und der Senat erschienen vielen Ost-Berlinern als Helfer in der Not und wahre Freunde. Die vom Westen demagogisch geführte Aktion widerspiegelte unmittelbar und in einer „reinen“ Form Konkurrenz zu Gunsten des Westens. Umgekehrt konnte die SED weder die eigene Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer Argumentation überzeugen noch die unterprivilegierten Schichten der West-Berliner Bevölkerung für sich mobilisieren. Doch besaß diese mit verteilten Rollen durchgeführte westdeutsch-amerikanische „Bündnisübung“ im Berliner Kalten Krieg für SED und Magistrat nicht nur negative Seiten. Zumindest beschleunigte sie sowjetische Überlebenshilfen, vor allem Lebensmittellieferungen, und festigte die politische Solidarität Moskaus mit Ost-Berlin. Damit ging ein Konflikt im Kalten Krieg zu Ende, der zwar von dem beiderseitigen Willen begrenzt wurde, einen 17. Juni nicht zu wiederholen, aber auch zeigt, dass beide Parteien seine gefährliche Zuspitzung an einem Ort in Kauf nahmen, der ohnehin ein Brennpunkt der Konfrontation war.

716 Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen an den Präsidenten des Landesarbeitsamtes, 11.9.1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1770, Bl. 368.

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5.7 Die Berliner Außenministerkonferenz 1954 und der regionale Systemkonflikt Der 17. Juni 1953 war auch im Ausland in noch relativ frischer Erinnerung, als sich die Außenminister der Vier Mächte vom 25. Januar bis 18. Februar in Berlin zur Behandlung der deutschen Frage trafen. Zwar besaßen weder die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR noch gar die Verwaltungen im „doppelten“ Berlin dabei ein Mitwirkungsrecht, doch ließen sie es an politischen Demonstrationen nicht fehlen. Die Berliner erwarteten, wie die meisten Deutschen, Fortschritte in der Frage der Wiedervereinigung, wurden aber bitter enttäuscht. Die Konferenz blieb in dieser zu einem west-östlichen Schlagabtausch geratenen Sache ohne Ergebnis. Während die Westmächte freie Wahlen forderten, schlug die UdSSR ein kollektives Sicherheitssystem in Europa vor, in dessen Kontext das deutsche Problem gelöst werden sollte. Damit waren im festlich geschmückten Berlin die Schemata der Diskussion festgelegt: Adenauer und der Regierende Bürgermeister Schreiber (CDU) plädierten für freie Wahlen, Ulbricht, die Regierung der DDR und Oberbürgermeister Ebert für die kollektive Sicherheit. Während der Präsident des Abgeordnetenhauses, der im Ton moderate Suhr, noch im Dezember 1953 auf eine propagandistische Verhandlungsofferte Eberts höflich geantwortet hatte717, reagierte Schreiber auf das Memorandum der DDR-Regierung zur Berliner Außenministerkonferenz unversöhnlich.718 Damit eskalierte wieder, was einige Wochen lang einem etwas leiseren Umgangston Platz gemacht zu haben schien. Die SED reagierte nervös, als sie von einer geplanten Kundgebung Adenauers am 23. Februar in West-Berlin, also unmittelbar nach der Außenministerkonferenz, erfuhr. Sie beabsichtigte eine Kon717 Suhr bestätigte den Eingang des Angebots von Ebert, aus beiden Teilen Berlins Vertreter zu benennen, die u.a. über eine gemeinsame deutsche Delegation zur Berliner Außenministerkonferenz beraten sollten. Suhr lud SED-Vertreter zu Sitzungen ins Abgeordnetenhaus mit dem Kommentar ein, er habe „nur unter dem Eindruck des 17. Juni geglaubt, diese Einladung nicht aufrecht erhalten zu können“. Jetzt wiederhole er sie. Vgl. Schreiben von Ebert an Suhr, 24.12.1953 und Antwortschreiben Suhrs an Ebert, undatiert, in: ebd., B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 267–272. 718 „In Wirklichkeit ist dieses üble Machwerk eines nationalen Verrats nichts anderes als der dreiste Versuch, ein bankrottes, volksfremdes Terrorsystem in der Maske einer Teilhaberschaft an einer gesamtdeutschen Regierung fortsetzen zu können. Damit ist erneut der Beweis erbracht, daß die Sowjetzonenregierung nichts anderes ist als das willfährige Instrument der aggressiven Absichten einer Versklavung und Verelendung des gesamten deutschen Volkes […]. Zum Teufel mit denen, die Deutschland verraten wollen.“ Auch sei die „sogenannte Volkskammer“ genau so eine „klägliche Ja-Sage-Maschine wie der Hitler´sche Reichstag“. Erklärung des Reg. Bgm. Schreiber, 3.2.1954, in: ebd. B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593.

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trolle darüber, „wie viele Menschen aus dem demokratischen Sektor daran teilnehmen“.719 Da auch die Republikflucht weiter anstieg und die Westpresse gegen die plakative Verleihung der „Souveränität“ der DDR durch die Sowjetunion polemisierte – sich auch über diesen Akt lustig machte –, sah die SED eine antikommunistische Welle auf sich zurollen. Neue oppositionelle Regungen in Ost-Berlin verstärkten eine diesbezügliche Befürchtung, die ein Aufruf des Senats noch schürte: Anlässlich der Berliner Außenministerkonferenz seien in ganz Berlin „Schweigeminuten“ für die Wiederherstellung der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit einzulegen. Die SED traf Gegenmaßnahmen720, konnte aber nicht verhindern, dass an Ost-Berliner Schulen dem West-Berliner Aufruf gefolgt und am 25. Januar „geschwiegen“ wurde.721 Von nun an wirkte ein spezieller Konfliktautoma719 Protokoll der Sekretariatssitzung der SED-BL Nr. 7/1954 vom 22.2.1954, in: ebd., Nr. 206, Bl. 2. 720 Der vom Senat beabsichtigten dreiminütigen Arbeits- und Verkehrsruhe in West-Berlin wurde durch eine konzertierte Aktion von SED, Magistrat und Massenorganisationen vorgebeugt, zu der besondere Anweisungen für den Ost-Berliner Polizeipräsidenten traten. Man müsse sichern, „daß bei uns diese Dinge auf keinen Fall durchgeführt werden“, lautete der Generalkommentar. Beschluß des Sekretariats der SED-BL, Protokoll Nr. 3/54 vom 21.1.1954, in: ebd., Nr. 203, Bl. 8. 721 Am 25.1.1954 sei es den „Feinden der Arbeiter- und Bauernmacht“ gelungen, „an einem Teil der Schulen im demokratischen Sektor von Berlin offene Provokationen zu organisieren. In 51 Schulen kam es zu Störversuchen gegen die Viermächtekonferenz. Einzelne Klassen führten, teilweise unterstützt von ihren Lehrern, die vom Schreiber-Senat […] propagierten Schweigeminuten durch. In 21 Schulen organisierten Schüler die Provokationen, bei 4 Vorkommnissen waren Lehrer die Organisatoren. In 26 Schulen trat nur durch Anfragen von Schülern und Lehrern nach Durchführung von Schweigeminuten die gegnerische Arbeit in Erscheinung. Die Provokationen beweisen die organisierte Arbeit des Ostbüros der SPD und einiger Kreise der Kirche unter den berliner Lehrern, Eltern und Schülern.“ Der „Gegner“ habe Jugendliche, „darunter auch FDJ´ler und Junge Pioniere“, zu den „Schweigeminuten“ veranlasst, und ein Teil der Lehrer habe dem „keinen energischen Widerstand“ entgegengesetzt oder die Schüler sogar „zu dieser Provokation“ aufgefordert. Selbst Genossen hätten deren „feindlichen Charakter“ nicht erkannt. Es setzte sofort eine umfangreiche Untersuchung der Vorfälle ein. Dabei wurde auf den Erfolg der „gegnerischen Arbeit“ besonders an den Ost-Berliner Oberschulen hingewiesen. Die Ursachen dafür sah die SED-BL in der schlechten FDJ-Arbeit, im Einschleusen WestBerliner „Schund- und Schmutzliteratur“ in die Schulen und in „organisierten Besuchen“ von Westkinos. Bei den scharfen Gegenmaßnahmen (Kontrollen, Einzelgespräche, Versammlungen u.a.m.) traten auch andere oppositionelle Schülerhandlungen zutage – etwa, dass Schüler beim Tode Reuters die Flaggen „auf Halbmast“ setzten. Kulturabteilung der SED-BL an das Sekretariat der BL: „Bericht über die politische Lage an den Schulen“, 3.2.1954, in: ebd., Nr. 204, Bl. 41f., 46–48. 49–56.

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tismus: Kaum hatte man in West-Berlin zu irgendeinem Anlass Schweigeminuten beschlossen, begann die Ost-Berliner SED, diesen Akt zu bekämpfen. Auch darin spiegelte sich die Defensivsituation ihrer autoritären Herrschaft. Doch wäre es einseitig, die Konfliktabhängigkeit der westlichen Seite zu übersehen. Häufig warteten politische und gesellschaftliche Kräfte in West-Berlin nur darauf, dass die SED – gezwungenermaßen – eine Aktion startete, die dann, wie im Umfeld der Berliner Außenkonferenz, gegen sie gekehrt werden konnte. Nach ihrem Ende zeigte sich deutlicher als zuvor, dass West-Berlin unter der Bedingung seiner sozioökonomischen Stabilisierung stärker zu offensiveren Strategien überging. Was pauschal Politik zur Wiedervereinigung hieß, zeigte sich konkret als Kampf gegen die ostsektoralen Verhältnisse und um das Denken und Fühlen der Berliner.

6. Berlin in Turbulenzen: Die zweite Berlinkrise und der Mauerbau 6.1 Chruschtschow-Ultimatum und Berlin-Konflikt im regionalen Kontext Das Chruschtschow-Ultimatum vom 27. November 1958722 erneuerte den Willen der West-Berliner, dem kommunistischen Druck Widerstand entgegenzusetzen. Überall regten sich Empörung und Protest, nicht etwa resignative Stimmungen. „Woher Chruschtschow den Glauben nahm, die Berliner würden massenhaft aus der Stadt fliehen und diese wie eine faule Frucht der DDR zufallen, habe ich nie erfahren“, wunderte sich Willy Brandt noch Jahre später.723 Am 1. Mai 1959, wenige Wochen vor Ablauf der Frist, die der sowjetische Ministerpräsident dem 722 Das Berlin-Ultimatum verlangte die Umwandlung West-Berlins in eine „Freie Stadt“ binnen sechs Monaten. Sollte es von den drei Westmächten nicht angenommen werden, drohte die UdSSR mit der Übertragung ihrer Berlinrechte auf die DDR im Rahmen eines separaten Friedensvertrages. Vgl. zu den politischen Ursachen des Ultimatums: Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963, Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, zu militär- und sicherheitspolitischen Krisenhintergründen: Mathias Uhl, Krieg um Berlin? Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlinkrise 1958–1962, München 2008; zum ostdeutsch-sowjetischen Verhältnis im Vorfeld und während der Krise: Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995; Hope M. Harrison, Driving the Soviets Up the Wall. Soviet -East German Relations 1953–1961, Princeton/NJ- Oxford 2003 sowie zum westlichen Krisenmanagement: Rolf Steininger, Der Mauerbau, Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, München 2001. 723 Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989, S. 34.

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tismus: Kaum hatte man in West-Berlin zu irgendeinem Anlass Schweigeminuten beschlossen, begann die Ost-Berliner SED, diesen Akt zu bekämpfen. Auch darin spiegelte sich die Defensivsituation ihrer autoritären Herrschaft. Doch wäre es einseitig, die Konfliktabhängigkeit der westlichen Seite zu übersehen. Häufig warteten politische und gesellschaftliche Kräfte in West-Berlin nur darauf, dass die SED – gezwungenermaßen – eine Aktion startete, die dann, wie im Umfeld der Berliner Außenkonferenz, gegen sie gekehrt werden konnte. Nach ihrem Ende zeigte sich deutlicher als zuvor, dass West-Berlin unter der Bedingung seiner sozioökonomischen Stabilisierung stärker zu offensiveren Strategien überging. Was pauschal Politik zur Wiedervereinigung hieß, zeigte sich konkret als Kampf gegen die ostsektoralen Verhältnisse und um das Denken und Fühlen der Berliner.

6. Berlin in Turbulenzen: Die zweite Berlinkrise und der Mauerbau 6.1 Chruschtschow-Ultimatum und Berlin-Konflikt im regionalen Kontext Das Chruschtschow-Ultimatum vom 27. November 1958722 erneuerte den Willen der West-Berliner, dem kommunistischen Druck Widerstand entgegenzusetzen. Überall regten sich Empörung und Protest, nicht etwa resignative Stimmungen. „Woher Chruschtschow den Glauben nahm, die Berliner würden massenhaft aus der Stadt fliehen und diese wie eine faule Frucht der DDR zufallen, habe ich nie erfahren“, wunderte sich Willy Brandt noch Jahre später.723 Am 1. Mai 1959, wenige Wochen vor Ablauf der Frist, die der sowjetische Ministerpräsident dem 722 Das Berlin-Ultimatum verlangte die Umwandlung West-Berlins in eine „Freie Stadt“ binnen sechs Monaten. Sollte es von den drei Westmächten nicht angenommen werden, drohte die UdSSR mit der Übertragung ihrer Berlinrechte auf die DDR im Rahmen eines separaten Friedensvertrages. Vgl. zu den politischen Ursachen des Ultimatums: Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963, Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, zu militär- und sicherheitspolitischen Krisenhintergründen: Mathias Uhl, Krieg um Berlin? Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlinkrise 1958–1962, München 2008; zum ostdeutsch-sowjetischen Verhältnis im Vorfeld und während der Krise: Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995; Hope M. Harrison, Driving the Soviets Up the Wall. Soviet -East German Relations 1953–1961, Princeton/NJ- Oxford 2003 sowie zum westlichen Krisenmanagement: Rolf Steininger, Der Mauerbau, Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, München 2001. 723 Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989, S. 34.

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Westen setzte, demonstrierten an die 600.000 West-Berliner Einheit und Geschlossenheit mit dem Senat und den Alliierten. Es zeugte von der geringen Lernfähigkeit Chruschtschows und seiner Umgebung, wenn sie sich während der gesamten Krisenzeit dennoch nicht von der Illusion befreien konnten, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich das Berlinproblem „von allein“ lösen, die Bevölkerung weglaufen und die Wirtschaft zusammenbrechen würde.724 Während sich die West-Berliner in ihrer Existenz unmittelbar bedroht fühlten, nahmen die Ost-Berliner das Ultimatum aus einer anderen Position wahr. Zwar stellten sie eine Gesamtberliner Solidarität nicht in Frage, und ihre überwiegende Mehrheit wollte weder eine „Freie Stadt“ noch eine andere Ordnung in WestBerlin. Doch betrafen sie die sowjetischen Forderungen nicht direkt, und angesichts der offenbar starken sowjetischen Position waren sie sich auch nicht sicher, ob sich Chruschtschow am Ende nicht durchsetzte. Bei vielen spielte nach wie vor die Hoffnung auf eine baldige Wiederherstellung der Einheit Berlins eine Rolle. Bot die „Freie Stadt“ dafür vielleicht doch einen Ansatzpunkt? Die von der Berliner SED-Leitung akribisch beobachteten ersten Reaktionen der Ost-Berliner Bevölkerung auf das Ultimatum vermitteln ein differenziertes Stimmungsbild. Deutlich war die im Prinzip ablehnende Haltung der Arbeiter in den Großbetrieben. Beispielsweise artikulierte sich im VEB Blütenweiß, im Transformatorenwerk Oberspree (TRO) und im VEB Gerätewerk die Sorge, dass dadurch ein Krieg entstehen könne; „der Amerikaner“ würde sich das angekündigte sowjetische Vorgehen nicht gefallen lassen. Wenn die Sowjetunion der DDR „jetzt die ganze Macht gibt, führt das nicht zur Entspannung, weil die Westmächte mit der DDR verhandeln müssen. Aber sie werden das nicht tun. Das verschärft die Lage, und wir befinden uns dann in einer Sackgasse“725, meinten Arbeiter im Berliner Metallhütten- und Halbzeug-Werk (BMHW). Sie befürchteten, dass dieser Schritt der UdSSR „böse Folgen für uns“ haben würde.726 Anders äußerten sich die in den staatlichen Verwaltungen befragten Mitarbeiter, unter ihnen viele Parteimitglieder. Hier reichte das Spektrum grundsätzlicher Zustimmung zum Ultimatum von der Zuversicht, den Westen damit zu Verhandlungen mit der DDR zu zwingen und über die Kontrolle seiner militärischen Transporte die „Stationierung von Raketen und Atomwaffen in Westberlin“ zu verhindern, bis hin zur 724 Vgl. ebd. 725 Abteilung Organisation und Kader der SED-BL, „Kurzinformation über die ersten Stimmungen zur Rede des Genossen Chruschtschow“, 12.11.1958, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 622. 726 Abteilung Organisation und Kader, „2. Information über die Diskussion zur Rede des Genossen Chruschtschow“, 14.11.1958, in: ebd.

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Hoffnung auf die Beseitigung der „Pestbeule“ West-Berlin „mit Gewalt“.727 Wenngleich derartige Abfragen angesichts von Parteidisziplin und euphorischen Stimmungen mit Vorsicht zu beurteilen sind und ihre Ergebnisse sicherlich nicht typisch für die Masse der SED-Mitglieder waren, gaben sie ihrer Berliner Bezirksleitung doch Anlass zur Sorge. Denn hier zeige sich die Tendenz, „aus der Rede des Genossen Chruschtschow falsche Schlussfolgerungen in Hinblick auf eine administrative oder gewaltsame Lösung der Fragen in Berlin zu ziehen“.728 Dennoch widerspiegelten derartige radikale Vorstellungen sowohl die falschen Bilder der Partei von einem aggressiven West-Berlin als Gefahr für den Frieden als auch eine hohe Risikobereitschaft der SED-Führung bei einer ihren Wünschen entsprechenden Berlinlösung.729 Diese jedoch stellte allein schon der wachsende Unglaube an die Realisierbarkeit der sowjetischen Ziele in Frage, die von der Bevölkerung beider Teile Berlins mit zunehmend ähnlichen Argumenten kritisiert wurden. So war in den Lageberichten der SED-Bezirksleitung nun häufig von der Ost-Berliner Skepsis in die Aufrichtigkeit der sowjetischen Vorschläge die Rede, parallel zu einem West-Berliner „starken Zweifel“ an der Moskauer Ehrlichkeit.730 Die Argumente glichen sich einander noch mehr an, als Chruschtschow die von ihm initiierte Pariser Gipfelkonferenz im Mai 1960 auf Grund eines US-amerikanischen Spionagefluges über die Sowjetunion (U-2-Affäre) „platzen“ ließ. Zwar äußerten einige der Befragten, die Amerikaner hätten einen Fehler begangen, beide Seiten müssten aber gerade jetzt kompromissbereiter und „nachgiebiger“ sein. So sei es nicht richtig, dass Chruschtschow, wenngleich er vielleicht im Recht sei, die Sache dadurch zuspitze, dass er die Fortsetzung der Gipfelkonferenz von einer Entschuldigung des US-Präsidenten Eisenhower abhängig mache. Die überwiegende Mehrheit der von SED-Interviewern im gesamten Berlin Angesprochenen – Arbeiter, Angestellte, Zeitungsfrauen, Straßenpassanten u.a. – wandten sich entschieden gegen das eigenartige Verhalten des sowjetischen Partei- und Regierungschefs. Warum fahre er nach Paris, „wenn er gar nicht die Absicht hat zu verhandeln“, wurde im Osten gefragt und im Westen konstatiert, dass man jetzt endlich verhandeln wollte, aber nun „am Russen“ scheitere, der offenbar gar keine Einigung beabsichtige. Gerate die Konferenz zu einem Desaster, so trage Chruschtschow die Schuld, meinte man auf beiden Berliner Seiten. Auch führte 727 Abteilung Organisation und Kader der SED-BL, Kurzinformation, 12.11.1958 (wie FN 725). 728 Ebd. 729 Vgl. Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995, S. 173–180. 730 Abteilung Organisation und Kader, „Bericht über Stimmungen aus der Westberliner Bevölkerung“, 25.9.1959, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 625.

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eine große Mehrheit der Angesprochenen an, dass es Spionage schon immer gegeben habe, und ob denn jemand wirklich meine, dass die sozialistischen Länder sie nicht betrieben. Ebenso signalisierten die Informanten der SED eine beiderseitig anwachsende Kriegsfurcht731, was in einem weitgehend objektiven SED-Resümee732 Berücksichtigung fand. Die ab Mitte 1960 sichtbaren akuten Schwierigkeiten des DDR-Sozialismus trugen in Ost-Berlin zur wachsenden Ablehnung der östlichen Deutschland- und Berlinpolitik bei. Zum einen mehrten sich die „Ausfälle gegen Chruschtschow“ und zum anderen die Stimmen in den Betrieben und im Ost-Berliner Alltag, dass freie Wahlen die beste Lösung für alle Berlinprobleme sein würden. Doch wisse die SED eben, wenn sie tatsächlich stattfänden, hätte sie „ausgespielt“.733 Insbesondere stieß das so genannte zweite Berlinultimatum, das Chruschtschow dem Präsidenten der USA in Wien Anfang Juni 1960 gestellt hatte, auf Widerspruch. Es drohte wieder einen separaten Friedensvertrag mit der DDR für den Fall an, dass der Westen auf seine Rechte in Berlin bestehe. In Absprache mit der UdSSR bot der Magistrat – sozusagen als propagandistisch flankierende Maßnahme – an, West-Berlin als „Freie Stadt“ mit Milch zu versorgen. Das stellte sich unter den Bedingungen der Versorgungskrise in Ost-Berlin als kontraproduktiv heraus. Beispielsweise lehnten Arbeiter im TRO einen einseitig mit der DDR abgeschlossenen Friedensvertrag mit dem Argument ab, eine Lösung des West-Berlinproblems sei zwar notwendig, aber erst dann möglich, wenn im Ostteil der Stadt eine „solche Versorgungslage“ geschaffen sei, „wie in Westberlin“.734 Ein separater Friedensvertrag würde sie weiter komplizieren, behaupteten Arbeiter in anderen Großbetrieben. Ob man ihn habe oder nicht, sei doch egal. „Wichtig ist, dass wir 16 Jahre nach Kriegsende endlich kaufen können, was wir möchten. Im Westen bekommst du alles, was das Herz begehrt. Von so einem Vertrag werden wir auch nicht satt.“735 Solche Stimmungen machten auch vor den Sicherheitsorganen in Ost-Berlin nicht halt. Zwar stellte die SED deren prinzipielle Treue zur Partei, „Kampfentschlossenheit“, „Optimismus“, und „Siegeszuversicht“ nicht in Frage, 731 Chruschtschow sei zu „scharf“ vorgegangen. Jetzt würden sich die Spannungen vergrößern und die Wiedervereinigung ausbleiben. Die Hauptbetroffenen seien die Deutschen und Berliner. „Es tauchen wiederholt Angststimmungen auf, daß es nun wohl doch Krieg geben wird.“ Ebd. „Stellungnahme und Maßnahmen zur Erklärung des Genossen Chruschtschow in Paris“, 1. bis 5. Bericht: 17.5.1960, 6. Bericht: 18.5.1960, in: ebd., Nr. 628. 732 Vgl. ebd. 733 Bezirks-Partei-Kontrollkommission Groß-Berlin: „Bericht über Feindtätigkeit, Schädlings- und Sabotagearbeit oder Verdacht darauf“, 29.6.1960, in: ebd., Nr. 431, Bl. 45f. 734 BL der SED: Kurzinformation, 6.6.1961, in: ebd., Nr. 632. 735 BL der SED: Information über Argumente und Stimmungen, 13.6.1961, in: ebd.

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doch habe sich bei Kommandos der Volkspolizei nicht nur „Zweifel bei Versorgungsfragen“, sondern auch ein „Unglauben an den Abschluss des Friedensvertrages“ bemerkbar gemacht: Die Westmächte würden eine „Freie Stadt“ nicht zulassen; und die West-Berliner wollten, „daß der jetzige Zustand beibehalten wird“. Erstaunlich offen argumentierten Angehörige der Ost-Berliner Transportpolizei: Ein separater Friedensvertrag vertiefe die Spaltung, er würde überhaupt keinen Nutzen bringen, sondern die „Kriegsgefahr erhöhen“. Selbst in der MfSBezirksverwaltung Berlin seien Zweifel aufgetaucht, dass die „Freie Stadt“ tatsächlich einen Kompromiss bedeute und sinnvoll sei. In der Berliner Bezirksverwaltung des Zollamtes (AZKW) sehe man einen Friedensvertrag nur mit der DDR sogar als gefährlich an, erfuhr die SED-Bezirksleitung. „Ohne Schießen wird es bestimmt nicht abgehen.“736 Parallel dazu verringerte sich die Bereitschaft der OstBerliner, sich für ihren Staat und dessen Berlinpolitik einzusetzen, bis zum Sommer 1961 relativ kontinuierlich. Wieder waren es Arbeiter, die bis wenige Wochen vor dem Mauerbau auf Betriebsversammlungen „Fraktur“ redeten.737 So erreichte die Kritik an der SED-Herrschaft und speziell an ihrer Berlin-Politik eine seit Jahren nicht erreichte Schärfe. Sie ging weit über die Ablehnung des sowjetischen Kurses hinaus, die der allgemeinen politischen und sozialen Unzufriedenheit jedoch einen starken Impuls verlieh. Zwar wurde der alltägliche Protest wahrscheinlich selten so prinzipiell und klar formuliert wie im Juli 1961 in einer Gewerkschaftsgruppenversammlung im VEB Industrieprojektierung738, doch zeigte sich in der Verquickung der akuten Krise des realen Sozialismus mit dem internationalen Berlinkonflikt eine neue Qualität der Existenzbedrohung für die DDR und ihre Staatspartei, aber auch von Opposition in der Bevölkerung.

736 „Information: Abschluß des Friedensvertrages und Lösung der Westberlin-Frage“, 25.7.1961, in: ebd. 737 Ein junger Mechaniker im Haupttelegrafenamt verwies auf Ulbrichts Einlassung, dass in der gegenwärtigen Situation alle noch große Opfer bringen müssten, er als Jugendlicher aber dazu „keine Lust“ habe. Bei einer Arbeitssaussprache im VEB Elektrokohle in Lichtenberg hielten Betriebsangehörige der SED entgegen, dass sie zur Lösung des Berlinproblems besser freie Wahlen zulassen solle. „Wenn euer System so gut ist, dann wird es sich bei diesen Wahlen ja herausstellen“, meinten sie, und: „das ganze System müsste sich ändern.“ BL der SED: Kurzinformation, 22.7.1961, in: ebd. 738 So habe ein Kollege Meinel empfohlen, nicht so viel „von der Front zwischen DDR und Westdeutschland“ zu sprechen, denn die Front verlaufe „mitten in der DDR, und zwar besteht diese zwischen der Regierung der DDR und der Bevölkerung, denn 95% sind gegen die Regierung“. Ebd.

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6.2 Die Gesamtberliner Dimension der östlichen Versorgungskrise 6.2.1 Die Ouvertüre: Engpass-Ängste und „Butterquerelen“ Wenngleich sich insgesamt die Versorgung der Ost-Berliner mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs auf einem im Vergleich mit dem Westteil der Stadt bescheidenen Niveau stabilisiert hatte, machten auch in der Periode der relativen wirtschaftlichen Erholung nach 1957 in der DDR und im „demokratischen Sektor“ „Engpässe“ von sich reden. Während die Produktion von hochwertigeren Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern hinter dem Bevölkerungsbedarf weiter zurückblieb, was auch in der aus politischen Gründen besser versorgten Hauptstadt Kritik, aber keine besondere Aufregung mehr hervorrief, verärgerten doch die Lücken im alltäglichen Lebensmittelangebot. Sie traten sporadisch auf und waren von unterschiedlicher Dauer und Tragweite. Oft ließen sich ihre unmittelbaren Ursachen von der Bevölkerung, aber auch von der SED und den Staatsorganen, nicht so einfach erkennen, wurden aber aus politischen Gründen häufig vertuscht oder bagatellisiert. Das zeigte sich gerade im Umfeld der positiven wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, die bei den Ost-Berlinern die Erwartung auf eine zügige Anhebung ihres Lebensniveaus steigerte. Paradoxerweise verdeutlichte der relative Aufschwung von industrieller Produktion und Binnenangebot wichtige Konsumdefizite und ließ erkennen, dass sein Tempo nicht ausreichte, um auch nur ein Anwachsen der Differenz zum höheren Lebensstandard in West-Berlin zu verhindern. Da in Ost-Berlin 1958/59 nicht mehr nur der Umfang des Warenangebots, sondern zunehmend auch dessen Qualität interessierte, bezog sich Unzufriedenheit jetzt stärker auf sie. Die Kunden kritisierten beispielsweise die „mangelnde Güte“ der Fleisch- und Wurstwaren, und dass diese bei unterschiedlichen Preislagen „im allgemeinen völlig gleich im Geschmack“ seien. Gleiches gelte auch für Fischkonserven. Auch gebe es inzwischen genügend Schabefleisch und Hackepeter, aber nicht ausreichend Pergamentpapier, um es ansprechend zu verpacken. Ebenso häufig bemängelten die Ost-Berliner Käufer den durch Waren aus der DDR-Produktion formell gesättigten Markt für Schuhe und Bekleidung. Trotz „allgemeiner guter Übererfüllung“ könne der Bedarf aus qualitativen Gründen nicht abgedeckt werden, erfuhr die SED-Bezirksleitung. Eine große Zahl von Kunden würde gezielt nach Importschuhen fragen, und sie verließen die Läden sofort, wenn „dieselben nicht vorhanden sind“. Ähnlich sei es mit Damenkonfektion bestellt, die überdies keine „hinreichende Größensortierung“ aufweise. Im Weiteren verschärften der höhere Grad der Ausstattung der Haushalte u.a. mit elektrischen und anderen „hochwertigen Industriegütern“ sowie ein allgemein ansteigender technischer Komfort die Probleme mit der Ersatzteilversorgung und mit den „1000 kleinen Dingen“ des Alltags. Die SED-Bezirksleitung wertete immer häufiger Kundenmeinungen aus, denen zufolge „es heute bei den vielen Klei-

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nigkeiten des täglichen Bedarfs teilweise schlechter bestellt ist als vor zwei bis drei Jahren“. Die Partei beunruhigte, dass dann „zynische Bemerkungen“ über die Lösung der „ökonomischen Hauptaufgabe“ fielen; mehr aber noch die Erklärung der enttäuschten Käufer, sie gingen „dann eben nach Westberlin, da kaufen wir uns die Artikel“.739 Diese Stimmungstendenz erhielt eine zusätzliche politische Dimension, wenn es um eine länger andauernde Verknappung von besonders wichtigen Grundnahrungsmitteln ging. Bereits im Sommer 1959 machte sich in der gesamten DDR, insbesondere aber im Ballungsgebiet Berlin, ein Mangel an Butter bemerkbar, dem das Politbüro zunächst durch eine „große Werbekampagne für den Margarine-Verbrauch“ zu begegnen suchte.740 Als sich das Problem ab Oktober dennoch verschärfte, stellten es die Staatsorgane in der Öffentlichkeit als Folge einer „Dürreperiode“ und der „Preistreibereien und Spekulationen“ in West-Berlin dar. Repressive Maßnahmen gegen West-Berliner und „Schieber und Spekulanten“741 unterstützten diese Schuldzuweisung. Gleichzeitig ergingen neue Direktiven zur Einschränkung des Butterverbrauchs742 und Ende November zur „vorübergehenden Rationierung“ von Butter. In den Lebensmittelgeschäften wurden „Käuferlisten“ angelegt und die monatliche Abgabe von Butter auf ein Kilogramm pro Kopf begrenzt. Diese, das sozialistische „Schaufenster“ diskreditierende Maßnahme nach der Abschaffung der Lebensmittelkarten, war dem Politbüro außerordentlich peinlich. Dort, wo Diskretion möglich schien, wurde sie angeordnet.743 Doch zeigte sich bei den Ost-Berlinern auch deshalb eine nachhaltige 739 „Auszüge aus dem Informationsbericht Nr. 41/59 […]“ der SED-Bezirksleitung Berlin, 15.9.1959, in: ebd., Nr. 625. 740 Vgl. Beschluß des Politbüros, Arbeitsprotokoll 37/59 der Sitzung am 28.7.1959, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2A/711, S. 5. 741 Die Mitarbeiter des Amtes für Zoll und Warenkontrolle (AZKW) wurden angewiesen, „eine stärkere Kontrolle hinsichtlich Spekulationen und Schiebereien von Butter, Fleisch und Eiern nach Westberlin an der Sektorengrenze durchzuführen. Es ist notwendig, einige dieser Fälle schnell zu bestrafen und zu veröffentlichen“. Gleichzeitig fand eine Überprüfung der „Einkaufsbescheinigungen“ für solche West-Berliner statt, die in Ost-Berlin arbeiteten, wo sie mit ihrem in Ostmark ausgezahlten Lohnanteil legal einkaufen durften. Beschluß des Büros der SED-BL Berlin, Protokoll 025/59 der Sitzung am 22.10.1959, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 392, Bl. 3f. 742 Die „Verkaufskräfte“ hätten dafür zu sorgen, „daß nicht mehr Butter verkauft wird als das Normale“. In den Restaurants und Gemeinschaftsverpflegungsstätten seien Maßnahmen zur weiteren Einschränkung des Verbrauchs von Butter einzuleiten. Auch müsse die Möglichkeit der Herstellung von Sahne und Schlagsahne zugunsten einer erhöhten Butterproduktion überprüft werden. Ebd., Bl. 3. 743 So seien „irgendwelche Eintragungen in den Personalausweis oder Abstempelungen irgendwelcher Karten“ unter keinen Umständen vorzunehmen und „keinerlei schriftliche Anweisungen herauszugeben“. Ebenso verbot das Politbüro, „die Menge des Butterver-

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Verärgerung, weil die Aktion kurz vor Weihnachten anlief.744 Die Schwierigkeiten mit der Butterproduktion wären Episode geblieben, wenn nicht bald schon ähnliche Engpässe bei anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen (u.a. Fleisch und Eier) aufgetaucht wären. Butter geriet aber zu einem Symbol in der Systemkonkurrenz und so zum Indikator dafür, wer im „besseren Berlin“ lebe. Ost-Berliner Arbeiter sagten aus, dass „viele Kollegen aus dem demokratischen Berlin bereits ihre Butter in Westberlin [kauften], denn sie denken gar nicht daran, Margarine zu essen, das haben sie gar nicht nötig“. Für die Butterknappheit könne es überhaupt kein Verständnis geben, da es ja jetzt genügend Futter für die Kühe gebe.745 So leitete das im Frühjahr 1960 nicht behobene Butterproblem faktisch eine weitgehende Versorgungskrise ein, die zum Kern der sich seit Mitte des Jahres entfaltenden sozialistischen Systemkrise wurde. 6.2.2 Ursachen und Symptome der realsozialistischen Misere Die Krise war umfassend; sie ergriff Wirtschaft, Politik, Ideologie und Staatsapparat gleichermaßen. In Vielem stellte sie sich als „hausgemacht“ dar. Vor allem nötigte die prosaisch als „sozialistischer Frühling“ in der Landwirtschaft umschriebene Zwangskollektivierung Tausende von Bauern, ihre „Scholle“ zu verlassen. Ganze Dörfer, auch im Umkreis von Berlin, verödeten; die landwirtschaftliche Produktion ging dramatisch zurück.746 Die Folge war ein sich verschärfender kaufs pro Monat und Person öffentlich bekanntzugeben“. Beschluß des Politbüros, Protokoll 028/59 der Sitzung am 26.11.1959, in: ebd., Nr. 495, Bl. 6f. 744 Vgl. ebd., Bl. 8. 745 Kurzinformation, 2.6.1961, in: ebd., Nr. 632. 746 Die Agrarkrise erreichte 1962/63 ihren Höhepunkt. Sie war nicht zuletzt dem Fehlen von Futtermitteln geschuldet. Die allgemeine Ratlosigkeit der Parteiführung verstärkte die Tendenz zu Halbheiten und „Flickschustereien“; so wurden die Schulen und die Pionierorganisation aufgefordert, fleißig (natürlich im Rahmen eines Wettbewerbs) Kastanien und Eicheln zu sammeln. Die Parteiführung ordnete für alle Staatsorgane Sparmaßnahmen sowie Kaufverbote für Mangelwaren an und verschärfte Kontrollen. Vgl. die Sitzungen des Politbüros am 19.3.1962, Anlage 9 zum Protokoll 13/62; am 31.7.1962, Anlage 1 zum Protokoll 34/62 sowie am 30.1.1962, Anlage 1 zum Protokoll 4/61, in: SAPMOBArch, DY 30, J IV 2/2/820, Bl. 38, Nr. 841, Bl. 23 und Nr. 811, Bl. 8. Alarmierend wirkten Meldungen über den erheblichen Anstieg der Tierverluste, die man zum Teil auf Sabotage und Böswilligkeit zurückführte: 1960 verendeten über 15 Prozent der Schweine, 30 Prozent der Ferkel, knapp 5 Prozent des Rinderbestandes. Vgl. Hausmitteilungen der Abteilung Parteiorgane des ZK an Norden, 13.7.-17.7.1961, in: ebd., IV 2/2028/43. Vgl. zum Agrarproblem unter sozialhistorischen und Konkurrenz-Aspekten: Arnd Bauerkämper, Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg von 1945–1963, Köln/Weimar/Wien 2002 und

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Mangel an Lebensmitteln. Trotz zusätzlicher sowjetischer Lieferungen verknappten sich aber auch Rohstoffe und Industriematerial. Produktionsketten wurden unterbrochen, und es fehlten Devisen und Waren für den Außenhandel. Engpass reihte sich an Engpass. Die Funktionäre von Partei und Regierung bekamen die Unzufriedenheit der Bevölkerung in verschiedenen Formen von Resistenz zu spüren.747 Sie drohte aber in aktive Aktionen umzuschlagen, als in den Brandenburger Bezirken der DDR – also der Hauptstadt bedrohlich nahe – regelrechte „Kartoffelunruhen“ ausbrachen.748 Die Führung der DDR sah sich durch neue innenpolitische Schwierigkeiten veranlasst, verschiedene repressive Maßnahmen zu verschärfen.749 Dabei vergrößerte sich der unproduktive Herrschaftsapparat explosionsartig. Der fatale circulus vitiosus von wirtschaftlicher Ineffektivität und Verstärkung der Bürokratie beschleunigte sich und entwickelte eine neue Dynamik. Partei und Staat verschmolzen noch nachhaltiger, die Chance von längst überfälligen Reformen schien stärker denn je in Frage gestellt. Vorrangig mit Blick auf die desolaten Verhältnisse in der Landwirtschaft und die gravierenden Plan-

Dieter Schulz, „Kapitalistische Länder überflügeln“. Die DDR-Bauern in der SED-Politik des sozialistischen Wettbewerbs mit der Bundesrepublik von 1956 bis 1961, Berlin 1994. 747 Bereits im Juli 1960 machten verschiedene Bezirks- und Kreisleitungen der SED das für Propaganda zuständige Politbüromitglied Albert Norden auf den erheblichen Rückgang der Abonnenten der Parteipresse aufmerksam. Von April bis Juli des Jahres hätten ca. 60.000 Festabnehmer gekündigt, in den Monaten Juli und August 1962 müssten die SEDBlätter mangels Nachfrage ihre Auflagen in den Bezirken z.T. drastisch kürzen. Aus dem Kreis Freital wurde eine als ernst bezeichnete Tendenz bekannt, die Fernsehgeräte bei der Post abzumelden. Vgl. Schreiben der ZK-Abteilung Presse an Norden, 18.7.1960, und Meldung, 3.8.1962, in: ebd., IV 2/2028/32 und 2/2028/34. Schwer wog, dass sich im Sommer 1961 eine regelrechte Austrittsbewegung aus den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu formieren begann. Vor allem im Bezirk Gera und in den mecklenburgischen Kreisen Parchim und Lübs registrierte die Partei bei vielen Genossenschaften „ernsthafte Auflösungserscheinungen“. Vgl. Hausmitteilungen der Abteilung Parteiorgane des ZK an Norden, 13.7.–17.7.1961, in: ebd., IV 2/2028/43. 748 In Brandenburg an der Havel erklärten empörte Arbeiter, ihre Arbeit erst dann wieder aufnehmen zu wollen, wenn sie Kartoffeln erhielten, in Babelsberg versammelten sich ca. 700 Personen, zumeist Hausfrauen, und blockierten aus Protest Straßen und Bürgersteige. Die Polizei wäre machtlos gewesen. In Frankfurt (Oder) und anderen Städten des gleichnamigen Bezirks würden wegen fehlender Kartoffeln „Diskussionen gegen die Politik von Partei und Regierung geführt, wobei es zu offenen Provokationen kam“. In den Betrieben erklärten die Arbeiter, die SED werde ihre „Quittung“ sehr bald erhalten. Ebd. 749 Im ersten Halbjahr 1961 stiegen beispielsweise Verfahren wegen „Hetze und Staatsverleumdung“ von 6.465 (1960) auf 8.817 an. Vgl. Sitzung des Politbüros vom 11.7.1961, Anlage Nr. 4 zum Protokoll 33/61, in: ebd., J IV 2/2/775, Bl. 28, 32.

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rückstände gestand Ulbricht in einem Schreiben an Grotewohl ein, dass die für 1960 vorgesehenen „ökonomischen Hauptaufgaben“ in Frage gestellt seien.750 Die KPdSU nahm die Krise in der DDR zunächst sehr selektiv wahr und unterschätzte offensichtlich das sich dort anstauende Konfliktpotenzial. So lehnte sie noch im September 1960 die Bitte der SED um die Erhöhung eines dringenden Valuta-Kredits von 200 auf 475 Mio. Rubel ab. Im Gegenteil drängte sie „unnachgiebig entsprechend der bisherigen Praxis“, wie man es im Ost-Berliner Außenministerium sah, auf die Einhaltung von Lieferbedingungen, die die DDR benachteiligten.751 Die dringenden Appelle der Ost-Berliner Führung nach mehr Lebensmittel- und Rohstofflieferungen zur Behebung der akuten Krise verhallten, weil man in Moskau der Meinung war, die DDR habe im östlichen Bündnis den höchsten Lebensstandard und sei von der Sowjetunion in den vergangenen Jahren sowieso schon prominent mit Exporten bedacht worden. Überdies spielten nationale Egoismen, mehr aber noch die Tatsache eine Rolle, dass die Wirtschaftskraft der UdSSR und die Möglichkeiten auch des innersystemischen Handels an enge Grenzen stießen. Daran konnte die in Ost-Berlin aus der Not heraus geborene Überlebens-Idee, ein Sonderbündnis zwischen der UdSSR und der DDR abzuschließen, nichts ändern.752 Offenbar trug die Kündigung des innerdeutschen Interzonenabkommens durch die Bundesregierung Ende September 1960 zu einer realistischeren sowjetischen Sicht auf die inneren Schwierigkeiten in der DDR und den Industriestandort Ost-Berlin bei. Der formale westdeutsche Akt traf – erstrangig psychologisch – einen neuralgischen Punkt im ostdeutschen Wirtschaftssystem.753 Bei der SED-Führung löste der praktisch nie wirksam gewordene Lieferstopp eine hektische Kampagne zur „Störfreimachung“ der DDR aus.754 Das hieß, Westimporte durch Einfuhren aus ihren Bündnisstaaten abzulösen bzw. durch die Mobilisierung eigener Möglichkeiten zu ersetzen. Der Argumentation Ulbrichts, die DDR dürfe gerade in der Berliner Krise nicht erpressbar und dem Westen gegenüber schwach sein, konnte Chruschtschow nicht widersprechen, 750 Vgl. Schreiben Ulbrichts an Grotewohl, 3.10.1960, in: ebd., NY 4090/254, Bl. 321f. 751 Vgl. Lemke, Die Berlinkrise, S. 57. 752 Den Kerngedanken der Offerte an Moskau, Ostdeutschland würde seine hoch entwickelten, aber nicht ausgelasteten industriellen Kapazitäten in die Planwirtschaft der UdSSR einbringen und dabei ökonomisch wie eine Sowjetrepublik behandelt werden, lehnte die Moskauer Führung aus zuvorderst politischen Gründen ab. Vgl. dazu Michael Lemke, Nur ein Ausweg aus der Krise? Der Plan einer ostdeutsch-sowjetischen Wirtschaftsgemeinschaft als Systemkonkurrenz und innerdeutscher Konflikt 1960–1964, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 98), Münster 2003, S. 248–265. 753 Zu den Hintergründen und Folgen der Kündigung vgl. Lemke, Die Berlinkrise, S. 58–62. 754 Vgl. ebd., S. 59, 63–69.

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zumal der Zusammenhang zwischen der Stimmung vor allem der Ost-Berliner und der Stabilität in der Region noch deutlicher wurde. 6.2.3 Die Politisierung der Wirtschaftskrise Erste Symptome der akuten Systemkrise zeigten sich in der Ost-Berliner Wirtschaft bereits in den ersten Monaten des Jahres 1960. Die „gesteckten Quartalsziele“ würden nicht erreicht. Die Pläne seien u.a. bei Konfektion, Möbeln, Haushaltschemie sowie industriellen Konsumgütern bislang nicht erfüllt worden; und aufgrund der schlechten Materialversorgung gelte das Gleiche für die exportorientierte metallverarbeitende Industrie. Aufschlussreiche „Material-Fehlmeldungen“ unterstrichen die Probleme: Es mangelte an Stahl, Feinblechen, Rohren, Schienen, Drähten, Stahlmasten, Kabeln u.a.m. Das durch Planrückstände belastete OstBerliner Bauwesen beklagte ebenfalls Defizite insbesondere bei der Belieferung mit Holz, Zement, Dachziegeln, Wandfliesen und Abflussrohren. Aber auch Schläuche, Hartfaserplatten, PVC-Material u.a. fehlten.755 Neben der Materiallage galten nun auch die Arbeitskräftesituation und die sich mehrenden Ausfallzeiten als kritisch. Das betraf zuvorderst das Bauwesen und die Elektroindustrie. Während viele Ost-Berliner Betriebe in erster Linie die Misere bei der Materialversorgung und der Zulieferung aufgriffen, nannten andere Qualitätsmängel sowie Absatzschwierigkeiten als wichtige Ursache der „Planschulden“. In der Tat konnten einige Berliner Produzenten, beispielsweise auf dem Chemie- und Speisefettsektor, ihre Erzeugnisse kaum noch absetzen.756 Das lag u.a. daran, dass die Margarinefabrik („Berolina“) kein wirklich „essbares“ Erzeugnis anzubieten vermochte. Mängel in der Leitungstätigkeit und beim Produktionsablauf betrachtete die Bezirksleitung der Berliner SED selten als erstrangig. Sie sah die „Hauptursache für das Zurückbleiben der Planerfüllung“ in einer ungenügenden ideologisch-politischen Massenarbeit zur „Mobilisierung der Werktätigen“. Die Überbetonung der von den Betrieben genannten Schwierigkeiten lähme die „Masseninitiative“. Dazu trage auch bei, dass „ein Teil der Wirtschaftsfunktionäre“ sich vor Aufgaben gestellt sehe, „die sie über ihre Kraft gehend ansehen“.757 Ihr Pessimismus und ihre von der Parteiobrigkeit gerügte Resignation758 waren indes begründet. Von 249 755 Vgl. Abteilung Plankoordinierung des Berliner Wirtschaftsrats: „Kurzanalyse über die Plandurchführung im I. Quartal 1960“, April 1960, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 425, Bl. 31, 34, 36, 38, 40, 42–45. 756 Vorlage der Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL an das Büro der BL Berlin: „Einschätzung der Planerfüllung 1. Halbjahr 1960“, in: ebd., Nr. 431, Bl. 12–22. 757 Ebd., Bl. 12. 758 Deren Erscheinungen müssten von den Mitgliedern und Funktionären der Partei konsequent entgegengetreten werden, insbesondere aber allen inakzeptablen „Vorschlägen für

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volkseigenen Betrieben in Ost-Berlin hatten im I. Halbjahr nur 119 den Plan formal erfüllt; die Konsumgüterproduktion blieb mit 41,2 Prozent weit hinter den Zielen zurück. Ihre Defizite trugen rasch zur Eskalation von sozialen und politischen Spannungen in der DDR-Hauptstadt bei. Hinzu traten andere Ursachen. So hatte es bei der immens wichtigen Versorgung der Bevölkerung mit Hausbrand-Kohlen immer wieder Unregelmäßigkeiten gegeben, die u.a. durch Produktionsausfälle oder Verspätungen der Kohlenzüge eintraten. Ab 1960 nahmen die daraus resultierenden Wartezeiten jedoch überhand. Die nicht gerade fürstlich entlohnten Kohlenträger mussten dadurch Lohnausfälle hinnehmen, was dazu beitrug, dass viele von ihnen zu „Grenzgängern“ wurden, die in den Brennstoffhandlungen West-Berlins besser verdienten.759 Da der Magistrat den zumeist privaten Kohlenhändlern eine „Erhöhung der Standgelder bei gleichzeitiger Verkürzung der Ladenzeiten“ verordnet hatte und der staatliche Handel die Kleinbetriebe nicht ausreichend mit Reifen und Batterien für die Transportfahrzeuge versorgte, meldeten viele Händler ihr Gewerbe entnervt ab. Immer mehr Ost-Berliner warteten vergebens auf ihre Kohlenlieferungen. Die hauptstädtische Presse rief die Bevölkerung zur „Selbstabholung“ der Briketts auf, löste aber damit das Problem nicht760, sondern politisierte es; denn ein Blick über die Sektorengrenze zeigte, wie gut die West-Berliner frei Haus mit Kohlen versorgt wurden, die viele Arbeiter aus dem Ostteil der Stadt in ihre Keller transportierten.761 Aber nicht nur Kohlenhändler gaben auf. Auch andere private Kleinbetriebe, hier vorrangig Bäckereien, schlossen. Das führte bereits im Frühjahr 1960 zu einer angespannten Lage in der Ost-Berliner Brotversorgung. Eine Reihe von kleinen Handwerkern, die ihre teilweise noch selbstbestimmte Existenz nicht aufgeben wollten, versorgte sich, ungeachtet der Risiken, in West-Berlin mit dem die Reduzierung der Planaufgaben“. Der Widerspruch zwischen der steigenden Aktivität im sozialistischen Wettbewerb und der Nichterfüllung des Plans in vielen Betrieben und in Berlin insgesamt sei noch nicht überwunden. Das war eine Fiktion der Parteiführung. Sie suggerierte das Ende aller Schwierigkeiten, wenn dieser „Widerspruch“ gelöst sei. Beschluß des Büros der BL: „Hinweise für die Fortführung der Plandiskussion“, 14.7.1960, in: ebd., Bl. 31. 759 Vgl. Kurzinformation, 3.11.1960, in: ebd., Nr. 630. 760 Ebd. 761 So hatte die West-Berliner Brennstoffgroßhandlung Hoppe den Kohleträgern aus OstBerlin, die dort einen Stundenlohn von 1,80 Ostmark erhielten, sofort zwei Westmark gezahlt. Die Firma Hoppe würde nicht nur für sich Leute abwerben, sondern Arbeitskräfte aus dem Ostteil der Stadt auch an andere West-Berliner Kohlenunternehmen vermitteln, behauptete die SED. Bis Ende 1958 hätten die Kohlenhändler in Ost-Berlin dadurch insgesamt 600–700 Kohlenträger verloren. Vgl. Aktennotiz des Ersten Sekretärs der BL Berlin, 12.11.1958, in: ebd., Nr. 1353.

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Notwendigsten.762 Hier setzte sich in der Krise offenbar verstärkt fort, was bereits seit 1948 Tradition hatte, aber quantitativ, mangels Quellen, nicht zu bestimmen ist. Ebenso kamen Bauern aus der Mark Brandenburg „ständig“ nach West-Berlin, „um sich Ersatzteile zu holen“, die sie teilweise unentgeltlich durch die Vermittlung des westdeutschen Bauernverbandes erhielten.763 Als ein neuralgischer Punkt der Bevölkerungsversorgung entpuppte sich das Gemüseangebot, das den Zorn der Hausfrauen auf eine bedenkliche Weise erregte. Die Kundinnen stünden vor den Gemüseläden „in langen Reihen Schlange“ und führten „erregte Diskussionen“, wurde der SED gemeldet; und immer wieder sei das Argument zu hören, dass man 15 Jahre nach dem Krieg „noch nach jedem Blatt Gemüse“ anstehen müsse. In manchen Verkaufstellen „kam es beinahe zu Schlägereien“, weil sie vom Großhandel zu wenig Ware erhielten. Andere Berlinerinnen kehrten wütend vom Bauernmarkt zurück, den sie bereits um 6.00 Uhr in der falschen Hoffnung aufgesucht hatten, etwas zu bekommen. Sie seien „alle äußerst erregt und steigern sich gegenseitig in richtige Haßtiraden hinein“. Sie hätten gemeint: „Na, laßt es erst anders kommen.“ Als bemerkenswert stellten die Beobachter der SED-Bezirksleitung den inzwischen ständigen Vorwurf der OstBerliner an die Ostblock-Staaten heraus, dass sie Obst und Gemüse nur nach West-Berlin liefern würden; „Warum nicht an uns?“, wurde gefragt.764 Derartige Vorgänge spielten sich überall ab.765 Die Lebensmittelversorgung verschlechterte sich im Sommer 1960 auch aufgrund fehlender Arbeitskräfte und Fahrzeuge766 weiter; es blieben jetzt auch die üblichen Saisonangebote (u.a. Möhren, Kohl, Kirschen und anderes Obst) weitgehend aus. Wenn Kleingärtner oder Berliner Laubengrundstücksbesitzer ihr Obst für den Hausgebrauch einwecken wollten, stießen sie auf eine andere Hürde: Es gab keine Konservengläser. Doch sorgte sich die Partei um die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Käse- und Fleischversorgung noch mehr. So fehlten in Ost-Berlin per 10. August 1960 378 t Rindfleisch. Um die Lage etwas zu entspannen, beantragte die SED-Bezirksleitung 100 t Rindfleisch aus der Staatsreserve.767 Als die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu eska762 Beispielsweise erklärte ein Schuhmacher: „Und wenn ich eingesperrt werde, aber ich besorge mir den Klebstoff in Westberlin.“ „Argumentationsmaterial über Argumente und Stimmungen aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung“, 19.11.1960, in: ebd., Nr. 630. 763 Kurzinformation, 26.7.1961, in: ebd., Nr. 632. 764 Kurzinformation, 12.3.1960, in: ebd., Nr. 628. 765 Vgl. ebd. 766 Vorschläge zur Beratung im Büro der Bezirksleitung: „Zur Auswertung der 5. Bezirksdelegiertenkonferenz“, 15.6.1960, in: ebd., Nr. 429, Bl. 37. 767 Vgl. Sekretariat der Bezirksleitung: „Bericht über einige Warendaten zur Versorgung der Bevölkerung, Stand per 16.8.1960“, 17.8.1960, in: ebd., Nr. 629.

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lieren drohte, importierten die Verantwortlichen – eigens für ihre Hauptstadt und angesichts des Weihnachtsfestes – Wurst- und Fleischkonserven aus der Bundesrepublik. Sie wurden allerdings nicht durch den staatlichen Handel, sondern in den Ost-Berliner Großbetrieben verkauft. Die Büchsen „machen großen Eindruck auf die Arbeiter“, meldeten die SED-Informanten, würden aber mehr ideologischen und politischen Schaden anrichten als wirtschaftlichen Nutzen erbringen. Stundenlang stünden die Arbeiter nach diesen Konserven an, und es breitete sich „Empörung“ bei denjenigen aus, „die nichts abbekommen haben“. In einigen Betrieben sei es fast zu Prügeleien gekommen. Es frage sich, meinten die Berichterstatter, warum man auf diese Weise für westliche Firmen Reklame mache und ob man solche Konserven nicht besser in Gemeinschaftsküchen verwenden sollte.768 Neben dieser Art von Wettbewerb im geteilten Berlin entwickelte sich zeitweilig eine seltsame interne DDR-Konkurrenz.769 Im Vorfeld des Mauerbaus nahm die Versorgung der Bevölkerung aus der Sicht des Büros der SED-Bezirksleitung eine kritische Dimension an. Den Anlass für ihre Notstandsmaßnahmen bot der 10. Mai 1961.770 Aber auch ein partielles Krisenmanagement deutete darauf hin, dass die SED nicht mit einer Entspannung, sondern eher mit einer Zuspitzung der Lage rechnete. Diese Perspektive schien umso realistischer, als sich die Stimmung vieler Ost-Berliner augenscheinlich dem Siedepunkt näherte. Mehr denn je gingen Missstimmungen über die alltäglichen Lebensumstände eine Symbiose mit der teilweise offenen Kritik am politischen System ein. So äußerten beispielsweise Arbeiter im TRO, dass es „uns mit Karten besser“ gegangen sei. „Wenn wir nicht 768 Kurzinformation, 21.12.1960, Nr. 630, in: ebd. Einige Großbetriebe versuchten, ein Verteilungschaos durch das Einschalten der Betriebsgewerkschaftsleitungen und die Ausgabe von Bons zu verhindern. 769 Als im Oktober 1960 die von der SED befürchtete Kartoffelknappheit massiv auf die Hauptstadt der DDR übergriff, bemühten sich deren Vertreter und die Beauftragten einiger DDR-Bezirke „mit nicht immer einwandfreien Mitteln“, die Kartoffelwaggons in ihre Bezirke zu leiten. „Bericht über die Versorgung der Bevölkerung in einigen wichtigen Warenarten“, 21.9.1960, in: ebd., Nr. 438, Bl. 100. 770 An diesem Tag war es zu einem „bedenklichen Versorgungseklat“ gekommen, der die OstBerliner Brotversorgung kurzzeitig zusammenbrechen ließ. Das Büro ordnete direktivistische Veränderungen an. Sie sahen Regelungen für Fälle vor, „die keinen Aufschub“ duldeten. Im Einzelnen wurden Festlegungen für die 500 privaten Bäcker in OstBerlin über den täglichen Mindestumfang der Brotproduktion in der Woche und an Feiertagen getroffen und dem Wirtschaftsrat die Anweisung erteilt, mit den Großbäckereien in den Berliner Randgebieten über Lieferungen in die Hauptstadt zu verhandeln. Den Kern des Parteibeschlusses bildeten Direktiven zur Bildung einer Brotreserve (von 30 t) beim VEB Aktivist als der größten Ost-Berliner Brotfabrik und zur Anlegung von Reserven „bei einigen wichtigen Lebensmitteln“. Beschluß des Büros der BL der SED, Protokoll 012/61 der Sitzung am 18.5.1961, in: ebd., Nr. 469, Bl. 6f.

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gedacht hätten, es wird alles besser, wären wir schon längst abgehauen“, sei hier die Meinung und dass die West-Berliner „schön doof“ seien, wenn sie auf eine „Freie Stadt“ eingingen. Mit ihr wolle man den Arbeitern im Osten nur die Möglichkeit nehmen, „bequem abzuhauen“.771 Im Verlauf der Systemkrise übten die Verhältnisse im Westteil der Stadt einen zunehmenden Einfluss auf das Leben in der Hauptstadt der DDR aus. Das westliche „Schaufenster“ gewann angesichts der Krisensituation im Osten an Attraktivität, und es schien sich ein aufeinander bezogenes und partiell auch solidarisches Handeln trotz der politischen Spannungen zu verstärken. Als beispielsweise die Angestellten der West-Berliner BVG Anfang März 1960 für höhere Löhne streikten, besaßen sie die volle Unterstützung ihrer Kollegen von der Ost-BVG. Der bereits erwähnte Zusammenhalt zwischen beiden Teilen der ehemals gesamtstädtischen Verkehrsgesellschaft beruhte u.a. auf berufsbedingten Gemeinsamkeiten und Traditionen, aber auch auf einem aktuellen Austausch. Da sie im Westen höhere Stundenlöhne erhielten772, waren im Laufe der Zeit gut ausgebildete Beschäftigte der Ost- zur West-BVG übergewechselt, wohnten teilweise als „Grenzgänger“ im sowjetischen Sektor oder hielten als West-Berliner Neubürger Kontakte zu ihren alten Ost-Berliner Kollegen. Diese Beziehungen spielten eine Rolle, als sich die östlichen BVG-Angestellten, von ihren West-Kollegen ermuntert, gegen immer mehr Überstunden wehrten – zunächst in vereinzelten Diskussionen, dann jedoch massiv. Die Ost-Berliner SED sah darin den Einfluss des „Klassengegners“. Er trage im „Zusammenhang mit dem Lohnkampf der ÖTV-Kollegen in Westberlin“ diese Forderung hinterhältig in das „demokratische Berlin“ hinein. Tatsächlich argumentierten gewerkschaftlich organisierte Westkollegen bei Angestellten der BVG-Ost, sie im Westen hätten berechtigt um höhere Löhne gestreikt, doch müssten sich auch die Einkommensverhältnisse ihrer Kollegen in Ost-Berlin verbessern. Sie verdienten doch sowieso schon weniger. Der dann vom Omnibusbahnhof Weißensee organisierte „Delegationsaustausch“ von Ost- und WestBVGlern führte nicht nur zu gegenseitigen Solidaritätserklärungen, sondern trug sichtbar zu Lohnerhöhungsforderungen der Ost-Angestellten bei. Sie verwiesen gezielt auf die inzwischen erreichte Lohnerhöhung von 15 Prozent im Westen773 und brachten die SED dadurch in einige Verlegenheit. Denn die Partei hatte „klassenkämpferisch“ hinter der Kampagne zur Unterstützung der Kollegen im Westen gestanden und sah sich nun mit einem Richtungswechsel der Solidarität konfrontiert. Unter diesem Eindruck und angesichts einer möglichen Zuspitzung 771 Kurzinformation, 2.6.1961, in: ebd., Nr. 632. 772 In West-Berlin 2,40 Westmark, in Ost-Berlin 1,98 Ostmark. 773 Information der BL der SED, 11.3.1960, in: ebd., Nr. 627.

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des Konfliktes wählte die Partei das „kleinere Übel“ und stimmte einer Lohnzulage für die Beschäftigten der Ost-BVG erstaunlich rasch zu.774 Die Westsektoren standen ebenfalls im Hintergrund, wenn auch Arbeiter anderer Ost-Berliner Betriebe unter Krisenbedingungen tatsächlich eine Aufbesserung ihrer Löhne erreichten. Die in jeder Beziehung große westliche Nähe trug in Verbindung mit dem Versagen des realsozialistischen Systems in der Belastungssituation zu sozialen Forderungen der Ost-Berliner bei, die sie seit dem 17. Juni 1953 so offen und deutlich nicht mehr gestellt hatten.775 Im Herbst 1960 erhielt die Parteiführung Nachricht von massiven Forderungen aus verschiedenen volkseigenen Betrieben, nach dem Beispiel West-Berlins die Fünf-Tage-Woche einzuführen. Als die SED dieses Verlangen vehement zurückwies, führten die Beschäftigten einer Reihe von Ost-Berliner Baustellen „illegal“ die Fünf-Tage-Woche ein.776 Zwar sah die alarmierte Parteiführung das als Arbeit des „Klassengegners“ an, musste jedoch konstatieren, dass diese Forderung als Ausdruck der „Unzufriedenheit“ unter Gruppen von Werktätigen eine Bewegung auslöste, „die sowohl an Breite als auch an Intensität“ zunehme.777 Beispielsweise schlugen Arbeiter des KWO einen arbeitsfreien Sonnabend gegen „täglich eine Stunde“ Mehrarbeit vor. Doch stellten sie in diesem Großbetrieb, nach dem Vorbild sozialer Verbesserungen für Arbeitnehmer in West-Berlin, auch andere „provokatorische Forderungen“ u.a. nach Treueurlaub bei langer Betriebszugehörigkeit und höheren Tarifen. Möglicherweise löste das ebenfalls im KWO registrierte Verlangen nach mehr Lohn die nun folgende Welle von gleichartigen Forderungen in anderen Betrieben, in erster Linie von Betriebsschlossern, Kraftfahrern, Transportarbeitern, aber auch von Jungingenieuren und Meistern aus.778 Die Nachrichten von eigentlich „unerhörten“ Begebenheiten in den Betrieben mehrten sich. Im VEB-Großwaagenwerk Berlin verweigerten die Arbeiter die Einführung einer von „oben“ angeordneten zweiten Schicht, und im VEB Lignolith legte die Belegschaft sogar kurzfristig die Arbeit nieder, um die Auszahlung von Prämien durchzusetzen.779 Das blieb jedoch kein Einzelfall; auch aus anderen Ost-Berliner Betrieben wurden der SED – bei strenger Vermeidung des Wortes „Streik“ – „Arbeitsniederlegungen“ gemeldet.780 Der West-Berliner Einfluss stand ebenfalls bei der Auseinanderset774 775 776 777 778 779 780

Vgl. Information der BL der SED, 15.3.1960, in: ebd. „Informationen über Argumente und Stimmungen“, 13.6.1961, in: ebd., Nr. 632. Kurzinformation, 1.11.1960, in: ebd., Nr. 630. Kurzinformation, 10.5.1961, in: ebd., Nr. 632. Informationsmaterial der BL der SED, 1.11.1960, in: ebd., Nr. 630. Vgl. Kurzinformation, 1.11.1960, in: ebd., Nr. 630. Bezirks-Partei-Kontrollkommission Groß-Berlin: „Bericht über die Feindtätigkeit, über feindliche Einflüsse und Stimmungen“, 14.11.1960, in: ebd., Nr. 460, Bl. 71.

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zung der staatlichen und Partei-Leitungen mit den Ost-Berliner Verkaufskräften um die Einführung des Sonntagsverkaufs Pate.781 So wehrten sie sich mit dem Verweis auf die West-Berliner Regelung erfolgreich gegen eine Maßnahme, die der Bevölkerung die Möglichkeit geben sollte, am Sonntag zu erwerben, was sie an Werktagen nicht erhielt. Konkret stand dabei die Erkenntnis der SED im Hintergrund, dass West-Berlin gerade in den Wochen vor Weihnachten zu einer Art „letzten Instanz“ der „politischen“ Warenbeschaffung avancierte.782 6.2.4 Das Ost-Berliner Krisenmanagement Die SED-Führung und der Magistrat von Ost-Berlin suchten zum einen nach glaubwürdigen Erklärungen für die Ursachen der schweren Krise und zum anderen nach Mitteln und Wegen, sie zu überwinden. Die Gründe für die faktische Infragestellung der sozialistischen Planwirtschaft fanden sie zuvorderst in der „feindlichen Tätigkeit“ des Westens gegen die DDR und ihre Hauptstadt, in „Sabotage“, Spionage, gezielter „Hetze“ u.a.m.783 Hier setzte sich die Kontinuitätslinie der Klassenkampfargumentation fort, die sich lediglich den aktuellen Bedingungen und Ereignissen anpasste. Das bedeutete vor allem die Behauptung neuer antisozialistischer Störungen durch West-Berlin784 als der Basis gegnerischer Tä781 „Informationsmaterial über Stimmungen und Erscheinungen“, 29.11.1960, in: ebd., Nr. 630. Es werde von den Verkaufskräften des sozialistischen Einzelhandels argumentiert, dass in West-Berlin „das ganze Jahr über an Sonntagen die Geschäfte geschlossen bleiben und daß ab diesem Jahr auch an Sonntagen vor Weihnachten kein Verkauf stattfindet“. Im HO-Warenhaus am Alexanderplatz sei sogar geäußert worden, in West-Berlin sei eben „alles besser als bei uns“. 782 West-Berlin bot einer erheblichen Zahl von Ost- und Rand-Berlinern die Möglichkeit, vor Weihnachten im Osten kaum noch aufzutreibende Waren zu erwerben: Lederwaren und Schuhe, Bekleidungstextilien, Unterwäsche, Windeln, Babywäsche, Kinderbetten, Papierwaren, Toilettenpapier u.a.m. Vgl. ebd. 783 Insbesondere stellten Partei und Staatsorgane die Radiopropaganda aus West-Berlin sowie die „vielfältigen und gezielten“ Versendungen von „schriftlichen Hetzmaterialien […] von Prospekten und Fachliteratur westdeutscher Firmen und Bankunternehmen an volkseigene Betriebe und Bürger“, wie aber auch das Ausstreuen von Gerüchten, heraus. Vgl. ebd., Bl. 48. 784 So sei beispielsweise in einem Treptower Werk durch Manipulation an einem Elektroofen ein Schaden von 33.000 Ostmark entstanden. Beim VEB Güterkraftverkehr seien Ölbehälter mit „winzigen Eisenspänen“ durchsetzt worden, die dann die Motoren festlaufen ließen und dadurch einen hohen Schaden verursachten. Auch mehrten sich Reifenbeschädigungen und Diebstähle. In verschiedenen Fällen (z.B. bei Havarien im VEB-BerlinChemie in Adlershof) gaben die Untersuchungsbehörden allerdings zu, dass es „sehr schwierig (sei), bestimmte Produktionsstockungen und Havarien an Aggregaten auf bewußte Feindtätigkeit zurückzuführen“. Hingegen sah man es als bewiesen an, dass hinter

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tigkeit. Sie mache vor nichts und niemandem halt.785 Im Prinzip setzten SED und Magistrat systeminterne Phänomene in einen ursächlichen Zusammenhang mit der „Feindtätigkeit“ West-Berlins.786 Doch boten Klassenkampfideologie und Bedrohungsszenarien keine brauchbaren Ansatzpunkte für die Bewältigung der Systemkrise. Da der Versorgungskonflikt ihren Kern und ihr dynamischstes Element bildete, lag es in der Logik der Dinge, diesem Ziel durch sozioökonomische Strategien und Maßnahmen entscheidend näher zu kommen. Das hieß konkret, die Auflösung des gesamtgesellschaftlichen Problemgeflechts über den Konsum in Angriff zu nehmen. Dieser Weg war aber aus den genannten Gründen weitgehend versperrt. Die SED prüfte deshalb andere Möglichkeiten. Führende Funktionäre erwarteten eine prinzipielle Lösung der Probleme von Konsum und Lebensstandard jedoch offenbar von einer politischen Lösung der Berlinfrage von außen, sprich durch die Sowjetunion.787 Inwiefern eine derartige Zukunftserwartung für die SED-Basis und die Angehörigen des Staatsapparates mit handlungsbestimmend war, bleibt offen. Sicher ist hingegen, dass die Ost-Berliner SED der Krisenmisere mit neuen kulturellen Angeboten entgegentrat. Das entsprach zwar der ursprünglichen „Schaufenster“-Konzeption und unterstrich die kulturelle Überlegenheit, besaß jedoch mehr als früher eine Kompensationsfunktion: Was uns an materiellem Wohlstand (noch) fehlt, können wir durch kulturellen Reichtum wettmachen, hätte das „Neue Deutschland“ titeln können. Wenn Paul Verner auf einem Höhepunkt der Versorgungskrise verlangte, dass „unser Berlin“ so „anziehend gestaltet werden (müsse)“, dass es „immer tiefer nach Westberlin und Westdeutschland hineinwirkt“, zeigte sich die DDR-Hauptstadtkonzeption zumindest den Einbrüchen in West-Berlin (u.a. in den S-Bahnhof Westend), den Verwüstungen von Einrichtungen des FDGB, der DSF und des VVN sowie einigen Diebstählen geplante antikommunistische Aktionen stünden. Auch sei eine Intensivierung der West-Berliner Agententätigkeit zu beobachten. Bezirks-Partei-Kontrollkommission Gross-Berlin: „Bericht über Feindtätigkeit, Schädlings- und Sabotagearbeit oder Verdacht darauf“, 29.6.1960, in: ebd., Nr. 460, Bl. 45–51. 785 So habe sich der „feindliche Einfluß“ auch bei der Volkspolizei, der Transportpolizei und sogar (in einem Fall) beim MfS geäußert. Vgl. Bezirks-Partei-Kontrollkommission GroßBerlin, Bericht, 14.11.1960, in: ebd., Bl. 69. 786 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll 018/61 der Sitzung am 22.7.1961, in: ebd., Bl. 2. 787 So sah auch Politbüromitglied Matern eine Veränderung der West-Berliner Verhältnisse durch einen inneren Wandel als nicht mehr möglich an, weil die meisten West-Berliner „korrumpiert“ seien. Deshalb müsse man sie angesichts der sowjetischen Berlininitiative fragen: „Glaubt ihr, daß das für alle Ewigkeit so weitergehen wird? Ich meine der Zustand geht doch eines Tages zu Ende, und das ist nicht mehr so fern. Das muß doch zu Ende gehen.“ Stenographische Niederschrift des Diskussionsbeitrages Materns auf der Bezirksaktivtagung der SED-Berlin, 19.12.1960, in: ebd., Nr. 120, Bl. 78.

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als ein Mittel zur Ablenkung von den Widrigkeiten des Alltags.788 Deshalb sind die im Krisenjahr 1960 vermehrten kulturellen „Haupt- und Staatsaktionen“ und der Plan, in Ost-Berlin künftig mehr Konferenzen, Kongresse u.a.m., aber auch „Sportveranstaltungen von nationaler und internationaler Bedeutung“, durchzuführen, durchaus auch als ein Beitrag zu einem Krisenmanagement zu sehen. In den Antikrisen-Pool flossen aber auch sozialpolitische Maßnahmen ein, die nicht viel kosteten und im Wesentlichen durch mehr politische und organisatorische Flexibilität realisierbar schienen. Sie richteten sich differenziert auf wichtige Zielgruppen wie Ärzte und Lehrer, die u.a. besser wohnen sollten789 sowie auf die Jugendbetreuung. Während im ersten Fall die Gefahr der Republikflucht im Vordergrund stand, waren die Anstrengungen um die junge Ost-Berliner Generation davon geleitet, „ihre schöpferischen Kräfte zum eigenen und zum Wohle unseres Volkes“ voll zu entfalten.790 Ein im Mai 1961 verkündetes Programm bedeutete zwar keine Liberalisierung der Jugendpolitik, enthielt aber eine Reihe längst überfälliger Maßnahmen, auch um der West-Berliner Konkurrenz zu widerstehen.791 Die angespannte Lage schien kurzfristig etwas an Brisanz zu verlieren, als der Weltraumflug des sowjetischen Kosmonauten Gagarin im April 1961 Aufsehen erregte und auch bei der Jugend echte Begeisterung auslöste, die die FDJ geschickt 788 So habe man mit den Berliner Festtagen 1960, der glanzvollen 150-Jahrfeier der Berliner Humboldt-Universität und der Charité einen großen Schritt gemacht. Dieses Doppeljubiläum als ein „großes nationales und internationales Ereignis“ mit mehr als 80 wissenschaftlichen Konferenzen und der Beteiligung „berühmter Gelehrter“ setze ein Zeichen zum Ausbau Ost-Berlins als „glanzvollen Mittelpunkt des geistigen Lebens“. Stenographische Niederschrift des Diskussionsbeitrages Verners, in: ebd. 789 Wohnungsanträge von Ärzten, die in jedem Fall Wohnungen mit Bad und Innentoilette erhalten müssten, seien spätestens sechs Monate nach Antragstellung und bei Lehrern ein Jahr danach zu realisieren. Auch könnten die Ärzte, im Unterschied zu den Lehrern, Anträge auf „Wohnungsverbesserungen“, also auf niveauvollere Wohnungen, stellen. Vgl. „Grundsätze zur Durchführung des Magistratsbeschlusses 404/60 vom 16.12.1960 zur vorrangigen Versorgung der Ärzte und Lehrer mit Wohnraum“, 5.1.1961, in: ebd., Nr. 460/1, Bl. 18. 790 Beschluß der Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin, Mai 1961, in: ebd., Nr. 471, Bl. 10. 791 „Der Jugend mehr Verantwortung“ war die generelle Losung. Sie bildete faktisch einen Rahmen für die Schaffung von Jugendobjekten, von Klubs „junger Techniker“ und „junger Intelligenz“, von Kabinetten „für Kulturarbeit“ sowie für die Bewegung „Junge Talente“. Insbesondere sollten bessere berufliche Bildungschancen entstehen. Maßnahmen zur Überwindung des „Kadermangels im Schulsport“ und zur Bereicherung des Kulturangebots für Jugendliche schlossen sich an. Auf die Zurückdrängung des westlichen Einflusses zielten Beschlüsse über die Verbesserung von Kinoprogrammen sowie über die Schaffung „zusätzlicher Tanzkapazitäten“. Vgl. ebd., Bl. 11–23.

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funktionalisierte.792 Im finanztechnischen Bereich hingegen brachten insbesondere die gegen die Westsektoren gerichteten Maßnahmen keine weiterreichenden Stabilisierungseffekte. Seit Mai 1961 zahlten deren Bewohner Steuern, Mieten und Pachten für im Ostteil der Stadt gelegene Grundstücke und Gärten, aber auch für Boots- und Zeltplätze, in Westmark und beglichen bei Besuchen im Ostsektor ihre Restaurantrechnungen in dieser Währung.793 Auch durften ab dem 1. Juli 1961 „hochwertige Industriewaren“ an in Ost-Berlin arbeitende West-Berliner nur noch gegen Vorlage einer hochpeinlichen besonderen Bescheinigung verkauft werden.794 Ebenso wenig erreichten die organisatorischen Anstrengungen zur Entkrampfung des Versorgungskonfliktes eine wirkliche Besserung. Viele Mitarbeiter, insbesondere des Handels, bemühten sich zwar darum, sahen aber dafür wenig Chancen und resignierten. Resignation konnte sich die Berliner SED aber nicht leisten. So entwickelte sie verschiedene, im Rahmen des noch verbliebenen Handlungsspielraums durchaus vernünftige Maßnahmen. Bereits im Juni 1960 legte das Büro der SED-Bezirksleitung einen Plan vor, der die Erweiterung des Netzes der Verkaufsstellen für Obst und Gemüse sowie eine Umlenkung von Kräften aus anderen Verkaufssektoren dorthin vorsah. Geschlossene Läden seien sofort wieder zu eröffnen. Überdies hätten die staatlichen Organe dafür zu sorgen, „daß in jedem Versorgungsbereich“ Schlächter, Bäcker und Gemüsegeschäfte wegen Urlaub, Renovierung u.a.m. nur dann schließen dürften, wenn dort insgesamt die Versorgung gesichert sei. Das träfe auch für die Ladenöffnungszeiten zu.795 Sie wurden im Juli 1961 in Ost-Berlin um täglich eine Stunde verlängert, auch sonnabends.796 Diese und andere Aktivitäten stießen sich jedoch immer wieder am Warenmangel, den sie bestenfalls etwas mehr regelten und gleichmäßiger verteilten. Allerdings erhielten die Verantwortlichen durch die von den Parteiund Staatsorganen zwangsweise geschaffene Mangelordnung einen „ständigen Überblick über die Probleme des Handels und der Versorgung“. Insbesondere half ein „straff organisierter Dispatcherdienst“, Probleme vor Ort sofort zu erkennen. 792 Vgl. FDJ-Bezirksleitung Groß-Berlin, Vorlage an das Büro der SED-BL, 14.6.1961, in: ebd., Nr. 472, Bl. 127. 793 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll 012/61 der Sitzung am 18.5.1961, in: ebd., Nr. 469, Bl. 3. 794 Diese Bescheinigung über die Beschäftigung des Käufers in Ost-Berlin enthielt eine eidesstattliche Erklärung des Kaufwilligen, dass „kein Angehöriger meines Haushalts“ außerhalb der DDR und ihrer Hauptstadt „ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist“. Magistratsvorlage für das Büro der SED-BL, 7.6.1961, in: ebd., Nr. 471, Bl. 151. 795 Vgl. Büro der SED-BL: „Zur Auswertung der 5. Bezirksdelegiertenkonferenz, 15.6.1960, in: ebd., Nr. 429, Bl. 37f. 796 Vgl. Stenographische Niederschrift der Bezirksparteiaktivtagung, 7.7.1961, in: ebd., Nr. 121, Bl. 30.

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Die SED-Leitungen auf der Berliner Bezirks- und Kreisebene müssten einen „täglichen Überblick“, insbesondere über sensible Versorgungsbereiche haben, mahnten die Parteioberen. Dies sei „ein politisches Gebot“. Vor allem bei Brot, Backwaren und Nährmittel dürften keinerlei Störungen mehr auftreten.797 Demgegenüber trug die durch neue Angebotslücken beschleunigte Konsumkrise folgerichtig zum Anstieg von Umsatzdefiziten bei. Da die Teilstadt u.a. mit Textilien versorgt war, die – wie bereits geschildert – den Ansprüchen der Käufer nicht mehr genügten, vergrößerten sich die Bestände von nichtverkäuflichen Konfektionswaren, so genannten Überplanbeständen. Sich von diesen zu „befreien“, wie es die Ökonomen nannten, hätte zu einer Verbesserung der Handelsbilanzen führen und das Konsumdesaster zumindest etwas abschwächen können. Doch ließ sich die Überplan-Konfektion trotz erheblichen Werbungsaufwandes und Preissenkungen nicht wesentlich reduzieren. Zeitweise stapelten sich die unmodernen Textilien, mit über 20 Mio. Ostmark bewertet, in den Lagerhallen und Verkaufsstellen.798 Vorstellungen, sie in den DDR-Bezirken oder über den Außenhandel abzusetzen, erwiesen sich als unrealistisch.799 Es spielte die West-Berliner Konkurrenz eine Rolle, wenn auch in anderen Handelsbranchen trotz der vorhandenen OstBerliner Kaufkraft erhebliche Überplanbestände lagerten – etwa nicht den neuesten technischen Stand repräsentierende Musiktruhen, Plattenspieler und Rundfunkgeräte. Gleichzeitig fehlte es aber an heiß begehrten Fernsehgeräten, Kofferund Transistorradios, Spannungsreglern sowie „modernen Röhrentypen“, die man, so es ging, eben aus West-Berlin bezog.800 Parallel dazu wuchsen die Lagerbestände beispielsweise von teuren französischen und schwedischen Parfüms an, während die Ost-Berliner Hausfrau häufig vergeblich nach Waschmitteln und Mottenpulver suchte. Immerhin entstanden unter akutem Krisendruck neue Einsichten und Initiativen. So orientierte die SED-Bezirksleitung in einem Krisenpapier auf eine käufernahe Produktion, erstrangig im Bereich der Konfektion, die vor allem „modern“ zu sein habe. Die dafür sowie für die Steigerung der Arbeitsproduktivität entworfenen Lösungsvorschläge blieben dann aber zumeist im Ideologischen stecken. So sollte der sozialistische Wettbewerb verbessert und ein Problem stets als „Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen“ behandelt 797 Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll 027/60 der Sitzung am 17.11.1960, in: ebd., Nr. 442, Bl. 3. 798 Papier der Abteilung Landwirtschaft/Handel der SED-BL, 18.2.1961, in: ebd., Nr. 462, Bl. 12. 799 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll 05/61 der Sitzung am 18.2.1961, in: ebd., Nr. 462, Bl. 2f. 800 Papier des Sekretariats für das Büro der SED-BL: „Übersicht über die Versorgung der Bevölkerung mit Industriewaren“, 20.6.1961, in: ebd., Nr. 472, Bl. 129–133.

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werden. Anderes schien auf den ersten Blick vernünftiger: die Aufdeckung betrieblicher Reserven, die Anwendung von „Neuerermethoden“, die zügige Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen und Erfindungen sowie die Optimierung der Arbeitsorganisation und der maschinellen Auslastung. Die Realisierung dessen scheiterte wiederum häufig an planwirtschaftlicher Unbeweglichkeit, die auch den stärkeren Übergang zur ökonomisch gebotenen Schichtarbeit behinderte. Ebenfalls blieb die „Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ eine zwar richtige, aber unter den Bedingungen des in der akuten Krise steckenden Planregimes illusorische Forderung.801 In ihrem Krisenpapier stellte die SEDBezirksleitung den Parteimitgliedern, Staatsfunktionären und Gewerkschaften die Aufgabe, „zur Minderung des Arbeitskräftemangels und der ungesunden Entwicklung zwischen der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Durchschnittslöhne einen systematischen Kampf um die Senkung der Ausfallzeiten und der Einschränkung der Arbeitskräftefluktuation zu führen“.802 Hier lag in der Tat das ökonomische Kernproblem, das aber ebenfalls wenig Ansatzpunkte für sozialpolitische Maßnahmen bot. Hierfür fehlten eben die finanziellen Mittel. Weil die SED-Politiker aber von der Richtigkeit des realsozialistischen Kurses überzeugt waren und selbst die ernstesten Schwierigkeiten für überwindbar hielten, versuchten sie auch weiterhin, alle sich ihnen bietenden Möglichkeiten für begrenzte sozialpolitische Fortschritte möglichst effektvoll zu nutzen. So stellte die Ankündigung, in Ost-Berlin sowohl zentrale Krankenhäuser auszubauen als auch die medizinische Betreuung in den Wohngebieten zu intensivieren, eine populäre Entscheidung dar. Sie bedeutete aber auch einen anderen Umgang mit den Ärzten.803 Das warf wiederum Probleme auf. Insgesamt schien die wirtschaftliche Lage im 1. Halbjahr 1961 hoffnungslos. Weder griffen die Ministerialbeschlüsse zur Abdeckung des Arbeitskräftebedarfs in den Berliner Schwerpunktbetrieben (der Exportproduktion) noch konnten sie ausreichend mit „Defizitmaterial“ und „Normteilen“ beliefert werden. Der Magistrat meldete für das II. Quartal 1961 eine „weitere Verschärfung“ der Situation, die zum Ansteigen der Ausfallzeiten führte sowie zur „Erhöhung der unvollendeten Produktion“, wie es Terminus war. Insbesondere sei die Politik der „Heranführung der Leistungen an den Lohn in Berlin“ gescheitert.804 Ebenfalls beunru801 Beschluss des Büros der SED-BL, Protokoll 05/61 der Sitzung am 18.2.1961, in: ebd., Nr. 462, Bl. 5f. 802 Ebd. Bl. 5. 803 Vgl. ebd., Bl. 6f. 804 So stieg die Erfüllung der Normen unbegründet an. Ihre unrealistische Grundlage zeige sich u.a. darin, „daß ein Abiturient bereits am ersten Tage seines Produktionseinsatzes als Bohrer […] die Arbeitsnorm mit 210% erfüllen konnte“, kritisierten die Ökonomen.

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higte die defizitäre Realisierung des Investitionsplans im ersten Halbjahr 1961 mit lediglich 37, im Bauwesen gar nur mit 33,5 Prozent. Die Untererfüllung des Plans der Bauproduktion (45 Mio. Ostmark) begründete die SED-Bezirksleitung mit dem Fehlen von 860 Arbeitern. Aber auch anderswo nahm das Defizit an Facharbeitern fatal zu, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Im gleichen Tempo vergrößerte sich die Misere der Konsumgüterproduktion.805 Bereits zum Jahresbeginn 1961 waren die verfügbaren Instrumentarien zur Begrenzung der Wirtschaftskrise im Wesentlichen ausgeschöpft. Das Management der SED hatte sie eher verschärft als gemildert.

6.3 Die Ost-Berliner Arbeitskräftefluktuation und ihr West-Berliner Hintergrund 6.3.1 Die eskalierende Republikflucht: Motive und Wirkungen Zu dieser negativen Dialektik trug das Problem der „Fluktuation“ hochgradig bei. In der DDR-Hauptstadt hatte sie im Wesentlichen drei Quellen: Erstens die Republikflucht, zweitens die Grenzgängerei und drittens den Arbeitsplatzwechsel innerhalb Ost-Berlins. Die wichtigste Ursache für die Fluktuation stellte – direkt oder indirekt – die Existenz und „Schaufenster“-Wirkung West-Berlins dar. Insofern war das Phänomen konzentriertester Ausdruck der Systemkonkurrenz. Doch während die Republikflucht ein Problem war, das die ganze DDR im gesamtdeutschen Rahmen betraf und in Berlin-Brandenburg nur besondere Merkmale ausbildete, bezog sich das auch in einem anderen Kapitel thematisierte Grenzgängertum ausschließlich auf diese Region. Der Arbeitsplatzwechsel zwischen den Bezirken der DDR und ihrer Hauptstadt sowie innerhalb Ost-Berlins unterlag – u.a. durch Zuzugsregelungen und Kontingentierungen – einer intensiven Kontrolle. Erst seit Mitte 1960 erhielt er eine erhebliche Bedeutung. In der akuten Krise des realen DDR-Sozialismus nahm sich die Republikflucht speziell im Raum Berlin dramatisch zu. Die Gründe dafür lagen nicht einfach nur in der Verschlechterung der östlichen Lebenssituation sowie im „objektiven“ Magnetismus des Westens, sondern auch in der subjektiv empfundenen Perspektivlosigkeit der minder produktiven ostdeutschen Diktatur, während der expandierende Westen, einschließlich West-Berlins, sich für den Einzelnen als hoch effektiv und zukunftsweisend darstellte. West-Berlin erlebte unabhängig von der Wirtschaftsrat beim Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Plankoordination: Kurzanalyse über die Durchführung des Volkswirtschaftsplans im ersten Halbjahr 1961, in: ebd., Nr. 476. 805 Vgl. ebd.

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sozioökonomischen Entwicklung im Ostteil der Stadt, aber parallel zu dessen Krise, eine bemerkenswerte wirtschaftliche Konjunktur. Sie besaß viele Wirkungen und Gesichter, war aber für den Osten deshalb so fatal, weil sie einen erhöhten Bedarf an Arbeitskräften nach sich zog, den zu einem erheblichen Teil Menschen aus der DDR, vor allem aber aus dem nahen Ost-Berlin, deckten. Zwei Faktoren fielen also zusammen: Die Krise im Osten und die Hochkonjunktur im Westen, beide erstrangig unter sozioökonomischen Vorzeichen. Beide Seiten benötigten zeitgleich mehr Arbeitskräfte. Diese Nachfrage erhöhte die westorientierte Mobilität der ostdeutschen Arbeitskräfte immens. Gegen die im Kontext der Systemkrise anwachsende Republikflucht besaßen die SED und die Ost-Berliner Verwaltung keine wirksamen Gegenmittel. Da die Krise die ganze Gesellschaft erfasst hatte, fiel es ihnen zunehmend schwer, sich bei der Entwicklung und Durchsetzung von Abwehrstrategien auf bestimmte gesellschaftliche und berufliche Gruppen zu stützen. Zumindest ab Mitte 1960 schien die weit verbreitete Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber den Problemen des realen Sozialismus teilweise in Agonie, aber auch in Verweigerung und Protest, überzugehen. Bei einigen Berufsgruppen, beispielsweise Lokführern und beim Lokpersonal, sei die Stimmung „schlimmer […] als am 17. Juni 1953“806, warnte die SED- Bezirksleitung. Sicherlich besaß die Republikflucht für eine Reihe von Arbeitern und Angestellten trotz „lohnregulierender Maßnahmen“ und neuer Prämiensysteme eine VentilFunktion. Doch verließen nicht in erster Linie ältere „Werktätige“ angesichts eigener Erfahrung mit Kapitalismus und Sozialismus807 den Osten, sondern vorrangig junge Facharbeiter. Auch setzte sich verstärkt der Trend fort, dass Angehörige von gesellschaftsstrategisch wichtigen Berufsgruppen wie Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure u.a. in den Westen gingen.808 Darunter befanden sich auch viele Mitglieder der SED, wovon auch die steigende Anzahl von Parteiverfahren zeug-

806 Kurzinformation, 1.11.1960, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 630. 807 So war beispielsweise die Meinung verbreitet, dass man im Kapitalismus nicht so ausgebeutet würde wie durch die sozialistische Lohnpolitik. Vgl. ebd. Zu den Motiven der eskalierenden Fluchtbewegung vgl. Patrick Major, Torschlusspanik und Mauerbau. Republikflucht als Syndrom der zweiten Berlinkrise, in: Ciesla, Burghard/Lemke, Michael/ Lindenberger, Thomas, Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948–1958, Berlin 1999 S. 221–243. 808 In der Zeit zwischen 1954 und Ende 1960 hatten die DDR bereits 3.110 Ärzte und 1.224 Zahnärzte verlassen. Hinzu kamen 902 Apotheker, 15.885 Ingenieure und Techniker, beinahe 16.000 Lehrer sowie 738 Hochschullehrer, aber auch 130 Richter und Staatsanwälte nebst 658 Rechtsanwälten und Notaren. Vgl. Bulletin der Bundesregierung, 17.2.1961, Bonn.

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te.809 Seit 1960 stellte sich der Führung von SED und Magistrat nicht mehr nur die Frage der Republikflucht an sich, sondern vielmehr das Problem, ihrer krisenbedingten Steigerungsraten Herr zu werden. Dabei stand der medizinische Bereich als besonders dringend im Vordergrund, aber auch – für eine Großstadt vielleicht erstaunlich – die Ost-Berliner Landwirtschaft. Zuvorderst Gemüse, Milch und Fleisch produzierend, besaß sie bei der Bevölkerungsversorgung eine wichtige Funktion. Diese wurde aber erheblich in Frage gestellt, als sich 1960, in der Endphase der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, viele im Stadtbereich tätige private Landwirte und Gärtner, aber auch LPG-Bauern und Arbeiter der großen volkseigenen Güter (VEG) nach West-Berlin absetzten.810 Die Staatsorgane wussten keinen anderen Ausweg, als die „Sicherung der Sektorengrenzen“ zu verstärken, sie auch deshalb besser zu bewachen, weil Landwirte teilweise mit ihrem Vieh über die „grüne“ Berliner Grenze verschwanden, in einem Fall sogar mit einer kompletten Schafherde.811 Ganz Berlin lachte. Weniger spaßig für alle Beteiligten waren drohende Insuffizienzen bei der medizinischen Versorgung. Da die bereits angedeuteten sozialpolitischen Verbesserungen für Ärzte ebenfalls nur eine begrenzte Reichweite besaßen, das West-Berliner Medizinalsystem hingegen eine steigende Anziehungskraft, ließ sich die Progression der Fluchtbewegung812 praktisch nicht verhindern. Außer den besseren Verdienstmöglichkeiten im Westen sahen die privat niedergelassenen Ärzte in Ost-Berlin ein baldiges Ende ihrer Praxen kommen. In diesem Fall schlug die SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg eine „Gegen-Taktik“813 vor, die aber zu kurz griff. Weiter trugen Planungsunsicherheit, fehlende oder mangelnde medizinische sowie medizintechnische Mittel zur Republikflucht bei, mehr aber vielleicht noch – wie gerade aus den Krankenhäusern 809 Im 2. Halbjahr 1960 wurde ein Drittel aller Parteiverfahren in Ost-Berlin (280) wegen Republikflucht geführt, das bedeutete gegenüber dem 1. Halbjahr einen Anstieg um 35,9 Prozent. Die Tendenz sei weiter steigend. Vgl. Information der Bezirks-Partei-Kontrollkommission Groß-Berlin der SED, 10.3.1961, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 465, Bl. 92. 810 Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Innere Angelegenheiten: Bericht über das II. Quartal 1960, 29.7.1960, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 6, Bl. 3. 811 Ein Schäfer hatte bei Berlin-Blankenfelde seine 400 Schafe in den französischen Sektor getrieben. Daraufhin stellte das Büro der SED-BL „ernste Schwächen in der Zusammenarbeit der Organe der Staatsmacht untereinander“ fest und reagierte administrativ. Vgl. Beschluß des Büros der SED-Bezirksleitung, Protokoll 011/61 der Sitzung am 27.4.1961, in ebd., C Rep. 902, Nr. 468, Bl. 2f. 812 1959 gingen insgesamt 107 Ost-Berliner Ärzte und 103 Krankenschwestern nach WestBerlin; 1960 waren es 120 Ärzte und 271 Krankenschwestern. Vgl. Papier des Magistrats, 11.2.1961, in. ebd., Nr. 462, Bl. 124. 813 Die Kreisleitung sah u.a. in offiziellen Auszeichnungen von verdienten Medizinern und im Bereitstellen von Studienplätzen für deren Kinder ein Erfolg versprechendes Mittel.

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zu erfahren war – das fehlende Vertrauen in die übergeordneten Dienststellen sowie das Gefühl der Ärzte und des medizinischen Personals, ständig bevormundet zu werden und „unfrei“ zu sein. Deren Vorschläge würden nicht berücksichtigt, ihre Meinung sei nicht gefragt.814 Die SED sah die politische Haltung der Ärzte, mit Ausnahme der aus West-Berlin kommenden Mediziner, als labil an. Diese beurteilte die SED als ein stabiles Segment des Gesundheitsbereiches. Das schien sich nach dem Mauerbau zu bestätigen.815 Die Eskalation der Systemkrise 1961 fand im Anstieg der Republikflucht ihr getreues Abbild.816 Hätte sie sich, was zu erwarten war, noch beschleunigt oder aber nur auf dem erreichten Niveau eingependelt, wäre der wirtschaftliche Kollaps der DDR und ihrer Hauptstadt nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Alle Bemühungen der SED und der Staatsverwaltungen, die Lage noch in den Griff zu bekommen, sowie der engagierte Einsatz vieler Parteimitglieder, Bündnispartner und Sympathisanten der SED, aber auch engagierter Bürger, erwiesen sich als wirkungslos. Maßnahmen, die Stabilität für den realen Sozialismus und Sicherheit vor allem in Ost-Berlin zu sichern – etwa die Werbung von Jugendlichen für die NVA – dynamisierten die Fluchtbewegung und führten zur konfrontativen Abwehrhaltung des Senats.817 Da trotz der Schwierigkeiten der Krise die großen Ziele der 814 Es störe die Ärzte auch, wenn in den Krankenhäusern von „sozialistischen Stationen“ die Rede sei. Das Wort sozialistisch bliebe ein reines Schlagwort. Dadurch werde der Sozialismus „praktisch diskreditiert, da Dinge als sozialistisch bezeichnet werden, welche ohnehin selbstverständlich sind, wie z.B. Pünktlichkeit, Sauberkeit, Gewissenhaftigkeit oder der immer wieder auftauchende und kaum noch erträgliche Hinweis auf Sparsamkeit mit Verbandsmaterial auch dort, wo es sich um keine chirurgischen Stationen handelt“. Ebenfalls unerträglich sei, dass die zuständigen staatlichen Stellen nie „exakte Angaben über finanzielle Mittel“ machten. Schreiben von Dr. Reifenberg, stellvertretender Ärztlicher Direktor des städtischen Krankenhauses Herzberge, an die SED-BL, undatiert (wahrscheinlich Herbst 1960), in: ebd., Nr. 1375. 815 Beispielsweise kündigten von den West-Berlinern, die im Bereich der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität arbeiteten (Charité), nur vier Ärzte als Folge des Mauerbaus. Abteilung Agitation und Propaganda der SED-BL: „Aktennotiz an den 1. Sekretär der Bezirksleitung – Gen. Verner“, 19.8.1961, in: ebd. 816 Im ersten Halbjahr 1961 wurden im Westen 155.402 Flüchtlinge registriert, von Januar bis Juni durchschnittlich 19.000 pro Monat; im Juni plötzlich dramatische 30.000. Vgl. Hermann Weber, Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S. 103f. 817 Die „heftige Kampagne“ der Ost-Berliner Presse gegen die angeblich an West-Berliner Schulen betriebene Werbung für die Bundeswehr sei deshalb so verwerflich, meinte der Chef des Presse- und Informationsamtes des Regierenden Bürgermeisters, weil das DDRRegime „sich in der Militarisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens nur wenig vom nationalsozialistischen Regime unterscheidet, dieses in manchem sogar noch übertrifft“. Er verwies auf die Anweisung der Ost-Berliner Stadtverordneten, den „be-

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DDR – vor allem ihre völkerrechtliche Anerkennung – nicht vernachlässigt werden durften, drohten auch dem Ost-Berliner Etat neue finanzielle und politische Belastungen, zu denen die Reaktionen des Senats traten.818 Auch trieben immer mehr Unsicherheiten die Krise und das teilweise panikartige Verlassen der angestammten Heimat an: Die Russen könnten sich womöglich mit ihrer „Freien Stadt“ durchsetzen und der Westen nachgeben, befürchteten zahlreiche OstBerliner. Jetzt verließen auch bislang noch Unentschlossene die DDR. Auch bei der West-Berliner Bevölkerung machten im Sommer 1961 Gerüchte über angeblich bevorstehende DDR-Maßnahmen die Runde, und den Senat erreichten in dieser Sache möglicherweise fundiertere geheime Informationen.819 6.3.2 „Verdeckte“ Abwanderung und „Abwerbung“ „Bodenständiger“ als die Republikflüchtigen verhielten sich die Grenzgänger. Sie blieben in Ost-Berlin und seinen Randgebieten aus verschiedenen Gründen wohnen, arbeiteten aber auch während der östlichen Krise weiter in West-Berlin. Für die SED und den Magistrat erhielt das Grenzgängerproblem auch deshalb eine neue Dimension, weil es sich in der wirtschaftlichen Niedergangsphase mit der internen Arbeitskräftefluktuation verband. Eine Reihe von Arbeitern und Angewaffneten Organen“ bei der Gewinnung von Jugendlichen für den Dienst in der Volksarmee zu helfen. Das Presse- und Informationsamt halte es für richtig, „diese Entwicklung sorgfältig zu verfolgen und Material bereitzustellen, das zu gegebener Zeit publiziert werden kann“. Diese Unterlagen (Fotos, Fotokopien von Dokumenten, Statistiken u.a.) sollten so systematisch gesammelt werden, „dass man sich kurzfristig über die Art der Publikation einigen kann, wenn die internationale Lage es geboten erscheinen lässt“. Schreiben von Egon Bahr an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 20.1.1961, in LAB, B Rep. 002, Nr. 7081. 818 So erhielt der Senat eine Information über eine vom Politbüro der SED geplante (5000 Quadratmeter umfassende) Ost-Berliner Wanderausstellung, um den „Standpunkt der DDR“ in der Berlin-Frage im sozialistischen und neutralen Ausland vorzuführen. Wenngleich eine West-Berliner Pendantausstellung in den neutralen Staaten aus Kostengründen nicht möglich sei, würde sich eine auf das „Selbstbestimmungsrecht für ganz Deutschland“ abzustellende allgemeine „Gegenausstellung“ empfehlen, formulierte Bahr. Schreiben von Egon Bahr an Willy Brandt und Franz Amrehn, 5.7.1961, in: ebd. 819 An Egon Bahr war herangetragen worden, „dass es vor dem 17. September Ereignisse geben würde, die die Zone für die Weltpresse interessant machen würde. Dies habe nichts mit dem sowjetischen Memorandum zu tun oder mit russischen Schritten. Es werde sich dabei um eine reine Angelegenheit der DDR handeln“. Er könne sich vorstellen, meinte Bahr, „dass eine ‚kleine‘, von der ‚DDR‘ inszenierte Krise in der Totalkontrolle der Sektorengrenze mit den daraus resultierenden Folgen für die Flüchtlinge bestehen könnte. Jedenfalls muss man mit etwas derartigem in der ersten Septemberhälfte rechnen.“ Vermerk von Egon Bahr für den Reg. Bgm., 27.6.1961, in: ebd., Nr. 3372.

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stellten hatte schon zu „normalen“ Zeiten ihren Betrieb in der DDR bzw. im Ostsektor verlassen und sich in Ost-Berlin respektive innerhalb dieser Teilstadt eine neue Anstellung gesucht. Zumeist bildeten Lohn- und Gehaltsfragen den Hintergrund. Das war für die Betroffenen, zumeist volkseigene Betriebe, häufig ein Ärgernis, brachte sie aber bis zum Krisenbeginn kaum in größere Schwierigkeiten. Relativ frühzeitig erreichten die SED-Bezirksleitung jedoch bedenkliche Signale über eine zunehmende Fluktuation von Arbeitskräften.820 Hinter dieser Tendenz standen neben sozialen auch strukturelle Ursachen. Einerseits machte sich die Gesamtsumme der im Jahr 1959 vergleichsweise niedrigen Ost-Berliner Republikfluchten bemerkbar. Dadurch freigewordene Arbeitsplätze mussten besetzt werden. Andererseits entstanden in der Hauptstadt aus wirtschaftlichen, aber auch politischen Gründen, neue Stellen. Da etliche von ihnen finanziell besser ausgestattet waren, wechselten DDR- und Ost-Berliner „Werktätige“ gern zu ihnen und damit in vielen Fällen auch in andere Berufe über. Besonders negativ davon betroffen war der produktive Bereich. Ab Mitte 1960 erhielt die systeminterne Fluktuation den Charakter eines allgemeinen Krisensyndroms, das sich unter dem Einfluss West-Berlins für die einzelnen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen zwar differenziert, aber im Ganzen bedenklich entwickelte.821 Das betraf auch private und genossenschaftliche Kleinbetriebe mit wichtigen Versorgungs-

820 So gebe es seit Herbst 1959 Fälle, „wo auf einen Schlag zehn bis 20 qualifizierte Facharbeiter kündigen“. Als Grund dafür wurde „Unzufriedenheit mit Löhnen und Normen“ angegeben. Kurzinformation, 27.10.1959, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 626. 821 Vgl. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL: „Information über Maßnahmen zur Sicherung der Ernte und zur Versorgungsfrage“, 23.8.1960, in: ebd., Nr. 629. So verbuchte beispielsweise der VEB Herrenbekleidung „Fortschritt“ bis August 1960 375 Kündigungen bei nur 157 Einstellungen und der VEB Gießereimaschinenbau Lichtenberg innerhalb von sechs Wochen 25 Abgänge „von jungen Kollegen“. Junge Facharbeiter verließen auch das KWO und den VEB-Aufzugbau, der im II. Quartal 1960 96 Kündigungen meldete. Das Glühlampenwerk klagte im November 1960, dass ihm 200 Arbeitskräfte „davongelaufen“ seien und das nicht aufhöre. In allen der genannten Fälle werde das Verlassen der Betriebe mit zu wenig Lohn, zu schwerer Arbeit sowie mit Schichtarbeit, aber auch allgemeiner mit „schlechten Arbeitsbedingungen“ begründet. Seit Ende Oktober 1960 häuften sich die Hiobsbotschaften: Im VEB Elektromechanik hätten 16 qualifizierte Werkzeugmacher innerhalb kurzer Zeit gekündigt, „wovon nachweisbar 8 in Westberlin arbeiten“. Aus dem VEB Stahlbau seien 60 Kollegen ausgeschieden; „die meisten von ihnen arbeiten in Westberlin“ usw. Vgl. Bezirks-Partei-Kontrollkommission Groß-Berlin: „Bericht über die Feindtätigkeit, über feindliche Einflüsse und Stimmungen“, 14.11.1960, in: ebd., Nr. 460, Bl. 52.

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aufgaben.822 Zwar brachten dort und in industriellen Schwerpunktbetrieben kontrollierte Umsetzungen von Arbeitskräften sowie ein partiell verbessertes Mehrschichtsystem eine zeitweilige Entspannung823, doch begann zwischen den Großbetrieben gleichzeitig eine interne Konkurrenz um die knappen Arbeitskräfte. Man warb sie, nachdem das Reservoir der bislang „nicht arbeitenden Bevölkerung“ weitgehend ausgeschöpft war, mit besseren Lohnangeboten gegenseitig ab. Damit verletzten viele Betriebsleitungen sowohl die Gebote der zentralen Arbeitskräfteregelung als auch den von der SED heftig verteidigten Grundsatz, dass unbegründete Lohnerhöhungen zu unterlassen seien. Mit den illegal erweiterten Spielräumen des betrieblichen Managements, das letztendlich aus der Not heraus handelte, entglitten der Partei zunehmend die arbeitsmarktpolitischen Kontrollmechanismen, und es verstärkte sich ein dementsprechendes Chaos. Es vergrößerte sich auch dadurch, dass weder die Betriebe noch die zentralen Behörden wussten, ob die Werktätigen, die ihren Arbeitsplatz gekündigt hatten, sich eine neue Tätigkeit in Ost-Berlin suchten, sie bereits angetreten hatten oder aber als Grenzgänger nach West-Berlin gingen. Ebenso gab es eigenartige Fälle, in denen neu eingestellte Arbeiter ihren Ost-Berliner Betrieb als Anlaufpunkt für eine geplante Grenzgängerei nutzten, oder aber, als langjährig im Osten Beschäftigte, heimlich Betriebe im Westen aufsuchten, um zu prüfen, ob sich für sie ein Wechsel dorthin lohne.824 Auch trieb West-Berlins Nachfrage nach Arbeitskräften seltsame Blüten: „Bürger aus dem Gebiet der Republik“ würden offiziell ihren Urlaub auf den Berliner Campingplätzen verleben, aber von hier aus einige Tage „nach Westberlin arbeiten gehen“.825 Ebenfalls mehrten sich die Indizien dafür, dass immer mehr fest Beschäftigte in Ost-Berlin und seinen Randgebieten tageweise nicht zur Arbeit kamen und stattdessen einem Job in West-Berlin nachgingen.826 Auch dadurch nahm die Zahl der „verdeckten“ Grenzgänger in den Westen dramatisch zu.827 822 Hier gingen die Beschäftigten im I. Halbjahr 1960 von insgesamt 3.721 auf 2.439 zurück. „Der größte Teil der fehlenden Kräfte arbeitet in Westberlin. Das Programm der 1000 kleinen Dinge ist ernsthaft gefährdet“, lautete der Kommentar. Ebd. 823 Vgl. Stenographische Niederschrift der Bezirksaktivtagung am 19.12.1960, in: ebd., Nr. 120, Bl. 23. 824 Das beträfe u.a. „Kollegen vom BGW“, die „Beziehungen zu Osram“ unterhielten. Einer von ihnen, ein Kandidat der SED, habe bei einer Befragung geäußert, er habe sich Osram nur einmal ansehen wollen, um sich zu überzeugen, „ob die da auch unter so saumäßigen Bedingungen arbeiten“. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL, „Information über Maßnahmen zur Sicherung […], 23.8.1960, in: ebd., Nr. 629. 825 Vgl. ebd. 826 Schlussfolgerungen zogen SED-Beobachter anhand von Fahrkartenanalysen. Viele offizielle Grenzgänger führen mit Arbeiterrückfahr- oder Dekadenkarten nach Berlin. An ver-

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Da die Republikflüchtigen ihre Arbeitsplätze definitiv und für immer verließen, boten nur die Grenzgänger die Möglichkeit, Arbeitskräfte unter Aufgabe ihrer Bindung an West-Berlin der Ost-Berliner Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Dieses Ziel zeitigte einen „Spagat“: Einerseits setzte man die Betroffenen vor allem administrativ unter Druck, musste aber andererseits vermeiden, dass er sie zur Republikflucht nötigte. Eine Differenzierung des Problems ergab sich insofern, als aktive Grenzgänger nach Ost-Berlin zurückgeführt und im Unterschied dazu potenzielles Grenzgängertum unterbunden werden sollte. Zunehmend geriet die Prophylaxe zur Hauptaufgabe. Doch verfügte die SED über keine probaten Mittel, um ein Anwachsen des Heeres ihrer in West-Berlin arbeitenden Bürger zu verhindern. Es war auch eine Reaktion auf diese Ohnmacht, wenn die Parteiführung die Ursache für diese Dynamik im gezielten Abwerben von qualifizierten Ost-Berliner Arbeitskräften durch die West-Berliner „Kapitalisten“ und „Störenfriede“ sah und die „Abwerbung“ in den ostdeutschen Medien systematisch kriminalisierte. „Dichtung“ und „Wahrheit“ lagen auch bei SED-Funktionären dicht beieinander, wenn sie die objektiven Gründe dieses Phänomens erkannten und es gleichzeitig „klassenspezifisch“ deuteten.828 Zwar gab es keine wirtschaftlich oder politisch motivierte und geplante Abwerbung seitens West-Berlins „an sich“ oder seiner staatlichen Organe, Medien sowie politischen Parteien und Organisationen. Doch warben West-Berliner Wirtschaftsunternehmen – jedes für sich –, ohne dass eine Verschwörung dahinter gestanden hätte, aus konjunkturellen Gründen Ost-Berliner Arbeitskräfte an. Hier ging es nicht nur um den Magnetismus, den moderne Betriebe mit attraktiven Löhnen, Sozialleistungen und technischem schiedenen Bahnhöfen würde „höchstens jeder 10. Bürger eine Normalfahrkarte“ in ihre außerhalb Berlins gelegenen Wohnorte erwerben, während neun von ihnen in die Hauptstadt kämen und hier „S-Bahn-Fahrkarten hin und zurück verlangten, d.h. dass es sich in diesem Fall fast ausschließlich um [illegale] Grenzgänger handelt“. Vgl. ebd. 827 Von 43.000 Ende Juni 1960 auf 54.000 am 9.12.1960. Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 351. 828 So führte der Erste Sekretär der SED-BL Berlin, Verner, aus, dass West-Berlin „bekanntlich auf Grund der gegenwärtigen Hochkonjunktur, die von den internationalen Monopolen, der Bonner Regierung und vom Westberliner Senat noch künstlich gestützt wird, heute Mangel an Arbeitskräften [hat]. Trotzdem investieren die großkapitalistischen Konzerne Dutzende von Millionen Mark zum Bau neuer Betriebsanlagen in der ausschließlichen Absicht, weitere Arbeitskräfte aus dem Demokratischen Berlin und den Randkreisen um Berlin abzuwerben und aus ihnen Millionenprofite zu schinden. Diese Menschenhändler scheuen sich sogar nicht, Personal aus unseren Krankenhäusern abzuwerben, um die Betreuung und Heilung der Kranken zu gefährden.“ Verner gab den alljährlichen Produktionsverlust, der durch die Grenzgänger entstünde, mit einer Mrd. Ostmark an. Stenographische Niederschrift der Bezirksparteiaktivtagung am 7.7.1961, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 121, Bl. 34.

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Know how auf Facharbeiter naturgemäß auszuüben vermochten, sondern um gezielte direkte oder indirekte Werbeaktionen. Wenngleich man Ost-Berliner häufig nicht explizit ansprach, richteten sich z.B. die von West-Berliner Großbetrieben an der Sektorengrenze aufgestellten „großen Schilde[r] und Stellenangebot[e]“ genau an sie.829 Aus den Werken des Loewe-Konzerns wurden Anschläge an „schwarzen Brettern“ bekannt, die seine Beschäftigten dazu aufforderten, gegen eine „Kopfprämie von 50 DM-West“ pro Facharbeiter Ostarbeitskräfte zu werben. „Kopfgelder“ zahlten aber auch kleinere Gewerbebetriebe wie die Druckerei Union. Andere West-Berliner Betriebe würden „Zettel in die Lohntüten“ der von ihnen beschäftigten Grenzgänger mit der Aufforderung legen, „in ihrem Bekanntenkreis Arbeitskräfte (Ost) zu werben“.830 Und das Siemens-Unternehmen richtete diskrete Briefe an ehemalige, jetzt im Osten bei Bergmann-Borsig tätige Betriebsangehörige, ab 1. Januar 1961 wieder zu arbeiten; es werde „100% Westgeld gezahlt“.831 Die Milchfirma Bolle schickte sogar Abgesandte nach Ost-Berlin, die dort „laufend“ Leute für ihre Produktion anwarben – so auch im VEB-Milchhof Berlin.832 West-Berliner SED-Mitglieder, die im Auftrag ihrer Bezirksleitung die Lage in West-Berlin eruierten, berichteten glaubwürdig, „daß es in Westberlin schon einige Betriebe gibt, wo mehr Grenzgänger als Westberliner arbeiteten“. Überdies übten sie dort einen sehr negativen Einfluss auf die West-Berliner Kollegen aus und seien „die Haupthetzer gegen unsere Republik“.833 Die genannten Kontaktformen stellten jedoch nicht das Hauptmittel der Abwerbung dar. Übereinstimmend sagten die Informationsquellen von SED und Magistrat aus, „daß in vielen Fällen ein Kollege den anderen nachzieht und daß auch von den verschiedenen Kollegen mitunter solch eine Meinung vertreten wird, daß jeder ja arbeiten könne, wo er will“.834 In der Tat schienen Mund- und Flüsterpropaganda835, be829 „Protokoll der Besprechung mit den Abteilungsleitern [für Inneres] der Stadtbezirke“, 3.9.1960, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 19, Bl. 145. 830 Entwurf der Rede des Genossen Willi Schmidt auf der 2. Tagung der BL der SED, 2.8.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 433, Bl. 25 sowie Kurzinformation, 1.11.1960, in: ebd., Nr. 630. Vgl. dazu auch Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 304f. 831 Kurzinformation, 13.8.1960, in: ebd., Nr. 629. 832 Bezirks-Partei-Kontrollkommission Groß-Berlin: „Bericht über die Feindtätigkeit, über feindliche Einflüsse und Stimmungen“, 14.11.1960, in: ebd., Nr. 460, Bl. 52. 833 Ebd. 834 Ebd., Bl. 51. 835 Sie wirkte insbesondere bei der Deutschen Reichsbahn in Ost-Berlin, wo Republikflucht und Grenzgängerei besonders intensiv waren. So wurde „unter der Hand“ der Fall eines Lokführers mit 23 Dienstjahren verbreitet, der monatlich 800 Ostmark erhielt, seinen Beruf aufgab, in den Westen ging und dort als Hilfsfliesenleger wöchentlich 200 Westmark erhielt, umgerechnet also etwa das Drei- bis Vierfache seines bisherigen Ostmark-Ver-

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sonders aber Verwandte, Bekannte, ehemalige Arbeitskollegen und Stammtischfreunde die konkreten „Werber“ und Multiplikatoren gewesen zu sein. Diese Erfahrung machte auch das zentrale Parteiorgan „Neues Deutschland“, das von Juni bis August 1960 80 Facharbeiter verlor, 60 davon seien vom SpringerKonzern abgeworben worden. Daran hätten sich „vor allem ehemalige Abteilungsleiter, Meister und auch Arbeiter“ des „ND“ beteiligt, die inzwischen dort arbeiteten. „Sie nutzten alte Bekanntschaften aus.“836 Auch wurde glaubhaft berichtet, dass verschiedentlich Bauarbeiter aus dem Westen dicht an der Sektorengrenze gelegene Baustellen in Ost-Berlin in der Absicht besuchten, „besonders Maurer und Putzer zu veranlassen, zu ihrer Westberliner Baufirma zu kommen“.837 Eine Mitschuld am Ansteigen der Grenzgängerquote trugen aber auch bürokratisch handelnde Staatsorgane und starre Direktiven.838 Mit der Fluktuation verbanden sich andere Erscheinungen, die ebenfalls die Produktivität der Ost-Berliner Wirtschaft minderten. Sie lagen im weitesten Sinne im ideologischen Bereich, richteten sich aber insbesondere gegen die Arbeitsdisziplin. Sie löste sich im Verlauf der gesellschaftlichen Krise des Realsozialismus zunehmend auf. Die Ursache dafür lag zum einen in der genannten Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler und in dem Gefühl einer allgemeinen Perspektivlosigkeit, die nicht zuletzt am Arbeitsplatz entstand. Das Fehlen von Material sowie einer stringenten Arbeitsorganisation und die damit verbundenen Stillstandszeiten in der Industrie demoralisierten. Wettbewerbsphrasen verärgerten insbesondere diejenigen, die eine gerechte Entlohnung nach echter Leistung und Qualität verlangten. Zum anderen sahen weniger motivierte Arbeiter und Angestellte, dass sich die Handlungsspielräume von SED und Staatsorganen weiter einengten und sie in den Betrieben und Institutionen nicht mehr zu lückenlodienstes. „Solche Dinge werden sofort in den Dienststellen bekannt“, lautete die bündige Erklärung. Kurzinformation, 1.10.1960, in: ebd., Nr. 630. 836 Kurzinformation, 1.11.1960, in: ebd. 837 Kurzinformation, 13.8.1960, in: ebd., Nr. 629. 838 Als beispielsweise ein hochqualifizierter Motoren- und Landmaschinenschlosser, der außerhalb Berlins arbeitete und 1,46 Ostmark die Stunde verdiente, auf einen besser bezahlten Arbeitsplatz nach Ost-Berlin überwechseln wollte, erhielt er für die Hauptstadt keine Arbeitsgenehmigung, arbeitete dann aber ohne sie in einem Betrieb in BerlinWeißensee für einen Stundenlohn von 3,70 Ostmark. Er verließ ihn aber, weil er „den ganzen Tag über Löcher in lange Schienen bohren [musste]“, was ihn langweilte. Als er sich bei anderen VEB-Betrieben bewarb, schaltete sich die inzwischen aufmerksam gewordene Bürokratie ein. Weil sie „stur“ blieb und ihm eine Arbeitserlaubnis verweigerte, ging er schließlich nach West-Berlin, versicherte aber, er käme sofort wieder zurück, wenn er offiziell im „demokratischen Berlin“ arbeiten dürfe. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL: Kurzinformation, 26.10.1960, in: ebd.

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sen Kontrollen und einer rigiden Ordnungspolitik in der Lage schienen. „Arbeitsbummelei“ war an der Tagesordnung und der Krankenstand erhöhte sich signifikant.839 Unruhen durch Lohnfragen und der Widerstand gegen die Schichtarbeit beeinträchtigten überdies den betrieblichen Frieden. Sich häufende Disziplinarverletzungen, wie die Veranstaltung von „Saufgelagen“, führten in der Regel aber nur noch zu Aussprachen in den Betriebsleitungen.840 Nicht nur sie, sondern auch viele Parteiorganisationen würden „den Kampf gegen solche Erscheinungen nur ungenügend oder gar nicht führen“, kritisierte die SED-Bezirks-Partei-Kontrollkommission. Man warte höchstens inaktiv „auf administrative Maßnahmen unserer Staatsorgane“.841 Tatsächlich hüteten sich viele Großbetriebe vor eigenen disziplinarischen Maßnahmen, weil sie als ihre Folge weitere Kündigungen befürchteten. Im Gegenteil versuchten die Verantwortlichen namentlich in der Industrie, ihre Arbeiter durch Lohnerhöhungen, Prämien und die Erfüllung von sozialen Forderungen zu halten. Über allem hing das Damoklesschwert von Republikflucht und Grenzgängerei. Es war keine Phrase, wenn Arbeiter, wie aus dem VEB Güterkraftverkehr zu hören war, „bei den geringsten Anlässen“ mit der Drohung kämen, wir gehen in den Westen, „wenn wir bei euch nicht genug verdienen“.842 In der Folge wurden die Löhne immer wieder erhöht, was auch mit dazu führte, dass die Angehörigen gleicher Berufsgruppen in der Hauptstadt teilweise deutlich mehr verdienten als in der übrigen DDR. Das wiederum verstärkte den Drang, in Ost-Berlin zu arbeiten, was zwar, wie geschildert, ohne besondere Genehmigung nicht möglich war, aber sich nicht völlig unterbinden ließ. Das brachte sowohl die Betriebe außerhalb Ost-Berlins und die zentrale Arbeitskräftesteuerung als auch die Lohnpolitik in immer neue Turbulenzen. Der Circulus vitiosus schloss sich dann in der Regel mit der harschen, ökonomisch gerechtfertigten, aber weitgehend wirkungslosen Kritik der Parteiobrigkeit.843

839 Vgl. „Informationen über Maßnahmen zur Sicherung der Ernte und zur Versorgungslage“, 6.9.1960, in: ebd. 840 „Informationen über Maßnahmen zur Sicherung der Ernte und zur Versorgungslage“, 23.8.1960, in: ebd. 841 Bezirks-Partei-Kontrollkommission Groß-Berlin der SED: „Bericht über die Feindtätigkeit, über feindliche Einflüsse und Stimmungen“, 14.1.1960, in: ebd., Nr. 460, Bl. 51. 842 Ebd. 843 „Viele Betriebsfunktionäre weichen vor der Auseinandersetzung mit solchen Arbeitergruppen, besonders den Stücklöhnern zurück, die bereits hohe Durchschnittsverdienste erreicht haben und deren durchschnittliche Normerfüllung weiterhin schnell anwächst. Als Grund für diese opportunistische Haltung wird der Arbeitskräftemangel und die Furcht vor einer verstärkten Fluktuation angegeben.“ Erste Fassung der Hinweise der BL der SED, 12.7.1960, in: ebd., Nr. 431, Bl. 31.

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6.3.3 Die Zuspitzung der Auseinandersetzung um die Grenzgänger Seit Mitte 1960 intensivierten sich die Bemühungen der SED, das Grenzgängerproblem zu lösen.844 Die interne Diskussion kreiste um die Frage, welche Folgen ein Verbot der Grenzgängerei wirtschaftlich, insbesondere aber für das Ansehen des sich nach wie vor als „überlegen“ darstellenden DDR-Sozialismus in seinem Ost-Berliner „Schaufenster“ haben würde. Gesellschaftspolitisch stellte sich eine radikale Lösung des Problems als weniger schwierig dar, weil ein erheblicher Teil der Berliner und der DDR-Bevölkerung – nach wie vor spielte dabei Sozialneid eine Rolle845 – insbesondere in der Krisensituation für scharfe Maßnahmen gegen die Grenzgänger plädierte.846 Doch beschied ihnen der Grenzgängerstatus gerade unter den Bedingungen der Rezession einen vergleichsweise komfortablen Lebensstandard, der die Anfeindungen von Partei und Staatsorganen und die Missgunst von Nachbarn im Wohngebiet offenbar mehr als nur wettmachte. Im Westteil der Stadt, wo man die Grenzgänger in schwierigen Wirtschaftszeiten häufig als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt sah, schlug jedoch die öffentliche Meinung beinahe restlos zu ihren Gunsten um. Angesichts der Hochkonjunktur hieß man sie willkommen. Die SED nahm diesen Stimmungswandel bewusst nicht wahr. Sie hielt aus taktischen Gründen an der nur noch fiktiven Gegnerschaft der West-Berliner gegen die Grenzgänger fest. Diesen Umstand nutzte die Ost-Berliner Presse für neue Denunziationen.847 Die meisten Grenzgänger leugneten ihre materiellen Motive nicht, die sie über das Wohl der 844 Dazu ausführlich: Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 336–386. 845 So war häufig zu hören, dass die Grenzgänger „durch den Schwindelkurs zu wohlhabenden Leuten werden, die sich alles kaufen und leisten können, während die Bürger, die nicht selten unter großen Schwierigkeiten in den sozialistischen Betrieben um die Planerfüllung kämpfen, im Nachteil sind“. Kurzinformation, 1.11.1960, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 630. 846 Tatsächlich musste dieser Bevölkerungswille in Ost-Berlin nicht erfunden, sondern lediglich instrumentalisiert werden. So hätten viele Arbeiter ihr „Unverständnis“ darüber geäußert, „daß unsere Staatsorgane tatenlos zusehen, wie die Arbeitskräfte abwandern und die anderen Kollegen Überstunden und Sonderschichten leisten“. Ebd. 847 Dafür typisch ist ein Artikel in der „Berliner Zeitung“ vom 1.8.1961: Die Monopolherren in West-Berlin würden „sich ins Fäustchen lachen“, dass es in Berlin Grenzgänger gebe. Sie handelten „unmoralisch, denn sie fressen die Brosamen vom Tisch der Monopolherren und betrügen die Arbeiter- und Bauern-Macht, die gerechteste Sache der Welt: In Westberlin drücken sie Löhne, im demokratischen Berlin leben sie vom Schwindelkurs.“ Die SED verbreitete, dass sich die West-Berliner Arbeiter gegen die Grenzgänger als „Lohndrücker und sogar als Streikbrecher“ empörten. Vgl. dazu Referat Paul Verners. Stenographische Niederschrift der Bezirksparteiaktivtagung am 7.7.1961, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 121, Bl. 34.

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sozialistischen Gesellschaft stellten. Eine Reihe von politisch moralisierenden SED-Funktionären vertrat auch deshalb einen harten Kurs gegen sie. Paul Verner forderte seine Ersten Kreissekretäre, die teilweise eine moderatere Praxis bevorzugten, mit zugespitzt ideologischen Argumenten dazu auf.848 Aber noch auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die West-Grenzgänger plädierte das Büro der SED-Bezirksleitung für mehr Differenzierung.849 Vorübergehend setzte sich noch einmal eine „Mittellinie“ durch, die aus einer Mischung von „Überzeugungsarbeit“ und repressiven Maßnahmen bestand, die wieder in sich gestaffelt waren.850 Konsens war, dass sich ihr Hauptstoß gegen die aktuelle Abwerbung respektive Anwerbung von Ostdeutschen richten müsse und gegen die eigentlichen Akteure.851 Nachdem das Büro der SED-Bezirksleitung zweien seiner Mitglieder wegen ihrer Vorbehalte gegen eine Strafverfolgung dieser Personen eine Missbilligung ausgesprochen hatte, verabschiedete es Ende März 1961 die Grundzüge für eine Verordnung zur Anwendung des DDR-Gesetzes gegen „Schädlingstätigkeit“ nach Artikel 23 des Strafrechtsergänzungsgesetzes.852 Danach wurden Abwerber mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus bedroht und die Pressionen „klas-

848 „Mit liberalem oder neutralem Verhalten gegenüber dieser gegnerischen Tätigkeit“ müsse jetzt „Schluß gemacht werden“, forderte Verner definitiv. Anwerber sollten „möglichst auf frischer Tat“ dingfest gemacht werden. Der Erste Sekretär begründete: Wer in WestBerlin dem Klassenfeind seine Arbeitskraft zur Verfügung stelle, „hilft den schlimmsten Feinden des Volkes“. Er handle „unmoralisch und egoistisch“, nehme aber die sozialistischen Errungenschaften wie billige Mieten und Tarife, die kulturellen Einrichtungen und Leistungen der Sozialversicherung u.a.m. für sich in Anspruch. Schreiben Verners „an die Ersten Sekretäre der Kreisleitungen im demokratischen Berlin“, 9.8.1960, in: ebd., Nr. 434, Bl. 155f. 849 Das „Büro“ schätzte ein, dass die Grenzgängerfrage „nicht immer in ihrem Zusammenhang erkannt wird und die Tendenz, dieses Problem allein mit administrativen Maßnahmen zu lösen, noch stark zu verzeichnen ist“. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll 017/61 der Sitzung am 20.7.1961, in: ebd., Nr. 474, Bl. 4. 850 Sie reichten von öffentlichen Versammlungen im Wohnbezirk und Mieterversammlungen über Vorladungen in verschiedene Ämter bis hin zu sozialen Pressionen, etwa Kündigungen günstiger Mieten oder guter Wohnungen. Vgl. „Protokoll der Besprechung mit den Abteilungsleitern [Inneres] der Stadtbezirke“, 3.9.1960, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 19, Bl. 123, 145. Vor allem Verner drängte darauf, Grenzgänger dafür zu gewinnen, „politische Erklärungen zum Abbruch ihres Beschäftigungsverhältnisses in Westberlin und zur Aufnahme einer Tätigkeit im demokratischen Berlin abzugeben“. Schreiben Verners an die Ersten Sekretäre der Kreisleitungen, 9.8.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 434, Bl. 155f. 851 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 8/61 der Sitzung am 28.3.1961, in: ebd., Nr. 465, Bl. 6. 852 Vgl. ebd.

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senkämpferisch“, aber auch juristisch begründet.853 Die Verordnung trat jedoch nicht in Kraft, weil sie die Ereignisse des 13. August 1961 überholten. Dennoch bleibt sie ein beredtes Zeugnis des Geistes im Kalten Krieg, aber auch der zugespitzten regionalen Systemkonkurrenz. Sie äußerte sich auch in dem Brief von Oberbürgermeister Ebert an den West-Berliner Senat vom 31. Juli 1961, in dem der Vorschlag wiederholt wurde, die „sogenannte Grenzgängerfrage“ durch eine „Verständigung zwischen den politischen Vertretungskörperschaften beider Teile der Stadt“ zu regeln.854 Eine Antwort war nicht ernsthaft erwartet worden. Als sie in Form einer Erklärung des Regierenden Bürgermeisters dennoch eintraf und sich gegen die rechtswidrigen Ambitionen des Ostens wandte855, nutzte sie die SED für den von ihrem Politbüro vorbereiteten Beschluss des Magistrats zur offiziellen Registrierung der Grenzgänger856. Bereits einige Tage zuvor hatte der Magistrat

853 Die „konzentrierte und planmäßige Abwerbung von Facharbeitern und Spezialisten“ sei eine „Form des Klassenkampfes“ mit dem Ziel, „die Planerfüllung zu gefährden, die geregelte Tätigkeit der Betriebe zu behindern und den Aufbau des Sozialismus zu stören“. Wo bei diesen Personen keine „Schädlingstätigkeit“ nachzuweisen sei, „ist zu prüfen, ob Hetze nach §19 Strafrechtsergänzungsgesetz (Mindeststrafe drei Monate Gefängnis) oder die Verletzung anderer Strafgesetze vorliegt. Gegen die Arbeiter- und Bauernmacht wird auch dadurch gehetzt, daß die Arbeits- und sozialen Verhältnisse im demokratischen Berlin als unerträglich und ‚unfrei‘ verunglimpft werden mit dem Ziel, die sozialen und Arbeitsverhältnisse in Westberlin als ‚freie‘ und ‚demokratische‘ zu verherrlichen, um dadurch die weitere Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus zu verhindern. Erfolgt die Veranlassung zum Grenzgängertum aus anderen Motiven und Umständen, z.B. Verwandtschaft oder falsch verstandene Freundschaft, und kann dem Betroffenen nichts nachgewiesen werden, so ist die politische Auseinandersetzung über seine Handlungsweise zu führen und der erzieherische Einfluss auf die Rückkehr in ein Arbeitsverhältnis im demokratischen Berlin auszuüben.“ Begingen Grenzgänger „strafbare Handlungen (z.B. Diebstahl, Körperverletzung, Hetze)“ so wirke die Tatsache, dass sie in West-Berlin arbeiten, „grundsätzlich straferschwerend“. Jedoch sei diese Straferschwerung „nicht undifferenziert vorzunehmen“. Grenzgänger nach der Wirtschaftsstrafverordnung zur Verantwortung zu ziehen, widerspräche „der Politik der Partei“. Abteilung für Sicherheitsfragen der SED-BL Berlin: Vorlage für das Büro der BL „Bekämpfung des Grenzgängertums durch die Strafverfolgungsorgane“, 21.3.1961, in: ebd., Nr. 465, Bl. 156f. 854 „Berliner Zeitung“, 2.8.1961. 855 In der Erklärung wurde zuvorderst auf den Vier-Mächte-Status Berlins verwiesen, der den freien Verkehr in Berlin garantierte. Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 383. 856 Alle in West-Berlin tätigen „Bürger der Hauptstadt der DDR“, „die in Westberlin einer Beschäftigung nachgehen“, hätten sich in der Zeit von 9. bis 19. August 1961 registrieren zu lassen „gleichgültig, ob es sich um ein festes Arbeitsverhältnis oder gelegentliche Dienstleistungen handelt. Zuwiderhandlungen seien mit Gefängnis bis zu drei Jahren und

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mit Wirkung vom 1. August 1961 die schon Mitte des Jahrzehnts diskutierten durchgreifenden sozialpolitischen Maßnahmen gegen die Grenzgänger beschlossen: Sie hätten von nun an ihre Mieten, ihre Rechnungen für Strom, Gas und Wasser sowie alle öffentlichen Abgaben in Westmark zu zahlen – auch dann, wenn nur ein Familienmitglied des Haushaltes ständig oder gelegentlich in WestBerlin arbeitete.857 Auch diese Restriktionen kamen durch die Schließung der Sektorengrenzen nicht mehr zum Tragen. Gleiches gilt für die so genannten „Betriebskomitees gegen Menschenhandel“. In letzter Minute vor der Grenzschließung von der SED mit viel Aufwand ins Leben gerufen858, sollten sie eine Art solidarische Abwehrfront gegen das Grenzgängertum bilden, blieben aber vielmehr Ausdruck von Hilflosigkeit. Die Zuspitzung der Grenzgängerfrage seit Juli 1961 alarmierte den Westen.859 Es waren vor allem die im „demokratischen Sektor“ teilweise öffentlich ablaufenden Repressalien gegen die Betroffenen, die den Westalliierten Anlass für Proteste bei den sowjetischen Militärbehörden gaben. Ähnliche Stellungnahmen der Bundesregierung unterstrichen die gesamtdeutsche Dimension der Auseinandersetzung.860 Auch Brandt sprach sich für das „selbstverständliche Recht der freien Wahl des Arbeitsplatzes“ aus.861 Dem schlossen sich die West-Berliner Gewerkschaften an.862 Die Medien dieser Teilstadt nahmen nun ebenfalls gezielt für die Aufrechterhaltung der Grenzgängerei Stellung. Sie trugen mit Reportagen und Kommentaren wesentlich dazu bei, dass die öffentliche Meinung fast ausnahmslos auf der Seite der Betroffenen blieb. Da Presse und Rundfunk in Ost-Berlin parallel dazu ihre Gegenkampagnen intensivierten, befand sich das gesamte Berlin in einem Mediengefecht um die Grenzgänger. Es beeinflusste auch die spezifischen Senatsentscheidungen, die wiederum unverzüglich ein positives Echo in den Westmedien fanden. So stieß es auch auf allgemeines Wohlwollen, als der Senat zum 1. August – letztmalig – den Westmarkanteil für niedrige Löhne im Lohnausgleichsverfahren um wöchentlich 26 Westmark erhöhte.863 Noch am 8. August beschloss er, versorgungsrechtliche Fragen, die ent-

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Geldbußen zu bestrafen. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll 020/61 der Sitzung am 3.8.1961, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 467, Bl. 4. Ebd. „Übersicht über die Komitees gegen Menschenhandel in den Berliner Betrieben. Stand vom 7. August 1961“, in: ebd., Nr. 633. Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 383–385. Vgl. Schreiben der westlichen Militärkommandanten in Berlin an den sowjetischen Kommandanten, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 5.8.1961. Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 383. Vgl. ebd., S. 386. Vgl. „Der Tag“, 31.5.1961.

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stünden, wenn unter östlichen Druck geratene Grenzgänger ihr Beschäftigungsverhältnis zum Land Berlin aufgeben müssten, in ihrem Sinn zu regeln.864 Diese und andere Maßnahmen ließen unschwer erkennen, dass der Senat und mit ihm die West-Berliner Wirtschaft in der Hochkonjunktur ein vitales Interesse an den Grenzgängern besaßen. Sie überlegten, was geschehen müsse, wenn die Grenzgänger im Ernstfall ausblieben. Aus diesem Grunde trat Anfang August die Senatskanzlei mit der Idee hervor, bereits zu diesem Zeitpunkt die „Quote arbeitsfähiger Flüchtlinge“ aus der DDR und Ost-Berlin für die Westsektoren zu erhöhen.865 Auch darin äußerte sich die enge Verbindung von Grenzgängertum und Republikflucht als wichtigste Segmente der Wechselwirkung von Fluktuation und Arbeitsplatzstabilität. All das fiel mit neuen internationalen Spannungen in und um Berlin zusammen. Nachdem einige kommunistische Führungspersönlichkeiten im Warschauer Pakt noch im Frühjahr 1961 eine Abriegelung der Sektorengrenzen abgelehnt hatten, stimmten sie nun dementsprechenden Maßnahmen unter dem Eindruck der US-amerikanischen Berlinposition zu, die Kennedy bei seinem Treffen mit Chruschtschow Anfang Juni 1961 unmissverständlich formuliert hatte.866 Zum einen sahen sie ostdeutsche Krise und Republikflucht, die den gesamten staatlich organisierten Sozialismus destabilisierten, nun auch als eine Gefahr für ihre eigenen nationalen Regime. Zum anderen fürchteten sie eine gefährliche Zuspitzung der internationalen Lage. Als Chruschtschow Anfang August anlässlich eines Gesprächs mit dem italienischen Regierungschef mit einem letzten eindringlichen Appell an die NATO867 ungehört blieb, fiel im berlinpolitischen Drama mit den Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961 buchstäblich der „eiserne“ Vorhang.868 864 Vgl. Schreiben der Senatsverwaltung für Inneres, 8.8.1961, in: LAB, B Rep. 155, Nr. 362. 865 Vgl. Schreiben der Senatskanzlei (Dr. Hoferecht) an den Chef der Senatskanzlei, 3.8.1961, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 7003. 866 Auf ein zweites Berlin-Ultimatum und Kriegs-Drohungen Chruschtschows reagierte Kennedy mit Entschlossenheit und einer Metapher: „Ja, es scheint einen kalten Winter zu geben in diesem Jahr“. Vgl. „Niederschrift der Unterredung zwischen Gen. N.S. Chruschtschow und J. F. Kennedy“ am 3. und 4.6.1961 (Übersetzung), in: SAPMOBArch, DY 30, J IV/ 202/ 331, Bd.2. 867 Chruschtschow gab offenbar bis Anfang August 1961 die Hoffnung auf ein Einlenken des Westens noch nicht auf, wie sein Treffen mit dem als politisch flexibel geltenden italienischen Ministerpräsidenten Amintore Fanfani zu belegen scheint. Die Art und Weise, wie er Fanfani gegenüber argumentierte, legt nahe, dass er ihn in letzter Minute als Vermittler im Konflikt mit den USA und der NATO ansprach. Vgl. Lemke, Die Berlinkrise, S. 166– 169. 868 Vgl. zum Mauerbau u.a. Jürgen Rühle/Gunter Holzweißig, 13. August 1961. Die Mauer von Berlin, Köln 1980; Rolf Steininger, Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in

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Der Mauerbau zementierte die Spaltung der ehemaligen deutschen Hauptstadt und zerstörte ihre alltagspolitischen und kulturellen Verflechtungen, er verhinderte aber ein wirtschaftliches „Ausbluten“ der DDR. Zwar war das menschenverachtende Bollwerk gegen die eigene Bevölkerung gerichtet und für die Betroffenen eine persönliche Katastrophe. Doch trug die Mauer zur Beruhigung der gefährlichen Lage an einem Brennpunkt des Kalten Krieges bei, allerdings zunächst keineswegs wirksam zur Behebung der ostdeutschen Wirtschafts- und Versorgungsregression. Erst ab 1963 zeigten sich auf diesem Gebiet Erholungstendenzen.869 Bei den Ost-Berlinern führte der brutale letzte Akt realsozialistischer Abgrenzung mehr zu Resignation als zur Verstärkung des Widerstandswillens, wie er sich vor der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ abzuzeichnen begann. In West-Berlin hingegen entfaltete sich der Volkszorn ungehindert, flaute aber angesichts der als unumstößlich erscheinenden neuen Umstände relativ rasch ab. Niemand verfiel dort in Panik, wie es sich sowjetische Diplomaten gewünscht hatten.870 Die „Normalität“ des Kalten Krieges erfasste nun wieder das gesamte, aber nun andere Berlin.

der Berlinkrise 1958–1963, München 2001; Siegfried Prokop, Unternehmen „Chinese Wall“. Die DDR im Zwielicht der Mauer, Frankfurt am Main 1993. 869 Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 129–133. 870 Vgl. „Aktenvermerk über ein Gespräch mit einem Genossen von der 3. Europäischen Abteilung des sowjetischen Außenministeriums während eines Filmabends in der [DDR-] Botschaft“ (Girndt), 31.8.1961, in: PAAA/MfAA, A 17095, Bl. 72.

II. Wirtschaft und Soziales 1. Die sozioökonomische Entwicklung nach der Spaltung Das gesamte Berlin hatte im Zweiten Weltkrieg und in seiner unmittelbaren Folge erhebliche Substanzreduktionen hinnehmen müssen: Zerstörungen von wirtschaftlichen, vor allem industriellen Kapazitäten, Verluste durch Demontagen1, aber auch infolge struktureller Veränderungen im Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich.2 Schließlich hatte Berlin seine Hauptstadtfunktion – administrativ wie kulturell – verloren, was mit tiefgreifenden Desintegrationsprozessen verbunden war. Die Spaltung der Stadt konfrontierte deren Gesellschaften mit dem Umstand, sie nicht mit vereinten Kräften, sondern getrennt und in Konkurrenz zueinander separat aufbauen zu müssen. Unter den Bedingungen der Systemkonfrontation bedeutete Wettbewerb, eigene Überlegenheit auch durch die Verschlechterung der sozioökonomischen Konditionen für den jeweils Anderen erreichen zu wollen – etwa auf den Gebieten Arbeitsmarkt und Sozialwesen, Währungspolitik und Handel. Auch dabei stellte sich beiden Berliner Seiten die Frage nach äußeren finanziellen und anderen Hilfen. Ihre Führungen wussten, dass die soziale Lage und der Lebensstandard der Bevölkerung einem permanenten Ost-WestVergleich unterlag und sich Konkurrenz in den „Schaufenstern“ beispielsweise als Konsum, intersektoraler individueller Warenerwerb, Bauen und Wohnen u.a.m. darstellte und sich in den „Grenzgängern“ der Systeme niederschlug.

1.1 Die Westsektoren Nach der administrativen Teilung der Stadt war ihr Westteil von sozioökonomischen Schwierigkeiten besonders betroffen. Sie wurden sicherlich durch die Währungskrise von 1948 und die Blockade verstärkt, waren aber struktureller Natur: 1 Offizielle West-Berliner Stellen bezifferten die im Mai und Juni 1945 (also unter sowjetischer Besatzung) durchgeführten Demontagen der Berliner Betriebe – einschließlich der West-Berlins – mit 85 Prozent, andere Quellen mit 80 Prozent aller Berliner Produktionsmittel. Vgl. Presseamt des Senats, 15.4.1954, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593 und Entwurf zum Weißbuch des Senats, 28.1.1953, in: ebd., Acc. 2323, Nr. 267–272. 2 Vor dem Zweiten Weltkrieg stammte etwa die Hälfte des Berliner volkswirtschaftlichen Einkommens aus dem Dienstleistungssektor. Vgl. „Der Telegraf“, 26.3.1961.

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Die Westsektoren konnten auf ihre traditionellen wirtschaftlichen Verflechtungen, insbesondere mit Ost-Berlin und der Mark Brandenburg, nicht mehr zurückgreifen. Wichtige Zulieferer von Lebensmitteln und Rohstoffen fielen aus, aber auch Absatzmärkte für West-Berliner Produkte.3 Zwar wurde das Problem durch die betroffene West-Berliner Seite auch deshalb zugespitzt dargestellt, weil es mit der Frage wirtschaftlicher Hilfen in der Systemkonkurrenz verbunden war – Wissenschaftler sahen die Verflechtungsverluste differenzierter4 –, doch führte die „Insellage“ West-Berlins im Zusammenhang mit der politischen und wirtschaftlichen Spaltung Deutschlands, dem damit verbundenen Wegfall der traditionellen gesamtdeutschen Arbeitsteilung und der hauptstädtischen Integrationskraft Berlins tatsächlich zu einer Konstellation, die das Überleben der Westsektoren, aber auch ihre politische Selbstbehauptung als Teil der westlichen Welt, in Frage stellte. Daran hatten wirtschaftliche Folgeprobleme seit Ende der 40er Jahre einen erheblichen Anteil. Vor allem konnten die gravierenden Produktivitätsverluste der West-Berliner Industrie insbesondere deshalb nicht aufgeholt werden, weil ihre vorhandenen Kapazitäten nur teilweise ausgeschöpft wurden.5 Eine Ursache dafür lag darin, dass sich der Wirtschafts-

3 Östlichen Aussagen zufolge seien vor der Spaltung der Stadt etwa die Hälfte der WestBerliner Produkte im Osten Berlins und Deutschlands abgesetzt worden. Vgl. Stellvertreter des Oberbürgermeisters von Ost-Berlin, A. Neumann, Beitrag zur Analyse der Westberliner Verhältnisse, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 375. 4 Karl Thalheim wies darauf hin, dass der Verlust des geographischen und des wirtschaftlichen Hinterlandes nicht identisch sein müsse; nur ein Teil der wirtschaftlichen Leistungen WestBerlins wäre regional gebunden gewesen. Auch sei die „regionale Streuung“ zu beachten. So habe die SBZ leicht verderbliche Lebensmittel (z.B. Milch) nach West-Berlin, aber keineswegs die Mehrzahl der Nahrungsgüter geliefert. Desgleichen führte die Teilstadt aus Ostdeutschland „transportempfindliche Massengüter“, insbesondere Rohstoffe wie Baustoffe und Holz, ein, aber kaum für die städtische Industrie ebenfalls wichtige Materialien – etwa Stahl, Eisen sowie Textilrohstoffe. Die regionale Streuung habe sich auch bei den Absatzmärkten gezeigt. Auch hätten die im Westteil Berlins liegenden Industriezweige bereits vor dem Krieg mehr Waren im Westen als im Osten Deutschlands abgesetzt. Vgl. Karl C. Thalheim, Die Wirtschaft Berlins zwischen Ost und West. In: Beiträge zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsordnung. Gesammelte Aufsätze und Vorträge. Aus Anlaß seines 65. Geburtstages herausgegeben von der Abteilung für Osteuropäische Wirtschaft des OsteuropaInstitutes und dem Institut für Weltwirtschaft der Freien Universität Berlin, Berlin (W) 1965, S. 403f. 5 In West wie Ost wurde davon ausgegangen, dass der Ausnutzungsgrad der industriellen Kapazitäten West-Berlins Anfang der 50er Jahre höchstens 50 Prozent betrug und auch die Industrieproduktion der Teilstadt nur knapp die Hälfte ihres Vorkriegsstandes erreichte. Dabei ist zu beachten, dass die Produktivität der Berliner Industrie vor 1939 etwa 50 Pro-

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standort West-Berlin mit seinen langen Transportwegen als ungünstig erwies. Zu den höheren Transportkosten, die wesentlich dazu beitrugen, dass West-Berliner Erzeugnisse teurer als westdeutsche wurden und dadurch nicht mehr konkurrenzfähig waren, traten die unsichere politische Lage, zu der auch östliche Beschlagnahmungen von Waren an der innerdeutschen Grenze gehörten.6 Überdies führten die erhöhten Transportkosten von Erzeugnissen aus Westdeutschland, die früher vom Territorium der späteren DDR bezogen wurden (wie Kartoffeln, Braunkohlebriketts, Holz, Baumaterial und einige chemische Grundstoffe), nicht nur zur Verteuerung der West-Berliner Produktion, sondern auch zu der des Konsums.7 Steigende Preise ließen jedoch die Kaufkraft sinken und trieben die Arbeitslosigkeit an. Auch führten wirtschaftliche Struktur- und Standortveränderungen innerhalb des geteilten Berlins kurzfristig zu Produktionsrückgängen – manchmal auch im Sowjetischen Sektor. Das war beispielsweise im Fall des Umzugs der früher im Ostteil Berlins beheimateten Bekleidungsindustrie nach West-Berlin zu beobachten, der dennoch Ausdruck von Flexibilität sowie einer interessanten raumwirtschaftlichen Entwicklung war. Die Teilung der Stadt bewirkte so auch die Entstehung „neuer, stärker dezentralisierter Geschäfts- und Verwaltungsschwerpunkte, die Vornahme industrieller Ersatzinvestitionen in West-Berlin zum Ausgleich für den Verlust von Ostbetrieben oder von Betrieben in der Randzone (und ebenso umgekehrt die ebenfalls auf ‚Einflechtung‘ gerichtete Investitionspolitik in Ostberlin)“.8 Als zunächst ambivalent stellten sich zwei weitere, auf das geteilte Berlin bezogene Phänomene dar: das Währungsgefälle und die berufliche Grenzgängerei. Auch sie beeinflussten das wirtschaftliche und soziale Kardinalproblem West-Berlins nach der Spaltung der Stadt – die Arbeitslosigkeit. Bedingt durch die genannten Faktoren stieg sie seit Ende 1948 kontinuierlich an und erreichte 1950 mit reichlich 305.000 Personen (von 960.000 im erwerbsfähigen Alter) ihren absoluten Höhepunkt. Die Dimension des Problems war schon rein quantitativ erkennbar: Waren Mitte 1948 noch 807.206 Bewohner der Westsektoren voll beschäftigt, so waren es im Februar 1950 bei einer Gesamtbevölkerung von 2,148 Mio. nur noch 655.000.9 Hinzu traten etwa 350.000 Empfänger von Renten und 208.000 von Sozialunterstützungen in verschiedenen

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zent über dem Reichsdurchschnitt lag. Vgl. Stellvertreter des Oberbürgermeisters […], C Rep. 901, Nr. 375 und Entwurf zum Weißbuch, 28.1.1953 (wie FN 3). Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 225. Vgl. Thalheim, Die Wirtschaft Berlins, S 404. Vgl. Ebd., S. 401. Vgl. Anlage zum Schreiben des Regierenden Bgm. Brandt an Bundeskanzler Adenauer, 5.7.1958 (Abschrift), in: LAB, B Rep. 004, Acc. 2140, Nr. 193.

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Formen sowie (seit 1951) Verpflichtungen des Landes Berlin, die sich aus dem neuen Artikel 131 des bundesdeutschen Grundgesetzes ergaben. 1950 wurde ca. eine Mrd. Westmark für Sozialleistungen ausgegeben, davon 258 Mio. für Erwerbslose.10 Zwar stiegen das West-Berliner Bruttosozialprodukt11 und dessen industrieller Anteil12 relativ schnell, doch hielt der Abbau der Arbeitslosigkeit13 damit nicht Schritt. Während sich in der Zeit von 1950 bis 1955 die Produktion der Industrie verdreifachte, vergrößerte sich die Anzahl der in ihr Beschäftigten lediglich um 70 Prozent.14 Dafür gab es im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen musste sich die West-Berliner Industrie, wollte sie vor allem gegenüber der Bundesrepublik konkurrenzfähig werden, umfangreich modernisieren. Rationalisierungen unter dem Rentabilitätsaspekt waren damit unumgänglich, bremsten zunächst jedoch Neueinstellungen von Arbeitskräften ab. Zum anderen trug die zeitweilig anschwellende Republikflucht von Ostdeutschen nach West-Berlin dort zum hohen Stand der Erwerbslosigkeit bei. So erhöhte sich nicht nur die Zahl der Republikflüchtigen in den Westen seit 1952 insgesamt erheblich, sondern auch die Quote derjenigen, die trotz interner administrativer Regelungen im Senat und Absprachen mit der Bundesregierung nicht ins Bundesgebiet übersiedelten, sondern in West-Berlin blieben.15

10 Vgl. „Beitrag zur Analyse der Westberliner Verhältnisse“, 20.2.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 375. 11 1950 = 3,9 Mrd. Westmark; 1955 = 7,4 Mrd.; 1957 = 9,1 Mrd. Vgl. „Der Telegraf“, 26.3.1961. 12 1950 = 1,77 Mrd. Westmark; 1955 = 5,23 Mrd.; 1957 = 6,66 Mrd. Vgl. ebd. 13 In den Jahren 1951 bis 1954 ging die Arbeitslosigkeit trotz Neueinstellung nur sehr langsam zurück: (jeweils Ende August) 1951 = 270.500; 1953 = 219.657; 1954 = 165.075; 1955 = 116.000. Ab 1956 war sie kein soziales Problem mehr (1956 = 91.000; 1957 = 69.000; 1958 = 60.000; 1959 = 36.000; 1961 = 26.000). Vgl. ebd., Informationen des Presseamtes des Senats, Nr. 205, September 1954, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593 und ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 14 Vgl. „Der Telegraf“, 26.3.1961. 15 Die Bundesländer waren auf der Basis der Quotenregelung verpflichtet, ostdeutsche Flüchtlinge nach dem Aufnahmeverfahren in West-Berlin auf ihren Territorien anzusiedeln. Doch bis August 1953, als infolge von administrativen Erleichterungen und erhöhter Arbeitskraftnachfrage neue Anreize für ein Überwechseln in die Bundesrepublik entstanden, verblieben die meisten in West-Berlin. Waren 1949 noch 78 Prozent der Flüchtlinge ins Bundesgebiet „ausgeflogen“ worden, verblieben 1950 und 1951 bereits ein Drittel in WestBerlin, von Januar bis Juli 1952 stieg deren Anteil auf 40 Prozent, im August auf vier Fünftel, im Dezember auf neun Zehntel. Im ersten Halbjahr 1953 blieben sogar 97 Prozent aller Republikflüchtlinge in den Westsektoren. Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593, (undat.).

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Die Zahlen über die sich „illegal“ in den Westsektoren aufhaltenden DDRFlüchtlinge schwankten, aber die Statistik musste in der Regel nach oben korrigiert werden16. Zwar erhielten nur die als politisch anerkannten, sogenannten „echten“ Flüchtlinge ein Bleiberecht; diejenigen, die aus wirtschaftlichen, sozialen oder familiären Gründen kamen, wurden hingegen mit der Übersiedlung in das Bundesgebiet beauflagt.17 Zwingen konnte man sie dazu freilich nicht. Gerade ehemalige Ost-Berliner weigerten sich vor allem aus mentalen Gründen, ihre Heimat zu verlassen. Das wurde durch zahlreiche Möglichkeiten unterstützt, in West-Berlin bei Verwandten oder Bekannten unterzukommen und den Lebensunterhalt irgendwie, und sei es durch Zeitjobs oder „Schwarzarbeit“, zu bestreiten. Fanden sie dann einen festen Arbeitsplatz, erwarben sie auch formal ein Recht auf den dauerhaften Berlinaufenthalt. Diesen Folgen der Republikflucht nach West-Berlin war aus rechtlichen, politischen, aber auch aus moralischen Gründen nur sehr schwer beizukommen. Weder konnten der Senat und die Bundesregierung die im Grundgesetz fixierte einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft und die Gebote von Freizügigkeit und Rechtsgleichheit sowie ihren eigenen Anspruch prinzipiell in Frage stellen, eine Fürsorgepflicht auch für die Ostdeutschen zu besitzen, noch durften sie den Eindruck erwecken, sie ließen geflohene Landsleute im Stich oder arbeiteten den östlichen Behörden gar in die Hände. Insgesamt passten repressive Maßnahmen gegen Flüchtlinge aus Ost-Berlin und der DDR nicht in das Bild des westlichen „Schaufensters“, das der Teilstadt zugedacht worden war. Auch dieser politische Grund trug dazu bei, dass selbst gesetzliche Möglichkeiten zur Begrenzung des Zuzugs nach West-Berlin18 nicht ausgeschöpft wurden 16 Die niedrigste interne Schätzung von seit 1949 illegal in West-Berlin lebenden SBZFlüchtlingen sprach für Ende 1952 von 110.000, der Innensenator jedoch von maximal 225.000 Personen. Vgl. Senatsverwaltung Inneres an Senator Dr. Müller, 12.1.1953 und 15.1.1953, in: ebd., B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 24. Die Statistik des Senats von Ende 1953 ging davon aus, dass im Zeitraum von 1949 – 1953 durchschnittlich etwa 282.000 „SBZ“Flüchtlinge – illegal oder legal – in der Teilstadt blieben. Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593/ (undatiert). 17 Formal besaßen sie allerdings das Recht, eine Zuzugsgenehmigung zu beantragen, von der die meisten keinen Gebrauch machten, weil viele dieser Anträge abgelehnt wurden. Vgl. Senatsverwaltung Inneres an Senator Dr. Müller, 12.1.1953, in: ebd., Acc. 1650, Nr. 24. 18 Das Gesetz über den Zuzug nach Berlin vom 9.1.1951 beschränkte diesen auf verschiedene im Text genau definierte Personengruppen, die aus verschiedenen Gründen dazu berechtigt seien. Begünstigt wurden Antragsteller, „deren Zuzug im Interesse der kulturellen oder wirtschaftlichen Entwicklung liegt oder für das öffentliche Leben in Berlin notwendig ist“. Der §3, Absatz 3, gebot, dass nur „als politisch anerkannten Personen in West-Berlin das Wohnrecht gewährt werden könne. Nicht anerkannten Flüchtlingen drohten bei Zuwider-

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und Pläne schnell zu Makulatur gerieten, die ein Verbleiben dort erschweren sollten. Sie entstanden, wenn, wie 1952/1953, anschwellende Flüchtlingsströme die Gefahr von wirtschaftlichen und sozialen Kontrollverlusten heraufbeschworen und Senatsverantwortliche darauf nervös reagierten. Das war allerdings verständlich. Als beispielsweise im Umfeld der DDR-Maßnahmen zur Abriegelung der märkischen Randgebiete von West-Berlin ab Mai 1952 die Fluchtbewegung beträchtlich zunahm und allein im Januar 1953 etwa 24.000 Neuzugänge registriert wurden, musste der Aufnahmenotstand ausgerufen werden. Neben den 30.000 offiziell anerkannten Flüchtlingen in 74 zum Teil ad hoc eingerichteten Lagern waren insgesamt noch einmal ca. 250.000 „nicht anerkannte“ Flüchtlinge und Heimatvertriebene registriert. Insgesamt stieg die Gesamtzahl der Ostflüchtlinge im Januar 1953 in West-Berlin nach Senatsangaben auf etwa 330.000. Schließlich sah der Senat eine für die Stadt gefährliche soziale und politische Situation entstehen. Die Großgemeinde sei außerstande, einen so gewaltigen Kreis „rechtloser Menschen, ausgeschlossen von jeder Arbeitsaufnahme, keine Möglichkeit sehend, in das Wirtschafts- und Sozialgefüge eingegliedert zu werden“, zu beherbergen. Das „soziale Elend“, befürchtete der Senat, werde größer werden und allmählich zu einer Lähmung des Abwehrwillens dieser Menschen führen, die den Glauben in die „freie demokratische Welt“ verlören und dann nur zu leicht geneigt seien, „extremen Elementen aller Schattierungen willig ihr Ohr zu leihen“.19 In seiner Sicht drohten diese Zustände, „die politischen Positionen der im ständigen Kampf um ihre Freiheit stehenden Stadt Berlin zu erschüttern“.20 Zudem führten die weiter steigenden Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge, einhandlungen Gefängnis und Geldstrafe, wenn sie sich ohne gültige Zuzugsgenehmigung in West-Berlin aufhielten. Doch trat eine Strafverfolgung nur auf Antrag des zuständigen Bezirksamtes ein, das darauf in der Regel verzichtete. Vgl. Verordnungsblatt für Berlin, 7. Jahrgang, Teil I., Nr. 7, 8.2.1951, S. 84f. 19 Der bis 1952 mäßige Zustrom zumeist politischer Flüchtlinge aus dem Osten habe eine „mehr günstige als ungünstige Wirkung“ auf die „Kampfkraft und Entschlossenheit der Berliner Gesamtbevölkerung“ gehabt. Seit dem Sommer 1952 habe sich mit dem „stürmischen Anschwellen des Flüchtlingsstromes“ diese Wirkung „jedoch entscheidend ins Negative verkehrt“. „Flüchtlinge überschwemmen die Insel Berlin. Entwurf zum Weißbuch des Senats von Berlin“, 28.1.1953, in: LAB, B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 267–272. 20 Die schlechte materielle Lage der Westsektoren sei „immer noch eine politische Gefahr“, bei der die Psychologie der Flüchtlinge eine wesentliche Rolle spiele: „Sie haben keine Beschäftigung. Ruhelos wandern sie durch die hellerleuchteten Geschäftsstraßen der Stadt und bleiben vor den lockenden Schaufenstern der Luxusläden stehen. Ist es ein Wunder, wenn sich der Neid in ihnen regt? Die Anfälligkeit dieser Zehntausenden von Nichtanerkannten ist ein ernsthaftes politisch-psychologisches Problem […] auf einer Insel im Meer des Totalitarismus.“, Ebd.

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schließlich der personalintensiven Flüchtlingsbürokratie, zu neuen Beunruhigungen.21 Politische Ängste resultierten auch aus der westlichen Wahrnehmung eines sowjetischen und ostdeutschen Willens, die Probleme West-Berlins in der Systemauseinandersetzung gezielt zu verschärfen. Diese Auffassung war nicht ohne Substanz, aber in vielem überzogen. So übertrieb Reuter im Juni 1951, wenn er die Sowjets beschuldigte, sie hätten „im Grund die ungeheuerliche Arbeitslosigkeit Berlins systematisch herbeigeführt“.22 Adenauer erweiterte diese Art Verschwörungstheorie um eine weitere Dimension: Die Sowjetzonenregierung und die hinter ihr stehenden Kräfte würden eine „Entdeutschung“ der SBZ durch die systematisch betriebene Republikflucht betreiben, um das Gebiet „freizumachen zur Aufnahme von Nichteuropäern“. Naturgemäß sei es der „Nebenzweck“ Moskaus, „West-Berlin und die Bundesrepublik durch die steigende Zahl der Flüchtlinge in Schwierigkeiten zu bringen“.23 Zumindest bis Mitte der 50er Jahre sahen auch die Westmächte die Gefahr einer Destabilisierung der Verhältnisse in ihren Berliner Sektoren durch das Einsickern immer neuer Ostflüchtlinge nach WestBerlin. Sie betrachteten das Problem aber nüchterner und die Arbeitslosigkeit insgesamt als das Kernproblem24 und nicht etwa mögliche politische Ambitionen ihrer sowjetischen Besatzungskonkurrenz, die sie freilich ins Kalkül zogen. Das Problem, inwiefern die östliche Seite die Beschäftigungskrise in West-Berlin gezielt oder aber ungewollt anheizte, ist nicht restlos geklärt. Zwar ist unbestritten, dass die Fluchtbewegung von den miserablen östlichen Bedingungen verursacht wurde und ohne die Alternative West-Berlin nicht denkbar war, doch stellte sich die Frage, ob das Phänomen von der SED im „antiimperialistischen Klassen-

21 „Jeder Zugewanderte, der West-Berliner Gebiet betritt […] bringt einen ständigen größeren Aufwand für die öffentliche Verwaltung West-Berlins“, klagt der Senat. 1950/51 seien es 8,7 Mio. Westmark gewesen, 1952/53 bereits 37–38 Mio. Mit den verdeckten Kosten beliefe sich die Summe 1952/53 gar auf ca. 50 Mio. Westmark. Ebd. 22 Rede Reuters auf der Tagung des Wirtschaftsverbandes der Deutschen Holzverarbeitenden Industrie in Goslar, 16./17.6.1951, in: Der Berliner Holzmarkt, Beilage zu „Norddeutsche Holzwirtschaft“, 28.6.1951. 23 Rede Adenauers auf dem Empfang des Senats für den Bundeskanzler anlässlich der Grünen Woche, 1.2.1953, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 573. 24 Noch im Mai 1954, als noch „jeder fünfte Arbeitnehmer oft für lange Zeit keine Arbeit“ hatte, wiesen die amerikanischen Militärbehörden als die Quelle für alle anderen Schwierigkeiten auf den zu langsamen Abbau der Arbeitslosigkeit hin. Dabei wurde deren ungünstige soziale und demografische Struktur besonders hervorgehoben. Schuldzuweisungen an die Sowjets wurden nicht artikuliert. Vgl. Rede des stellvertretenden amerikanischen Hochkommissars in Deutschland, Henry Parkman, vor der Amerikanischen Handelskammer in Berlin, 28.5.1954, in: ebd., Acc. 1346, Nr. 593.

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kampf“ instrumentalisiert wurde, um die westsektoralen Verhältnisse zu destabilisieren. In den zeitgenössischen Darstellungen der DDR-Medien und auch denen der späteren DDR-Historiografie dominiert die Behauptung, im östlichen Berlin sei, nachdem der von Ebert geleitete Magistrat die der westlichen Spaltungspolitik geschuldete Arbeitslosigkeit (40.000 Werktätige) zügig beseitigt habe, das Problem nach 1949 restlos aufgehoben worden – nicht zuletzt dank des DDRVerfassungsrechts auf Arbeit.25 Dennoch gab es in Ost-Berlin eine über die Mitte der 50er Jahre hinausgehende direkte Arbeitslosigkeit und eine mittelbare, die vom Ostmagistrat als „Arbeitskräftereserve“ bezeichnet wurde. Während im ersten Fall, statistisch sehr lückenhaft, Ost-Berliner erfasst wurden, die ohne Arbeit waren, eine staatliche Arbeitslosenunterstützung (ALU) erhielten und eine Beschäftigung suchten26, gehörten zur „Arbeitskräftereserve“ diejenigen nicht als arbeitslos gemeldeten Ost-Berliner, die in ihrer Heimatstadt eine für sie geeignete Tätigkeit suchten, aber nicht fanden. Dazu zählten aber auch Arbeitskräfte aus der DDR, die auf den Ost-Berliner Arbeitsmarkt drängten und hier teilweise „vagabundierten“ oder illegal arbeiteten, weil sie keine behördliche Arbeitserlaubnis erhielten.27

25 Vgl. Berthold Fege/Werner Gringmuth/Günther Schulze, Die Hauptstadt Berlin und ihre Wirtschaft, Berlin (O) 1987, S. 93. 26 Per 15.4.1953 suchten nach internen Angaben 13.569 Personen (davon 7.573 Frauen) Arbeit. Demgegenüber wurden 2.245 offene Arbeitsstellen gemeldet (davon 1.056 für Frauen). Zum 15.5.1953 meldete der Magistrat 14.900 Arbeitslose, Ende 1952 seien es nur 6.500 gewesen. Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der BL: „Vorlage für das Sekretariat. Betr.: Maßnahmen zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für die Arbeitskraftreserve“, 19.5.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 171, Bl. 98 und Zwischenbericht, 3.6.1953, in: ebd., Nr. 173, Bl. 67. 27 Zu den insgesamt 528.000 Beschäftigten Ost-Berlins (Stand: 31.12.1954) zählten 287.200 Männer und 240.800 Frauen. Von seiner Gesamtbevölkerung (1.158.700 Personen) befanden sich 754.800 Einwohner im arbeitsfähigen Alter, davon 339.000 Männer und 415.800 Frauen. Zu den Ost-Berliner Arbeitskräften kamen noch 83.100 Berufstätige aus der DDR und 19.900 aus den Westsektoren hinzu. Nach „Bereinigung“ im ersten Halbjahr 1955 sei die Zahl der aus der DDR kommenden „Werktätigen“ auf 70.000 und die der Grenzgänger aus Westberlin auf 10.000 gesunken. Es gebe noch 3.161 Arbeitssuchende bei 3.300 offenen Stellen. Insgesamt sei die Zahl der Beschäftigten von Ende Dezember 1953 bis Ende Dezember 1954 um 14.800 gestiegen, darunter 12.600 weibliche. Stelle man den Arbeitsfähigen die tatsächlich Beschäftigten gegenüber, ergebe sich eine „Reserve“ von 235.000 Personen. Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der BL: „Betr.: Die Arbeitskräftelenkung im demokratischen Sektor von Groß-Berlin“, 5.9.1955, in: ebd., Nr. 241, Bl. 27–30.

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Vor allem in den Jahren 1950 bis 1953 bestand in Ost-Berlin ein Überschuss an Arbeitskräften, insbesondere im künstlerischen Bereich.28 Da Arbeitslosigkeit mit steigenden Kosten29 verbunden, aber vor allem ein Politikum war, versuchte die SED in Ost-Berlin, Stellen kostenneutral und „politisch unbedenklich“ zunächst durch die Entlassung von in Ost-Berlin tätigen Grenzgängern aus dem Westteil der Stadt für die eigenen Arbeitslosen freizumachen, worauf an anderer Stelle eingegangen wird.30 Wenn der Senat zutreffend vermutete, dass mit dieser Entlassungspolitik, in die sich das Abschieben unproduktiver und unliebsamer OstBerliner nach West-Berlin einordnete, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt West-Berlins treffen sollte, gehörte das zur Systemkonkurrenz, die vor allem östlicherseits als Schädigung des Gegners angelegt war und dem Senat Anlass zu Pessimismus gab.31 Jedoch unterschätzte er das Eigeninteresse der SED und damit den Primat innerer Beweggründe. Das zeigen noch stärker die repressiven Maßnahmen gegen die Beschäftigung von DDR-Bürgern in Ost-Berlin.32 Dabei ist nicht zu übersehen, dass es in der Regel von der Sowjetunion angeordnete politische Maßnahmen waren, mit denen – beispielsweise im Frühjahr und Sommer 1952 – über den Umweg einer plötzlichen Verschärfung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten für West-Berlin von außen ein politischer Druck auf die Stadt 28 Anfang März 1953 klagte die Abteilung Kunst und kulturelle Massenarbeit, dass 27 Prozent aller Arbeitssuchenden in Ost-Berlin künstlerische Berufe ausübten, vor allem nicht beschäftigte Musiker seien. Vgl. Protokoll der Dienstbesprechung am 2.3.1953, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 2. 29 Sie stiegen beispielsweise von März zum April 1953 um 150.000 Ostmark (von 490.000 auf 640.000 Ostmark). Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der BL: Vorlage für das Sekretariat, 19.5.1953, Bl. 98 [wie FN 26]. 30 Der Senator für Arbeit wies darauf hin, dass infolge der von der „Sowjetzonenregierung“ bereits 1950 und 1952 betriebenen Politik des „Abstoßens“ von West-Berliner Beschäftigten in Ost-Berlin, deren Zahl von 100.000 (1949) auf 43.000 (August 1952) gesunken sei. Vgl. Senator für Arbeit an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 2.10.1952, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 2192–2193. 31 Der West-Berliner Arbeitsmarkt und die hohe Zahl der Arbeitslosen stünden „in direkter Wechselwirkung mit allen östlichen Schikanemaßnahmen“, meinte der Arbeitssenator. Pessimistisch merkte er an, dass die „Gesundung“ Berlins angesichts dessen und seiner Insellage „beinahe aussichtslos erscheint“. Ebd. 32 Im Mai 1953 hatte die SED-Bezirksleitung entsprechende Richtlinien fixiert: Außerhalb des „demokratischen Sektors“ wohnende Arbeitskräfte dürften nur mit Zustimmung des Magistrats eingestellt werden, und Arbeitskräfte, denen Aufenthaltsgenehmigungen für bestimmte Ost-Berliner Betriebe erteilt wurden, seien zu entlassen, wenn sie innerhalb OstBerlins „den Betrieb gewechselt haben und wenn ihre Ersetzung durch Arbeitskräfte aus dem demokratischen Sektor möglich ist“. Vgl. Vorlage für das Sekretariat der BL, 19.5.1953, Bl. 98, [wie FN 26].

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auszuüben versucht wurde. „Die Zuspitzung der politischen Situation mit all ihren Unsicherheitsmomenten“ im Mai und Juni 1952 sei „bedeutungsvoll genug [gewesen], die wirtschaftlichen Inspirationen West-Berlins weitgehend zu lähmen“. Ein wirtschaftlicher Aufschwung, einschließlich von Verbesserungen der Arbeitsplatzsituationen, wäre „nicht zuletzt an den politischen Risikomomenten“ nach dem Anlaufen der DDR-Maßnahmen gescheitert.33 Originellerweise wurde die Tendenz einer sozioökonomischen Verbesserung der Lage in West-Berlin bei den Wirtschaftsfachleuten der SED 1952/53 intern klarer gesehen als in WestBerlin. Das betraf auch das Problem der Arbeitslosigkeit, wenngleich die Parteiideologen im Ostteil der Stadt gerade auf diese ihre Hoffnungen setzten. Da sie in einem sichtbaren Zusammenhang mit der Republikflucht stand, die von den „angestammten“ West-Berlinern als soziale Belastung, von manchen sogar als Gefahr für ihre Lohnkämpfe gesehen wurde34, konnte sie von der SED in gewisser Weise instrumentalisiert werden. Umgekehrt versuchten westliche Politik und Medien, das ostdeutsche Abwandern vorrangig als die unmittelbare Folge der diktatorischen Verhältnisse im Osten, weniger als sozioökonomisches Phänomen herauszustellen. Doch gab es vor allem im Senat immer wieder Überlegungen, den Flüchtlingsstrom irgendwie einzudämmen. Das war, wie angedeutet, aus politischen Gründen kaum möglich, wurde aber immer wieder versucht – vor allem auf indirektem Wege.35

33 „Die Westberliner Situation im Juni 1952“, Analyse des Berliner Stadtkontors, Bank für Groß-Berlin, 4.9.1952, in: ebd. C Rep. 101, Nr. 5591. Allerdings sei eine Wiederholung der Maßnahmen vom Mai 1952 oder eine „nochmalige Steigerung ihrer Wirksamkeit ohne neuerliche Verschärfung der politischen Situation“ kaum mehr möglich, stellten die Analysten fest. Sie deuteten im Gegenteil einen Tendenzwandel zugunsten der wirtschaftlichen Lage West-Berlins an. Vgl. ebd. 34 Die Vertrauensleute der SED vor allem in den West-Berliner Großbetrieben berichteten im Frühjahr 1953, dass sich die Stimmung dort gegen die „Ostflüchtlinge“ von Woche zu Woche verschlechtere. Besonders Arbeiter ließen erkennen, „daß diese Menschen in ihren Lohnkämpfen ein großes Hindernis sind – nicht nur, daß sie als Lohndrücker in Erscheinung treten können, sondern, daß sie auch im Falle eines Streiks den streikenden Arbeitern in den Rücken fallen“. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Monatsbericht für den Monat März 1953“, 14.4.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 601. 35 Beispielsweise über „kirchliche Kreise“, die in Ost-Berlin versuchen würden, die Abwanderung von Ärzten und Apothekern nach West-Berlin zu verhindern, den in Frage kommenden Personenkreis zumindest zu veranlassen, „im Osten so lange wie möglich auszuhalten“. Protokoll über die 4. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen des Abgeordnetenhauses, II. Wahlperiode, 20.5.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070.

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1.2 Der Ostsektor Die sozioökonomische Lage Ost-Berlins nach 1948/49 stellte sich im Vergleich mit dem Westteil der Stadt als günstiger dar. Zwar brachte die Trennung des Berliner Wirtschaftsgebietes zunächst auch dort gravierende Produktions- und Absatzschwierigkeiten mit sich, doch verfügte der Osten mit der ihn umgebenden DDR über ein Hinterland, das seine wirtschaftliche Entwicklung zu garantieren schien. Dabei war klar, dass sich Ost-Berlin in die industrielle Landschaft der DDR und ihre kommunistische Politik einfügen müsste und somit Teil der ostdeutschen zentralen Planwirtschaft werden würde. Damit war es auch den Eigengesetzen einer Ostintegration unterworfen, die nicht nur die Einbindung in die DDR, sondern über diese in das Wirtschaftssystem der europäischen „volksdemokratischen“ Länder gebot. Das hieß nicht zuletzt ökonomische Sowjetisierung – fundamentale Eingriffe in traditionelle deutsche Wirtschaftsstrukturen, Enteignungen und Reglementierungen, aber auch die Umgestaltung sozialer Systeme u.a.m. Gleichzeitig eröffnete die Ostintegration aber auch die Aussicht auf Kooperation und Arbeitsteilung im sozialistischen Lager und ließ auf größere Absatzmöglichkeiten auch für Ost-Berliner Erzeugnisse hoffen. Dennoch bedurfte es erheblicher Leistungen, um das Produktionsprofil des Sowjetsektors zu verändern, das bis 1948/49 nur sehr bedingt auf östliche Regionen ausgerichtet war und stark von der Konsumgüterindustrie, vor allem von der Nahrungsmittel- und der Bekleidungsproduktion geprägt wurde. Angesichts der durch die Teilung bedingten Defizite und einer in der DDR und im RGW schnell wachsenden Nachfrage beschloss die SED-Führung, den industriellen Wiederaufbau Berlins schwerpunktmäßig durch den Ausbau der Elektroindustrie und des Maschinenbaus anzugehen.36 Das fand seinen offiziellen Ausdruck im Zweijahrplan 1949/50 sowie im ersten Fünfjahrplan (1951–1955), in deren Mittelpunkt nicht von ungefähr der Energiemaschinenbetrieb Bergmann-Borsig stand.37 Die im Ganzen erfolgreiche Entwicklung der Ost-Berliner Elektroindustrie fand ihr Pendant in der Förderung der West-Berliner Elektroindustrie, die ebenfalls zu einem Zugpferd des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wurde.38 Diese Parallelität hatte verschiedene Ursachen – ähnliche und unterschiedliche39 –, führte aber zu keiner Konkurrenzsitua36 Vgl. Johannes Bähr, Wiederaufbau und Strukturveränderungen der Elektroindustrie im geteilten Berlin, in: Johannes Bähr/Wolfram Fischer (Hrsg.), Wirtschaft im geteilten Berlin 1945–1990. Forschungsansätze und Zeitzeugen (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 76), München 1994, S. 159. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. ebd., S. 154f. 39 Ähnlichkeiten sind im günstigen Standort beider Berliner Elektroindustrien zu sehen, die beide exportorientiert produzierten und – mit unterschiedlichen Vorzeichen – zu Trieb-

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tion auf dem deutschen und internationalen Markt. Die ersten Ost-Berliner Bilanzen schienen umso mehr erfreulich, als die Finanzsituation für tief greifende Sorge offenbar keinen Anlass gab. Bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre zeigte sich in Ost-Berlin eine sich insgesamt verschlechternde wirtschaftliche Tendenz. Zum einen entwickelte sich das Zahlenverhältnis von Produktionsarbeitern und Verwaltungsangestellten negativ, und außerplanmäßigen Mehrausgaben standen zunehmend Mindereinnahmen gegenüber. Die Hauptursache dafür lag in der zu geringen Rentabilität der Wirtschaft. Von Anfang an wurden die jährlichen Produktivitätssteigerungen überschätzt, die u.a. mit den höheren Lohnkosten nicht Schritt hielten. Wie noch zu sehen sein wird, bremsten Lücken in der Materialversorgung der Betriebe und „Pannen“ der dirigistischen Planwirtschaft den industriellen Aufschwung. Allmählich blieb die Zuwachsrate von Produktionsleistung und Arbeitsproduktivität hinter der in der DDR zurück.40 Die Bemühungen der SED und des Ost-Berliner Magistrats um Effektivitätsverbesserungen führten in der Regel zur Vergrößerung alter bzw. zur Schaffung neuer Industrieverwaltungen, die einen zusätzlichen Finanzbedarf verursachten.41 Nach der Spaltung der Stadt war der Ostteil der Stadt gegenüber den Westsektoren wirtschaftlich in Vielem noch in einer günstigeren Position gewesen. Soziale Massenphänomene wie etwa Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsbewegungen und akute Finanznöte bereiteten dort kaum Probleme. Noch 1950 war der Haushalt OstBerlins ausgeglichen; durch Mehreinnahmen konnte eine Reihe von Investitionsvorhaben finanziert und an die Regierung der DDR 120 Mio. Ostmark Gewinn abgeführt werden.42 Die Teilstadt war also nicht Empfängerin von Subventionen, sondern die Gebende. Sie besaß sogar noch Mittel für kommunale Ausgaben, während die West-Berliner Bezirksverwaltungen zur gleichen Zeit einen akuten

kräften der Integration in ihre europäischen Wirtschaftsorganisationen wurden. Stärker als in Ost-Berlin spielten im Westteil innere Wachstumsfaktoren eine Rolle: öffentliche Aufträge und insbesondere der Ausbau von modernen Fernmeldeanlagen. Doch während der schnelle Aufbau der leistungsstarken West-Berliner Elektroindustrie zunächst nur auf der Basis von Außeninvestitionen (Marshallplan, Long-Term-Plan u.a.m.) realisiert werden konnte, wurden die Investitionen in die „Schwester“-Industrie Ost-Berlins im finanziell engen DDR-Rahmen erwirtschaftet. Dennoch hielt sie mit der Entwicklung der Elektroindustrie im Berliner Westteil lange Zeit Schritt und erreichte mit 63.000 Beschäftigten (1954) etwa 90 Prozent der Beschäftigten dieser Branche in West-Berlin. Vgl. ebd., S. 159. 40 Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 172–174. 41 Vgl. ebd., S. 174. 42 Vgl. LAB, C Rep. 100–05, Nr. 851.

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Finanzmangel beklagten.43 Das darf allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass es in Ost-Berlin keine finanziellen Schwierigkeiten insbesondere im Investitionsbereich gegeben habe. Bereits 1951 zeigte sich, dass finanzielle Abführungen an den DDR-Haushalt nur noch durch erhebliche kommunale Einsparungen auf Ost-Berliner Kosten möglich waren.44 Doch im Verlauf des Jahres 1950 und in den ersten Monaten 1951 hatte sich die wirtschaftliche und soziale Lage OstBerlins verbessert. Das betraf vorrangig die Lebensmittelrationierung, einige Preissenkungen45, soziale Maßnahmen für Schulkinder46 sowie soziale Vergünstigungen für Frauen und Mütter.47 Die Leistungen im Versorgungsbereich und für Schulkinder bezogen sich jedoch nur auf Ost-Berlin, nicht auf die gesamte DDR. Der politischen Taktik, die sozialen Bedingungen der Metropole hervorzuheben, diente vor allem der ZK-Beschluss vom 3. November 1950 über die bis zu 10 Prozent höheren Ost-Berliner Lohnsätze.48 Zum einen sollte größere Attraktivität die Bindungskraft und die integrativen Potenzen der Hauptstadt und zum anderen deren magnetische Wirkung auf West-Berlin erhöhen. In der Tat schuf die SED eine Reihe von günstigen Faktoren für den regionalen Konkurrenzkampf. Das Ost-Berliner Wirtschaftswachstum, vor allem die Industrieproduktion, stieg seit

43 So wies der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Kressmann kritisch auf „fühlbare Geldverknappung“ in der Magistratskasse hin. Dem Stadtbezirk waren für März 1950 für verschiedene Bauvorhaben 6,54 Mio. Westmark in Aussicht gestellt, dann aber gestrichen worden. „Dadurch würde die beabsichtigte Herabsetzung der Arbeitslosenzahlen illusorisch und ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit unvermeidlich.“, ließ Kressmann Oberbürgermeister Reuter wissen. Schreiben von Kressmann an Reuter, 22.3.1950, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 927, Nr. 31–93. 44 Als der Ostmagistrat 1951 noch einmal 75 Mio. Ostmark an die DDR-Regierung abführte, waren die Grundlage dafür „Einsparungen“ im eigenen Haushalt, nicht etwa wirtschaftsbedingte Mehreinnahmen. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 869, 20.12.1951, in: ebd., C Rep. 100– 05, Nr. 863, Bl. 71. 45 Es wurden beispielsweise die Rationen für Fleisch und Fett pro Kopf und Monat jeweils um 0,45 kg (Lebensmittelgrundkarte) und um 0,15 bis 0,3 kg per Zusatzkarte B erhöht. Gleichzeitig sanken die Preise für Tabak, Spirituosen und Bier um bis zu 46 Prozent. Vgl. Magistratsvorlagen Nr. 503 und 504 für die Sitzung am 2.9.1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 851, Bl. 29–35. 46 So wurden die Subventionen für das Schulwesen erheblich erhöht. Zu den 27.338 Freistellen (Schulessen) für kinderreiche Familien kamen weitere 14.350 hinzu. Vgl. ebd., Bl. 136. 47 Vgl. ebd., Bl. 158. 48 Vgl. Protokoll Nr. 23 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED am 3.11.1950, in SAPMO-BArch, DY 30,JIV 2/3/150

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1949 beachtlich an.49 Ein Systemvergleich schien in den Jahren 1950/51 – der Zeit eskalierender sozialer Probleme im Westteil der Stadt – der wirtschaftlichen Entwicklung im Osten recht zu geben. Dessen Gegenüberstellungen waren zwar immer polemisch, machten aber auch die realen Schwierigkeiten West-Berlins plastisch.50 In der Anfangszeit der Innerberliner Konkurrenz zeigten sich viele Ambivalenzen und Unsicherheiten. Die Berliner fanden den Westteil ihrer Stadt bunter und lustiger als den Ostsektor, die West-Geschäfte waren „angefüllt mit allem, was man sich wünscht“, doch konnten sich viele die Wünsche nicht erfüllen, weil das nötige Geld fehlte und vor allem Arbeitslosigkeit zum Konsumverzicht zwang. Zwar hatten die West-Berliner bereits den Eindruck, es ginge ihnen besser als den meisten im Osten, fragten sich aber auch, warum denn so viele von ihnen gezwungen seien, dort Kartoffeln und Brot zu kaufen.51 Demgegenüber argumentierte die östliche Seite, dass ihr Kaufangebot zwar hinter dem westlichen zurückliege, „doch das schönste [sei], dass sich bei uns niemand die Nase an den Ladenscheiben plattdrücken braucht, wie in Westberlin“ – wo die Preise ständig stiegen.52 Abgesehen von der ironischen Auslegbarkeit dieser verbreiteten Meinung zeigte sich 1950 in Ost-Berlin doch auch deshalb im Ganzen ein noch positiver sozioökonomischer Trend, weil es im Unterschied zum Westteil zentrale Dienstleistungsfunktionen der alten Hauptstadt entweder zurückerhalten hatte oder sich neue entwickelten. So konnte die SED zu Recht darauf verweisen, dass in Ost-Berlin dadurch „eine sehr große Summe von Menschen“ Arbeit fand, weil es Sitz der DDR-Regierung wurde.53 Trotz dieses nachhaltig wirkenden Entwicklungsfaktors, der kurzfristig zu einem immensen Beschäftigungsboom insbesondere im Verwaltungsbereich beigetragen hatte, begann die Kraft des Aufschwungs in Ost-Berlin schnell zu erlahmen. Eine diesbezügliche Tendenzwende setzte in Ost-Berlin bereits Ende 1951 ein. Wichtige Ursachen dafür lagen in der Zuspitzung der internationalen Situation, die verstärkte östliche Rüstungsanstrengungen nach sich zog, sowie in der zügigen Einbindung Ost-Berlins in das Herrschaftssystem und die Machtstrukturen der 49 Die Industrieproduktion lag um 79 Prozent höher als 1936, die der Elektroindustrie sogar um 229 Prozent. Vgl. Das ist Berlin. Ein Spaziergang durch die Sonnenseite Berlins, Berlin (0), 1954, S. 8. 50 Vgl. u.a. die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“, Nr.12/50 in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. 51 Vgl. Ina Dentler, Kindheit in Berlin 1945–1953, Berlin 1994, S. 245f. 52 Das ist Berlin, S. 4. 53 Vgl. Manuskript von Bruno Baum für das „ND“ und das Amt für Information der DDR, 23.11.1950, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 343.

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DDR. Diese übertrug nun – formal durch die Übertragung von Gesetzen – ihre Normen, aber auch ihre Probleme forciert auf den Ostteil der Stadt, was beispielsweise zur Verschärfung von Reparationsverpflichtungen führte.54 Mit der 1952 beginnenden, von inneren Widersprüchen vorangetriebenen Systemkrise in der DDR nahmen administrative Steuerungsversuche auch im Wirtschafts- und Sozialbereich drastisch zu. Wurde zur gleichen Zeit auch in West-Berlin Sparsamkeit vor allem im öffentlichen Dienst großgeschrieben, erklärte der Magistrat das „Regime der strengsten Sparsamkeit“ im Frühjahr 1953 für Ost-Berlin zum obersten Produktions- und Lebensprinzip.55

1.3 Berlinhilfen In West-Berlin wurde die doppelte Aufgabe, die wirtschaftliche und soziale Misere zu überwinden und es zum „Schaufenster“ der westlichen Welt gegenüber dem Kommunismus zu machen, 1948/49 mit der Notstandsrealität konfrontiert. Aber auch das in Vielem über günstigere Ausgangspositionen verfügende Ost-Berlin sah sich angesichts aktueller Defizite, mehr aber noch langfristiger Planziele, vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt: Als das „Schaufenster“ eines alternativen Deutschland, das überdies weltweit von der Überlegenheit des Sozialismus künden sollte, benötigte es Unterstützung von außen. Dieser bedurfte West-Berlin in hohem Maße; sie bedeutete für diesen Teil der Stadt mehr als für ihren anderen das Überleben. Eine Garantie dafür bot paradoxerweise der Kalte Krieg. West-Berlin musste in den Augen der Demokratien unbedingt gehalten werden. Seit der Berlinkrise war es das Symbol für westliche Freiheit und ein lebendiges antikommunistisches Bollwerk.56 Die drei westlichen 54 „Aufträge zur Herstellung und Lieferung von Reparationsgütern sind für alle im Gebiet von Groß-Berlin ansässigen Lieferbetriebe und Lieferfirmen Pflichtaufträge. Sie müssen so behandelt werden, dass ihre termin- und qualitätsmäßige Durchführung unter allen Umständen gesichert ist“, verordnete der Magistrat. Verordnungen zur Durchführung der Reparationslieferungen, 21.9.1950, ins ebd., C Rep. 100–05, Nr. 851, Bl. 77. 55 Die Maßnahmen „zur Entfaltung eines strengen Sparsamkeitsregimes“ in allen volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben in der örtlichen Industrie sowie der Landwirtschaft und „insbesondere in den staatlichen Organen Groß-Berlins“ waren die Konsequenzen aus dem entsprechenden Beschluß des ZK der SED vom 3.2.1953. In der Folge entstanden „Kampfpläne“ mit durchaus vernünftigen, teilweise aber auch obstrusen Verpflichtungen und Anordnungen. „Maßnahmen zur Einführung des Regimes der strengsten Sparsamkeit.“ Magistratsvorlagen Nr. 80 und Beschluß, Sitzung am 24.4.1953, in: ebd., Nr.881, Nr.6. 56 „Berlin ist ein Bollwerk, ein lebendiges Bollwerk, ein lebendiger Organismus. Diesem Organismus Berlin ist eine weit schwerere Aufgabe zugefallen, als er aus eigenen Kräften erfüllen kann. Diese mit ungeteiltem Herzen, mit allem ihren geistigen Tun und Streben dem Wes-

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Besatzungsmächte gingen davon aus, dass es sie nicht nur kurzfristig teuer zu stehen kam, doch galt vor allem für die USA in diesem Fall die Priorität des Politischen über wirtschaftliche Aspekte. Dennoch teilten sie die Auffassung WestBerlins und der Bundesrepublik, dass die Teilstadt, so schnell es ginge, ökonomisch „auf die eigenen Beine“ gestellt werden müsse. Das konnte prinzipiell nur durch ihre Integration in das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik geschehen, die möglichst viele Bundesbehörden und Dienststellen nach Berlin als die erklärte „Hauptstadt im Wartestand“ verlegen sollte. Hier war Vater des Gedankens die Absicht, die Wiederherstellung der Reputation Berlins als politischkultureller Metropole mit der Schaffung von Arbeitsplätzen mittels zentraler Verwaltungsaufgaben zu verbinden. Schließlich sei nur von Berlin aus, wie Bürgermeister Ferdinand Friedensburg (CDU) 1949 unterstrich, die Wiedervereinigung der getrennten Zonen möglich.57 Standen diesen Vorstellungen vor allem politische Schwierigkeiten im Wege, schien die Strategie der wirtschaftlichen Förderung West-Berlins durch die Bundesrepublik und die Westmächte aussichtsreicher zu sein: Die Bundesrepublik und ihre Länder, vor allem aber die private Wirtschaft, sollten massiv Aufträge nach West-Berlin vergeben und hier investieren. Dem war jedoch trotz der politisch motivierten Werbungen der westdeutschen Industrie und Unternehmensverbände58 anfangs nur sehr bedingt Erfolg beschieden. Zum einen sahen die Angesprochenen ein erhebliches Risiko für Investitionen in das politisch unsichere West-Berlin, zum anderen stellte es keinen attraktiven Wirtschaftsstandort, sondern im Gegenteil für einige Wirtschaftszweige eine zumindest zukünftige Konkurrenz dar. Erst ab etwa 1953/54 verbesserte sich die Auftragslage. Dabei spielte die „Schaufenster“-Konzeption natürlich eine Rolle, mehr aber noch, dass die Teilstadt auf dem Wege war, zum „größten geschlossenen Verbrauchergebiet für den Absatz der Bundesrepublik“ und Liefeten zugewandte, dem Westen dienende Stadt, ist aus eigenen Kräften nicht lebensfähig. Sie bedarf um ihrer Aufgabe willen der Hilfe von außen.“ Bollwerk Berlin. Weißt du wie es bei uns aussieht? …, Berlin (W) 1952, S. 8. 57 Vgl. Magistrat von Groß-Berlin (West), Presseamt, 18.8.1949, in: LAB B Rep. 002, Nr. 3268. 58 Fritz Berg, Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), plädierte 1952 für die großzügigere Förderung der Wirtschaft West-Berlins, um dort „keine schwache Stelle“ durch wirtschaftliche Not und Senkung des Lebensstandards entstehen zu lassen, mittels derer sich „der Kommunismus einschleichen“ könne. Ebenso argumentierte die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitsgeberverbände (BdA): Die Unternehmerschaft in ihrer Gesamtheit sei sich darüber klar, „dass die Stärke Berlins, die Lebensfähigkeit der Menschen ein Garant sind für die Stärke und die Lebensfähigkeit Westdeutschlands“. Die Industrieund Handelskammer West-Berlins sah Aufträge für die Teilstadt als „ beste und billigste Berlinhilfe“ an. Zitat nach: Bollwerk Berlin, S. 78–82.

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ranten für bestimmte Fertigwaren zu werden. Zunehmend kennzeichneten Arbeitsteilung und industrielle Kooperation ein neues Stadium der wirtschaftlichen Integration. Diese Faktoren spielten nicht nur für die Wirtschaftsstrategie der Bundesrepublik eine Rolle, sondern auch „für den Aufbau eines gemeinsamen Wirtschaftsgebietes im Vereinigten Europa“.59 Dazu trugen die Beteiligung WestBerlins an den „Wiedergutmachungslieferungen für Israel und an den neuen Verträgen zwischen der Bundesrepublik und Westeuropa erheblich bei“.60 Um die Mitte der fünfziger Jahre konstatierte der Senat nach Jahren des Ringens um Aufträge und Investitionen einen signifikanten Fortschritt, allerdings noch nicht den entscheidenden Durchbruch. Zwar sei die Forderung „Berlin will keine Almosen – Berlin will Arbeit“ anerkannt worden, doch könne ihre Umsetzung noch nicht befriedigen, wenngleich die vermehrten westdeutschen und alliierten Aufträge ein nun mehr langfristiges Aufbauprogramm gestatteten.61 Das begünstigte wiederum die Schaffung neuer Arbeitsplätze nach dem Grundsatz, dass sich die WestBerliner Großgemeinde zunehmend aus eigener Kraft konsolidieren müsse. Aufträge sowie wirtschaftliche und politische Maßnahmen, etwa Steuerpräferenzen und Frachtpreissubventionen für West-Berliner private und öffentliche Unternehmen, Verkehrsmittelgarantien, Luftbrückenzuschüsse und zahlreiche andere Sonderregelungen beschleunigten nach 1948 diesen Prozess. Auch bemühte sich der Senat, mit Werbekampagnen die Rückkehr oder Zuwanderung von Unternehmen und Fachkräften zu erreichen.62 Doch trug das alles nur marginal zur Behebung des sozioökonomischen Notstandes bei. Das betraf auch die städtischen Sofortprogramme63, die schnell Arbeit schaffen sollten. Aber auch sie bedurften im Prinzip einer Finanzierung, die nicht gänzlich vom Haushalt der Westsektoren getragen werden konnte. Das unterstrich die Erkenntnis, dass die Entwicklung 59 Vgl. Presseamt des Senats von Berlin, Nr. 205, 4.9.1954. 60 Vgl. Bollwerk Berlin, S. 90. 61 Vgl. „Langfristiger Aufbauplan für Berlin“, 24.8.1955, in: LAB, B Rep. 010 A–01, Acc. 499, Nr. 107–109. 62 Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 246–249. Die intensive Berlinwerbung des Senats wurde durch außerstaatliche Organisationen unterstützt. Die Werbung beabsichtigte zuvorderst eine Erweiterung des Absatzes für Berliner Produkte, wie sie beispielsweise von der „Berliner Absatzorganisation“ (BAO) verfolgt wurde, die von der IHK Berlin ins Leben gerufen worden war. Werbeaktionen für den Wirtschaftsstandort West-Berlin in der Bundesrepublik und Ausstellungen, vor allem aber die Rundschreiben an „Persönlichkeiten, Firmen, Organisationen, Zeitungen, Geschäftsfreunde, Außenhandelskammern, wie auch an diplomatische Vertretungen“ machten auf Berliner Angebote aufmerksam. Vgl. S. 84. 63 Enttrümmerungs- und Räumungsprogramme, die Wiederherstellung beschädigten Wohnraumes sowie der städtischen Infrastruktur, auch öffentlicher Parks und Anlagen, standen im Mittelpunkt.

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West-Berlins seit 1948 prinzipiell von westdeutschen und alliierten Finanzhilfen abhängig war und sich daran über eine lange Zeit nichts ändern würde. Da die Bundesrepublik in den ebenfalls wirtschaftlich schwierigen ersten Jahren ihres Bestehens die finanziellen Leistungen für West-Berlin nicht allein zu bestreiten vermochte, war es stark auf amerikanische Kredite angewiesen. Im Dezember 1949 wurden West-Berlin 95 Mio. West-Mark für Investitionen aus dem Fond des Marshallplans (ERP) bereitgestellt. Bereits zu diesem Zeitpunkt war dabei eine doppelte Strategie erkennbar: Die Investitionen flossen einerseits in industrielle Schwerpunktbereiche und andererseits in die Rekonstruktion des Geschäfts- und Vergnügungswesens (u.a. Wiederaufbau des KaDeWe, 1950). Diese Konzeption war auch in den Zuschüssen aus der GARIOA (Government Appropriation for Relief in Occupied Areas) zu erkennen, die nicht zuletzt Notstandsprogramme und den Wohnungs- und gewerblichen Bau finanzierte. EPG und GARIOA stellten zwar beträchtliche Kredite zur Verfügung64, wurden aber mit immer neuen West-Berliner Anforderungen konfrontiert, die zu Verstimmungen auf amerikanischer Seite und beispielsweise zur zeitweiligen Sperrung von GARIOA-Mitteln im Sommer 1949 beitrugen.65 Belastungen ergaben sich auch für den Bundeshaushalt als einer Hauptquelle der Subventionen.66 Er trug seit dem zweiten Halbjahr 1949 erste Investitionskreditprogramme und sicherte die wichtige Verwaltungsvereinbarung für Bundeshilfen vom Oktober 1950 pekuniär ab. Angesichts der West-Berliner Krisendynamik, die von den bisherigen alliierten und westdeutschen Finanzhilfen nicht aufgefangen werden konnte, hatte die Bundesregierung West-Berlin am 14. März 1950 zum Notstandsgebiet erklärt. Im April 1950 setzte folgerichtig ein umfangreiches Notstandsprogramm ein, dessen Hauptlast der bundesdeutsche Steuerzahler trug. Wesentlicher Teil des Notstandsprogrammes war das „Notopfer Berlin“.67 Das Notstandsprogramm war zunächst bis Dezember

64 Bis 31.3.1952 ca. 398,4 Mio. Westmark, davon 284,3 Mio. für Industrie, Handel und Gewerbe und 56,8 Mio. für den Wohnungsbau. Vgl. Bollwerk Berlin, S. 30. 65 Bis 1960 stiegen die ERP-Mittel für West-Berlin auf 3,765 Mrd. Westmark an. 66 Die Zuschüsse der Bundesrepublik entwickelten sich wie folgt: 2. Halbjahr 1949 = 238 Mio. Westmark; 1.HJ 1950 = 260 Mio.; 2. HJ 1950 = 267 Mio.; 1. HJ 1951 = 299 Mio.; 2. HJ 1951 = 393 Mio.; Januar bis Mai 1952 = 553 Mio. Vgl. Analyse des Berliner Stadtkontors, 18.9.1952, in: LAB, C Rep. 101, Nr.5591. Vgl. dazu Arthur Schlegelmilch, Hauptstadt im Zonendeutschland. Die Entstehung der Berliner Nachkriegsdemokratie 1945–1949 (= Schriften der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 4), Berlin 1993, S. 466 und Thalheim, Die wirtschaftliche und soziale Struktur Berlins seit 1945. Vortrag. (Sonderdruck), Gehlen 1961, S. 422ff. 67 Es stellte eine Sondersteuer zur Finanzierung zusätzlicher Hilfeleistungen an West-Berlin dar. Alle Steuerpflichtigen, natürliche und juristische Personen, mussten bis zu vier Prozent

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1951 geplant, wurde dann aber fortgeführt.68 Dabei stand mit im Vordergrund, wie das „unproduktive“ in ein „produktives Notstandsprogramm“ verwandelt werden könne69 und wie es mit den ERP-Mitteln wirksam zu kombinieren sei. Immerhin wurden in kürzester Zeit 50.000 neue Arbeitsplätze bereitgestellt.70 Konzeptionell ging der Westen davon aus, dass diese Arbeiterplätze – bedingt durch den Wegfall der Hauptstadtfunktionen – nicht im Dienstleistungsbereich, sondern prinzipiell in der Industrieproduktion zu schaffen seien. So stellte der im Winter 1950/51 von einer Enquetekommission aus Vertretern von Wirtschaft, Verwaltung und Forschung erarbeitete „Longtermplan“ folgerichtig diese produktive Prämisse in den Vordergrund71 und bestimmte dessen Ziele und Instrumentarien.72 Darauf aufbauend schuf das so genannte Überleitungsgesetz 1952 weitere Grundlagen für die Einbeziehung West-Berlins in das Finanzsystem des Bundes. Die Durchsetzung des Gesetzeswerks brachte für die West-Berliner Wirtschaft weitere Anpassungsprobleme mit sich, die sie etappenweise meisterte.73 Die finanziellen und Sach-Hilfen für West-Berlin beschränkten sich aber keineswegs auf die genannten staatlichen Kredite und Subventionen der Bundesrepublik und der Westmächte. Dem Stadtstaat flossen aus deutschen und internationalen privaten und gesellschaftlichen Quellen eine Vielzahl von Spenden in unterschiedlichen Formen und Größenordnungen zu. Hier machten verschiedene, zumeist USamerikanische Stiftungen, durch Zuwendungen für die Kultur und Wissenschaft der Teilstadt von sich reden. Demgegenüber besaß Ost-Berlin keine vergleichbaren Förderungs-„Töpfe“. Finanzhilfen aus den Ländern der SBZ/DDR oder aus dem Ausland (UdSSR) fehlten gänzlich. Wie bereits geschildert, flossen im Gegenteil nach der administrativen Spaltung der Stadt Ost-Berliner Geldmittel in die DDR, deren Führung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre den systematischen Ausbau der Teilstadt zur

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ihres versteuerten Einkommens als Abgabeergänzung zu Gunsten West-Berlins abführen. Dazu gehörte bis 1956 eine Briefmarkensteuer (2 Pfennig je Postsendung). Vgl. LAB, B Rep. 002, Nr. 26578 und „Der Telegraf“, 15.7.1952. Vgl. Abteilung Wirtschaft des Westmagistrats an die Leiter der Fachämter, 10.6.1950, in: LAB, B Rep. 001 A–01, Acc. 499, Nr. 107–109. Vgl. ebd, B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408. Die Wiederherstellung der Dienstleistungsfunktion West-Berlins sei nicht möglich, hieß es. Stattdessen habe der Wiederaufbau der Industrie durch ERP-Mittel und hier vor allem in der elektronischen und Bekleidungsindustrie zu erfolgen. Vgl. Thalheim, Die wirtschaftliche und soziale Struktur Berlins, S. 431f. Innerhalb von etwa drei Jahren sollte die industrielle Produktion um das Dreifache erhöht werden und dabei sollten 200.000 zusätzliche Arbeitsplätze (bei erhöhter Arbeitsproduktivität) entstehen. Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 226. Vgl. Schlegelmilch, Hauptstadt im Zonendeutschland, S. 466f.

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separaten „Hauptstadt der DDR“ eben noch nicht als die Hauptaufgabe sah. Wenngleich sowjetische Besatzungsmacht und SED Ost-Berlin und die Länder der SBZ im Alltag faktisch als Einheit und „verordnete“ Solidargemeinschaft sahen, entstanden jedoch Formen von Ost-Berlin-Hilfen, die zumeist ad-hoc – kampagnenhaft und als Sofortprogramme – entstanden. Im Prinzip unterlagen sie einer Regel, die im Februar 1949 im Programm des SED-Landesvorstandes Berlin als Parole fixiert worden war: „Die Zone für die Hauptstadt Berlin – Berlin für die Zone“. Allerdings zeigte sich frühzeitig eine Tendenz, die mit großem Medienaufwand propagierte solidarische Gegenseitigkeit zu Gunsten Ost-Berlins auszulegen. Aus der Not geborene Hilfsaktionen74 wurden „wahrscheinlich nicht zufällig zu einem Zeitpunkt in Szene gesetzt, zu dem in den westdeutschen Ländern Hilfsprogramme für West-Berlin anliefen“.75 Das betraf offenbar auch Erleichterungen für in Ost-Berlin angesiedelte Flüchtlinge.76 Wie in West-Berlin spielten Enttrümmerung und die Wiederherstellung von Wohnraum und Infrastrukturen vor allem unter dem Beschäftigungsaspekt eine große Rolle. Dabei fehlten aber Mittel für Investitionen, wie sie in West-Berlin vorrangig über GARIOA und Wohnungsbausubventionen der Bundesrepublik vorgenommen wurden. Der geschilderte partielle Abzug bzw. die bald signifikante Knappheit von finanziellen Mitteln hatte für den produzierenden Bereich Ost-Berlins sehr negative Folgen. Hinzu kam, dass diese Mittel zunehmend vom Ausbau zentraler administrativer Funktionen absorbiert wurden. Ein Ausdruck dessen war, dass sich das Zahlenverhältnis von Produktionsarbeitern zu Verwaltungsangestellten zunehmend verschlechterte.77 Wenngleich dies in West-Berlin trotz der Schaffung neuer industrieller Arbeitsplätze nicht anders war78, entwickelte sich die Vergrößerung des nicht-

74 Beispielsweise 1948/1949 das „Winternotprogramm“ für Ost-Berlin unter Beteiligung aller SBZ-Länder und 1949 eine Kampagne zur Erhöhung der Kohleproduktion, um die Belieferung der Ost-Berliner Kraftwerke zu sichern. Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 138. 75 Ebd. 76 Handwerker aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten erhielten Kredite bis zur Höhe von 5.000 Ostmark für zehn Jahre zu Vorzugsbedingungen; bedürftige Umsiedlerfamilien Erziehungsbeihilfen von 25 Ostmark pro Monat und Kind sowie zinslose Haushaltskredite bis zu 1.000 Ostmark. Auch wurde die Ausbildung von Umsiedlerkindern durch bevorzugt bereitgestellte Lehrstellen sowie Stipendien gefördert. Vgl. „Verordnungen zur Verbesserung der materiellen Lage der Umsiedler“, Magistratsbeschluß Nr. 513, Sitzung am 21.9.1950, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 851, Bl.101. 77 Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 172. 78 Laut Stellenplänen waren 1952 in der West-Berliner Verwaltung 55.785 Angestellte beschäftigt. Doch habe die Gesamtzahl derer, „die irgendwie für die Verwaltung tätig sind“,

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produktiven Bereichs, vor allem von Verwaltungen und Dienstleistungsapparaten, hier zu einem probaten Instrumentarium wider die Arbeitslosigkeit. Anders als es der Longtermplan ursprünglich vorgesehen hatte, entstanden vor allem im öffentlichen Dienst in schneller Folge kostenintensive Beschäftigungsverhältnisse, die nur durch das westdeutsche Subventionssystem möglich wurden, die aber zur Stabilität der noch unsicheren West-Berliner Verhältnisse insbesondere durch erhöhte Kaufkraft und damit Binnennachfrage erheblich beitrugen.79 Zwar sahen auch die „ökonomischen“ Amerikaner den hohen Anteil von Angestellten mit Sorge, betrachteten aber die Beseitigung der Arbeitslosigkeit nach wie vor als politisches Hauptziel. So waren sie sich mit der Bundesregierung trotz erheblicher Vorbehalte im einzelnen und bei einer Reihe von Politikern (sowie auch angesichts des „Murrens“ vieler steuerlich belasteter Westdeutscher) prinzipiell über die dynamische Weiterführung des Notstandsprogramms80 einig. In dem Maße, wie sich die Bundesrepublik wirtschaftlich konsolidierte und trotz Belastungen durch neue soziale Leistungen sowie Auslandverpflichtungen (Londoner Schuldenabkommen 1952, Wiedergutmachungen an Israel u.a.m.) an finanzieller Kraft gewann, flossen weitere Mittel auch in den nicht produzierenden Bereich der „Hauptstadt im Wartestand“. Zum einen deckten sie nach einem komplizierten Modus Renten- und Beschäftigungsverpflichtungen finanziell ab, die der Bund als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches (vor allem nach § 131 des Grundgesetzes) hatte, zum anderen – verstärkt seit 1955 – reguläre und Sonderprogramme81, insbesondere in kulturellen und Verwaltungsbereichen. Da in beiden Teilen der Stadt nach 1948 parallel zueinander separate administrative Strukturen neu entstanden (oder alte rekonstruiert wurden), vergrößerte sich der Bedarf an „klassi120.000 Personen betragen – gegenüber 168.000 in der Industrie Tätigen. Vgl. Papier der SED-Landesleitung Berlin, 5.9.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 429. 79 „Der Fortschritt in unseren wirtschaftlichen Verhältnissen“ sei auch darauf zurückzuführen, so brachte es der Reg. Bgm. Schreiber im Mai 1954 auf den Punkt, dass die „schwache Kaufkraft“ der Bevölkerung durch die zunehmenden Leistungen der Bundesrepublik „gesteigert worden ist“. Vgl. Presseamt des Senats von Berlin, Nr. 104, 8.5.1954. 80 Vgl. hierzu die Rede des Stellvertretenden Hochkommissars der USA, Parkman, vor der amerikanischen Handelskammer in West-Berlin, 28.5.1954, in: LAB, B Rep., Acc. 1346, Nr. 593. 81 Ein Schwerpunkt lag dabei auf der zumindest befristeten Beschäftigung älterer Angestellter. Der Senat entwickelte Programme, die den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach 1990 in einigem ähnelten: beispielsweise die Anfertigung von Gesamtkatalogen für alle wissenschaftlichen Bibliotheken und Volksbüchereien sowie die administrative Erfassung von Sozial- und Gewerbeangelegenheiten. Auch begannen umfangreiche Vermessungs- und Reparaturarbeiten und verschiedene Datenerhebungen. Vgl. „Langfristiger Aufbauplan für Berlin“, 24.8.1956, in: ebd., B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408.

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schen“ Verwaltungsstellen. Er wurde zusätzlich hochgetrieben durch die Innerberliner Systemauseinandersetzungen im Kalten Krieg. So entfaltete sich eine spezifische Teilungsbürokratie als Folge der in Berlin miteinander konfrontierten Ordnungen: spezielle Sicherheits- und Flüchtlingsbehörden, Institutionen sowie Gremien u.a.m. mit Gesamtberliner Funktion, sowohl auf staatlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene (u.a. bei Parteien und Organisationen). Da auf beiden Seiten der geteilten Stadt nicht nur die Absicht bestand, den jeweiligen Teil kulturell glanzvoll nach dem Vorbild der alten deutschen Metropole zu gestalten, sondern auch zum repräsentativen „Schaufenster“ des (jeweiligen) Systems, entwickelten sich Berlinhilfen beiderseits zu „Mäzenen“ der kulturellen Bürokratie.

1.4 Währungsprobleme, Währungskontrolle und Wechselkurse Bereits im Herbst 1949 hatte Gustav Klingelhöfer (SPD), der Wirtschaftsstadtrat im neuen West-Berliner Magistrat, den Weg der Integration in Vorwegnahme späterer Realität beschrieben: Da die Teilstadt nicht sofort 12. Bundesland sein könne, müsse als „Sofortlösung“ der wirtschaftliche Anschluss vollzogen werden. Währungs- und Wirtschaftsgebiet der Bundesrepublik und West-Berlins seien eine Einheit. Der „gesamte Investitionsbedarf zum Aufbau der Berliner Wirtschaft“ sei Aufgabe der Marshallplanhilfe und – eine damals kühne Forderung – die „Sanierung der Berliner Finanzen eine Angelegenheit Westdeutschlands“. Es ginge also vorrangig um Finanzen, meinte der SPD-Politiker. Daraus folge, dass die West-Berliner Zentralbank einer bundesdeutschen Landesbank gleichzusetzen sei.82 Mit der so genannten zweiten Währungsreform im März 1949 war die DM (West) im Westteil der Stadt alleiniges Zahlungsmittel. Damit fielen faktisch alle Währungs- und Wirtschaftsgrenzen zur Bundesrepublik weg, was den Konkurrenzdruck auf West-Berlin und die Arbeitslosigkeit jedoch zunächst verschärfte.83 Demgegenüber war die wirtschafts- und finanzpolitische Integration des Berliner Ostsektors in die SBZ/DDR eigentlich nur noch formaler Art. Bereits im Mai 1949 hatte er, in dem die DM (Ost) einziges Zahlungsmittel war, deren Steuergesetzgebung übernommen. Das offizielle Ende der fiktiven finanz- und haushaltspolitischen Selbstständigkeit Ost-Berlins stellte nur noch einen Verwaltungsakt dar, den die SED-Landesleitung im November 1952 per Beschluss vollzog. Damit wurde auch der Haushalt der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) in die DDRSozialversicherung überführt.84 82 Vgl. Protokoll über die Besprechung von Klingelhöfer mit den Verbänden der Berliner Wirtschaft, 14.10.1949, in: ebd., B Rep. 010 A–01, Acc. 499, Nr. 107–109. 83 Vgl. Thalheim, Die wirtschaftliche und soziale Struktur, S. 420f. 84 Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 147.

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Die Spaltung 1948 hatte den innerstädtischen Zahlungsverkehr im Prinzip blockiert85, jedoch nicht gänzlich zum Erliegen gebracht. Wie noch zu sehen sein wird, wollte die DDR von Anfang an nicht auf Westmarkeinnahmen verzichten, die beispielsweise durch östliche Dienstleistungen realisiert wurden. Auch existierte neben diesem minimalen staatlichen auch noch ein privater Zahlungsverkehr, der zwar ebenfalls marginal war, aber geregelt werden musste. Das geschah de jure durch die in der Praxis von den ostdeutschen Behörden sehr repressiv gehandhabten Verordnungen „zur Regelung des innerdeutschen Zahlungsverkehrs“ (1950)86 und „über den innerdeutschen Handel“ (1951).87 Für beide Berliner Seiten war das nach der wirtschaftlichen Spaltung entstandene Währungsgefälle auf unterschiedliche Weise ein herausragendes Problem. Der größeren Stabilität und Kaufkraft der bundesdeutschen DM (im Folgenden: Westmark) stand von Anfang an eine weit schwächere DDR-DM (im Folgenden: Ostmark) gegenüber. Bedingt durch die politische Teilung, aber weitgehende Offenheit und Vernetzung der Stadt im Alltag, entwickelten beide ein besonderes Konkurrenzverhältnis zueinander. Da der Besitz von Westmark im Osten prinzipiell verboten war und sie dort deshalb auch nicht gehandelt werden durfte (DDR-offiziell war sie mit der Ostmark wertgleich), konnte sie angesichts eines sektorenübergreifenden Sondermarktes nur in West-Berlin gegen Ostmark eingetauscht werden. Beide Währungen gingen dabei ein durch Angebot und Nachfrage bestimmtes Verhältnis ein, das in einem flexiblen Wechselkurs seine Bewertung fand. In den zahlreichen privaten Wechselstuben West-Berlins tauschten dessen Einwohner West- gegen Ostwährung mit dem Ziel, sie im sowjetischen Sektor einzusetzen, während dort Ansässige hier Ost- in Westmark umwandelten, um in West-Berlin Waren oder Dienstleistungen zu erwerben. Der Berliner Wechsel85 Bereits am 8.12.1948 beschloss der Ostmagistrat, alle Zahlungen an „West-Berliner Institutionen mit sofortiger Wirkung einzustellen“. Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 17, 8.12.1948, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 833, Bl. 61. 86 Alle Zahlungen in beiden Richtungen durften nur über Ost-Berliner Konten erfolgen. „Dadurch sicherte sich die DDR im Falle einer West-Ost-Überweisung die DM (West), der Kontoinhaber konnte nämlich nur über DM (Ost) zum fiktiven 1:1-Kurs verfügen. Der Zahlungsempfänger in West-Berlin musste sich in den Ostteil bemühen und konnte dort anteilig über sein Geld verfügen. Da er es aber kaum für Waren ausgeben und diese noch weniger ausführen konnte, blieben diese Beträge meist auf den Konten bei den Banken stehen.“ Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 13. 87 Die Verordnung drohte hohe Strafen (in „schwereren Fällen“ nicht unter fünf Jahren) an, wenn ohne Erlaubnis der östlichen Staatsorgane Waren, Geld oder Wertpapiere über die Sektorengrenzen verbracht wurden. Beschlagnahmte Waren zogen sie entschädigungslos ein. Auf dieser Rechtsgrundlage gingen die Behörden der DDR auch gegen den Innerberliner Kleinhandel vor. Vgl. ebd., S. 136f.

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kurs besaß schon insofern Einmaligkeit, als sonst nirgendwo in der Welt Ostmark gegen Westwährung und umgekehrt frei gehandelt werden konnte. Dieses Phänomen resultierte aus dem Status Berlins, der in der globalen Nachkriegsentwicklung wiederum ein Unikum darstellte. Der Umtauschkurs besaß aber neben den politischen auch einige wirtschaftlich-finanzielle Besonderheiten: So bewertete der Wechselkurs nicht den gesamten Markt in Ost- und West-Berlin, sondern nur Waren, die im Osten frei erhältlich waren, das heißt, nicht der Bewirtschaftung unterlagen. Der „intervalutaristische“ Wert der Ostmark wurde also durch die Preise eines begrenzten Kreises von Waren bestimmt, „da alle diejenigen Waren, die in der Sowjetzone noch rationiert oder nur in Ausnahmefällen erhältlich sind, für die Kursbildung ausscheiden“.88 Es handelte sich demnach um einen relativ kleinen Warenkorb, auf dessen Grundlage keineswegs die Wertrelation der beiden Währungen insgesamt bestimmt werden konnte. Dieser Pool enthielt zum Beispiel nicht die Preise für Mieten, Energie u.a.m. und beispielsweise auch nicht die für Bücher sowie kulturelle Dienstleistungen. Diese lagen häufig unter denen in West-Berlin. Doch blieb es das Handikap der DDR, dass die west-östliche Öffentlichkeit diese am Sondermarkt gebildete Wertrelation von Anfang an mit dem allgemeinen Wertverhältnis zwischen Ost- und Westmark identifizierte.89 Tatsächlich entsprach die Kursbildung am Berliner Sondermarkt im Laufe der Zeit zunehmend dem realen generellen Wertverhältnis zwischen beiden deutschen Währungen. Die Relation von Wechselkurs und Kaufkraft ließ auf beiden Seiten abwechselnd Vor- und Nachteile entstehen, die von den kauffreudigen Berlinern ins alltägliche Erwerbskalkül gezogen wurden. Dabei spielte eine Rolle, dass in der DDR und in Ost-Berlin im Gegensatz zum Westen bis 1958 viele Lebensmittel rationiert und nur auf Bezugskarten erhältlich waren und West-Berliner deshalb nur Waren erwerben konnten, die – zumeist bei der staatlichen Handelsorganisation (HO) – „markenfrei“ zu haben waren. Dort waren sie aber im Unterschied zu den häufig subventionierten Lebensmitteln des Kartensystems viel teurer – was freilich erstrangig die Ostdeutschen betraf. Die West-Berliner fragten sich pragmatisch, was für sie auf der Basis des jeweils aktuellen Wechselkurses im Sowjetsektor günstiger zu beziehen sei – trotz der relativ hohen Ostmarkpreise einiger Waren in der 88 Thalheim, Die Wirtschaft Berlins, S. 409. 89 Immer wieder gingen die Ost-Berliner Medien gegen diese Tendenzen an. „Wer aber die Reise für Luxuswaren, modische Artikel und einige Lebensmittel, die Importe aus tropischen Ländern sind, zum Beispiel Schokolade, Kakao, Kaffee, Gewürze, als Grundlage zur Berechnung der Kaufkraft der Mark der Deutschen Notenbank benutzen will, der macht offenkundig eine ,Milchmädchenrechnung‘ auf. „Der Morgen“, 24.1.1957.

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HO. Besonders lockten sie finanziell lukrative Dienstleistungen. Und die OstBerliner kauften im Westen ihrer Stadt Dinge, die sie an ihrem Wohnort in der Regel nicht oder nur in schlechterer Qualität erhielten. Das etwa war das alltägliche Grundmuster. Es reproduzierte sich auf der Basis offener Grenzen in einem noch weitgehend gemeinsamen Verflechtungs- und Erfahrungsraum und funktionierte nicht zuletzt deshalb, weil die Bewohner beider Berliner Teile zunächst noch sehr ähnliche Konsuminteressen hatten und sich diesbezügliche Mentalitäten und Verhaltensweisen nicht grundsätzlich unterschieden. Demgegenüber war den politischen Führungen in Ost- und West-Berlin das Währungsgefälle und das daraus resultierende „Gesamtberliner“ Kaufverhalten in so mancherlei Hinsicht ein Ärgernis. Zwar gingen der Senat und die Bundesregierung von dem unpolitischen Leitsatz aus, dass sie sich selbst regulierende wirtschaftliche Prozesse nicht behindern und die dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgende Kursbildung nicht reglementieren dürften. Doch ergaben sich daraus, wie zu sehen sein wird, zunächst vor allem für West-Berlin nachteilige marktpolitische und etatistische Konsequenzen. Auch sie zeigten, dass der Wechselkurs nie ein „unpolitischer“ Transfer war. Die West-Berliner Verantwortlichen gingen davon aus, dass eine besonders von einigen Wirtschaftszweigen geforderte behördliche Währungskontrolle oder ein generelles Umtauschverbot zur Vertiefung der Spaltung beitragen würden. Sie wollten hingegen den Besuch der Ost-Berliner und Ostdeutschen in den Westsektoren nicht noch weiter erschweren „und nicht in unmittelbarem Angesicht des Eisernen Vorhangs Zwangsmaßnahmen zur Reglementierung des Konsums ergreifen“.90 Trotz der nach 1948 sichtbaren Risiken, die ein geringer Steuervorteil91 nicht aufwog, verzichtete der Westen angesichts der politischen Konkurrenz auf jegliche Eingriffe in den Wechselkurs, der allerdings – gewollt oder ungewollt – häufig von der Senatspolitik beeinflusst wurde. Aber auch für die östliche Seite war das Kaufkraftgefälle ambivalent. Die SED sah in den Einkäufen der WestBerliner im Ostteil der Stadt einige ideologische und politische Möglichkeiten, Einfluss auf die Leute von „drüben“ zu nehmen. Doch entstand die Frage, wie und wie lange der östliche Markt, sein Konsumgüter- und Dienstleistungsangebot auf planwirtschaftlicher Grundlage, einer kaum berechenbaren West-Berliner Kaufkraft standhalten würde. Beide Seiten wussten indes, dass konsumorientierte An90 Peter G. Rogge, Die amerikanische Hilfe für Westberlin. Von der deutschen Kapitulation bis zur westdeutschen Souveränität, Tübingen 1959, S. 99f. 91 Das „Gesetz über den Ostmarkumtausch“ legte die Kursspanne zwischen Ankauf und Verkauf von Ost- und Westmark auf drei Prozent fest; zwei Prozent verblieben der Wechselstube/Bank und ein Prozent ging als „Ostmarkumtauschabgabe“ an den West-Berliner Haushalt. Vgl. Zschaler. Öffentliche Finanzen, S. 232.

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gebote und Nachfragen sowie das sie mitregulierende Währungsgefälle wesentlich dazu beitrugen, die Überlegenheit des einen über das andere System unter Beweis zu stellen sowie wirtschaftliche mit politischer Leistungsfähigkeit assoziativ zu verbinden. Der Kampf der „harten“ West- gegen die „weiche“ Ostmark entschied sich jedoch nicht in den Wechselstuben.

2. Lebensstandard im Vergleich Für die Interpretation der politisch in einander entgegengesetzte Ordnungs- und Wirtschaftsysteme geteilten Berliner Gesellschaft war die permanente Diskussion um die erreichte und angestrebte Lebensqualität geradezu grundlegend. Dieser vielschichtige und tiefgehende Diskurs erfasste alle sozialen und politischen Gruppen der Bevölkerung, und er lebte vom alltäglichen Ost-West-Vergleich. Die Propagandamaschinen beider Seiten liefen von Anfang an auf Hochtouren, um die Vorzüge der jeweils eigenen Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse zu preisen, sie als die besseren und daher rechtmäßigen herauszustellen. Kernproblem war und blieb, wer den höheren Lebensstandard habe bzw. erreichen würde. Gleich nach der Spaltung der Stadt waren diesbezügliche wichtige Ergebnisse noch offen. Aber es deutete sich trotz der großen Belastungen West-Berlins nach 1948 bereits die in vielen noch unklare Tendenz an, dass es im Vergleich mit Ost-Berlin das schnellere soziale Wachstumstempo entwickelte. Die SED-Landesleitung nahm ab etwa Mitte 1949 verstärkt Anzeichen dafür wahr, dass Ost-Berliner Arbeiter – häufig am „kleinen“ Beispiel – den Lebensstandard ihrer Westkollegen bereits als höher empfanden.92 Zwar hieß das für den West-Berliner Arbeitnehmer ebenso wenig ein Leben in „Glanz, Luxus und Wohlsein“, wie die vollen Schaufenster der neuen Geschäftsstraßen den Schluss zuließen, „dass hinter der Kauflust […] auch die Kaufkraft steckt“93, doch verringerte sich dieses „Missverhältnis“ allmählich. Demgegenüber war sich die SED gerade des mangelnden östlichen Konsumangebots bewusst, das die Bevölkerung verärgerte, aber sie nicht resignieren ließ. Immer wieder schimmerten Hoffnungen auf Besserung auf.94 Zwar konnte die DDR92 Etwa, wenn Arbeiter in den öffentlichen Großbetrieben nicht nur allgemein über ihren Lebensstandard „meckerten“, sondern u.a. berichteten, dass ihre West-Berliner Kollegen ständig „mit dickbelegten Stullen in den Betrieb kommen“, während sie ihre „kahlen Bolzen“ verzehrten. Bericht des Landesvorstands der SED Groß-Berlin, 20.12.1949, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 265. 93 Bollwerk Berlin, S. 30. 94 Im frühen Herbst des Jahres 1950 verbesserte sich vorübergehend die Versorgungslage in Ost-Berlin. Diese „Erleichterung des Lebens“ würde von der Bevölkerung in der Zukunft

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gebote und Nachfragen sowie das sie mitregulierende Währungsgefälle wesentlich dazu beitrugen, die Überlegenheit des einen über das andere System unter Beweis zu stellen sowie wirtschaftliche mit politischer Leistungsfähigkeit assoziativ zu verbinden. Der Kampf der „harten“ West- gegen die „weiche“ Ostmark entschied sich jedoch nicht in den Wechselstuben.

2. Lebensstandard im Vergleich Für die Interpretation der politisch in einander entgegengesetzte Ordnungs- und Wirtschaftsysteme geteilten Berliner Gesellschaft war die permanente Diskussion um die erreichte und angestrebte Lebensqualität geradezu grundlegend. Dieser vielschichtige und tiefgehende Diskurs erfasste alle sozialen und politischen Gruppen der Bevölkerung, und er lebte vom alltäglichen Ost-West-Vergleich. Die Propagandamaschinen beider Seiten liefen von Anfang an auf Hochtouren, um die Vorzüge der jeweils eigenen Sozial- und Wirtschaftsverhältnisse zu preisen, sie als die besseren und daher rechtmäßigen herauszustellen. Kernproblem war und blieb, wer den höheren Lebensstandard habe bzw. erreichen würde. Gleich nach der Spaltung der Stadt waren diesbezügliche wichtige Ergebnisse noch offen. Aber es deutete sich trotz der großen Belastungen West-Berlins nach 1948 bereits die in vielen noch unklare Tendenz an, dass es im Vergleich mit Ost-Berlin das schnellere soziale Wachstumstempo entwickelte. Die SED-Landesleitung nahm ab etwa Mitte 1949 verstärkt Anzeichen dafür wahr, dass Ost-Berliner Arbeiter – häufig am „kleinen“ Beispiel – den Lebensstandard ihrer Westkollegen bereits als höher empfanden.92 Zwar hieß das für den West-Berliner Arbeitnehmer ebenso wenig ein Leben in „Glanz, Luxus und Wohlsein“, wie die vollen Schaufenster der neuen Geschäftsstraßen den Schluss zuließen, „dass hinter der Kauflust […] auch die Kaufkraft steckt“93, doch verringerte sich dieses „Missverhältnis“ allmählich. Demgegenüber war sich die SED gerade des mangelnden östlichen Konsumangebots bewusst, das die Bevölkerung verärgerte, aber sie nicht resignieren ließ. Immer wieder schimmerten Hoffnungen auf Besserung auf.94 Zwar konnte die DDR92 Etwa, wenn Arbeiter in den öffentlichen Großbetrieben nicht nur allgemein über ihren Lebensstandard „meckerten“, sondern u.a. berichteten, dass ihre West-Berliner Kollegen ständig „mit dickbelegten Stullen in den Betrieb kommen“, während sie ihre „kahlen Bolzen“ verzehrten. Bericht des Landesvorstands der SED Groß-Berlin, 20.12.1949, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 265. 93 Bollwerk Berlin, S. 30. 94 Im frühen Herbst des Jahres 1950 verbesserte sich vorübergehend die Versorgungslage in Ost-Berlin. Diese „Erleichterung des Lebens“ würde von der Bevölkerung in der Zukunft

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Führung trotz aller Anstrengungen das komplexe Problem nicht lösen, den Lebensstandard zum wichtigsten stabilisierenden Herrschaftsfaktor zu entwickeln, doch gelang es ihr, über den Ausbau von sozialen und kulturellen Teilsystemen – des Gesundheitswesens, der Volksbildung und der Massenkultur –, vor allem aber durch Preissubventionen, Defizite in gewissem Umfang zu mildern. Letztere bargen zwar unabsehbare Risiken in sich, waren aber angesichts dogmatischer Planwirtschaft, des Rationierungssystems und westlicher Konkurrenz unumgänglich. Das betraf gerade soziale Kernbereiche wie Wohnungsmieten und Verkehrstarife, die auf einem niedrigen Niveau stabil gehalten wurden.95 Aber auch für Funktionäre wirkte eine Art „Prinzip Hoffnung“, das sich aus ideologischen Zukunftserwartungen und der sie selbst benebelnden Erfolgspropaganda, aber auch aus unübersehbaren Aufbauerfolgen speiste. So hieß die Generalbehauptung der mehr nach innen als nach außen gerichteten SED-Öffentlichkeitsarbeit, im Ost-Sektor lebten die Menschen besser, vor allem seien die Lebenshaltungskosten dort niedriger als in West-Berlin.96 Was 1949, wenn man denn für eine entsprechende Beweisführung günstige Kriterien fand, für den Zeitgenossen noch einigermaßen glaubwürdig schien, geriet durch die Turbulenzen und Krisen der DDR- und Ost-Berliner Wirtschaft seit 1952 schnell in die Schlagzeilen der unsichtbaren kritischen „Gegenpresse“ des Ostens: Die Werktätigen kommunizierten massenhaft über die allgemeine Stagnation, mehr aber über die tatsächliche oder „gefühlte“ Verschlechterung ihrer materiellen Lebenssituation. Und vor dem Hintergrund einer aufmerksamen Westkonkurrenz verdeutlichte etwa die Losung, die SED zeige den Werktätigen, wie sie „über den Feldzug für strenge Sparsamkeit […] ihr Leben rasch verbessern können“, das Konsumproblem mehr, als dass sie es entschärfte.97 Im Gegenteil: Nach dem Volksaufstand 1953 und mit dem neuen Kurs war auch den dogmatischen Ideologen im „Kampf um Berlin“ klarer, dass mit puren Appellen an das Bewusstsein der Menschen und den offenen und versteckten Aufforderungen zum Konsumverzicht die für den sozialistischen Aufbau notwendigen Leistungen nicht stimuliert würden. „nicht mehr wie früher skeptisch beurteilt werden“, meldeten die Verwaltungen. So glaube sie an baldige Verbesserung im Lebensmittel-Kartensystem und die Senkung der HO-Preise. Bericht des Bezirksamtes Treptow, Sept. 1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 851, Bl. 42 b. 95 So wurden die Fahrpreise in Ost-Berlin nicht zuletzt als Kontrast zu den steigenden Verkehrstarifen in West-Berlin – demonstrativ – niedrig gehalten. Vgl. Protokoll Nr. 011/56 der Sitzung des Büros der SED-BL, 17.5.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 256, Bl. 11. 96 Vgl. Berliner Informationen: Wie leben wir in Ost- und Westberlin?, hrsg. vom Landesvorstand Groß Berlin der SED, Abteilung Werbung, Presse, Rundfunk, Berlin 1949 (Broschüre). 97 Zur Vorlage an das Sekretariat [der SED-BL], Betr.: Agitationsplan zur Durchführung des Feldzuges für strenge Sparsamkeit“, 24.3.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 164 Bl. 30.

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Trotz der größten Anstrengungen der SED, das Lebensniveau gerade der „Hauptstädter“ fühlbar zu erhöhen, blieben die erwarteten Erfolge aus den bekannten Gründen aus, nicht jedoch die vielschichtigen Phänome einer sozialen Unzufriedenheit und eines eigenartigen Erinnerns an „bessere Zeiten“, die erst wenige Jahre zurücklägen.98 Die Kritik artikulierte sich latent bis offen und eben häufig mit einer durch die Alternative West-Berlin geförderten inneren Meinungsfreiheit.99 Erfolgten einige Verbesserungen in der Lebenslage der Bevölkerung – beispielsweise für Rentner –, interpretierten das viele in Ost-Berlin lediglich als Folge des Drucks aus dem Westen.100 Dessen Omnipräsenz führte bei der Berliner SED zu neuen Unsicherheiten und Vorsichten in der Frage, wie man den unausweichlichen Sozialvergleich mit dem Westteil der Stadt anstellen solle, ohne sich in neuen Widersprüchen und Konflikten zu verfangen.101 Eine Basis der Vorsicht waren erstaunlich sachliche und genaue Analysen der West-Berliner Wirtschafts- und sozialen Lage, die nie das Licht der Ost-Berliner Öffentlichkeit erreichten102 – mit gutem Grund, wie die Vergleiche gerade von Löhnen und Preisen zeigten. Vorsicht geboten aber auch sozialpolitische Gegenüberstellungen von DDR-Metropole und „Provinz“. In Ost-Berlin gab es in sozialer Praxis und Sozialgesetzgebung in den 50er Jahren noch erhebliche Unterschiede zur DDR. Das betraf sehr stark das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem, aber auch Löhne, Gehälter, Urlaubsregelun-

98 Beispielsweise äußerten im Großbetrieb Bergmann-Borsig Arbeiter, dass es „1951/52 entschieden besser [war], da gab es Lohn- und Gehaltserhöhungen sowie HO-Preissenkungen“: Die Werktätigen würden die Lebenshaltungskosten als viel zu hoch empfinden, „der versprochene Wohlstand der Arbeiterschaft ist nicht eingetreten“, und die Renten seien viel zu niedrig. „Bericht zur Stimmung der Bevölkerung“, 14.12.1955, in: ebd., Nr. 611. 99 So meinten Studenten der Ost-Berliner Schauspielschule, dass in der DDR „alle Gelder“ in die Kasernierte Volkspolizei (KVP) gesteckt würden. Und die Bevölkerung „müsse hungern“. Wiederum im „Bergmann-Borsig“ sei von einem Arbeiter zu hören gewesen, dass er, „wenn sich der Zustand bei uns […] nicht bald verändert“, in den Westen „abhaue“. Ebd. 100 Vgl. „Bericht über die Stimmung der Bevölkerung zu den Ergebnissen der Moskauer Verhandlungen und der 28. ZK- Tagung“, 14.8.1956, in: ebd., Nr. 613. 101 Alle „Gegenüberstellungen“ der DDR-Wirtschaft und der sozialen Lage mit der entsprechenden West-Berliner Entwicklung seien vorher mit den zuständigen Gremien der SEDBL abzustimmen, hieß es exemplarisch. Beschluß des Büros der BL, undatiert (Sommer 1955), in: ebd., Nr. 233, Bl. 4. 102 Vgl. Abt. Wirtschaft der SED-BL: „Die Lage der Arbeiterklasse in Westberlin“, 2.2.1957, in: ebd., Nr. 285, Bl. 23–83.

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gen103, den Krankengeldbezug104, die Arbeitslosenversicherung105 sowie die Verbraucherpreise. Bereits im ersten Jahr der Existenz der DDR wurden Löhne und Gehälter, aber auch Renten stärker erhöht als in den Ländern der DDR. So hieß es im Fall der Rentenerhöhung nur scheinbar paradox: Da in Ost-Berlin die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Textilien faktisch besser sei, erfordere das eine Erhöhung der Renten und des „Unterstützungsrechtssatzes“.106 Tatsächlich traf zu, dass Ost-Berlin „teurer“ war als die „Republik“. Stärker noch als das im Vergleich mit der DDR größere Warenangebot brachten beispielsweise kulturelle Möglichkeiten und das ausgebaute Verkehrswesen eine finanzielle Mehrbelastung des Einzelnen mit sich, der u.a. durch die „Berlinzulage“ bei Löhnen und Gehältern Rechnung getragen wurde. Gleichzeitig waren finanzielle Zulagen Bestandteil der im Westen wahrgenommenen „Werbefläche“ Ost-Berlin.

2.1 Löhne Zu jeder Zeit spielte der Vergleich der Bezahlung von Arbeitern und Angestellten eine wichtige Rolle. Während noch Anfang 1951 das durchschnittliche nominelle Lohnniveau im Ost-Sektor nach Angaben der SED höher lag als in West-Berlin (350 Ostmark zu 250 Westmark)107, aber nach anderen Angaben etwa gleich hoch 103 Es war eigentlich ein sowjetischer Befehl, der die Urlaubszeit für Ost-Berliner Beschäftigte auf „bis zu 24 Tagen“ festlegte, während sie in der DDR nur 12 Werktage betrug. Vgl. Karl C. Thalheim, Arbeit und Sozialwesen, in: Berlin Sowjetsektor. Die politische, rechtliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung in acht Berliner Verwaltungsbezirken, Berlin (W) 1965, S. 122. 104 Im sowjetischen Sektor wurde das Krankengeld im Prinzip „stets bis zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit gezahlt“. Die Zahlung konnte jedoch eingestellt werden, wenn nach 26-wöchigem Bezug in weiteren 26 Wochen „der Wiedereintritt der Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit nicht zu erwarten ist“. In der SBZ/DDR wurde das Krankengeld hingegen nur 26 Wochen gewährt, längstens aber 39 Wochen, wenn ärztlich festgestellt wurde, dass mit der gesundheitlichen Wiederherstellung des Betroffenen zu rechnen sei. Vgl. Siegfried Mampel, Der Sowjetsektor von Berlin. Eine Analyse seines äußeren und inneren Status, Frankfurt am Main und Berlin (W) 1960, S. 230ff. 105 Beispielsweise erhielt der Ost-Berliner im Unterschied zum DDR-Bürger auch dann eine Arbeitslosenunterstützung, wenn er im Haushalt eines unterstützungsfähigen Verwandten lebte. Außerdem lagen die Unterstützungssätze in Ost-Berlin höher als in der „Republik“. Vgl. ebd. 106 Magistratsvorlage Nr. 501 für die Sitzung am 30.8.1950, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 851, Bl. 18. 107 Vgl. Manuskript von Bruno Baum, Erster Sekretär der SED-LL Groß-Berlin, 11.4.1951, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 343.

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war, entwickelte es sich weitaus schneller zugunsten der West-Berliner Seite. Bereits 1953 gestand die Berliner SED-Führung ein, dass die Arbeiter im Westen trotz Ost-Berliner Lohnerhöhungen bereits mehr verdienten, das hieß konkret, dass die sogenannten Zeitlöhne in Ost-Berlin unter den Tariflöhnen im anderen Teil der Stadt lagen.108 Mitte der 50er Jahre zeigte sich ein relativ stabiler Vorsprung bei den Löhnen in West-Berlin gegenüber denen im Ostsektor, die allerdings wiederum höher lagen als in der DDR, während die Arbeitsentgelte in West-Berlin niedriger ausfielen als die in der Bundesrepublik. Tabelle 2: Vergleich der Stundenlöhne (DDR und Ost-Berlin in Ostmark, Bundesrepublik und West-Berlin in Westmark), Stand: Juni 1955

Durchschnitt von 21 Beschäftigungsgruppen Elektrotechnik Maschinebau KFZ-Handwerk Baugewerbe Bekleidung Brotindustrie Druck Chemie Holzindustrie Öffentliche Verwaltung Einzelhandel Großhandel Quelle: „Der Telegraf“,15.10.1955.

DDR

Ost-Berlin

WestBerlin

Bundesrepublik

1,27

1,40

1,64

1,71

1,31 1,30 1,30 1,30 1,09 1,23 1,12 1,31 1,36 1,23 1,34 1,34

1,43 1,49 1,41 1,57 1,30 1,34 1,35 1,39 1,41 1,45 1,40 1,40

1,56 1,56 1,50 2,07 1,48 1,73 1,80 1,42 1,65 1,60 1,41 1,41

1,62 1,62 1,57 2,12 1,51 1,78 1,80 1,59 1,58 1,60 1,49 1,49

In den Jahren danach vergrößerten sich sowohl die Einkommensunterschiede zwischen beiden Teilen der Stadt zugunsten ihres Westteils als auch zwischen Ost-Berlin und den DDR-Bezirken109 zu deren Ungunsten. Der „Telegraf“ berechnete für das hier beispielhaft herangezogene Jahr 1955 auf der Grundlage des Lohnniveaus der Bundesrepublik (100 Prozent), dass der Reallohn mit seinem wichtigsten Kriterium Kaufkraft in West-Berlin hiervon 95 Prozent und in OstBerlin 68 Prozent betrage. Der „allgemeine Lebensstandard“ der Facharbeiter in 108 Vgl. Abt. Wirtschaftspolitik der SED-BL: „Betr. Erhöhung der Tariflöhne […]“, 23.12.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 189, Bl. 29. 109 Vgl. Thalheim, Arbeit und Sozialwesen, S. 119ff.

II. Wirtschaft und Soziales

295

West-Berlin liege etwa 30 Prozent höher als der ihrer Ost-Berliner Kollegen.110 Diese Relation berücksichtigte, dass selbst beträchtliche Preissteigerungen in West-Berlin gerade in den Jahren 1956 bis 1958 durch im Ganzen beträchtliche Lohnzuwachsraten111 mehr als nur wettgemacht wurden. Freilich waren die Steigerungen in den einzelnen Wirtschaftszweigen West-Berlins unterschiedlich groß. Benachteiligt waren in den 50er Jahren berufstätige Frauen, was auch der SED Argumente lieferte, die Nichtgleichberechtigung gerade von Industriearbeiterinnen anzuprangen.112 In Ost-Berlin hingegen kritisierten viele der schlecht bezahlten Produktionsarbeiter immer wieder, dass bei finanziellen Aufbesserungen die niedrigen Lohnstufen wenig berücksichtigt würden.113 Das hing auch damit zusammen, dass relativ gut bezahlte Facharbeiter einen Anreiz für Qualifizierungen erhalten sollten, die sie in höhere Lohngruppen aufstiegen ließen.

2.2 Preise Vielleicht mehr noch als die Löhne waren im geteilten Berlin die Preise, von Anfang an unter vergleichendem Aspekt, ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Sie bestimmten den Lebensstandard der Berliner in der Gesamtberliner Systemkonkurrenz entscheidend mit. Man kaufte eben dort, wo die Preise am günstigsten waren oder wenigstens so schienen. Preiserhöhungen und Preissenkungen wurden von allen Berlinern mit vitalem Interesse verfolgt. Grundmuster der offiziellen Argumentation war auf beiden konkurrierenden Seiten die immerwährende Behauptung, die Preise seien jeweils im eigenen Teil Berlins günstiger als im anderen. Ihre jeweiligen Verfechter blieben die „Beweise“ dafür, natürlich abhängig von der Frage, ob und in welchem Maße sie stichhaltig waren, in der Regel nicht schuldig. Während die Ost-Berliner das Spannungsdreieck Karten-, HO- und Westpreise interessierte, kamen für die West-Berliner unter dem Gesichtspunkt des vorteilhaften Osteinkaufs lediglich HO- und Westpreise in den Vergleich. Im Unterschied zum kapitalistischen West-Berlin, wo das eherne Gesetz von Angebot und Nachfrage die Preise im Wesentlichen bestimmte, wurden sie in der zentralisierten kommunistischen Planwirtschaft auch vom Fundus der 110 Vgl. „Der Telegraf“, 15.10.1955. 111 Vgl. „Entwurf des Rechenschaftsberichts der Bezirksdelegiertenkonferenz des FDGB“, 31.8.1959, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 388, Bl. 104. 112 Vgl. Zentralvorstand der IG-Chemie: „Analyse über die Lage der Frauen in Westdeutschland und Westberlin der chemischen Industrie“, 3.6.1953, in: SAPMO-BArch, FDGBWestabteilung, DY34, 26/89/1899. 113 „Stimmung und Argumente der Bevölkerung zu dem Vorschlag des Polit-Büros über die Erhöhung der Löhne und Gehälter“, 2.7.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 274.

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II. Wirtschaft und Soziales

bereitgestellten Waren bestimmt – also von der Frage, ob sie knapp oder weniger knapp waren. Die Nachfrage steuerte der Staat über einen von ihm festgelegten Verbraucherpreis. Andererseits war der Preis im Osten ein „politischer Preis“. Teuer waren Mangelwaren, deren Produktion selbst schwierig war oder die das Gleichgewicht der sozialistischen Pläne politisch störten. Billiger wurden Waren, zuvorderst um den Ost-Berliner Verbraucher ruhig zu halten, aber auch aus ideologischen Motiven: Für die Werktätigen sollten, wie geschildert, die grundlegenden Dinge des Alltags, Nahrung, Wohnung, Dienstleistungen u.a.m., zu billigen Preisen erschwinglich bleiben – wie eine traditionelle Forderung der deutschen Arbeiterbewegung lautete. Ein an sich plausibles Prinzip der SED war dabei, langlebige Industriegüter des „gehobenen Bedarfs“ – etwa Motorfahrzeuge, Radios und Fernsehgeräte, aber auch Kühlschränke, Waschmaschinen, Möbel sowie Luxusartikel u.a.m. – zu hohen Preisen zu verkaufen, um mit dem realisierten Gewinn Waren des täglichen Bedarfs verbilligen zu können – hauptsächlich über den Mechanismus von Subventionen. Das Regelwerk blieb durch die allgemeine Warenknappheit außerordentlich störanfällig. Denn wenn an sich preiswerte Waren, vor allem im Lebensmittelbereich, vom Käufer nicht im benötigten Umfang erworben werden konnten, nutzten auch Kompensationsgewinne wenig; überdies waren die HO-Preise für viele Ostdeutsche immer noch so hoch, dass sie die dort angebotenen, nicht bewirtschafteten Waren kaum bezahlen konnten. Die SED handelte daher im Prinzip richtig, wenn sie die HO-Preise in den ersten 50er Jahren schrittweise senkte. Das brachte zumindest zeitweilig eine gewisse Käuferberuhigung, wurde in Ost-Berlin aber als „Selbstverständlichkeit“ betrachtet und führte faktisch zu neuen Forderungen an Magistrat und Partei.114 Dieses System stieß aber bald auch an die Grenze planwirtschaftlicher Möglichkeiten, weil die Konsumgüterproduktion der steigenden Nachfrage nach preisgesenkten Artikeln nicht standhielt. Den sich dadurch vergrößernden Kaufkraftüberhang durch eine gewisse Verbilligung von bislang unerschwinglich teuren Gebrauchswaren, beispielsweise von elektronischen Geräten, Optik, Schreibmaschinen u.a.m. abzubau114 Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung stehe den Preissenkungen „positiv gegenüber, ohne sie besonders zu beachten“, meldete ein SED-Bericht. Sie würden leider als „Selbstverständlichkeit“ betrachtet und so als Leistung der Planwirtschaft nicht genügend gewürdigt. In einigen Betrieben seien „Preissenkungen von Fleisch, Wurst und Fett“ vermisst worden, denn diese Waren – 250 g Wurst beispielsweise kosteten in der HO fünf bis sechs Ostmark – könne sich niemand leisten. Arbeiter und Hausfrauen meinten, das alles würde ganz anders aussehen, wenn die Ostmark den gleichen Wert wie die Westmark hätte. Eine Mark müsse wieder eine Mark sein, hörten die Rapporteure. Vgl. „Betrifft: Diskussion zur 9. HO-Preissenkung“, 28.7.1951; Parteibericht, 30.7.1951; Information der Abteilung Massenorganisationen, 25.7.1950, in: ebd., Nr. 268.

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en, stieß bei der Bevölkerung nicht auf die von der SED erwartete Resonanz. Die HO-Waren seien immer noch viel zu teuer115, wurde argumentiert. Aus verschiedenen Ost-Berliner Betrieben, wie dem Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Treptow, hörte die Partei, die Kollegen würden lieber „für die Hälfte der Löhne arbeiten, wenn dafür die Preise gesenkt werden“.116 Wenngleich die HOPreissenkungen von den meisten Ost-Berlinern begrüßt oder doch „freundlich hingenommen“ wurden, ging das vielen, die vor allem den finanziellen Aufwand für Fleisch, Wurstwaren und Butter gesenkt sehen wollten, nicht weit genug. Billigere Marmelade117 reiche eben nicht aus, argumentierten sie. Ab Mitte der 50er Jahre zeigte sich in Ost-Berlin ein weiteres Problem: Von der SED nicht gewollt und von Wirtschafts- und Sozialpolitikern bekämpft, zeigten sich im Einzelhandel „schleichende Preiserhöhungen“118 mit beträchtlicher Wirkung auf die Berliner Bevölkerung. Das war für den Berliner Magistrat umso ärgerlicher, als er ständig auf die Preiserhöhungen in West-Berlin beispielsweise bei einigen Lebensmitteln – Butter, Margarine, Eier, Zucker, u.a.119 – verwies, aber verschwieg, das andere Waren billiger wurden oder die erhöhten Preise bei einer veränderten Marktsituation wieder sanken. Andere stiegen allerdings – wie bei Wasser und Strom – kontinuierlich an, und sie lagen bald deutlich höher als in Ost-Berlin. Aber auch das änderte wenig daran, dass Preisvergleiche in der Regel zu Gunsten des Westens ausfielen und deren Ergebnisse auf beiden Seiten Berlins verallgemeinert und nicht etwa nur von systemtragenden Gremien, sondern auch vom „kleinen Mann“ ideologisiert wurden.120 Für den internen Gebrauch stellte die SED zumindest bis 1952 Ost-WestPreisvergleiche zusammen, die freilich nicht die oft höhere Qualität der Westwaren berücksichtigten. 115 Vgl. Abt. Leitende Organe der SED-BL: „Tagesbericht Nr. 34, 18.8.1953, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 604. 116 Vgl. Stimmung und Argumente der Bevölkerung zum Vorschlag des Polit-Büros über die Erhöhung der Löhne und Gehälter“, 2.7.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 274. 117 Die Ost-Berliner Kinder machten sich darauf ihren respektlosen Reim: „Marmelade, Marmelade, Marmelade, die essen wir so gern. Mitschurin hat festgestellt, daß Marmelade Fett enthält. Drum essen wir zu jeder Speise Marmelade eimerweise.“ 118 Vgl. Entwurf einer Entschließung des 4. ordentlichen Verbandstages des Konsum-Genossenschaftsverbandes Groß-Berlin GmbH, April 1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 400, Bl. 35. 119 Vgl. Zusammenstellung, undatiert, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 120 „Guckt Euch doch bloß Eure Preise an, dann weißt du, wo es besser ist. Das Ziel, das uns [in West-Berlin] vorschwebt, ist auf Eure russische Art nicht zu erreichen.“, habe ein West-Berliner Arbeiter öffentlich unter Beifall erklärt. Amt für Information des Magistrats, Bericht: „Meinungsforschung in West-Berlin“, 23.4.1952, in: ebd., Nr. 5589.

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Tabelle 3: Preisvergleich (Stand:10. Mai 1952 bei einem Kursstand von 100 West- zu 400 Ostmark) Warenbezeichnung

Maßeinheit kg

Westsektoren (in Westmark) von bis 0,87 0,92

Ostsektor (in Ostmark) HO-Ware Kartenware 1,70 -

Mehl 40% oder Typ 550 Eier Fleisch, Roulade Fleisch, Schweinekamm Schinken Braunschweiger Heringe

Stck. kg kg

0,18 4,60 4,00

0,24 5,20 4,60

0,45 12,00 11,20

0,15 3,00 2,40

kg kg kg

6,80 4,40 0,10

7,60 5,60 0,20

17,00 15,00-16,00 3,40

4,80 1,60-1,72

Kabeljau Butter Margarine

kg kg kg

0,80 5,76 1,20

1,20 6,36 2,10

20,00 8,00

4,20 2,30

Schweinesalz Roggenfeinbrot Weißbrot

kg kg kg

2,80 0,76 0,87

3,60 0,88

16,00 0,60 1,20

2,60 -

Brötchen Cremetorte Reis

Stck. Stck. kg

0,05 0,50 1,30

0,75 1,70

0,06 0,90-1,80 3,60

0,36-0,44 -

Makkaroni Milch Zucker

kg Lt. kg

1,52 0,44 1,36

2,12 -

2,30 2,00 3,00

0,32 1,12

Kartoffeln Rosinen Spinat

kg kg kg

0,22 1,90 0,25

0,25 2,60 0,30

0,16-0,18 16,00 0,40-0,50

-

Rhabarber Möhren Schokolade, Halbbitter

kg kg 100g.

0,20 0,40 1,20

0,30 0,50 -

0,40-0,50 0,40-0,50 8,00

-

Pralinen Baumwolle Halbwolle

kg m m

10,00 2,50 4,50

14,00 10,50 16,50

20,00-28,00 8,75-14,00 21,00

-

Wolle Kleid, Zellwolle Kleid, Kunstseide

m Stck. Stck.

12,50 9,75 19,50

48,50 29,50 56,00

-

Herrenanzug, Wolle

Stck.

136,00

246,00

33,00 38,50-98,00 76,00108,00 200,00213,00

-

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Warenbezeichnung

Maßeinheit

Damenschuhe

Paar

Westsektoren (in Westmark) von bis 23,50 42,50

Herrenhalbschuhe

Paar

24,50

44,00

Herrenstiefel

Paar

34,50

44,50

Ostsektor (in Ostmark) HO-Ware Kartenware 67,0018,50-29,50 129,00 72,0018,50-28,50 123,00 121,00 -

Quelle: Magistratsanalyse, Stand: 10.05.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589.

Die Listen geben einen Einblick in das Niveau des Lebensstandards und erklären auf ihre Weise das Gesamtberliner Kaufverhalten. An Hand der Preise stellte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung seit 1950 wissenschaftlich fundierte Vergleiche der Lebenshaltungskosten an121 und die Westpresse „Einkaufskörbe“ zusammen.122

121 Vgl. insbesondere: Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, 17. Jg., Nr. 23, 2.6.1950 und Nr. 51, 15.12.1950, Berlin. 122 Da im Großen und Ganzen die Arbeiterlöhne in der „Sowjetzone“ und Ost-Berlin dem westlichen Lohnniveau (1950) entsprächen, sei der östliche Lebensstandard etwa nur halb so hoch wie der westliche. Beschränke man sich nämlich im Osten nur auf den „unbedingt notwendigen Lebensbedarf (Existenzminimum)“, so koste ein „notdürftig gefüllter Einkaufskorb“ in Ost-Berlin 162,20 Ostmark und in West-Berlin 158,50 Westmark, hieß es. „Sobald wir unsere Einkaufskörbe mit ,zusätzlichen‘ Waren des elastischen Bedarfs zu ergänzen beginnen, wie sie dem gehobenen Bedarf einer westdeutschen Arbeiterfamilie entsprechen und im Osten fast nur in den HO-Geschäften zu haben sind, werden die Rechnungsunterschiede überaus groß. 169,40 DM koste diese ,Korbergänzung‘ in Westdeutschland, 165,90 DM in Westberlin, in Ostberlin jedoch 449 DM-Ost und in der Sowjetzone sogar 501,50 DM-Ost.“ Ebd., 10.12.1950.

II. Wirtschaft und Soziales

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Tabelle 4: Preisvergleich der Einkaufskörbe für eine vierköpfige Familie (Stand: 10. Dezember 1950) in Westmark Nahrungsmittel Genussmittel Miete Heizung/Beleucht. Bekleidung Reinig./Körperpfl. Bildung/Unterhalt Hausrat Verkehr Summe:

Westdeutschl. 117.17,80 30,13,60 68,70 18,10 19,10 19,80 14,20 318,30

Westberlin 116,10 15,30 40,15,80 66,90 18,30 18,60 19,50 13,90 324,40

in Ostmark Ostberlin 188,50 41,70 38,12,20 207,10 29,20,50 55,40 18,70 611,60

Sowjetzone 235,41,70 30,12,20,207,10 29,10 20,50 55,40 19,50 650,50

Quelle: „Der Tag“, 10. Mai 1950.

2.3 Ungleiche Versorgungsprobleme Während in West-Berlin das Lebensmittelkarten-System 1949 endgültig abgeschafft worden war, blieb es in der DDR und in Ost-Berlin im Prinzip bis zum Jahre 1958 bestehen, wenngleich es für verschiedene Grundnahrungsmittel, etwa Getreideprodukte, Obst, Gemüse, Süßwaren u.a.m., schon vorher weggefallen war. Es betraf im Kern die Rationierung von Eiweißträgern, von Zucker und Fetten, an denen es mangelte, aber deren Verteilung es nach einem differenzierten System sicherstellte. Überdies bewirtschaftete der Staat bis zum Frühjahr 1953 auch Schuhe und Textilwaren auf der Basis von Punktkarten und Bezugsscheinen. Er regelte ebenfalls die Brennstoffbezüge per Karte – in späteren Zeiten allerdings unter dem Subventionierungsaspekt. Von Anfang an problematisch war die kontinuierliche Versorgung mit Braunkohlenbriketts, die häufig zu „harten Diskussionen“ in der Ost-Berliner Bevölkerung führte. Die von der „Kohlenkarte“ zugesicherten Mengen wurden oft nicht nach Vereinbarung oder nur teilweise geliefert, was drastische Kritik zur Folge hatte.123

123 Die Ost-Berliner höhnten: Der Braunkohlebergbau melde „dauernd die Überfüllung des Solls, wir hier merken aber nichts davon. Wenn man hört, dass tonnenweise Briketts nach Westdeutschland gehen, wir aber kalte Stuben haben, dann kann einem langsam der Hut hochgehen.“ „Bericht: Stimmung über die teilweise Aufhebung der Rationierung“, 10.1.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 267.

II. Wirtschaft und Soziales

301

Dennoch war die Kohlenversorgung in den Jahren 1950 bis 1952 im Osten immer noch besser als in West-Berlin. Ungünstige Umstände bei Produktion und Transport, aber auch alliierte Reserveauflagen führten dort 1951/52 zu einer signifikanten Brennstoffverknappung und ließen die offiziellen Preise hochschnellen.124 Zwar setzten ab Oktober 1951 über das Interzonenhandelsabkommen ostdeutsche Braunkohlelieferungen ein, aber in West-Berlin hieß die von Reuter ausgegebene Parole: „Wir müssen Strom sparen.“ Dennoch subventionierte der Senat für Rentner und Sozialhilfeempfänger die Kohlenpreise im Herbst 1951 weiter.125 Ab Mitte 1952 begann sich jedoch die Brennstofflage allmählich zu entspannen, wozu auch neue Lieferungen von preiswerten Briketts aus der DDR beitrugen.126 Diese Kohlenkrise stellte für West-Berlin den einzigen fühlbaren Versorgungseinbruch in Folge einer zu niedrigen Produktion dar, die in OstBerlin die Hauptursache des zentralen Problems Warenmangel blieb. Die offizielle Begründung von Ost-Berliner Versorgungsengpässen mit „falschen“ Warenstreu124 Anfang 1951 kosteten 50 kg Briketts in Ost-Berlin 1,92 Ostmark, während ihr Preis in West-Berlin von 2,29 auf 2,43 und im Juni 1951 auf 2,49 Westmark anstieg. Bereits im März hatte der Senat die Einführung von Kundenlisten angeordnet, um den Bedarf der Händler ermitteln zu können. Im Juli 1951 führte er auf dieser Grundlage eine erste Brennstoffzuteilung für 1951/1952 durch. Haushalte mit Ofenheizung erhielten 250 kg Briketts und 400 kg Steinkohle, die zunächst weniger knapp war. Im August 1951 wurde Rentnern als erste Lieferung ein außerplanmäßiger Kohlengutschein über 250 kg Briketts und 14 Westmark in bar zum Kauf dieser Menge überreicht. Im September 1951 erhöhte sich der Preis für 50 kg gepackter Briketts auf 2,71 Westmark. Zwei Monate darauf begann die offizielle Werbekampagne „Wie nutze ich am besten das knappe Brennmaterial aus?“ In ihrem Mittelpunkt stand ein „Aufklärungsfilm“. Gleichzeitig kaufte der Senat in Hessen, Niedersachsen und Bayern Brennholz auf. Ab Dezember 1951 wurden nun auch Steinkohlenprodukte knapper und teurer: Gaskoks kostete nun nicht mehr 5,18 Westmark pro 50 kg, sondern stieg bis zum Mai 1952 auf 5,38 Westmark an, Ruhrkoks von 5,08 auf 5,65 und Anthrazit-Eierkohle von 5,23 auf 6,68 Westmark. Hinter dieser Entwicklung stand nicht zuletzt der alliierte Wille, die Kohlenreserven West-Berlins aus strategischen Gründen auf eine Mio. t Kohle zu erhöhen. Überdies rangierte für die Westmächte der Kohlenbedarf für die Wirtschaft vor dem des individuellen Hausbrands. Vgl. „Der Tag“, 13.3.1951; „Der Tagesspiegel“, 3.7. und 20.11.1951; „Der Telegraf“, 20.11.1951 und 23.1.1952; „Die Neue Zeitung“, 21.11.1951 und 29.11.1951. 125 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 20.11.1951; „Der Telegraf“, 30.8.1952. 126 Im Mai 1952 hatten die Preise für 50 kg Braunkohlenbriketts der Marke „Union“ ihren Höchststand erreicht. Etwas billiger waren mit 3,32 Westmark nur die Briketts aus der Helmstädter Grube „Treue“. Gleichzeitig begann sich die Lage durch den Import von DDR-Braunkohlenbriketts – Ende 1951 waren es 486.000 t, 1952 bereits 680.000 t – zu stabilisieren. Auch war die „Ostkohle“ billiger (50 kg = 3,04 Westmark geschüttet; 3,14 Westmark gepackt), und von ihr konnten pro Haushalt bis zu 1.500 kg bezogen werden. Vgl. „Der Telegraf“, 30.8.1952.

302

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ungen, Fehlorganisationen sowie Transportdefekten diente vorrangig der Verschleierung des Grundübels Unterangebot, wenngleich sie zur Verschärfung konkreter Versorgungsprobleme, wie noch zu sehen sein wird, erheblich beitrugen. Von Anfang an war die durchgängige Diskrepanz zwischen den SED-Planzielen und ihrer effektiven Realisierung augenfällig. Dennoch frappiert heute, dass auch erfüllte und überfüllte Pläne, die es bei allen Schönfärbereien durchaus gegeben hat, offenbar nicht zu einer nachhaltigen Stabilisierung und zügigeren Verbesserung der Versorgung der Ost-Berliner mit Lebensmitteln und Industriegütern beigetragen haben. Zeigten sich selbst in relativ günstigen Planjahren mit ausgeglichenen städtischen Haushalten127 augenscheinliche Widersprüche zwischen den Zielen der einzelnen Wirtschaftszweige und den tatsächlichen Produktionsergebnissen der ihnen zugeordneten Betriebe, so drängt sich heute die Frage auf, wie das Versorgungssystem in schwierigen Wirtschaftsperioden aufrechterhalten werden konnte. Offenbar spielte erzwungener Konsumverzicht dabei eine Rolle, ebenfalls aber auch Sparsamkeitsregime, Kürzungsversuche im Verwaltungs- und sozialen Bereich sowie deutliche Abstriche bei den geplanten Investitionsvolumina.128 Vor allem aber wurde das bereits angeführte Missverhältnis von relativ schnell steigenden Löhnen und Gehältern sowie der weit dahinter zurückbleibenden Arbeitsproduktivität nicht aufgelöst, sondern im Gegenteil vergrößert. Überdies nannten interne Analysen andere schwere „Dellen“ am Körper der Ost-Berliner Planwirtschaft.129 All das bewirkte einen Anstieg der Kaufkraft, der keiner proportionalen Verstärkung des Warenangebots entsprach. Letztendlich führte dessen temporäre oder partielle Verbesserung nicht zur Käuferzufriedenheit, sondern heizte die prinzipiell nicht befriedigte Nachfrage immer wieder an. Die vergleichsweise niedrigen Preise für Grundnahrungsmittel, Waren des übrigen täglichen Bedarfs und Dienstleistungen führten in der Verbindung mit den gravierenden Angebotslücken bei hochwertigen Industrieerzeugnissen, Schuhen, Textilien u.a.m. zu Kompensations-Käufen von Lebensmitteln, die aber häufig ebenfalls nicht ausreichten, oder von Waren, die aktuell nicht benötigt wurden, aber gerade im Angebot wa127 Etwa im Jahr 1950. Das erlaubte u.a. eine Rentenerhöhung in Ost-Berlin unabhängig von DDR-Regelungen. Vgl. Magistratsvorlage Nr.501 für die Sitzung am 31.08.1950, in: LAB, C Rep. 100 05, Nr. 851, Bl. 18. 128 Vgl. Schreiben von Ulbricht an Nikita S. Chruschtschow, 3.5.1958, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/202/29, Bl. 3. 129 Der Ost-Berliner Wirtschaftsrat nannte immer wieder Planrückstände, die durch Material- und Arbeitskräftemangel, ungenügende Absatzmöglichkeiten (u.a. bei Chemieprodukten), Qualitätsdefizite, schlechte Leitungstätigkeit und hohe Ausfallzeiten, aber auch durch mangelnde Leistungsmotivation, wesentlich bedingt seien. Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL. Vorlage an das Büro der BL: „Einschätzung der Planerfüllung 1. Halbjahr 1960, in: LAB, C-Rep. 902, Nr. 431, Bl. 12–22.

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ren. Sieht man einmal von akuten Krisensituationen in der DDR und Ost-Berlin – etwa 1952/53 und 1960 bis 1963 – ab, fehlten bestimmte Produkte seltener lang- als kurzfristig. Als Mangelwaren oder „Engpassartikel“ bekannt, verschwanden sie periodisch, um irgendwann wieder aufzutauchen. Zum Mangel trugen „Angsteinkäufe“ bei, ein ständig reproduziertes „Hamstern“ aus der Sorge heraus, gerade angebotene Waren würden schon morgen nicht mehr zu haben sein. Ein Gerücht genügte, und der Ansturm auf im Normalfall Ausreichendes begann und führte dann zu einer tatsächlichen Verknappung. Aber auch kurzfristige Produktionsausfälle in sensiblen Versorgungsbereichen verschärften an sich schon angespannte Lagen zusätzlich. Als beispielsweise im November 1960 der VEB GroßBerliner Vieh- und Schlachthof wegen einer Epidemie (Maul- und Klauenseuche) gesperrt wurde, musste der Bevölkerungsbedarf auch deshalb zurückgefahren werden, weil der Export von Schweinefleisch nach West-Berlin Vorrang besaß.130 Ost-Berliner „Engpässe“ traten zu charakteristischen „Spitzenzeiten“ ein: Bei Fetten, Fleisch- und Wurstwaren, Fettkäse und Nährmitteln tauchten sie massiv vor Feiertagen auf. Es brachen regelrechte „Weihnachts“- und „Oster-Krisen“ aus, die sich auch auf den Industriegüterbereich erstreckten und jedes Mal Anlass für in der Regel verspätete hektische Sofortmaßnahmen gaben.131 Um die Bevölkerung zu besänftigen, erhöhte die Regierung für Ost-Berlin beispielsweise die von der Staatlichen Plankommission festgelegten Kontingente von Fleisch, was zu Lasten der übrigen DDR-Bezirke ging und die festgelegten Verbraucherkennziffern gründlich durcheinanderbrachte.132 Wurde es heiß, gingen in der Regel die alkoholfreien Getränke133 aus; im Spätsommer, wenn auch die Ost130 Vgl. Informationen des Bevollmächtigten der Zentralen Kommission für staatliche Kontrolle in Groß-Berlin „zur Durchführung des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrats vom 10.11.1960“, 22.11.1960, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 107. 131 Die Fehllisten wurden immer länger. Sie führten sowohl wichtige Lebensmittel und Industriegüter – vor allem die „tausend kleinen Dinge“ des Alltags –, aber auch Pannen in der Kohlenversorgung und im Dienstleistungsbereich auf, Mitte Dezember 1960 zählten Mitarbeiter des Ministeriums für Handel und Versorgung in einem hauptstädtischen Kaufhaus innerhalb nur einer Stunde 200 Kunden, die vergeblich nach bestimmten Waren fragten. Vgl. ebd. und Informationen desgl. vom 15.12. und 19.12.1960 „zur Durchführung des Beschlusses des Präsidiums des Ministerrates vom 10.11.1960“, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 107. 132 Das Fleischkontingent für Ost-Berlin (3. und 4. Dekade) war mit 730,4 t beziffert, aber insgesamt mit 546,7 t überzogen worden. Vgl. Information vom 19.12.1960, in: ebd. 133 Das sei in jedem Jahr so, merkten die Verantwortlichen lakonisch an. Die unzureichende Versorgung führe aber leider „zu großer Verärgerung breiter Kreise der Bevölkerung und schädige das Ansehen der Republik“. Den Berlinern müsse „unverständlich bleiben, dass Produktion und Handel nicht einmal diesen einfachen Bedarfswünschen entsprechen

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Berliner reichlich Obst und Gemüse einweckten, wurde der Zucker knapp, zu Ostern fehlte es an „kakaohaltigen Erzeugnissen“, ab Oktober an „einfachem Gemüse“ und im Frühjahr häufig an Hülsenfrüchten und Eiern.134 Ähnliche Beispiele lassen sich auch für industrielle Waren nennen, so, wenn zum Schuljahresbeginn und nach den Winterferien zu wenig Lernmaterial angeboten wurde und Schreibhefte periodisch ausgingen. Interessanterweise erweckte gerade dieser Umstand den Volkszorn.135 In der Regel entflammte er aber, wenn „magische“ Waren des täglichen Lebensmittelbedarfs knapp wurden: Butter, Margarine und Wurstwaren. Sie besaßen einen hohen symbolischen Wert. Fehlte die „gute Butter“, brachte das die Bevölkerung am ehesten mit dem Sozialismus in einen ursächlichen Zusammenhang, und es war die Butter, die den politischen Witz der Ost-Berliner am meisten herausforderte.136 Zur allgemeinen Verärgerung trug häufig auch bei, dass wichtige Lebensmittel durch Verschulden des sozialistischen Groß- aber auch Einzelhandels in schlechter Qualität angeboten wurden. Frisches Gemüse verdarb, weil es irgendwo zu lange oder unsachgemäß gelagert wurde137, und die dringend benötigten Einkellerungskartoffeln verfaulten, weil es an Arbeitskräften fehlte, sie zu sortieren.138 Offenbar gehörte die Kartoffelfrage für die Ost-Berliner Versorgung zu den zentralen, auch die Aufmerksamkeit des Ministerrats erregenden Problemen.139 Zu den häufigen „Schlampereien“ gehörte

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können“. Bericht des Bevollmächtigten der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle in Groß-Berlin, 6.10.1959, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 455. Vgl. „Bericht über die Handelsbesprechung“, 3.3.1953, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 605. So protestierten die Hausvertrauensleute des Stadtbezirkes Berlin-Mitte gegen den Mangel an Schulheften für die Kinder: „Die sollen mal weniger Flugblätter herausgeben“, ließ man die SED-Führung wissen. Vgl. Bericht des Sektors Parteiinformation der SED-LL, 8.3.1951, in: ebd., Rep. 901, Nr. 267. Bis weit in die 50er Jahre hinein sprachen die Ost-Berliner von der nicht gerade qualitätvollen Margarine als „Stalinbutter“. In den Großbetrieben der Teilstadt wurde gewitzelt: „Kollege, geh doch einmal in den Speiseraum, da ist das letzte Stück Butter ausgestellt, welches es in der DDR gibt.“ „Informationsnotiz“ der SED-BL Berlin, 11.12.1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 626. Immer wieder wurde beklagt, dass Kohl und anderes aus der „Republik“ bezogenes Gemüse von schlechter Lieferqualität sei und überdies falsch gelagert werde. Bis zu 80 Prozent der Lieferungen, hieß es im Frühjahr 1953, seien „nicht für den Verbrauch zu verwenden“. „Bericht über die Handelsbesprechung“, 3.3.1953, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 605. Vgl. dazu auch Information, 26.8.1960, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 107. Vgl. Information, 1.12.1960, in: ebd. Vgl. das mahnende Schreiben des stellv. DDR-Ministerpräsidenten Fred Oelßner an OB Ebert, 17.10.1957, in. ebd., Nr. 100.

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auch, dass an sich vorhandene Waren – wie Sauerkraut140 – nicht oder nur verspätet ausgeliefert wurden, weil die personellen oder technischen Voraussetzungen fehlten, manchmal aber auch nur Verpackungen oder kleine Verschlussteile.141 Darüber hinaus verschlechterte sich bei einer Reihe von Produkten des Alltagsbedarfs die Qualität. Mitte der 50er Jahre war das u.a. bei der „Volksnahrung“ Bier der Fall.142 Auch bemängelten viele Ost-Berliner die schlechten Einkaufsmöglichkeiten in verschiedenen Teilen der Ost-Berliner Metropole. Nach Feierabend bekämen viele Werktätige insbesondere in Obst- und Gemüseverkaufsstellen kaum noch etwas, klagten berufstätige Frauen.143 Vor allem nach 1955, als es wirtschaftlich aufwärts zu gehen schien, mehrten sich die Beschwerden über verschiedene Dienstleistungen, die mehr oder minder mit dem Einkauf in Verbindung standen. So wurde augenfällig, dass die S-Bahn und die Verkehrsmittel der OstBVG – „stark veraltet und reparaturanfällig“ – gerade im Berufs- und Einkaufsverkehr überlastet waren.144 Harsche Beschwerden hagelte es auch gegen die im Vergleich mit West-Berlin unterentwickelte und wenig besucherfreundliche Gastronomie145 Ost-Berlins und über die zumeist technischen Dienstleistungen, die 140 Sauerkraut sei in den Lagern en gros vorhanden, meldete der Bevollmächtigte der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle, es fehlte jedoch an Arbeitskräften, um es „von den Bottichen in handelsübliche Fässer umzufüllen“. Information, 1.12.1960, in: ebd., Nr. 107. 141 So konnten alkoholfreie Getränke nicht ausgeliefert werden, weil für die Flaschen schlicht die Kronenkorken fehlten. Vgl. Information, 14.3.1960, in: ebd. 142 1955 mussten zusätzlich 750.000 hl Bier produziert werden, schloss die Abteilung Handel und Versorgung des Magistrats eine realistische Analyse ab. Doch seien die bautechnischen Anlagen der Brauereien mit 25 bis 30 Jahren überaltert. Zwar sei der Plan 1954 mit 114,7 Prozent übererfüllt worden, doch dürfe das „nicht darüber hinweg täuschen“, dass der Bevölkerungsbedarf damit nur zu 60 bis 70 Prozent gedeckt und dabei die Qualität des Biers verschlechtert worden sei. Denn statt der sechs bis acht Wochen Mindest-Lagerzeit habe es nur 14 Tage gelagert. Ohne diese Verkürzung hätte es aber in Ost-Berlin drei bis vier Wochen lang überhaupt kein Bier gegeben, lautete der Kommentar. Bericht der Abt. Handel und Versorgung des Magistrats an das Büro der SED-BL Berlin „über die gegenwärtige Getränkeversorgung“, 18.8.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 193, Bl. 155. 143 Vgl. den typischen Beschwerdebrief einer Ost-Berliner Arbeiterin (Anita Fischbech) an den Stadtrat für Handel und Versorgung (Krebs), 26.11.1957, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 362. 144 Vgl. Vorlage der SED-Abteilung Wirtschaftspolitik an das Büro der SED-BL: „Betr. Maßnahmen zur Verbesserung des Verkehrswesens,“ 3.8.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 192, Bl. 4, 40. 145 Gäste beschwerten sich immer wieder über lange Wartezeiten, unfreundliche Bedienung, schlechte Organisation und Nachlässigkeiten in den Gaststätten, hier im „Terrassen Cafe“ des Ost-Berliner Tierparks. Vgl. Schreiben einer Besucherin an die Leitung des Tierparks, 21.3.1957, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 362.

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der Haushaltsentwicklung in Küche und Wohnstube – trotz einiger Verbesserungen im Ost-Berliner Servicesystem – hinterherhinkten.146 Andererseits vollzog die Ost-Berliner Planwirtschaft seltsame „Bocksprünge“ in eine andere Richtung: Bereits Anfang der 50er Jahre kam es zu Erscheinungen von Überproduktion. Beispielsweise bei Gemüse war das weniger auf gute Erntejahre als auf die administrative Erweiterung von Anbauflächen zurückzuführen. Das führte bei der „ungenügenden Abstimmung“ des Anbaus entsprechender Feldfrüchte zeitweilig zu „Schwemmen“. Sie traten, bei ebenfalls extensiver Erweiterung der Produktionsanlagen, manchmal auch bei Eiern auf.147 Gelegentlich kaufte der sozialistische Großhandel, weil soeben ein Mangel signalisiert worden war, in der Bundesrepublik beispielsweise so viel Fisch ein, dass Ost-Berlin damit besser beliefert war als der Westteil der Stadt und im Osten vorübergehend ein Überangebot herrschte.148 Die bis Ende 1952 in Ost-Berlin fehlende Warenbedarfsermittlung ging manchmal eine eigenartige Symbiose mit wie auch immer zustande gekommenen Fehlplanungen ein. Als im Oktober des gleichen Jahres die Einkellerungskartoffeln angeliefert wurden, die mit 19.500 t geplant und ausreichend waren, stellte der Magistrat eine Menge von 34.900 t fest.149 Dieser besonders drastische, aber keineswegs singuläre Fall veranlasste die Stadtregierung, endlich eine „systematische Bedarfsermittlung“ einzuführen, wie sie das DDR-Ministerium für Handel und Versorgung einige Wochen zuvor in einer Richtlinie nahegelegt hatte. Ziel des Magistrats war es, die „strukturellen Schwierigkeiten bei der Aufstellung und Anleitung der Pläne“ zu beseitigen und die inzwischen „eingeschlafenen Marktbesprechungen“ neu zu organisieren.150 Für eine sozialistische Marktforschung war es höchste Zeit, denn es zeigten sich gerade im Bereich industriell erzeugter Waren

146 Zwar habe sich das Netz der technischen Dienstleistungen insgesamt verbessert, meinten die Gewährsleute des Magistrats, doch gelte das nicht für den Kunden- und Reparaturdienst u.a. für Rundfunk- und Fernsehgeräte. Im ersten Halbjahr 1959 seien bereits 41.608 Fernseher und 490.000 Radiogeräte verkauft worden und die im Plan vorgesehen Zahlen für das gesamte Jahr würden überschritten werden. Dieser Zuwachs sei größer als der der Reparaturkapazitäten. In den insgesamt 67 Ost-Berliner Vertragswerkstätten seien mit drei bis fünf Wochen erhebliche Wartezeiten entstanden, die weiter zunehmen würden. Vgl. Information, 28.12.1959, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 107. 147 Vgl. Information, 29.12.1960, in: ebd. und Magistrat, Plankommission: Geheime Verschlusssache, „Analyse über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes, I. Quartal 1955 in Berlin,“ 22.4.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 230, Bl. 110. 148 Vgl. Berliner Informations-Briefe, 27. Jg., Nr. 5, 28.1.1959, S. 5. 149 Vgl. „Maßnahmen aus dem Bericht der Abt. Handel und Versorgung, Stadtrat Schiffmann, vom 5.11.1959 zur Kartoffel-Situation,“ in: ebd., C Rep. 100–105, Nr. , Bl. 190f. 150 Magistratsvorlage Nr. 1194, 24.11.1959, in: ebd., Nr. 872, Bl. 94.

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bedenkliche Absatzschwierigkeiten. So traten „Warenstaus“ bei bestimmten Textilien – etwa bei Damenstrümpfen aus Kunstseide – ein.151 Dabei handelte es sich konkret jedoch nicht um eine Überproduktion, sondern, da der Bedarf an diesem Artikel anhaltend groß war, um eine „Unterkonsumption“. Sie kam zustande, weil verschiedene Waren nicht oder nicht mehr den Käuferwünschen entsprachen; die Ware war unmodern, häufig aus qualitativ minderem Material und so ihren relativ hohen Preis nicht wert. Der Nichtverkauf belastete, wie an anderer Stelle ausgeführt wird, die Produktion und den Handel. Modische Kleidung werde entweder individuell gefertigt oder in West-Berlin gekauft, erkannten einige Handelsfachleute und SED-Wirtschaftspolitiker. Sie wandten sich energisch gegen die vom Anwachsen der „erheblichen“ textilen Lagerbestände abgeleitete Folgerung, dass der Bevölkerungsbedarf gedeckt sei: „Mängel im Sortiment, in der Qualität und der modischen Gestaltung“ seien die Ursache für „Ladenhüter“. Und die bisherige Preispolitik, „das starre Festhalten an den einmal festgesetzten Einzelhandelspreisen ohne Rücksicht auf den Gebrauchswert der Waren“, sei zu einem schwerwiegenden Produktionshemmnis geworden.152 Jetzt rissen Ost-Berliner Magistrat und Handel das Steuer herum: Ab Ende 1956 versuchten sie, den bislang unverkäuflichen Lagerbeständen vor allem an Bekleidung und Haushaltstextilien durch die Einrichtung zahlreicher Billigwaren-Läden (Biwa) Herr zu werden. Die steigende Tendenz der Veralterung nicht nur von Bekleidung, sondern auch von elektronischen Produkten führte angesichts der Verärgerung der Kunden beim Handel zu typischen Reaktionen: Die neuesten DDR-Fernseher seien eben nicht auf dem Markt, also müsse sich der Kunde mit den älteren Modellen begnügen.153 Bis 1958 hatte die Lebensmittelrationierung und die Frage ihrer Aufhebung für die DDR – vor allem aber für ihr Ost-Berliner „Schaufenster“ – ein durchgängiges Problem dargestellt. Das Kartensystem war für viele Betroffene, die immer auch den marktwirtschaftlichen Westen sahen, ein Übel, aber das geringere im Vergleich mit den hohen HO-Preisen. Die Lebensmittelkarten sicherten auf niedri151 Vgl. Schreiben der Magistratsabteilung Handel und Versorgung an die Plankommission von Groß-Berlin, 2.4.1953, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 605. 152 Vorlage der Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL an das Büro der BL, 3.5.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 255/1, Bl. 61f. 153 Eine Kundin wollte ein modernes Fernsehgerät („Dürer“) aus der DDR-Produktion erwerben, erhielt aber vom Magistrat die Antwort, dieser Typ würde nicht ausreichend produziert; sie solle auf den schneller lieferbaren, aber veralteten Apparat „Rubens“ mit einer sehr kleinen Bildfläche zurückgreifen. Dieser sei „technisch einwandfrei und die Größe der Bildröhre ist für den Gebrauch in der Wohnung ausreichend“. Schreiben von Stadtrat Max Schneider an Frau Käthe Blessing, 28.5.1958, in: ebd., Nr. 362.

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gem Versorgungsniveau den täglichen Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu erschwinglichen Preisen. Ihre volle oder teilweise Aufhebung brachte die Gefahr von erheblichen Preiserhöhungen mit sich. Deshalb hatten sich nicht wenige OstBerliner gegen eine teilweise hundertprozentige Preiserhöhung gewehrt, die der Wegfall der Rationierung von Brot und anderen Getreideprodukten im Januar 1951 mit sich brachte. Zwar wurde diese Preissteigerung aus politischen Gründen abgemildert, aber ein Argument der Bevölkerung blieb bestehen: Lieber das Kartensystem beibehalten als es zu unseren Lasten abschaffen154. Diese Forderung wiederholte sich, als 1953 die Rationierung für Textil- und Schuhwaren wegfiel und vor allem Straßenschuhe, die auf Bezugsschein 30 Ostmark kosteten, teurer wurden155. Doch lag das eigentliche Problem im Lebensmittelbereich und vor allem – wie bereits angedeutet – bei Fleisch, Wurst und Milch, aber auch Zucker und Fetten. Für die Führung der SED war die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, die als einziger europäischer Staat noch auf der Basis von Lebensmittelkarten wirtschaftete, aus Imagegründen mit der vollen Abschaffung des Rationierungssystems verbunden. Perspektivisch gebot das auch die innere Stabilisierung der realsozialistischen DDR und ihrer Hauptstadt. Die SED wusste darum, zögerte aber diesen Schritt in der richtigen Erkenntnis hinaus, dass er die Nachfrage nach Lebensmitteln möglicherweise sprunghaft erhöhen würde. Es war also nicht in erster Linie eine Frage des Geldes und der Preise, die natürlich als Konsumstimuli von einiger Bedeutung blieben, sondern das Problem, wie man den in jedem Fall erhöhten Bedarf auf der Basis des fatalen Kaufkraftüberhangs decken sollte. Die Subventionskosten infolge der Abschaffung der Bewirtschaftung gab Grotewohl intern mit 1,6 Mrd. Ostmark pro Jahr an. Bereits 1957 wusste die DDRRegierung, dass mit zusätzlichen Lebensmittellieferungen aus der UdSSR nicht zu rechnen war156, Moskau aber gleichzeitig auf die Abschaffung des Rationierungssystems drängte. Es passte eben nicht ins „Schaufenster“- und Überlegenheitskonzept des realen Sozialismus157; es diskreditierte ihn. Die DDR- und Ost-Berliner 154 Vgl. Bericht: „Stimmung über die teilweise Aufhebung der Rationierung“, 10.1.1951, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 267. 155 Informationsnotiz, Nr. 210, 13.4.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 601. 156 Grotewohl meinte, dass die notwendigen Subventionen nicht das Problem seien, weil sie „voll an den Staat zurückflössen“. Da man aus eigener Kraft zur Deckung des größeren Lebensmittelbedarfs aber nicht in der Lage sei, müsse man sehen, welcher Staat im Stande sei, „uns gegenwärtig diese großen Mengen an Nahrungsmitteln […] zu liefern“. Das sei „die größte und schwierigste Frage“. In den Verhandlungen mit der sowjetischen Regierung sei aber klar geworden, dass diese Warenfonds nicht beschafft werden könnten, auch von der Sowjetunion nicht, resümierte er. „Besprechung [Grotewohls] mit den Leitern der Auslandvertretungen,“ 21.–24.1.1957, in: PAAA/MfAA, A 15472, Bl. 26f. 157 Vgl. Lemke, Einheit oder Sozialismus?, S. 415f.

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Administration bereitete das Unvermeidliche sorgfältig vor. Prinzip war, die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, die Versorgung vor allem in sensiblen Bereichen durch Übergangsregelungen zu sichern und neue, sozial verträgliche Preise festzulegen. Da die Preise in den vom Rationierungswegfall betroffenen Warenkategorien prinzipiell erhöht wurden, mussten für verschiedene Einkommensgruppen der Bevölkerung Zulagen, teilweise aber auch Lohn- und Gehaltserhöhungen, gezahlt werden158, die man in West-Berlin aufmerksam registrierte.159 Wenngleich einige HO-Preise gesenkt wurden (Kakao, Schokolade, Reis, Pfeffer, Rosinen), was aber kaum ins Gewicht fiel, weil sie immer noch weit höher als im Westen lagen, erhöhten sich die neuen Einheitspreise gegenüber denen des Kartensystems im Prinzip um mehr als das Doppelte. Viele Arbeiter, so berichtete man in West-Berlin, murrten, sie lebten jetzt schlechter als früher. In der Tat musste eine Familie mit mittlerem Einkommen für den gleichen Warenkorb etwa 5,7 Prozent mehr aufwenden als vor der Aufhebung der Rationierung. „Absolut lagen die erforderlichen Ausgaben wieder auf dem (relativ hohen) Niveau des Jahres 1953 […]. Ende 1958 mussten für Waren des Einzelhandels und Dienstleistungen nach DDR-internen Angaben durchschnittlich 20 Prozent und nach DIW-Angaben 29 Prozent mehr als in Westdeutschland bezahlt werden.“160

158 In Ost-Berlin sollten die etwa 250.000 Rentner und Unterstützungsempfänger einen Zuschlag von monatlich 20 Ostmark, die 26.000 Lehrlinge von 15 sowie die Fachschüler und Studenten von 10 Ostmark erhalten. Eine neue „Lohnzuschlags-Verordnung“ regelte für ca. 485.000 Arbeiter und Angestellte die Höhe von Zuschlägen und Ausgleichsbeträgen. Lohnerhöhungen waren für 5.500 Meister, 2.000 Arbeiter der Energie- und Gasversorgungsbetriebe und 4.200 Magistratsangestellte geplant. Bei Engpassprodukten – wie Milch – wurden Bezugsanmeldungen unter besonderer Berücksichtigung von Kindern vorgenommen. Ein „Operativstab des Magistrats“ übernahm die Leitung aller Maßnahmen, die sich aus der Kartenabschaffung ergaben. Vgl. Fernschreiben des Amtierenden OB Schmidt an alle Bezirksbürgermeister, 30.5.1958, in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5535, Bl. 3. 159 Das Gesamtberliner Büro führte u.a. an, dass der Mindestlohn in Ost-Berlin auf 220 Ostmark heraufgesetzt sei und Lohnerhöhungen bei Einkommen bis 380 Ostmark vorgenommen würden, ein gestaffelter Lohnzuschlag von 5 bis 14 Ostmark bei Löhnen und Gehältern bis 800 Ostmark und überdies ein Ehegattenzuschlag von monatlich 5 Ostmark. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.09.1958, in ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bd. 33. 160 André Steiner, Abschnitt 4 b, Preisgestaltung, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9 1961–1971, Deutsche Demokratische Republik. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung, Bandherausgabe: Christoph Kleßmann, Baden-Baden 2006, S. 295.

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Tabelle 5: Vergleich der neuen Ost-Berliner Einheits- mit den alten Kartenpreisen (Stand: September 1958) Waren

Einheit

Zucker Rindfleisch Schweinefleisch Mettwurst Butter Speiseöl Vollmilch Eier

Kg Kg Kg Kg Kg Kg Kg Stk.

Kartenpreis

Alter HOPreis

1,08 3,14 2,86 4,30 4,20 2,80 0,28 0,13

3,00 10,80 11,20 14,40 19,20 6,00 1,12 0,32

Neuer Festpreis 1,92 9,60 8,80 8,40 9,80 4,40 0,80 0,32

Durchschnittspreis in der Bundesrepublik 1,24 5,10 5,40 5,59 7,01 2,33 0,43 0,20

Quelle: Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1958, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 2 ff.

Überdies führten ein kurzfristig einsetzender Mangel insbesondere an Fleisch und Wurst sowie die damit verbundene Beunruhigung bei vielen privaten Fleischern Ost-Berlins zur Aufgabe ihrer Geschäfte. Das wiederum interpretierte die SED als vom Westen organisierte Massenbewegung zur Destabilisierung der realsozialistischen Verhältnisse161, doch festigte sich das neue Preissystem relativ schnell. Es führte aber nicht zu einer deutlichen Verbesserung der Ost-Berliner Versorgungslage. Dennoch vermittelten die großen Anstrengungen der Planwirtschaft und das engagierte Bemühen flexiblerer Wirtschaftsfunktionäre und der Verantwortlichen für den Handel zeitweilig, dass es auch mit der Bevölkerungsversorgung aufwärts gehe. Bewunderungswürdig war das Improvisationsvermögen einiger „Manager des Mangels“. Immer wieder aber traten in Ost-Berlin erhebliche Rückschläge wie auch kleine „Pannen“ ein – etwa wenn „schlagartig“ und verbunden mit einer starken Werbung überall in den Läden eine neue Margarinesorte auftauchen sollte, aber in der ganzen Stadt von ihr keine Spur zu finden war162. Das belustigte und verärgerte zugleich. Nach 1958 intensivierte sich die Kritik der Ost-Berliner an der Bevölkerungsversorgung deutlich, jetzt zeigte sich aber neben den Beschwerden ein stärkerer Wille, die Lage konstruktiv zu bessern. Parallel dazu nahmen die Verantwortlichen im Magistrat die „Eingaben“ ihrer Bürger noch ernst. 161 Der Senat hob die negativen Seiten der Abschaffung des östlichen Kartensystems hervor und überzog dabei die entstandenen Nachteile. Allerdings stimmte, dass in Ost-Berlin viel Skepsis artikuliert wurde, und es traf auch zu, dass von den 560 privaten Fleischerläden in Ost-Berlin 86 innerhalb weniger Tage aufgegeben wurden. Vgl. Berlins West-OstProbleme, Stand: 15.9.1958, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 33. 162 Vgl. Schreiben des Ministers für Handel und Versorgung Merkel an den Ständigen Vertreter des OB Schmidt, 8.8.1959, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 100.

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Die Abteilung Handel und Versorgung fertigte sorgfältige Analysen über die Zahl und Herkunft der Beschwerdeführer, deren soziale Zusammensetzung, die Inhalte ihrer Kritik sowie eine Hierarchie der Fragen und Probleme an.163 Es fehlte also auch hier nicht an Erkenntnissen, sondern an Möglichkeiten, sie umzusetzen. So war der Öffentlichkeit auch bewusst, dass der nach 1956 beschleunigte Abbau privatwirtschaftlicher Einzelhandelsgeschäfte und Großhandelsunternehmen in Ost-Berlin, aber auch von privaten Industrie- und Handwerksbetrieben, die Bevölkerungsversorgung deutlich beeinträchtigte, aber die Politik nichts dagegen unternahm.

2.4 Der Niedergang der Privatwirtschaft in Ost-Berlin 2.4.1 Groß- und Einzelhandel Im Gegenteil geriet die Geschichte Ost-Berlins nach 1948 zu einer Chronik des Niedergangs privater Unternehmungen, was für die Konkurrenzfähigkeit der realsozialistischen Wirtschaft gegenüber West-Berlin fatal war. Dass der Abbau des privaten Sektors in der DDR- und Ost-Berliner Gesamtwirtschaft von der SED gewollt war und gezielt betrieben wurde, ist bekannt.164 Aber gerade dieser Abbau spielte auf Grund seiner auch von Kleinunternehmen geprägten und über Jahrzehnte tradierten Struktur in Berlin hinsichtlich der Bevölkerungsversorgung mit Waren und Dienstleistungen eine beträchtliche Rolle – direkt und mittelbar. Seit 1948 ging in Ost-Berlin der Anteil des privaten Einzelhandels sowohl an Verkaufsstellen als auch am Handelsgesamtumsatz zu Gunsten der staatlichen Einrichtungen Konsum und HO kontinuierlich zurück. Dennoch existierten 1952 in Ost-Berlin noch 5.738 private Lebensmittelläden, davon 1.689 Fleischereien und Bäckerläden, während Konsum und HO zusammen nur über 1.698 Lebensmittelverkaufsstellen verfügten, aber bereits 64,1 Prozent des Einzelhandelsumsatzes realisierten.165 Dieses augenscheinliche Missverhältnis entstand vor allem durch die weitaus bessere Warenbelieferung für die staatlichen Läden, die 163 Vgl. exemplarisch: „Quartalsanalyse der im I. Quartal 1960 eingegangenen Vorschläge, Kritiken und Beschwerden der Bevölkerung“, 4.5.1960, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 456. 164 Vgl. dazu Monika Tatzkow, Privatindustrie ohne Perspektive. Der Versuch zur Liquidierung der mittleren privaten Warenproduktion, in: Jochem Cerny (Hrsg.), Brüche, Krisen, Wendepunkte, Neubefragung der DDR-Geschichte, Leipzig/Jena/Berlin (O) 1990, S. 97–102. 165 Hinzu kamen 1.870 private bei nur 108 HO- und Konsum-Gaststätten. Vgl. SED-Sekretariatsvorlage: „Die gegenwärtige Lage im Berliner Handel“, 2.2.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 158, Bl. 58.

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freilich oft auch größer und moderner waren. Eine besondere Rolle hatte der in Berlin traditionell starke Großhandel gespielt. Nach den allgemeinen Repressionen gegen Private im zweiten Halbjahr 1952 und in den ersten Monaten des Folgejahres war er bereits wesentlich eingeschränkt und teilweise unter Treuhandverwaltung gestellt worden.166 1950 hatten in Ost-Berlin noch insgesamt 1.749 private Großhandelsbetriebe bestanden. Tabelle 6: Rückgang des Ost-Berliner privaten Großhandels Branche Elektrotechnik Chemische Industrie Holzbearbeitung Textilindustrie Konfektion Leder, Schuhe Nahrungs- und Genussmittel

1952 43 162 48 56 3 10 140

1957 21 71 57 19 4 6 50

Quelle: Abt. Handel und Versorgung des Magistrats, 7. September 1957, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 600.

Ihre gänzliche Abschaffung verhinderten zunächst der „Neue Kurs“ und die Folgen des 17. Juni 1953, seine relative Erholung setzte 1956 im Umfeld von „Entstalinisierung“ und ideologischem „Tauwetter“ ein. Die SED sah den privaten Großhandel nun nicht mehr als direkten politischen Gegner an, der sowieso nur über wenig Handlungsspielraum verfüge.167 Der Blick auf ihn ist schon deshalb vonnöten, weil er vorrangig den nichtstaatlichen OstBerliner Einzelhandel versorgte. Auch der private Einzelhandel geriet 1952/53 in 166 Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL, Arbeitsplan II. Quartal 1953, 31.3.1953, in: ebd., Nr. 166, Bl. 69. 167 Die „kapitalistischen Großhändler“ seien durch Verordnungen und Gesetze sowie den „starken sozialistischen Großhandel in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt, so dass von ihnen keinerlei Störungen in der Versorgung der Bevölkerung mit den wichtigsten Bedarfsgütern ausgehen können“. Im Gegenteil wollten sie dem Staat loyal gegenüberstehen „und ihn sogar unterstützen, wenn dadurch die eigene Existenz gesichert wird. Die in den vergangenen Jahren erfolgten Maßnahmen gegenüber dem privaten Großhandel wurden durch die örtlichen Staatsorgane nicht immer mit der notwendigen politischen Sorgfalt durchgeführt. […] Die bisherige Einstellung gegenüber den privaten Großhändlern […] ist ein Ausdruck der dogmatischen Übernahme der Lehre Stalins von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus.“ So sei es nicht richtig, „in jedem Vertreter des Mittelstandes eine unsichere Person oder sogar einen Gegner der Arbeiterklasse zu sehen. Der Mittelstand ist vielmehr im Geiste des Sozialismus umzuerziehen“.

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den Strudel repressiver SED-Maßnahmen und wurde ebenfalls durch den „Neuen Kurs“ und den Volksaufstand 1953 in der Art „rehabilitiert“, dass er wieder mit den notwendigen Waren beliefert wurde und am sozialistischen Aufbau OstBerlins teilnehmen durfte. Kurzfristig bezog die Versorgungspolitik die privaten Ladenbesitzer sogar in die „Bedarfsermittlung“ und in die „ehrenamtliche Marktbeobachtung“ durch den Magistrat und die gesellschaftlichen Organe ein.168 Aber auch das baute das latente Misstrauen der Privaten gegenüber dem politischen Zickzack-Kurs der SED nur schwer ab. Zu Recht, wie sich zeigen sollte. Hatte der Magistrat in der „Liberalisierungs“-Periode des Jahres 1956 noch die Versorgungsverdienste des privaten Einzelhandels herausgestellt, der seinen Umsatz im ersten Fünfjahresplan (1951–1955) auf 101,4 Prozent steigerte, obwohl sich die Zahl seiner Verkaufsstellen um 26 Prozent verringert hatte, sah man im Ost-Berliner „Roten Rathaus“ darin „eine gewisse Konzentration des privaten Handelskapitals“, was nichts Gutes bedeutete. In der Tat erfreuten sich einige bestens geführte Lebensmittelhandlungen wie Guttmann in Köpenick und Bowitz – ausgerechnet in der Stalinallee – eines guten Rufs und eines überproportionalen Umsatzes, den sie in kurzer Zeit verdreifachten.169 Das konnte nicht im Sinne der sozialistischen Planwirtschaft und des Führungsanspruchs ihrer Apologeten sein. Wenngleich Magistrat und SED-Bezirksleitung weiter plakativ von der Notwendigkeit „der Verbesserung der Lage des privaten Einzelhandels“ sprachen, befanden sie sich seit 1957 faktisch im „Rückwärtsgang“. Das bedeutete vor allem, die Privaten für den Kommissionshandel zu gewinnen, was ihnen zusätzliche Warenlieferungen und Umsatzsteigerungen durch die Aufhebung von Kontingentierungen sowie „Möglichkeiten zur Erneuerung des Anlagevermögens“ versprach. Dahinter stand auch die Erkenntnis der SED und des Magistrats, dass das „Aussehen der Läden im demokratischen Sektor“ von politischer Bedeutung sei und die privaten Ladeninhaber in diesem Sinn ebenfalls geworben werden müssten – gegebenenfalls auch durch Steuervergünstigungen. Insgesamt war jedoch der Anteil des privaten Einzelhandels einschließlich der Gastronomie von 1955 auf 1956 bereits um 11,4 Prozent zurückgegangen. Als Gründe dafür sahen die Ost-Berliner Wirtschaftspolitiker intern ganz realistisch Altersgründe, eine aller Propaganda widersprechende „ungenügende Warenbereitstellung“ und die

168 „Zusatzplan für das 2. Halbjahr des Volkswirtschaftsplanes 1953 in Groß-Berlin“, 24.6.1953, in: ebd., C Rep. 902., Nr. 174/1, Bl. 217f. 169 „Die Ergebnisse des 1. Fünfjahresplanes 1951–1955 in Berlin“, 3.3.1956, in: ebd., Nr. 253/1, Bl. 67.

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für die Privaten nur „geringe Handelsspanne“. 1957 betrug der Anteil des privaten Einzelhandels am Gesamtumsatz noch 30,4 Prozent.170 Die unterschwellige bis offene Benachteiligung des privaten Einzelhandels wurde besonders deutlich, als der allgemeine Rückgang des Ost-Berliner Warenumsatzes 1956 sich „vor allem im privaten Einzelhandel“ auswirkte, der 142 Mio. Ostmark an Umsatz einbüßte und damit seinen Plan nur zu 89 Prozent erfüllte. Auf Grund der schlechten Verdienstmöglichkeiten und ihrer immer unrentabler werdenden Läden gaben viele private Eigentümer auf, nicht zuletzt, weil sie „in anderen Berufen“ bzw. in der volkseigenen Wirtschaft oder aber in West-Berlin bessere Lebenschancen erblickten.171 Andere gaben dennoch die Hoffnung auf eine Besserung nicht auf, obwohl das nach der Abschaffung der Lebensmittelkarten eingetretene Preisniveau, inklusive Preissenkungen, zu ihren Lasten ging. Hatten beispielsweise die traditionellen Bockwurststände in Ost-Berlin früher per Einzelhandelspanne pro Kilogramm Würste 2,30 Ostmark erhalten, betrug die Verdienstspanne für die gleiche Menge jetzt nur 0,40 Ostmark, das hieß vier Pfennig pro Bockwurst und nach Abzug der Umsatzsteuer ganze 1,5 Pfennige. Der private Lebensmittelhandel sah seine Existenzgrundlage auf das Äußerste gefährdet.172 Eingaben an den Magistrat auf Herabsetzung des Industrieabgabepreises wurden abschlägig beschieden.173 Die kleinen Privathändler fühlten sich durch die leeren Versprechungen der sozialistischen Obrigkeit bitter getäuscht. Nur im Vorfeld von „Wahlen“ werde mit ihnen gesprochen, äußerten sie, und dass der Staat „kein Interesse daran habe, uns zu helfen“.174 Vor allem kritisierten sie immer wieder die konkreten Benachteiligungen gegenüber dem staatlichen Einzelhandel bei der Belieferung mit Waren und im Steuerbereich: „Wir zittern förmlich, wenn ein Steuerprüfer den Laden betritt. Wir haben keine Zukunft, denn die Existenz ist nicht gesichert […] Zur Industrie- und Handelskammer haben wir kein Vertrauen […], denn sie vertritt nicht unsere Interessen.“ Viele kleine Händler oder ihre Kinder gingen schließlich

170 „Gliederung der Analyse über die Entwicklung des privaten Einzelhandels“, 12.2.1957, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 600. 171 Magistrat von Groß-Berlin, Plankommission, „Analyse zur Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes im Jahre 1956“, 30.1.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 282, Bl. 97. 172 Schreiben der Industrie- und Handelskammer Groß-Berlin an den Stadtrat für Handel und Versorgung, 30.5.1958, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 600. 173 Schreiben des Stadtrats für Handel und Versorgung an die Industrie- und Handelskammer Groß-Berlin, 9.6.1958, in: ebd. 174 Magistratsentwurf: „Das Verhältnis des im Handel tätigen Mittelstandes zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat“, 5.6.1957, in: ebd.

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nach West-Berlin, das als die bessere Alternative gesehen wurde.175 Es waren zunehmend die Steuern (58 Prozent des Reingewinns), die viele zermürbten.176 Zwar beantragten Enthusiasten immer wieder die Gewerbebescheinigungen – 1956 wurden 484 Neueröffnungen von versorgungswichtigen Privatläden registriert – dem standen aber 1058 Geschäftsschließungen gegenüber. Dieser Trend wurde zeitweilig dadurch abgebremst, dass die erzwungene Aufgabe privater Läden zu neuen signifikanten Versorgungsschwierigkeiten und zu damit verbundenen Ärgernissen führte.177 Besonders hartnäckig wehrten sich private Verlage, Buchhändler und Buchverleihe gegen die staatlichen Repressionen. Sie erzielten zunächst erträgliche Umsätze178, bildeten aber, als im „ideologisch“- kulturellen Bereich Tätige, ein besonderes Angriffsziel der poststalinistischen Dogmatiker. Für private Buchhandlungen und Leihbüchereien179 bestünde „kein volkswirtschaftliches bzw. kulturpolitisches 175 So erklärte der Lederwareneinzelhändler Krone aus dem Friedrichshain, sein Sohn hätte nach West-Berlin gehen müssen, als er nach dem Abitur im Osten keine zumutbare Arbeitsstelle erhielt. Wenn er – Krone – nicht so alt wäre, ginge er auch in den Westen. Eine Überprüfung ergab, dass er einen Jahresverdienst von 9000 Ostmark hatte. Ein anderer Einzelhändler habe gegenüber einem Magistratsangestellten gemeint, man würde ihn als Angehörigen der „Mittelschicht“ ansprechen, „aber ein ungelernter Arbeiter verdient meistens ein Vielfaches dessen, [was] wir haben […]. Im Westen kann man sich wenigsten noch wehren, aber sagen Sie mir, wie ich mich hier wehren soll?“ Ebd. 176 Die Analysen des Magistrats gaben den resignierenden Einzelhändlern recht. Trotz des oft erhöhten Umsatzes erhielt ein Einzelhändler mit in seinem Laden tätiger Ehefrau (ohne weitere Beschäftigte) bei einem monatlichen Umsatz von 80.000 Ostmark abzüglich der Steuern (Reingewinnspanne 4,5 Prozent) noch ganze 236 Ostmark pro Monat; Inhaber „mit überdurchschnittlichem“ Umsatz (118.000 Ostmark) bei einer Reingewinnspanne von 6,4 Prozent 430 Ostmark. Ebd. 177 Durch „überspitzte Maßnahmen“, u.a. durch Kontingentkürzungen um 30 Prozent, sei es zu Versorgungsproblemen und Verärgerungen bei den Kunden gekommen, die nun stundenlang vor den HO- und Konsumläden anständen. Die SED-BL ermahnte „die verantwortlichen Genossen“, dass man die privaten Einzelhändler „nicht mit ökonomischem Druck […] zur Aufgabe ihrer Geschäfte und Übergabe an die HO zwingen darf“. Es sei alles daran zu setzen, sie zu überzeugen, „dass ihre Einbeziehung in den sozialistischen Aufbau durch den Abschluß von Kommissionsverträgen ihnen eine gesicherte Perspektive gibt“. Entwurf des Referats von Hans Kiefert (Erster Sekretär der SED-BL) für die Parteiaktivtagung, 22.9.1958, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 44f. 178 1955 verbuchten die kleinen Ost-Berliner Privatverlage einen Umsatz von 8,588, die privaten Buchhandlungen von 8,819 Mio. Ostmark und die Leihbüchereien von 676.873 Ostmark. Leider war die exakte Zahl dieser Unternehmen nicht durchgängig zu ermitteln. Vgl. ebd., C Rep. 121, Nr. 215. 179 Die Zahl der privaten Leihbüchereien wurde vom Magistrat wie folgt angegeben: 1951 = 197; 1953 = 141; 1954 = 130. 1953 habe der Bücherbestand 325.000 Bände betragen,

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Bedürfnis mehr“, hatte der Magistrat intern wissen lassen. Gewerbeerlaubnisse seien auch dann nicht mehr zu erteilen, wenn Einrichtungen des staatlichen Volksbuchhandels örtlich nicht ausreichten. Sterbe der Inhaber einer Gewerbeerlaubnis, so erlösche sie nach sechs Monaten. Wollten die Erben den Betrieb weiterführen, werde die Genehmigung nur nach „genauester Überprüfung“ und nur in Ausnahmefällen erteilt.180 Diese Schädigung des privaten Buchhandels fiel umso mehr ins Gewicht, als das Ost-Berliner Buchhandels- und Bibliothekswesen in der Konkurrenz mit den Westsektoren bislang erfolgreich bestehen konnte. Eine beliebte Methode, die Inhaber von privaten Leihbüchereien zum Aufgeben zu nötigen, stellte die Selektion solcher Literatur dar, „die zwischen 1945 und 1948 in Westverlagen“ erschienen war, die den „Prinzipien der sozialistischen Entwicklung“ widersprach und so aus dem Leihverkehr herausgezogen werden müsste.181 Binnen weniger Jahre verschwanden die kleinen privaten Leihbüchereien, was freilich auch wirtschaftliche Ursachen hatte. Demgegenüber zeigten die privaten Buchhändler in Ost-Berlin eine erstaunliche Resistenz gegenüber staatlichen Eingriffsversuchen, vor allem dadurch, dass sie sich prononciert zu Humanität und dem nationalen Erbe bekannten – Werte, die auch von der SED für sich und die DDR reklamiert wurden. 2.4.2 Industrie- und Handwerksbetriebe Berlin war seit Jahrzehnten immer auch eine Hauptstadt des produzierenden Mittelstandes gewesen. Noch Ende 1952 zählte die SED-Bezirksleitung im Ostteil der Stadt 970 kleine, zumeist industrielle Privatunternehmen, 14.331 Handwerksund 1.883 nicht näher bezeichnete andere Dienstleistungsbetriebe. Daneben existierten 428 Treuhandfirmen.182 Viele von ihnen lieferten größeren industriellen Betrieben – in der Regel staatlichen – zu, die meisten jedoch produzierten direkt und sie seien von den 55.000 Lesern insgesamt 3,5 Millionen Mal ausgeliehen worden. 1958 gab es nur noch 75 private Leihbüchereien mit einem Buchbestand von 189.000 Bänden. Die Zahl der Ausleihen habe bei 27.388 Lesern (2,5 Prozent der Gesamtleser im Leihbuchverkehr) 1.388.901 betragen. Vgl. Information des Magistrats, Abteilung Volksbildung, 24.10.1953, in: ebd., Nr. 22 und „Bericht. Der Stand des Leihbuchhandels in Berlin“ (1958), 27.2.1959, in: ebd. 180 Richtlinie Nr. 3 des Ministers für Kultur i.V. (Staatssekretär) Wendt, 22.6.1959, in: ebd. 181 Magistrat „Abteilung Kultur an die Abteilungsleiter der Stadtbezirke“, 6.2.1960, in: ebd. 182 Die 970 industriellen Privatbetriebe Ost-Berlins schlüsselten sich (Stand 31.12.1952) wie folgt auf: 86 Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten (insgesamt 18.035); 99 Unternehmen mit bis zu 200 Beschäftigten (7.833); vier Betriebe mit bis zu 500 Beschäftigten (856) und zwei Betriebe mit über 500 Beschäftigten (1269). Die Handwerksbetriebe beschäftigten insgesamt 55.984 Personen, die übrigen Gewerbebetriebe 7.727. Vgl. Abteilung Leitende Organe der SED-BL, 13.4.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 167, Bl. 96f.

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oder mittelbar für den Bevölkerungsbedarf die „1000 kleinen Dinge“ des Alltags oder erbrachten verschiedenartige Dienstleistungen. Eine Reihe von ihnen war in der Systemkrise 1952/53 ebenfalls als Gegner des sozialistischen Aufbaus eingestuft und vor allem steuerlich gemaßregelt worden.183 Willkürliche Enteignungen nahm die SED im Zuge des „Neuen Kurses“ zwar in den meisten Fällen zurück und versprach den privaten Produzenten eine aussichtsreiche Zukunft beim sozialistischen Aufbau, doch zeigte sich bereits ab Ende 1954 wieder das alte Misstrauen der SED-Führung gegen alles Private. Sie nahm es auch als Konkurrenz für den expandierenden sozialistischen Sektor der Produktion wahr. Die kleinen und mittleren Ost-Berliner Unternehmer waren trotz aller Widrigkeiten motiviert, arbeiteten effektiver als die meisten staatlichen Betriebe und genossen in der Regel bei ihren Arbeitern hohes Ansehen und Unterstützung. Da sie häufig auch übertarifliche Löhne zahlten, gerieten sie ab Mitte 1955 wieder in „die Mühlen“ staatlicher Kontrolle und Bevormundung.184 Ihre steuerlichen Abgaben wurden erhöht, wodurch sich die Reingewinne verringerten, und die Staatspartei untersagte den Finanzstärkeren unter ihnen, den Arbeitern mehr Lohn zu zahlen.185 Gleichzeitig 183 Hinter den Anträgen der Privaten auf steuerliche Stundung stünden „häufig Tendenzen zur Konservierung und sogar Erweiterung“ privatkapitalistischen Wirtschaftens. Die Abgabenverwaltung müsse demgegenüber aber „diejenigen Wirtschaftsformen stärken helfen, die dem Aufbau der Grundlagen des Sozialismus dienen“ und vor allem „spekulative Elemente im privaten Großhandel und der privaten Industrie“ feststellen. Private Unternehmer versuchten durch „Störmaßnahmen aller Art“ auch auf dem Gebiet der Abgabenverwaltung (Steuer) die Erfüllung der Pläne zu verhindern. Magistratsvorlage Nr. 1244 für die Sitzung am 8.1.1953, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 874, Bd. 2, Bl. 53f. 184 Die Frage sei, warum die Werktätigen so häufig für ihre privaten Unternehmer einträten. Die Arbeiter würden „unseren Arbeiter- und Bauernstaat“ nicht erkennen, erklärten SED und Staatsorgane; sie sähen nur, dass die Privaten zum großen Teil höhere als die tariflich vereinbarten Löhne zahlten und bessere soziale Leistungen böten: beispielsweise sechs Wochen Lohnfortzahlung beim Tod eines Belegschaftsmitgliedes (für dessen Familie). Eine private Firma (Maischuhe in Friedrichshain) zahle ihren Arbeitern monatlich 900 Ostmark, laut Tarif seien aber nur 500–600 gestattet. Belegschaftsmitglieder von privaten Unternehmen würden offenbar unter dem Einfluss ihrer Inhaber versuchen, auch Wohnkommissionen zu bilden, die allein VEB-Betrieben vorbehalten seien. Der Magistrat ordnete Gegenmaßnahmen an, vor allem die Überprüfung von privaten Betriebseigentümern unter der Frage, woher das Geld für die hohen Überbezahlungen herkomme. „Wochenbericht“, 29.6.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 610. 185 „Damit ködern sie die Arbeiter“, meinte die SED-BL. Die privaten Unternehmer beklagten sich hingegen, dass sie ihren Arbeitern nicht mehr Lohn zahlen dürften. Dabei würden sie vom Finanzamt „aufs Kreuz“ gelegt werden, und sie sähen in dieser Bestimmung ein Indiz dafür, dass man ihre Betriebe „so schnell wie möglich“ auflösen wolle. Abteilung Leitende Organe der SED-BL: Vorlage für das Büro der BL. „Einschätzung der zentralen

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begann nach dem 25. Plenum des ZK der SED im Oktober 1955 eine Kampagne der DDR- und Ost-Berliner Administration mit dem Ziel, die Privaten zu bewegen, den Staat an ihren Unternehmen finanziell zu beteiligen. Es wurde vielfältig Druck auf sie ausgeübt186, aber seitens der SED und ihrer Verbündeten in Blockparteien und Massenorganisationen auch eine „beharrliche ideologische Überzeugungsarbeit“ geleistet, um die Betroffenen „an das sozialistische Denken heranzuführen“. Dahinter stand die Absicht, private Betriebe wirtschaftlich und politisch optimal zu kontrollieren und den „kapitalistischen Produktionssektor“ weiter zu schwächen, ohne auf dessen rentable Ergebnisse und die Kompetenz seiner Eigentümer, vor allem in volkswirtschaftlich wichtigen Industriebereichen187, sofort verzichten zu müssen. Hier berührten sich staatliche Ambitionen und die Interessen der Privaten. Diese hingen an ihren Betrieben und sahen im Modell einer staatlichen Beteiligung für sich eine gewisse Existenzchance. Natürlich wussten viele von ihnen, dass diese in keiner Weise freie Entscheidung eine weitere Verschlechterung ihrer Eigentumslage nicht dauerhaft verhindern würde, aber sie gaben die Hoffnung nicht auf und verhielten sich abwartend. Von den insgesamt 807 privaten Industriebetrieben Ost-Berlins (ohne Bauunternehmen) mit in der Summe 21.330 Beschäftigten188 stellten bis Mitte 1956 aber nur 38 einen Antrag auf staatliche Beteiligung.189 Die Ost-Berliner SED-Führung kritisierte diesen

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Mitgliederversammlung zu den in der Privatindustrie beschäftigten Genossen“, 2.7.1957, in: ebd., Nr. 283. Zu den Steuerschulden traten weitere finanzielle Schwierigkeiten durch die Blockierung von Krediten für die privaten Unternehmer. Bei allen guten betrieblichen und individuellen Vorraussetzungen fehlten ihnen am Ende die „Mittel zur Finanzierung der erweiterten Produktion“. Auch vergrößerten sich Material- und Absatzschwierigkeiten. „Vorlage an das Büro der SED-BL über Maßnahmen für die staatliche Beteiligung an Privatbetrieben“, 3.7.2956, in: ebd., Nr. 259, Bl. 90. Hier wurden die Ost-Berliner Firmen Georg Pahl (Sägen; 148 Beschäftigte), Ferdinand Eltz (Schiffbauerzeugnisse; 186 Beschäftigte) sowie Sander & Janzen (Magnetton- und Synchrongeräte; 110 Beschäftigte) an erster Stelle genannt. Vgl. ebd., Bl. 89. Die SED-BL schlüsselte sie wie folgt auf: Schwerindustrie: 95 Betriebe mit 2.449 Beschäftigten; metallverarbeitende Industrie (244:7.711); Leicht- und Lebensmittelindustrie (486:11.170). Außerdem wurden 176 private Bauunternehmen mit insgesamt 6.600 Beschäftigten erfasst. Vgl. ebd., Bl. 87. Eine andere Quelle sprach für 1958 von 583 privaten Industrie- und Baubetrieben mit insgesamt 25.777 Beschäftigten. Vgl. Informatorischer Bericht der Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL, 3.2.1958, in: ebd., Nr. 322, Bl. 55. Anträge stellten 11 Unternehmer der Bauindustrie, acht der Elektroindustrie, zwei der Metallurgie, sechs des Maschinenbaus, zwei der chemischen Industrie, sechs der Textilindustrie. Je ein Antrag stammte aus den Industriebereichen Papier, Holzverarbeitung und Nahrungsmittel. Beinahe zwei Jahre später registrierte die SED lediglich 35 Betriebe mit staatlicher Beteiligung, die nur 4,1 Prozent des privaten Sektors ausmachten. Vgl. ebd.

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„bisher geringen Erfolg“ aber auch als die Folge eines zögerlichen Herangehens der staatlichen Organe und der von ihr instrumentalisierten Industrie- und Handelskammer. Sie sähen nicht klar genug, dass bestimmte Privatbetriebe eine wichtige Aufgabe bei der Verbesserung der Bevölkerungsversorgung sowie bei der Realisierung wichtiger Exportaufträge hätten. In diesem Kontext zeigte sich die SEDBezirksleitung darüber verärgert, dass es sich bei einem großen Teil der Antragsteller um Unternehmer handelte, „die mit Hilfe der staatlichen Beteiligung gedenken, ihre schlechte finanzielle Lage zu verbessern“.190 Dennoch machte das Modell einer staatlichen Beteiligung angesichts des stärkeren Engagements der unter Erfolgszwang stehenden SED-Bezirksleitung sichtbare Fortschritte. Im April 1959 wurden bereits 155 Betriebe mit staatlicher Beteiligung gemeldet, 29 Anträge liefen noch.191 Für die SED und den Magistrat problematischer war die Entwicklung der Handwerksbetriebe. Im Unterschied zu den privaten Einzelhändlern hätten sich viele kleine Handwerksbetriebe, „begünstigt durch die Besteuerung und durch die Preisgestaltung“, zu einem erheblichen Teil aus der einfachen Warenproduktion gelöst „und sich zu solchen kapitalistischen Charakters entwickelt“, schätzte der Magistrat ein. Aufgrund der ökonomischen Situation im Handwerk bestehe für die Mehrzahl der Handwerker mit Beschäftigten keinerlei materieller Anreiz zum Beitritt in eine Produktionsgenossenschaft (PGH). Hätten sie mehr als drei Beschäftigte, ergebe sich für sie eine Kaufkraft, „die sich unter Berücksichtigung des Grundsatzes von der Verteilung nach der Leistung volkswirtschaftlich nicht rechtfertigen lässt“. Da die hohe Kaufkraft nicht durch den vorhandenen Warenfonds abgedeckt sei, führe das zu „Westeinkäufen“ der Handwerker. Die den „größeren Handwerkern“ verbleibenden übermäßigen Gewinne würden zu „berechtigter Kritik der Werktätigen und auch zu Missstimmungen unter den übrigen Mittelschichten“ führen, lautete das Resümee. Dabei stand die Absicht im Hintergrund, die in der Tat noch „privilegierten“ Handwerksbetriebe stärker zu besteuern und sie so zu zwingen, den PGH beizutreten. Aber auch die drastische Steuererhöhung im März 1958 trug zunächst nur sehr bedingt zu der gewünschten Entwicklung bei.192 Demgegenüber zeigten sich schneller nicht beabsichtigte Nebeneffekte: Die 190 Die BL nannte als Beispiel eine private Firma, die eine staatliche Einlage von 150.000 Ostmark erhielt, aber davon „sofort 96.000“ Ostmark unproduktiv „verwirtschaftete“. Vgl. ebd., Bl. 56. 191 1.1.1958 = 34 Betriebe; 30.8.1958 = 44 Betriebe; 31.12.1958 = 118 Betriebe. Vgl. Sekretariat Stein: „Bericht an das Büro der SED-Bezirksleitung“, 28.4.1959, in: ebd., Nr. 402, Bl. 9. 192 Am 31.12.1957 gab es in Ost-Berlin 28 PGH mit 1.033 Beschäftigten und 13.299 Einzelhandwerkerbetriebe mit 57.074 Personen, genau ein Jahr später 96 PGH mit 4.027 Be-

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Gesamtleistung des Ost-Berliner Handwerks ging bereits im Verlauf des Jahres 1958 erstmals (um 6,8 Prozent) zurück. Wie vorher viele private Einzelhändler resignierten jetzt auch die Inhaber vieler privater Handwerksbetriebe, die nun aufgegeben bzw. nicht weitergeführt wurden oder sich aber anderswie auflösten.193 Das ging dann wieder zu Lasten der Versorgung der Ost-Berliner mit alltäglichen Dienstleistungen. Magistrat und SED hatten diese verbessern wollen, erreichten aber mit ihrem Kurs gegen die Privaten zunächst genau das Gegenteil. Sie setzten einen circulus vitiosus in Bewegung, der schwer zu stoppen war, ließen aber nichts unversucht, das Teilwirtschaftssystem des „bedingt Privaten“ – Kommissionshandel und staatliche Beteiligung – angesichts der Dienstleistungs- und Versorgungsmisere auf einem Niveau zu stabilisieren, das bis zum Beginn der 70er Jahre tatsächlich zur relativen Sicherung des Bevölkerungsbedarfes beitrug. Der Niedergang der privaten Wirtschaft in Ost-Berlin und seinen DDRRandgebieten wurde von der SED mit politischen und ökonomischen Mitteln gesteuert, blieb aber im Untersuchungszeitraum immer mit Rücksicht auf die jeweils aktuelle wirtschaftliche und politische Lage der DDR, vor allem aber auf die Stabilität der gesellschaftlichen Versorgung verbunden. Die damit einhergehende Zerstörung traditioneller Gesamtberliner Wirtschaftsverflechtungen verlief insbesondere dort sehr intensiv, wo die Präsenz des Westens besonders stark schien, diese Verflechtungen aber gleichzeitig durch wirtschaftliche Sanktionen – etwa gegen die im Osten lebenden Inhaber von West-Berliner Gewerbebetrieben – relativ schnell aufgelöst werden konnten.194 Auch versprach der Rückgang privater Ost-Berliner Handwerks- und anderer Gewerbebetriebe einen verminderten Zugriff von West-Berlinern auf ostsektorale Dienstleistungen. Gleichzeitig entwickelten SED und Magistrat nach der prinzipiellen Einbindung selbständiger Unternehmer in die zentrale Planwirtschaft neue Strategien zur optimalen Nutzung der verbliebenen Ost-Berliner privatkapitalistischen Betriebe. Die entsprechenden Konzeptionen waren im Einzelnen vom politischen Alltag bestimmt und deshalb häufig so widersprüchlich wie unscharf. Die SED ging jedoch generell vom Überschäftigten (Einzelhandwerksbetriebe: 11.825 zu 48.520). Im Januar 1959 stieg die Anzahl der PGH plötzlich auf 125 mit einem Personalbestand von 5.245 an. Ebd., Bl. 15. 193 Im Jahre 1958 wurden 647 durch Alter, Krankheit und Tod aufgegebene private Handwerksbetriebe gezählt. 281 schlossen infolge von „Republikflucht“, 149 bedingt durch mangelnde Rentabilität und 56 im Ergebnis eines Gewerbewiderrufs. Ebd. 194 1949 waren es 3.000, 1951 ca. 2.200, 1953 nur noch 650. Ihre dramatische Reduzierung wurde vor allem durch die Auflage erreicht, 66,66 Prozent ihrer Westmarkeinkünfte 1:1 in Ostmark umtauschen zu müssen. Vgl. Protokoll der 34. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 28.1.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070.

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gangscharakter kapitalistischen Wirtschaftens aus, das „im Sinne unserer politischen und ökonomischen Entwicklung“ besser gelenkt werden müsse. Deshalb entstand im Herbst 1953 eine Ost-Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) als Kontroll- und Koordinationsorgan195, wie beispielsweise die IHK in der Provinz Brandenburg bereits seit 1946 wieder zugelassen war.196 In Ost-Berlin ergab sich auch daraus die paradoxe Situation, dass privatwirtschaftliche Betriebe faktisch auf Seiten der realsozialistischen Wirtschaftsordnung, mit der sie im internen Wettbewerb standen, gegen den Westen konkurrierten, von dessen Ressourcen sie häufig abhängig waren. Ersatzteile, Werkzeuge und andere knappe Güter bezogen Ost-Berliner Unternehmer zur Sicherung ihrer Produktion offenbar zunehmend aus West-Berlin.197

2.5 Gesundheitspolitik im Wettbewerb Bereits vor der administrativen Spaltung Berlins konkurrierten dort zwei gesundheitspolitische Konzeptionen miteinander.198 Während das vor allem in der Sozialdemokratie favorisierte Prinzip der einheitlichen Krankenbehandlung und -versicherung auf ein für alle weitgehend gleiches, staatlich kontrolliertes Gesundheitssystem hinauslief, bevorzugten marktwirtschaftlich orientierte Kräfte eine Krankenversorgung auf der Grundlage freier privater Arztpraxen und einer Vielzahl von Versicherungsträgern. Hatten bis 1948 Sozialdemokraten, die SED und die Alliierten an ihren Einheitsvorstellungen, speziell an der die Gesamtstadt umfassenden Versicherungsanstalt Berlin (VAB) festhalten können, setzten sich jetzt nicht zuletzt unter dem Einfluss der bundesrepublikanischen Gesundheitspolitik allmählich die kapitalistisch strukturierten Interessen durch. Das bedeutete für West-Berlin, verbunden mit der Zulassung einer vielfältigen Konkurrenz für die staatliche Krankenversicherung, den zügigen Ausbau von privaten Arztpraxen zu Lasten staatlicher Einrichtungen. Insbesondere betraf das die Polikliniken, die hingegen in Ost-Berlin – in Umkehrung der West-Berliner Entwicklung – zu Ungunsten der ärztlichen Privatunternehmen ausgebaut wurden. Dahinter standen neben Erwerbs- und anderen persönlichen Motiven zwei unterschiedliche Auffassungen von Gesundheitspflege: Für die privat praktizierenden Ärzte und 195 Vgl. Vorlage für das Sekretariat der SED-BL: „Betrifft Industrie- und Handelskammer“, 14.9.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 179/1, Bl. 271. 196 Vgl. Friederike Sattler, Wirtschaftsordnung im Übergang. Politik, Organisation und Funktion der KPD/SED im Land Brandenburg bei der Etablierung der zentralen Planwirtschaft in der SBZ/DDR 1945–52, Teilband 1, Berlin 2001, S. 295–326. 197 Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 136f. 198 Vgl. Melanie Arndt, Gesundheitspolitik, S. 45–56.

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ihre Interessenvertreter standen Behandlung und Nachsorge von Erkrankungen beinahe im Vordergrund, während linke Sozialpolitiker in West-Berlin und die SED im Osten den medizinischen und sozialen Aspekt der Prophylaxe betont wissen wollten.199 Im Umfeld des Kalten Krieges polarisierten sich die gegensätzlichen Meinungen schnell, und sie wurden weiter ideologisiert. Die einen sahen in der staatlichen Versorgung eine „Sowjetisierung“ und kommunistische Gleichschaltung der Gesundheitspolitik sowie der Krankenbehandlung auf einem niedrigen Niveau, die anderen deren Demokratisierung und keineswegs qualitative Verschlechterung. Im Gegenteil: Die Polikliniken und ihnen ähnliche Einrichtungen seien durch die Konzentration von Fachpersonal und medizinischer Technik in einem Haus sowohl für die optimale Behandlung der Patienten als auch für eine vernünftige Kostengestaltung geradezu geboten.200 Überdies sah die SED, die auch gesundheitspolitisch die Führungsrolle beanspruchte201, in den Polikliniken eine Stätte der „Erziehung der Ärzte zu Demokraten“, die eine eindeutige, „fortschrittliche“ Position zu beziehen hätten.202 Relativ unabhängig von der praktischen Umsetzung dieser divergierenden Konzepte in beiden Hälften der Stadt hatte es nach 1948 im Unterschied zu anderen Verwaltungsbereichen eine begrenzte gesundheitspolitische Kooperation gegeben. Sie wurde von der praktischen Vernunft diktiert, die vor allem bei der Seuchenhygiene und im Kampf gegen bestimmte Infektionskrankheiten „weitab von politischen Überlegungen“ geboten schien. Beide Seiten begründeten die bedingte Zusammenarbeit als dem „Wohle der Gesamtbevölkerung“ dienend.203 Die Gesundheitsverwaltungen und -institutionen tauschten Informationen aus und koordinierten verschiedene Maßnahmen – allerdings mit abnehmender Intensität. So konnten sich bis November 1950 West-Berliner in der noch im Ostteil gelegenen zentralen Impfstelle für Groß-Berlin kostenlos behandeln und im Gegenzug Ost-Berliner sich im Westteil der Stadt gegen Tollwut immunisieren lassen, für die in ihren Wohnbezirken keine „Wutschutzbehandlungsstelle“ existierte. Im Verlaufe der Jahre 1949/1950 wurden einige gesundheitspolitische Verwaltungsübereinkünfte abgeschlossen, die das Verhalten bei Epidemien, eine bedingte Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten und 199 200 201 202 203

Vgl. ebd., S. 141–163. Vgl. ebd., S. 155, 163. Vgl. ebd., S. 78–81. Ebd., S. 147. Vgl. Protokoll über 42. Magistratssitzung (Ausführung der Stadträtin Schirmer-Pröscher), 8.9.1949, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 842 Bl. 2 und Magistratsbeschluß Nr.234 vom 22.9.1949, in: ebd., Bl. 72. Vgl. für die West-Berliner Seite: Berichte des Landesgesundheitsamtes, 2.5.1950, 20.2.1959 und 22.21952, in: ebd., B Rep. 012, Nr. 222.

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gegenseitige Auskünfte der Gesundheitsämter betraf. Auch fanden inoffizielle Treffen zur Regelung der finanziellen Folgen statt, die sich aus der Spaltung der einheitlichen VAB seit 1950 für beide Seiten ergaben. Noch dominierte bei der SED das ökonomische Interesse. Sie wollte das für die östliche Seite interessante VAB-Vermögen auf die im Februar 1949 gegründete staatliche Ost-Berliner Krankenversicherungsanstalt Berlin (VAB-Ost) als der behaupteten „alleinigen Trägerin der gesamten Sozialversicherung in Gross-Berlin übertragen und im übrigen in Volkseigentum überführen“.204 Auch in der Folgezeit führten zahlreiche noch aus der Vorkriegszeit stammende allgemeine und betriebliche sowie beamtenrechtliche Versicherungsverhältnisse, aber auch Rechte von WestBerlinern auf Behandlung im Osten und umgekehrt von Ostdeutschen auf medizinische Versorgung in den Westsektoren sowie die komplizierten Krankenversicherungen von Grenzgängern in beide Richtungen zu am Ende ergebnislosen Verhandlungen über die gegenseitige Verrechnung von beiderseitigen medizinischen Leistungen. Der Magistrat wartete dabei in der Regel mit der Behauptung auf, die Krankenhäuser, Polikliniken und Praxen in Ost-Berlin behandelten ungleich mehr bei der KVAB versicherte West-Berliner als Bewohner des Ostsektors Leistungen der West-Berliner landeseigenen, gemeinnützigen und privaten Krankenanstalten in Anspruch nähmen.205 Diese Aussage stimmte insofern, als beispielsweise in Ost-Berlin arbeitende Grenzgänger aus West-Berlin sich noch zu Beginn der 50er Jahre in der Regel am Arbeitsort behandeln ließen und es viele Grenzgänger aus dem Osten aus verschiedenen, zumeist sozialen und persönlichen Gründen vorzogen, die Ärzte in ihren Wohngebieten aufzusuchen. Die östliche Rechnung stimmte aber nicht, wenn man die Leistungen für die steigende Zahl von Ost-Berlinern berücksichtigte, die sich trotz ihrer Mitgliedschaft in der östlichen Einheitsversicherung inoffiziell im Westteil der Stadt medizinisch versorgen ließen. Zwar hatte der Senat diese alltägliche Praxis zu begrenzen versucht, legte seine diesbezüglichen Bestimmungen206 aber aus humanitären und moralischen, aber 204 Vgl. „Verordnung über die Auflösung und Vermögenserfassung der stillgelegten Träger der früheren reichsgesetzlichen Sozialversicherung und deren Verbände“, Magistratsvorlage Nr. 574, zur Beschlußfassung für die Sitzung am 7.12.1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 853, Bl. 63. 205 Vgl. Schreiben des stellv. Ost-Berliner OB Schmidt an Senatsrat Kraft, 31.3.1957, und Antwortschreiben von Kraft, 3.4.1957, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 181. 206 Ursprünglich sollte die ärztliche Versorgung für Ostdeutsche in West-Berlin auf begründete „Spezialfälle“ beschränkt sein und auf Besucher aus der DDR, die während ihres Aufenthaltes in West-Berlin erkrankten. Bei stationären Behandlungen standen dafür zunächst das Martin-Luther-Krankenhaus, das St. Gertrauden- Krankenhaus und das Städtische Krankenhaus Wilmersdorf zur Verfügung. Es setzte sich jedoch die Praxis durch, dass

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auch politischen Gründen, tolerant aus. Unabweisbarkeit wandelte sich zur Großzügigkeit.207 Das betraf vor allem die sich permanent erweiternde Medikamentenhilfe, die für die Ostdeutschen von nichtstaatlichen West-Berliner Trägern (u.a. Evangelisches Hilfswerk, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Ostbüro der FDP) organisiert und finanziell aus Eigenmitteln sowie Spenden, mehr aber noch durch die Zuschüsse der Bundesregierung, des Senats und der Alliierten unterhalten wurde. Grundsatz war, dass die sammelnden und verteilenden Organisationen, vor allem, um östliche politische Unterstellungen zu vermeiden, „in eigener Verantwortung, d.h. ohne Richtlinien von behördlicher Seite“ handelten.208 Das war umso mehr geboten, als die Einfuhr wichtiger Medikamente, unter bestimmten Bedingungen von den Ost-Berliner Behörden gestattet, in gewisser Weise sogar erwünscht war, wenn Arzneien im Osten nicht oder nur in minderer Qualität zu erhalten waren und ein Ost-Berliner behandelnder Arzt das per Rezept bestätigte. So gefährdete die West-Berliner Gesundheitspolitik ihr humanes Prinzip nicht, den Bewohnern des Ostsektors alle „erforderlichen Medikamente und ärztliche Betreuung“ zur Verfügung zu stellen, wenn es dort an ihnen fehlte. Hier spielte immer wieder das sozialdemokratische Ideal gesundheitlicher Chancengleichheit eine Rolle, zunehmend aber auch das vom Senat und der Bundesregierung formulierte Sorgerecht für die Ostdeutschen. Demgegenüber nahm die SED-Gesundheitspolitik ebenfalls aus humanitären, aber nicht zuletzt aus Gründen der Erhaltung von Arbeitskraft, die westliche medizinische und Medikamentenhilfe in Kauf, obwohl ihr der damit verbundene gesundheitspolitische Imageverlust bewusst war. Doch verzeichnete auch die Ost-Berliner medizinische Versorgung nach 1948 beträchtliche Fortschritte: Die ärztliche Aus- und Weiterbildung war der im Westen im Prinzip gleichzusetzen; Polikliniken, Ambulatorien und einige Krankenhäuser waren neu errichtet bzw. ausgebaut und die Bettenzahl erhöht worden. niemand aus dem Osten mit einem Behandlungsbegehren zurückgewiesen wurde. Es mehrten sich auch einmalige ärztliche Beratungen in den Krankenhäusern und „Sonderfälle“, bei denen Ostdeutsche, vor allem aus dem anderen Teil Berlins, Privatärzte konsultierten. Beispielsweise für den Zeitraum von Oktober 1955 bis September 1956 registrierte der Senat 570 „Spezialfälle“ (263 stationär, 204 ambulant); bei DDR-Besuchern seien es 86 stationäre und 17 ambulante Fälle gewesen. Die einmaligen ärztlichen Beratungen stiegen weiter kontinuierlich an. Sie wurden im September 1956 auf etwa 100 Personen pro Monat geschätzt. Alle anfallenden Kosten wurden vom Bund und vom Senat übernommen. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc.1636, Nr. 2154, Bl. 7f. 207 Vgl. Arndt, Gesundheitspolitik, S. 210–214. 208 Vgl. Information des Büros für Gesamtberliner Fragen für Bgm. Amrehn, 23.1.1958, in: ebd., Nr. 2069.

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Insbesondere verbesserten sich u.a. die betriebliche Gesundheitsvorsorge für Arbeiter209 und an den Schulen die prophylaktischen Impfschutzaktionen und Reihenuntersuchungen sowie die zahnärztliche Betreuung. Besonderen Wert legten SED und Magistrat auf die Erweiterung von Kurmöglichkeiten für die „Werktätigen“, den Ausbau von Erholungsheimen und auf andere Maßnahmen, die – wie der Frauen- und Mutterschutz – das Gesundheitssystem sozial flankierten. Außerdem förderten sie die gesundheitliche Aufklärung, die insbesondere durch den Rundfunk und die Presse getragen wurde, und organisierten medizinische Wanderausstellungen, aber auch spezielle Expositionen in den Ost-Berliner Stadtbezirken, auf denen DDR-Medikamente vorgestellt und erklärt wurden.210 Alles, das betonten SED- und Staatsführung, erhielten die betroffenen Ostdeutschen kostenlos, und das sei eben ein Beispiel für die Überlegenheit gegenüber dem unterlegenen West-Berliner Gesundheitssystem. Insofern verwunderte es nicht, dass dessen ostdeutsches Pendant im alltäglichen Systemvergleich immer als signifikantes Beispiel für soziale Überlegenheit bemüht, aber auch zum verallgemeinerungsfähigen Abbild humaner Demokratie im Sozialismus stilisiert wurde: Hier sei das Gesundheitswesen von den „Fesseln des kapitalistischen Systems“ befreit, auf der westlichen Seite jedoch in den Dienst einer kapitalistische „Vorrechte“ genießenden „kleinen Schicht“ gestellt worden. Während in Ost-Berlin alle „Werktätigen“ an dessen demokratischem Gesundheitssystem partizipierten, zeige sich im Westen der „Klassencharakter“ der gesundheitlichen Betreuung, die für die „übergroße Mehrheit der Bevölkerung“ äußerst beschränkt sei.211 Folge209 Es wurden große Anstrengungen unternommen, um das Netz der ambulanten Versorgung in den Betrieben (Polikliniken, Ambulatorien, Sanitätsstellen und „Gesundheitsstuben“) enger zu knüpfen und diese betrieblichen Einrichtungen besser mit medizinischen Instrumenten, Apparaten, Medikamenten und anderen Heilmitteln, aber auch mit Wäsche und Geschirr, auszurüsten. Es fanden regelmäßige ärztliche Reihenuntersuchungen der Arbeiter statt. Betriebe mit über 500 Beschäftigten erhielten Ruheräume, einige von ihnen auch „Nachtsanatorien“. Sie dienten besonders gestressten Arbeitern nach Feierabend zur aktiven Erholung; diese wurden dort ärztlich behandelt, erhielten Diätkost und fanden die benötigte Ruhe. Außerdem gingen die Betriebsleitungen dazu über, in Zusammenarbeit mit dem FDGB und den Betriebsärzten Listen derjenigen zu erstellen, die aus gesundheitlichen Gründen verkürzt arbeiten sollten. Allerdings setzten sich die „Nachtsanatorien“ aus finanziellen Gründen nicht dauerhaft durch. Vgl. Vorlage für das Sekretariat der SEDBL, „über Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter“, 15.12.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 187, Bl. 113 und Manuskript (offenbar vom stellv. OB Schmidt), 31.5.1954, in: ebd., Nr. 1315. 210 Vgl. ebd. 211 SED-BL: „Plan für die Führung der Diskussion über die […] Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und das Gesundheitswesen in der DDR“, 23.9.1959, in: ebd., Nr. 1375.

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richtig wurde die West-Berliner Gesundheitspolitik auch als ein Instrument des „Klassenkampfes“ gegen den „demokratischen“ Sektor der Stadt gesehen. So erklärte die SED den permanent ansteigenden Ost-Berliner Krankenstand mit einem gezielten West-Berliner Einfluss.212 Waren diese konkreten Beschuldigungen auch unsinnig, so stand hinter ihnen das verständliche Bemühen der Ost-Berliner Politik, diesen Einfluss politisch zu minimieren und sich gleichzeitig finanziellen Leistungen zu entziehen, die sich beispielsweise durch Verträge mit West-Berliner Ärzten ergaben.213 Auch das trug zur Auflösung von städtischen Verflechtungen bei, doch lagen die wichtigsten Ursachen für das allmähliche Zurückbleiben der Ost-Berliner Seite im gesundheitspolitischen Konkurrenzkampf woanders. Sie hatte ihre materiellen und personellen Ressourcen relativ schnell ausgeschöpft und zeitweilig bereits überdehnt. Erweiterungen des Gesundheitssystems und erforderliche Modernisierungen von Teilbereichen, so sehr sie auch als notwendig erachtet und engagiert betrieben wurden, stießen an finanzielle Grenzen. Die Einrichtun212 Trotz des hohen sozial-medizinischen Einsatzes in Ost-Berlin (u.a. 15 Betriebspolikliniken, 15 Betriebsambulatorien, 199 Gesundheitsstuben, ein Nachtsanatorium, 251 Frauenruheräume, 27 medizinisch-technische Kabinette, 121 Stellen für Schon- und Diätkost) und der laufenden Erhöhung des ärztlichen Personals (hauptamtliche Betriebsärzte: 1952 = 21; 1955 = 101; nebenamtliche Betriebsärzte: 1952 = 210, 1955 = 400) sei der Krankenstand (1954 geplant mit 6 Prozent) überschritten und steige weiter an. 1954 sei dadurch in den Ost-Berliner Betrieben ein Verlust von 17 Mio. Ostmark entstanden. 1950 seien 358.518 und 1951 397.118 Ausfalltage registriert worden; 1952 seien es bereits 456.927 und 1953 etwas über 500.000 gewesen, 1954 schließlich 530.625. Die SED sah „Westberliner Agentenzentralen“ am Werk. Sie würden verdeckt „genaue Anweisungen“ geben, „wie man sich zur Täuschung des Arztes bei den einzelnen Krankheiten verhalten muß, um krankgeschrieben zu werden“. SED-BL: „Verbesserung der ärztlichen Betreuung der Werktätigen zur Senkung des Krankenstandes“, 16.6.1955, in: ebd., Nr. 234, Bl. 43– 52. 213 West-Berliner Vertragsärzte hatten per Absprache mit dem Ostmagistrat die ärztliche Betreuung von in Ost-Berlin beschäftigten West-Berlinern auf Honorarbasis übernommen. Das betraf vor allem Reichsbahnangehörige sowie DDR-Bürger, die in den an die Westsektoren angrenzenden Randgebieten wohnten. Da sie die medizinischen Einrichtungen in Ost-Berlin nur unter großen Schwierigkeiten erreichten, hatte die SED ihre Behandlung durch nahegelegene Hausarztpraxen gleich hinter der Sektorengrenze billigend in Kauf genommen. Das kostete die Ost-Berliner Verwaltung nach eigenen Angaben aber monatlich ca. 200.000 Ostmark. Die SED-BL wies den Magistrat Anfang 1953 an, diese Übereinkunft mit den West-Ärzten umgehend zu kündigen und dafür Sorge zu tragen, dass Krankenscheine für Grenzgänger im Dienst der DDR seitens der West-Berliner Vertragsärzte „nur an wenigen Stellen“ auszugeben und deshalb „mit ideologisch klaren“ Kräften zu besetzen seien. Das ließ sich allerdings kaum realisieren. Entwurf der SED-BL: „Vorlage für das Sekretariat. Änderung der Bezahlung Westberliner Ärzte […]“, 13.2.1953, in: ebd., Vgl. dazu auch den Bericht der BL vom 29.12.1952, in: ebd.

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gen der Krankenhäuser entsprachen allmählich nicht mehr einem qualifizierten Standard, die Medizintechnik veraltete, es fehlte an Behandlungsmaterial und vor allem an effektiven Medikamenten. Die Krankenhäuser und die Bettenkapazitäten waren voll ausgelastet und Überlegungen zu „vertretbaren Verkürzungen der Liegedauer“ der Patienten214 boten keinen realisierbaren Lösungsansatz. Vor allem aber verschärfte die „Republikflucht“ vieler Ärzte und Angehörigen des medizinischen Personals die Probleme. Diejenigen, die in Ost-Berlin blieben und im Umfeld des Neuen Kurses teilweise politische Forderungen erhoben hatten215, nahmen seit Ende der 50er Jahre wieder eine zunehmend kritische Haltung gegenüber der SED-Politik ein. Einen Unsicherheitsfaktor bildeten auch die um ihre Praxen bangenden Privatärzte, die, wie ihre Kollegen in den Krankenhäusern, die Vorzüge des realen Sozialismus durchaus würdigten, aber nicht davon abrückten, dass westliche Medizintechnik und Medikamente, aber auch der Komfort in den WestBerliner Kliniken besser als in Ost-Berlin seien.216 Wenngleich es den Gesundheitspolitikern hier unter vielen Mühen gelang, die medizinische Versorgung der Bevölkerung auf einem differenzierten Niveau sicherzustellen, wandten sich doch immer mehr Ost-Berliner der West-Berliner Konkurrenz zu – teils, weil sie tatsächlich über die modernere Medizintechnik und partiell über effektivere Medikamente verfügte, teils aber auch, weil der Nimbus Westmedizin magnetisierte und den Vertrauensverlust zahlreicher Ostdeutscher in das eigene Gesundheitssystem verstärkte. Ärzte, aber auch Politiker in West-Berlin, schätzten die Lage und die Leistungen des sozialistischen Gesundheitssystems hingegen realer ein als viele östliche Patienten. Immer wieder äußerten West-Berliner Sachverständige, dass die Ost-Berliner medizinischen Leistungen im Prinzip ausreichend seien und „einer Psychose vorgebaut werden sollte, daß man nur im Westen gesund werden kann“.217 Dieses Urteil wird von Melanie Arndts differenzierter Analyse bestätigt.218 Dennoch füllten die West-Berliner medizinische Leistungen für die Bewohner Ost-Berlins und der DDR wirksam planwirtschaftliche Lücken aus, und 214 Plankommission des Magistrats: „Analyse zur Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes im Jahre 1956“, 30.1.1957, in: ebd., Nr. 282, Bl. 100f. 215 Nach dem 17. Juni 1953 hatten Ost-Berliner Ärzte eine eigene Ärzteorganisation und Ärztekammer sowie eine Liberalisierung für die Erteilung von Niederlassungsgenehmigungen für private Praxen verlangt, was folgerichtig mit der Forderung verbunden war, die staatlichen Polikliniken einzuschränken. Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL: „Bericht. Besprechung im Zentralkomitee [der SED] – Sektor Sozial- und Gesundheitswesen“, 2.12.1953, in: ebd., Nr. 1376. 216 Vgl. Bericht der Kreisleitung der SED-Pankow, Juli 1961, in: ebd., Nr. 474, Bl. 66. 217 Protokoll der 15. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 24.11.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070. 218 Vgl. Arndt, Gesundheitspolitik, S. 242f.

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sie entschieden den gesundheitspolitischen Konkurrenzkampf – im Wesentlichen bedingt durch die beträchtlichen Medikamentenhilfen219 – in signifikanten medizinischen Versorgungspositionen für den Westen. Dies wog im Kalten Krieg umso schwerer, als zahlreiche Ostdeutsche am Beispiel eines äußerst sensiblen Bereichs – der Gesundheit – eine für den realen Sozialismus ungünstige Systembewertung vornahmen, die im Bereich der medizinischen Versorgung in vielem nicht den Tatsachen entsprach.

2.6 Die Grenzgänger 2.6.1 Die Haltung der Stadtregierungen und die Motive der Grenzgänger Schon im Vorkriegsberlin hatte es ein „Arbeitspendeln“ derjenigen gegeben, deren Wohn- und Arbeitsorte innerhalb des Großraums Berlin nicht identisch waren, die regelmäßig die Grenzen zwischen den Bezirken der Stadt, sowie zwischen ihr und ihrem brandenburgischen Umland überschritten. Zum Politikum wurde dieser normale Vorgang erst nach der administrativen Spaltung Berlins, als plötzlich Tausende seiner Erwerbsbürger entweder im kapitalistischen West- oder im kommunistischen Ost-Berlin wohnten, ihre angestammten Arbeitsplätze sich jedoch im jeweils anderen politischen Teil der Stadt befanden. Aus dieser Situation heraus entwickelte sich bis zum Mauerbau das wirtschaftlich-soziale, aber auch politische und kulturelle Komplexproblem Grenzgänger.220 Es besaß neben seiner Berliner und innerdeutschen auch eine alliierte Dimension, was wesentlich erklärt, warum das von der doppelten Berliner Politik umkämpfte Grenzgängerwesen bis kurz vor dem Mauerbau bestand: Der Viermächte-Status der Stadt sah im Sinne der Erhaltung des Berliner Verflechtungsraums auch „die Bewahrung einer ungehinderten Freizügigkeit des Personenverkehrs und der Arbeit vor“.221 Worauf die Westmächte bestanden, konnte die Sowjetunion nicht ohne weiteres in Frage stellen. So hat sie nie versucht, das Problem durch einseitige Akte administrativ, oder wie auch immer, zu lösen, ließ sich jedoch über dessen Entwicklung von der SED detailliert berichten.222

219 Vgl. ebd., S. 199–214. 220 Eine jüngst publizierte vorzügliche historische Analyse des Gesamtphänomens erwies sich für die vorliegende Arbeit als grundlegend: Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem. 221 Ebd., S. 436. 222 Vgl. Schreiben der SED-Landesleitung Groß-Berlin „an Genossen Beglischew“ (SKK), 12.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 378.

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In den ersten Jahren nach der Teilung Berlins wechselten viele der zu Grenzgängern gewordenen Arbeitspendler unter dem Druck der Ereignisse sowie aus persönlichen oder anderen Gründen den Arbeitsplatz – seltener den Wohnort. Dennoch blieb eine beträchtliche Anzahl in den 50er Jahren Grenzgänger von West nach Ost, aber auch umgekehrt.223 Arbeiteten zunächst mehr West-Berliner im Ostteil der Stadt, änderte sich das Verhältnis ab 1952 diskontinuierlich zugunsten der in Ost-Berlin Wohnenden und in West-Berlin Arbeitenden (im Folgenden: Westgänger), während die absolute Zahl der in umgekehrter Richtung Tätigen (im Folgenden: Ostgänger) etwa seit Mitte des Jahrzehnts auf niedrigem Niveau relativ konstant blieb.224 Da sowohl die Statistik des Westens als auch die Ost-Berlins nur die offiziellen und damit „legalen“ Grenzgänger erfasste, bleibt die Frage nach den nicht gemeldeten „illegalen“ Westgängern unbeantwortet.225 Klar ist hingegen, dass es sich dabei um durchweg unqualifizierte Kräfte handelte – ungelernte und Gelegenheitsarbeiter, „putzende“ Hausfrauen sowie berufslose Jugendliche und Rentner. Das beruflich-soziale Profil der offiziellen Grenzgänger wurde zunächst von den „organisch gewachsenen und verfestigten sozioökonomi223 Im März 1949 waren insgesamt 200.000 Personen als Grenzgänger registriert, d.h. rund 12 Prozent der Erwerbstätigen in Gesamtberlin, 60 Prozent der Grenzgänger hätten zu diesem Zeitpunkt im Westen gelebt und in Ost-Berlin gearbeitet, in umgekehrter Richtung seien es 40 Prozent gewesen. Vgl. Johannes Bähr, Industrie im geteilten Berlin (1945–1990), S. 130. 224 Vgl. dazu Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, 4 und Tabelle 5. Wie auch Roggenbuch bewusst ist, gibt es bei den statistischen Angaben von Ost und West teilweise erhebliche Abweichungen, aber auch Unschärfen innerhalb der jeweiligen systemimmanenten Informationsquellen – etwa bei den Angaben der Lohnausgleichskasse (LAK) und des Landesarbeitsamtes (LAA) in West-Berlin (siehe Tabelle 4). Relativ verlässlich wird die quantitative Entwicklung der (offiziellen) Westgänger erfasst: Im März 1949 betrug ihre Gesamtzahl 76.000, der tiefste Wert zeigte sich Ende 1953 mit 30.889 Personen. In den folgenden Jahren stieg er allmählich wieder an (1954: 31.600; 1955: 33.659; 1957: 38.476; 1959: 40.083; Dezember 1960: 54.065) und erreichte im Juli 1961 mit beinahe 63.000 seinen Höchststand (siehe Tabelle 5). Demgegenüber gingen die von der LAK als umtauschberechtigt erfassten Ostgänger von beinahe 100.000 Anfang 1949 und 88.000 im Herbst des gleichen Jahres auf 44.000 (Frühjahr 1952) zurück. Deren Zahl sank weiter – nach 1953 allerdings nicht mehr dramatisch (1955: ca. 16.000; 1959: 13.600; 1961: 12.300). Unter den Umtauschberechtigten des Jahres 1961 seien – so Roggenbuch – jedoch nur 4.567 gewesen, die tatsächlich täglich in Ost-Berlin arbeiteten. Vgl. ebd., S. 156 und S. 195. Vgl. dazu auch Bähr, Industrie im geteilten Berlin, S. 130f. 225 Für den Sommer 1961 wurden sie auf 40.000 geschätzt. Vgl. Alfred Zimm, Berlin (Ost) und sein Umland, Darmstadt 1990, S. 222ff. Diese Zahl dürfte angesichts der akuten Krise in der DDR und der Ost-Berliner wirtschaftlichen Turbulenzen eher zu niedrig angesetzt sein.

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schen und soziokulturellen Strukturen“ der ehemaligen Reichshauptstadt bestimmt. Die größte Gruppe bildeten Arbeiter und Angestellte, deren Pendeln nach Ost oder West quantitativ relativ ausgeglichen war, während sich die gehobenen Berufsgruppen der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz sowie von Ärzten und Künstlern im Wesentlichen nur unter den Ostgängern fanden. Letztere konzentrierten sich – strukturbedingt (Theater und andere Kulturstätten) – im Ost-Berliner Stadtbezirk Mitte.226 Eine aufschlussreiche statistische Erhebung der SED Anfang 1953 erfasste 31.214 (registrierte) Westgänger nach ihren Ost-Berliner Wohn- und West-Berliner Arbeitsorten sowie deren Beschäftigungsstrukturen227, die vom Senat später etwas detaillierter analysiert wurden.228 Eine lückenhafte Übersicht über die Einsatzbereiche der Ostgänger hatte der SED schon 1950 vorgelegen.229 Wegen der angespannten Lage West-Berlins nach 1948 226 Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 439. 227 Danach pendelten die meisten der erfassten 21.123 männlichen und 10.091 weiblichen Westgänger zwischen industrialisierten Arbeitervierteln diesseits und jenseits der Sektorengrenze. Ihre Wohnbezirke lagen vorrangig im Prenzlauer Berg (8.322 Westgänger), in Friedrichshain (5.007), Pankow (4.651) und Lichtenberg (3.601); ihre Arbeitsorte in Kreuzberg (5.368), in Wedding (4.080), in Charlottenburg (3.991) sowie in Schöneberg (3.218), wo sich offenbar die Angestellten unter den Westgängern konzentrierten. Die Wenigsten fanden sich in Zehlendorf (610), Steglitz (798) und Reinickendorf (1.203). In der West-Berliner Industrie waren 13.491 Westgänger beschäftigt, im Baugewerbe 1.375, im Verkehrswesen 2.143 und in den Verwaltungen, diversen Büros sowie im Gesundheitswesen insgesamt 8.913. In Erziehungs- und Lehrberufen arbeiteten 416 Westgänger, als Ingenieure und Techniker 806, ohne Beruf seien 1.950. Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL Berlin: „Bericht an das Sekretariat [der BL] über die Registrierung der in Westberlin Beschäftigten mit Wohnsitz im demokratischen Sektor“, 24.3.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 164, Bl. 46. Während die Zahl der Grenzgänger im Maschinenbau und der Elektroindustrie auf beiden Seiten rückläufig war, stieg der Anteil der Westgänger in der West-Berliner Bekleidungsindustrie zwischen 1953 und 1960 um fast 250 Prozent an; rund ein Drittel der Arbeitskräfte in dieser Branche kamen aus dem Osten. Vgl. Bähr, Industrie im geteilten Berlin, S. 134. 228 Demnach waren im September 1957 von den insgesamt 38.542 Westgängern 7.103 Männer und 1.860 Frauen in der Metall- und Elektroindustrie beschäftigt, im verarbeitenden Gewerbe 4.157 Männer und 6.120 Frauen, im Bauwesen 4.820 Männer und 100 Frauen. Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Arbeitskräften bei Handel und Banken war 2.741:2.078, in der Verwaltung 1.983:701 sowie im Verkehrswesen 1.983:701. Eine reine Frauendomäne stellte die Bekleidungsindustrie (4.383 Westgängerinnen) dar. Im Bereich der großen Industriekonzerne arbeiteten die meisten Westgänger bei Siemens (2.009), AEG (762) und Osram (470). Vgl. Vertrauliche Information des Büros für Gesamtberliner Fragen, 24.9.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2069. 229 Die SED gab die Zahl der Ostgänger im August 1950 mit 63.000 an, die der Westgänger mit 44.000. Nur von 13.500 der Ostgänger ermittelte sie konkrete Anstellungsverhältnis-

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betrachtete die West-Berliner Stadtregierung das Grenzgängerwesen als eine Art notwendiges Übel. Angesichts der immensen Unterbeschäftigung belastete es den Arbeitsmarkt nachhaltig. Es warf überdies eine Reihe finanzieller und sozialer Folgeprobleme auf, die u.a. durch das Währungsgefälle und den Wunsch vieler Westgänger entstanden, ihren Wohn- an den Arbeitsort zu verlegen. Doch ordnete der Westmagistrat/Senat diese Fragen ihrem Berlinpolitischen Gesamtkonzept unter: Grenzgänger trügen zur gesamtstädtischen Einheit und sozioökonomischkulturellen Verflechtung des Großraumes bei. Aber auch aus politischen, rechtlichen und moralischen Gründen betrieb die West-Berliner Administration in Abstimmung mit ihren Besatzungsmächten eine Politik der Grenzgängerintegration, die sich auf ihre Gesamtberliner Sorgepflicht berief. Mit dem Inkrafttreten des West-Berliner Lohnausgleichsrechts am 20. März 1949 entstand eine Lohnausgleichskasse (LAK), die es umtauschberechtigten Grenzgängern in beide Richtungen ermöglichte, einen Teil ihrer Arbeitseinkünfte nach einem generellen Prinzip230 sowie speziellen Schlüsseln in West- bzw. Ostmark umzutauschen.231 Diese einseitige West-Berliner Regelung betraf anfangs insgesamt etwa 200.000 registrierte Personen, d.h. rund 12 Prozent aller Berliner Erwerbstätigen232, veränderte sich dann aber laufend, zeitweilig unter Schwierigkeiten. Sie bestanden bis zur Mitte der 50er Jahre auch in der Frage des Zuzugs vor allem von denjenigen Westgängern nach West-Berlin, die in den Berliner Randgebieten lebten und ab 1952 von repressiven östlichen Aktionen bedroht waren. Ihre Zuzüge konnten

se. Für die Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) wies die Statistik 3.819 und für die VEB 3.215 Beschäftigte aus. In den Werken der sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) waren bemerkenswerterweise 3.000 Ostgänger angestellt, in städtischen Betrieben 1.100 und in „zentralen Verwaltungen und Organen“ 1.000. Vgl. Aktennotiz der Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-LL, 9.8.1950, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 378. 230 Die LAK verrechnete die auf Seiten der Ostgänger entstehenden potenziellen Währungsverluste, die angesichts des West-Berliner Umtauschkurses massiv waren, mit den potenziellen Währungsgewinnen der in West-Berlin tätigen Beschäftigten aus dem Ostsektor. Vgl. Michael W. Wolff, Währungsreform in Berlin 1948/49 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 77), Berlin/New York 1991, S. 269. 231 Hier spielten verschiedene wirtschaftliche und soziale Kriterien wie die Aufhebung der Lebensmittelkarten 1950 in West-Berlin, Mindest- und Höchstumtausch-Beträge sowie die Umtauschquote eine Rolle. Letztere pegelte sich im Laufe der Zeit auf 40 Prozent des Lohnes in West- und 60 Prozent in Ostmark für Westgänger ein, während für Ostgänger die Umkehrung dieses Verhältnisses (also 60:40) galt. Vgl. ausführlich: Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 53–65. 232 Vgl. ebd., S. 59.

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trotz eines allgemeinen Zuzugsstopps233 letztlich aus politischen Gründen nicht verhindert werden, wenngleich Umsiedlungen – abgesehen von Wohnraumfragen – eine Belastung der LAK darstellten.234 West-Berliner Großbetriebe besaßen ohnehin die Möglichkeit, für fachlich unverzichtbare Westgänger Ausnahmeregelungen zu beantragen, die sie zum Verdruss des Senats gern ausweiteten.235 Zwar beharrte der Senat nach heftigen internen Diskussionen zwischen den Verwaltungen Arbeit, Finanzen, Inneres und der LAK236 sowie mit dem auf eine Liberalisierung drängenden, offenbar weitsichtigeren Wirtschaftssenator237 auf dem Prinzip Ausnahmeregelung und führte Kontingentierungen ein. In der Praxis jedoch vergrößerte und erweiterte er sie um Personen aus bislang nicht berücksichtigten Tätigkeitsgruppen.238 „Westgehende“ Angestellte sollten aber aus politischen Gründen in Ost-Berlin und seinen Randgebieten unbedingt wohnen bleiben, wofür der Volksbildungssenator besonders plädierte.239 Bereits nach den Abschnürungsmaßnahmen der DDR gegenüber West-Berlin Mitte 1952 stieg allmählich das Interesse West-Berlins an qualifizierten Westgängern. Im März 1953 sprach das Gesamtberliner Büro des Senats von 15.000 „Schlüsselkräften“, „auf die die West-Berliner Wirtschaft in keinem Fall verzichten kann“.240

233 Vgl. „Gesetz über den Zuzug nach Berlin“ vom 9.1.1951 und „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Zuzug nach Berlin“, 20.3.1953, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, 7. Jg., Teil I., Nr. 7, 8.2.1951 sowie 9. Jg., Nr. 17, 27.3.1953. 234 Da es sich bei den Ostbeschäftigten u.a. von Siemens und der AEG um hochqualifizierte Arbeitnehmer, „zum Teil um Angestellte in gehobenen Stellungen“, um „Spitzenkräfte“ mit hohem Westmarkeinkommen handelte, würde die LAK dadurch jährlich etwa 4,32 Mio. Westmark verlieren. Vgl. Senatsvorlage des Senators für Finanzen für die Sitzung am 14.7.1952, 9.7.1952, in: LAB, B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 24. 235 Vgl. Kurzprotokoll über die Senatssitzung am 9.4.1952 und Schreiben der Senatsverwaltung Inneres an Finanzsenator Müller, 12.7.1952, in: ebd. 236 Senatsbeschlüsse Nr. 2106 vom 14.7.1952 und Nr. 2233 vom 11.8.1952, in: ebd. 237 Vgl. Schreiben des Senators für Wirtschaft und Ernährung an den Senator für Inneres, 6.8.1952, in: ebd., Acc. 1650, Nr. 24. 238 Vgl. „Vermerk über die Grenzgänger für die heutige Senatssitzung“, 2.2.1953, in: ebd., Nr. 24. 239 Lehrer und Beschäftigte in der Verwaltung sollten ihren Ost-Berliner Wohnsitz unbedingt nicht aufgeben, denn sie stellten dort „einen wichtigen Faktor zur Aufrechterhaltung der gegenseitigen Beziehungen zwischen Ost und West und des laufenden Austauschs der Gedanken im Interesse der Stärkung unserer Mitbürger in Ost-Berlin“ dar. Schreiben des Senators für Volksbildung an den Senator für Inneres, 23.1.1953, in: ebd. 240 Material des Büros für Gesamtberliner Fragen, 20.3.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 288.

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Zunächst hatten SED und Ost-Berliner Verwaltung die „Grenzgängerei“ faktisch toleriert, da ihr über diesen Mechanismus wichtige Arbeitskräfte zuflossen und die Westgänger die prekäre Arbeitsmarktlage im anderen Teil Berlins belasteten. Auch berührte das Prozedere der LAK den Ost-Berliner Staatshaushalt nicht, sondern bot ihm im Gegenteil finanzielle Vorteile, weil er die Ostgänger nicht in Westmark entlohnen musste. Insofern stimmte die SED dem Lohnausgleichsverfahren stillschweigend zu. Zum politischen Zankapfel geriet es dadurch, dass der Senat SED-Mitglieder und Sympathisanten aus politischen Gründen davon ausnahm und die SED dagegen Protest- und Solidaritätskampagnen sowie materielle Zuwendungen organisierte. Das Motto lautete: Der Magistrat, „der sich für ganz Berlin verantwortlich fühlt“, lasse die „in ihrer Existenz bedrohten Berliner nicht im Stich“.241 Das betraf sowohl West-Berliner, die für den Osten als Reichsbahnangestellte arbeiteten, als auch einige Wissenschaftler und Künstler, die der SED angehörten oder ihr – angeblich oder tatsächlich – nahestanden. Für bestimmte, die LAK als politisches Instrument betrachtende West-Berliner Politiker galt eigenartigerweise schon als „politisch verdächtig“, wer der Aufforderung der SED, in den Ostteil der Stadt überzusiedeln, nicht Folge leistete.242 Trotz einiger Propagandamöglichkeiten war der SED das Grenzgängertum insgesamt suspekt. Als Gesamtberliner Verflechtungsphänomen widersprach es dem vom Stalinismus gesetzten Rahmen gesellschaftlicher Entwicklung im Realsozialismus und vor allem dessen Regeln für eine politisch und wirtschaftlich geschlossene Gesellschaft, zu der die Abgrenzung vom kapitalistischen Feind- und Konkurrenzsystem gehörte. Insofern stellte das stets auf Integration und Verflechtung angelegte Grenzgängertum für die SED a priori nicht nur einen Fremdkörper im eigenen System dar, sondern auch ein Instrument des „Klassenfeindes“ zur Störung des sozialistischen Aufbaus in Berlin. Deshalb war es folgerichtig, dass sie ihre Politik – spätestens seit 1952 – auf die Beseitigung dieser Widerspruchserscheinung einstellte. Waren die Positionen der Repräsentanten in beiden Berliner Gesellschaftssystemen in hohem Maße politischer Natur, ließen sich die Grenzgänger auf beiden Seiten von differenzierteren Motiven leiten. Unter den Ostgängern befanden sich sehr wohl Angestellte, Künstler und auch eine Reihe von Produktionsarbeitern, 241 So erhielten die Betroffenen z.B. 1950 demonstrativ Winterkohle, Einkellerungskartoffeln und andere Lebensmittel. Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 505, 2.9.1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 851, Bl. 42. 242 Das beträfe auch 158 Ärzte und 23 Apotheker, die in Ost-Berlin Apotheken besäßen, aber in West-Berlin wohnten. Vgl. „Erläuterungen zum Protokoll über die 7. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 10.6.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070.

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die der SED angehörten oder doch – trotz Enttäuschungen über die konkrete SED-Politik nach 1948 – sozialistischem Ideengut verpflichtet blieben. Sie verband häufig, wie es in noch größerem Umfang bei Westgängern der Fall war, eine langjährige Zugehörigkeit zu Betrieben oder Institutionen, denen sie in der Regel bereits seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg angehörten. Es gab aber auch eine – niemals präzis festgestellte – Anzahl von in den Westsektoren beheimateten Arbeitern, aber auch leitenden Betriebsangestellten, Künstlern und Medizinern, die den gesicherten Job im Osten einer möglichen Arbeitslosigkeit in West-Berlin vorzogen, zumal sie in der Regel lohnausgleichsberechtigt und im Besitz eines Berechtigungsscheins zum Einkauf in Ost-Berlin waren. Doch wurden nach 1950 kaum noch West-Berliner zu Ostgängern, selbst wenn sie in West-Berlin ohne bezahlte Beschäftigung waren. Bei den Westgängern hingegen fielen politische Beweggründe weitgehend weg. Sie opponierten kaum gegen die politischen Verhältnisse im Osten und die SED, solange man sie „drüben“ in Ruhe arbeiten ließ. Sie ließen sich, grob gesehen, in zwei große Motivgruppen fassen: Die einen wollten sich in erster Linie, wie eben auch Ostgänger, nicht von den langjährigen alten Arbeitsplätzen und den mit ihnen verbundenen sozialen Milieus trennen243, die anderen, die zumeist erst nach 1950 und dann wieder massiv ab 1960 eine Arbeit in den Westsektoren aufnahmen, lockte vor allem der ihnen aus Lohnausgleich und Wechselkurs erwachsende Extraverdienst. Unter ihnen befanden sich viele Jugendliche mit einer häufig großen Affinität zu kapitalistischem Konsum und westlicher Lebensweise.244 In der Praxis gingen Treue zum alten Betrieb und finanzielle Vorteile häufig eine Symbiose ein. 243 So stellte der langjährige Westgänger Walter Gollin (Jg. 1907), wohnhaft in BerlinAltglienicke, auf die Frage nach seinen Gründen etwas verwundert seine über dreißigjährige Tätigkeit (und Karriere) in einer kleinen West-Berliner Lack- und Farbenfabrik in den Mittelpunkt: „Ich war seit der Krise von 1930 bei Krappke [Firma] beschäftigt, kannte den ‚Alten‘ und seinen Sohn wie meine Westentasche. Ich habe mich bei ihnen von einer Hilfskraft zum Expedienten hochgearbeitet. Habe den ganzen Laden geschmissen. Die Kollegen hörten auf mich. Und schlecht gelebt habe ich auch nicht.“ Gespräch mit Walter Gollin am 24.11.1995. 244 Gerhard Liebmann (Jg. 1938), wohnhaft in Bernau, war seit dem Frühjahr 1959 Westgänger und arbeitete erst „schwarz“ und dann als Betriebsmaurer in einem WestBerliner Großbetrieb. Ihn lockte, wie er sagte, dass er im Westen durch „Umrubeln“ viel mehr verdiente als beim VEB Bauunion als gelernter Maurer: „Ich habe im Westen ein paar Wochen schwarz gearbeitet gegen West bar auf die Kralle. Da war ich aber nicht versichert und so. Dann bin ich bei Siemens angenommen worden und war dann voll Grenzgänger. Ein Teil des Lohns erhielt ich in Ost und etwa 120 Mark im Monat in West. Die hab ich 1:5 oder wie der Kurs war, umgerubelt oder habe manchmal im Westen eingekauft. Kinogeld hatte ich immer und ein paar Mäuse zum Schwoofen in Neukölln. Ich ha-

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Grenzgänger besaßen sowohl West- als auch Osterfahrung. Das prädestinierte sie für sozioökonomische und kulturelle Vergleiche sowie sachbezogene Kritik. Der West-Berliner Senat musste sie im Laufe der Jahre immer weniger fürchten. SED und Magistrat hingegen sahen sich ihr zunehmend ausgesetzt, weil sie in jedem Grenzgänger einen Multiplikator für antikommunistische Ressentiments sahen. Das war nur sehr bedingt richtig. Ost- wie Westgänger berichteten zwar in kleineren, zumeist Familienkreisen über im jeweils anderen Sektor Erlebtes, hüteten sich aber davor, ihren Arbeitsplatz im Osten durch Auffälligkeiten zu riskieren oder – die Westgänger betreffend – die eigenen Schwierigkeiten mit der OstBerliner Staatsmacht durch Propaganda für den Westen oder erkennbaren Antikommunismus noch zu vergrößern. Einen besonderen „Spagat“ vollzogen politisch eher linksorientierte Ostgänger, die sowohl die Animositäten der SED als auch den rigide gehandhabten Ausschluss vom Lohnumtausch zu berücksichtigen hatten. Insofern bildete sich insgesamt ein eher „unpolitischer“ Grenzgänger heraus. Dem kam die Erkenntnis der Westgänger entgegen, dass die SED materiellen Egoismus, im Unterschied zur ersten Grenzgängerkritik „von unten“245, noch tolerierte, Handlungen, die als „prowestlich“ ausgelegt werden konnten, jedoch nicht. Wie Erinnerungen belegen, verkannten Westgänger aber ihre „Anormalität“ in Ost-Berlin, die durch eine etwas andere Mentalität, westliche Kommunikationsformen, aber auch Kleidung sichtbar wurde. Auch ohne artikulierte Propaganda für den Westen geriet der Westgänger zur personifizierten Aufforderung an seine Ost-Berliner Mitbürger, es ihm gleichzutun. In jedem Fall betrachtete die SED, wie ihre demokratischen Gegner, die Grenzgängerei als unmittelbare Form erlebbarer Systemkonkurrenz, die Staatspartei jedoch mit dem Ziel, sie allmählich zu beseitigen. 2.6.2 Die Lösung des Ostgängerproblems der SED Da die Beseitigung der Grenzgängerei zunächst nur im Bereich der noch etwa 44.000 Ostgänger möglich schien, begann die Staatspartei ab Ende 1952 mit deren Verringerung. Im Hintergrund entsprechender Kampagnen standen die Verschärfung des Kalten Krieges, die akute Krise des DDR-Sozialismus sowie im einzelnen be in Bernau gelebt wie der King. Viele waren neidisch, haben sich aber nicht getraut, im Westen zu malochen.“ Gespräch mit Gerhard Liebmann am 14.7.2006. 245 Bis etwa Mitte der 50er Jahre akzeptierte der offenbar größte Teil der Ost-Berliner die Grenzgängerei als Folge der Spaltung, die angestammte Arbeitsplätze und Berliner Gemeinsamkeiten nicht gänzlich zunichte machen dürfe. Doch mehrten sich diejenigen Stimmen, die gegen „Werktätige“ polemisierten, die im Osten alle sozialen Vorzüge genössen, ihre Arbeitskraft aber in West-Berlin verkauften, was ihnen über den Wechselkurs große Gewinne einbrächte.

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ökonomische, vor allem aber Sicherheitsüberlegungen. Die ersten Maßnahmen betrafen das als besonders anfällig geltende Ost-Berliner Post- und Fernmeldewesen.246 Zu Psychosen gesteigert, betraf die Sicherheitsprophylaxe auch Ostgänger, die der SED angehörten oder ihr doch politisch nahestanden. Eine wichtige faktische Entlassungsentscheidung fiel Anfang Mai 1953 in der Wirtschaftsabteilung der SED-Bezirksleitung. Diese schlug vor, „alle Arbeitskräfte mit Wohnsitz in den Westsektoren, soweit sie nicht unbedingt für die Erfüllung unserer wirtschaftlichen Aufgaben erforderlich sind“, bis zum 31. Juli 1953 zu entlassen.247 Die Bezirksleitung stimmte zu.248 Die Kündigungen und Massenentlassungen mit teilweise grotesken Begründungen zogen sich bis zum Herbst 1955 hin.249 Sie spiegelten aber auch den Umstand wider, dass nur wenige Ostgänger der Aufforderung des Magistrats gefolgt waren, nach Ost-Berlin umzuziehen. Hatten zunächst ideologische Entlassungsmotive dominiert, die vor allem ideologierelevante Bereiche, z.B. Volksbildung, betrafen250, traten nun ebenfalls wirtschaftspolitische Argumente hervor251, die in ihrer Dialektik Kündigungen aber

246 Am 13.10.1952 hatte das ZK der SED beschlossen, West-Berliner als „Gefahrenquelle“ von allen leitenden Positionen zu entbinden und auf weniger wichtige Stellen zu versetzen. Andere seien bereits zum Umzug nach Ost-Berlin veranlasst oder aber entlassen worden. Es sei zu überlegen, ob bei weiteren 600 West-Berlinern, die teilweise Einblicke in dienstliche Vorgänge hätten, aus Sicherheitsgründen nicht weitere Einschränkungen zweckmäßig seien. Schreiben von Magistratsdirektor Ernst Köhler an die SED-LL (Jendretzky), 13.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 378. 247 Dabei sei die Frage der Entlassung von in West-Berlin wohnenden SED-Mitgliedern „individuell“ zu entscheiden. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL: „Vorlage für das Sekretariat. Betr.: Maßnahmen zur weiteren Einschränkung des Abflusses von DM der Deutschen Notenbank in Verbindung mit einer Neuregelung der Betriebsausweise“, 4.5.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 169, Bl. 16. 248 Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 182. 249 Vgl. die Kündigungspraxis, in: ebd., S. 177–184. 250 292 in West-Berlin lebende Lehrer seien „aus Gründen der Wachsamkeit und der Sicherung unserer demokratischen Schule“ bereits entlassen worden, 70 seien noch tätig, nur 20 von ihnen – „Genossen Lehrer“ – könne der Umzug nach Ost-Berlin gestattet werden. Beschlußvorlage für das Sekretariat der SED-BL, 4.5.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 169, Bl. 261. 251 Zur Sicherung „unseres friedlichen Aufbaus und zur Verhinderung des Geldabflusses“ seien die Arbeitskräfte aus West-Berlin im Juli 1955 auf ca. 12.000 gesunken, müssten aber weiter reduziert werden. Allein durch die Entlassung von 7.000 dieser Beschäftigten flössen (geschätzte) 25 Mio. Ostmark weniger in den Westen ab. Vgl. Vorlage für das Büro der SED-BL: „Stand der Beschäftigung von Bewohnern Westberlins im demokratischen Sektor“, 2.9.1955, in: ebd., Nr. 247/1, Bl. 6f.

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auch begrenzten.252 Doch regte sich Widerspruch zum einen bei West-Berliner SED-Mitgliedern253 und zum anderen bei Ost-Berliner Arbeitern.254 Der gesamte Entlassungsprozess wurde vom Senat und den Westalliierten sorgsam beobachtet, kommentiert und ausgewertet.255 Auch sie kamen zu dem Schluss, dass sich für den Osten bis Mitte des Jahrzehnts das Problem Ostgänger als politische Frage im Wesentlichen erledigt hatte. Zum gleichen Zeitpunkt setzte eine Tendenzwende und damit die zweite Etappe der „Bewältigung“ des Grenzgängerproblems unter beiderseits veränderten Bedingungen ein: In West-Berlin begann eine wirtschaftliche Konjunkturphase, die mit einem stärkeren Bedarf an Arbeitskräften verbunden war. „Dieser Trend stand in völligem Gegensatz zur Abschottungspolitik, zum rasch dringender werdenden Interesse an Arbeitskräften sowie zur Propaganda der Identifikation der Werktätigen mit ‚ihrem Staat‘, der DDR.“ Folgerichtig entwickelte die SED einen „dezidiert restriktiv-repressiven West-Grenzgänger-Kurs“.256 Ihre Versuche, „befähigte“ in Ost-Berlin wohnende Genossen in private West-Berliner Betriebe einzuschleusen257, verloren ihren Sinn. Jetzt ging es um die Blockierung der Westgängerei und die Rückgewinnung wertvoller Arbeitskräfte, um die Partei und Magistrat mit allen möglichen Mitteln kämpften: sozialen und administrativen Repressionen, Schikanen, Strafandrohungen und begrenzten Strafverfolgungen258, aber auch mit 252 Sie seien nicht in den personellen Mangelbereichen Gesundheitswesen und Kultur vorzunehmen. Auch dürften arbeitsrechtliche Bestimmungen nicht verletzt werden und die Produktion in den Betrieben nicht leiden. Vgl. ebd., Bl.7. 253 West-Berliner Genossen betrachteten die Maßnahmen „als im Widerspruch zu unseren Kämpfen um die Wiedervereinigung Berlins stehend. Sie erklärten mehr oder weniger offen, dass sie das Vertrauen zur Partei verloren haben und sich überlegen werden, ob sie noch weiter Mitglied der Partei bleiben.“ Ebd., Bl. 9. 254 Bauarbeiter meinten gegenüber SED-Funktionären: „Ihr wollt Verständigung mit Westberlinern und entlasst die Westberliner.“ Im TRO äußerten Arbeiter, die SED wolle die Grenze zwischen Ost und West auch damit „zumachen“. Die Entlassung der WestBerliner sei aber auch „ein Racheakt für den Ausgang der westberliner Wahlen“ (1954). Abteilung Leitende Organe der SED-BL, Wochenbericht, 11.1.1955 und 27.1.1955, in: ebd., Nr. 610. 255 Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 184–190. 256 Ebd., S. 443f. 257 Vgl. Protokoll Nr. 1/1954 der SED-Sekretariatssitzung am 7.1.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 201/4, Bl. 4. 258 Bereits im September waren in der SED-BL die Verhängung nicht nur von Geld-, sondern auch von Gefängnisstrafen für „unbedingt notwendig“ erachtet worden. Ordnungsstrafen allein würden nicht ausreichen. Vgl. „Vorlage für das Büro der SED-BL: „Betr. die Arbeitskräftelenkung im demokratischen Sektor von Groß-Berlin“, 5.9.1955, in: ebd., Nr. 241, Bl. 31.

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den Instrumenten „Aufklärung“, kollektive und persönliche Aussprachen sowie lukrative Arbeitsangebote u.a.m.259 Repressalien konnten nicht flächendeckend sein, und sie gestalteten sich weniger strafend als prophylaktisch. Insgesamt jedoch spitzte sich der Prozess der Entrechtung und gesellschaftlichen Diskriminierung der Westgänger zu. Dabei bedienten sich die Ost-Berliner Herrschaftsapparate der nach 1957 deutlich anwachsenden, aber nie vorherrschenden Abneigung in der Ost-Berliner Gesellschaft gegen die Westgänger, die nichts für das Allgemeinwohl täten, aber die sozialen Leistungen des realen Sozialismus und gleichzeitig kapitalistische Konsumangebote für sich in Anspruch nähmen, kurz: wie Schmarotzer lebten. Offener und versteckter Neid spielten hierbei eine Rolle.260 Eine zwar zivilisierte, aber ebenfalls deutliche Kritik an den Westgängern äußerten auch West-Berliner, wobei im Nachhinein nicht klar zu erkennen ist, inwiefern OstBerliner Leserbriefe und andere Meinungsäußerungen von den Obrigkeiten bestellt und Argumente vorgegeben wurden. Auch sie wurden von SED, Magistrat sowie deren Medien dankbar aufgenommen und Ressentiments kräftig geschürt.261 Der erhoffte Effekt blieb aber auch aus, weil für die Grenzgänger eine starke Lobby in der Westpresse entstand, die den Zeitungskampagnen des Ostens wirksam begegnete.262 Alle kommunistischen Maßnahmen263 führten insbesondere deshalb nicht zum gewünschten Erfolg, weil die handfesten egoistischen Interessen der meisten Westgänger mit der Schützenhilfe von Alliierten, WestBerliner Politik und Wirtschaft sowie der Sympathisanten im Osten stärker waren als alle bislang von der SED in Anschlag gebrachten Methoden und Instrumentarien. Sie reichten letztendlich weder juristisch und politisch noch sozial und wirtschaftlich für eine Wende in dieser Frage aus, für deren Lösung auch moralisierende Ansätze nichts taugten. Im Gegenteil schwoll, wie noch zu sehen sein wird, mit der einsetzenden allgemeinen Krise des DDR-Sozialismus der Strom der von der West-Berliner Konjunktur angelockten Ost- und Randberliner Arbeitskräfte an: 259 Vgl. zur gesamten SED-Repressions- und Werbepolitik sowie zur westlichen Reaktion: Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 245–290 und 371–386. 260 Vgl. Vermerk des Gesamtberliner Büros, 16.8.1957, „betr.: Die neuen Schikanen gegen Grenzgänger“, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 12280. 261 Vgl. als typisch: die Artikel der „Märkischen Volksstimme“, 9.8., 14.8. und 17.8.1958. 262 Vgl. Roggenbuch, Das Berliner Grenzgängerproblem, S. 264–267, 279–287, 327. 263 Die SED-BL sprach bereits 1955 von einem „nur außerordentlich geringen Erfolg“ aller Aktionen; in West-Berlin sah man trotz aller Schikanen der Kampagne von 1958 nur 10 Prozent der Westgänger eine Arbeit in der DDR aufnehmen. Die meisten der Betroffenen würden sich aber über kurz oder lang wieder in West-Berlin zur Arbeit einfinden. Vgl. Vorlage für das Büro der SED-BL „Betr.: die Arbeitskräftelenkung im demokratischen Sektor von Groß-Berlin“, 5.9.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 241, Bl. 31 und Bericht, undatiert (1958), in: ebd., B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 24/1.

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qualifizierte Arbeiter, die von der Ost-Berliner Industrie dringend benötigt wurden, und ungelernte – voran die stillen Hausfrauen des „Scheuerlappengeschwaders“.264 Hatte die West-Berliner Stadtregierung zu Beginn der 50er Jahre in der Grenzgängerfrage auf arbeitsmarktpolitische und soziale Integration gesetzt, so trat an deren Ende eindeutig das stärkere wirtschaftliche Motiv in den Vordergrund. Zwar betrieb der Senat nicht die von der Konkurrenz unterstellte gezielte Schädigung des realsozialistischen Aufbaus sowie eine instrumental damit verbundene Abwerbung, doch ging die ihren eigenen Gesetzen folgende West-Berliner Wirtschaft nach 1958 allmählich dazu über. Im Schnittpunkt zweier Tendenzen – Hochkonjunktur in den Westsektoren und Krise in Ost-Berlin – entstand beiderseits ein immens gestiegener Bedarf an Arbeitskräften als gemeinsames Problem. Die SED geriet immer mehr in die Defensive, weil das „Schaufenster“ West-Berlin an Glanz gewann und gerade für viele Ost-Berliner zur Alternative wurde. Sollte die Grenzgängerei nicht weiter zur wirtschaftlichen und sozialen Belastung für die DDR beitragen, musste dieser Faktor endlich beseitigt werden. Hierzu bedurfte es jedoch offenbar einer bislang nicht eingetretenen Krise des realen Sozialismus.

2.7 Wechselwirkungen der sozialökonomischen Konkurrenz Arthur Schlegelmilch hat bei seiner Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Systemkonkurrenz im geteilten Berlin zu Recht deren gesellschaftspolitisch relevante Widerspiegelung hervorgehoben. So wäre beim Herausstellen der Stärken und Schwächen der konkurrierenden Ordnungen insbesondere in Wirtschaft und Sozialwesen „dem Verhalten der Berliner, ihrer Zuwendung zum einen oder anderen Gesellschaftstyp“, große Bedeutung zugekommen – auch symbolische. Die Schaffung attraktiver Lebens- und Arbeitsräume sei so in beiden Teilstädten als legitimierender Faktor einerseits für das sozialistische, andererseits für das marktwirtschaftliche Modell verstanden worden, und die Entscheidung der Berliner hätte „sogar Bedeutung für die Durchsetzung des von beiden Seiten erhobenen Anspruchs auf die jeweils andere Stadthälfte“ haben können.265 Während Karl C. Thalheim exemplarisch die westlichen Ansichten auf einen in der demokratischen Welt weithin akzeptierten gemeinsamen Nenner brachte

264 Die Kampagne der SED gegen alle Frauen, die unangemeldet in West-Berlin, vor allem alle Reinigungskräfte, arbeiteten, mündete immer wieder in Aufrufen zur Denunziation. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1958, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 33. 265 Schlegelmilch, Tendenzen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Berlins, S. 14.

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und dabei den sozialökonomischen Faktor im Westteil der Stadt hervorhob266, berücksichtigten ihn die östlichen Politiker und Ideologen ebenso, argumentierten jedoch „prinzipieller“267, in mancher Hinsicht, etwa in Legitimationsfragen268 und bei Schuldzuweisungen269, aber auch konkreter. Natürlich sahen die Apologeten von sozialer Markt- und zentraler Planwirtschaft die sozioökonomischen Potenzen beider Teile Berlins nicht nur im gesamtdeutschen, sondern ebenfalls globalen Konkurrenzzusammenhang. Während im Westen eine Reihe von Politikern dabei bereits seit Beginn der 50er Jahre auf die „schwachen Füße“ des östlichen Wirtschaftssystems hinwies und ihm keine wesentlichen Entwicklungschancen zubilligte270, sahen es andere, etwa Ludwig Erhard, differenzierter. Es habe einschließ266 West-Berlins vorrangige sozioökonomische Aufgabe sei es, in der Systemkonkurrenz „dem Osten die Vorteile der westlichen Wirtschafts- und Lebensform unmittelbar vor Augen zu führen“ und dessen wirtschaftliche und soziale Überlegenheitsargumente zu entkräften. Thalheim, Die Wirtschaft Berlins zwischen Ost und West, S. 401f. 267 Die SED erhob zumindest bis Mitte der 50er Jahre den Anspruch auf das ganze Berlin als „Hauptstadt Deutschlands“ nicht schlechthin. Da sie „zum Symbol der Wiedervereinigung“ und gleichzeitig des Fortschritts überhaupt werde, sei der Aufbau Berlins, „der im demokratischen Sektor begonnen hat und […] gewaltig vorangetrieben wird“, die eigentliche gesellschaftspolitische Aufgabe. Zusammen mit der „fortschreitenden [Ost-Berliner] Demokratisierung“ müsse der wirtschaftliche und soziale Aufbau im Osten in dem von der sich verschlechternden Lebenslage gekennzeichneten West-Berlin „seine Fortsetzung“ finden. Magistratsvorlage Nr. 960, zur Beschlußfassung für die Sitzung am 30.4.1952, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 865, Bl. 147. Vgl. dazu auch die Magistratsvorlage Nr. 953 für die Sitzung am 24.4.1952, sowie den Magistratsbeschluß Nr. 1121 vom 24.4.1952, in: ebd., Nr. 865, Bl. 95 und Nr. 870, Bl. 4. 268 Durchgängiges Argument war, alle wirtschaftlichen und sozialen Verbesserungen auf die von West-Berlin „erbettelten“, aber es „versklavenden“, westalliierten Hilfen zurückzuführen, während Ost-Berlin und die DDR „aus eigener Kraft mit Hilfe der friedliebenden Sowjetunion besser leben kann als je zuvor“. Erklärung Eberts in der Sitzung des DDRMinisterrats, 23.8.1950, in: ebd., Nr. 851, Bl. 26/1 und Volkswirtschaftsplan 1951 für Berlin, 23.8.1950, in: ebd., Nr. 856, Bl. 4. 269 „Hauptfunktion“ West-Berlins sei es gewesen, „den Reiz des Westens (zu) verstärken und die DDR-Bevölkerung durch künstlich geschaffenen Glanz und Flitter (zu) blenden und ihre Abwanderung aus der Republik (zu) fördern“. V. Wyssozki, Westberlin, Berlin (O) 1974, S. 124f. Die Ost-Berliner sozioökonomischen Defizite wurden von einigen Autoren auch noch nach der „Wende“ wesentlich auf westliche „Störeinwirkungen“ zurückgeführt. Sie hätten „volkswirtschaftliche Einbußen von erheblichem Ausmaß“ verursacht und mit „mehreren Milliarden Mark“ etwa dem Umfang der „gesamten industriellen Investitionen in den 50er Jahren“ entsprochen. Zimm, Berlin (Ost) und sein Umland, S. 222f. 270 In West-Berlin war es vor allem Reuter, der in ständiger Wiederkehr dieses Arguments darauf verwies, dass ein Wirtschaftssystem, das ständig zu „penetranten, lächerlichen und kleinlichen Schikanen“ gegen West-Berliner und die eigene Bevölkerung übergehe, in

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lich seiner sowjetischen Ressourcen erhebliche Möglichkeiten, sei aber nicht ausreichend in der Lage, wirtschaftliche in soziale Leistungen umzuwandeln.271 Demgegenüber gingen kommunistische Wirtschaftstheoretiker davon aus, dass im krisenbehafteten West-Berlin, trotz einiger ihm zugebilligter randständiger Entwicklungsmöglichkeiten, der monopolkapitalistische „Imperialismus“ am Ende sei. Während durch die Quellen und die Sekundärliteratur die wirtschaftliche Überlegenheit West-Berlins im Bedingungsgefüge von deutscher sozialer Marktwirtschaft und westlichen Hilfen im Prinzip klar wird und die östliche Konkurrenz sie trotz gegenteiliger offizieller und öffentlicher Behauptungen nicht ernsthaft in Frage stellte, verhielt es sich bei der Bewertung des Sozialen etwas anders. Dabei muss angesichts allgemeiner, häufig unreflektierter Behauptungen über die Stärken und Schwächen sozialer Maßnahmen im Berliner Konkurrenzkampf zunächst gefragt werden, ob sie relativ unabhängig voneinander oder aber unter einem Wettbewerbsaspekt absichtsvoll entwickelt wurden. Dass es auf beiden Berliner Seiten soziale Verbesserungen und Fortschritte „an sich“ gegeben hat, die im geteilten Berlin „automatisch“ in den Rahmen des Systemwettbewerbs gestellt wurden (und dann in der Regel eigendynamisch wirkten), wird kaum zu bezweifeln sein. Echten Erkenntnisgewinn über konkurrierende Strukturen wird weiterhin die konkrete Analyse der Wechsel- und Vorbildwirkungen von sozioökonomischen Maßnahmen in ihren Ursache-Wirkung-Relationen erbringen. Gezielte systemübergreifende Interaktionen sind hingegen nur in einigen Fällen nachweisbar. Ein nachhaltiger „Magnetismus“ und kausale Einflüsse wurden bereits im Untersuchungszeitraum von beiden Seiten – vehementer vom Osten – herausgestellt272, wenngleich dessen Parteigänger mit sozialen Vergleichen vorsichtig um-

Wirklichkeit bereits am Ende sei. Manuskript Reuters (für die Sendung: „Wo uns der Schuh drückt“) 11.4.1953, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 592. 271 Erhard verwies auf den seines Erachtens großen technischen Fortschritt im Osten, in dem auch die Wissenschaften „blühen“. Auch könne er sich durchaus vorstellen, dass in der UdSSR beispielsweise die Eisen- und Stahlproduktion stärker als in Westeuropa steige. „Je nachdem, was ich aus dem Stahl mache, beglücke ich das Volk oder stürze es ins Unheil […] Wenn sie [damit] Zuchthäuser bauen, ist es auch eine Leistung, aber niemand wird sagen […] ein soziales Produkt.“ Überdies sei zu sehen, dass die Sowjets „Sputniks in die Luft schießen“ und gigantische Dämme bauen könnten, „aber was sie nicht können, das sind die kleinen Dinge […], die wir in der Tasche haben, das kleine Feuerzeug, die Ohrclips […]; das alles, was das Leben lebenswert macht.“ Rede Erhards zur Eröffnung der 10. Deutschen Industrieausstellung 1959, 12.9.1959, in: ebd., Acc. 1703, Nr. 2221. 272 Vgl. Manuskript des Beitrages von Waldemar Schmidt zum Buch „Unsere Stadt. Berlin – Stadt des Friedens, undatiert, wahrscheinlich Anfang 1959, in: ebd., C Rep.124, Nr.200.

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gingen, weil sie „Tücken“ in sich bargen und Gegenargumente hervorriefen.273 Da wichtige Vergleiche des Lebensstandards – etwa in den Positionen Löhne und Gehälter, Konsumangebote sowie im Ganzen auch Preise – die Vorzüge des Westens unterstreichen mussten, konzentrierte sich die Ost-Berliner Propaganda zum einen auf die tatsächlichen Schwachstellen des West-Berliner Sozialsystems (z.B. Arbeitslosigkeit und bestimmte Preiserhöhungen) und zum anderen – kontrastierend – auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Stärken der realsozialistischen sozialen Wirklichkeit: Vollbeschäftigung, Wohnungsmieten, einige Preise und Tarife sowie die Subventionierung von Schule, Kultur und Sport, aber auch von sozialer Betreuung nebst Krankenversicherung.274 Es blieb aber eine verbale Behauptung, wenn in östlichen Medien und Publikationen von einem direkten Einfluss konkreter Ost-Berliner „Errungenschaften“ beispielsweise auf Preise und Subventionen im Westteil der Stadt die Rede war275, die sich dort auch positiv auf soziale und ökonomische „Tageskämpfe“ ausgewirkt hätten.276 Es waren aber weniger soziale und sozialpolitische Maßnahmen des Ostens, die vom WestBerliner Senat als Bedrohung wahrgenommen wurden, sondern vielmehr bestimmte Konkurrenznachteile, die ihm beispielsweise aus der mehr politisch als wirtschaftlich und sozial motivierten Preispolitik des DDR-Verkehrs- und Eisenbahnwesens sowie bei anderen Dumping-Leistungen erwuchsen. Allerdings sah der Senat in einigen sozial motivierten West-Berliner Streiks die Gefahr einer 273 Bei der Diskussion mit Besuchern aus dem Westen werde ein Sozialvergleich zwischen Ost- und West-Berlin sowie die Erörterung westlicher Lebenshaltungskosten vermieden, meinte der Senat. Die Gesprächspartner in Ost-Berlin gingen insbesondere auf einen Lohnvergleich nicht ein. Würden Preise thematisiert, redete die östliche Seite immer von Marken-, nie von HO-Preisen. Gegenüber Gewerkschaftern aus dem Westen stellte sie explizit die Leistungen des FDGB heraus: ein Mitspracherecht bei den Produktionsberatungen, den 90prozentigen Lohnausgleich im Krankheitsfall, die Leistungen für Mütter und die lohnpolitische Gleichberechtigung der Frau. Der FDGB gebe jährlich über 200 Mio. Ostmark für die soziale Unterstützung und Betreuung seiner Mitglieder und ihrer Kinder aus und könne in den Betrieben 40 Prozent seines Beitragsaufkommens für den Urlaubsdienst, für Kinderferienlager u.a.m. verwenden. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 34. 274 Vgl. Erklärung der Kommission (der SED-BL) zum West-Berliner Haushaltsplan 1955/56, 6.7.1955, in: ebd., C Rep.902, Nr. 236, Bl. 30. 275 Vgl. exemplarisch: Peter A. Steiniger, Westberlin. Ein Handbuch zur Westberliner Frage, Berlin (O) 1959, S. 10157. 276 So habe bereits der Hinweis auf die Erfolge der „Werktätigen“ in der DDR und OstBerlins genügt, „um die Frontstadtpolitiker zu zwingen, Lohnerhöhungen zuzustimmen oder von noch stärkeren Preissteigerungen Abstand zu nehmen“. Gerade auf soziale Streiks der West-Berliner Arbeiter habe die östliche Sozialpolitik Einfluss genommen. Vgl. ebd.

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politischen Unterstützung Ost-Berlins, die tatsächlich politisch fühlbar werden konnte.277 Wechselbeziehungen traten bei einigen zentralen Projekten der sozialpolitischen Konkurrenz zutage. Als sich in West-Berlin die heiß umstrittene FünfTage-Arbeitswoche durchzusetzen begann, hatte die SED unter diesem Eindruck die Einführung des Sieben-Stunden-Arbeitstages in der DDR in Aussicht gestellt278, um dann schließlich nur die Wochenarbeitszeit (ab 1. Februar 1957) von 48 auf 45 Stunden „ohne Verringerung der Produktionsleistungen und ohne Erhöhung der Produktionskosten“ zu verkürzen. Doch wirkte das von den OstBerliner Arbeitern offen als Vorbild genannte westliche Projekt Fünf-TageWoche weiter. Diese Forderung würde „überall“ in den Ost-Berliner Betrieben erhoben und darüber Diskussionen geführt279, meldeten die Vertrauensleute der SED. Eine eigenartige Wechselwirkung zeigte sich auch in der auf beiden Seiten brisanten Frage der Rentenerhöhung. Zwar bauten die Bundesrepublik und WestBerlin ihren Vorsprung bei der finanziellen Versorgung von Rentnern gegenüber der DDR bis Mitte der 50er Jahre weiter aus, erachteten sie aber – auch angesichts einer nicht zustande kommenden generellen Sozialreform und nahender Bundestagswahlen (1957) – als reformbedürftig. Von den großen Parteien als „vordringlichste Aufgabe des Jahres auf dem Weg zu einer sozialen Neuordnung betrachtet, rückte die Rentenreform 1956 in den Mittelpunkt der sozialpolitischen Szene“.280 Da die Unzufriedenheit mit den viel zu niedrigen ostdeutschen Renten im eigenen Machtbereich weiter anwuchs und eine Symbiose mit der durch die Einführung der „dynamischen Rente“ zu erwartenden prinzipiellen Verbesserung im Westen einzugehen drohte, beschloss die Volkskammer im November 1956 für die DDR und Ost-Berlin eine Rentenerhöhung um durchschnittlich 30 Ostmark pro Bezugsberechtigten. Wenngleich sie von vielen Ost-Berlinern begrüßt (und gleichzeitig als zu niedrig bezeichnet) wurde, erkannten sie jedoch ihren politischen Hintergrund. Im Westen sei eine Rentenreform geplant, „und jetzt treibt der 277 Ein drohender Streik des West-Berliner Fernverkehrsgewerbes träfe nicht nur die „wirtschaftlichen Lebensadern“ Berlins, sondern sei auch „politisch gegenüber dem Osten unerfreulich“. Schreiben von Finanzsenator Haas an Bundesfinanzminister Schäffer, 12.3.1952, in: LAB, B Rep. 6, Acc. 2221, Nr. 1862. 278 Vgl. Leitende Organe der Partei: „Stimmung aus Westberlin zur 3. Parteikonferenz“, Informationsbericht Nr. 17, 27.3.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 612. 279 Vgl. „Information zur Einführung der 45-Stunden-Woche […],“ 19.1.1957, in: ebd., Nr. 281, Bl. 49. 280 Vgl. Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 300– 319 (Zitat auf S. 319).

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Westen uns dazu, ebenfalls eine zu schaffen“.281 Die SED leugnete diesen Zusammenhang „einer bewährten“ politischen Konzeption folgendermaßen: Sie verwies auf die zeitlichen Abfolgen der Rentenerhöhungen in Ost und West und kehrte das Einflussverhältnis um: Der Westen müsste „besonders durch die Erhöhung der Renten“ in der DDR den Forderungen der „Werktätigen“ nachkommen282 und die Rentenleistung per Gesetz erhöhen. Der Einfluss West-Berliner Verhältnisse auf die soziale Konkurrenz in der geteilten Stadt fand politisch sichtbar noch einmal bei der Diskussion um ein neues Arbeitsgesetzbuch 1960/61 beredten Ausdruck. Die Forderung vieler Arbeiter nach der Fünf-Tage-Woche, höherem Grundurlaub u.a.m. würde, wie der FDGB-Bundesvorstand zutreffend kommentierte, von „bestimmten Entwicklungen in Westdeutschland und Westberlin (5Tage-Woche, Forderungen […] auf Mindesturlaub von 18 Tagen) gefördert“. Die „Propagierung solcher gegenwärtig nicht erfüllbaren Forderungen“ sah der FDGB zwar ideologisch als „Einfluß des Klassengegners“, aber in der Sache richtig. Denn West-Berliner Vorbilder verstärkten die „Widersprüche zwischen Partei, Regierung, Gewerkschaft und den Werktätigen“.283 Während diese Beispiele den allgemeinen westlichen sozialpolitischen Einfluss belegen und eine generelle Wechselwirkung in diesen Fällen erkennen lassen, lässt sie sich auf der Ebene praktischer Maßnahmen im Berliner Alltag noch sicherer feststellen, etwa bei den beiderseitigen Versuchen, wichtige Arbeitskräfte und qualifizierte Fachleute durch finanzielle Sonderkonditionen284 oder Wohnungsofferten285 an sich zu binden. In anderen 281 „Bericht über die Stimmung zu den Ergebnissen der Moskauer Verhandlungen und der 28. Tagung [des ZK der SED]“ 14.8.1956, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 613. 282 SED-BL: „Argumentation zum westdeutschen Rentengesetz“, 21.5.1957, in: ebd., Nr. 292, Bl. 105. 283 FDGB-Bundesvorstand Groß-Berlin: „Einschätzung der bisherigen Ergebnisse der Diskussion des AGB-Entwurfes,“ 10.2.1961, in: ebd., Nr. 463, Bl. 147. 284 Da die Gehälter von Wissenschaftlern, Ingenieuren und von technischem Personal in leitenden Funktionen in West-Berlin, gemessen an anderen Berufs- und sozialen Gruppen, von Anfang an überproportional hoch waren und nach 1952 weiter anstiegen, wurde die östliche Seite (in Ost-Berlin seit 1951) zu finanziell lukrativen Einzelverträgen und besonderen sozialen Leistungen – wie großzügigeren Rentenregelungen – gezwungen. Hier entstand auch dadurch eine Dynamik, weil West-Berlin im Kontext seines wirtschaftlichen Aufschwungs, wollte es ein Abwandern von Spezialisten in die Bundesrepublik verhindern und die für die Wirtschaft interessanten Ost-Berliner Fachleute anziehen, die Gehälter in den in Frage kommenden Wirtschafts- und Dienstleistungsbereichen relativ zügig steigern musste. Ost-Berlin zog – beispielsweise1958 – wiederum nach. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 138 für die Sitzung am 5.6.1953, „Erhöhung der Gehälter in den Einzelverträgen der leitenden technischen Funktionäre […]“, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 886 und Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1958, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 2ff.

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sozial strukturierten Lebensbereichen lassen sich derartige konkrete KonkurrenzInteraktionen allerdings kaum belegen. Dass beispielsweise der soziale Wettbewerb im geteilten Berlin nicht zuletzt durch unterschiedliche Konzeptionen und Praktiken bei der Schaffung von Kindergärten und Krippen allgemein beflügelt wurde und ostdeutsche Lösungen auch für Viele im Westen vorbildhaft waren, scheint unbestritten. Doch kann dort ein praktischer Impuls durch das östliche Modell nicht nachgewiesen werden. Gleiches gilt umgekehrt aber auch für eine Reihe westlicher „Erfindungen“, die – beispielsweise bei der Einrichtung von OstBerliner Selbstbedienungsläden286 – anderen sozialpolitischen Motivlagen und praktischen Kontexten folgten und eigene Regeln entwickelten. Hingegen waren häufig „verdeckte“ Vorbildeinflüsse und Interaktionen im „Mikrokosmos“ des sozialen Systemswettbewerbs in den Großbetrieben Ost- und West-Berlins zu beobachten. Beide Seiten verfolgten die soziale Entwicklung in den jeweils anderen Produktionsstätten aufmerksam, analysierten deren Verhältnisse und Neuerungen287 und ließen sich durch sie – uneingestanden – verschiedentlich inspirieren.288 Dabei spielte eine Rolle, dass Bewohner der einen Seite Berlins bis zum 285 In den späten 50er Jahren häuften sich die Anträge von in Ost-Berlin lebenden, aber in West-Berlin arbeitenden qualifizierten Arbeitern und technischen Fachkräften auf einen legalen Umzug nach West-Berlin. Mehr noch fiel ins Gewicht, dass Familien, deren Oberhäupter oder andere Angehörige bereits dort wohnten, auf diesem Weg in die Westsektoren wollten, aber mit verschiedenen lukrativen Angeboten des Magistrats – insbesondere großzügigen Wohnungsofferten – in Ost-Berlin gehalten werden sollten. Dies gelang immer seltener, weil u.a. von bestimmten Konzernen im Westteil der Stadt moderne und preiswerte Wohnungen errichtet wurden und der Senat überdies für die betreffenden Ost-Berliner auf der Grundlage des sogenannten Bundesevakuierungsgesetzes auch dann Umzugskosten erstattete, wenn sie ihre ganze Wohnungseinrichtung zurückließen. Vgl. Magistrat, Abteilung Inneres, Jahresbericht 1959, und Bericht für das II. Quartal 1960, 29.7.1960, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 6, Bl. 3, 35. 286 Vgl. Material für die Sitzung der SED-BL, April 1959, in: ebd., C Rep 902, Nr. 378, Bl. 46–48. 287 Vgl. SED-KL Wedding: „Ökonomische Analyse“ (von Osram und Schering), Januar 1954, in: ebd., Nr. 202/1, Bl. 282, 285 und Bericht (offenbar März 1957), in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2179. 288 Die SED ließ sich von ihren Gewährsleuten genau über die sozialen Einrichtungen und Zuwendungen verschiedener West-Berliner Konzerne berichten und entwickelte, nicht zuletzt, um die Grenzgängerei von Arbeitern nach dem Westen zu verhindern, von westlichen Vorbildern („gutes Werkessen“, „helle Werkstätten“, „großzügige Dusch- und Baderäume“, „eigene Sportvereine“) abgeleitete Verbesserungen in den eigenen Großbetrieben. Die zuständigen Stellen im Senat wurden u.a. durch das Ost-Berliner System von Betriebsverkaufstellen und Dienstleistungseinrichtungen, die internen Kindergärten und Kinderhorte, wie aber auch durch betriebliche Feriendienste und Erholungsmöglichkeiten (u.a. im EAW Treptow), zum Nachdenken über die soziale Konkurrenzfähigkeit West-

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Mauerbau in der Regel Zugang zu den Betrieben auf der anderen Seite hatten, sei es auch nur durch eine gelenkte Delegationstätigkeit. Häufig gewerkschaftlich organisiert, nahmen Arbeiter die Vor- und Nachteile der Ordnungen in den „antagonistischen“ Unternehmen wahr, berichteten zu Hause über sie und wirkten oftmals als Multiplikatoren.

3. Konsum ohne Grenzen 3.1 „Einkaufstourismus“ und Warenkonkurrenz Die Währungsreform hatte in West-Berlin die Schaufenster gefüllt. Vor den Auslagen der Geschäfte drängten sich die Bürger. Besonders erfreuten sich die Obstund Gemüseläden großer Beliebtheit; fröhliche Kinder verspeisten vor laufender Kamera Südfrüchte: Konsum stimmte optimistisch, die „Welt im Film“ fing das Lachen zufriedener Käufer ein.289 Unter ihnen befanden sich bereits 1948/49 viele Ost-Berliner. Die meisten fuhren nach Wannsee zum bisher einzigen Großmarkt, auf dem man Westwaren mit Ostmark einkaufen konnte. Man prüfte die Waren kritisch und erwarb sie schließlich gegen „Ost“, obwohl der Umrechnungskurs 1949 mit 6:1 für Ost-Berliner nicht gerade günstig war. Selbst als er zeitweilig neun Ostmark für eine Westmark betrug, standen sie vor den Wechselstuben Schlange, um Westgeld für „Großeinkäufe“ einzutauschen.290 Sie kauften vor allem Schuhe und modische Kleidung sowie andere Industrieerzeugnisse, die in der DDR nicht oder nur in mangelnder Qualität zu haben waren: Werkzeuge, Nägel, Ersatzteile u.a.m. Mit im Vordergrund des Interesses standen hochwertige Lebens- und Genussmittel; vor Speisefetten und Butter rangierten Kaffee, Kakao, Schokolade und Zigaretten. Auch westliche Presseerzeugnisse, Comics, Billigromane und Schlagerschallplatten wurden erworben. Woher kam die von Anfang an nicht unbeträchtliche Westmark-Kaufkraft der Ostdeutschen? Hauptquelle war für viele das eigene Einkommen an Ostmark. In der Regel sparte man lange, um sich per Umtausch ganz bestimmte Wünsche erfüllen zu können. Andere verkauften, worauf noch einzugehen sein wird, Ostwaren – häufig Produkte aus dem eigenen Stall und Garten – zumeist an Verwandte und Bekannte „drüben“ für Westmark. Hinzu kam für zehntausende Grenzgänger von Ost nach West die Möglichkeit, auf der Berliner Wirtschaftsbetriebe angeregt. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand 13.5.1957, in: ebd., Nr. 2155, Bl. 4 und Bericht, undatiert (offenbar Mitte 1957), in: ebd., Nr. 2179. 289 Vgl. „Welt im Film“, Nr. 212/1949. 290 Vgl. ebd, Nr. 219/1949 und Nr. 252/1950.

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Mauerbau in der Regel Zugang zu den Betrieben auf der anderen Seite hatten, sei es auch nur durch eine gelenkte Delegationstätigkeit. Häufig gewerkschaftlich organisiert, nahmen Arbeiter die Vor- und Nachteile der Ordnungen in den „antagonistischen“ Unternehmen wahr, berichteten zu Hause über sie und wirkten oftmals als Multiplikatoren.

3. Konsum ohne Grenzen 3.1 „Einkaufstourismus“ und Warenkonkurrenz Die Währungsreform hatte in West-Berlin die Schaufenster gefüllt. Vor den Auslagen der Geschäfte drängten sich die Bürger. Besonders erfreuten sich die Obstund Gemüseläden großer Beliebtheit; fröhliche Kinder verspeisten vor laufender Kamera Südfrüchte: Konsum stimmte optimistisch, die „Welt im Film“ fing das Lachen zufriedener Käufer ein.289 Unter ihnen befanden sich bereits 1948/49 viele Ost-Berliner. Die meisten fuhren nach Wannsee zum bisher einzigen Großmarkt, auf dem man Westwaren mit Ostmark einkaufen konnte. Man prüfte die Waren kritisch und erwarb sie schließlich gegen „Ost“, obwohl der Umrechnungskurs 1949 mit 6:1 für Ost-Berliner nicht gerade günstig war. Selbst als er zeitweilig neun Ostmark für eine Westmark betrug, standen sie vor den Wechselstuben Schlange, um Westgeld für „Großeinkäufe“ einzutauschen.290 Sie kauften vor allem Schuhe und modische Kleidung sowie andere Industrieerzeugnisse, die in der DDR nicht oder nur in mangelnder Qualität zu haben waren: Werkzeuge, Nägel, Ersatzteile u.a.m. Mit im Vordergrund des Interesses standen hochwertige Lebens- und Genussmittel; vor Speisefetten und Butter rangierten Kaffee, Kakao, Schokolade und Zigaretten. Auch westliche Presseerzeugnisse, Comics, Billigromane und Schlagerschallplatten wurden erworben. Woher kam die von Anfang an nicht unbeträchtliche Westmark-Kaufkraft der Ostdeutschen? Hauptquelle war für viele das eigene Einkommen an Ostmark. In der Regel sparte man lange, um sich per Umtausch ganz bestimmte Wünsche erfüllen zu können. Andere verkauften, worauf noch einzugehen sein wird, Ostwaren – häufig Produkte aus dem eigenen Stall und Garten – zumeist an Verwandte und Bekannte „drüben“ für Westmark. Hinzu kam für zehntausende Grenzgänger von Ost nach West die Möglichkeit, auf der Berliner Wirtschaftsbetriebe angeregt. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand 13.5.1957, in: ebd., Nr. 2155, Bl. 4 und Bericht, undatiert (offenbar Mitte 1957), in: ebd., Nr. 2179. 289 Vgl. „Welt im Film“, Nr. 212/1949. 290 Vgl. ebd, Nr. 219/1949 und Nr. 252/1950.

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Basis des vom Senat gewährten Lohnausgleiches – ein Teil ihres Einkommens erhielten sie in Westmark – am Arbeitsort zu „shoppen“. Das alles darf nicht verwischen, dass viele einkommensschwache Ost-Berliner und DDR-Bürger an für sie teure Westerzeugnisse nicht herankamen oder nur in Ausnahmen „umrubelten“, wie es im Berliner Jargon hieß. Etwas anders verhielt es sich mit dem Transfer von West- in Ostmark, an dem die Bewohner der Westsektoren interessiert waren, um den für sie günstigen Wechselkurs für Einkäufe im Osten zu nutzen. Das finanzielle Interesse der SED daran war zunächst ambivalent. Devisen erbrachte es nicht, wohl aber eine Steigerung des Umsatzes in Ost-Berlin. Dem stand jedoch im Lebensmittelsektor die Gefahr einer Verknappung von billigen Grundnahrungsmitteln (Brot, Gemüse, Kartoffeln, Obst u.a.m.) gegenüber, die von Ost-Berlin bis etwa Mitte 1952 jedoch nicht als akut wahrgenommen wurde. Man trug das Versorgungsrisiko, wie angedeutet, vor allem aus politisch-ideologischen Gründen. Zunächst klang auch noch die Zusage aus der Berlinblockade nach, dass der Osten den Bedarf West-Berlins mit Grundnahrungsmitteln voll abdecken könne. Prinzipiell sah die SED in den Käufen von West-Berlinern einen Beweis für die dem Kapitalismus überlegene Leistungskraft des planwirtschaftlichen Systems, und überdies stand dieser Erscheinung mit der Kaufbewegung von DDR-Bürgern im Westen ein zwar anders strukturiertes, aber im Wesentlichen zunächst proportionales Pendant gegenüber. Vor allem aber ging es der Staatspartei nach 1949 darum, das Wirtschafts- und Sozialsystem in den Westsektoren durch den Abzug von Kaufkraft zu schwächen. So war es nicht verwunderlich, dass die West-Berliner Politik und Gesellschaft mit den Einkäufen ihrer Bürger in Ost-Berlin größere Schwierigkeiten hatten als die kommunistische Konkurrenz. Die West-Berliner Kampagne gegen den Abfluss eigener Kaufkraft begann eigentlich mit dem Protest von betroffenen Dienstleistungsunternehmern gegen die Vergabe von Aufträgen nach Ost-Berlin.291 Der Westmagistrat reagierte umgehend. Er sah zwar keine rechtliche Grundlage, Privaten Aufträge in den Osten zu verbieten, untersagte aber alle diesbezüglichen staatlichen Vergaben.292 Auch sei zu verhindern, dass West-Berliner Firmen, denen die Verwaltung öffentliche Aufträge zugesprochen hatte, Material verwendeten, das sie per Wechselkurs billig aus dem Ostsektor bezogen.293 291 Vgl. Schreiben der Abteilung Wirtschaft des Westmagistrats an dessen Abteilung Bauund Wohnungswirtschaft (Ressort Handwerk), 16.5.1949, in: LAB, B Rep. 010–01, Nr. 107–109. 292 Vgl. Rundschreiben des Westmagistrats an alle seine Dienststellen in Groß-Berlin (West), die Bezirksräte für Wirtschaft der Westsektoren und die Notgemeinschaft der Berliner Wirtschaft, 28.6.1949, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 6026. 293 Vgl. ders. an den gleichen Empfängerkreis, 28.6.1949, in: ebd.

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Dem Westmagistrat ging es prinzipiell um die Erhaltung von Arbeitsplätzen, aber auch um eine damit zusammenhängende Kontrolle des Abflusses von Westmark wie zunächst auch des verschleierten Abwanderns von Arbeitskräften.294 Jedoch zogen entsprechende Maßnahmen Ost-Berliner Repressionen u.a. gegen Firmen im Westteil der Stadt nach sich.295 Die West-Berliner Administration hatte daraus ihre Lehren zu ziehen. Doch zeigte sich bald, dass Arbeitsplätze indirekt viel stärker durch den Kaufkraftabfluss infolge der inzwischen massenhaften individuellen Warenbezüge aus Ost-Berlin bedroht wurden. Das wichtigste Motiv dafür war einfach: Der Bürger konnte den eigenen Geldbeutel schonen und per Wechselkursmechanismus zur Aufbesserung des persönlichen und familiären Lebensstandards beitragen. Durchweg alle sozialen Schichten nutzten diese Möglichkeit. Es war aber unübersehbar, dass viele West-Berliner mit geringem beruflichen Geldeinkommen sowie Arbeitslose und Unterstützungsempfänger notgedrungen von ihr Gebrauch machten. Wenngleich nicht frei von ideologischen Fehlbewertungen und eigenem politischen Kalkül296, analysierte die SED die Kausalbeziehung von westlicher Armut und Warenbeschaffung in Ost-Berlin, aber auch die Wechselwirkungen von OstWest-Einkäufen sowie deren lokaler Schwerpunkterkennung im Ganzen richtig.297 Doch unabhängig von der Politik und der Beurteilung der SED waren viele am Rande des Existenzminimums lebende West-Berliner weder bereit noch in der Lage, auf den günstigen Einkauf in Ost-Berlin zu verzichten. Wenn Sie nicht im Osten kaufen könnte, würde sie „kein Einholenetz“ benöti294 Vgl. Schreiben der Abteilung Wirtschaft des Westmagistrats an dessen Abteilung Bauund Wohnungswirtschaft, 16.5.1949, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 6026. 295 Vgl. Beschluß des SED-Politbüros, Protokoll Nr. 9/1950 der Sitzung am 19.9.1950, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/2/109. 296 Die Berliner SED-Führung betrachtete eine von ihr gesehene „Selbstblockade“ WestBerlins und das „Verlangen nach Waren aus der DDR“ als dialektische Einheit. Die „dauernde Verschlechterung ihrer Lebenslage“ ließe große Teile der West-Berliner „in den demokratischen Sektor ausweichen“. Dadurch werde die politische und wirtschaftliche Krise in den Westsektoren weiter verschärft. Bestätigte Vorlage der SED-Landesleitung: „Die Lage in Westberlin und die Aufgaben der Partei“, 4.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 174, Bl. 27. 297 Je niedriger das Einkommen, desto stärker der Osteinkauf, fassten SED-Funktionäre bündig zusammen. Im Osten kauften vor allem Leute aus dem grenznahen Wedding, im Gegenzug würden das aber auch viele Bewohner Ost-Berlins und der DDR in West-Berlin tun. Viele Weddinger könnten bei ihren Einkaufsbesuchen durch die Nähe der Ostgeschäfte überdies jegliches Fahrgeld sparen. Vgl. SED-Kreisleitung Wedding: „Ökonomische Analyse“, Jan. 1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 202/1, Bl. 267.

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gen, meinte eine Erwerbslose aus dem Wedding ironisch.298 Die von allen Seiten häufig an die West-Berliner gestellte Frage nach den Motiven ihrer Osteinkäufe wurde plausibel und offenbar wahrheitsgemäß beantwortet.299 Demgegenüber ließ der Mangel an bestimmten Waren oder deren schlechte Qualität den Strom der Ostkäufer in West-Berlin periodisch ansteigen. Das schlug sich dort für bestimmte Händler und Gewerbetreibende in guten Verkaufsumsätzen nieder. „Ein großer Teil der Kleingewerbetreibenden existiert nur, weil noch bedeutende Käufer aus dem demokratischen Sektor und der Deutschen Demokratischen Republik einkaufen“, berichtete die SED-Kreisleitung Wedding.300 Die von Ostdeutschen häufig geradezu wimmelnde Brunnen- und Badstraße wurde im Volksmund „Sachsendamm“ genannt. Als „Ostler“ bezeichnete Landsleute kamen vor allem an Wochenenden von weit her, eben auch aus Sachsen, und an Tagen, die in der DDR Feiertage waren. Dann deutete sich bereits im Ost-Sektor an den überfüllten S- und U-Bahnzügen der „Sturm“ auf West-Berliner Geschäfte an. „Die Karl-Marx-Straße, Neuköllns Geschäftszentrum, bot ein Bild wie sonst nur am Eröffnungstag eines Schlussverkaufs“, schrieb „Die Neue Zeitung“. Die Läden hätten am 8. Mai 1952, im Osten der „Tag der Befreiung“, „gewaltige Tagesumsätze“ verzeichnet. Textilien und Delikatessen seien der „Renner“ gewesen, vor allem aber Schuhe.301 Sie stellten in der Tat den bis zum Mauerbau von Ostdeutschen am meisten gekauften Industrieartikel dar;302 der „Westschuh“ war für viele auch ein Statussymbol. Tabakwaren wurden ebenfalls stark nachgefragt. Auch hierbei spielte der Mythos Westprodukt eine Rolle; denn viele WestBerliner kauften billigere Zigaretten im Osten. Hohen Stellenwert besaßen die zahlreichen Materialkäufe von Handwerkern 298 Vgl. ebd. 299 „Ja, was sollen wir aber sonst machen?“, habe eine West-Berlinerin rhetorisch gefragt. „Bei den dauernden Preissteigerungen bei uns würde das bisschen Geld, das der Mann mit seiner Kurzarbeit verdient, ja gar nicht reichen.“ Eine Frau aus dem Wedding erzählte, dass ihr Ehemann nun schon über zwei Jahre arbeitslos sei: „Wenn ich nicht hier kaufen würde, könnten wir nicht existieren.“ Sie habe nach dem Abzug fester Kosten nur 15 Westmark pro Woche „zum Leben“. Ein Arbeiter aus dem Westen berichtete, er habe sich früher nie einen Anzug kaufen können, jetzt besitze er nach vier Wochen Arbeit schon zwei – „natürlich durch den Umtausch des Westgeldes und den Kauf im demokratischen Sektor“. Amt für Informationen des Ostmagistrats: „Meinungsforschung in Westberlin in der Woche vom 30.6.–5.7.52“, 7.7.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589 und Schreiben der SED-Kreisleitung Reinickendorf an die Landesleitung, 23.5.1952, in: ebd., Nr. 386. 300 Ebd. 301 „Die Neue Zeitung“, 9.5.1952. 302 So bezifferte der West-Berliner Schuhwareneinzelhandel den Ostanteil des Umsatzes beim Weihnachtsverkauf 1950 mit 50 Prozent. Vgl. „Der Kurier“, 15.1.1951.

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und Kleinbetrieben Ost-Berlins und den Randgebieten, weil die in Westberlin erworbenen Eisenwaren, Drähte, Stifte und anderen „Tausend kleinen Dinge“ manchmal die Voraussetzung dafür waren, dass sie weiter produzieren konnten.303 DDR-Staat und SED sahen diese Einkäufe aus ideologischen Gründen nicht gern, tolerierten sie aber faktisch durch in der Regel nie umfassende und nicht systematische Kontrollen. Zum einen waren solche Kontrollen technisch kaum möglich, zum anderen füllten Westwaren eigene Bedarfslücken, ersparten teilweise Devisen (Kaffee, Kakao) und wirkten der Konsum-Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung entgegen. Dem dennoch ärgerlichen Phänomen versuchte die SED propagandistisch beizukommen.304 Das zeigte ebenso wenig Erfolg wie die eigentlich mehr zur Abschreckung von Westeinkäufen vorgenommenen selektiven repressiven Beschlagnahmungen. Sie konnten zwar mit der Verletzung von Einfuhrbestimmungen begründet werden und die eingezogenen Waren in Ost-Berlin per Richtlinien „verwertet“ werden305, erzeugten aber eigentlich nur Unruhe und Verärgerung über die Staatsorgane.306 Das aber war unerwünscht. Der ostdeutsche Käufer wusste, dass er sich an der Sektorengrenze keinesfalls mit dem „Schlussschein“ einer Wechselstube „erwischen“ lassen durfte, dessen Ausstellung westlicherseits

303 Vgl. ebd. 304 Die von der Berliner SED der Ost-Berliner Presse erteilten Direktiven stellten Einkäufe im Westen vage als ein Fehlverhalten dar, das persönliche und gesellschaftliche Folgen „für unsere demokratische Ordnung“ habe. Als Gegenmittel sei „eine politische Diskussion“ zu entwickeln. An systematische repressive Maßnahmen war offenbar nicht gedacht. Vgl. Protokolle der Sitzungen des Sekretariats der SED-Landesleitung, Nr. 4, 31.7.1952 und Nr. 6, 14.8.1952, in: LAB, C Rep., Nr. 164, Bl. 128 und Nr. 165, Bl. 116. 305 Über die vom Zoll oder von der VP eingezogenen Waren habe eine neu zu errichtende „Verwertungsstelle für beschlagnahmte Waren“ im Einvernehmen mit „den sonst zuständigen Bewirtschaftungsstellen“ zu entscheiden. Die „Verwertung“ beschlagnahmten Gutes könne durch „freihändigen Verkauf oder öffentliche Versteigerung“ erfolgen; bei der ersten Möglichkeit seien soziale Einrichtungen, Opfer des Faschismus und „Totalgeschädigte“ vorzugsweise zu berücksichtigen. Den Erlös erhalte die Stadthauptkasse. Richtlinie des Magistrats von Ost-Berlin „über die Verwertung beschlagnahmter Waren“, 18.2.1950, in: Verordnungsblatt für Groß-Berlin, Teil 1, 6. Jg., Nr. 8, 9.3.1950. 306 So wurde in Ost-Berliner Betrieben eine „Erbitterung“ laut, die im Motorenbau Bergmann-Borsig von einer Arbeiterin artikuliert worden sei: „Volkspolizisten sind Lumpen, die nehmen den Arbeitern das halbe Pfund Butter ab, das die sich im Westen gekauft haben.“ Da die Frau Genossin war, brachte ihr das ein Parteiverfahren ein. Bericht des Sektors Parteiinformation der Abteilung Leitende Organe der SED-Landesleitung Berlin, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 274.

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seit September 1950 Pflicht war.307 Demgegenüber erwuchsen der Magistratsverwaltung im „Roten Rathaus“ aus dem Abkauf von Waren durch West-Berliner nur allmählich die größeren Probleme. Zwar kam es bereits 1951 zu teilweise handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Ost- und West-Berlinern, die sich im Sowjetsektor beispielsweise um knapper werdende Kartoffeln stritten308, aber erst ab etwa Mitte 1952 führten hier Westeinkäufe zu einer deutlichen Verschärfung der Versorgungslage. So deutete die relative Toleranz der SED nach 1949 auf eine Konzeption hin, die neben den genannten ideologischen und politischen Vorteilserwartungen auch Rücksichten auf den alliierten Status Berlins sowie auf eigene plakative Einheitsziele, ebenso aber auch ökonomische Interessen widerspiegelte. Von Anfang an versuchte die östliche Führung, den von ihr zu zahlenden politischen Preis durch ein wirtschaftliches Äquivalent für die DDR auszugleichen. Zunächst einmal stiegen die Ostmarkeinnahmen des staatlichen und privaten Handels in Ost-Berlin durch die West-Berliner Nachfrage deutlich an. Die Umsatzvergrößerung war zwar innerhalb der angebotenen Warenpalette disproportional, und sie betraf vorrangig billige und knapper werdende Lebensmittel, trug aber dennoch zeitweilig zur finanziellen Liquidität und zum Ausbau des Ost-Berliner Binnenhandels bei. Da die Ostmark über den Wechselkursmechanismus in beliebiger Höhe konvertierbar war, sahen Ost-Berliner Wirtschaftspolitiker in der Maximierung von Einnahmen in ihrer Währung eine Grundlage, durch dezenten Rücktausch einige Devisen zu erwerben. Eine Voraussetzung für diese Transaktion schuf der grenzüberschreitende individuelle Verkauf solcher Industriegüter, die in der DDR in größeren Mengen relativ billig produziert werden konnten und deren Abkauf durch in „Ost“ zahlende Westkunden nicht zu Bedarfslücken führte. Die Waren mussten preiswerter als ihre westliche Entsprechung und von gleicher oder zumindest nicht wesentlich schlechterer Qualität sein. Konkurrenzfähigkeit blieb dabei das zentrale Gebot. Sie galt aber auch für „Dumpingwaren“ wie Alkohol und Tabakprodukte.309 Die HO bot nach 1950 vorrangig Industriewaren an, die, wie 307 Vgl. Information des Senats zum Aufsichtsamt für die Banken, 27.2.1953, in: ebd., B Rep. 010–01, Acc. 1999, Nr. 429. 308 Beim gemeinsamen „Anstehen nach Kartoffeln“ auf dem östlich der Sektorengrenze in Wilhelmsruh gelegenen Markt „teilte sich die Bevölkerung Westberlins und des demokratischen Sektors“ und „beschimpfte sich gegenseitig wie z.B. Russenpack“. Von den OstBerlinern sei zurückgerufen worden, „ihr nehmt uns die Kartoffeln weg.“ Der Kartoffelhändler schloss sich ihnen an und „schimpfte auf die Karawanen“, die täglich zum Kaufen vom Westen in den Osten kämen. Vgl. „Auswertung der Berichte aus den Kreisen des demokratischen Sektors […]“, 25.9.1951, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 270. 309 Vgl. Burkhard Hofmeister, Berlin (West): eine geographische Strukturanalyse der zwölf westlichen Bezirke, Darmstadt 1990, S. 97.

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Geschirr, Metallwaren und Möbel310, im Unterschied zu den problematischeren Textilien311 bei „Westlern“ durchaus ihren Absatz fanden. Auch einige für die Ost-Berliner zu teure optische Geräte konnten begrenzt per Kaufbescheinigung nach West-Berlin mitgenommen werden. Nach ersten Erfolgen wurde das HOSystem unter Berücksichtigung westlicher Nachfragen durch die Eröffnung von grenznahen Filialen ausgebaut und als Konkurrenz attraktiver gestaltet.312 In dem Maße, wie Bezugsscheine für bestimmte Industriewaren und die Bewirtschaftung verschiedener Lebensmittel in Ost-Berlin wegfielen, gelangten sie in den „Korb“ frei verkäuflicher Produkte. Einige HO-Preissenkungen, die eigentlich für die Bewohner der DDR und des sowjetischen Sektors gedacht waren, erhöhten das Kaufinteresse westlicher Käufer, weil sich für sie der Einsatz von „harter“ DM dadurch weiter reduzierte. Tabelle 7: Im Februar 1952 sparten die Westkäufer bei einer aktuellen Währungsrelation von 1:4 gegenüber den Preisen in West-Berlin bei (in Prozent) Brot und Backwaren

70

Nährmitteln

60

Zucker

43

Kartoffeln

83

Fleisch und Wurst

35

Marmelade

75

Spirituosen

43

Flaschenbier

50

Quelle: „FAZ“, 22.2.1952. 310 Vgl. „Der Telegraf“, 16.10.1950. 311 So brachte die Aufhebung der Rationierung vieler Textilien 1951 das Problem mit sich, „dass die Westberliner uns auskaufen werden“, wie viele Ost-Berliner meinten. Dem aber durch „Aufklärung“ und Argumentation mit den Westkäufern „Schranken zu setzen“, lehnte das Personal durchweg aller Verkaufsstellen ab. Sie waren an einem hohen Umsatz interessiert. Demgegenüber wurde in der Bevölkerung zum Schutz gegen Westkunden teilweise sogar die Beibehaltung des Systems der „Punktkarten“ gefordert, die nur noch für den Bezug einiger knapper Textilien gültig waren. Vgl. Bericht des Sektors Parteiinformationen der SED-Landesleitung: „Betr.: Textil-Aktion“, 26.2.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 267. 312 Insbesondere durch die attraktive Gestaltung der Schaufenster, hellere und buntere Farben in den Innenräumen dieser HO-Geschäfte und eine freundlich-sachkundige Bedienung durch das Verkaufspersonal. Vgl. Bollwerk Berlin, S. 24.

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Während der Verkauf von Lebensmitteln und knappen Industriegütern an Westbesucher seit 1952 immer stärker eingeschränkt bzw. faktisch verboten wurde, hielt der westliche Andrang auf östliche Dienstleistungen ungebremst an: Reparaturen, Schneiderarbeiten und andere Dienstleistungen ließen viele West-Berliner generell im Osten durchführen; es tobte ein „Wäschekrieg“313, und auch im Friseurhandwerk triumphierte die östliche über die westliche Konkurrenz. Auch die Westpost verlor Kunden.314 Gerade privaten Handwerkern und Gewerbetreibenden im Osten, die sich reglementierenden Eingriffen der Ost-Berliner antikapitalistischen Wirtschaftspolitik ausgesetzt sahen und um ihre materielle Existenz bangten, eröffnete das Geschäft mit West-Berlinern kurz- und mittelfristig gewisse Überlebenschancen.

3.2 Der Berliner „Bäckerkonflikt“ Hingegen gerieten verschiedene West-Berliner Handelszweige und Dienstleistungsunternehmen durch den gleichen Prozess an den Rand des Ruins. Einige gaben auf. Besonders schwer traf es die Nährmittelwirtschaft, vor allem die Backwarenfabriken und Bäcker. Seit Anfang September 1950 lagen die Ost-Berliner HO-Preise für Brot und viele Backwaren erheblich unter denen in West-Berlin.315 Ostbrot war angesichts des Umtauschkurses ein ausgesprochenes DumpingProdukt, das sich größter Beliebtheit erfreute. Bereits im September 1950 konstatierten Westmagistrat und Handel einen durch die HO-Preissenkung ausgelösten „fühlbaren Rückgang“ des Umsatzes der Brotfabriken und Bäckereien besonders in den Berliner Grenzbezirken.316 Schon zu diesem Zeitpunkt wollten die Brotfabriken rund 300 Arbeitskräfte entlassen. Die betroffenen „Wirtschaftskreise“ verlangten von den Behörden „scharfe Abwehrmaßnahmen“ gegen den illegalen 313 Kleine private Wäschereiunternehmen in Ost-Berlin wuschen nicht nur billiger als WestBerliner Dienstleister, sie holten bei ihren Westkunden die verschmutzte Wäsche „fortlaufend“ ab und lieferten sie gereinigt wieder zurück. Ein harter Konkurrenzkampf war entbrannt. Vgl. „Der Tag“, 19.11.1950. „Der Telegraf“ vom 19.11.1950 sprach von einem „Wäschekrieg“. 314 Monatlich gingen der West-Berliner Post etwa 100.000 Westmark verloren, weil viele West-Berliner als „Portosünder“ ihre Post auf kurzem Wege in der östlichen Stadthälfte aufgaben. Vgl. „Berliner Stadtblatt“, 10.2.1951. 315 So bezahlte der West-Berliner Kunde bspw. für ein Roggenbrot (1,5 kg) im Osten 0,21 und bei sich zu Hause 0,78 Westmark. Vgl. Abteilung Wirtschaft des Westmagistrats, Magistratsvorlage Nr. 1841 für die Sitzung am 2.10.1950: „Maßnahmen zur Eindämmung des illegalen Bezuges von Lebensmitteln aus dem Ostsektor und der Ostzone“, 28.9.1950, in: LAB, B Rep. 010–01, Acc. 1888, Nr. 1029/30. 316 Ebd.

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Bezug von Brot und anderen Lebensmitteln, u.a. Taschenkontrollen an den Grenzübergängen. Gefordert wurden aber auch Subventionen für die gefährdeten West-Berliner Getreideprodukte, um die Preise zu senken und dadurch wieder konkurrenzfähig zu werden.317 Grenzkontrollen waren trotz einiger Versuche technisch und auch aus politischen Gründen unzulänglich. Als die West-Berliner Bäckereien dazu übergingen, ihre Brote mit der eingebackenen Inschrift „West“ bzw. mit einem „W“ zu versehen, um den überforderten Kontrolleuren des Zolls die Beschlagnahme von eingeschmuggeltem Ostbrot zu erleichtern, und überdies Werbeumzüge veranstalteten318, erreichte der zum Politikum werdende „Brotkrieg“ einen ersten Gesamtberliner Höhepunkt.319 Neue Mehl- und Brotsubventionen waren angesichts der prekären West-Berliner Wirtschaftslage nicht möglich. Allerdings ließ der Westmagistrat die ursprünglichen Pläne für den Wegfall der bereits seit 1948 gewährten Brotsubventionen fallen.320 Der immense Rückgang des Brotumsatzes und damit verbunden der Produktion auch von Großbäckereien, Brotfabriken und Mühlen321 war umso ärgerlicher, als gerade in sie große Investitionen aus ERP-Mitteln geflossen waren. 317 Ebd. 318 Über die Stempelaktion berichtete die West-Berliner Presse regelmäßig. Vgl. „Der Telegraf“, 5.10.1950. Die Umzüge der West-Berliner Bäckerinnung verbanden die Werbung für ihre Erzeugnisse mit harschen Angriffen gegen das „schändliche“ Verhalten der Ostbrotkäufer und mit politischen Losungen: „Brotkauf im Osten kann die Freiheit euch kosten“, stand u.a. auf den Spruchbändern der zahlreichen Lieferwagen. „Der Abend“, 11.10.1950. 319 „Ostbrot-Käufer helfen den Feinden“, titelte „Der Abend“ vom 22.9.1950. Diese Berliner seien „Verräter an der Sache Westberlins“. Die ostdeutsche „National-Zeitung“ vom 20.2.1951 titelte bissig: „Brotdetektive am Brandenburger Tor“. Tenor der östlichen Reaktion war, dass die Westverwaltung erst den Wechselkurs künstlich hochtreibe und sich dann wundere, wenn die „verelendeten“ West-Berliner ihr Brot im Osten kaufen. Vgl. „Tägliche Rundschau“, 19.10.1950. 320 „Mehlsubventionen“, schrieb der Wirtschaftsstadtrat Klingelhöfer (SPD) unter öffentlichem Druck in der „Neuen Zeitung“ (16.1.1951), seien völlig ausgeschlossen, weil sie „Dutzende von Millionen“ kosten würden. Ein Wegfall der bisherigen Subventionen, der erst 1953 erfolgte, hätte das „Dreipfundbrot“ von 0,78 auf 1,06 Westmark verteuert. 321 Der Mehlumsatz der West-Berliner Mühlen sank mit sich verschlechternder Tendenz von insgesamt 17.350 t (April 1949) auf 10.798 t (Dezember 1950). Bei der ebenfalls Arbeitsplätze abbauenden Teigwarenindustrie, die auch zu Kurzarbeit überging, wurden im zweiten Quartal 1950 noch 1.238 t Teigwaren produziert, im dritten nur noch 1.055 t und im vierten Quartal ganze 787 t. Der Mehlumsatz der Brotfabriken ging von 7.135 t im April 1949 auf 2.843t im November 1950 zurück (Jan. 1950 = 4.550 t; Juli 1950 = 3.800 t). Insgesamt war das ein Rückgang um 60,1 Prozent. Vgl. Abteilung Ernährung, Magistratsvorlage Nr. 2210 zur Beschlußfassung für die Sitzung am 29.1.1951, in: LAB, B Rep. 010– 01, Acc. 1888, Nr. 1029/30.

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Es mehrten sich Entlassungen und Kurzarbeit, viele Bäcker gingen „pleite“; ihr Verkaufspersonal wurde arbeitslos.322 Der Westmagistrat zeigte sich angesichts des expandierenden Schwarzhandels mit Ostbrot sowie der Organisierung von Backwarenkäufen durch West-Berliner Hausgemeinschaften323 hilflos. Auch die Pressekampagnen, die den Propagandafeldzügen der SED fatal ähnelten, bewirkten wenig. Wie die Parteien und die Stadtregierung gingen gesellschaftliche Öffentlichkeit und Medien davon aus, dass dem „Bäckerkonflikt“, der die Frage des Einkaufs im Osten am deutlichsten widerspiegelte und am schärfsten zuspitzte, als Teil des generellen Problems Einhalt geboten werden müsse. Naturgemäß drängte die Nahrungsmittelbranche weiter zu administrativen, aber kaum durchführbaren finanztechnischen Maßnahmen.324 Das stieß aber weder beim Westmagistrat noch bei der einflussreichen Lobby der Banken und Wechselstuben auf Gegenliebe. Schwerwiegender war der Druck, der auf die Politik durch die Ankündigung der Backwarenindustrie ausging, weiteren 1.500 Arbeitnehmern kündigen zu müssen.325 Die schließlich geplanten speziellen „Richtlinien zur Eindämmung des Bezuges von Mehl, Brot und sonstigen Getreideerzeugnissen aus dem Währungsgebiet der DM-Ost“ blieben ein Entwurf (28.3.1951). Zum einen boten sie keine probaten Ansätze für die Lösung der leidigen Frage nach effektiven Kontrollmöglichkeiten, und zum anderen hätte eine separate Regelung wenig zur generellen Problemlösung beigetragen. Im Unterschied zu anderen mit dem Osten konkurrierenden Produkten konn322 Die Zahl der in ihrem Beruf tätigen West-Berliner Bäcker reduzierte sich von 3.784 (Juni 1950) auf 2.751 (Dezember 1950), die des Verkaufspersonals in der gleichen Zeit von 1.505 auf 1.153 Personen. Galten im Januar 1950 1.375 Bäcker als arbeitslos, waren es im Dezember 1950 bereits 1.945. Das war ein Anstieg um 41,4 Prozent. Vgl. ebd. 323 So wurde bekannt, dass Schwarzhändler massenhaft Brote im Osten für 1,05 Ostmark das Stück erwarben und es für 0,50 Westmark veräußerten. Im September 1950 seien insgesamt täglich etwa 100.000 Brote im Osten gekauft worden, Anfang Januar 1951 bereits 130.000. Das waren 50 Prozent des West-Berliner Gesamtbedarfs. Vgl. „Berliner Stadtblatt“, 21.9.1950 und 4.1.1951. „Vielfach“ hätten sich „auch aus nicht unbemittelten Kreisen ganze Hausgemeinschaften zusammengeschlossen, die abwechselnd durch ihre Mitglieder den gesamten Brotbedarf aus dem Osten beziehen“, berichtete „Der Abend“ am 22.9.1950. 324 Stärkere Kontrollen und „Geldstrafen beim illegalen Brotbezug“ sah die Brotindustrie als geboten an. Sie schlug vor, für jeden Umtausch in den Banken und Wechselstuben eine Sonderabgabe zu ihren Gunsten zu erheben: zwei Westpfennige pro jeder eingetauschten Westmark und zwei Ostpfennige pro Ostmark. Vgl. Protokoll der gemeinsamen Sitzung (Senat, Lebensmittelwirtschaft, Bäckerinnung, Großhandel, Senatspresseamt) bei der Abteilung Ernährung des Senats am 9.4.1951, in: LAB, B Rep. 010–01, Acc. 1888, Nr. 1029/30. 325 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 3.2.1951.

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te die West-Berliner Nahrungsmittelwirtschaft die Qualität ihrer Erzeugnisse, denen die aus Ost-Berlin nicht nachstanden, kaum noch verbessern. Insofern fehlte ein diesbezüglicher Spielraum zur Umsatzerhöhung. Der „Bäckerkonflikt“ musste sich also von selbst lösen, und das hieß: ökonomisch. Einerseits konnte man dabei auf eine zügige Konsolidierung der West-Berliner Wirtschaft hoffen, die den intersektoralen Brothandel zu einem Problem zweiten Ranges degradierte, und andererseits auf Versorgungsschwierigkeiten in Ost-Berlin. In der Tat stand für die SED der Propagandazweck im Vordergrund ihrer „Brottoleranz“. OstBerliner Tageszeitungen veröffentlichten Bilder von West-Berlinern, deren Einkaufsnetze mit Broten prall gefüllt waren. „So stimmen die Westberliner täglich ab“, lautete schadenfroh der politische Kommentar.326 Demgegenüber hoffte die Westseite, dass Ost-Berlin diesen Kurs nicht mehr lange durchhalten könne. „Die Mühlen in der Ostzone“ seien nur noch bis März 1951 versorgt, glaubte „Der Telegraf“ zu wissen. „Werden (es) sich Karlshorst [SKK] und Pankow [DDR-Regierung] so viel kosten lassen dürfen, daß sie dann auch die hohen Devisenbeträge für Importgetreide aufbringen, oder wird die ostzonale ‚Brotschwemme‘ den Weg vieler anderer Propagandamaßnahmen gehen und in den knappen Monaten vor der neuen Ernte im Sande verlaufen?“327, fragte die Zeitung. Für den Osten war das tatsächlich ein „strategisches“ Problem, das nicht nur die Getreidepreise betraf; es besaß eine brisante Zukunftsdimension, drängte aber Anfang der 50er Jahre noch nicht. In West-Berlin hingegen stand das Schicksal des Bäckereigewerbes für alle bedrohten Handwerke und Dienstleistungszweige als pars pro toto. Noch nach 1955 dauerte diese Misere an. Zuweilen rückte sie in die Schlagzeilen.328 Zwar versuchten einige im Bereich der Sektorengrenze liegende Kleinunternehmer, originelle Werbeideen zu verwirklichen – etwa, wenn sie mit Zielrichtung Ostkunden an ihre Verkaufsläden und Werkstätten Schilder mit der Aufschrift anbrachten: „Hier wird auch Ostgeld angenommen.“329 Doch das war illegal und brachte, insofern es funktionierte, nicht allzu viel. Überdies breitete sich in den Jahren 1949/50 für Handwerk und Warenabsatz ein schon vergessenes Prozedere aus: der Kauf auf „Pump“. Handwerksbetriebe und Geschäfte hatten häufig „zum großen Teil Pumpkunden“, wie sie genannt wurden. Ihnen gewährten die kleinen 326 Vgl. „Tägliche Rundschau“, 19.10.1950. 327 Vgl. „Der Telegraf“, 4.1.1951. 328 Ende 1957 nahm sich ein West-Berliner Friseur das Leben – aus Verzweiflung über die ihn ruinierende Ost-Berliner Konkurrenz. Der Fall erregte großes Aufsehen und allgemeines Mitgefühl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 21. 329 Vgl. ebd., Bl. 21f.

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Handel- und Gewerbetreibenden, zumeist monatlich, faktisch einen Kaufkredit, „schrieben an“. Täten Sie das nicht, meinten sie, blieben ihnen viele West-Kunden allmählich weg oder gingen gleich in den Osten.330

3.3 „Herr Schimpf“ und „Frau Schande“ Von Anfang an setzten West-Berliner Politik, Wirtschaft und Parteien mangels praktischer Möglichkeiten zur Eindämmung von Einkäufen im Osten auf die Kraft der Vernunft und demokratische Einsichten. Die beliebte Stellvertretende Oberbürgermeisterin Louise Schroeder (SPD), in jeder Hinsicht rechtschaffen und sozial denkend – und vor allem deshalb von großer Autorität und Überzeugungskraft – hatte bereits am 3.8.1949 einen entsprechenden Appell politisch und moralisch begründet.331 Dem waren Magistrats- und Lokalpolitiker sowie die Medien West-Berlins mit emotional sehr aufgeladenen propagandistischen Aktionen gefolgt. Einen Auftakt dafür gaben West-Berliner Lokalpolitiker, wie der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Kressmann, mit konfrontativen Argumenten.332 Die Diktion vieler Reden und Zeitungsartikel war von Anfang an von der Atmosphäre des Kalten Krieges bestimmt worden; sie verschärfte sich seit dem Frühjahr 1950 beinahe kontinuierlich. Diejenigen West-Berliner, die ihr Geld im Westen verdienten, aber im Osten kauften, seien „Schmarotzer“, hieß es. Dämonisierungen und Entlarvungshysterien griffen um sich.333 Immer wieder 330 Information der SED-LL, „Was sagt die Bevölkerung zu den Preiserhöhungen im Westen?“, 11.11.1949, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 265. 331 „Zur Erzielung geringfügiger Ersparnisse sind Bewohner der Westsektoren dazu übergegangen, ihre Einkäufe im anderen Währungsgebiet vorzunehmen und auch nach dort Aufträge zu vergeben. Dadurch wird unserer wieder aufzubauenden Wirtschaft ernstlicher Schaden zugefügt und die bestehende Arbeitslosigkeit noch vergrößert (…) Jeder, der Westmarkbeträge einnimmt, muss auch seine Ausgaben in Westmark bestreiten. Das sollte ein Gesetz des nachbarlichen Anstandes sein […].“ Aufruf von Louise Schroeder an die Berliner Bevölkerung, 3.8.1949, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3268. 332 Am 25.3.1950 hatte Kressmann in seinem Stadtbezirk eine „Wirtschaftliche Werbewoche“ eröffnet, um über die Folgen der Osteinkäufe, insbesondere hinsichtlich der Arbeitslosigkeit, aufzuklären. Er behauptete, dass „jede Mark, die in einen HO-Laden getragen wird“, die „Not der Werktätigen“ in Ost-Berlin und der Ostzone erhöhe. Neukölln folgte alsbald mit dem Aufruf, nur Waren aus der West-Berliner Produktion zu kaufen: „Sie nur garantiert euch Freiheit, Arbeit, Brot und Lohn.“ Zitiert nach: Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 92. 333 Diese „Schmarotzer“ seien „Westberliner Unternehmer, die Firmen und Dienstleistungen aus dem Ostsektor gegen Ostmark in Anspruch nehmen; die Arbeitgeber, die unangemeldete Arbeitskräfte aus dem Ostsektor beschäftigen […]; die Geschäftemacher, die selbst

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wurde an die Treue der West-Berliner appelliert und nur selten auf den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Not vieler Menschen und ihren Osteinkäufen verwiesen, wenngleich aus vorrangig taktischen Gründen führende Politiker etwas zu differenzieren versuchten.334 Als „Der Tagesspiegel“ zu Ostern 1951 neue Feindpersonen kreierte, u.a. Frau „Mattscheibe“, die im Osten kaufe und das Fehlverhalten dieser raffgierigen Dame in einer anschließenden Karikaturserie auf graues Zeitungspapier bannte, bekam die Kampagne einen „volkstümlichen“ Anstrich. In die Kampagne passten sich Flugblätter gegen die „Dunkelmänner“ des Ostkaufs335 und neue kategorische Zeitungsaufrufe336 mit der politischen Grundaussage ein: „Der rote Handel ist ein Teil der roten Politik. Wer seine Freiheit liebt, unterstützt ihn nicht.“337 Und eine Flugzettelkarikatur verbreitete hämisch: „Dein Kopf – gepflegt bei Grotewohl. Von außen schnieke – innen hohl!“338 Schließlich veröffentlichte das „Berliner Stadtblatt“ Listen von Personen, die in Ost-Berlin erworbene Waren im Westteil der Stadt verkauften – mit Namen und Adressen sowie Angaben über die Art des Handelsgutes.339 Diese Form der Auseinandersetzung bildete jedoch aus rechtlichen Gründen die Ausnahme. Westmanur Westmark einnehmen, ihre Post aber im Ostsektor aufgeben; aber auch alle diejenigen, die Westgeld verdienen, jedoch im Ostsektor zum Friseur, zum Schneider, zum Schuhmacher, zur Badeanstalt und zur HO gehen, um dort mit Ostgeld zu bezahlen. Sie alle sind Schmarotzer des Freiheitskampfes der Berliner. Jedoch gedeihen sie meist nur in der Anonymität. Heimlich machen sie ihre dunklen Geschäfte, heimlich und oft auf Umwegen schleichen sie sich in den Ostsektor. Sie dürfen nicht länger unerkannt bleiben. Es genügt nicht, für die einen Namen zu finden, der ihre Gattung der Verachtung preisgibt. Jeder einzelne von ihnen muss aufgestöbert werden. Dazu müssen alle beitragen: der Betriebsrat, der Kollege, der Nachbar, die Nachbarin und die Hausfrau.“ „Der Telegraf“, 17.9.1950. Vgl. dazu Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 91ff. 334 Der Reg. Bgm. Reuter sprach von „unerhörten Gewinnen“, die das „Engros-Einkaufen“ einigen Leuten bringe. Er habe das Gefühl, dass „diejenigen, denen es schlecht geht, treuer und zuverlässiger (sind) als diejenigen, denen es besser geht“. Manuskript Reuters, 6.1.1952, in: LAB, Rep. 002, Acc. 927, Nr. 31–33. 335 Die Flugschriften zeigten u.a. schwarze, schemenhafte Figuren auf rotem Unter-

grund, die sich zur HO bewegten oder mit riesigen Einkaufstaschen ausgerüstete dunkle Schattengestalten in der gleichen Zielrichtung. Vgl. ebd., B Rep. 010–01, Nr.

2021 und B Rep. 002, Nr. 26598. 336 So biete der West-Berliner Kaufmann keine Ostwaren an, denn er wisse, „dass er damit die Westberliner Wirtschaft schädigt und den Kampf für die Freiheit Berlins beeinträchtigt“. Vgl. „Der Tagesspiegel“, 3.5.1950. 337 Vgl. ebd., 11.5.1950. 338 Vgl. LAB, B Rep. 010–01, Nr. 2021. 339 Vgl. „Berliner Stadtblatt“, 31.1.1951.

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gistrat und Bezirksämtern hingegen schwebte seit Mitte 1950 eine umfassendere und koordiniertere Aktion mit Gesamtberliner Dimension vor. Das Konzept für eine derartige „Werbeaktion“ war von einer professionellen Werbeagentur entworfen, aber in seiner starken Ausrichtung auf Ost-Berlin, die HO und deren interne Gegner340 als potentielle Bündnispartner nicht realisiert worden. Die West-Berliner Stadtregierung entschied sich schließlich für einen öffentlichen Plakatwettbewerb in Form eines Preisausschreibens, aus dem die griffigste Bezeichnung von West-Berlinern hervorgehen sollte, die im Osten einkauften. Aus diesem Ausschreiben mit großer Beteiligung wurden unter den vielen Namensvorschlägen „Herr Schimpf“ und „Frau Schande“ mit einem Preisgeld von 200 Westmark zum Sieger gekürt.341 Kurz bevor „Der Tagesspiegel“ das Ergebnis des Wettbewerbes am 29. September 1950 groß aufgemacht verkündete, hatte die östliche Seite, zunächst per roten Klebezetteln und in ihrer Presse, das Gegenbild offeriert: „Herr Schlaumeier“, der in der HO kauft. Das entsprach zwar der Ost-Berliner allgemeinen Parole „Der kluge Berliner kauft bei der HO“, assoziierte aber, dass der nun ebenfalls durch eine einprägsame Figur symbolisierte kluge West-Berliner in einer persönlichen Konkurrenz zu „Schimpf“ und „Schande“ stehe und gegen sie in eine neue Kaufoffensive ginge. Die Bemühungen des Westens seien gescheitert, denn der „Andrang der Käufer aus West-Berlin“ auf die HO nehme jetzt „täglich“ zu, kommentierte die Ostpresse.342 Zunächst schien es jedoch, als zeigten „Schimpf“ und „Schande“, die nun von tausenden Litfasssäulen und Plakaten grüßten, Flugschriften und Broschüren 340 Das Konzept ging von der Gewinnung vor allem von „Ostsektorianern“ aus. Es müsse ein „Bündnis mit den Gewerbetreibenden im Ostsektor“ gegen die „auch ihn geschäftlich ruinierende HO“ geschlossen und sein Widerstand dadurch gestärkt werden. Das würde „der zu startenden Aktion die moralische Berechtigung“ geben. Schließlich sei die HO die „wunde Stelle“ des Gegners, und weil sie „die fetteste Milchkuh der ostischen Machthaber ist, muss sich die Aktion gegen diese Stelle richten“. „Werbeaktion gegen den Abfluss von Westgeld nach Osten“, 29.7.1950, in: LAB, B Rep. 010–01, Nr. 2021. 341 Dem Magistrat gingen insgesamt 10.000 Einsendungen zu, darunter mit Vorschlägen wie: „Herr Ostschleich“ und „Frau Westruin“ oder „Familie Rechenfehler“. Vgl. Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 92f. Vgl. dazu auch Katherine Pence, Herr Schimpf und Frau Schande. Grenzgänger des Konsums im geteilten Berlin und die Politik des Kalten Krieges, in: Burghard Ciesla/Michael Lemke/Thomas Lindenberger (Hrsg. ), Sterben für Berlin? Die Berliner Krisen 1948–1958, Berlin 1999, S. 185–202. 342 Zunächst waren in Ost-Berliner „Nacht- und Nebel-Aktionen“ den Plakaten zum WestBerliner Preisausschreiben mit ihrer Fragestellung, wie man den Berliner nenne, der im Osten einkaufe, ein „Antwortzettel“ („Schlaumeier!“) aufgeklebt worden. Vgl. „Tägliche Rundschau“, 26.9.1950.

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übertitelten sowie Demonstrationen „anführten“343, in West-Berlin Wirkung. Sie waren nun auch auf Diapositive und Kurzfilme gebannt, die der Kinobesucher vor dem Hauptfilm zu sehen bekam. Die Botschaften344, die von kleinen Real-, aber auch von lustigen Zeichentrickfilmen vermittelt wurden, waren filmisch und tricktechnisch vielfach originell umgesetzt. Sie hämmerten mit aufgesetzter Volkstümlichkeit und primitiven Reimen345 343 Das „Standard“-Plakat zeigte die beiden eiligen „Raffkes“ mit dem Kurzkommentar, „sie verdienen im Westen und kaufen im Osten.“ Autokorsos und Demonstrationen, u.a. von Kreuzberger Bäckern, Gesellen und Lehrlingen (die Berufsschule wurde am betreffenden Tag geschlossen) wurden ständig von „Herrn Schimpf“ und „Frau Schande“ begleitet. Bei der Demonstration am 21.6.1951 waren sie auf einem Wagen hinter Gittern zu sehen: „Wir brauchten nicht mehr Tag und Nacht um den Beruf zu zittern, sperrt endlich ‚Schimpf und Schande‘ wie hier fest hinter Gittern“, hieß es auf den dazugehörigen Plakaten. Vgl. Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 123 und Pence, Herr Schimpf und Frau Schande, S. 197–200. 344 Filmhandlungen und die häufig gereimten kommentierenden Texte sprachen für sich „Bravo! – Denkt Alle daran: Eine Mark kommt zu der anderen, lasst uns nicht nach Osten wandern. Kauft gute Ware für gutes Geld! Damit ist die Wirtschaft wohlbestellt!“, hieß die Schlussfolgerung aus einem Kurzfilm, in dem es um Waschmittel ging, die – im Osten gekauft – zwar billig aber schlecht seien. Das erkannte der vorgeführte Käufer gerade noch rechtzeitig, und handelte nunmehr im Sinne der vom Zuschauer erwarteten Sequenz. Andere Filmstreifen argumentierten „politischer“, wenn sie an die Hilfe der Alliierten erinnerten und bei den Kinobesuchern, unter denen natürlich Ostkäufer vermutet wurden, eine schlechtes Gewissen erzeugen sollten: Während mit Unterstützung des MarshallPlanes viele Rohstoffe, Kohle, Lebensmittel und Geld nach Berlin gebracht werden, die Notstandsarbeiten einsetzen und der Aufbau beginnt, „nagen Ratten“ wie Herr Schimpf und Frau Schande „an den Lebenswurzeln der Westberliner Wirtschaft“. Folgerichtig drängte sich die Frage auf: „Willst du auch Schimpf und Schande sein?“ Eine andere Kurzfilmart setzte fiktive Menschen aus der „Ostzone“ in Bild und Ton, die über „Schimpf“ und „Schande“ wegen deren klammheimlicher Unterstützung der SED-Diktatur im besten „Berlinerisch“ bitteren Unmut äußerten: Aber jede Westmark, die ihr euch [„Schimpf“ und „Schande“] abluchsen lasst, is hier ne Gefängniszelle mehr! Oder ´n Komisstiebel! Oder´n Stacheldrahtzaun oder ´n Stück Atombombe!“ So war das zwingende Resümee teils Resignation, teils Mahnung: „So is et! Ihr [die feigen und bequemen West-Berliner] habt die Hosen voll, und wir haben die Nase voll! Von euch neemlich. Wir warten hier [in der „Ostzone“] verzweifelt, bis das alles ein Ende hat. Bis auch bei uns freie Wahlen kommen und wir uns ´n Stück Schweinefleisch gönnen un nich bloss schuften und hungern und ´s Maul halten.“ In diese Richtung gingen auch zahlreiche KinoDiapositive. Beispielsweise zeigte eine Karikatur in der Adventszeit 1950, dass „Schimpf“ und „Schande“ im Osten kauften, obwohl dort der Weihnachtsmann „abgeschafft“ sei. 345 Typisch dafür war ein 60mm-Zeichentrickfilm vom Herbst 1950. Der Film wollte „Schimpf“ und „Schande“ so kennzeichnen, „wie sie es verdienen“, hieß es im Drehbuchmanuskript. So werde er „dazu beitragen, dass viele Berliner nachdenklich werden und zur

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ständig auf ein Publikum ein, das allmählich auch für richtige Argumente resistent wurde, wenn es nicht selbst zum Kreis der renitenten Ostkäufer gehörte. Auch begann sich bei einigen angegriffenen Geschäftsleuten und Unternehmern Widerspruch gegen Verdächtigungen und Unterstellungen zu regen. Als beispielsweise im Zeichentrickfilm „Berliner paßt auf“ – anlässlich der Eröffnung der WestBerliner Filmwoche 1951 in Anwesenheit Reuters uraufgeführt – Kritik an den Wechselstubenbesitzern laut wurde, protestierten sie und drohten mit Klage.346 Bereits im November 1950 deutete sich angesichts weiter ansteigender Osteinkäufe ein Misserfolg der Kampagne „Herr Schimpf“ und „Frau Schande“ an. Selbst ihr engagiertester Verfechter, Willy Kressmann, sah von ihr „keinen nachhaltigen Widerhall“ ausgehen. Im Gegenteil: Immer mehr Käufer würden den Geschäften West-Berlins den Rücken kehren; auch diejenigen, die bislang nicht im Osten kauften, würden erwägen, sich für das Weihnachtsfest in OstBerlin einzudecken. „In den letzten 14 Tagen haben die Umsätze im Ost-Berliner Gänse-Einzelhandel einen bisher nicht dagewesenen Umfang angenommen“, merkte er sichtbar verärgert an. Er forderte vom Westmagistrat nunmehr, „schnell und wirksam geeignete Maßnahmen“ zu treffen, da ansonsten eine „gewaltige Steigerung des Abflusses von Westmark“ bevorstehe.347 In der Tat musste die West-Berliner Regierung jetzt, da sich das bislang favorisierte propagandistische Instrumentarium als unzulänglich erwiesen hatte, die Möglichkeit juristischer und politischer Schritte neu prüfen.

3.4 Die repressiven Maßnahmen West-Berlins und ihre ambivalente Bilanz Seit Februar 1951 beriet der Senat intensiv „Maßnahmen gegen Ost-Dumping“.348 Tenor war, die seit 1948/49 bzw. 1950 geltenden Zoll- und DevisenbestimmunBesinnung kommen“. Die belehrenden Leitverse des Filmes lauteten: „Herr Schimpf und Frau Schande sind sehr gekränkt, weil man so schlecht von ihnen denkt. Ich kaufe im Osten, bin ich nicht helle?, das kostet die zukünftige Arbeitsstelle, Frau Schande, ob du dich gar nicht schämst? Weil du doch Westberlins Wirtschaft lähmst? Man mißbraucht momentane Not und lockt mit Schnaps – Kartoffeln – Brot. Ihr habt der Blockade mit Stolz widerstanden. Berliner – Ihr habt das Vertrauen der Welt, nun duldet auch nicht die ‚Schimpf‘ und die ‚Schande‘ damit Berlin seine Freiheit behält.“ Manuskript zum Kurzfilm „2xSch…“, Herbst 1950, in: LAB, B Rep. 010–01, Acc. 2021, Nr. 386. 346 Vgl. Schreiben von Rechtsanwalt Erich Trost (Rechtsvertreter der Wechselstuben) an den Magistratsdirektor Scholz (Senatswirtschaftsverwaltung), 6.2.1951, in: ebd., 010–01, Acc. 2021, Nr. 386. 347 Schreiben von Kressmann an Wirtschaftsstadtrat Klingelhöfer, 23.11.1950, in: ebd. 348 Vgl. „Der Tagespiegel“, 27.2.1951.

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gen endlich voll anzuwenden. Die Beratungen wurden durch neue schlechte Nachrichten – diesmal von der eigenartigen „Kartoffelfront“349 – deutlich beschleunigt. Doch sahen sich die verantwortlichen Senatspolitiker mit Erkenntnissen konfrontiert, die von flächendeckenden Kontrollen und Verboten, sofern sie technisch überhaupt möglich waren, abraten ließen. So hielten sie sich im Prinzip an Grundsätze, die bereits im Beschluss des Westmagistrats vom 4. Oktober 1950 fixiert worden waren: „Auffällige Kontrollaktionen auf Straßen und in den Verkehrsmitteln mit großem Aufgebot“ seien wegen der „psychologischen Auswirkungen zu unterlassen“, hingegen bei „größeren Warenmengen“ (bei Transporten mit Autos, Fahrzeugen sowie mit Säcken, größeren Behältern, „mehreren Rucksäcken“) durchzuführen. In erster Linie sollten solche Fälle verfolgt werden, „in denen der Währungsunterschied in gewinnsüchtiger Absicht ausgenützt wird. Deswegen wird die Kontrolle ihr Hauptaugenmerk auf die gewerbsmäßig betriebenen Geschäfte dieser Art richten müssen.“ Bei Zuwiderhandlungen seien „empfindliche Strafen“ zu verhängen.350 Das war auch angesichts jener Erkenntnis leichter gesagt als getan, dass bei rigoroser Unterbindung von Osteinkäufen „mit Gegenmaßnahmen der Ostseite“ gerechnet werden müsste. Denn gerade die Wirtschaftspolitiker im Westmagistrat/Senat wollten immer die „Gesamtlage“ berücksichtigt wissen. Zu ihr gehörte eben der Einkauf von Ostdeutschen in West-Berlin, der wertmäßig „immer noch erheblich größer sein dürfte“ als der von West-Berlinern im Osten, wie sie vermuteten. Und deshalb war zu bedenken, ob nicht Repressionen der Ostseite gegen den West-Einkauf ihrer Bürger „wesentliche Umsatzminderungen bei bestimmten Branchen der westberliner Wirtschaft“ zur Folge haben könnten.351 Auch aus diesen klar wirtschaftlichen Gründen lehnte der Westmagistrat eine von Parlamentariern des Abgeordnetenhauses verlangte Sperrung von Westgeldzahlungen an im Osten kaufende Unterstützungsempfänger ab.352 Er wies auch Überlegungen zurück, den Umtausch von West- in Ostmark prinzipiell zu beschränken.353 Der meiste Druck wirkte letztendlich auf den Kleinbezieher von 349 Jetzt kauften West-Berliner ihre Kartoffeln nicht mehr nur selbst im Osten. Trupps junger Ost-Berliner zögen immer häufiger von Haus zu Haus und verkauften den Zentner Kartoffeln für 2,50 bis 3 Westmark. Im West-Berliner Handel zahlte man ursprünglich den dreifachen Preis. Nun sei er dieser Konkurrenz wegen auf ein Viertel bis ein Drittel zurückgegangen. „Der Tagesspiegel“, 4.3.1951. 350 Vgl. Magistratsbeschluß vom 4.10.1950 und Magistratsvorlage Nr. 2210 zur Beschlußfassung für die Sitzung am 29.1.1951, in: LAB, B Rep. 010–01, Acc. 1888, Nr. 1029/30. 351 Vgl. Magistratsvorlage Nr. 1841 zur Beschlußfassung für die Sitzung am 2.10.1950, in: ebd. 352 Vgl. ebd. 353 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 27.2.1951.

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Ostlebensmitteln, der darauf hingewiesen wurde, „daß nach den einschlägigen Bestimmungen jede Art von Einkauf, auch in kleinsten Mengen […] nicht statthaft sei und unter Strafe gestellt ist“.354 Verbote und Strafandrohungen wirkten indes wenig. So gingen die Ordnungsorgane West-Berlins demonstrativ zur Schaffung abschreckender Beispiele über: Beispielsweise wurde eine Frau wegen des Kaufs eines Ostbrotes kurz inhaftiert, und im Februar 1951 fanden erste „beispielgebende Prozesse“ vor der Strafkammer in Moabit gegen sechs Personen statt, die in Ost-Berlin Textilien erworben hatten. Das „Berliner Montagsecho“ kommentierte zutreffend: „Ein an sich unbedeutender Fall, der bis vor kurzem noch durch die Bezirksämter oder die Abteilung Wirtschaft mit Geldbußen geahndet worden wäre.“ Doch die Notwendigkeit, für die Zukunft klare Fronten zu schaffen, bewirkte einen beispielgebenden Prozess.355 Aber auch jetzt zeigten sich keine sichtbaren Erfolge. Das wiederum bewirkte die schnelle Beendigung der zaghaften, in liberalen Kreisen sowieso abgelehnten strafrechtlichen Offensive. Das interpretieren die „Hardliner“ als ein Versagen des Senats. Wieder war es Kressmann, der mit dem Verweis auf die konsequente Haltung seiner eigenen Verwaltung den Senat scharf kritisierte: Er halte es „offensichtlich nicht für angezeigt, in den Fragen des OstWest-Handels klare Verhältnisse zu schaffen“ und handle „hinhaltend“. Der Bezirksbürgermeister war allerdings im Recht, wenn er sich darüber mokierte, dass sowohl Angestellte des öffentlichen Dienstes als auch Angehörige der Alliierten zum Einkauf nach Ost-Berlin führen.356 Dabei hatte der Westmagistrat das nach Lage der Dinge einfachere Problem des illegalen Ostwarenbezugs von öffentlichen Angestellten bereits im Juni 1950 zu klären versucht – durch eine Anweisung Reuters mit der Androhung fristloser Kündigung.357 Kressmanns Intervention in dieser Sache trug sicherlich zum erneuten Machtwort und zu dessen konsequenterer Umsetzung bei. Der Senat resümierte: Viele hätten nach dem Verbot ihre Ostkäufe eingestellt, einige jedoch nicht. Deshalb müsse „nunmehr gegenüber 354 Vgl. „Spandauer Volksblatt“, 17.1.1952. 355 Vgl. „Berliner Montagsecho“, 19.2.1951. 356 Denkschrift von Kressmann, „Der 7. September im Bezirk Kreuzberg“, 15.10.1951, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 927, Nr. 31–93. Die provokante Schrift hatte Kressmann per Bote in der Senatskanzlei abgeben lassen. 357 Reuter bezeichnete es als „besonders verwerflich“, wenn Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ihren Bedarf an Waren und Dienstleistungen in Ost-Berlin deckten. Es erging die „eindringliche Mahnung, ihre gesamten Einkäufe in Berlin-West zu tätigen“, ansonsten drohe die „Dienstentlassung nach fristloser Kündigung“. Die Umdruckverfügung der Innenverwaltung war mit dem Text des Oberbürgermeisters identisch. Magistrat von West-Berlin (Reuter) „an alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes“, 11.6.1950, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1304.

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diesen Unverbesserlichen mit der ganzen Schärfe strafrechtlicher und disziplinärer Maßnahmen unnachsichtig vorgegangen werden“. Der Innensenator verlangte zur rechtlichen Absicherung des Prozedere eine schriftliche Erklärung eines jeden in der öffentlichen Verwaltung, die Bestandteil der Personalakte wurde.358 In der Tat folgten sehr bald einige Entlassungen359, die bei den Staatsangestellten offenbar Wirkung zeigten. Hingegen ging die nicht nur von Kressmann geübte Kritik an der Kaufmentalität des westalliierten Personals gänzlich ins Leere: Ein Einkaufsverbot für den Ostsektor konnte schon aus Gründen des alliierten Berlinstatus nicht ausgesprochen werden, und moralische Appelle360 waren a priori in den Wind gesprochen. Der Antrag parteipolitisch unterschiedlicher Mitglieder des Abgeordnetenhauses, einer erneuten Kaufwelle im Frühsommer 1952 durch die öffentliche Bekanntmachung der Namen von im Osten kaufenden Gewerbetreibenden und anderen West-Berlinern zu begegnen, kam nicht durch; er hätte Denunziation und Diskriminierung bedeutet.361 Insgesamt konnte das Phänomen des mit dem Abfluss an Kaufkraft verbundenen Warenerwerbs in Ost-Berlin weder wirksam eingedämmt noch gar beseitigt werden. Vieles wies sogar darauf hin, dass die Politik und die Propaganda gegen den Warenbezug aus Ost-Berlin das Gegenteil ihrer Absicht erreichten und sie eher auf verschiedene günstige Erwerbsmöglichkeiten aufmerksam machten als die Käufer von diesem Handeln abzuhalten. Nicht wenige West-Berliner „Normalverbraucher“ bewerteten den Kampf um die dauerhafte Sicherung ihres Gemeinwesens gegenüber den östlichen Herausforderungen weniger hoch als den eigenen Vorteil, den sie teils aus Egoismus und Bereicherungsmotiven, teils aber auch aus materiellen Zwängen und Notständen 358 Der Betreffende erklärte in etwa, er sei sich darüber klar, „dass Geschäfte im Osten, die er selbst oder Beauftragte im Osten abschließen, und die direkt oder mittelbar den Abfluß von Westmark in den Osten zur Folge haben, zur fristlosen Aufkündigung des Beschäftigungsverhältnisses führen können.“ Rundverfügung des Senators für Inneres, Nr. 9/1952, 20.2.1952, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1304. 359 Vgl. Entscheidungen des Disziplinarausschusses am 15.3.1952 und am 8.4.1952, in: ebd. 360 So habe sich der US-amerikanische Militärkommandant in West-Berlin, Generalmajor Mathewson, „scharf gegen Einkäufe amerikanischer Besatzungsangehöriger in den staatlichen HO-Läden des Berliner Ostsektors gewendet“ und gesagt, er könne es „nicht mit ansehen, wie zum Beispiel Frauen amerikanischer Offiziere Teppiche, Porzellan und Spitzen in den östlichen HO-Läden kauften und damit den Kommunismus unterstützten“. „FAZ“, 5.8.1952. 361 Die Landesparlamentarier wollten laut Antrag die Namen der entsprechenden Gewerbetreibenden öffentlich bekannt geben und sie „durch Aushang in ihren eigenen Geschäften“ bestrafen. Alle übrigen „Ostkäufer“ sollten in ihren Wohnbezirken „öffentlich bekannt gemacht werden“.

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heraus beim Systemkonkurrenten suchten. Finanzielle Interessen rangierten vor bestimmten „Notwendigkeiten“ des Kalten Krieges. Diese Mentalität ergab sich aber auch aus der immer noch Gesamtberliner Sicht vieler auf die Stadt als tradiertes gemeinsames Konsumfeld. Damit verbunden, hielten Konsumverhalten und Konsumkultur zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch stark an alten Erfahrungsstrukturen und Gewohnheiten fest. Die Frage, welche Ausmaße der Erwerb von Waren und Dienstleistungen von West-Berlinern im Ostteil der Stadt und in den DDR-Randgebieten besaß, wie viel Westmark ab- und der anderen Seite als Ostmark zuflossen, ist nicht exakt zu beantworten. Bedingt durch den Charakter des sektorenüberschreitenden Kleinhandels, der sich im Spektrum von Verbot und Duldung vollzog und eine Grauzone bildete, ist eine wirtschaftliche Bewertung kaum möglich. Erhebungen, Statistiken oder andere verlässliche Zahlenbilanzen fehlen weitgehend. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass der Einsatz von Westmark für den Kauf im Osten erheblicher war, als sich in der Erinnerung der Zeitgenossen abbildete. Auch das erklärt mit, dass er in der Berlinhistoriographie insgesamt nicht analysiert wurde. Allerdings gibt es eine Reihe von Indizien, die zumindest ansatzweise eine Rekonstruktion des Umfanges und Wertes einiger Waren in bestimmten Zeitabschnitten und Situationen gestatten – Schätzungen und Hochrechnungen sowie durch einige Zahlen angedeutete Tendenzen. Diesbezügliche Informationen aus West-Berlin rissen mit wenigen Ausnahmen362 ab, als dort der individuelle Ostkauf nur noch Marginalie war. Sie setzten sich aber – etwa seit 1952 – durch östliche Überlieferungen fort, als das Phänomen nun umgekehrt für die DDR zum Problem wurde. Es waren in der ersten Hälfte der 50er Jahre West-Berliner Tageszeitungen sowie die Senatsverwaltung für Ernährung, die verschiedene Aspekte des Einkaufs in Ost-Berlin konkret recherchierten. Beispielsweise stand 1951 die Kartoffelfrage plötzlich im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Bei einem durchschnittlichen Wechselkurs von 1:3,80 seien nach eher vorsichtigen Schätzungen in diesem Jahr für mindestens 3,5 Mio. Ostmark Kartoffeln illegal in den Westen verbracht worden. Es „stehe fest“, meinte die Senatsverwaltung für Ernährung, dass etwa 58 Prozent der Bevölkerung West-Berlins ihren Bedarf an Speisekartoffeln im Sowjetsektor deckte. Von November 1950 bis 1951 seien aber auch andere Lebensmittel aus Ost-Berlin und seinen Randgebieten mit ansteigender

362 Etwa als im Frühjahr 1957 – bedingt durch günstige Benzinpreise – in Ost-Berlin die „Spriteinkäufe von Westberlinern“ erheblich zunahmen. Vgl. „Der Tagesspiegel“, 4.5.1957.

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Tendenz in die Westsektoren gekommen – so, laut Berechnungen des Großhandels, 40 Mio. Eier.363 Die West-Berliner Landeszentralbank schätzte, dass 1951 etwa 12 Mio. Westmark monatlich für Einkäufe abgeflossen seien.364 Diese Zahl war offensichtlich zu niedrig angesetzt. Die Wirtschaftsspezialisten der populären Zeitung „Der Tagesspiegel“ rechneten anhand von Umsatzdaten der Wechselstuben anders: Danach seien in diesem Zeitraum für 16 Mio. Westmark monatlich in Ost-Berlin Waren gekauft worden, die – rechnet man ihren Wert auf der Basis der Preise im Westen zurück – real 32 Mio. Westmark ergäben. Das seien 15 Westmark pro Kopf und Monat, was etwa einem Drittel des finanziellen Gesamteinsatzes pro Person für Lebensmittel entspräche, „die eben zu 33 Prozent im Osten gekauft würden“.365 Ost-Berliner Angaben, die sich teils auf West-Berliner Quellen, teils auf eigene Analysen stützten, bestätigten den Umfang des Einkaufs im „demokratischen“ Sektor: Etwa ein Drittel des Lebensmittelbedarfs und 15 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes der West-Berliner würden dort realisiert.366 Also handelte es sich mit diesem Austauschverhältnis um einen bedeutenden Gesamtberliner Wirtschaftsfaktor. Das führt zu der komplexeren Frage, inwiefern der Erwerb ostdeutscher Waren und Dienstleistungen zur Verbesserung der sozialen Lage der West-Berliner in den Jahren nach 1949 beigetragen hat. „Der Tagesspiegel“ gab hier eine plausible Antwort: Der Ostkauf habe die Lebenslage von Rentnern, Arbeitslosen und anderen sozial Schwachen „fühlbar verbessert“.367 Aussagen von West-Berlinern, sie könnten auf der Basis ihrer Westeinkünfte durch ihn „einigermaßen gut leben“368, wurden durch den Alltag bestätigt. So kann davon abgeleitet werden, dass der Ostkauf als Konkurrenz – obwohl er das Wachstum von West-Berliner Wirtschaft und Sozialwesen insgesamt behinderte – partiell und zeitweilig zur Stabilisierung des West-Berliner Sozialsystems beigetragen hat. Eine seriöse Untersuchung des Ost-Berliner Stadtkontors ging 1952 davon aus, dass die jährlich etwa 220 Mio. umgetauschten Westmark, zöge man die „Nebenkosten“ ab, einen „jährlichen Nutzgewinn aus dem Sektorenge363 Senatsverwaltung für Ernährung: „Bedarfsdeckung im Währungsgebiet der DM (Ost)“, 15.12.1951, in: LAB, B Rep. 010–01, Acc. 1888, Nr. 1029/30. 364 Vgl. „Der Telegraf“, 18.3.1952. 365 Vgl. „West-östliche Zahlen“, in: „Der Tagesspiegel“, 5.2.1952. 366 Vgl. Analyse (60 Seiten) der SED-Landesleitung: „Die Rolle Westberlins in der amerikanischen Deutschlandpolitik“, 5.9.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 429. 367 Vgl. „West-östliche Zahlen“, in: „Der Tagesspiegel“, 5.2.1952. 368 Amt für Information des Ostmagistrats, Bericht, 6.5.1952, in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5589.

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schäft von mindestens 200 Mio. DM (W)“ erbrächten. Das bedeute, „daß sich die Lebenslage der rd. 300 000 Arbeitslosen, der etwa 80 000 Sozialunterstützungsempfänger und rd. 350 000 Rentner […] im Durchschnitt jährlich um mehr als 200, monatlich um etwa 20 DM (W) pro Kopf verbessert“, was nichts anderes als „eine erpreßte Hilfestellung des Währungsgebietes der DM der Deutschen Notenbank“ sei und der Wechselkurs eine „indirekte Hilfsquelle für das bedrängte Westberlin“.369 Diese für sich genommen richtige Aussage muss freilich im Gesamtkontext des grenzüberschreitenden Berliner Kleinhandels gesehen werden. Auf das Problem des Einkaufs von Ostdeutschen in West-Berlin mit seinen ebenfalls sozialen Wirkungen wird in diesem Zusammenhang noch weiter eingegangen. Mehr Brisanz lag zunächst in den Fragen, wie die Ost-Berliner Wirtschaft und Gesellschaft nach 1952/53 den Abkauf von Waren durch Bürger aus dem Westen verkraftete und welche Konzepte sowie Maßnahmen die SED zu dessen Kontrolle entwickelte.

3.5 Ost-Berliner Blockadeversuche im Mai/Juni 1952 Dass die Preissenkungen der HO im September 1951 – ihnen folgten weitere kleineren Umfangs – nicht für die West-Berliner bestimmt waren, aber von ihnen ausgenutzt wurden, zeigte im Ostsektor Konsequenzen: Zum einen äußerte sich ein bei seiner Bevölkerung rasch wachsender Unmut über den weiter steigenden Einkauf der Nachbarn aus dem Westteil der Stadt. Besonders verärgerte ihr Ansturm auf die weiter verbilligte Gastronomie.370 Zum anderen wurde in diesem konkreten Zusammenhang die allgemeine Verknappung von Lebensmitteln deutlich, die als systeminternes Problem der DDR zwar von West-Berlin nicht verursacht, aber verschärft wurde. Folgerichtig verschwand zuerst die generelle Losung „Der kluge Berliner kauft bei der HO“ aus dem Ost-Berliner Alltag.371 Angesichts dessen schien sich zumindest für Teile der Ost-Berliner eine andere Lösung von 369 Analyse des Berliner Stadtkontors: „Die wirtschaftliche Lage Westberlins“, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5591. 370 Typisch war die Erscheinung, dass Ost-Berliner „Werktätige“ nach Feierabend an den traditionellen Verkaufsbuden ihre beliebte Bockwurst nicht mehr bekamen. „Die Westberliner hätten alles weggegessen und Pfennige dafür bezahlt“, klagten sie. Ähnlich sah es in den Ost-Berliner Gaststätten aus. Da die „Westler“ umgerechnet etwa eine Westmark für ein warmes Essen bezahlten, war schnell alles „aus“. Bald hieß es, dass sich selbst der West-Berliner Arbeitslose, der ja auch tagsüber Zeit für einen Restaurantbesuch im Osten habe, mehr leisten könne als der Arbeiter im sowjetischen Sektor. Vgl. Steinhage/Flemming, Berlin – Vom Kriegsende bis zur Wende, S. 47. Die Autoren zitieren OstBerliner Zeitungen. 371 Vgl. Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 97.

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Konsumproblemen anzubieten: DDR-Regierung und Magistrat sollten nicht die hohen HO-Preise senken, sondern die Rationen der auf Lebensmittelkarten erhältlichen Produkte – Fette, Fleisch und Wurstwaren vor allem – erhöhen. Damit gelänge es, den West-Berlinern „die Vorteile zu entziehen“.372 Das entsprach aber Ende 1951, Anfang 1952 nicht der Strategie der SED. Zwar sah sie den Warenabfluss in den Westen als ökonomische Belastung, aber als eine höher zu bewertende politische Chance, die Überlegenheit ihres Systems zu beweisen. Andererseits betrachtete sie das Konsumphänomen richtigerweise nur als einen Teil des grenzüberschreitenden, individuellen Warenverkehrs in seiner Gesamtheit. Auf dieser Erkenntnisgrundlage begann sie – offensichtlich auch unter sowjetischem Einfluss – den Einkauf von Ostdeutschen in den Westsektoren stärker zu thematisieren. Im Frühjahr 1952 standen dabei Sicherheitsüberlegungen offenbar mit im Vordergrund, aber auch die Befürchtung, den ideologischen Vorteil, den man durch das Kaufverhalten der West-Berliner erreicht zu haben glaubte, durch die Einkäufe der eigenen Bevölkerung im Westen aufs Spiel zu setzen. Gleichzeitig entwickelte die SED Realismus, wenn sie den Sowjets mitteilte, dass denjenigen Ostdeutschen, die vom „Schaufenster“373 West-Berlin angezogen wurden, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht administrativ, sondern nur durch verbesserte Konsum- und Kulturangebote beizukommen sei.374 372 Vgl. „Auswertung der Berichte der Kreise über die HO-Preissenkung“, 10.10.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 271. 373 Man müsse zunächst einmal gründlicher analysieren, welche Waren von „unserer Bevölkerung im Westen oder illegal gekauft werden. Hierbei handelt es sich um Gewürze, Kaffee, Kakao, Schokolade, Kuchen, qualifizierte Textilien, Schuhe und Lederwaren, Wolle, Tabak und eine große Menge von Luxusartikeln bis zu Parfümerien und ähnlichen Dingen, wobei letztere mehr von Bewohnern der DDR als von Bewohnern des demokratischen Sektors gekauft werden […]. Ein wesentlicher Faktor, der die Einwohner des demokratischen Sektors und der DDR veranlaßt nach West-Berlin zu gehen, ist die große Summe von interessanten Veranstaltungen, seien es technische Ausstellungen (Auto-Ausstellungen, Radio-Ausstellungen, Grüne Woche u.s.w.) oder große Boxveranstaltungen.“ Schreiben der SED-LL Groß-Berlin der SED, „an Genossen Beglischew“ (SKK), 5.5.1952, in: ebd., Nr. 184. 374 Die SED-Führung Berlins sei sich „darüber im klaren, dass eine wirksame Kontrolle des Warenverkehrs hin und her überhaupt nur möglich ist, wenn eine absolute Kontrolle des Personen- und Fahrzeugverkehrs von Ost- nach Westberlin und umgekehrt in die DDR durchgeführt wird. Eine absolute Kontrolle ist aber nur möglich, wenn nur wenige Straßen sowohl für den Fahrzeug- als auch für den Personenverkehr offen sind (wenn mehr als 100 Straßen […] offen sind, gibt es keine wirkliche Kontrolle der großen Masse an kleinen Käufen). D.h. also, solange noch der S-Bahn-Verkehr zwischen Ost und West läuft, müßte an der letzten Station gestoppt werden und Kontrolle einsetzen; die gleiche Frage steht bei

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Die der Besatzungsmacht übermittelten Vorstellungen – offenbar eine Reaktion auf die sowjetischen Planungen zur Abriegelung West-Berlins von seinem brandenburgischen Umland – waren ambivalent. Sie konnten sowohl eine Aufforderung an die Hegemonialmacht sein, faktisch alle Verbindungen zum Westteil der Stadt zu kappen, als aber auch der dezente Wunsch an die Sowjetunion, die Anziehungskraft des „Schaufensters“ Ost-Berlin nach innen und außen vergrößern zu helfen. Als die Straßenverbindungen am 26. Mai 1952 schließlich unterbrochen wurden und weitere repressive Maßnahmen im Verkehr zwischen Ost- und WestBerlin folgten, ging es jedoch damit weniger gegen den individuellen Warenverkehr als um die Schädigung bzw. Schwächung der wirtschaftlichen Position WestBerlins. Doch waren die Wirtschafts- und Finanzexperten der SED von einem diesbezüglichen Erfolg offenbar nicht so recht überzeugt.375 Ebenfalls hätten die den anderen Verkehrsmitteln. Eine echte Kontrolle gibt es aber erst dann, wenn weder S-Bahn, Straßenbahn noch U-Bahnverbindungen bestehen und an den Sektorengrenzen, d.h. an den dafür festgelegten Übergängen, eine echte Kontrolle der Ausweise erfolgt.“ Was die Kontrolle der aus West-Berlin bezogenen, im Ostteil „illegal“ gehandelten Waren anginge, sei „in der gleichen Zeit eine umfassende Kontrolle der Einzelhandelsgeschäfte vorzunehmen, um sozusagen unter dem Ladentisch die illegale Ware hervorzuziehen. Wir sollten uns jedoch darüber im klaren sein, dass diese administrativen Maßnahmen allein den Schleichhandel zwischen Ost und West nicht liquidieren werden, sondern sie werden ihn nur ein wenig eindämmen.“ Unter diesen Bedingungen würden einige Waren „eben teurer“ werden müssen. Es wäre insgesamt aber notwendig, „zu überlegen, inwieweit wir – wenn schon nicht auf allen – so doch auf einigen Gebieten qualifizierte Warenangebote an die Bevölkerung machen können. […] Wenn wir bei uns das Ausstellungs- und Veranstaltungswesen fördern, wäre ebenfalls ein entsprechendes Gegengewicht gegeben.“ Alle diese Vorschläge, die mit dem Sekretariat des ZK [Ulbricht] besprochen werden müssten, seien jedoch ein „unsinniges Unternehmen“, wenn sie nicht gleichzeitig auch „gegenüber der Republik und Westberlin“ wirksam würden. Vgl. ebd. 375 Kurzzeitig hätte sich eine gewisse Zurückhaltung des westdeutschen Kapitals „angesichts der politischen Risikosituation“ gezeigt, und so seien bei einigen Großbetrieben auch Absichten über Produktionsverlagerungen in die Bundesrepublik laut geworden. Wirkung hätten die DDR-Maßnahmen vor allem bei kleinen bis mittleren Unternehmen gezeigt, deren Auftragslage und Umsätze plötzlich zurückgingen. Vor allem seien die Aktien von West-Berliner Großunternehmen „bedingt durch die politische Unsicherheit“ gefallen, würden sich nunmehr aber schnell stabilisieren. Dahinter stünde wohl die relative Gelassenheit der westdeutschen Industrie, die Zuspitzungen im Berlinverkehr eigentlich erwartet hätte – „etwa in Richtung auf eine zweite Luftbrücke“ – als auch die Erklärung Adenauers und Achesons über ihren unverändert konsequenten Unterstützungskurs für Berlin. Dass die „Schockwirkung“ schnell überwunden worden sei, zeige auch der ansteigende Bedarf der West-Berliner Wirtschaft an mittel- und langfristigen Krediten. So sei bereits wenige Wochen nach den DDR-Aktionen ein „Umschwung“ eingetreten: Die industrielle

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Maßnahmen der DDR zwar den Sektoren überschreitenden individuellen Kleinhandel kurzfristig getroffen, doch sei das bewusst angelegte Konzept der wirtschaftlichen Schädigung und sozialen Destabilisierung insgesamt von „dialektischer“ Wirkung gewesen.376 Zwar unterstrichen die Ost-Berliner Fachleute, dass der wirtschaftliche Aufschwung in den Westsektoren immer von politischen Faktoren abhängig sei und sich eine „Zuspitzung der politischen Situation mit all ihren Unsicherheitsmomenten als bedeutungsvoll genug [erweise], die wirtschaftlichen Inspirationen West-Berlins weitgehend zu lähmen“, führten aber diese Behauptung durch ihre Analyse ad absurdum. Faktisch warnten sie vor „neuerlichen Verschärfungen der politischen Situation“377 und gaben der SED-Führung zu verstehen, dass ein auf die Schwächung der Westsektoren angelegter politischer Konfrontationskurs immer die Gefahr in sich berge, das Gegenteil seiner Absicht zu erreichen.

3.6 Die Offensive gegen „Schieber und Spekulanten“ (1952–1961) Nach der Überwindung des „Schocks“ und seiner unmittelbaren Folgen setzte bereits ab der zweiten Junihälfte 1952 ein Gegentrend ein. Es war wohl auch die Rohstoffversorgung der Westsektoren sei „jetzt kein Problem mehr“, die Kapitalversorgung bei Modernisierung, Rationalisierung sowie Kapazitätserweiterungen habe sich verbessert und das Exportvolumen der Teilstadt und ihre Wettbewerbsfähigkeit stiegen weiter. „Die Westberliner Situation im Juni 1952“. Analyse des Berliner Stadtkontors, Bank von Groß-Berlin, 4.9.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5591. 376 Einbrüche habe es zweifellos im West-Berliner Einzelhandel gegeben. Seine Umsätze seien im Juni – nach Bekanntwerden der DDR-Restriktionen – im Vergleich zum Mai 1952 um 17 Prozent, bei einzelnen Branchen bis 32 Prozent zurückgegangen. Parallel dazu sei aber die „Umsatzentwicklung“ in Ost-Berlin „ähnlich“ verlaufen. In diesem Zeitabschnitt hätten aber auch die DDR-Bürger deutlich weniger gekauft. Parallel dazu sei auch das „Sektorentauschgeschäft“ zurückgegangen. Es zeigte sich jedoch, dass der Rückgang des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen durch West-Berliner im Osten, „schwerer ins Gewicht fiel, als umgekehrt das teilweise Ausbleiben von Einkäufen der DDR-Bewohner in Westberlin“. Der größte „politische Vorteil“ der DDR-Maßnahmen habe also darin gelegen, dass für viele DDR-Bewohner „dadurch das ‚Schaufenster des Westens‘ seinen politischen Wert [verlor]“. Das hätte aber wiederum einen wirtschaftlichen Nachteil zur Folge gehabt, weil der Wert der Westmark im Wechselkurs durch das verminderte Angebot an Ostmark fiel und es dadurch zu einer „Wiederankurbelung u.a. der westlichen Brotindustrie und zu einer stärkeren Inanspruchnahme des Westberliner Dienstleistungsgewerbes“ gekommen sei. Dadurch seien die durch das Kursgefälle geschaffenen „wirtschaftlichen und sozialen Spannungen“ besonders in den am Rand der DDR gelegenen westlichen Wohngebieten gemildert worden. Vgl. ebd. 377 Ebd.

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Befürchtung vieler Ostdeutscher, dass man vielleicht bald nicht mehr im Westen kaufen könne, die sie dort in die Läden trieb. Der Senat meldete einen verstärkten östlichen Andrang vor allem auf die „häufig stattfindenden Ausverkäufe“, hier vorrangig in Schuh- und Textilgeschäften.378 Das vermehrte die Ostmarkbestände in den Wechselstuben und erhöhte damit den Kurswert der Westmark, die wieder günstiger in billige Ostmark umgetauscht werden und von den West-Berlinern günstig für den Warenbezug aus dem Osten eingesetzt werden konnte. Doch das vermochte die Planwirtschaft der DDR nun nicht mehr zu verkraften. Ihr Versorgungssystem geriet in akute Gefahr. Nicht etwa, dass die West-Berliner Nachfrage dramatisch zugenommen hätte. Vielmehr glitten die DDR und Ost-Berlin in eine Systemkrise, die nicht zuletzt deshalb eine Lebensmittelkrise war, weil nicht genügend Nahrungsgüter produziert oder importiert wurden. Im Herbst 1952 zog die SED die „Notbremse“. War der Abfluss von Ostwaren nach Berlin aus den geschilderten Gründen bislang toleriert worden, vollzog sich nun ein abrupter Wechsel zum Verkaufsverbot für West-Berliner und Bundesbürger. Die Vorbereitungszeit für entsprechende Maßnahmen war relativ kurz und die Begründung eilig verfasst: „Spekulanten und Schieber haben, geleitet von Westberlin aus, grosse Mengen der durch die Anstrengungen unserer werktätigen Menschen erzeugten Lebensmittel und Industriewaren ungesetzlich nach Westberlin und Westdeutschland verbracht, hohe Spekulationsgewinne erzielt, unsere Volkswirtschaft schwer geschädigt und die Werktätigen um die Früchte ihrer Arbeit und schwer errungenen Erfolge betrogen: Der Magistrat von Gross-Berlin ruft die Werktätigen zum scharfen Kampf gegen Spekulanten und Schieber, Verkäufer und Käufer, die Spekulation und Schiebung Vorschub leisten. Sie sind Feinde der demokratischen Ordnung, schädigen den Aufbau des Sozialismus.“379 Das war die Sprache des Kalten Krieges. Zwar waren Kontrollen zur Verhinderung des Abflusses von knappen Waren in den Westen vor allem in Krisenzeiten legitim, doch wurden nicht die Tausenden Käufer aus dem Westen als die zu Treffenden genannt, auf die dann die Magistratsverordnung vom 27. November 1952 tatsächlich zielte380, sondern eben „Schieber und Spekulanten“, die für ein Feind-

378 Vgl. Vermerk der Senatsverwaltung Wirtschaft, 31.7.1952, in: ebd., B Rep. 010–01, Acc. 1999, Nr. 432. 379 Entwurf einer Präambel. Anlage zum Protokoll Nr. 22/1952 der SED-Sekretariatssitzung am 27.11.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 177, Bl. 21. 380 „Die Magistratsverordnung zur Verhinderung der Spekulation mit Lebensmitteln und Industriewaren“ vom 27.11.1952 bestimmte, dass solche nur noch an Einwohner der DDR und Ost-Berlins verkauft werden dürften und zwar nach Vorlage des Personalausweises oder der Lebensmittelstammkarte des Käufers. Ausgenommen waren nur Grenz-

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bild geeignet schienen. Mit diesem Sammelbegriff waren die Berliner seit Jahren vertraut. Mit ihnen führte die SED ein symbolisches „Gegenpaar“ zu „Herrn Schimpf und Frau Schande“ in die politische Auseinandersetzung ein. Mit umgekehrten Vorzeichen beabsichtigten beide Berliner Ganovenpärchen das Gleiche: die Läuterung oder/aber Abgrenzung und Bestrafung von Berlinern, die durch ihr Kaufverhalten das jeweils eigene System schädigten – im Osten den Aufbau des Sozialismus und im Westen die marktwirtschaftliche Demokratie. Indes stellte sich als pikant dar, dass beide Propagandapaare ein Bündnis gegen den Abfluss östlicher Waren nach West-Berlin eingingen. Kurzfristig geplant, lief die erste östliche Aktion stabsmäßig ab.381 Die Magistratssitzung vom 27. November 1952 fand ein starkes Echo. Das war angesichts ihrer Tragweite für beide Teile der Stadt nicht verwunderlich. Freilich erkannten die meisten Zeitgenossen den Hintergrund der Maßnahme: die ostdeutsche Krise mit ihren versorgungspolitischen Auswirkungen. Die zahlreichen Stimmungsberichte aus West-Berlin gaben die „große Enttäuschung und Ratlosigkeit“ der vom Verdikt Betroffenen wieder, aber auch Wut: Erst habe „die SED geschrien, die HO könne ganz Berlin versorgen und jetzt sieht es so aus, daß die HO pleite macht“, hieß es vielerorts. Da die Aktion kurz vor Weihnachten be-

gänger aus West-Berlin, die im Osten der Stadt arbeiteten und Einkaufsberechtigungskarten besaßen. 381 Sämtliche unmittelbar an der Sektorengrenze liegenden Ost-Berliner Geschäfte wurden am 28.11.1952 „wegen Inventur“ geschlossen. Für die Stadtbezirke Pankow, Treptow, Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain – sie grenzten an West-Berlin – wurden Kommissionen gebildet, die zu überprüfen hatten, welche der zwischen Kontrollpunkten und Sektorengrenze gelegenen Geschäfte und Gaststätten zu verlagern und welche einfach nicht mehr zu beliefern seien. Offenbar betraf das letztere private Händler. In den Kommissionen hätten die Inspektionsleiter der VP mitzuarbeiten. Allen „ambulanten Händlern“ mit einer Gewerbeerlaubnis seien andere Standorte außerhalb des Grenzbereichs zuzuweisen. Zur Abschreckung von weiteren Vergehen sei zwischen der VP und den Justizorganen „gemeinsam abzusprechen, dass die ersten Fälle von Verstößen gegen diese Verordnung durch öffentlichen Prozess entsprechend politisch ausgewertet werden“. Überdies wurde die Abteilung Leitende Organe der SED-Landesleitung beauftragt, am 28.11.1952 mittels massiver Einsätze von Instrukteuren „über die Stimmung der Menschen in den Betrieben und in den Verkaufsläden im demokratischen Sektor als auch aus den Westsektoren“ zu berichten. Im gleichen Zuge wurde die Amtsenthebung des Stadtrats für Handel und Versorgung, Schiffmann (LDPD), beschlossen, weil er angeblich in seiner Arbeit versagt habe, und nochmals betont, dass das gesamte Verkaufspersonal verpflichtet sei, sich vor dem Verkauf Ausweise oder aktuelle Lebensmittelkarten vorlegen zu lassen. Bei Zuwiderhandlungen drohten Strafen. Protokoll Nr. 22/1952 der SED-Sekretariatssitzung am 27.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 177, Bl. 7f.

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gann, seien viele ärmere West-Berliner darüber traurig gewesen, dass „aus dem Gänsebraten zu Weihnachten jetzt ein Heringsschwanz geworden [ist]“.382 Rentner, darunter viele West-Berliner SED-Mitglieder, wandten sich an den populären Oberbürgermeister Ebert mit der Bitte, den „Ärmsten der Armen, die unter der Teilung Berlins besonders leiden, die bisher geleistete Hilfe nicht zu versagen“.383 Ein alter Freund Eberts schrieb ihm aus West-Berlin: „ Fritze, was ist denn nun eigentlich los mit der neuen HausOrdnung [gemeint war die HO]? Was für ein Vergißmeinnichtkopf hat diesen Ulk ausgeheckt.“384 Den Politiker erreichten Schmähbriefe.385 Parallel dazu setzte aber eine Flut von Zustimmungserklärungen und Verpflichtungen Ost-Berliner Werktätiger ein. Man wolle angesichts der westdeutschen Kriegsvorbereitungen die Wachsamkeit verstärken und den Schiebern und Spekulanten das Handwerk legen.386 Wenngleich auch diese Kampagne gelenkt war, stimmten doch die meisten im Osten dem antiwestlichen Kaufverbot zu, erhofften sie sich doch davon eine fühlbare Verbesserung der angespannten Versorgungssituation. Jetzt können Weihnachtseinkäufe „ohne übermäßigen Zeitverlust und Ärger vorgenommen werden“, hieß es in einem Brief von Arbeitern, und die verdeckten Ost-Berliner Befrager meldeten viel, zweifellos echten, Beifall „nach oben“. Die Genugtuung gipfelte nicht selten in einer kleinlichen Gehässigkeit, die auch vor getrennten Berliner Familien nicht haltmachte.387 382 Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen: „Informationsbericht“, 28.11.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 275. 383 Schreiben von „Altrentnern“ aus West-Berlin an Ebert, 2.12.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 371. 384 Schreiben von Ziller an Ebert, 5.12.1952, in: ebd. 385 „Was ist nun auf einmal geschehen?“, fragte ein Anonymus den Oberbürgermeister rhetorisch: „Eine Verordnung gegen die West-Berliner Schieber und Spekulanten. Nein Herr Ebert, wieder ein Planungsfehler! […] Nun sind Sie pleite und bis zur Brotkarte ist es nicht mehr weit […] auf Fäulnis und Morschheit wird dieses System ein hoffentlich baldiges Ende finden.“ Und ein „Teil der Berliner Gewerbetreibenden“ dankte Ebert und „dem gesamten Demokratischen Staat“ ironisch für das „Weihnachtsgeschenk“ in der HO. Sie halte nichts mehr feil, „weil nischt mehr da ist, sonst ginge der Verkauf [an West-Berliner] weiter“. Schreiben an Ebert, 6.12.1952 und 1.12.1952, in: ebd. 386 Vgl. Zustimmungsschreiben von Belegschaften aus Großbetrieben, von Verwaltungsangestellten, Rentnern u.a.m. an Ebert in der Zeit vom 29.11.–5.12.1952, in: ebd., Nr. 371. Sie habe selbst gesehen, „wie viele Lebensmittelwaren und Textilien in die Taschen westberliner Großeinkäufer wanderten“, schrieb eine Ost-Berliner Bürgerin an Ebert. „Durch ständiges Kontrollieren unserer Verkäufer und Verkäuferinnen in den HO- und Konsumgeschäften“ wolle sie dazu beitragen, „daß die Maßnahme des demokratischen Magistrats richtig durchgeführt wird“. Brief von Frau K. Müller an Ebert, 29.11.1952, in: ebd. 387 Eine Frau erzählte den Interviewern, ihre Schwester in West-Berlin habe einen schon seit vier Jahren arbeitslosen Ehemann, der ständig prahle, es gingen ihnen trotzdem besser als

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Auch gab es Fälle, bei denen Ost-Berliner Ladeninhaber durch West-Berliner denunziert wurden, weil sie an Kunden auch ohne Vorlage des Personalausweises Waren verkauft hätten.388 Dass die differenzierten Interessenlagen die Reaktionen bestimmten, zeigte sich auch an den „selbstständigen Geschäften“ in West-Berlin. Ihre Inhaber gaben ihre Sympathie für die Magistratsverordnung freilich nicht offen kund, waren aber sehr froh darüber, „dass für sie jetzt eine bessere Lage eintritt und ihr Umsatz steigt“.389 Doch deutete sich schon nach wenigen Tagen an, dass die repressive Verordnung die eine und ihre Durchsetzung die andere Seite der Medaille sein würde. Es gebe bereits einige Beispiele dafür, „dass Kinder und Jugendliche […] bestimmte Waren nach West-Berlin schmuggelten“. Auch würden West-Berliner ihre im Ostteil der Stadt wohnenden Bekannten und Verwandten veranlassen, für sie einzukaufen.390 In der Tat konstatierten die Staatsorgane zwar eine Begrenzung, aber keine Lösung des Problems des Warenabflusses in den Westen. Zum einen veränderte sich die Art und Weise der Warenbeschaffung, die mehr den Charakter einer Dienstleistung annahm. Besorgten sich die West-Berliner vor dem November 1952 ihre Waren in der Regel direkt und selbst im anderen Teil der Stadt, kauften jetzt Ostdeutsche für sie ein und lieferten sie den West-Berliner Konsumenten „frei Haus“. Darunter waren auch vermehrt Produkte, die nicht in der HO oder anderswo erworben, sondern im eigenen märkischen Garten oder Kleintierstall erzeugt wurden: Gemüse, Eier und Kaninchenfleisch. Beide Formen dieser doppelten bzw. kombinierten Leistung – Transport und Verkauf – brachten beiden Seiten Vorteile. Der Berliner im Westen erhielt gegen Westmark frische Ware zu einem unter dem dort üblichen Preis und sein Lieferant die Möglichkeit, mit der erworbenen „harten Währung“ in Wedding, Friedenau oder anderswo einzukaufen. Allerdings belebte sich auch der direkte einem Arbeiter in Ost-Berlin. Er kaufe eben im Osten billig ein. „Trotzdem es meine Verwandtschaft ist“, begrüße die Befragte „mit Freuden den Erlaß“. Eine Krankenschwester im Ost-Berliner Hufeland-Krankenhaus berichtete von ihrer im Westen wohnenden Schwester, die durch Ostkäufe viel eingespart hätte und sich dadurch „eine teure Urlaubsreise nach Westdeutschland“ leisten könne. Jetzt werde sie sich „nicht mehr auf unsere Kosten bereichern können“, freute sich die Ostverwandte. Vgl. Leitende Organe der Parteien und Massenorganisationen: „Informationsbericht“, 28.11.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 275. 388 So wurde beispielsweise ein Bäcker in der Ost-Berliner Stargarder Straße per Postkarte aus dem französischen Sektor denunziert. Vgl. Anonym an Ebert, 2.12.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 371. 389 Vgl. Leitende Organe der Partei und Massenorganisationen: „Informationsbericht“, 28.11.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 275. 390 Vgl. Kurzbericht des Stellvertretenden OB Alfred Neumann, 2.12.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 371.

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Einkauf von West-Berlinern im Ostsektor allmählich dadurch wieder, dass Verkäuferinnen und Verkäufer, Werkstattbetreiber und Gastwirte immer weniger die Vorlage der Personalausweise verlangten. Es war teils der zusätzliche und ermüdende Aufwand, den sie vermeiden wollten, teils aber auch der drohende Umsatzverlust. Überdies gab es eine Anzahl von Sonderregelungen, die schwer durchschaubar und deshalb auslegbar waren – etwa im Buchhandel.391 Da aber die „demokratischen Kontrollen“ durch die Bevölkerung nicht oder nicht wie erwünscht funktionierten, weil die meisten Ost-Berliner bei allem Unmut über das West-Berliner Kaufverhalten nicht zu Denunziationen bereit waren, reagierten SED-Bezirksleitung und Politbüro mit einer Ratlosigkeit verratenden Verschärfung der Verbotspraxis: Jetzt war auch der Verkauf ohne Ausweis in Restaurants und an Kiosken nicht mehr erlaubt.392 Es entstand eine für Staat und Partei doppelt prekäre Situation, weil sich einerseits die Wirtschaftskrise verschärfte und andererseits seit Ende 1952 – deutlicher ab 1955 – die West-Berliner Administration mehr „Großzügigkeit bei der Überwachung von Warenverbringungen in Richtung Ost als auch in Richtung West“ walten ließ. Wareneinkäufe im Ostsektor könnten nun „nicht mehr als wirtschaftsschädigend für die WestBerliner Wirtschaft angesprochen werden“, begründete der Senat.393 Damit war faktisch der wichtigste Verbündete der SED im Kampf gegen den Einkauf im Osten ausgefallen. Überdies wollte der Senat in keinerlei Weise mit Maßnahmen gegen die „überspitzten östlichen Verordnungen“ reagieren, um den Ostbewohnern nicht die Möglichkeit zu nehmen, „kleine Mengen Lebensmittel“ in WestBerlin zu verkaufen, um mit dem erzielten Erlös dort Waren zu erwerben.394 Bereits im Vorfeld des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 wiesen die Senatsorgane an, den Besuchern aus der Ostzone und dem „Sowjetsektor“ angesichts der „aku391 Vorlagefrei blieb die „gesamte fortschrittliche Literatur, Belletristik, Weltliteratur, klassisches Erbe und Jugend- und Kinderliteratur“ – ausgenommen Lizenzausgaben –, nicht aber wissenschaftliche Literatur und Fachzeitschriften. Die wiederum bekamen aber in Ost-Berlin Studierende oder wissenschaftlich tätige West-Berliner, wenn sie eine Bescheinigung ihrer Institutionen vorlegen konnten. Antiquarische Bücher, Lehrmittel (beispielsweise Globen), Glückwunsch- und Ansichtskarten u.a.m. gab es wiederum nur bei Ausweis-Vorlage. Das gleiche betraf musikalische Noten, „ausgenommen Arbeiterlieder und Märsche, sowie Liederbücher unserer demokratischen Organisationen“. Magistrat von Groß-Berlin: „Betr. Verordnung zur Verhinderung der Spekulation mit Lebensmitteln und Industriewaren“, 13.1.1952, in: ebd. C Rep. 121, Nr. 215. 392 Vgl. „Den Genossen Sekretariatsmitgliedern zur Kenntnis“, Information des Politbüros der SED, 21.1.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 156. 393 „Vermerk über eine Besprechung bei Herrn Fin. Präs. Kaibel am 13. Januar 1956“, in: ebd., B Rep. 010–01, Nr. 474. 394 Hausinterne Mitteilung der Senatsverwaltung für Wirtschaft, 15.6.1955, in: ebd.

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ten Lebensmittelkrise“ in der DDR ihre in West-Berlin erworbenen Lebensmittel zu belassen, sie hingegen über die DDR-Einfuhrbestimmungen zu belehren.395 „Neuer Kurs“ in der DDR und Juni-Volksaufstand 1953 führten in Ost-Berlin zu einer zeitweiligen Liberalisierung der Einkaufsverbotspraxis für West-Berliner. Die Kontrolle und Verfolgung von Vergehen gegen den Magistratsbeschluss wurden für einige Wochen faktisch ausgesetzt. Den Hintergrund dafür bildeten die von den Westsektoren aus organisierten westlichen Lebensmittelhilfen für Ostdeutsche im Juli und August 1953. Das Politbüro der SED diskutierte sogar den freien Verkauf von Brot, Gemüse und Kartoffeln an der Sektorengrenze. Eine dementsprechende, von dem Politbüromitglied und Wirtschaftstheoretiker Fred Oelßner erarbeitete Vorlage lehnte es jedoch aus nicht überlieferten Gründen ab.396 Aber auch so schnellte der weiterhin illegale Verkauf dieser Waren und insbesondere von Eiern durch Ostdeutsche in die Höhe. Er erreichte eine neue Organisationsqualität und war keineswegs von sichtbaren Ängsten begleitet.397 Dieser Entwicklung wussten die noch unter dem Eindruck des 17. Juni 1953 stehenden Behörden nicht viel entgegenzusetzen. Überdies hatten FDJ und SED zum II. Deutschlandtreffen der gesamtdeutschen Jugend aufgerufen, was in seinem Vorfeld ein rigoroseres Vorgehen verbot. Diese zu Pfingsten 1954 aufwändig durchgeführte propagandistische Großaktion, auf die unter anderem Aspekt bereits eingegangen worden ist, belastete die ostdeutsche Lebensmittelversorgung zusätzlich398 und entfachte die Versorgungsängste und den Ärger der Ost-Berliner 395 Meldung an den Reg. BM, 20.3.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 281. 396 Vgl. Protokoll Nr. 60/53, Sitzung des Politbüros am 13.8.1953, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/314, S. 2. 397 Der SED-Bezirksleitung wurde mehrfach gemeldet, dass sich Bürger im Osten WestBerlinern professionell als Vermittler von DDR-Produkten anböten. Entweder kämen die Westbürger gleich mit ihnen in den Ostsektor und erhielten die vom „Dealer“ „gegen Personalausweis“ erworbene Ware sofort „oder sie nehmen Listen auf und beliefern ihre West-Berliner Kunden.“ Häufig ginge das drei- bis viermal am Tag. „Täglich kommen 3– 4 Leute an meine Tür am Bahnhof Charlottenburg, um Eier zu verkaufen.“ Gekleidet seien diese Ostbewohner „oft besser als manche West-Berliner“, berichtete eine Dame aus einem etwas vornehmeren West-Berliner Stadtteil. Abteilung Leitende Organe: „Tagesbericht Nr. 34“, 18.8.1953 und „Informationsnotiz Nr. 289“, 30.7.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 603. 398 So waren unter heftigen Protesten der Stadtbezirksverwaltungen beim Magistrat die Kontingente für Frischfleisch und Wurstwaren im Mai 1954 erheblich gekürzt worden. Pro Person und Woche machte das eine Reduzierung von 952 g auf 871 g aus. Ebenfalls mangelte es an Käse, Fisch und billigen Konserven. Bestimmte Lebensmittelgeschäfte seien nicht mehr mit Fleischwaren zu beliefern. Überall gebe es „Käuferschlangen“. Vgl. „Si-

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Konsumenten aufs Neue.399 Die SED belebte angesichts der allgemeinen Unzufriedenheit Ende 1954 – nicht von ungefähr wieder kurz vor dem Weihnachtsfest – ihr Duo „Schieber und Spekulanten“. Anlass war das „massenweise Verschieben von Geflügel und Eiern“ in den Westen. Eine neue politisch-propagandistische Offensive wurde vorbereitet400, die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ zeigte wachsame Kontrollorgane, die u.a. die Verschiebung von 45.000 frischen Eiern in die „faulen Nester“ Westberlins gerade verhindert hätten, und gegen die Schieber protestierende Werktätige.401

3.7 Ambivalenzen der Ost-Berliner Ausfuhrverbote Organisierter Volkszorn gehörte zur Konkurrenzroutine. Neu war hingegen eine bislang von der SED so nicht gewagte Unterstellung, die West-Berliner Bevölkerung habe aufgrund der Währungsverhältnisse kein Interesse an einer Änderung der politischen Verhältnisse in Berlin, also auch nicht mehr an der Einheit der Stadt.402 So schien alles vorbereitet, als das Politbüro der SED am 21. Dezember 1954 einen Maßnahmenkatalog „gegen Schieber und Spekulanten in Berlin“ verabschiedete, der in seiner Schärfe und „deutschen Gründlichkeit“ alles Bisherige übertraf. Wie wichtig der SED die Sache war, äußerte sich in der Federführung Walter Ulbrichts. Die in 22 Punkten gefassten Bestimmungen richteten sich sowohl gegen west- als auch gegen ostdeutsche Bürger. Insofern trugen sie tatsächlich gesamtdeutsche Züge. Ein erster Block des Kataloges regelte die Einkaufsbestimmungen, die Kontrollen der Käufer und Bestrafungen. Die Bestimmungen des Magistrats vom November 1952 wurden verschärft. Bei der Durchsetzung der Pflicht der Ausweisvorlage (nur noch des Deutschen Personalausweises der DDR) legte das Politbüro „besonderen Wert“ auf die sorgsame Kontrolle des Einzelhandels in den Randgebie-

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tuationsbericht der Versorgungslage in den wichtigsten Nahrungsmitteln“, 12.5.1954, in: ebd., Nr. 212. Im Zusammenhang mit der „Fleisch- und Fett-Diskussion“ seien bei der Bevölkerung Angsteinkäufe festgestellt worden. Selbst SED-Genossen erklärten, man solle ihnen doch nicht solche Märchen erzählen, dass der Mangel an Fleisch, Butter und Fett naturbedingt oder durch Schiebereien entstanden sei. „Seid doch ehrlich, es ist es doch das Deutschlandtreffen.“ Abteilung Leitende Organe: „Monatsbericht Mai 1954“, 12.6.1954, in: ebd., Nr. 607. Vgl. Protokoll Nr. 49/54 der Sitzung des Büros der SED-BL am 23.12.1954, in: ebd., Nr. 200/1, Bl. 141f. „Der Augenzeuge“, Nr. 18/54, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. Abteilung Leitende Organe: „Bericht“, 9.12.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 609.

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ten von Berlin. Die Ausgabe von Einkaufsberechtigungsscheinen an WestBerliner, die in Ost-Berlin arbeiteten, sei zu beschränken und durch „Einkaufsbücher“ zu ersetzen, „in denen der monatliche Verdienst und der Preis der von ihnen gekauften Waren „vermerkt werden müsse“, hieß es weiter. Ein Augenmerk lag auf der Verstärkung der Kontrollen zwischen West- und Ost-Berlin; sie seien nun auch in den Interzonenzügen, in der S-Bahn, im Güter- und sonstigen Personenverkehr systematisch durchzuführen. Überdies müssten die Geschäfte der DDR „zum Zwecke der Festnahme von Spekulanten aus West-Berlin“ überprüft werden. Die Justiz erhielt den Auftrag, „einige Gerichtsprozesse gegen Mitglieder großer Spekulanten-Banden vorzubereiten und durchzuführen“, und die Presse habe über sie regelmäßig zu berichten.403 Eine zweite Kategorie des Maßnahmenplans bildeten wirtschafts- und finanzpolitische Anordnungen. Sie zielten sowohl auf eine Verbesserung der pekuniären Situation der DDR als auch auf eine damit verbundene Verschlechterung der finanziellen Lage West-Berlins.404 All das wurde durch die Anordnung zur Gründung einer zentralen Kommission „zur Organisierung des Kampfes gegen die Spekulanten aus Vertretern des Magistrats, der VP und des Amtes für Warenkontrolle“ verbunden. Interessant war die Vorstellung, vom FDGB und den Betrieben getragene „Arbeiterkontrollen“ einzusetzen. Hier knüpfe die SED offensichtlich an die missglückten Versuche des Jahres 1952 an, ehrenamtliche Kommissionen zur Kontrolle des Einzelhandels zu bilden, die als „Beispiel der Demokratisierung unserer Verwaltung“ gesehen wurden405, die jedoch in ihrer Mischung aus Willkür und Anmaßung bald als Denunziationsinstrumente ver403 Protokollnummer 41/54 der Sitzung des Politbüros, 21.12.1954, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/397, S. 5, 36–40. 404 So beschloss das Politbüro die Erhöhung der Gebühren für Autobahnen und Wasserstraßen bei allen Transporten von der Bundesrepublik durch die DDR nach West-Berlin sowie ebenfalls für Eisenbahn-Frachten. Im Finanzbereich wurde die Buchführung für private Unternehmer durch das Finanzministerium und die Deutsche Notenbank angeordnet sowie die „Einhaltung der Kassendisziplin“ durch die Gewerbetreibenden Ost-Berlins mit einem Jahresumsatz von weniger als 20.000 Ostmark. Gleichzeitig sei eine generelle Kontrolle über die Einhaltung des Gesetzes zur Regelung des Innerdeutschen Zahlungsverkehrs (vom Dezember 1950) durchzuführen und die „Bestimmung zu verschärfen, wonach Personen, die die Zahlungs- und Finanzdisziplin böswillig verletzen, zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen sind“. Den individuellen Geldverkehr belastete nun die Direktive zur „Einstellung der bisherigen Regelung, die Mark der Deutschen Notenbank im Auftrage West-Berliner und westdeutscher Banken an Personen in der DDR zu vermitteln“. Überdies seien „Sparkonten mit Kennwort“ aufzulösen. Ebd. 405 „Bericht der Bez.-Abt. Handel und Versorgung lt. Arbeitsplan des Magistrats […]“, Oktober 1952, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 870.

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schrien und unwirksam waren. Das Politbüropapier enthielt jedoch auch konstruktive Bestimmungen, die für den Berliner Konkurrenzkampf unverzichtbar schienen – beispielsweise „eine schnelle Forcierung der Produktion solcher Waren […], die von den Einwohnern der DDR in West-Berlin gekauft werden“. Qualitätsfragen standen dabei im Vordergrund. Etwas dubios wirkte hingegen die angeordnete Überprüfung der „Möglichkeit der Erhöhung des Imports solcher Waren aus Westdeutschland […], die gegenwärtig von den Einwohnern der DDR in West-Berlin gekauft werden“.406 Eigentlich hätte die ostdeutsche Politbürokratie aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung wissen müssen, dass der Ausweiszwang beim Einkauf sowie wirksame Kontrolle kaum möglich waren. Nach wie vor würden vor allem Verwandte und Bekannte „noch sehr viel für Westberliner“ kaufen, klagten SED-Leitung und Magistrat. Daran änderten auch immer neue Kommissionen und Prüfungsorgane wenig. Einige Wochen nach dem Dezember 1954 sah die SED „zuerst Erfolge“, bald darauf aber, „dass die Bestimmungen zunehmend nicht mehr eingehalten“ würden. Auch hätte das Vorgehen gegen die Spekulation in Ost-Berlin einen beträchtlichen Umsatzrückgang zur Folge gehabt, was wiederum unliebsame Planänderungen bzw. Handelsverlagerungen nach sich zöge.407 In den Jahren von 1955 bis zum Mauerbau rissen die ungezählten Meldungen über „Schiebungen“ nach West-Berlin und die Verstöße gegen die Ausweispflicht nicht mehr ab. Zeitweilig schienen Übertretungen mehr die Regel als nur Ausnahmen zu sein. Von den Staatsorganen wurde es als besonders ärgerlich empfunden, dass auch SED-Genossen zu den „Schiebern“ gehörten.408 Natürlich wussten die Verantwortlichen in Partei und Staat um die eigene Ohnmacht, glichen die Gesetze aber nicht der Alltagsrealität an. Bemerkenswert war auch, dass die zahlreichen Prozesse gegen „Schieber und Spekulanten“ – zumeist DDR-Bürger, die Geflügel und Eier409 nach West-Berlin schmuggelten – und die gegen sie ausgesprochenen Gefängnisstrafen kaum abschreckten. Periodisch erfolgte Aufrufe an die Ost-Berliner „Mitbürger“, doch darauf zu achten, dass überall beim Einkauf 406 Protokollnummer 41/54 der Sitzung des Politbüros, 21.12.1954, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/397, S. 39, 40. 407 Abteilung Staatliche Organe. Vorlage an das Büro der SED-BL, 12.3.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 224. 408 Bezirksparteikontrollkommission (BPKK), Vorlage für das Büro der SED-BL, 15.4.1957, in: ebd., Nr. 290. 409 Geschmuggelte Eier waren in den 50er Jahren allgemeinster Ausdruck und Inkarnation für den Lebensmittelschmuggel nach West-Berlin. So hießen denn Grenz-Haltepunkte der S-Bahn, an denen die Leute aus dem Brandenburgischen „gefilzt“ wurden, im Volksmund „Eierbahnhöfe“.

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vom Verkaufspersonal die Ausweise verlangt würden, gingen häufig ins Leere.410 Es waren vor allem Eingaben von staatstreuen Ost-Berlinern, die sowohl die Insuffizienz der Exekutive und Justiz bei der Ahndung von Verkäufen ohne Ausweisvorlage offenbarten als auch den einzigen scheinbaren Ausweg nahelegten: moralische Appelle an den Bürger.411 Das war einige Jahre zuvor in West-Berlin nicht anders gewesen. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre begann sich die DDR-Wirtschaft zu stabilisieren. Das wirkte sich positiv auf die Versorgungslage aus, die aber unbefriedigend blieb. Indikator dafür war das bis 1958 aufrechterhaltene System der Lebensmittelkarten. Eigentlich für den deutschen Realsozialismus ein Makel, deutete es die SED gern in eine Tugend um.412 Wenn die DDR vor allem in prekären innenpolitischen Situationen Devisen zur schnellen Beschaffung von Nahrungs- und Genussmitteln einsetzte, fehlten sie an anderen Stellen – im Investitionsbereich und im industriellen Außenhandel. Deshalb ließen Parteiführung und Regierung für den notwendigen Westgelderwerb keine Gelegenheit ungenutzt. So ließen sie denn auch erkennen, dass in Ost-Berlin zwar nur mit Personalausweis gekauft werden dürfe, aber jeder „Westler“ dort dennoch Waren beziehen könne: für Westgeld nach dem Grundsatz „jeder Deutsche soll mit dem Geld zahlen, das er verdient.“413 Überdies wurde das System solcher HO-Läden ausgebaut, in denen Westbewohner ohne Vorlage des Personalausweises vorwiegend Zellwolltextilien, einfache Fotoapparate, Geschirr, einige Spielwaren sowie Spirituosen und Tabakwaren erhielten. Hier handelte es sich häufig um „übergroße 410 „Lehnen Sie ab, für Westberliner […] Lebensmittel und andere Waren zu besorgen. „Plan des Stadtbezirks Köpenick für das Jahr 1957“, undatiert, in: ebd., Nr. 301. 411 Dafür lieferte der Ost-Berliner Versorgungsstadtrat ein bündiges Beispiel. Die Bürger müssten verstehen, schrieb er an einen sich beschwerenden Herrn aus Neuenhagen bei Berlin, „daß die verhältnismäßig kleine Zahl der Mitarbeiter der Staatsmacht nicht in der Lage ist, eine umfassende Kontrolle über die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen […] durchzuführen. […] Wenn jeder Bürger beim Einkauf selbst darauf achten und einwirken würde, dass eine wirkliche Kontrolle der Personalausweise erfolgt“, dann würden Schieber wirksam behindert. Schreiben von Stadtrat Krebs an Hans Christian Lang, 1.4.1958, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 362. 412 So argumentierte die ostdeutsche Regierung in einer jedem Westdeutschen an der Zonengrenze überreichten Broschüre, die DDR sei „jederzeit in der Lage“, das Kartensystem aufzugeben und Warenpreise festzulegen, die nur etwa die Hälfte des westdeutschen Preises betrügen. Doch meine die „Arbeiter- und Bauern-Regierung“, dass der niedrige Kartenpreis den Werktätigen einen allgemein hohen Konsum sichere. So sei der Pro-KopfVerbrauch an Waren dadurch in der DDR höher als in der Bundesrepublik. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 11. 413 Ebd.

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Lagerbestände […], die aus geschmacklichen und qualitätsmäßigen Gründen keine Käufer finden oder die für die Bevölkerung einfach zu uninteressant oder zu teuer sind, wie optische Geräte“.414 Um Devisen zu sparen, war der Magistrat auch dazu übergegangen, in Ost-Berlin gastierenden Künstlern aus dem Westen die Gage in Sachwerten zu bezahlen. Diese machten ausgiebig davon Gebrauch.415 Mit bedingt durch die Sanktionen gegen West-Berliner und die atmosphärische Verschlechterung in der geteilten Stadt war auch der legale Verkauf an West-Berliner, die als Grenzgänger im Osten arbeiteten und einen „Einkaufsausweis“ besaßen, nach 1955 rückläufig. Deshalb ging ihr Anteil bei Industrieerzeugnissen – bei Nahrungs- und Genussmitteln war er nicht messbar – von 1,8 Mio. Ostmark im Jahre 1955 auf 1,34 Mio. (1959) zurück. Die Abteilung Inneres des Magistrats zeichnete diesen Verkauf minutiös auf: Optikprodukte, Möbel und Teppiche dominierten.416 Dieser Verkaufsmodus brachte zwar Umsatz, aber keine Westmark, die in gewissem Umfang von einem Ende der 50er Jahre eingerichteten „Geschenkdienst“ in die DDR-Kassen gespült wurden. Er nahm in der Ost-Berliner Scharrenstraße als „Geschenkdienst-und Kleintransport-GmbH“ – faktisch eine HO-Tarnfirma – seinen Sitz. Ostdeutsche, die hochwertige Industriegüter aus der DDRProduktion nicht oder nur nach langem Warten bekamen, konnten sie sich nun von Verwandten und Freunden im Westen schenken lassen, die dafür mit Westgeld bezahlten.417 Das war der Ausgangspunkt für eine Devisenquelle, die in späteren Jahren über die Ost-Firma „Genex“ reichlicher floss.

414 Berlins West-Ost-Probleme, Stand 15.3.1957, in: ebd., Nr. 2155, Bl 42. 415 Beispielsweise Pianisten und Sänger, die ihre als Entgelt erhaltenen Klaviere in den Westen mitnahmen: die Sängerinnen Annelies Kupper und Erna Sack und der Kapellmeister Max Greger je einen Blüthner-Flügel, die Pianistin Elly Nay ein Förster-Piano u.a.m. Schreiben des Verbandes Deutscher Klavierhändler e.V. an Bundeswirtschaftsminister Erhard, 16.8.1957, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1128/1. 416 Dieser Personenkreis gab 1959 für Optik 360.306, für Möbel 218.953 und für Teppiche 128.437 Ostmark aus. Es folgten Pelze, Porzellan und Schreibmaschinen. Vgl. Magistrat von Groß Berlin, Abteilung Innere Angelegenheiten, Jahresbericht 1959, 25.1.1960, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 6, Bl. 49. 417 Es kostete beispielsweise das begehrte „Wartburg“-Automobil 6.240 Westmark, das Motorrad ES 250 1.710, der Kühlschrank „Arktik“ 440 und die Fernsehgeräte „Clivia“ sowie „Kabinett“ 1.630 bzw. 3.465 Westmark. Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2158, Bl. 33.

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3.8 Vom Mangel zum „Luxus“ oder die Magie der Einkäufe im Westen Bis etwa zur Mitte der 50er Jahre hatten, wie angedeutet, viele Ost-Berliner im anderen Teil der Stadt auch deshalb gekauft, weil es an Waren des täglichen Bedarfs – vor allem an bestimmten Lebensmitteln – fehlte. Traten im Osten Engpässe in der Versorgung ein, kauften sie im Westen sogar Kartoffeln, Obst und Gemüse. Die SED nahm die Kritik daran in der Regel als „feindliche Argumentation“ wahr418, sah aber auch die tatsächlichen Mängel und bedauerte den erheblichen Abfluss an Kaufkraft. Natürlich spielte von Anfang an, auch beim Erwerb anderer Westprodukte wie Bekleidung und Schuhe, das Sortiment und die Qualität sowie „modische Gesichtspunkte“ eine Rolle.419 Dieser Aspekt verstärkte sich. Handelte es sich „früher in erster Linie um Güter, die der blossen Existenzsicherung dienten“, berichtete der Senator für Wirtschaft und Kredit, so habe sich der „Katalog der in West-Berlin eingekauften Waren in der Zwischenzeit merklich geändert“. Zwar stehe er schon deshalb nicht fest, weil er wesentlich von der jeweiligen Versorgungslage in der „Zone“ abhänge, doch würden jetzt verstärkt „Güter des gehobenen Bedarfs, z.B. Bohnenkaffee, Kakaoerzeugnisse, Lederschuhe und hochwertige Textilerzeugnisse“ gekauft. Daneben blieben – wie schon für die erste Hälfte der 50er Jahre geschildert – Kleineisenwaren, Haushaltsartikel und Ersatzteile (nicht zuletzt für landwirtschaftliche Maschinen) gefragt. Als eine dritte Warenkategorie waren Arznei- und „Stärkungsmittel“ hinzugetreten. Den Umfang dieser Einkäufe konnte der Senator nicht exakt angeben, wusste aber, dass 1959 täglich etwa 500.000 West- in Ostmark und umgekehrt etwa die gleiche Summe Ost- in Westwährung umgetauscht würden. Sähe man einmal davon ab, meinte der Politiker, dass nicht die gesamten eingewechselten Westmark für Einkäufe in West-Berlin Verwendung fänden (beispielsweise legten sich einige Ostbewohner dort Sparkonten an), aber gleichzeitig Ostdeutsche „Güter aus ihrer eigenen Produktion“ im Westen direkt, also ohne Wechselstubentransfer für Westmark, verkauften, um sie für den Erwerb von Westwaren einzusetzen, entstünde wertmäßig ein Wirtschaftsfaktor von Rang.420 Bereits 1956 hatten westliche Insider davon gesprochen, dass „ein erheblicher Teil der Wirtschaft Westber-

418 „Ist es nicht eine Schande, daß ich für meine 6köpfige Familie meine Kartoffeln im Westen kaufen muss“, habe eine Frau im Gemüseladen in der Simon-Dach-Straße (Friedrichshain) erregt ausgerufen. 419 Plankommission des Magistrats (Geheime Verschlußsache): „Analyse über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplans 1953“, 12.1.1954, in: ebd., Nr. 185. 420 Der Senator für Wirtschaft und Kredit an das Büro für Gesamtberliner Fragen beim Reg. Bgrm., 12.11.1959, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 2008.

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lins heute von Käufen der Ostbewohner [lebt]“.421 Ganz eindeutig trugen sie zur West-Berliner Konjunktur bei, die von der Warenbeschaffung in Ost-Berlin kaum noch negativ berührt wurde. Die Einkäufe vieler Ost-Berliner im Westen nahmen auch durch ihr steigendes Realeinkommen in Ostmark zu; es fiel ihnen leichter als früher, „drüben“ begehrte Luxusartikel zu erwerben und sich „westlich“ – eben modern – zu kleiden. Gerade für viele Jugendliche waren Nietenhose und Lederjacke Statussymbole und vieles wurde gekauft, weil es einfach chic und „in“ war – etwa die Mädchen und junge Frauen begeisternden Petticoats. Einige Waren konnten bis März 1956 von Ostdeutschen auch in Raten bezahlt werden. Ratenkäufe wurden für die Kaufhäuser und Geschäfte jedoch immer unsicherer, weil es für sie schwer war, ihr Geld im „demokratischen Sektor“ einzufordern, wenn die vereinbarten Zahlungen ausblieben. Die Einkaufsbewegung ihrer Bürger nach West-Berlin sahen SED und Staatsorgane in der Sache ähnlich wie der Senat, beurteilten sie freilich anders und zogen andere Konsequenzen. Wenngleich leicht geschönt, nahmen die Ost-Berliner Verantwortlichen als Ursachen für die „Einkäufe der Bevölkerung aus unserem Währungsgebiet“ das „nicht immer befriedigende Angebot unseres Handels und die manchmal unvollkommene Art der Darbietung seiner Leistungen“ sowie das „reichhaltige Angebot“ des West-Berliner Handels wahr. Tabelle 8: Preisvergleich ausgewählter Genussmittel (in kg, Stand: März 1956) West-Berlin (in Westmark)

„demokratischer Sektor“ (in Ostmark)

23,52

200,00

7,56

16,00

Kakao

26,88

64,00

Schokolade

12,00

54,00

6,40

80,00

Pfeffer, schwarz Sultaninen

Bohnenkaffee

Quelle: Magistratspapier: „Die Entwicklung des Einzelhandels in Westberlin“, 16.3.1956, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 480.

Es traf auch zu, dass es sich bei den Käufern aus dem Osten um „Menschen aus fast allen Bevölkerungskreisen“ handelte und deren Kaufmotive verschiedenartig

421 Schreiben von Carlberg (Büro für Gesamtberliner Fragen) an Prof. Dr. Schellenberg, 14.3.1956, in: ebd., Nr. 2206–2207.

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waren. Einige Genussmittel seien in West-Berlin trotz des für sie ungünstigen Wechselkurses immer noch billiger als im „demokratischen Sektor“. Mit den Senatsanalysen beinahe identisch war die Differenzierung der ostdeutschen Nachfrage durch den Magistrat. Man müsse also unterscheiden zwischen Waren, „die der Befriedigung elementarer Bedürfnisse dienten und nach allgemeiner Auffassung nicht Luxus“ seien und solchen, „die zur Befriedigung gesteigerter Bedürfnisse dienen“, also Luxuswaren seien. Diese würden vor allem von den Leuten mit „notwendigen Geldmitteln“ gekauft – u.a. selbstständigen Handwerkern und Gewerbetreibenden, Landwirten, Industrieunternehmern, freien Berufen, Angehörigen der Intelligenz. Eigentlich schieden von ihnen nur „diejenigen aus, die sich aus politischer Überzeugung oder Furcht vor Strafe der Einkäufe in West-Berlin enthalten“. Eine wichtige Kaufkategorie bildeten „Waren, die im demokratischen Sektor nicht oder nur zeitweise oder in ungenügender Menge angeboten werden“. Die folgende Auflistung des Magistrats entsprach ebenfalls den Erkenntnissen der West-Berliner Seite, war aber komplexer.422 Er schätzte den Wert des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen seitens der Ostdeutschen in West-Berlin auf 700.000 bis 750.000 Ostmark pro Tag. Auch das lag nicht allzu weit entfernt von den Schätzungen des Senats. Allerdings glaubte der Magistrat bei den Einkäufen im Westen einen wesentlichen Rückgang des Abflusses von Ostmark zu beobachten423, was nach Lage der Dinge bezweifelt werden muss. Mit großer Aufmerksamkeit beobachteten SED und Magistratsorgane in den West-Berliner Kaufhäusern und Geschäften Neuerungen, die Kunden magnetisch 422 Angeführt werden Schrauben aus Eisen und Messing, Nägel, elektrische Leitungen, Kabel, Eisen- und Stahldraht, Drahtgeflecht, Federn für Polstermöbel, Bleche aus Eisen u.a. Metallen, nichtrostende Küchenmesser, Messingscharnierbänder, Glühlampen, Rasierklingen, Batterien, Ersatzteile für Elektrogeräte, Fahrradersatzteile und Fahrradflickzeug, Schaumstofferzeugnisse u.a.m. Im Lebensmittelbereich waren es beispielsweise alle Südfrüchte, Zwiebeln, Sprotten, Bücklinge, Sardinen in Olivenöl, Sardellen, Kaffee der höheren Qualität, Pulver- und koffeinfreier Kaffee, sowie Suppenwürfel, Gewürze, Qualitätsbackpulver, Vanillinzucker, Kapern, Gelatine, Paprika, neue Kartoffeln. Auf der Liste der Waren, „die [in Ost-Berlin] den modischen Anforderungen in Form, Farbe und Musterung oft nicht entsprachen“, wurden in folgender Reihenfolge u.a. folgende Westartikel genannt: Einfarbige Popeline, Mäntel, Perlonblusen, Jacken und Hosen, bunte Popeline für Damen-Sommerkleider, Kord- und Kleidersamt, Schuhe und Gesundheitsschuhe, Wolle, Strickwaren, Westen, Pullover, Westover, sämtliche Anoraks, Schals, Twinsets, modische Herrensocken, Flanelle, Trenchcoats, Popelinmäntel, Büstenhalter, Hutschleier, verschiedene Modeartikel, Handtaschen, Brieftaschen und Geldbörsen. Vgl. Magistratspapier: „Die Entwicklung des Einzelhandels in Westberlin“, 16.3.1956, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 480. 423 Ebd.

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anzogen: Selbstbedienungsläden und neue Teilzahlungsmöglichkeiten sowie die „zugkräftige“ Reklame. Insgesamt stellten die Läden im Westen in sich ein Gesamt-Schaufenster dar, wurde achtungsvoll und bezüglich der Ost-Berliner Geschäfte mit latenter Kritik angemerkt.424 Vor allem nötige die moderne WestBerliner Werbung Respekt ab.425 Das Papier zeigt einmal mehr, dass es verschiedenen Wirtschaftspolitikern in Ost-Berlin nicht an Erkenntnissen mangelte, sondern an der Möglichkeit, sie umzusetzen. An Versuchen hat es zumindest nicht gefehlt. Weitere Vorstellungen der OstBerliner SED-Führung, die sicherlich unter dem Einfluss einer generellen „Entstalinisierung“ nach dem XX. Parteitag der KPdSU etwas freier geäußert werden konnten, führten zu einer realistischen Analyse der Ost-Berliner Kaufkraftentwicklung. Sie stand immer mit dem Abfluss von Ostmark in den Westen sowie mit dem mangelnden nationalen und internationalen Renommee Ost-Berlins im Zusammenhang.426 Gleichzeitig wurden differenziertere Bewertungen der Stärke 424 Beinahe schwärmerisch beschrieb der Magistrat: Die vielen Neuerungen machten den Einkauf für den Kunden angenehmer; sie könnten „deshalb als Verbesserung der Verkaufsmethoden gelten. So werden immer mehr abgepackte Waren angeboten, durch deren Verpackung das Bild besonders der Lebensmittelläden immer farbenfroher gestaltet und der Einkauf erleichtert und beschleunigt wird. Die Läden werden in moderner Einfachheit eingerichtet und sind oft verschwenderisch beleuchtet. Im Lebensmitteleinzelhandel werden mehr und mehr Verkaufsräume so ausgestaltet, daß durch das Schaufenster das ganze Ladeninnere überschaut werden kann, so daß der Laden als ein einziges großes Schaufenster erscheint. Ein solcher Laden erfordert größte Ordnung und peinlichste Sauberkeit […]. Solche Läden entsprechen den Interessen und Wünschen des Kunden.“ Ebd. 425 Eine grundlegende Werbeidee entspringe in West-Berlin selten der Eingebung eines Augenblicks. „Sie ist nicht mehr wie früher der ‚Geistesblitz‘ eines ‚Werbegenies‘ oder einer ,Werbekanone‘, sondern sie ist meistens das Ergebnis einer sorgfältigen Analyse und einer vorsichtigen Synthese. Genaue Kenntnis der Rohstoffe und Herstellungsmethoden sowie die Schlüsse, die aus der Markt- und Verkaufsforschung gezogen werden, ergeben die Leitidee der Werbung.“ Überdies habe sich die kapitalistische Betriebswirtschaftslehre, die früher mit dem Rechnungswesen befasst war, verstärkt der Absatzwirtschaft zugewandt. Jetzt umfasse die neue Absatzlehre die Marktforschung, die Werbung, den Vertrieb und den Verkauf. Ebd. 426 Allein der Rückgang der Bevölkerung Ost-Berlins um 20.000 Einwohner im Jahre 1956 habe einen Rückgang der Kaufkraft um 25 Mio. Ostmark und die „Nichtinanspruchnahme des Arbeitskräfte- und Lohnsummenplanes“ um 100 Mio. bewirkt. Überdies sei „die für die Hauptstadt des Landes notwendige Kaufkraftzuwanderung“ aus der Republik und anderen Währungsgebieten ausgeblieben; letztere deshalb, weil in Ost-Berlin „weder größere nationale und internationale Veranstaltungen durchgeführt, noch besondere kulturelle, gesellschaftliche und sportliche Anziehungsmomente wirksam wurden noch ein nennenswert umfangreiches und im Vergleich zu den Nachbargebieten überdurchschnittliches hauptstädtisches Warenangebot sichtbar geworden ist“. Die Kaufkraftzuwanderung

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und der Perspektiven des West-Berliner Handels und der Industrie, hier besonders der Textilproduktion, vorgenommen, aber auch plausible Vorschläge zur Überwindung entsprechender Defizite unterbreitet.427 Es bewahrheitete sich, dass die Innerberliner Konkurrenz das Geschäft belebte. Besonders wichtig schien den Handelsexperten im Magistrat eine systematische Bedarfsforschung zu sein428, wie sie im Westen gang und gäbe war. Entsprechende Überlegungen waren in dieser Konsequenz neu in der sozialistischen Planwirtschaft. Doch versandeten erste Ansätze zur Reformierung ihrer dogmatischen Handhabung, wie sie von flexibleren SED-Wirtschaftswissenschaftlern in einer kurzen „Tauwetter“-Phase entwickelt worden waren. Die kurzzeitige Liberalisierung schlug sich ebenfalls auf die Einfuhr von Westerzeugnissen nieder: Im April 1956 regelte eine neue Einfuhrbestimmung für Westwaren den individuellen Geschenkverkehr, dessen Prinzipien faktisch auch für Ost-Berliner Einkäufe im Westen galten. Auffällig war auch der zivilisiertere

sei damit von 1954 = 608 Mio. Ostmark und 1955 = 515 Mio. auf 300 Mio. Ostmark im Jahre 1956 zurückgegangen. Das seien 50 Mio. Ostmark weniger als geplant. Schuld seien neben den „Warenlücken“ in Ost-Berlin die erhebliche „Verbilligung des Kaffees“ im Westen der Stadt. Der absolute Rückgang des Warenumsatzes 1956 habe sich vor allem im privaten Einzelhandel ausgewirkt, der ein Minus von 142 Mio. Ostmark verbuchte und damit den Plan um 89 Prozent (!) untererfüllte. Magistrat von Groß-Berlin, Plankommission: „Analyse zu Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes im Jahre 1956“, 30.1.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 282, Bl. 97. 427 Auch die SED-Bezirksleitung sah in der ungenügenden Befriedigung der Wünsche der Bevölkerung entweder eine „Geldhortung“ entstehen oder eine noch größere Dynamik bei der Kaufkraftabwanderung nach West-Berlin. Sie nannte jetzt eine konkrete Zahl: Allein im II. Quartal 1956 habe der Umsatz an Bohnenkaffee durch dessen Verbilligung im Westen um vier Mio. Ostmark abgenommen. Die Parteileitung fragte sich auch, warum man die Kaufkraftabwanderung auch dadurch fördere, dass in Ost-Berlin die beliebten Schlussverkäufe später als im Westen begannen. SED-BL Groß-Berlin: „Die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1956 für das 1. Halbjahr 1956 in Berlin“, 20.7.1956, in: ebd., Nr. 260. In einer ausgewogenen Analyse verwies die wirtschaftspolitische Abteilung der SEDBL auf die West-Berliner Marktbeobachtung und Statistik, aus der sich „mit aller Deutlichkeit“ ergeben habe, „dass West-Berlin seinen Vorsprung in der Konfektion von Jahr zu Jahr vergrößert. Während es in unserer Konfektionsindustrie einen absoluten Rückgang im Produktionsvolumen gegenüber 1955 gibt, hat sich die Produktion in Westberlin seit 1950 fast vervierfacht und beträgt heute ca. 800 Mio. WM“. Dieser Vorsprung locke ständig einen größeren Käuferkreis aus Ost-Berlin an. Deshalb müssten ältere und unmoderne Waren aus Handel und Lagern „herausgezogen“ und die Ost-Berliner Konfektionsbetriebe bevorzugt mit hochwertigen Geweben versorgt werden. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL, Vorlage an das Büro der BL, 19.7.1956, in: ebd. 428 Vgl. ebd.

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Umgang der Kontrollorgane mit den Bürgern.429 Die dem „Tauwetter“ schnell folgende innenpolitische „Eiszeit“ brachte in dieser Beziehung jedoch keine wesentliche Verschlechterung mit sich. Auch der Senat registrierte, dass „die Kontrollbehörden des Ostsektors“ diesen Warenverkehr nicht entscheidend störten.430 Das „milde“ Verhalten wurde – wie schon früher – vor allem durch den Warenmangel in der DDR begründet, zu dessen Minderung die eingeführten Westartikel beitrugen und damit auch innenpolitischer Unzufriedenheit entgegenwirken halfen. Diese „Toleranz als Staatsräson“ täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass dem SED-Staat der für ihn in der Regel nachteilige Wechselkurs ein „Dorn im Auge“ blieb. Zwar hatte sich 1956 die Wertrelation zugunsten der Ostmark kurzfristig verbessert, doch bedeutete das einen weiteren Anreiz, noch mehr Ost- in Westwährung umzutauschen. Das zeitigte einen erhöhten Westwarenkauf, der seit Ende 1956 zu einer neuerlichen Abwertung der Ostmark führte. Damit wuchsen aber deren Bestände in den West-Berliner Banken und Wechselstuben an. Gleichzeitig ließ der Mangel an Industrieprodukten und hochwertigen Lebenssowie Genussmitteln in der DDR einschließlich Ostberlins einen bedrohlichen Kaufkraftüberhang wuchern, der sich in der Vergrößerung vor allem der privaten Ostmarkbestände niederschlug. In dieser Situation führte die SED am 13. Oktober 1957 eine Geldumtauschaktion durch, bei der alte gegen neue Banknoten 1:1 eingewechselt wurden. Als Maßnahme gegen die Spekulation mit der Ostmark dargestellt und als Schlag gegen „Schwindelkurs“ und Wechselstuben, galt sie in Wahrheit aber mehr den Ostdeutschen. Die Aktion, die von der SED als bestens organisierter Überraschungssieg gefeiert wurde, war zwar erfolgreich geheim gehalten, aber in Wirklichkeit miserabel vorbereitet worden.431 Es traf aber auch die

429 So durften jeweils bis zu 250 g Kaffee und Kakao, 300 g Schokolade sowie 50 g Tabak, aber auch Medikamente, „wenn ihnen ein Rezept eines in der DDR zugelassenen Arztes beiliegt“, von West- nach Ost-Berlin mitgebracht werden. Jedoch durften die mitgeführten Waren „nicht durch besondere Verstecke getarnt sein“. Die Kontrollen würden „in letzter Zeit mit mehr Höflichkeit und auch großzügiger vorgenommen“, stellte die „Berliner Zeitung“ fest. Das sei in der Vergangenheit nicht immer so gewesen „und manchmal haben es Mitarbeiter unserer Kontrollorgane am richtigen Ton und der notwendigen Sachlichkeit fehlen lassen.“ „Berliner Zeitung“ (Ost), 19.4.1956. 430 Senator für Wirtschaft und Kredit an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 12.11.1959, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 2208. 431 Die Bevölkerung Ost-Berlins und der DDR sei schlecht informiert gewesen, das neue Geld zu spät geliefert und z.T. unregelmäßig verteilt worden. Einige Stellen erhielten „überwiegend Kleingeld“, andere „nur großes Geld“. Manchmal fehlten Stempel und Quittungen. Es seien lange Schlangen von Menschen entstanden und dadurch lange Wartezeiten. „Zu-

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sich allerdings bald erholenden Wechselstuben und West-Berliner Ostgeldbesitzer432, nachhaltiger aber die an Kaufkraft einbüßende DDR-Gesellschaft bzw. Teile derselben.433 Der wirkungsvoll in Szene gesetzte „Schlag gegen die westlichen Spekulanten“ stellte als einfacher Austausch alter gegen neue Geldscheine der Notenbank der DDR eine Reduzierung des Währungsumlaufs und damit von Kaufkraft, aber auch eine zur Stabilisierung des Herrschaftssystems angelegte repressive Maßnahme dar. Denn nicht nur die tatsächlichen und vermeintlichen Spekulanten wurden davor gewarnt, ihren illegalen Geldgeschäften weiter nachzugehen, auch für die DDR-Bürger blieb erkennbar, dass ein Zuviel an Geld oder gar dessen „Hortung“ durch Kaufzurückhaltung oder wie auch immer risikoreich sein konnte. Unmittelbar erregte die Beschlagnahmung von über einer Million neuer Banknoten gleich nach dem 13. Oktober 1957 einiges Aufsehen. Angeblich sollten sie nach West-Berlin geschmuggelt werden. Besonders betroffen von den starken Kontrollen waren die Grenzgänger nach West-Berlin. Zur gleichen Zeit beobachteten dessen Zollorgane eine Verstärkung des Massenschmuggels an bestimmten Industriewaren und Genussmitteln vom Osten in den Westen, nicht etwa des individuellen Kleineinkaufs. sammenfassender Bericht“ der SED-BL „über die Durchführung des Beschlusses des Ministerrats zur Ausgabe neuer Banknoten“, 13.10. 1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 618. 432 West-Berliner Schieber hätten ihr Ostgeld auf den Vorortbahnhöfen weggeworfen, und die Wechselstuben schlossen umgehend ihre Pforten. Es sei überall zu tumultartigen Szenen gekommen. Auch habe überall ein großer „Kaufandrang an Mitropa-Verkaufsständen und Sonntagsverkaufsstellen der HO eingesetzt, wo besonders Schnaps und Zigaretten in größeren Mengen“ gekauft worden seien. Informationsbericht, 13.10. 1957, in: ebd. 433 Durch den Geldumtausch „sollte der Kaufkraftüberhang beseitigt oder wieder unter Kontrolle gebracht werden“, schätzte der Senat richtig ein. 1953 habe der Geldumlauf in der DDR 4,1 Mrd. Ostmark betragen, im September 1957 bereits 5,7 Mrd., „ohne dass sich das verwertbare Warenvolumen entsprechend erhöht hatte. Weil man damit rechnete, dass Bauern, Handwerker und Kleingewerbetreibende „erhebliche Beträge nicht zum Umtausch vorlegen könnten“, habe die SED mit diesem Entzug von Geldvermögen auf eine Kaufkraftabschöpfung gezielt und Grotewohl „in üblicher Rosstäuschermanier“ erklärt, der Umtausch sei lediglich gegen „westliche Ostmarkspekulanten“ gerichtet. Dem Senat sei nicht klar, ob der von den Ostdeutschen „über 300 Ostmark hinaus abgelieferte Geldbetrag als illegal betrachtet werden soll“. Dafür spreche, dass in jeder Kommission der Staatssicherheitsdienst „maßgebend“ vertreten wäre. So seien etwa 17.000 Zwangsstellungen und Festnahmen vorgenommen worden, und bevor die Überprüfungskommissionen ihre Arbeit aufgenommen hatten, seien 140.000 bis 160.000 „Zonenbürger“ verdächtigt worden, „die von ihnen angemeldeten und abgelieferten Ostmarkbeträge auf spekulativem oder anderem Wege erlangt [zu] haben“. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12. 1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl.33.

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3.9 Der professionelle Warenschmuggel nach 1950 Schwarzmarkt hatte in Berlin Tradition.434 Im Kontext der Berliner Tauschgesellschaft bildete auch er – den Versorgungslagen entsprechend – eigene Warenhierarchien aus, die neben marktbedingten Angebot-Nachfrage-Relationen auch individuelle Mangellagen und Wunschvorstellungen reflektierten.435 Zusammen mit dem „Hamstern“ als Überlebensstrategie in der deutschen und Berliner Zusammenbruchsgesellschaft stellte er für die Reichshauptstadt ein unverwechselbares Phänomen dar, das nach dem Wegfall des Faktors „Hamstern“ als zumeist professioneller Großschmuggel fortbestand. Schmuggel meinte jetzt also keineswegs die geschilderte individuelle Warenbewegung zwischen beiden Teilen Berlins, sondern einen großdimensionierten, kriminellen Warentransfer sowohl von Ost nach West, als auch umgekehrt. Er kennzeichnete die Berliner Verflechtungsgesellschaft ebenfalls. Diese Art von illegalem Handel war in hohem Maße geplant und organisiert; sie zeichnete sich durch größere Mengen bzw. Stückzahlen aus und verlief häufig über lange Zeiträume. Für beide Berliner Verwaltungen bildete in den ersten Jahren nach der administrativen Spaltung der Stadt eigentlich nur der Schmuggel von Rohstoffen, vor allem Metallen, ein Problem. Es waren Einzelpersonen, aber auch zunehmend Gruppen („Ringe“), die Schrott sowohl aus OstBerlin und seinen Randgebieten in die Westsektoren als auch von dort in den Osten verbrachten. Hüben wie drüben waren insbesondere Buntmetalle gefragt, die Kabel, Maschinen und technische Anlagen zerstörter Produktionsstätten und Wohnstätten noch reichlich bargen: Kupfer, Nickel, Blei, Aluminium u.a.m. Im Februar 1950 hatte der Ostmagistrat eine Verordnung erlassen, die jegliches Verbringen von Abfallmetallen „sei es auch in den kleinsten Mengen“ nach WestBerlin unter Strafe stellte.436 Die rigide Handhabung der Verordnung war auch insofern verständlich, als sich die devisenschwache DDR beim Wiederaufbau OstBerlins einen Verlust an wirtschaftsstrategischem Material nicht leisten konnte, während sich West-Berlin zunehmend über den kapitalistischen Weltmarkt versorgte. Im Osten wurden sehr bald ebenfalls nichtmetallische Rohstoffe vom Verbot erfasst: Textilabfälle („Lumpen“), Altpapier, Glasbruch, Knochen und Häute. Allein das Sammeln dieser Altstoffe bedurfte eines „Berechtigungsscheines“.437 434 Vgl. Malte Zierenberg, Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950, Göttingen 2008 und Paul Steege, Black Market, Cold War. Everyday life in Berlin, 1946– 1949, Cambridge 2007. 435 Ebd., S. 12. 436 „Verordnung über den Verkehr mit Abfallmetallen“, 22.2.1950, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 846, Bl. 31. 437 Es wurden Strafen bis zu zehn Jahren Zuchthaus angedroht. Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 86, 2.5.1953, in: ebd., Nr. 881, Bl. 19, 21.

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Doch richtete sich die Verfolgungspraxis nicht nur gegen die tatsächlichen Großschmuggler, sondern zunehmend auch gegen kleine Ost-Berliner Unternehmer, die zumeist nur einige Transportbestimmungen nicht oder nicht voll eingehalten hatten. Da bald auch von einem Großschmuggel mit Buntmetall nicht mehr die Rede sein konnte, traf es jetzt mehr die kleinen Gelegenheitsschmuggler, die, wenn man sie denn fasste, in der Regel zu hohem Freiheitsentzug verurteilt wurden.438 Wenngleich die Strafen für den Rohstoffschmuggel in den Osten weit weniger hoch und in der Form zumeist Geldbußen waren, liefen auch in West-Berlin noch zahlreiche Verfahren gegen Schwarzhändler. Darunter befanden sich zu Beginn der 50er Jahre Unternehmer, die ohne Genehmigung Stahl, Molybdän, Wolfram und andere wichtige Metalle illegal nach Ost-Berlin geliefert hatten oder aber anderes für den Aufbau der westsektoralen Industrie wichtiges Material – Halbund Fertigfabrikate aus Kupfer, Messing und Legierungen, Glimmer, Schellack, Kugellager, Zylinderrollen, Spezialbleche, Mess- und feinmechanische Geräte, Rohre, elektrotechnisches Zubehör u.a.m.439 Wenngleich die wirtschaftlichen Folgen nach 1952 kaum noch ins Gewicht fielen, waren sie auch deshalb so brisant, weil eine Reihe der Schmuggelgüter aus politischen und militärischen Gründen als strategisches Material qualifiziert worden war, das die USA mit einem Ausfuhrverbot in den kommunistischen Machtbereich belegten. Die Beamten des West-Berliner Hauptzollamtes und des „Interzonen-Grenzdienstes“ versuchten vor allem, den Handel mit diesen „Embargowaren“ einzudämmen, sahen sich dann aber seit 1950 mit einem zunehmenden Schmuggel von „Dumpingwaren“ und ihrem teilweise abenteuerlichen „Vertrieb“ über die Grenze konfrontiert. „Heute gehören Schlafzimmer-Einrichtungen, Porzellan, Glas, Lampen und Teppiche zu den begehrten Schmuggelobjekten“, berichtete beispielsweise „Der Tag“ im Juni 1952. Sie würden in doppelten Autoböden, aber auch „mit regelrechten Trägerkolonnen zu Fuß oder in den Verkehrsmitteln herübergebracht“. In den Kontrollämtern stapelten sich die beschlagnahmten Waren „vom Holzsarg bis zum HO-Motorrad und Ostberliner Schreibmaschinen“.440 Häufig wurden die Güter massenhaft von professionell schmuggelnden Frauen aus Ost-Berlin einge-

438 So erhielt etwa ein Melker im Dezember 1951 „wegen Begünstigung zum Verbringen von Abfallmaterial nach dem Westsektor“ zwei Jahre und neun Monate Zuchthaus; zwei Arbeiter im Herbst 1950 wegen „Verbringens von Buntmetallen“ ein Jahr und vier Monate respektive zwei Jahre Zuchthaus und ein 21-Jähriger „wegen versuchten, nicht genehmigten Verbringens von Abfallmaterial“ im Dezember 1951 sogar zwei Jahre und sechs Monate Zuchthaus. Vgl. ebd., C Rep. 108, Nr. 52. 439 Vgl. ebd., B Rep. 010–01, Nr. 437 und 438. 440 „Der Tag“, 1.6.1952.

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schleust, die sozusagen „en gros“ versorgten.441 Dagegen halfen auch Bußgelder gegen den zeitweilig blühenden Schwarzhandel z.B. mit Strümpfen442 wenig. Für den illegalen Warenverkehr gab es bestimmte Treff- und Umschlagpunkte. So war die Bernauer Straße an der Sektorengrenze geradezu zu einem „Aufmarschgebiet der Schwarzhändler“, zu einer „Strasse ohne Obrigkeit“443 geworden. Im Alltag steckten verschiedene Schmugglerringe ihre „Claims“ ab. Zwischen ihnen entwickelte sich ein „scharfer wirtschaftlicher Konkurrenzkampf“, aber auch eine gelegentlich bizarre Spezialisierung. Als Fleischschmuggler vergeblich versuchten, eine ganze Schweineherde aus dem Osten in den Westen zu treiben444, lachte die ganze Stadt. Der professionelle Warenschmuggel vom Osten in den Westen als eine Art von verdecktem Großhandel wurde durch das Ost-Berliner Einkaufsverbot vom 28. November 1952 dynamisiert. Etwa von diesem Zeitpunkt an kristallisierten sich drei Schwerpunktprodukte heraus: Kaffee, Zigaretten und Spirituosen. Am wichtigsten war der illegale Handel mit Kaffee, der – wie das Geschäft mit Alkohol und Zigaretten – im Norden Berlins besonders schwunghaft war, weil ihn dort unwegsame Laubengelände, Bahndämme und Ruinengrundstücke begünstigten. Auf Kaffeeschmuggler, die im Auffinden immer neuer Transportmöglichkeiten und Verstecke außerordentlich erfinderisch waren, veranstaltete der West-Berliner Zoll regelrechte „Jagden“ mit

441 Ihnen auf der Spur, führte der West-Berliner Zoll Hausdurchsuchungen durch, die allein im März 1953 ein riesiges Reservoir geschmuggelter Waren ans Tageslicht brachten: 6.573 kg Stoffe und Spitzen, 627 kg sonstige Textilien, 77 Pelzmäntel, 168 Teppiche, 995 m2 Wollstoffe, 128 Schreibmaschinen, 984 kg Zucker, 310 kg Mehl, 187 kg Wurstwaren, 1.230 Konservendosen u.a.m. Vgl. „Monatliche Berichte über den Stand der Ermittlungstätigkeit des Hauptzollamts Berlin-Hansa für den Monat März 1953“, 27.4.1973, in: LAB, B Rep. 11, Acc. 1697, Nr. 93. 442 Allein 1951 wurden 500.000 Westmark Bußgelder gegen Personen verhängt „die zollfreie Waren illegal aus dem sowjetisch besetzten Gebiet nach Westberlin eingeführt haben“, darunter Strümpfe im Wert von 130.000 Westmark. Doch ging der Schmuggel auch von Glaswaren, Schreib- und Nähmaschinen, Musikinstrumenten etc. „in erheblichem Umfang“ weiter. „Berliner Anzeiger“, 26.1.1952. 443 Die zur Sektorengrenze gehörende Bernauer Straße wurde von den Schwarzhändlern in „drei Zonen“ unterteilt: Die dem französischen Sektor zugeschlagene südliche Straßenseite hieß „ Sonnenseite“, die nördliche – sie lag im Hoheitsgebiet des sowjetischen Sektors – „Sibirien“. Der Fahrdamm selbst bildete faktisch einen „luftleeren Raum“, in dem die Geschäfte – zunehmend Absprachen und Bestellungen – abgewickelt wurden. Vgl. „Die Neue Zeitung“, 1.9.1951. 444 Vgl. ebd., 14.9.1951 und „Monatliche Berichte über den Stand der Ermittlungstätigkeit des Hauptzollamtes Berlin-Hansa für den Monat Mai 1953, 29.6.1953, in: LAB, B Rep. 11, Acc. 1697, Nr. 93.

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unterschiedlichem Erfolg.445 Die Basis und den Hintergrund der Auseinandersetzung um die „braunen Bohnen“ bildete der Kauf von (1951) monatlich 30.000 Sack (á 60 kg) brasilianischen Rohkaffees durch die DDR, der in Ost-Berlin geröstet und zumindest teilweise illegal in den Westen abgesetzt wurde. Dem Kaufpreis von 7,6 Mio. Westmark stand ein Schwarzmarktgewinn von 16 Mio. Westmark gegenüber – „Dollarmillionen durch den Kalten Krieg“, wie sie „Der Kurier“ bezeichnete. Der Senat machte eine einfache Rechnung auf: In West-Berlin würden (1951) monatlich etwa 30.000 kg Schmuggelkaffee verbraucht, rechnete er vor, was 80 bis 85 Prozent des Gesamtverbrauchs an Kaffee seien. Das bedeutete einen Steuerausfall von 2,5 Mio. Westmark pro Monat, eine Summe, die ausreiche, „um die sozialen monatlichen Leistungen“ der Teilstadt zu finanzieren.446 Ähnlich hoch bezifferte er die Verluste durch den Schmuggel von Alkohol und Zigaretten.447 Schnell war der sich erhärtende Verdacht entstanden, dass hinter diesem voluminösen und bestens organisierten Schmuggel Ost-Berliner Behörden stünden, die ein Netz von Kleinhändlern belieferten, die den Kaffee von zentralen Lagern im Osten abholten. Verschiedene Untersuchungen und Recherchen durch West-Berliner Ermittler und findige Journalisten schienen diese Vermutung zu bestätigen. Auch seien die Sowjets in den groß angelegten Schmuggel mit Kaffee, Zigaretten und Spirituosen involviert, so dass er ihnen als „Kampfmittel im Kalten Krieg“ diene, merkte „Der Tagesspiegel“ an.448 Als nach 1955 der allerdings kaum noch professionelle Schmuggel mit Dumpingwaren auf der Basis der HO„Freikaufläden“ zunahm, bestätigte sich, dass die Ost-Berliner Seite ihre auswärti445 Verschiedene Autos besaßen ein „Schmuggelversteck“ für Kaffee, der auch in besonderen, an die Körper angelegten, „Kaffeewesten“ transportiert wurde. Bei einer Razzia in WestBerlin wurden manchmal auf einen Schlag bis zu 80 Sack Kaffee sichergestellt. Einige Großschmuggler konnten sich immer wieder einer Festnahme entziehen. Beispielsweise wurde im März 1954 der Fahrer eines PKW mit Schmuggelkaffee gefasst, der aber entkam, weil er kurzerhand in die Spree sprang und das rettende Ufer im Sowjetsektor erreichte. Vgl. „Monatliche Berichte über den Stand der Ermittlungstätigkeit des Hauptzollamtes Berlin-Hansa für den Monat März 1953“, 30.3.1953, in: ebd. 446 Vgl. „Die Neue Zeitung“, 1.9.1951. Vgl. dazu auch „Der Kurier“, 20.6.1951. 447 Der monatliche Gesamtbedarf von ca. 120 Mio. Zigaretten wurde nach Angaben des Landesfinanzamtes mindestens zu 25 Prozent durch den Schmuggel aus dem Osten gedeckt. Im regulären Tabakhandel seien sogar Rückgänge bis 40 Prozent verzeichnet worden. Das sei ein jährlicher Umsatzverlust von 4,5 Mio. Westmark und bedeute hohe Steuerausfälle. „Der Tag“, 21.1.1950. 448 „Der Tagesspiegel“, 19.2.1952. Dessen Mitarbeiter fanden heraus, dass sich in einem Lager im Ost-Berliner Adlershof zeitweilig bis zu einer Million Liter Spirituosen (Trinkalkohol) befanden, die die Sowjets nach West-Berlin schmuggeln und dort zu Dumpingpreisen verkaufen würden.

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gen Kunden aktiv vor dem West-Berliner Zollsystem schützte.449 Auch das war Systemwettbewerb.

3.10 Offiziöse Wirtschaftskontakte Neben den bilateralen technischen Abkommen zwischen beiden Hälften der Stadt und den nicht kodifizierten Regelungen für das Grenzgängerwesen existierte bis zum Mauerbau ein marginaler Geschäftsverkehr – im weitesten Sinn. Er war im Einzelnen weniger traditionell als von bestimmten neuen Zwängen bestimmt. Demgegenüber besaß der legale Umzug von Ost- nach West-Berlin und umgekehrt eine größere Dimension. Der hauptsächliche Warenverkehr zwischen den beiden Teilen Berlins fand nur indirekt über das innerdeutsche Interzonenhandelsabkommen statt. Berlin wurde von den bevollmächtigten Vertretern beider deutscher Staaten in der Treuhandstelle für den Interzonenhandel mit vertreten, wobei der Westteil – sieht man einmal von zeitweilig erheblichen Lieferungen von ostdeutschen Braunkohlenbriketts ab – nur ein geringes wirtschaftliches Interesse am innerdeutschen Handel besaß. Jedoch maß ihm der Senat große politische Bedeutung bei.450 Im Osten zeigte sich eine gründlich andere Motivlage. Die SED wollte das lukrative devisenneutrale Geschäft mit West-Berlin.451 Sie verband die bekannten 449 Gesichert war die Erkenntnis, dass die Käufer aus dem Westen in diesen Ostläden Tipps erhielten, wie sie den West-Berliner Zoll umgehen könnten: „Auf Wunsch wird die gekaufte Ware zur Gepäckaufbewahrung Friedrichstraße [Stadtbezirk Mitte] gebracht, wo sie dann von dem Westberliner Käufer unauffällig abgeholt werden kann.“ Berlins WestOst-Probleme, Stand: 15.12.1956, in: LAB, B Rep. 002, Acc.1636, Nr. 2155, Bl. 72. 450 Der Senat sah den Interzonenhandel zwischen beiden deutschen Staaten einschließlich Berlins als „eine der wenigen legalen Verbindungen“ an. Er verhindere, „dass sich zwei getrennte wirtschaftliche Organismen entwickeln, die wirtschaftlich ein völliges Eigenleben führen“. Auch Berlin müsse verhindern, dass in beiden deutschen Teilen „neue industrielle Kapazitäten entstehen, die unnötig wären, wenn beide Teile wirtschaftlich enger miteinander zusammenarbeiten würden“ und ihren Bedarf nicht durch Einfuhren aus dem Ausland deckten. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd. 451 Die SED strebte Waren-Tauschgeschäfte über Verrechnungseinheiten (VE) an. Eine „Wunschliste“ von 1954 zeigt, dass sie aus West-Berlin vor allem Lebensmittel, Energieund andere Maschinen, Chemieerzeugnisse, Zellstoff und Papier sowie bestimmte Textilien beziehen wollte. Dafür bot sie u.a. Mineralölerzeugnisse, Glas und Keramik, Erzeugnisse des Maschinen- und Fahrzeugbaus, Feinmechanik/Optik sowie (für 42 Mio. Verrechnungseinheiten) Dienstleistungen an. Das Gesamtvolumen des Austauschs sollte 400 Mio. VE betragen. Anlage 3 zum Protokoll 5/54, Sitzung des Politbüros am 19.1.1954, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/343, S. 21–23.

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Offerten mit propagandistischen Zeichen des „guten Willens“, die ebenso die politische Aufwertung der DDR bezweckten. Schon insofern wird klar, dass die SED an allen sektorenübergreifenden Geschäftsbeziehungen, die diese Kriterien nicht erfüllten und obendrein noch den Einheitsgedanken förderten, nicht sonderlich interessiert war. Gesetzliche Bestimmungen und Politbürobeschlüsse bestätigen das.452 Insbesondere behinderte die regressive Finanzpolitik des Magistrats auch den kleinen Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen Ost- und West-Berlin. Dazu trugen nicht zuletzt die Sperrungen von Westkonten im „demokratischen Sektor“ bei.453 Dennoch plädierten eine Reihe von West-Berliner Unternehmern für einen Ausbau des Handels mit dem Ostteil der Stadt. Sie repräsentierten zumeist kleinere und mittlere Unternehmer, vor allem aus den Bereichen Großhandel, Eisen und Stahl, Metallbau und Textilien. Als sich Ende 1954 ein aus dem „Ausschuss zur Förderung des deutschen Handels“ hervorgegangener „Ausschuss zur Förderung des Handels“ konstituierte, traten ihm einige von ihnen bei. Wenngleich im Berliner Ausschuss auch DDR-Außenhändler und Wirtschaftsfunktionäre vertreten waren, die dessen dezente Steuerung durch die SED vermuten ließen, konnten die West-Berliner seine öffentlichen Ziele akzeptieren.454 Auch bildete sich ein paritätischer Vorstand des Gremiums aus östlichen und westlichen Mitgliedern. Letztere wahrten ihre politische Autonomie auch dadurch, dass sie unabhängig von den östlichen Ausschuss-Teilnehmern eine „eigenständige westliche Gruppe“ mit eigener Vereinskasse bildeten.455 Zwar besaßen sie ein großes wirtschaftliches Eigeninteresse, ließen sich aber auch von politischen Motiven leiten. Sie lehnten die SED in der Regel ab, „dachten aber gesamtdeutsch“ und wollten die Spaltung Berlins nicht noch weiter vertieft wissen. „Entgegen der bisherigen offiziellen West-Berliner Geschichtsschreibung erfreute sich der Ausschuss in den ersten Jahren seines Bestehens Zuspruch“, obwohl die WestBerliner Politik und Medien auf ihn sehr bald „mit Überwachung, Ausgrenzung und öffentlicher Verurteilung“ reagierten.456 Dennoch gaben westsektorale Politi452 Die Bestimmungen und Verbotslisten schlossen einen kontinuierlichen Handel mit WestBerlin weitgehend aus. Vgl. Anlagen 7 und 8 zum Protokoll 1/55, Sitzung des Politbüros am 4.1.1955, in: ebd., Nr. 398. 453 Vgl. Protokoll Nr.III/58, Sitzung des Sekretariats der SED-BL, 7.8.1958, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 361, Bl. 4f. 454 Nämlich „die Pflege und Erweiterung des Ost-West-Handels, unter Befreiung von allen den Handelsverkehr hemmenden Beschränkungen“. Hauptmittel dafür sollte der Kontakt zu Medien, Institutionen und Persönlichkeiten des deutschen Handels seien. Schwane, Wider den Zeitgeist?, S. 111. 455 Ebd. 456 Ebd., S. 212.

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ker wie Willy Kressmann zu erkennen, dass sie das Hauptanliegen des Gremiums begrüßten, einen vernünftigen Gesamtberliner Wirtschaftsdialog zu führen. Dieser fand dann gelegentlich unter Teilnahme von West-Berliner Industriellen statt, führte aber offenbar zu keinen konkreten Ergebnissen. Dennoch waren die Aktivitäten des Ausschusses nicht nur dem Senat, sondern auch dem Bundeswirtschaftsministerium zunehmend ein „Dorn im Auge“.457 Bei allem ist jedoch nicht zu übersehen, dass zwischen beiden Stadthälften nach 1949 zumindest ein begrenzter Güter-Direktaustausch stattfand, der bis 1955 in der Tendenz abnahm, aber mit den „liberalisierenden“ Tendenzen des Jahres 1956 kurzfristig wieder anstieg. Der östliche Partner lieferte Nahrungsmittel (23,4 Prozent) und Baumaterial (66,2 Prozent), der westliche „ausschließlich Verbrauchsgüter“.458 Im großen Stil kooperierten allerdings ostdeutsche Reichsbahn und WestBerliner Hafen- und Lagerhaus-Betriebe (Behala) miteinander. Die Behala mit ihren 500 Beschäftigten schlug in West-Berlin jährlich rund 800.000 t Massengüter um, wobei die Reichsbahn erhebliche Transportleistungen erbrachte. Beide Partner unterhielten jederzeit „gute technische Kontakte“ und benutzten im Westhafen und am Lehrter Bahnhof gemeinsam dieselben Gebäude.459 Nach 1958 stieg auch der sektorenübergreifende Taxi- und Lastwagenverkehr an. Dem Güternahverkehr standen insgesamt 3.250 LKW zur Verfügung, die jeweils mehr als 750 kg transportierten.460 Die Ost-Berliner Stadtverwaltung tolerierte diesen Transport, weil er aus operativen wirtschaftlichen Gründen unverzichtbar war und auch die SED handelte pragmatisch, wenn sie beispielsweise Extraausgaben des „Neuen Deutschland“ bei der West-Berliner „Morgenpost“ drucken ließ.461 Wirtschafts- und bevölkerungspolitisch waren die offiziellen Umzüge innerhalb der Stadt jedoch von größerer Bedeutung. Während der Verzug von Personen aus West- nach Ost-Berlin nicht nennenswert war, siedelten z.B. 1958 etwa 2.160 Ost-Berliner in den anderen Teil der Stadt um. 1959 waren es 2.187.462 Die 457 So wurde Mitgliedern des „Ausschusses zur Förderung des Berliner Handels“ die Erteilung von Warenbegleitscheinen oder Bezugsgenehmigungen verweigert. Der Ausschuss sei „eindeutig“ ein „politisches Instrument der SBZ“. Schreiben von Bundeswirtschaftsminister Erhard an Paul Hertz, Senator für Wirtschaft und Kredit, 17.2.1961, in: LAB, B Rep. 010 A-01, Acc. 2057, Nr. 475. 458 Der monatliche Güterverkehr von Ost- nach West-Berlin stieg von 1.000 t (1955) auf 4.000 t (1956) und der in umgekehrter Richtung von 180 t auf 270 t an. Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156, Bl. 10. 459 Vgl. ebd., Bl. 8. 460 Vgl. ebd., Nr. 2158, Bl. 65. 461 Vgl. Kurzinformationen der SED-BL Berlin, 2.11.1956, in: ebd., C Rep., Nr. 106. 462 Vgl. ebd., C Rep., Nr. 106. Die Angaben des Senats lagen etwas niedriger. Vgl. ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2158, Bl. 61.

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Anlässe waren verschiedenartig. Vorrangig handelte es sich um Familienzusammenführungen und Eheschließungen, aber auch um pflegebedürftige Rentner, die zu ihren Angehörigen oder ins (westliche) Altersheim wollten. Die Ausreisenden konnten ihre Wohnungseinrichtungen relativ problemlos mit nach West-Berlin bringen, wie es bis zum Mauerbau auch möglich war, Erbgut vom Ost- in den Westteil (und umgekehrt) zu überführen.

4. Konkurrierendes Bauen und Wohnen 4.1 Berliner Städtebau: Konzepte und Anspruch Eine der Hauptaufgaben für die separaten Berliner Stadtverwaltungen bestand auch nach 1948 in der Schaffung von Wohnraum und der Wiederherstellung öffentlicher Bauten. In den ersten Nachkriegsjahren waren im Wesentlichen nur Notmaßnahmen ergriffen worden, um vor allem beschädigte Wohnungen wieder in Stand zu setzen. Für einen großzügigen Wiederaufbau fehlten „nicht der Wille, sondern die Finanzmittel und das Material“.463 Das Problem blieb auch nach der administrativen Spaltung der Stadt bestehen, wurde aber auf der Basis konkurrierender Hauptstadtkonzepte und sich allmählich verbessernder Finanzierungsmöglichkeiten auf beiden Seiten gezielt in Angriff genommen. Da sich nach 1948 abzuzeichnen begann, dass ein einheitlicher Raumordnungs- und Bebauungsplan, unabhängig von der Frage, wie Berlin rekonstruiert oder neu entstehen sollte464, 463 Ribbe, Wohnen im geteilten Berlin, S. 164. 464 Städtebauplaner und Architekten diskutierten nach 1945 konträr. Während der erste Großberliner Baustadtrat Hans Scharoun den unter seiner Leitung 1946 entstandenen „Kollektivplan“ faktisch einen „an den Konturen des Urstromtales“ und an den Ideen einer sozialen und wirtschaftlichen Stadtentwicklung orientierten Neuaufbau Berlins als einer „durchgrünten und mit Schnellstraßen durchzogenen Bandstadt aus überschaubaren Nachbarschaften“ wollte, liefen andere dagegen Sturm, weil es – bis auf wenige Reste – das Verschwinden des historischen Berlins bedeutet hätte. In West-Berlin setzte sich mit dem „Zehlendorfer Plan“ (1947) verkehrstechnisch und mit dem „Plan 1948“ städtebaulich zunächst ein im Wesentlichen die überkommene Stadtstruktur berücksichtigendes Bauen durch. In Ost-Berlin wurden auf der Basis eines radikal veränderten Bodenrechts Elemente des „Kollektivplans“ übernommen und teilweise im „Generalaufbauplan“ (1949) weiterentwickelt. Doch zeigte sich in den folgenden Jahren, dass einer seiner wichtigen Aspekte in beiden Teilen Berlins gestaltend wirkte: „An die Stelle eines möglichen Wiederaufbaus der Stadt trat eine weitgehende Erneuerung.“ Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 92. Vgl. dazu auch: Werner Sewing/Christine Hannemann, Wiederaufbau in der „Viersektorenstadt“ 1945–1957, in: Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Berliner Wohnungsbaugesellschaften, Berlin 1999, S. 210; Goerd

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Anlässe waren verschiedenartig. Vorrangig handelte es sich um Familienzusammenführungen und Eheschließungen, aber auch um pflegebedürftige Rentner, die zu ihren Angehörigen oder ins (westliche) Altersheim wollten. Die Ausreisenden konnten ihre Wohnungseinrichtungen relativ problemlos mit nach West-Berlin bringen, wie es bis zum Mauerbau auch möglich war, Erbgut vom Ost- in den Westteil (und umgekehrt) zu überführen.

4. Konkurrierendes Bauen und Wohnen 4.1 Berliner Städtebau: Konzepte und Anspruch Eine der Hauptaufgaben für die separaten Berliner Stadtverwaltungen bestand auch nach 1948 in der Schaffung von Wohnraum und der Wiederherstellung öffentlicher Bauten. In den ersten Nachkriegsjahren waren im Wesentlichen nur Notmaßnahmen ergriffen worden, um vor allem beschädigte Wohnungen wieder in Stand zu setzen. Für einen großzügigen Wiederaufbau fehlten „nicht der Wille, sondern die Finanzmittel und das Material“.463 Das Problem blieb auch nach der administrativen Spaltung der Stadt bestehen, wurde aber auf der Basis konkurrierender Hauptstadtkonzepte und sich allmählich verbessernder Finanzierungsmöglichkeiten auf beiden Seiten gezielt in Angriff genommen. Da sich nach 1948 abzuzeichnen begann, dass ein einheitlicher Raumordnungs- und Bebauungsplan, unabhängig von der Frage, wie Berlin rekonstruiert oder neu entstehen sollte464, 463 Ribbe, Wohnen im geteilten Berlin, S. 164. 464 Städtebauplaner und Architekten diskutierten nach 1945 konträr. Während der erste Großberliner Baustadtrat Hans Scharoun den unter seiner Leitung 1946 entstandenen „Kollektivplan“ faktisch einen „an den Konturen des Urstromtales“ und an den Ideen einer sozialen und wirtschaftlichen Stadtentwicklung orientierten Neuaufbau Berlins als einer „durchgrünten und mit Schnellstraßen durchzogenen Bandstadt aus überschaubaren Nachbarschaften“ wollte, liefen andere dagegen Sturm, weil es – bis auf wenige Reste – das Verschwinden des historischen Berlins bedeutet hätte. In West-Berlin setzte sich mit dem „Zehlendorfer Plan“ (1947) verkehrstechnisch und mit dem „Plan 1948“ städtebaulich zunächst ein im Wesentlichen die überkommene Stadtstruktur berücksichtigendes Bauen durch. In Ost-Berlin wurden auf der Basis eines radikal veränderten Bodenrechts Elemente des „Kollektivplans“ übernommen und teilweise im „Generalaufbauplan“ (1949) weiterentwickelt. Doch zeigte sich in den folgenden Jahren, dass einer seiner wichtigen Aspekte in beiden Teilen Berlins gestaltend wirkte: „An die Stelle eines möglichen Wiederaufbaus der Stadt trat eine weitgehende Erneuerung.“ Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 92. Vgl. dazu auch: Werner Sewing/Christine Hannemann, Wiederaufbau in der „Viersektorenstadt“ 1945–1957, in: Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Berliner Wohnungsbaugesellschaften, Berlin 1999, S. 210; Goerd

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aus politischen, wirtschaftlichen und bodenrechtlichen Gründen465 nicht oder auf absehbare Zeit466 kaum mehr realisiert werden würde, entstanden unterschiedliche General-, aber auch Detailplanungen. Das endgültige Scheitern einer Gesamtberliner Konzeption wurde durch die Resignation467 ihres engagierten Verteidigers Hans Scharoun symbolisiert, der sich auf Druck des Westmagistrats von der gesamtstädtischen Arbeit gänzlich zurückzog, auch aus der Jury für ein ErnstThälmann-Denkmal468 sowie aus der Ost-Berliner Wissenschafts-Akademie.469

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Peschken, Stadtlandschaften. Scharouns städtebauliche Vision für Berlin und ihre Provinzialisierung, in: Jochen Boberg/Tilmann Fichter/Eckhart Gillen, Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, Bd. 2, München 1987, S. 302–305; Frank Werner, Stadtplanung Berlin, Theorie und Realität, Teil 1: 1900–1960, Berlin (W), 1978, S. 81ff.; Johann Friedrich Geist/Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus (Bd. 3) 1945–1989, München 1989, S. 250–257. Weitergehende Planungen in West-Berlin scheiterten an der Rechtsordnung des Stadtstaates. Während dort eine Neuordnung des Eigentums an Grund und Boden nach städtebaulichen Grundsätzen nicht möglich war und Ausnahmen diese Regel bestätigten, ließen sich in Ost-Berlin die „als ideal angesehenen Prinzipien des Bauens“ durch umfangreiche Enteignungen realisieren. Vgl. Ribbe, Wohnen im geteilten Berlin, S. 166. Der Westmagistrat bezeichnete es eher als die Ost-Berliner Verwaltung als definitiv, dass eine Zusammenarbeit in den Fragen der Gesamtberliner Raumordnungs-Planung „zur Zeit nicht möglich“ sei. Doch würde er faktisch von einer „Stadt Berlin“ mit vier Millionen Einwohnern ausgehen, die ihre Verwaltungsaufgabe als Hauptstadt Deutschlands von West-Berlin aus erfüllen werde. Damit würde für Ost-Berlin auch städtebaulich mitgeplant. Vgl. Karl Mahler [Senator für Bau und Wohnungswesen], Der Wiederaufbau Berlins und die Stadtplanung, in: Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder, Ausgabe Berlin, Hamburg 1951, S. 30. Scharoun war 1946 Professor für Städtebau an der TH Berlin geworden. Als Pionier des Neuen Bauens, speziell der avantgardistischen „organischen Architektur“ mit internationaler Geltung, sah er sich in einer nationalen und Gesamtberliner Verantwortung. Kontroversen mit der SED hinderten ihn nicht daran, in Ost-Berliner Gremien mitzuarbeiten, u.a. als Direktor des Instituts für Bauwesen an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Auf dementsprechende Vorwürfe und das Verlangen des Westmagistrats, dem Osten den Rücken zu kehren, reagierte der sich als unpolitisch Verstehende betroffen: Seine Arbeit habe er „nicht zu einer machtpolitischen Ausgangsstellung, sondern zu einer Ausgangsstellung für eine fortschrittliche Zusammenarbeit zu machen versucht. Ich habe daher immer die ganze mir zur Verfügung stehende Kraft – und viel Zeit eines nun einmal begrenzten Lebens für sie eingesetzt. Sie verstehen, dass mich tief der Umstand […] bekümmert, dass auch heute wieder verlangt wird, solche Arbeit auf Weisung und machtpolitischer Tendenzen wegen abzubrechen.“ Schreiben von Scharoun an Stadtrat (Westmagistrat) May, 18.5.1950, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 2887. Der Westmagistrat hatte Scharoun über den Rektor der TU, Professor Freese, nahegelegt, aus dem Denkmals-Preisgericht auszuscheiden. Scharoun erbat sich Bedenkzeit und erklärte dem Rektor bald darauf, er habe „an kompetenter Stelle“ seinen Rücktritt von der

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Während man sich in West-Berlin nun auf der Grundlage disparater Programme und gestützt auf die Marshallplan-Hilfe zunächst auf lokale, kleinere Objekte konzentrierte, begann der Ost-Berliner Wiederaufbau großzügiger, gleichzeitig aber auch problematischer. Denn mit dem im Frühsommer 1949 vorgelegten „Generalaufbauplan“ (Ost) war ein modernes, zukunftsweisendes Großprojekt entstanden, „das dem zeitgenössischen internationalen Planungsstand entsprach“. Es verwunderte, dass es der SED aus ideologischen Gründen bald nicht mehr genehm sein würde.470 Das schien umso weniger plausibel, als der vom gesamtstädtischen „Kollektivplan“ abgeleitete Ost-Berliner „Generalaufbauplan“ 1949 nicht nur den „fortschrittlichen Erfahrungen im Städtebau“ entsprach, wie es in Anlehnung an das „Gesetz über den Aufbau der Städte“ in der DDR und der „Hauptstadt Deutschlands“ (6. September 1950) sowie in der Ost-Berliner „Aufbauordnung“ vom Dezember 1950 hieß, sondern auch dem nach 1948 vom Ostmagistrat verkündeten demokratischen Prinzip des Bauens: Alle Berliner sollten darin einbezogen werden.471 Und schließlich war auch die Ausstellung „Generalbebauungsplan Berlin“ im Oktober 1949 in der Absicht konzipiert worden, ihn in die öffentliche Diskussion zu stellen, um die gesamte Bevölkerung „an dem Neuaufbau Berlins als ihrer Stadt teilhaftig werden zu lassen“.472 Noch Mitte 1951 meinte der Magistrat, er handle auch in der Art demokratisch, wenn der Wiederaufbau in einer Form erfolge, die nicht nur den Grundsätzen einer demokratischen Ordnung entspreche, sondern auch den konkreten Wünschen der Bewohner der aufzubauenden Wohnanlagen. Ebenso entsprach es dem östlichen Verständnis von einer „Volks“-Demokratie, alle Vorhaben durch Schaubilder und Presseveröffentlichungen bekannt zu machen und zu popularisieren.473 Auch besaß das nicht nur von den Kommunisten, sondern ebenfalls von Sozialdemokraten und linken Liberalen in die öffentliche Diskussion eingeführte Argument, man könne nur auf der Basis von Gemeineigentum an Grund und Boden sozial und demokratisch bauen, einiges für sich. Denn es zeigte sich bald, dass die kapita-

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Ost-Berliner Juryfunktion erklärt. Darauf erhielt Stadtrat May die hausinterne Information, dass nun „keine Veranlassung mehr besteht, ihn [Scharoun] zu disziplinieren“. Vgl. Hausinterne Mitteilung, 23.5.1950 und 28.6.1950 sowie Schreiben Scharouns an Freese, 10.6.1950, in: ebd. Im Frühjahr 1951 löste Scharoun auch seine Bindung an die AdW. Vgl. Hausinterne Mitteilung an Senator Tiburtius, 28.6.1951, in: ebd. Ribbe, Wohnen im geteilten Berlin, S. 166f. Vgl. Magistratsvorlage (Ost), Nr. 582, zur Beschlußfassung am 7.12.1950, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 853, Bl. 102 und „Aufbauordnung“, in: ebd. Vgl. Magistratsvorlage (Ost), Nr. 279, zur Beschlußfassung am 22.9.1949, in: ebd., Nr. 842, Bl. 60. Vgl. Magistratsbeschluß (Ost) Nr. 747, 5.7.1951, in: ebd., Nr. 859, Bl. 79.

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listische Eigentumspraxis zur Behinderung des Wohnungsbaus in West-Berlin erheblich beitrug und auch die Strategie der SPD, CDU und FDP, die Wohnraumnot durch einen staatlich geförderten, aber privatwirtschaftlich durchgeführten sozialen Wohnungsbau zu verringern, beeinträchtigte. Allerdings blieb angesichts der großen Knappheit an Wohnungen die öffentliche Bindung des Wohnungsmarktes durch Wohnraumbewirtschaftung, Mieterschutz und Mietpreisbindung bis 1968 erhalten.474 Sozial ähnlich gestaltete sich die Wohnungspolitik im sowjetischen Sektor. Die Mieten wurden auf dem Niveau des Jahres 1937 festgeschrieben, und eine staatliche Wohnraumlenkung übernahm, mit Ausnahme des noch privaten Hauseigentums475, sowohl die Verteilung des knappen Wohnraums als auch dessen Verwaltung und Pflege. Hüben wie drüben besaß dessen Zuweisung nach den Kriterien sozialer Bedürftigkeit einen bedingt demokratischen Charakter, weil die Mieter über bestimmte, im Osten auch von der Verfassung verbriefte, Rechte verfügten. Gerade Ost-Berlin erlebte immer wieder Wellen individueller Kritik an der staatlichen Wohnungspolitik und weitverbreitete Bevölkerungsdiskussionen, die von der SED hingenommen und aus politischen Gründen häufig auch instrumentalisiert wurden.476 Wie die politisch Verantwortlichen im Westteil der Stadt sah sie die Bau- und Wohnungspolitik als „eines der inneren Hauptfelder der Systemkonkurrenz“ an. Baupolitik wirkte als sozialer und wirtschaftlicher Faktor nicht nur grundlegend integrativ, sondern auch als „Schaufenster“ für die Außenwelt. So geriet der Wohnungsbau auf beiden Seiten „zu einer wichtigen Waffe im Kalten Krieg“.477 474 Vgl. Dieter Hanauske, Der Wiederaufbau in West-Berlin bis zur Umstellung der Wohnungsbauförderung 1945–1968, in: Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin. Katalog zur Ausstellung vom 21. April bis 13. Juni 1999. Hrsg. anlässlich ihres 75– /80jährigen Bestehens von der Arbeitsgemeinschaft der Berliner Wohnungsbaugesellschaften DEGEWO, GEHAG, GEWOBAG, GSW, STADT UND LAND und der Investitionsbank Berlin, Berlin 1999, S. 93. 475 Während der 50er Jahre befand sich noch etwa ein Drittel der Ost-Berliner Mietshäuser in privatem Besitz, zwei Drittel – 254.074 Miet- und Gewerbeeinheiten (1954) – in staatlicher Verwaltung. Offenbar sind in dieser Zahl auch Wohnungen in Gebäuden enthalten, die unter Treuhand gestellt waren. Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL GroßBerlin: „Vorlage an das Büro [der BL]“, 31.7.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 1320. 476 Zum einen, um nach außen volksverbunden-basisdemokratisch zu erscheinen, zum anderen auch, um prinzipielle Mängel einer „trägen“ Bürokratie anlasten zu können und sie in Bewegung zu halten. Dieser Mechanismus wurde vor allem bei „Volkswahlen“ und zur Massenmobilisierung bei anstehenden Großereignissen ausgelöst. Vgl. ebd. 477 Dieter Hanauske, Wohnungspolitik im Kalten Krieg. Zum Wohnungsbau in Ost- und West-Berlin 1949–1961, in: Berlinische Monatsschrift, 3, 2001, S. 35.

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Sie wurde angesichts der schwierigen Lage West-Berlins insbesondere von Westmagistrat und von der Bundesregierung „geschliffen“.478 Dies umso schärfer, als beide Teile, wie geschildert, gesamtstädtische Ansprüche erhoben.479

4.2 Planen und Bauen unter gegensätzlichen Vorzeichen Die Absage der SED an den „Generalbauplan“ von 1949 widerspiegelte die geistigen Grundlagen ihrer Strategie im Kalten Krieg: Kampf dem Amerikanismus, Kosmopolitismus und Formalismus. Neue Feindbilder entstanden vor allem im internationalen Kontext. Hauptgegner blieben die USA als Führer des „Weltimperialismus“. Auf dieser intellektuellen Grundlage leiteten SED-Führung und Staatsorgane einen baupolitischen Kurswechsel ein: Nun sollte die zerstörte Metropole nicht mehr als eine als westlich empfundene, aufgelockerte, funktional entmischte Stadtlandschaft gebaut werden, sondern als Architektur des „sozialistischen Realismus“. Es dominierte der Gedanke der kompakten, monumentalisierten Stadt als Leitlinie für eine bewusst antiwestliche Architektur und Baupolitik.480 Als sich eine ostdeutsche Delegation im April 1950 in Moskau über das sozialistische Bauen in der UdSSR informiert hatte und ein entsprechendes sowjetisches Modell mit nach Berlin brachte, formulierten SED und Staatsadministration die „16 Grundsätze des Städtebaus“.481 Walter Ulbricht erläuterte: Besonders Berlin müsse „schöner denn je“ wiedererstehen. In der Weimarer Zeit seien hier und anderswo viele Gebäudekomplexe entstanden, die „nicht den Wünschen der Bevölkerung entgegenkamen, die nicht der nationalen Eigenart unseres Volkes entsprachen, sondern dem formalistischen Denken einer Anzahl Architekten, die die Primitivität gewisser Fabrikbauten auf die Wohnungen übertrugen […]. Unter dem Hitlerfaschismus wurde dieser Ka-

478 „Wer die Frage des Wohnungsbaus nicht löst, wird mit dem Kommunismus nicht fertig“, meinte Bundeswohnungsbauminister Paul Lücke (CDU) 1952. Der West-Berliner Bausenator Mahler (FDP) warnte vor einer sich möglicherweise aus der Wohnungsnot ergebenden Unzufriedenheit der West-Berliner als einem „guten Nährboden für Einflüsterungen des Ostens“, und sein Amtsnachfolger Rolf Schwedler sah im Wohnungsbau einen „wichtigen Faktor im politischen Kampf Berlins“. Vgl. ebd., S. 35f. 479 Vgl. Schlegelmilch, Tendenzen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Berlins, S. 21. 480 Sewing/Hannemann, Wiederaufbau, S. 209, 212f. 481 Vgl. die „16 Grundsätze“, in: Lothar Bolz, Vom deutschen Bauen. Reden und Schriften, Berlin (O) 1951, S. 32ff.

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sernenstil noch weiter entwickelt.“482 Die „kosmopolitischen Phantasien“ der Moderne und deren an „Eierkisten“ erinnernde Hochhäuser würden nicht in die neue Hauptstadtgesellschaft passen. Sie lehne „amerikanische Kästen“ und „hitlerischen Kasernenstil“483 und die von den „Bonner Machthabern“ geförderte konstruktivistische Bauweise der Amerikaner ab.484 Demgegenüber verordnete das SED-Politbüro seiner Hauptstadt eine architektonische Neugestaltung, die von einem repräsentativen Bauen insbesondere von öffentlichen Gebäuden ausging – unter Betonung zentraler Straßen und Plätze, immer im Vergleich mit dem sowjetischen Vorbild.485 Dem Zentrum der Stadt, führte Ulbricht im Juli 1950 aus, sei ein „charakteristisches Bild“ zu verleihen – durch monumentale Gebäude „und eine architektonische Komposition, die der Bedeutung der Hauptstadt gerecht wird“.486 Aber auch für den Wohnungsbau galt die Devise „Paläste für das Volk“. Am 25. November 1951 veröffentlichte das „Neue Deutschland“ den programmatischen Vorschlag 482 Zitiert nach: Harald Michel/Volker Schulz, Von der „Stalinallee“ zur DDR-Plattenbausiedlung. Anmerkungen zur Wohnungs- und Städtebaupolitik in Berlin-Brandenburg seit 1949, in: Lemke (Hrsg.), Schaufenster der Systemkonkurrenz, S. 213. 483 Zitiert nach: ebd., S. 213. 484 Zitiert nach: Andreas Schätzke, Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945–1955. Mit einer Schlußbetrachtung von Thomas Topfstedt, Braunschweig/Wiesbaden 1991, S. 63. 485 Die Parteiführung beschrieb: „Zentral im Zuge der Stalinallee – Brandenburger Tor befindet sich der Mittel- und architektonische Höhepunkt des Zentrums Berlins, der Lustgarten. Der Lustgarten hat besondere politische Traditionen und eine günstige Lage als Abschluß der Hauptaufmarschstraße für die Demonstrationen Unter den Linden. Er ist der beste Platz für fließende und stehende Demonstrationen. Die erforderliche Größe ist nur durch Abriß des Schlosses zu erreichen. Die Gestaltung des Platzes wird eine besondere Bedeutung erhalten durch den in der Achse der Linden zu erstellenden bedeutenden Baukomplex, eventuell Hochhaus. Außerdem wird vorgeschlagen, gegenüber dem Alten Museum die neue deutsche Staatsoper aufzubauen. Das Fiapp-Denkmal ist geplant gegenüber den Tribünen an der Stelle, wo etwa das Nationaldenkmal [Kaiser Wilhelm I.] gestanden hat. Die Größenbemessungen des Platzes sind ungefähr 180 mal 450 m = etwa 82.000 qm. Im Vergleich dazu die Ziffern des Roten Platzes in Moskau, der mit seinen 120 mal 400 m = 50.000 qm besitzt.“ Protokoll Nr. 4/1950 der Sitzung des Politbüros am 15.9.1950, in: SAPMO-BArch, DY30, IV 2/2/104, Bl. 13. 486 So müsste eine Hauptmagistrale durchgängig von der Frankfurter Allee bis zum Brandenburger Tor entstehen und die an ihr liegenden Plätze, vor allem der Alexanderplatz, „architektonisch schön im Sinne des Volksempfindens“ gestaltet werden. Nur so könne man in den monumentalen Bauten „die Kraft und die Stärke des Ausdruckswillens und der großen Zukunft“ ausdrücken. Zitiert nach: Holger Kuhle, Auferstanden aus Ruinen: Der Alexanderplatz, in: Bernd Wilcek (Hrsg.), Berlin, Hauptstadt der DDR 1949–1989. Utopie und Realität, Baden-Baden 1995, S. 52.

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des ZK der SED „Für den Aufbau Berlins“. Dem folgte am 22. Dezember 1951 die Bildung des „Nationalen Komitees für den Neuaufbau der deutschen Hauptstadt“. Schließlich wurde, getreu dem Plan zur Schaffung einer repräsentativen Hauptmagistrale, ab Januar 1952 der Bau der Stalinallee (bis 1950 Frankfurter Allee) in Angriff genommen. Ihrem Gesamtberliner Anspruch folgend, bezeichnete sie die SED demonstrativ als Teil einer Planung für ganz Berlin. Ulbricht stellte das Projekt auf der II. SED-Parteikonferenz im Juli 1952 als den „Grundstein zum Aufbau des Sozialismus in der Hauptstadt Berlin“ vor. Die als Prachtstraße konzipierte Allee diene dem ganzen deutschen Volke, verkörpere die sozialistische Städtebaukunst des neuen Deutschland, und sie werde „unsere Brüder in Westdeutschland davon überzeugen, was ein Volk zu schaffen vermag, wenn es die Herrschaft von Monopolherren und Junkern beseitigt hat“.487 Auch deshalb seien Stalinallee und Berliner Nationales Aufbauprogramm ein „gesamtdeutsches Programm“ und der Hebel, der die beiden Teile Berlins zusammenführe.488 Demgegenüber besaß West-Berlin weder eine in sich geschlossene städtebauliche Konzeption noch einen zentralen Bebauungsplan.489 Seine Baupraxis hielt sich im Wesentlichen an die vorhandenen Strukturen, ging aber für die recht ungewisse Zukunft von einer aufgelockerten und dennoch funktionalen Stadtlandschaft aus. Nicht minder ideologisch, als es die SED seit 1950 tat, skizzierten West-Berliner Politik und Stadtplanung ihr Gegenbild zum Bauen in Ost-Berlin: „Wir wollen keine Prunkbauten, keine propagandistischen Reklamefassaden“, bei denen das Äußere wichtiger sei als der Inhalt.490 Bereits zu Beginn der 50er Jahre favorisierten sie die Idee der dem „kollektivistischen Wohnen“ in Ost-Berlin gegenübergestellten „beschwingten“ Gartenstadt491, begannen sie jedoch erst Jahre später zu verwirklichen. Es fehlten in West-Berlin die finanziellen Mittel und, wie im Ostsektor, ausreichend Baustoffe.492 Abbruchmaterialien bildeten hüben wie drüben häufig die Grundlage für das Bauen überhaupt – im Osten mehr noch als im Wes-

487 Deutsche Bauakademie und Nationales Komitee für den Neuaufbau der deutschen Hauptstadt (Hrsg.): Wir bauen Deutschlands Hauptstadt, Leipzig 1952, S. 6f. 488 „Über das nationale Aufbauprogramm Berlin 1952“, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 497. 489 Vgl. Dagmar Gansmann, Der Ernst-Reuter-Platz in Berlin. Die Geschichte eines öffentlichen Raumes der fünfziger Jahre, Münster 1992, S. 65. 490 Hauptwirtschafter für das Notstandsprogramm (Hrsg.), Ernst-Reuter-Siedlung. Zur Erinnerung an die Einweihungsfeier am 18. Juli 1954, Berlin (W) 1954, S. 15. 491 Vgl. Sewing/Hannemann, Wiederaufbau, S. 215. 492 Vgl. „Über die Materiallage“, Anlage zum Magistratsbeschluß Nr. 954, Sitzung am 24.4.1952, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 865, Bl. 112–119.

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ten.493 Dennoch war der „demokratische“ Sektor seiner West-Berliner Konkurrenz zumindest bis 1952/53 eine „Nasenlänge“ voraus. Selbst prononciert antikommunistische Darstellungen konzedierten ihm beachtliche Aufbauleistungen.494 Nicht unabhängig von der Entwicklung im Osten befand sich die Weststadt zumindest bis 1952 baupolitisch in der Defensive. Ein wichtiges Indiz dafür war die verspätete Verabschiedung des Wiederaufbauplans für West-Berlin495 – in Kooperation mit der Bundesregierung erst 1955. Zum einen wirkten Wirtschaftskrise und hohe Arbeitslosigkeit sowie die damit verbundene Depression im Baugewerbe außerordentlich negativ, zum anderen nutzte die Ostadministration genau diese Schwierigkeiten aus, zog Tausende im Westen wohnende Bauarbeiter an sich und warb über Inserate in der Ostpresse um weitere Arbeitskräfte.496 Dahinter steckte aber nicht nur eine entsprechende östliche Nachfrage, sondern auch die konzeptionelle Unsicherheit des Senats, den die Stalinallee in Zugzwang brachte497, auf den er auch konkret reagieren musste. Harald Bodenschatz sieht im Bau der Ernst-Reuter-Siedlung im Berliner Wedding (1953/54) eine erste Reaktion auf die Stalinallee, doch mit dem folgenden Hansa-Viertel die eigentliche – verspätete – Antwort.498 Waren beide Großprojekte auch überregional dimensioniert und zeigten sie, dass die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme verschiedenartige architektonische und städteplanerische Gestaltungskonzepte hervorbrachten, so waren sie doch „nur bedingt zu verallgemeinernden Aussagen über den Berliner Wohnungsbau und die Entwicklung der Stadtlandschaft Berlins in den fünfziger Jahren“ in der Lage.499 Dennoch wiesen sie typische Merkmale des Berliner Systemwettbewerbs auf.

493 Vgl. „Protokoll über die 163. (ordentliche) Sitzung des Magistrats, 21.2.1952, in: ebd., Nr. 864, Bl. 163. 494 Vgl. Bollwerk Berlin, S. 19f. 495 Vgl. Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 96. 496 Vgl. Hanauske, Wohnungspolitik im Kalten Krieg, S. 38 und Hanauske, Der Wiederaufbau in West-Berlin, S. 93f. 497 Bodenschatz, Antworten West-Berlins auf die Stalinallee, S. 153. 498 Vgl. ebd., S. 155–157. 499 Schlegelmilch kommentiert: „So etwa konnte der lockere Stil der Bebauung des Hansaviertels mit einer für den Cityrand geradezu luxuriös geringen Bebauungsdichte schwerlich richtungsweisend für das unter Bodenknappheit leidende West-Berlin sein, und ebenso wenig verkörperte die Stalinallee mit ihrer aufwendigen Verknüpfung von Wohnqualität und repräsentativer Außenwirkung eine zur schnellen Behebung der grassierenden Ost-Berliner Wohnungsnot geeignete Bauweise.“ Schlegelmilch, Tendenzen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Berlins.

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4.3 „Schaufenster“-Ideologie in Stein und Glas Stalinallee und Hansa-Viertel bildeten nicht nur im Allgemeinen Gegenstücke, sondern lieferten auch im Einzelnen markante Kontrastpunkte – etwa, wenn das berühmte, von Hermann Henselmann 1952 konzipierte Hochhaus an der Weberwiese gezielt mit dem von 1953 bis 1955 errichteten ersten West-Berliner Punkthochhaus in der „grünen“ Ernst-Reuter-Siedlung kommentarreich verglichen wurde.500 Nicht wenige Zeitgenossen sahen die in Rekordzeit erbaute Sporthalle in der Stalinallee als einen Anlass für die USA, dem Senat eine hypermoderne Kongresshalle zu schenken. Mit politischer Bedeutung aufgeladen, fand diese ihren Platz im traditionellen Tiergarten unmittelbar an der Sektorengrenze, über die hinweg sie ausstrahlte und in der Sicht ihrer Apologeten zur Metapher für Modernität und Freiheit schlechthin würde.501 Ähnliches lässt sich auch über die „aufeinander bezogene Distanz“ von markanten Plätzen aussagen: Der ErnstReuter-Platz figurierte als Gegenbild zum Ost-Berliner Strausberger Platz und galt als „modernster Platz“ Deutschlands.502 Die West-Berliner Presse zählte ihn euphorisch zu den schönsten und größten Plätzen Europas: „Der Markusplatz in Venedig, […] selbst der Petersplatz in Rom werden kleiner sein.“503 Nicht von ungefähr errichteten Senat und öffentliche Hand Siedlungen und zentrale Gebäude dicht am Hoheitsgebiet Ost-Berlins. Otto Suhr als Regierender Bürgermeister verlangte 1955, den Wiederaufbau entlang der Sektorengrenzen zu fördern, nicht etwa nur, um den Eindruck der Steinwüsten an dieser Linie zu beseitigen, sondern auch, um „gegenüber der Fassadenkultur des Ostsektors echte zukunftsvolle Baugesinnung und neuen Lebensstil zum Ausdruck zu bringen“.504 Siedlungen an der Sektorengrenze sollten Symbol sein „für unseren unerschütterlichen Aufbauwillen, sozialen Gemeinschaftsgeist und Bestreben nach bürgerlicher Freiheit“505, hieß es auch in der West-Berliner Öffentlichkeit. Diese Sicht war Ausdruck für eine sich herausbildende West-Berliner Mentalität, in der Leistungsbereitschaft, Zukunftsvertrauen und antikommunistische Abwehrhaltung eine Symbiose eingingen. Derartige Grenzbebauungsambitionen hegte die SED 500 Vgl. Dolff Bonekämper, XYZ: Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin. Neuaufnahmen von Franziska Schmidt, Berlin (W) 1999, S. 63. 501 Vgl. iwag. Internationale Werbe- und Anzeigen-Gesellschaft m.b.H. (Hrsg.), Wegweiser durch das neue Hansa-Viertel, Berlin (W) 1957. 502 Gansmann, Der Ernst-Reuter-Platz, S. 158. 503 „Der Tagesspiegel“, 4.8.1956. 504 Westermann, Mitte und Grenze, S. 81. 505 Hauptwirtschafter für das Notstandsprogramm, S. 26. Vgl. auch Kurt Schatz, Im Schatten von Hammer und Sichel. Ein westdeutscher Journalist sieht Berlin und die Sowjetzone, Heilbronn 1957, S. 12f.

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nicht. Zum einen ging ihre Planung vom Aufbau des alten Zentrums und innerstädtischer Bereiche aus, zum anderen offenbar von Sicherheitsüberlegungen. So wurde in den 50er Jahren lediglich die östliche Seite des Neanderviertels an die Sektorengrenze herangeführt.506 Ost-Berlin entwickelte eine „Schaufenster“-Konzeption, die sich nicht nur, aber vor allem auf die Herrschaftsarchitektur in der Stalinallee bezog. Dabei war die propagandistische Offensive um die neue Prachtstraße als Symbol östlichen Aufbauwillens ohne die seit 1949 kontinuierlich erzeugte Aufbaueuphorie in der DDR und Ost-Berlin nicht denkbar.507 Wie der West-Berliner Schaffensoptimismus war sie im Prinzip echt und in vielem Ausdruck eines Fühlens und Wollens, das die DDR-Hymne mit „Auferstanden aus Ruinen“ auf den Punkt brachte. Diese produktive Stimmung verstärkte sich bei vielen durch das erste sozialistische Bauprojekt nicht nur, sondern schien ihr Stein gewordener Ausdruck zu werden. Dass die SED sie instrumentalisierte, sie zu verstärken und zu lenken versuchte, lag in der Natur kommunistischen Machterhalts, war aber auch deshalb legitim, weil speziell die Stalinallee kein „Potemkinsches Dorf“ war. Hinter ihr stand, gemessen an den Möglichkeiten der Zeit, eine gewaltige Arbeitsleistung. Ebenso war sie ein – sicherlich begrenzter – bau- und sozialpolitischer Erfolg. So gründete die propagandistische Generalkampagne der SED zur Verherrlichung dieser Straße auf einem relativ soliden Fundament. Auch basierte der 1952 einsetzende Stalinallee-„Tourismus“ keineswegs nur auf der Nötigung Zehntausender Ostdeutscher, die organisiert „herangekarrt“ würden, um ihre Begeisterung öffentlich kundzutun, sondern ebenfalls auf der Neugierde vieler Deutscher. Von Anfang an war das Großprojekt vor allem zur Integration der Ostdeutschen in den sozialistischen Aufbau gedacht worden. Es besaß bei ihnen einen hohen Bekanntheitsgrad und, wie es scheint, auch bei vielen Arbeitern und anderen „kleinen Leuten“ Sympathien.508 Im Umfeld der internationalen Systemauseinandersetzung erhielt es aber ebenso eine vergleichsweise wichtige Funktion als „Schaufenster“ nach außen. Auch Leute aus dem Westen, der Bundesrepublik und West-Berlin (die tatsächlich häufig über vom Osten organisierte Reisen kamen) zollten den Erbauern der Stalinallee, so kritisch sie dem DDRSystem auch gegenüberstehen mochten, häufig Respekt und Anerkennung. Dies umso mehr, als eine Reihe von in dieser Straße beschäftigten Arbeitern und Angestellten hier komfortable Wohnungen erhalten hatten und eine Miete zahlten, die 506 Vgl. Protokoll Nr. 030/57 der Sitzung des Büros der SED-BL Groß-Berlin am 14.11.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 307, Bl. 3, 13. 507 Vgl. die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“, Nr. 38, 1950, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. 508 Vgl. Bericht vom 28.8.1952, in: SAPMO-BArch, DY 34/26/102, Nr. 2067, (FDGBWestabteilung).

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für viele im Westen geradezu traumhaft war.509 Natürlich wiesen die neuen Hausbewohner, von denen einige auf eine manchmal eigentümliche Weise zu unentwegten Führern durch die eigenen Wohnungen gerieten, ihre Besucher immer darauf hin, dass es den West-Berlinern in puncto schönen Wohnraums sehr viel schlechter ginge. Das liege eben am System. Aber das Lob der Partei und des Sozialismus gehörte zum Ritual. Doch heuchelten viele der privilegierten Bewohner der Stalinallee auch dabei nicht. Sie freuten sich über ihren Wohnkomfort, über die breite, von Grünflächen gesäumte Allee mit über hundert neuen Läden und den sozialen Einrichtungen: Schulen, Kindergärten, Waschhäuser, Kulturzentren u.a.m. Auch fehlte es nicht an Parkplätzen. Doch wer besaß 1952 schon ein Auto? In der Erinnerung blieb bei den Befragten ein durchweg positives Bild.510 Unabhängig davon stellte sich der SED und Staatsführung nach 1952 die Frage, ob angesichts der gewaltigen Kosten, die die Stalinallee und andere Prestigeobjekte verursachten, das Konzept des repräsentativen Bauens noch länger durchzuhalten sei.

4.4 Finanzen, Ressourcen und sozialer Wohnungsbau im Wettstreit In der Tat begannen sich die Ost-Berliner Verantwortlichen mit der Stalinallee finanziell zu „überheben“. Zwar wurde ihr erster Bauabschnitt unter großen Schwierigkeiten511 1954 noch fertiggestellt, doch sollten fünf Jahre bis zum Beginn der zweiten Bauperiode vergehen. Angesichts schlechter Bilanzen in der OstBerliner Bauwirtschaft und den alarmierenden Zahlen für 1954512 nahm die SED das Konzept des repräsentativen Bauens – vor allem beim Wohnungsbau – zu509 Die zumeist Zwei- bis Dreizimmerwohnungen waren licht und geräumig. Sie besaßen einen hohen Standard: Fernheizungen, Fahrstühle, moderne Küchen, Müllschlucker, Telefonanschlüsse, zentrale Antennenanlage u.a.m. Die Miete betrug 0,98 Ostmark pro Quadratmeter. 510 Frau Erna Bitter (Jg. 1921) schilderte dem Vf., wie glücklich sie war, als sie 1953 mit ihrem Mann, einem Maurerpolier, und ihren beiden kleinen Söhnen eine Wohnung in der Stalinallee erhielt: „Wissen Sie, wir haben draußen in Treptow gewohnt, zweiter Hinterhof, Mülltonnen, scheußlich. Jetzt hatte ich das Gefühl, wir landen im Paradies. Dabei war mein Richard nicht mal in der Partei, aber fleißig war er, und da hat er die Wohnung über die Gewerkschaft bekommen. Die erste Zeit habe ich fast nur gekocht, weil die Küche so schön war.“ Gespräch mit Frau Bitter, 21.8.2004. 511 So war der Wohnungszuwachs 1954 um mehr als 50 Prozent hinter den Ergebnissen des Vorjahres zurückgeblieben. Vgl. Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 94. 512 Vgl. Rita Gudermann, Wohnungspolitik und -finanzierung in Ost-Berlin 1949–1989, in: Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin (Ausstellungskatalog), Berlin 1999, S. 154.

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rück. Luxus und insbesondere „Verzierungen“, so meinte Ulbricht, seien teure Verschwendung von Geld und Material. Die Kosten müssten gesenkt und die Bauproduktion erhöht werden.513 Billiger bauen, hieß jetzt die Losung. Die Systemkrise in der DDR und die Ereignisse des 17. Juni 1953 hatten die ostdeutschen wirtschaftlichen Nöte verschärft, aber nicht verursacht: Von Anfang an fehlte es – ähnlich wie in West-Berlin – an finanziellen und materiellen Ressourcen, aber auch – anders als in West-Berlin – an Arbeitskräften. Auf diesem Feld spielten sich zwischen Ost-Berlin und den hauptstadtnahen DDR-Bezirken lebhafte Verteilungskämpfe ab. Es ging vor allem um die Beschäftigungssperre für Bauhandwerker aus den Randgebieten in Ost-Berlin.514 Zwar wurden – wie geschildert – Bauarbeiter aus West-Berlin angeworben, doch war es verboten, West-Berliner Firmen oder Architekten zu beschäftigen. Das betraf im Besonderen Regierungsbauten.515 Auch unterlagen bis Mitte 1953 private Ost-Berliner Baufirmen restriktiven Bestimmungen, die erst nach dem 17. Juni mit dem „Neuen Kurs“ und einem „Wohnungsbau-Zusatzprogramm“516 gelockert wurden, was kurzzeitig zu einer Verstärkung des privaten Sektors der Bauwirtschaft führte.517 Immer wieder klagten SED und Staatsorgane über die nach wie vor zu hohen Baukosten, die gemessen an der Produktivität zu niedrigen Arbeitsnormen518 und über zu lange Ausfallzeiten in der kalten Jahreszeit. Sie waren mit der Ost-Berliner Erfindung des „Wintermauerns“519 auch nicht zu beheben. Als noch schwerwiegender erwiesen sich die häufigen Materialengpässe. Beim Mauern half noch die Verwendung von billigem Bruchmaterial etwas.520 Dass der chronische Mangel 513 Vor allem haperte es mit den Inneneinrichtungen der Verkaufsläden. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 1143 für die Sitzung am 24.10.1952, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 871, Bl. 8. 514 Vgl. „Bericht über die Erfüllung des Haushaltsplanes von Groß-Berlin in der Zeit vom 1.1. bis 30.9.1953“, in: ebd., Nr. 896. 515 Vgl. BA Berlin, DH/1/44476 (Ministerium für Bauwesen). 516 Vgl. Zusatzplan für das 2. Halbjahr in Groß-Berlin, 24.6.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 174/1, Bl. 217. 517 Vgl. Magistratsvorlage, 24.6.1954, in: ebd., Nr. 191, Bl. 131f. 518 Vgl. Abteilung Wirtschaftspolitik der SED-BL: Vorlage für das Büro der Bezirksleitung, 27.7.1954, in: ebd., Bl. 127. 519 Der Maurer Hans Garbe berichtete der Berliner SED-Führung von seiner Neuerung, bei Frost etwas Chlorkalk in den Mörtel zu geben. Der Erfolg sei nicht ausgeblieben: „Seit dem 14. Lebensjahr habe ich schon die Kelle in der Hand. Bei 5 Grad Kälte war es immer so, daß der Kalk an der Kelle fror. Jetzt muß ich bei 15 und noch mehr Grad Kälte erfreut feststellen, daß der Kalk ohne Frostansatz von der Kelle rutscht […]. So könne das „Wintermauern“ überall beginnen. Schreiben von Garbe an Jendretzky, SED-LL Groß-Berlin, 18.10.1951, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 497. 520 Redemanuskript (offenbar von Waldemar Schmidt), 31.5.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1315.

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Holz, Stahl und Zement hieß, wurde auch in West-Berlin aufmerksam registriert.521 Ebenfalls nahm die über zuverlässige Quellen verfügende kapitalistische Konkurrenz die immer neuen Sparzwänge wahr, die zur Verbilligung von Neubauwohnungen, beispielsweise durch deren Verkleinerung und Abstriche bei der Ausstattung, führten, sie aber dadurch qualitativ verschlechterten.522 Das zeigte sich exemplarisch beim Neubau des Neanderviertels. Während in dessen WestBerliner Teil moderne achtgeschossige Reihenhäuser mit einigem Komfort wie Zentralheizungen entstanden, konnte die östliche Seite ihren Neubaumietern – zum ehrlichen Bedauern der SED-Bezirksleitung – aus Kostengründen nur traditionelle Öfen bieten.523 Seit 1954 erhöhten sich die Planrückstände vor allem bei Neubauten.524 Gleichzeitig wusste die Führung der SED, dass Altbausubstanz in großem Umfang verfiel und unsanierte Wohnungen zunehmend leer standen.525 Das wurde mit verursacht durch weitere Verstaatlichungen von privaten Reparatur- und Baubetrieben, die jetzt aber auch häufiger „pleite“ gingen.526 Ausschlaggebend blieben jedoch die fehlenden Ost-Berliner Investitionsmöglichkeiten, die durch Planungsfehler und das ständige Hineinwirken der SED-Bürokratie in die Konzepte und die Durchführung der Bauvorhaben527 „ergänzt“ wurden. Admi521 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 8. 522 Vgl. ebd., Stand: 15.3.1957, Nr. 2155, Bl. 6. 523 Vgl. Protokoll Nr. 030/57 der Sitzung des Büros der SED-BL am 14.11.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 307, Bl. 2. 524 Vgl. „Geheime Verschlußsache: Analyse über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1954 in Berlin“, 15.1.1955, in: ebd., Nr. 220, Bl. 50. 1957 wurden von den 7179 geplanten Wohnungen nur 5781 gebaut. Vgl. dazu Magistrat, Plankommission: „Analyse über die Hauptfragen der wirtschaftlichen Entwicklung im Jahre 1957“, 24.3.1958, in: ebd., Nr. 326, Bl. 156. 525 Bereits im September 1956 würden über 1.500 Altbauwohnungen „leerstehen und verkommen“. Vgl. Protokoll Nr. 021/56 der Sitzung des Büros der SED-BL am 13.9.1956, in: ebd., Nr. 264, Bl. 6. 526 Allein 1956 gingen sechs private Unternehmen mit ca. 5,4 Mio. Ostmark Kapazität in Volkseigentum über. 17 weitere private Baubetriebe mit insgesamt etwa 17,2 Mio. Ostmark Umsatz lösten sich wegen „zu hoher Überschuldung“ auf. Die private Bauindustrie nahm dadurch um 1.300 Beschäftigte ab. Sie lag 1956 20 Prozent unter ihren Leistungen von 1955. Da die Staatsorgane 1956 auch für den Eigenheimbau Festpreise eingeführt hatten, weigerten sich private Baufirmen zunehmend, Aufträge zu übernehmen. Der Eigenheimbau stellte deren staatlich geduldete Domäne dar, litt aber besonders krass unter Materialmangel. Vgl. Magistrat, Plankommission: „Analyse zur Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes im Jahre 1956“, 30.1.1957, in: ebd., Nr. 282, Bl. 91. 527 So bedurften alle Bauvorhaben, die von „zentralen Stellen“ in Ost-Berlin geplant und durchgeführt wurden, der Bestätigung der SED-BL. Auf der Ebene der Stadtbezirke ent-

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nistrative Fehlleistungen lastete die Partei in der Regel dem Magistrat an.528 Die angespannte Finanzlage erfuhr durch wachsende Ost-Berliner Mietschulden (1954 = 12,5 Mio. Ostmark bei monatlichen Mieteinnahmen von insgesamt rund 13 Mio.) eine weitere Verschärfung, die sich vorrangig auf Instandsetzungen und Hausreparaturen niederschlug. Gegenüber den prinzipiell zu niedrigen Mieten529 stellte das allerdings ein nachgeordnetes Finanzproblem mit nur geringen Lösungsansätzen dar. Mieterhöhungen kamen aber aus sozialen und politischen Gründen nicht in Frage. Die Ost-Berliner Führung hatte angesichts des „politischen“ Mietpreises im Gegenteil Mühe, ihn nicht noch weiter absinken zu lassen. Das betraf vor allem Neubauwohnungen, deren höherer Ausstattungsgrad sich finanziell nur minimal niederschlug. Angesichts steigender Baupreise erhöhte sich die Gefahr, dass die Neubaumieten nicht einmal die Unterhaltskosten deckten.530 Bedingt durch die zu geringe Neubautätigkeit in Ost-Berlin, den Verfall von Altbausubstanz und den Abriss maroder Häuser verbesserte sich die Wohnsituation in der DDR-Hauptstadt nicht spürbar. Dazu trug bei, dass viele DDR-Bürger aus verschiedenen Gründen in die Metropole drängten und angesichts der Stalinallee und indirekt auch des West-Berliner Niveaus höhere Ansprüche an den Wohnungskomfort stellten. Rein quantitativ gesehen, führte die Republikflucht Tausender zu einer zeitweiligen Entspannung der Wohnsituation, trug aber kaum zur Lösung der Probleme Mietrückstände und Instandsetzungsdefizite bei.531 Auch Kampagnen zur Rückgewinnung „zweckentfremdeten Wohnraums“ ver-

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schieden die SED-Kreissekretariate über Projektierung und Bau in der Stalinallee, der Friedrichs- und Rathausstraße (mit Alexanderplatz) sowie Unter den Linden ZK und Bezirksleitung. Vgl. Beschlußvorlage für die Sitzung des Sekretariats der SED-LL am 24.7.1952, in: C Rep. 901, Nr. 164, Bl. 81 und Protokoll Nr. 27/54 der Sitzung des Büros der SED-BL am 29.7.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 190, Bl. 127. Vgl. Sekretariatsvorlage: „Betr. Maßnahmen zur Verbesserung im Bauwesen“, 17.11.1953, in: ebd., Nr. 201/1, Bl. 291. In Ost-Berlin zahlte man für alle nach 1950 errichteten Neubauwohnungen mit Ofenheizung pro Quadratmeter in der Regel 1,05 Ostmark, mit Ofenheizung und Warmwasser 1,10 und mit Zentralheizung plus Warmwasser 1,20. Altbauten lagen mit 0,91 bis 0,97 Ostmark darunter, auch die in der Stalinallee. In West-Berlin kostete der Quadratmeter einer Sozialwohnung 1957 hingegen im Durchschnitt bereits 1,65 Westmark Mietzins. Vgl. SED-BL: „Prinzipien für die Festlegung von Neubaumieten“, 2.1.1956, in: ebd., Nr. 1320 und „Grundsätze für die Mietpreisbildung“, 23.7.1957, in: ebd. Vgl. Vorlage für das Büro der SED-BL, 2.8.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 192. Die volkseigene, kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) hatte (1954) 10.171 Mitarbeiter. Das Mietproblem trat für sie zwar hinter den gravierenden Mangel an Mitteln für Instandsetzung (1954 = ca. 10 Mio. Ostmark insgesamt) zurück, verursachte aber viel Aufwand und Ärger. Sie verfügte kaum über wirksame Behebungsmittel, und die Staatsorgane gingen in der Regel mit Mietschuldnern zu „weich“ um.

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sprachen mehr als sie hielten. Auch qualitativ verbesserte sich die Lage außerordentlich langsam. Altbauwohnungen mit Bad bildeten immer noch eine Minderzahl.532 Hatte die SED im Zusammenhang mit ihrem „Zugpferd“ Stalinallee nicht ganz zu Unrecht erklärt, dass sie und überhaupt das Ost-Berliner „Nationale Aufbauprogramm“ den Senat zum Bau von Wohnungen gezwungen habe533, zog West-Berlin schnell nach und überholte bereits 1952/53 den östlichen Konkurrenten. In schneller Folge entstanden neue Anlagen mit jährlich etwa 20.000 Wohnungen.534 Es war dort vor allem der soziale Wohnungsbau, der von sich reden machte. Bis Mitte der 50er Jahre war er an der Peripherie der Weststadt angesiedelt, erst danach erschloss er sich massiv innerstädtische Standorte (u.a. Bayerischer Platz in Schöneberg, Blücherplatz in Kreuzberg). Da West-Berlin wirtschaftlich erstarkte und die Subventionen der Bundesrepublik sowie amerikanische Finanzmittel nach Verabschiedung des West-Berliner Aufbauplans (1955) reichlicher flossen, verfügte der soziale Wohnungsbau von 1952 bis 1961 über etwa 4,2 Mrd. Westmark, die zu ca. 58 Prozent aus öffentlichen Mitteln und nur zu 18 Prozent aus denen des Kapitalmarktes stammten. Elf Prozent der Investitionskosten kamen aus dem Lastenausgleich. Reichlich 90 Prozent der von 1952 bis 1961 neu errichteten oder wieder aufgebauten Wohnungen entfielen auf den sozialen Wohnungsbau. Zwar sah man ihn im Westen auch sehr kritisch: Seine Architektur sei einfallslos und monoton, die Wohnungen zu klein, doch boten sie modernen Komfort und soziale Sicherheit. Seine Bilanzen beeindruckten, während Ost-Berlin weiter zurückblieb.535 Im Vergleich mit dem Westteil der Stadt besaß es im Prinzip keine hinreichenden Geldquellen zur Finanzierung seiner ehrgeizigen Aufbaupolitik. Obgleich es die SED als DDR-Hauptstadt ansprach, erhielt es erst ab 1957 kontinuierlich erhebliche Zuwendungen aus dem Staatshaushalt. Diese Subventionen, die insbesondere für den Wohnungsbau, vor allem „unter dem Gesichtspunkt der Ost-West-Konkurrenz“, gewährt wurden, betrugen nach Hanauske von 1957 bis zum Beginn der sechziger Jahre etwa 30 bis 40 Prozent des Ost-Berliner Haushal-

532 Vgl. Magistrat, „Bericht über den Stand der Erfüllung des Beschlusses Nr. 15 der Volksvertretung Groß-Berlin vom 27. Juni 1957, 20.9.1957, in: ebd., Nr. 304, Bl. 19. 533 Vgl. ebd. und Magistrat, Abteilung Wohnungswesen: „Entwicklung des Wohnungswesens im demokratischen Berlin bis 1965“, 27.3.1961, in: ebd., Nr. 1320. 534 Vgl. „Über das nationale Aufbauprogramm Berlin 1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 497. 535 Dazu im Kontrast waren beispielsweise 1957 in Ost-Berlin nur 6.500 Wohneinheiten geplant und 1956 nur 4.000 gebaut worden, also ein Fünftel des Zugangs in West-Berlin. Auf 10.000 West-Berliner kamen im Jahresdurchschnitt 91, im Osten 33 neue Wohnungen. Vgl. ebd.

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tes.536 Den „Löwenanteil“ für die Baufinanzierung, vor allem in der ersten Hälfte der 50er Jahre, brachte also Ost-Berlin auf, dessen politische Führung sich dabei durchaus erfinderisch zeigte. Bereits am 7. Dezember 1951 war von der SEDBezirksleitung mit Zustimmung und nach einem Aufruf des Politbüros („Für den Aufbau Berlin“) ein umfassendes „Nationales Aufbauprogramm“ (NAP) nur für Ost-Berlin verabschiedet und in der Öffentlichkeit popularisiert worden. Das NAP, dem West-Berlin ein „Berliner Aufbauprogramm“ entgegensetzte537, trat faktisch am 2. Januar 1952 mit – schlecht organisierten – freiwilligen Aufbauschichten von etwa 3.800 Ost-Berlinern in Kraft.538 Im finanziellen Teil des NAP stand ein sogenanntes Aufbausparen im Mittelpunkt. Alle Interessierten könnten 3 Prozent oder andere Prozentsätze ihres monatlichen Einkommens zu einem bestimmten Zinssatz fest anlegen. Ab 1956 würde ihnen ihre Einlage zurückgezahlt.539 Die SED betonte die Freiwilligkeit des Aufbausparens, offenbar, um nicht in den Verdacht zu geraten, wie der Westen ein „Notopfer Berlin“ erheben zu wollen. Zschaler sieht in diesem Verfahren eine Staatsanleihe zur Finanzierung des Aufbaus.540 Dem Aufbausparen wurde eine Aufbaulotterie zur Seite gestellt, die von ihren Initiatoren als „der finanzielle Hebel“ des Ost-Berliner Bauens gesehen wurde.541 Ebenfalls flossen dem NAP nach Angaben des Magistrats viele Spenden aus Ost und West sowie Gelder aus Sammlungen zu. Offenbar bediente er sich aber auch der beim Ost-Berliner Stadtkontor deponierten Sparguthaben von WestBerlinern und Bundesbürgern, was „mehrere Millionen“ Westmark ausgemacht hätte.542 Der teure Wiederaufbau architektonisch und historisch wertvoller Gebäude (u.a. der Staatsoper, des Roten Rathauses und des Zeughauses) erfolgte allerdings aus dem zentralen DDR-Haushalt. Anfang 1953 wurde das NAP Ost-Berlin als „Nationales Aufbauwerk“ (NAW) auf die gesamte DDR ausgedehnt. In gewissem Unterschied zum NAP stand im NAW nach sowjetischem Vorbild („Subbotnik”) die unentgeltliche freiwillige Arbeit der Bevölkerung in Masseneinsätzen im Mittelpunkt. In Ost-Berlin kon536 Vgl. Hanauske, Wohnungspolitik im Kalten Krieg, S. 45f. 537 Vgl. Ribbe, Wohnen im geteilten Berlin, S. 174. 538 Vgl. Jendretzky: Vorlage an das SED-Politbüro, 15.11.1951, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 497. 539 „Beschluß des Nationalen Komitees über die Durchführung der Aufbaulotterie und der Lotterie für 100 Halbschichten“, undatiert (1952), in: ebd., Nr. 498. 540 Der Autor gibt die Einnahmen aus dem Aufbausparen und der Lotterie in den ersten fünf Jahren mit ca. 250 Mio. Ostmark an. Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 139f. 541 Vgl. „Beschluß des Nationalen Komitees […]“, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 498. 542 Vgl. Bericht, November 1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2169.

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zentrierten sich die Einsätze auf öffentliche Anlagen, aber auch auf die Gewinnung von Baumaterialien, Schrott u.a.m. aus Ruinen und Abrisshäusern. Häufig war „freiwilliger Zwang“ mit im Spiel. Aber gerade Mitglieder der SED und anderer Parteien sowie von Massenorganisationen und Angehörige von Betriebsleitungen und der Staatsorgane halfen aus politischer Überzeugung und in der guten Absicht, ihre Stadt zügiger aufzubauen. Wer viele NAW-Stunden leistete, genoss in der von Partei- und Staatsorganen definierten Öffentlichkeit ein gewisses Ansehen, mochte dadurch auch sein Selbstwertgefühl erhöhen. Auch in den Betrieben fanden Aufbauhelfer offizielle Anerkennung. Sie wurde durch Auszeichungen – etwa Aufbaunadeln in verschiedenen Stufen – äußerlich unterstrichen.543 Die Bewertungsgrundlage für die NAW-Leistungen bildeten sogenannte Halbschichten zu jeweils 4 Arbeitsstunden. Eine intensive Propaganda warb um Verpflichtungen der „Werktätigen“ zu möglichst zahlreichen Halbschichten. Materielle Anreize dafür boten eine „Geld- und Wohnungslotterie“544. Jede Leistung wurde in einer einheitlichen Aufbaukarte (mit Stempel) eingetragen. Wenngleich es immer wieder zu organisatorischen „Pannen“ kam, häufig Transportmittel, Werkzeuge und andere technische Vorraussetzungen fehlten, konnte das NAW zunächst beachtliche Erfolge verzeichnen.545 Zur finanziellen Absicherung des Systems wurde nur für Ost-Berlin anstatt der problematischen Aufbau- eine „Bärenlotterie“ eingeführt, die als finanzielle Hauptstütze des Ganzen alle Berliner, auch die im Westen, ansprach. Sie brachte (1958) etwa 10,5 Mio. Ostmark ein, die insbesondere für den Tierpark, aber auch zur Finanzierung des NAW-Apparates verwendet wurden.546 Überhaupt zeigte sich nach 1955 die Tendenz zur weiteren Bürokratisierung der freiwilligen Arbeit. Verwaltungsaufwand, Berichtswesen und Kontrolle nahmen zu. Der NAW-Enthusiasmus Vieler flachte auch aus diesem Grunde ab. Bei vielen Aufbauhelfern zeigten sich zudem Ermüdungserscheinungen. Die Verbindung gewünschter Arbeitsleistungen mit politischen Ereignissen, Gedenk- und Geburtstagen, anlässlich derer die Ost543 Für 50 Halbschichten gab es die Aufbaunadel in Bronze, für 100 in Silber, für 300 in Gold. Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL, 17.10.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 184, Bl. 38. 544 So erhielt ein Helfer für 100 Halbschichten ein Wohnungslos. Gewann es, erhielt sein Besitzer eine Wohnung zur Miete, manchmal sogar in der Stalinallee. Angeblich kamen auf 146 Besitzer von Wohnungslosen 14–15 Gewinner. Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL, 24.11. 1953, in: ebd., Nr. 185. 545 Im Jahr 1954 seien von 530.284 Helfern in 679.778 Schichten 2,9 Mio. Ostmark erwirtschaftet worden. Insgesamt wurde an 109 Objekten gearbeitet. Man habe u.a. 157.000 m3 Schutt abgefahren und 8,7 Mio. Ziegelsteine geborgen. Vgl. Bericht, undatiert, in: ebd., Nr. 220, Bl. 68. 546 Vgl. ebd.

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Berliner Verpflichtungen zu immer neuen Halbschichten abgeben sollten, begann sie zu nerven. Parolen gingen ins Leere, neue Ehrenzeichen und Symbole547 aktivierten nicht. Demgegenüber zog der Magistrat immer mehr Aufgabenbereiche in das NAW: die Reparatur und Instandsetzung von Wohnraum, Straßenbau- und Kanalisationsarbeiten u.a.m. Gleichzeitig gingen SED und Staatsapparat in Berlin dazu über, NAW-Pläne mit Fixzahlen aufzustellen und die freiwilligen Einsätze wie Staatsplanaufgaben abzurechen. Schließlich wurde das NAW mit allen seinen Unwägbarkeiten 1956 Bestandteil des Volkswirtschaftsplanes – faktisch mit dem Ziel, vor allem Einsparungen „an betrieblichen Investitionsmitteln“ zu erreichen.548 Mit dem ehrgeizigen Aufbau des neuen Stadtzentrums 1961 verstärkte sich der Trend zum Unrealen.549 Bereits 1957 hatte die Finanzrevision Groß-Berlin im DDR-Finanzministerium halb verärgert, halb amüsiert festgestellt, dass die gemeldeten Zahlen der einzelnen Ost-Berliner Stadtbezirke, also die erwirtschafteten Werte in Mark, unreal, teilweise überhaupt nicht verwendbar seien.550 Auch aus diesem Grund sind die Zahlen über die Ergebnisse des insgesamt beachtlichen Ost-Berliner NAW551 kritisch zu behandeln. Vor allem nahm das NAW als Instrument der Mobilisierung der „Werktätigen“ nur indirekt Einfluss auf den Innerberliner konkurrierenden Wohnungsbau im größeren Stil.

547 Vgl. Schreiben des Sekretariat Wengels (SED-BL) an Herrmann Axen und Walter Benzmann, 13.7.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. Als neues Symbol für das NAW entstand ein Piktogramm: der Berliner Bär mit Maurerkelle und Schaufel. 548 Vgl. Hauptobjekte des NAW in Berlin und „Stand nach Abschluß des 1. Halbjahres“, in: ebd., Nr. 260, Bl. 57. 549 Das NAW habe am Aufbau des Zentrums teilzunehmen, aber weiterhin seine Leistungen in den Stadtbezirken zu erbringen, müsse sich jedoch steigern. Als ein Mittel dafür sah man die Verleihung einer „Aufbauplakette“ bereits bei zehn geleisteten Aufbaustunden. Vgl. Vorlage an das Büro der SED-BL: „Plan der Propagierung des Aufbaus des Stadtzentrums […]“, 4.5.1961, in: ebd., Nr. 469, Bl. 25. 550 Für den Stadtbezirk Treptow errechnete das Amt auf der Basis von Vorlagen den Wert der Arbeitsstunde mit 32,34, für andere Bezirke gar mit bis zu 72,50 Ostmark. Überdies seien beispielsweise Baufacharbeiter und Rentner finanziell gleich hoch bewertet worden u.a.m. Vgl. Ministerium für Finanzen, Finanzrevision Groß-Berlin: „Bericht über die Abrechnung von NAW-Leistungen“, 12.9.1957, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 453. 551 Von 1952 bis 1958 seien in 14.076.388 Arbeitsstunden Werte von 50.636.664 Ostmark geschaffen worden. In einer anderen Darstellung wird für die Zeit von 1952 bis 1960 ein Wert von 168,5 Mio. angegeben. Vgl. Disposition, November 1957, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5535 mit Papier, undatiert (Ende 1960), in: ebd., C Rep. 124, Nr. 199.

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4.5 Westliche „Interbau“ versus Ost-Berliner Wettbewerb „Stadtzentrum Bereits 1953 hatte es erste Planungen zum Wiederaufbau des Hansa-Viertels im Tiergarten gegeben. Es sollte im Rahmen einer internationalen Bauausstellung („Interbau“) neu entstehen, die für 1956 geplant, aber dann um ein Jahr verschoben wurde. Gleichzeitig schrieben Senat und Bundesregierung einen Ideenwettbewerb „Hauptstadt Berlin“ aus. Die Presse des Westens begrüßte das Projekt: „Das ist das Berlin der Zukunft“, titelte die „Welt am Sonntag“.552 Die Ost-Berliner Medien hielten sich zunächst zurück. Während die ausländische Projektbeteiligung kein Streitpunkt war und Adenauer sie als „Zeichen der Verbundenheit mit den Völkern der freien Welt“ pries553, gab es intern Diskussionen darüber, ob und inwiefern die Interbau für das ganze Berlin planen solle, denn Gesamtberliner Bebauungsvorstellungen pflegten noch beide Seiten. Ob das vorrangig politischem Anspruchsdenken geschuldet und letztendlich populistische Rhetorik war oder aber tatsächlich Einheitserwartungen entsprach, ist unklar. Mochten die politischen Führungen auch wissen, dass der Kalte Krieg auf Dauer die Spaltung zementierte, so war das nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem Verzicht auf alle gesamtstädtischen Bau- und Verkehrsplanungen – die praktische Vernunft gebot, wie schon zu sehen war, zumindest einige Abstimmungen. Deshalb bestanden „auf den unteren Ebenen der Stadtplanungsämter“ insbesondere in Sachen Straßenbau Kontakte.554 Noch 1952 war die Leitung des Ost-Berliner NAP mit der Offerte, gesamtstädtisch zu konzipieren und dementsprechende Wettbewerbe auszuschreiben, bei West-Berliner Planern und Architekten auf lebhafte Resonanz gestoßen.555 Aber auch renommierte Lokalpolitiker wie der Weddinger Bezirksbaurat Walter Nicklitz hielten unbedingt an einer Gesamtberliner Planungsdimension fest.556 Offiziell favorisierten diese auch SED und Magistrat mit einem 552 Vgl. „Welt am Sonntag“, 2.6.1957. 553 Vgl. Interbau Berlin 1957. Amtlicher Katalog der Internationalen Bauausstellung, Berlin (W) 1957, S. 14. 554 Vgl. Carola Hein, Planungen für die Haupt- und Weltstadt Berlin – ein Wettbewerb von 1957/58, in: Hauptstadt Berlin – Wohin mit der Mitte? Historische, städtebauliche und architektonische Wurzeln des Stadtzentrums, hrsg. von Helmut Engel und Wolfgang Ribbe (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), Berlin 1993, S. 169– 200. 555 Vgl. Vorlage für das Sekretariat: „Brief der westberliner Architekten an das Nationale Komitee“, 16.1.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 386. 556 Vgl. „Bericht über den Vortrag ‚Der Neuaufbau Berlins‘ im Schöneberger Rathaus“, 29.2.1952, in: ebd.

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1955 verabschiedeten Raumordnungsplan. Erst in ihrem Generalbebauungsplan von 1968 wurde West-Berlin planungstechnisch ausgeklammert.557 Dennoch verwunderte es nicht, dass die östliche Seite Sturm gegen die ganz Berlin erfassende Bebauungsplanung der Interbau lief. Zum einen waren östliche Architekten sowohl vom Wettbewerb als auch von der Jury ausgeschlossen und zum anderen wirkte es in der Tat befremdlich, von West-Berlin aus für den Ostteil der Stadt ohne diesen planen zu wollen.558 Das war auch insofern kein versöhnliches Zeichen, als der Magistrat im Oktober 1956 mehrere westdeutsche und WestBerliner Architekten „ganz selbstverständlich“ als Teilnehmer am städtebaulichen Ideenwettbewerb zur Gestaltung des „Wohn- und Erholungsgebietes Fennpfuhl“ in Berlin-Lichtenberg eingeladen hatte und auch die Jury gesamtdeutsch besetzte.559 Die Ambivalenz dieser Geste war dem Senat sehr wohl bewusst.560 Eine andere Frage ist, ob die SED-Führung einer als gleichberechtigt angebotenen Teilnahme am West-Berliner Wettbewerb überhaupt zugestimmt hätte. Wohl eher nicht. Dafür liefert die Reaktion des Ost-Berliner Bundes der Architekten ein Indiz: Er untersagte seinen Mitgliedern von sich aus die Beteiligung am westlichen Wettbewerb, weil er die Existenz des Ostsektors negiere und dessen Stadtplanung missachte.561 Abgesehen vom obligatorischen Votum der sowjetischen Besatzungsmacht, die man hätte fragen müssen, schloss der Kalte Krieg eine konstruktive Mitarbeit aus ideologischen Gründen aus: Schließlich standen sich in Berlin nicht nur konträre Baukonzeptionen, sondern auch antagonistische Ordnungssysteme gegenüber, und niemandem entging, dass mit dem bereits im Bau befindlichen Hansa-Viertel ein Gegenbild zur Stalinallee aus dem Boden wuchs. Hinzu trat die Verärgerung auf östlicher Seite nicht schlechthin über die aufwändig vorbereitete, den eigenen Propagandaaktionen aber nicht unähnliche westliche Leistungsschau, sondern über das gezielte Werben um ostdeutsche Besucher. Ihnen stellte der Senat u.a. kostenlose Übernachtungen und „Unterkunftsbeihilfen“ zur Verfügung.562 Von den über eine Million Besuchern der Interbau (nach anderen Angaben knapp 1,5 Millionen) kamen 345.000 aus Ostdeutschland, die meisten aus dem sowjetischen Sektor. Die bislang größte Ausstellung im Nachkriegsberlin 557 558 559 560

Vgl. Gudermann, Wohnungsbaupolitik und -finanzierung, S. 155. Vgl. Sewing/Hannemann, Wiederaufbau, S. 219. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme. Stand: 15.3.1957, in: ebd., B rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 36. 561 Vgl. Hein, Planungen, S. 170. 562 Vgl. Schreiben des Verkehrsamtes Berlin an die Geschäftsführung der Interbau, 15.4.1957 und 13.6.1957 sowie an den Bevollmächtigten der Bundesrepublik in Berlin, 28.8.1957, in: LAB, B Rep. 167, Nr. 72.

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löste dort zwar hektische Betriebsamkeit aus, die Sofortprogramme der SED wirkten aber banal und hilflos563, ihre öffentliche Kritik an der Interbau denunziatorisch.564 Eine sofort gebildete SED-Beobachterkommission565 zeigte jedoch, dass der Osten die Konkurrenz ernst nahm und sie detailliert auswertete, auch bezüglich des inzwischen geplanten Ost-Berliner Bau-Gegenwettbewerbs. Stadtgestalter analysierten die Interbau kritisch, aber sachlich und waren, wie der Ost-Berliner Chefarchitekt Hermann Henselmann, bereit, aus ihr zu lernen.566 Er war es auch, der den guten Rat gab, den konkurrierenden Architekturwettbewerb für den Aufbau des Ost-Berliner Stadtzentrums international auszuschreiben. Die Beteiligten könnten vielleicht eine „prinzipielle Stellungnahme zum Sozialismus und zur DDR abgeben“567. Im Gegenzug zum im Osten als Provokation gesehenen WestBerliner Hauptstadtwettbewerb schrieb die DDR-Regierung ihr Pendant tatsächlich unbegrenzt international und mit freundlichen Offerten auch für eine westdeutsche sowie West-Berliner Beteiligung aus. Auf der Grundlage allerdings nur

563 Die SED beschloss sofort die Herausgabe von Materialien über den Aufbau der „Hauptstadt der DDR“ und die Schaffung eines Informationszentrums im Pavillon der Kultur Unter den Linden. Rundfunkkommentare, Fernsehsendungen und Presseartikel hatten auf den „Reklamerummel der Interbau“ und demgegenüber auf die tatsächlichen Bauerfolge in der DDR hinzuweisen. SED-BL Groß-Berlin, Vorlage „Einleitung von politischen und organisatorischen Maßnahmen, die sich aus der Durchführung der Internationalen Bauausstellung in Westberlin ergeben“, 15.5.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 291, Bl. 57. 564 Sie sei ein „internationales Hollywood“, ein „schlechtes Nachbild amerikanischer Zügellosigkeit“, „ein großangelegter Propagandarummel“ u.a.m. Vgl. Bodenschatz, Antworten West-Berlins, S. 159. 565 Vgl. Schreiben des Sekretärs der SED-BL, Wengels an den Magistrat, Stadtrat Thiele, 4.10.1957, in: ebd., Rep. 124, Nr. 49. 566 Die architektonische Gestaltung des Hansa-Viertels zeige zwar das „individualistische Durcheinander der westlichen Welt“, doch seien „auch ein paar sehr gute Lösungen“ darunter: „Für uns sollte man beachten, daß die Farbe als belebendes Element fast immer angewandt wird. Auch das Anbringen verschiedener Materialien bei den Balkon- und Loggien-Brüstungen ist gut. Aufmerksam sollte man die Entwicklung der Kunststeinplattenbekleidung beobachten […]. Wir müssten bei dem weiteren Aufbau Berlins unsere Kunststeinproduktion anregen, ähnliche Qualitäten zu erzeugen, da Werkstein viel teurer ist und auch Keramik nicht überall angewandt werden kann. Die Verwendung von Asbestzement und Aluminium ist sehr geschickt […] Die Grünflächen sind großzügiger angelegt als bei uns […]. Die Kinderspielplätze sind phantasievoll und zweckentsprechend, die Wegführung – auch in unmittelbarer Nähe der Häuser – ist nicht so trocken und schematisch wie bei uns, sondern passt sich gut der Natur an. Die reklametechnische und gestalterische Seite der Ausstellung ist sehr werbekräftig und einfallsreich.“ Magistrat, Chefarchitekt Henselmann: „Kurzanalyse der Interbau“, 18.11.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1311. 567 Vgl. „Aussprache [der SED-BL] mit Gen. Prof. Henselmann“, 17.3.1958, in: ebd.

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einiger Wettbewerbsprojekte beschloss die Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung im April 1961 den Plan zum Aufbau des Stadtzentrums. Beide miteinander konkurrierenden Wettbewerbe sowie ihre Materialisierung in Gestalt von Stalinallee und Hansa-Viertel stellten 1957/58 den Höhepunkt des „kalten Wohnungs- und Städtebaukrieges“568 dar, aber auch baupolitische Zäsuren. In diesem Kontext sah sich die SED gezwungen, dem Aufbau Ost-Berlins, in ihrer Sicht nicht mehr Teil der deutschen Metropole, sondern allein Hauptstadt der DDR, entschieden mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Während in WestBerlin ein zeitweilig grenzenlos anmutender Bauboom einsetzte, geriet das Bauen im Ostteil der Stadt zwar weiter ins Hintertreffen, erfuhr aber dennoch tiefgreifende Veränderungen. Das betraf explizit den Wohnungsbau. Es sollte angesichts der angespannten Lage in diesem sozial relevanten Bereich mehr, schneller und billiger gebaut werden. Das zog eine umfassende Industrialisierung des Bauens (Plattenbauweise, Fließfertigung), aber auch eine „klare Absage an die alte Stadt“569 nach sich. Ein Katalysator dafür war sicherlich die einsetzende ostdeutsche Systemkrise. Im Kontrast dazu kultivierte die SED ihre prononcierte Überlegenheitspolemik weiter, die es einerseits gestattete, sich vom westlichen Städtebau abzugrenzen570, sich ihm aber gleichzeitig – etwa beim normierten Bauen von Wohnbauten „im Grünen“ – anzunähern. Zwar wich sie bei der Zentrumsgestaltung Ost-Berlins nicht von ihrem Anspruch ab, repräsentativ zu bauen, relativierte das aber ideologisch, ökonomisch und ästhetisch571 und baute letztendlich selektiv („Der Marstall bleibt“) und mit Vorbehalten.572 Plan und Wirklichkeit des Stadt 568 West-Berlin sei „gerne gegen die Verschwendung von Ressourcen und Finanzmitteln“ beim Bau der Ostberliner Stalinallee hergezogen, doch sei auch der Bau des Hansaviertels ein „ungeheuerlich kostspieliges Unterfangen“ gewesen, stellt Bodenschatz fest. Auch unterschlägt er nicht die zeitgenössische westliche Kritik an verschiedenen Phänomenen des Projekts. Bodenschatz, Antworten West-Berlins, S. 159f. 569 Harald Bodenschatz, Wohnungsbaukonzepte in der geteilten Stadt 1957–1989, in: Wohnen in Berlin. 100 Jahre Wohnungsbau in Berlin (Ausstellungskatalog), Berlin 1999, S. 222. 570 Ribbe, Berlin 1945–2000, S. 95. 571 Vgl. Waldemar Schmidt: „Begründung der Vorlage über den Aufbau des Stadtzentrums vor der Stadtverordnetenversammlung“, 20.4.1961, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 200. 572 Besonders deutlich artikulierte sich Paul Verner, Erster Sekretär der SED-BL Groß-Berlin (seit 1958) und Kandidat des Politbüros. Der Aufbau des Stadtzentrums müsse der Macht der Arbeiter- und Bauernklasse und dem Wesen des Sozialismus entsprechen. Es sei wirtschaftlich zu bauen und jedes Projekt als unannehmbar zurückzuweisen, „bei dem eine erlogene Erhabenheit im Widerspruch zu der vernünftigen Ökonomie und zu den Forderungen heutigen Komforts steht“. Bauten im Berliner Zentrum müssten „Erhabenheit, edle Einfachheit und Strengheit der Form“ zum Ausdruck bringen, seien eine „heilige Drei-

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zentrums dienten der „Demonstration der Macht und der Kraft der Arbeiterklasse“, und sie spiegelten die konfrontative Überzeugung der SED wider, dass es in West-Berlin, so sehr es sich auch bemühe, kein neues Stadtzentrum geben werde.573 Doch blieb das geteilte Berlin „die Stadt des sozialen Wohnungsbaus par exellence“ und ein „klassisches Exerzierfeld für die städtebaulichen Visionen des Sozialstaates“. Trotz unterschiedlicher Systeme entstanden in den 50er Jahren die strukturellen Grundlagen einer „Mieterstadt“ in beiden Teilen Berlins.574 Das Ende des Ost-West-Konfliktes und ein sich verändernder Zeitgeist haben viele Urteile über das Bauen in Berlin vor dem Mauerbau teilweise erheblich verändert. Die einst viel geschmähte Stalinallee mit ihren „Zuckerbäcker“-Palästen erscheint nun als etwas Unverwechselbares, als historisches Denkmal mit ästhetischer Ausstrahlung, hinter dem das einst als Inkarnation von Schönheit und Modernität gepriesene Hansa-Viertel mit seiner zweifellos herausragenden Bedeutung für moderne Stadtplanung und Architektur für die „Stadt von morgen“ als Erinnerungsort in den Augen Vieler zurückzufallen scheint.

einigkeit von demokratischer Gesinnung, Komfort und einer ökonomischen und rentablen Lösung von Plan und Konstruktion“. Das Stadtzentrum der Hauptstadt der DDR habe monumental zu sein „an gewissen Stellen“, besonders am zentralen Platz; Monumentalität müsse aber „mit solchen künstlerischen und architektonischen Mitteln erreicht werden, die Leichtigkeit und Spannkraft einer fortschrittlichen Konstruktion zum Ausdruck bringen. Die SED sei gegen eine einseitige Betrachtung der Architektur „nämlich nur von der Seite der ästhetischen Auffassung der Architekten, vom Standpunkt des Formalismus oder der Übertreibung der Rolle des klassischen Erbes“ her. So kämen z.B. auch „schmale hohe Fenster“ als Elemente der Berliner Bautradition nicht mehr in Frage. Die „alte Berliner City“ werde nicht wieder erstehen und auch nicht bestimmte Kieze, wie das Fischerkiez „im alten Schick“ als Künstlerviertel von Berlin für Schriftsteller, Maler u.s.w. Denn damit entstünde ein „Ghetto für diese Leute“. Diese neue City werde „luftiger, hat viel Grün, hat keine zusammenhängenden engen Straßenzüge mehr“. Einiges sei noch unklar. Doch der „Dom stirbt, wenn das alles mal fertig ist […] auf jeden Fall, also er stirbt“. „Vortrag des Genossen Paul Verner“ am 17.5.1961: „Der Aufbau des Stadtzentrums unserer Hauptstadt“, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 1412. 573 Vgl. „Konzeption zur Begründung der Vorlage über den Aufbau des Stadtzentrums“, 12.4.1961, in: ebd., Hier zeigt sich auch deutlich ein Alleinanspruch der SED auf das Stadtzentrum. 574 Vgl. Sewing/Hannemann, Wiederaufbau, S. 221.

III. Kultur, Bildung und Sport 1. Berlin im kulturpolitischen Wettstreit der Systeme Nach 1945 kam das Kulturleben Berlins langsam wieder in Gang. Wenngleich noch nicht das Niveau der „goldenen zwanziger Jahre“ in Sicht war, befand sich die ehemalige Reichsmetropole in den ersten Nachkriegsjahren im kulturellen Aufwärtstrend, und sie machte vor allem Fortschritte auf dem Wege zu dem, was sie einst war und wieder sein wollte: die Hauptstadt des Theaters. Die Spaltung der Stadt bedeutete auch in dieser Hinsicht einen herben Rückschlag, mehr noch für ihren Westteil als für den sowjetischen Sektor. Das zum partikularen Stadtstaat verurteilte West-Berlin musste, wenn es nicht „kulturelle Provinz“ werden wollte, nachziehen: teils durch die Schaffung von Neuem, teils durch die Belebung des Alten. Doch auch dabei diktierte der Kalte Krieg die Bedingungen. Das schlug sich in konfrontativen Konzepten und in der beiderseitigen Polarisierung der Kultur nieder, die auf Spaltung hinausliefen. Ein entsprechendes Auseinanderdriften zeigte sich trotz alltagskultureller Gegentendenzen auch im Wirken von Organisationen und Gremien, im Kulturbereich sowie bei den konkurrierenden Modi seiner Subventionierung. Auch dabei nahm der Gesamtberliner Kulturplan des Senats (1957) eine zentrale Position ein, bildete aber darüber hinaus im Innerberliner „Kulturkampf“ eine soziokulturelle Zäsur. Der Konflikt zwischen der offiziellen Kulturpolitik im geteilten Berlin und seinen Künstlern sowie kulturellen Einrichtungen, die sich in hohem Maße der Einheitsidee verpflichtet fühlten, trieb sowohl die intersektorale Systemkonkurrenz als auch die interne Auseinandersetzung um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Beziehungen zur jeweils anderen Seite möglich oder aber ausgeschlossen seien. Der Streit um die Ostkontakte beeinflusste die West-Berliner Kulturpolitik nachhaltig. Die Konfrontation eroberte die Bühne und ein „Opernkrieg“ entbrannte. Der ost– westliche Kulturwettbewerb entwickelte sich differenziert. Während die Theater, die „Berlinale“ sowie das ungleiche Paar „Berliner Festtage“ (Ost) und „Berliner Festwochen“ (West) auf einem hohen Niveau miteinander wetteiferten und dabei ein „gehobenes“ Publikum ansprachen, führte die härter geführte Konkurrenz der Kinos Tausenden Verflechtung und Abgrenzung tagtäglich vor. Sie nahmen die Berliner auch über den Rundfunk wahr, „Nähe“ aber besonders durch die gedoppelten Offerten der Gesamtberliner Populärkultur und Freizeitgestaltung. Hier „punkteten“ offenbar beide Kontrahenten.

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1.1. Die Politisierung der Kultur Die Kulturkonkurrenz im geteilten Berlin war faktisch am 16. Dezember 1948 mit einem Boykott-Artikel des West-Berliner Blattes „Der Tagesspiegel“ eröffnet worden.1 Die Ost-Berliner satirische Zeitschrift „Ulenspiegel“ karikierte dessen martialischen Angriff im Januar und im Mai 1949 treffsicher.2 Der sowjetische Sektor wusste sich in einem Wettbewerbsvorteil: Die wichtigsten Theater, Museen und andere Kulturstätten lagen auf seinem Territorium und die nun plötzlich unterversorgten Westsektoren mussten bei chronisch leeren Kassen irgendwie aufholen. Sie besaßen im Unterschied zum Ostteil der Stadt auch kein kulturelles Hinterland. Doch wie die Gegenseite strebten sie nach kultureller Ausstrahlung und Weltniveau. Wolle die Stadt wieder politische Metropole Deutschlands wer1 Die Zeitung appellierte an alle Berliner: „Ihr könnt euer Leiden verkürzen, wenn ihr passiven Widerstand gegen alles übt, was der Stadt-Sowjet beschließt oder sich zu kontrollieren anmaßt. Macht keinen Gebrauch von seinen Einrichtungen, meidet die Versammlungen, kauft keine Bücher aus ‚Staatsverlagen‘, boykottiert die Erzeugnisse der ‚volkseigenen‘ oder ‚Treuhand‘ –Betriebe; lest keine Ostzeitungen; meidet jeden Verkehr mit der ‚Volkspolizei‘; hört RIAS und den NWDR, nicht aber Radio- Berlin: besucht die Theater des Westens, die der legitime Magistrat verwaltet, und boykottiert die von dem Stadt-Sowjet annektierten Theater des Ost-Sektors. Wo immer ihr eine solche Gelegenheit habt, bekundet eure Verbundenheit mit der rechtsmäßigen Stadtverwaltung Berlins und unserem Oberbürgermeister Reuter. Westberliner – Für euch ist es selbstverständlich, daß ihr keine der vom Stadt-Sowjet kontrollierten Einrichtungen des Ostsektors unterstützt. Kein Westberliner besucht ein ‚Staats -Theater des Ostens. […] Jeder Pfennig, den ihr dorthin tragt, wird sich in ein neues Mittel der Unterdrückung gegen euch verwandeln.“ 2 Der „Ulenspiegel“ konterte im Heft 1, 1949: „BEWOHNER DER BERLINER WESTSEKTOREN – Meidet Tante Hermine, denn sie wohnt im sowjetisch verseuchten Pankow. Sprecht nicht mit Linkshändern, denn sie sind wahrscheinlich Kommunistenknechte. Schlagt die Radfahrer, die euch links überholen, denn sie können Rote Radler sein. Brecht mit allen, die mit dem Gesicht nach dem Osten schlafen, […] und bedenkt – frei nach Churchill: DER EINZIGE GUTE KOMMUNIST IST EIN TOTER KOMMUNIST.“ Und im Heft 9, 1949, hieß es: „Die Spaltikumkämpfe nehmen ihren Fortgang (was sollten sie sonst auch wohl nehmen), Gas und Wasser wurden schon erfolgreich gespalten; nun soll die Luftzufuhr geregelt werden. Es ist verboten, beim Überschreiten der Sektorengrenze Luft zu holen, man hat während des Überschreitens den Atem anzuhalten, um zu verhindern, daß Luft aus dem Westen in den Osten überführt wird (und umgekehrt). Gegen das Eindringen von Westwinden in den Osten (und umgekehrt) werden geeignete Vorkehrungen getroffen, die zu gegebener Zeit bekannt gemacht werden. Herr Westphal wird den Ostsektor verlassen müssen. Der Westsektor beansprucht ihn für sich. Ein Kompromißvorschlag Westphals, sich künftig Halbundhalbphal nennen und im Ostsektor wohnen bleiben zu dürfen, wurde abgelehnt. Der Osterhase, in diesem Jahre noch für alle Sektoren zuständig, soll im kommenden Jahr in den Westsektoren durch den Westerhasen ersetzt werden.“ Zitiert nach Conradt/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 61, 66.

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den, so müsse sie sich „trotz des Primats der wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen“ als das geistige, künstlerische, wissenschaftliche und kulturelle Zentrum erweisen, meinte Otto Suhr im Abgeordnetenhaus. Berlin dürfe sich weder von den Städten des Westens den Rang ablaufen lassen noch der „Kulturoffensive des Ostens“ ungewappnet gegenüberstehen. Es müsse im kulturellen Wettbewerb so gestärkt werden, dass seine Anziehungskraft sowohl auf die Gäste des Westens als auch auf die „freiheitlich gesonnenen Menschen des Ostens“ optimal wirken könne.3 Eine freilich anders gelagerte Doppelfunktion unterstrich auch der Osten: Der „demokratische Sektor Berlins“ sei der kulturelle Mittelpunkt ganz Deutschlands4, der international ausstrahle, aber auch zum „Vorbild für die ganze DDR“ werden müsse.5 Das missionarische Kulturbewusstsein äußerte sich im Osten noch offensiver und propagandistischer als im Westen: Politische und ideologische Offensiven müßten gegenüber der Bundesrepublik und West-Berlin „die kulturelle Überlegenheit“ der DDR verdeutlichen. Antiwestliche Offensiven auf allen Gebieten von Kultur und Kunst hätten „im sozialistischen Teil Berlins und in den Randgebieten“ zu beginnen und müssten immer mit einer „weiteren Verbesserung der Qualität aller kulturellen Leistungen für unsere eigene Bevölkerung“ verbunden sein.6 Der integrative Aspekt war für West-Berlin keineswegs minder wichtig, trat aber zeitweilig hinter der kulturellen Propaganda nach außen zurück. Das entspreche der West-Berliner Insellage, die angesichts der Ost-Berliner Konkurrenz auch nur durch die Einbeziehung in die „Kulturwerbung des Bundes“7 zu überwinden sei, meinten die Protagonisten. Zwar war in Ost-Berlin besonders nach 1955 die Tendenz erkennbar, Kultur vorrangig als innere Herrschaftsstabilisierung zu behandeln, doch betonte sein Magistrat, dass er als „rechtmäßiger Vertreter der Kultur für ganz Berlin“ seine Kulturarbeit so zu organisieren habe, dass sie „zum Anziehungspunkt der Westberliner Arbeiterklasse wird“. Deshalb sei Kulturpolitik auch immer unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkung auf West-

3 Zitiert nach Westermann, Mitte und Grenze, S. 81. 4 Vgl. Redemanuskript (offenbar von Waldemar Schmidt), 31.5.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 1315. 5 Vgl. „Direktive des Magistrats von Groß-Berlin für die Aufstellung des Haushaltsplanes 1958“, 27.9.1957, in: ebd., B Rep. 6, Acc. 2221, Nr. 1862. 6 Ministerium für Kultur der DDR: „Aufgaben des Ministeriums für Kultur auf dem Gebiet der kulturellen Arbeit mit Westdeutschland“, Vertrauliche Kollegiumsvorlage, 6.3.1959, in: BArch, Berlin, DR1/7968, S. 113. 7 Vgl. Schreiben von Wallner-Basté (Leiter des Kunstamtes der Senatsverwaltung für Volksbildung) an Senatsdirektor Hirschfeld, 17.3.1956 sowie Vermerk von Wallner-Basté, 5.7.1958, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1737.

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Berlin zu analysieren.8 Demgegenüber erhob der Senat ebenfalls einen Gesamtberliner Kulturanspruch, unterließ es aber, ihn durch „die Beeinflussung“ des OstBerliner Kulturlebens, seiner Gremien und Träger „vor Ort“ systematisch durchsetzen zu wollen. Das hätte zumindest ansatzweise die Akzeptanz einer kommunistisch gesteuerten Ost-Berliner Kulturwirklichkeit bedeutet und spezifischer Kontakte bedurft, die der Senat prinzipiell ablehnte. Die SED hingegen favorisierte sie, solange sie ihr politisch von Nutzen schienen. So verfolgte ihre Führung eindeutig ein Konzept der Einmischung: Man müsse „die kulturelle Entwicklung in Westberlin von uns aus mitbestimmen“. Das bedeute auch den Ausbau der Beziehungen zu West-Berliner Kunstschaffenden.9 Diese unterschiedlichen Sichten führen zu der Frage, inwiefern beide Seiten tatsächlich den viel strapazierten Satz verinnerlicht hatten, dass die Kultur ein wichtiges Bindeglied zwischen den politisch getrennten Teilen Berlins sei. Über die Mitte der 50er Jahre hinaus entstand bei vielen Zeitgenossen, insbesondere Kulturschaffenden und Künstlern, der Eindruck, dass sich Ost-Berlin vielleicht doch mehr als der Westen für die kulturelle Einheit der Stadt engagiere und eine „Pflegestätte“ der humanistischen deutschen Kultur sei.10 Werde West-Berlin überdies, eben weil der Senat die Angebote des Magistrats zur „Normalisierung des kulturellen Lebens in ganz Berlin“ ablehnte, zur „provinziellen Bedeutungslosigkeit erniedrigt?“11, fragte die Konkurrenz. Stärker als im Westen wurde im Osten Kultur instrumentalisiert. So blieb sie immer auch ein Mittel zur „Lösung der politischen und ökonomischen Aufgaben“, zur politischen Bewusstseinsbildung und zur Abwehr bürgerlicher Ideologie.12 Wenngleich Kultur in Ost-Berlin einen erheblichen Eigenwert als Bildung und Emanzipation besaß, Kunst auch Unterhaltung hieß, und es der Ehrgeiz vieler Ost-Berliner Politiker blieb, etwas Schönes „und auf allen künstlerischen Gebieten […] Großartiges“ zu schaffen13, war sie massiven politischen Eingriffen ausgesetzt: Die SED diktierte beispielsweise, wie noch zu sehen sein wird, die Spielpläne der 8 Protokoll der Konstituierenden Sitzung (des Ost-Berliner Künstlerischen Beirats), 31.1.1958, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 74. 9 Magistrat, Abteilung Kultur, Protokoll der Dienstbesprechung am 12.3.1954, in: ebd., Nr. 2. 10 Vgl. Magistrat, Abteilung Kultur, undatierter Sommerveranstaltungsplan (Frühjahr 1956), in: ebd., C Rep. 124, Nr. 353. 11 Vgl. SED-BL Berlin: „Thesen für das Referat [Fechners], Die Aufgaben auf dem Gebiet der Kultur“. (Für die 7. Tagung der Volksvertretung von Groß-Berlin am 28.11.1955), 8.9.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 240, Bl. 174. 12 Vgl. Magistrat, Abteilung Kultur (Stadträtin Blecha): „Monatsbericht über die Durchführung des Magistratsbeschlusses 240“, 30.7.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 41. 13 Protokoll der Dienstbesprechung der Abteilung Kultur des Magistrats am 11.12.1953, in: ebd., Nr. 1.

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Ost-Berliner Theater, Varietes und Kabaretts, wenn es galt, den „sozialistischen Realismus“ wider angebliche kosmopolitische, formalistische und pazifistische Tendenzen durchzusetzen.14 West-Berlins antikommunistische Kulturpolitik enthielt sich hingegen der Manipulationen und Eingriffe. Zwar wirkten auch dort verschiedene Interessen und Einflüsse. Doch hielt sie im Prinzip am Gedanken kultureller Autonomie und pluralistischer Gestaltungsfreiheit fest. Die geistige Mission der Kunst sei es, ein kulturelles Weltpanorama vorzuführen; und die Spielpläne der Theater müssten so „an der exponiertesten Stelle unserer westlichen Welt einen Überblick geben über den ganzen Reichtum dessen, was der Westen zu bieten hat“.15 Damit standen sich im geteilten Berlin zwei kulturpolitische Konzeptionen unversöhnlich gegenüber. In seinem Westteil gedachte man, die östliche Konkurrenz durch die steigende Attraktivität des Kulturangebots der „freien Welt“, durch eine nicht mehr zu brechende Anziehungskraft, zu überwinden. Die SED setzte ebenfalls auf Magnetismus und praktizierte wie der Westen kulturpolitische Abgrenzung, entwickelte aber entgegen ihrer offensiven Konzeption eine zunehmend defensive Strategie zur Abwehr West-Berliner Einflüsse. Der Staatspartei wurde in der Praxis bewusst, dass die „engen Verbindungen“ zwischen Ost- und West-Berlin es dem „Klassenfeind“ erlaubten, den Ost-Sektor ideologisch-kulturell direkt zu beeinflussen – vor allen „die rückständigen Arbeiter“.16 Auch machten die „Einflüsse der bürgerlichen Unmoral und Dekadenz“ nicht an der Grenze zum „demokratischen Berlin“ halt, meinte sein Ständiger Stellvertretender Oberbürgermeister.17 Es gelte also, dagegen einen unerbittlichen Kampf zu führen und gerade viele Jugendliche und andere gutgläubige Menschen aus dem Ostteil der Stadt durch eigene überzeugende Kulturangebote vom „Frontstadtsumpf“ fernzuhalten. „Ein Kinobesuch in Westberlin oder der Aufenthalt in einer Bibliothek endeten nicht selten in den Netzen der imperialistischen Geheimdienstorganisationen“18, lautete die zählebige Schutzbehauptung. Richtig bleibt, dass im geteilten Berlin eine kulturelle Konkurrenz entbrannte, die in den Augen vieler Zeitgenossen über Jahre unentschieden war. 14 Anhang zur SED-Sekretariatsvorlage: „Kampf gegen Schmutz und Schund“, 11.9.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 168, Bl. 119. 15 „Der Tagesspiegel“, 24.8.1951. 16 Vgl. SED-BL, Abteilung Kunst und kulturelle Massenarbeit, Vorlage an das SED-Sekretariat: „Einsetzung eines Sekretärs für Kultur beim FDGB-Bezirksvorstand“, 20.9.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 248, Bl. 31. 17 Vgl. Entwurf eines Interviews mit Waldemar Schmidt, Mai 1961, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 200. 18 Ruth Kähler, Varianten ohne Perspektive. Zwei Jahrzehnte Bonner Kulturpolitik gegen die DDR, Berlin (O) 1972, S. 32f.

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Kulturwettbewerb blieb immer eine finanzielle Frage. Das im Westen überstrapazierte Argument, Ost-Berlin verfüge über unbegrenzte Mittel für Kultur und seine Theater hätten sogar mit „Westgeld“ keine Etatprobleme19, resultierte einerseits aus der Erkenntnis, dass die SED aus politischen und ideologischen Gründen in Relation zu anderen gesellschaftlichen Bereichen in die Bühnen überproportional investierte (was, in engeren Grenzen, auch in West-Berlin so war) und andererseits aus der östlichen Propaganda selbst, deren Kernbehauptung, der Sozialismus gebe mehr für Bildung, Kultur und Kunst aus, der Westen offenbar akzeptierte. Abgesehen von der Frage, inwiefern die West-Berliner Politik mit diesem Konstrukt aus Dichtung und Wahrheit eigene Schwächen zu überdecken oder zu erklären versuchte, herrschte in Ost-Berlin auch in den Theatern ein mehr hinter den Kulissen wirkendes Sparsamkeitsregime mit etatistisch begründeter, wenngleich häufig versagender Disziplin.20 Wie in West-Berlin wurde die Kultur größtenteils über die öffentlichen Haushalte subventioniert; in beiden Teilen der Stadt versuchte die Administration, die Zuschüsse vor allem durch eine hohe Auslastung der Theaterplätze bzw. durch Einnahmen der Kultur-Dienstleister in Grenzen zu halten; in Ost-Berlin, wie es den Anschein hat, systematischer und nicht ohne Erfolg.21 Ein wichtigeres Instrument des Ost-Berliner Kulturmanagements war der sogenannte Kulturfonds. Im April 1950 für die gesamte DDR ins Leben gerufen, lag ihm als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit einer eigenen Struk-

19 Vgl. Karl Pagel, Die kulturelle Lage, in: Berlin Sowjetzone. Die politische, rechtliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung in acht Berliner Verwaltungsbezirken, Berlin (W) 1965, S. 184. 20 So maßregelte die SED-Führung Berlins im Oktober 1952 gleich vier Verwaltungsdirektoren: Der „Genosse Bauer“ („Komische Oper“) sei wegen „groben Planverstosses“ sofort abzulösen. Da er die Erwartungen der SED nicht erfüllt habe, sei gegen ihn ein Parteiverfahren zu eröffnen. Dem Verwaltungschef des „Metropol-Theaters“ sei wegen „Planüberschreitung“ im Zusammenhang mit seiner sofortigen Beurlaubung eine Rüge zu erteilen. Sie erhielt auch der Verwaltungsdirektor des „Theaters am Schiffbauerdamm“ aus dem gleichen Grund. Gegen den bereits entlassenen Verwaltungsleiter des „Friedrichstadt-Palastes“ wurde gar ein Wirtschaftsstrafverfahren eingeleitet. Andere Angestellte erhielten Verweise. Es sei jedoch zu prüfen, gab die Parteileitung zu bedenken, inwieweit die Disziplinarmaßnahmen in der Parteipresse veröffentlicht werden sollten, da die Theater öffentlich in Misskredit gebracht werden könnten und dadurch „indirekt die Stellung der Intendanten (Felsenstein, Wisten) kritisch angesprochen wird“. Das sei eine politische Frage. Protokoll Nr. 18/1952 der Sitzung des Sekretariats der SED-BL am 30.10.1952, in: LAB, C Rep. 901, Nr. 174, Bl. 8. 21 Ende 1954 wurde der SED-BL eine Auslastung insgesamt von 85 Prozent und die Erhöhung der Anrechte von 79.000 auf 96.000 gemeldet. Vgl. ebd., C Rep. 902, Nr. 220, Bl. 73.

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tur22 ein besonderes Abgabensystem zugrunde. Gesetzlich geregelt, flossen dem Fond und seinen territorialen Gliederungen ein sogenannter „Kulturgroschen“ zu, die jeder Eintrittskarte für kulturelle Veranstaltungen, aber auch den Preisen in Gaststätten, für verkaufte Bücher, Schallplatten, Reproduktionen u.a.m. differenziert aufgeschlagen wurde.23 77 Prozent der beträchtlichen Einnahmen, von denen der „Berliner Kulturfonds“ am meisten profitierte, verteilte sein zentrales Kuratorium; über 20 Prozent der Gelder verfügte der DDR-Ministerpräsident zwecks zentraler kultureller Aufgaben und die restlichen drei Prozent dienten dem Unterhalt des Fonds.24 Die eingebrachten Mittel kamen sowohl den Theatern und anderen kulturellen Stätten sowie bestimmten Organisationen als aber auch „fortschrittlichen Kräften in Kunst und Wissenschaft“ zugute. Weitere Erträge aus dieser indirekten, den Konsumenten wenig belastenden Steuer bildeten eine Grundlage für den Ankauf von Kunstwerken, die Vergabe von Darlehen und „sozialen Hilfen“ an Einzelne sowie für die Förderung des künstlerischen Nachwuchses. In den Genuss dieser Unterstützungen sollten insbesondere Theaterund andere Künstler kommen, die engagiert am sozialistischen Aufbau teilnahmen, dabei die „Methoden des sozialistischen Realismus“ anwandten und insbesondere gegen „formalistische Tendenzen“ angingen.25 Dennoch entschieden die Auswahlkommissionen – etwa bei der Erteilung von Aufträgen und beim Erwerb von Kunstwerken – in der Regel sachkompetent.26 Dabei zeigte sich einmal mehr, dass der Ost-Berliner Alltag zwar diktatorisch eingerahmt, aber nicht „totalitär“ durchherrscht war. Vernünftig schien auch das konsequent durchgehaltene Prinzip, dass dem Berliner Kulturfonds keine regulären staatlichen Mittel zufließen dürften, aber er

22 Dem Fonds standen ein zentrales Kuratorium und in Ost-Berlin und den DDR-Bezirken regionale Kuratorien vor. Die Geschäftsführung unterlag einem Generalsekretär, dem die Bezirkssekretäre und ihre Apparate unterstellt waren. Vgl. Schreiben des Generalsekretärs Volkmann an den Berliner Kulturfonds, 27.7.1953, in: ebd., C Rep. 131, Nr. 328. 23 Auf Theater- und Kinokarten sowie Rundfunkgebühren wurden 5 Pfennige, auf den Eintritt in Tanz-, Ball- und Konzertveranstaltungen, in Konzertgaststätten aller Art und auf jede verkaufte Schallplatte 10 Pfennige aufgeschlagen. Ein Prozent des Ladenpreises für Bücher und Reproduktionen gingen ebenfalls an den Fonds. Vgl. Verordnungsblatt für GroßBerlin, 7. Jg., Nr. 33, 29.5.1951 und Information des Sekretariats des Berliner Kulturfonds, 8.2.1951, in: ebd. 24 Vgl. ebd., Nr. 366. 25 Vgl. Arbeitsplan des Kuratoriums des Kulturfonds Berlin, undatiert (Sommer 1952), in: ebd., Nr. 328. 26 Vgl. Schreiben des Sekretariats des Kulturfonds an den „Verband Bildender Künstler im Kulturbund“, 8.11.1952, in: ebd.

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umgekehrt auch nicht für Aufgaben in Betracht käme, „die üblicherweise im Rahmen des Haushaltes finanziert werden“.27 Trotz des Fonds und aller Sparmaßnahmen vergrößerte sich der Anteil des Magistratsetats an der Aufrechterhaltung des Ost-Berliner Theaterbetriebes.28 Nachtragshaushalte und besondere Subventionen standen auf der Tagesordnung.29 Wie die West-Berliner Spielstätten überzogen ihre Pendants häufig „generös“ ihre Etats. Dagegen halfen die Androhung von Sanktionen und einige Partei-Strafen wenig. Da die Platzauslastung von Theater zu Theater und von Jahr zu Jahr verschieden war, konnte der Subventionsbedarf30 nicht exakt festgestellt werden – auch das war im Westen nicht anders. Der Senat hatte aber weniger Spielstätten zu unterhalten, insbesondere kein Operetten- oder Revuetheater. So musste er in dieser Hinsicht weniger „Federn lassen“ als der Ostmagistrat, der 1951 den „Friedrichstadtpalast“ in seine Verwaltung übernommen hatte. Das kostete ihn gleich in der ersten Spielzeit 1,3 Mio. Ostmark.31 Sieht man einmal von den finanziellen Zuwendungen kultureller Stiftungen und von privaten Spenden ab, lasteten die Kosten für den öffentlichen Kulturbetrieb in West-Berlin im Wesentlichen auf 27 Magistratsbeschluß Nr. 920 vom 21.2.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 864, Bl. 149. 28 1950 betrugen die regulären Haushaltssubventionen für die Magistratstheater 5,587 Mio. Ostmark („Komische Oper“ 3,427 Mio., „Theater am Schiffbauerdamm“ 0,959 Mio., „Metropol-Theater“ 1,2 Mio.), 1951 bereits 9,257 Mio. Ostmark (in der Reihenfolge der aufgeführten Theater: 5,027, 1,647, 2,583 Mio.). Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 611 vom 4.1.1951 und Nr. 880, in: ebd., Nr. 854, Bl. 80 und Nr. 864, Bl. 7f. 29 1950 für die genannten drei Spielstätten in der Höhe von 2,8 Mio. Ostmark, 1951 waren es „nur“ ca. 1,5 Mio. Vgl. ebd. Hinzu traten nicht geplante Kosten, die durch unvorhersehbare Ereignisse, aber auch sozialpolitische Beschlüsse (Beispielsweise zur Subventionierung von Kinder-Theaterbesuchen) entstanden. Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 692 vom 5.5.1951, in: ebd., Nr. 857, Bl. 55. 30 1957 stiegen die planmäßigen Subventionen für die drei Theater des Magistrats auf insgesamt 15,23 Mio. Ostmark (von insgesamt 27 Mio. für die gesamten Kulturleistungen der Stadtverwaltung) an. Der Zuschuss pro Zuschauerplatz betrug z.B. in der „Komischen Oper“ 5.921 Ostmark, in der „Volksbühne“ 2.870 und im „Metropol“ 1.985. Die „Komische Oper“ hatte zwar einen hohen Auslastungsgrad (1956 = 79 Prozent), gab aber ungleich mehr Geld für ihre Inszenierungen als die anderen Theater aus. Das schlug sich auf die Statistik der Platzzuschüsse deutlich nieder. Vgl. Analyse des Magistrats, 24.3.1958, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 326, Bl. 151. 31 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 878 vom 17.1.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 864, Bl. 4. Der „Friedrichstadtpalast“, bei den Nazis das „arisierte“ „Theater des Volkes“ war am 19.10.1950 durch die Magistratsverordnung „über die Verwertung von Vermögen der aufgelösten NSDAP“ ohne Rücksicht auf seinen jüdischen Eigentümer, den Theaterregisseur Max Reinhardt (bzw. dessen Deszendenz), in Volkseigentum überführt worden.

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dem städtischen Haushalt und dem Etat der ihn subventionierenden Bundesregierung. Gemessen am Bedarf blieben die Subventionen unzureichend. Erst mit dem langjährigen Berliner Aufbauplan (1955) sprudelten die öffentlichen Geldquellen etwas reichlicher32; eine wirkliche Wende trat 1957 mit dem Gesamtberliner Kulturplan ein. Bis dahin waren die kulturellen Subventionen der Bundesrepublik in der Regel erst nach absichtsvollen Verweisen des Westmagistrats/Senats auf die östliche Konkurrenzgefahr nicht nur für die Bühnen und andere Kulturstätten geflossen. Ob Tagungen, Ausstellungen oder sonstige Veranstaltungen: Um Geld bat der Senat mit dem „immergrünen“ Argument, dass „der Osten dauernd ähnliche Veranstaltungen macht, wodurch die Bedeutung des Westens sehr herabgedrückt“ werde.33 Auch verwies die Westverwaltung auf die Notwendigkeit, Kulturaufenthalte von Ostdeutschen zu subventionieren. Schon 1950 war dafür ein zentraler Fond im Gespräch34, blieb aber aus Kostengründen aus: Wie im Großen so im Kleinen. West-Berliner Theater, Organisationen, Verbände und Klubs bedienten sich bei der Bitte um finanzielle Unterstützungen des gleichen ostbezogenen Begründungsschemas. Dafür ein typisches Beispiel: OstBerlin verfüge über den finanziell großzügig ausgestatteten Künstlerclub „Die Möwe“, berichtete dessen West-Berliner Konkurrent, der „Deutsche BühnenKlub e.V.“ Er aber habe keine Mittel und ersuche den Senat deshalb um 10.000 Westmark für seine laufende Arbeit im „Gesamtberliner Interesse“. Denn von der „Möwe“ gingen ständig „starke Propagandaaktionen zur politischen Beeinflussung der Berliner Künstler aus, die sich vor allem auf Westberlin erstrecken“. Die Verantwortlichen gaben Bürgermeister Amrehn dezent die Nachteile zu bedenken, die bei einer Ablehnung des Antrages entstünden.35 Hier wurden zwei Tendenzen des Senats bei der Beurteilung des Ost-Berliner Wettbewerbsgegners deutlich: Zum einen überschätzte er dessen Möglichkeiten und Wirkungen und zum ande32 Vgl. Senatsbeschluß Nr. 1299/55 vom 5.12.1955 „über Ansätze im Rechnungsjahr 1956 für Vorhaben des Langfristigen Aufbauplans für Berlin“, in: LAB, B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408. 33 Interne Information der Haushaltsabteilung des Westmagistrats: „Begründung der Mehrausgaben im Rechnungsjahr 1951“, 8.5.1951, in: ebd., Rep. 6, Acc. 2221, Nr. 1863. 34 Vgl. Berlin kommt wieder. Ein Buch vom wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau der Hauptstadt Deutschlands, Berlin (W) 1950, S. 45. 35 „Ich-bezogene Künstler können, so hieß es, „auch einflußreiche Propagandisten einer politischen Idee sein. Würde der kunst- und künstlerfreundliche Kommunismus nicht durch seine politischen und sonstigen Zwangsmaßnahmen […] und durch ständige Bevormundung auf fast allen Gebieten dem Unabhängigkeitsdrang der Freischaffenden hundertprozentig entgegenstehen, es würde unter den Kunstschaffenden wohl keinen mehr geben, der dem Sowjetsystem nicht anhängt.“ Schreiben von Carlbergh, Leiter des Gesamtberliner Büros des Senats, an Franz Amrehn, 24.8.1956, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1512, Nr. 1785, Bl. 6,8.

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ren zeigte sich zeitweilig eine beinahe irrationale Angst, dass West-Berlin im Begriff sei, an den Sowjetsektor „wichtiges Terrain“ zu verlieren.36 Dieser Pessimismus diente zwar ebenfalls dem Streben nach Subventionen aus Bonn, zeigte aber bei einem mentalen Vergleich, dass die Kulturpolitiker in Ost-Berlin nie anders als optimistisch dachten und Unterlegenheitsgedanken offenbar nicht aufkommen ließen. Selbst kulturelle Erfolge West-Berlins deuteten sie als dem Druck seiner „Werktätigen“ geschuldet, die ihrerseits durch die progressiv-„optimistische“ OstBerliner Politik bewegt würden.37 Die Maßnahmen der jeweiligen Konkurrenz verfolgten beide Seiten aufmerksam. Sowohl in West- als auch in Ost-Berlin fühlten sich alle in die Auseinandersetzung involvierten Senats- und Magistratsstellen als Beobachter und Berater angesprochen. So war es für den zentral geleiteten OstMagistrat nicht ungewöhnlich, dass er gelegentlich alle Fachreferenten „zur Einschätzung der Situation in Westberlin“ ausdrücklich anhielt: Sie mögen „sich persönlich über die kulturpolitische Linie in Westberlin informieren“.38

1.2 Institutionen und Gremien zwischen Kulturkonkurrenz und Kontaktversuchen Die diffizile Position der regionalen Kultur Berlins und seiner es umgebenden brandenburgischen Randgebiete resultierte in erster Linie aus den gewachsenen Verflechtungsbeziehungen, die politisch unterbrochen waren, aber im gesellschaftlichen Alltag weiterwirkten. Senat und Magistrat waren sich dessen bewusst. Angesichts des nicht exakt zu prognostizierenden Alltagsverhaltens ihrer „Kulturbürger“ fragten sie sich, wie man sie unter den sich wandelnden politischen und sozialen Bedingungen, aber auch instabilen kulturellen Bedürfnissen weiterhin erreichte, gewollte kulturpolitische Tendenzen förderte und sich dabei gleichzeitig voneinander abgrenzte. Eine darauf abzielende Politik war auf Konsens und Bündnisse angewiesen. Dafür bot die breite Palette der im weitesten Sinn kulturellen Or36 Vgl. Vermerk von Wallner-Basté: „Betr. Berliner Kulturwerbung“, 5.7.1958, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1737. 37 Die Erfolge des kulturellen Aufbaus im Ostteil der Stadt würden das Bewusstsein der „fortschrittlichen Bevölkerung“ in West-Berlin und ihren Kampf gegen die „volksfeindliche Kulturpolitik des westberliner Senats“ stärken und ihn zwingen, „bestimmte Kulturvorhaben wie den Wiederaufbau der Städtischen Oper in Charlottenburg, die Finanzierung des Zoologischen Gartens, den Aufbau größerer Volksbüchereien usw. durchzuführen“. SED-BL Berlin: „Thesen für das Referat [Fechners], Die Aufgaben auf dem Gebiet der Kultur“ (Für die 7. Tagung der Volksvertretung von Groß-Berlin am 28.11.1955), 8.9.1955, in: LA Berlin, C Rep. 902., Nr. 240, Bl. 174f. 38 Vgl. Abteilung Kultur des Magistrats, Protokoll über die Dienstbesprechung am 7.9.1955, 12.9.1955, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 2.

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ganisationen, Vereine, Interessengemeinschaften, Klubs u.a.m. verschiedene Chancen, barg aber auch Risiken in sich. Beispielsweise war es auf beiden Seiten häufig nicht klar, welche Positionen sie zur Frage von konkreten Gesamtberliner Kontakten einnehmen würden. Das galt auch für Einzelpersönlichkeiten des Kulturlebens. Die Behandlung politischer Unzuverlässigkeit durch die Regierenden war allerdings mehr ein Problem des rechtsstaatlich-parlamentarischen Westens als das Ost-Berlins. Denn Opposition schloss sich dort weitgehend aus. Die SEDKontrollpraxis ließ große Lücken nicht zu, konnte aber dennoch nicht flächendeckend sein. Das verhinderten allein schon die offenen Grenzen und die vielfältigen Kontaktmöglichkeiten, die West-Berlin offerierte. Und immer hing das Damoklesschwert einer kurzzeitigen kulturellen Republikflucht mit „Rückfahrkarte“ über den Häuptern der Ost-Berliner Verantwortlichen. Doch musste auch die Senatsadministration befürchten, dass Künstler, wie zu sehen sein wird, aus irgendwelchen Gründen in den Osten überwechselten oder dort zumindest beruflich „fremdgingen“. Kunst ging eben nach Brot. Auf beiden Seiten suchten die „Obrigkeiten“ nach verlässlichen kulturpolitischen Verbündeten, vor allem nichtstaatlichen Organisationen. Sie fanden sich in West-Berlin beispielsweise im „Kongreß für kulturelle Freiheit“, faktisch eine Gegengründung zum östlichen „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und später in der „Liga für Geistesfreiheit“. Schließlich ging aus dem Gründungsausschuss des „Freien Kulturbundes“ die zunächst sehr kulturpolitisch motivierte KgU hervor.39 Sie und der „Kongreß für kulturelle Freiheit“ zeichneten sich durch eine „aggressive Kulturpolitik“ aus40, speziell durch militante Kritik an westlichen Schriftstellern sowie Künstlern, die „dem sowjetzonalen Liebeswerbungen“ nachgegeben hätten – also missliebige Ost-West-Kontakte pflegten – und die nun (teilweise in Listen erfasst) öffentlich denunziert wurden.41 Diese Organisationen besaßen aber nicht nur eine Abschreckungsfunktion, sondern verstanden sich ebenfalls als Instrumente zur Schaffung einer kulturellen „hauptstadtähnlichen Repräsentanz“ mit Ausstrahlung in den Osten.42 Zu einem Dorn im Auge der kommunistischen Politiker gerieten nicht zuletzt die kulturellen Häuser der Westalliierten („Amerikahaus“, „British Centre“, „Maison de France“). Als besonders suspekt stellte sich ihnen das „Amerikahaus“ dar, weil es viele Ost-Berliner allen repressiven Maßnahmen zum Trotz stark besuchten. Al39 Vgl. Meyer, „Auch die Wahrheit“, S. 42–46. 40 Vgl. Henning Müller, Theater der Restauration. Westberliner Bühne, Kultur und Politik im Kalten Krieg, Berlin (O) 1981, S. 168f. 41 Vgl. Meyer, „Auch die Wahrheit“, S. 46f. 42 Vgl. Thomas Flierl, Kulturpolitische Aufgabenteilung in Berlin nach 1945, in: Mitteilung aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Heft 35, 1995, S. 31.

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lein vom 1. Januar bis 31. Mai 1952 zählte das Haus 76.517 Ostdeutsche.43 Seinen interessanten Programmen über das Leben in den USA setzte die östliche Kulturpolitik, gestützt auf das „Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ in BerlinMitte, ebenfalls anspruchsvolle Veranstaltungen über Kultur und Alltag in der UdSSR entgegen: Die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (kurz: DSF) führte zahlreiche Aktivitäten, trotz einiger Behinderungen, in West-Berlin durch und freute sich, dass beispielsweise im Dezember 1953 24.000 WestBerliner in 163 Veranstaltungen dabei gewesen seien und im gleichen Monat noch einmal Zehntausend bei einem Auftritt des Ensembles der sowjetischen Streitkräfte im Ostsektor.44 Sorgen bereiteten der Berliner SED-Führung hingegen das von ihr initiierte „Hilfskomitee der westberliner Intelligenz“. Offenbar erkannten die in West-Berlin Angesprochenen, dass es hier weniger um willkommene materielle Unterstützungen ging, als um die politische Organisierung der westsektoralen Intellektuellen „zum Kampf um ihre ureigensten Forderungen“. Die von Steffi Spira geleitete Gründungsversammlung geriet zum Fiasko, weil den etwa 3.000 Einladungen an West-Berliner Künstler und Intellektuelle beinahe niemand folgte und so die erhoffte „Mobilisierung“ ausblieb.45 Auch fristete der 1958 vom Magistrat ins Leben gerufene Gesamtberliner „Kulturpolitische Beirat“ mit der Aufgabe, „die generelle Linie der Kulturarbeit für ganz Berlin festzulegen“46, ein Schattendasein. Gleichfalls verliefen beispielsweise die Bemühungen der SED, in den Westsektoren eine der ostdeutschen „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse“ ähnliche Organisation zu schaffen, auch deshalb im Sande, weil sie vorrangig mit dem dialektischen Materialismus vertraut machen wollte.47 Allerdings fand die Gesellschaft (seit 1966: „Urania“) für die von Ost-Berlin aus organisierten, tatsächlich wissenschaftlichen Vorträge später viele Freunde.48 Alles in allem widerspiegelten verschiedene Aktionen auf beiden Berliner Seiten das Bemühen, aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus kulturell gesamtstädtisch zu agieren und sich dementsprechende Strukturen zu erhalten oder neu zu 43 Vgl. Office der HICOG, Berlin Element, Public Relations Branch, 4–6–1952, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3201/II. 44 Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL Berlin: „Bericht über die Durchführung des Monats der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Groß-Berlin“, 29.12.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 181, Bl. 87f. 45 Kulturabteilung der SED-LL Groß-Berlin: „Bericht über die Konferenz der westberliner Intelligenz am 27.9.1950 im Funkhaus“, 3.10.1950, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 994. 46 Protokoll der Konstituierenden Sitzung am 31.1.1958, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 74. 47 Vgl. Abteilung Agit./Prop. Der SED-BL: Vorlage an das Büro der BL „Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse in Berlin“, 19.10.1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 392, Bl. 56. 48 Vgl. Bericht, 19.9.1960, in: ebd., Nr. 438, Bl. 67f.

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schaffen. In beinahe allen Fällen standen dabei der Kalte Krieg und politischinstrumentale Absichten Pate. Dieser Umstand führt zu der Frage zurück, inwiefern Gesamtberliner oder als solche ausgegebene Arbeit tatsächlich noch zum Erhalt des kulturellen Verflechtungsgebiets beitragen sollte oder aber lediglich die Camouflage abgab für eine zwar nicht immer gewünschte, aber letztlich akzeptierte Teilung des kulturellen Lebens. Eine generelle Antwort fällt angesichts vieler Ambivalenzen schwer. Wichtige kulturelle Institutionen stellten nach der politischen Teilung Berlins, wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, Parallelgründungen dar. Betrachtet man das prominente Beispiel Kunst, so stand ihr in OstBerlin die repräsentative Deutsche Akademie der Künste vor, im Westteil der Stadt eine Konkurrenzgründung (1954) gleichen Namens. Hier handelte es sich um zentrale, kulturpolitisch relevante Einrichtungen mit großer Außenwirkung. Ob Kulturinstitutionen geteilt, gedoppelt oder aber in ursprünglicher Form weiterbestanden, hing von ihrer Funktion und Wichtigkeit ab, im gleichen Maße aber auch vom Grad ihrer Beeinflussbarkeit durch die eine oder andere Konkurrenzpartei. In einigen Fällen, die auf den ersten Blick politisch eher belanglos sein mochten, spielten wahrscheinlich die Zufälligkeiten des Alltags, aktuelle Entwicklungen und Konstellationen, mit Sicherheit aber auch persönliche Motive eine Rolle – etwa bei der Initiierung von kulturellen Arbeitsgemeinschaften und Clubs. Etwas anders verhielt es sich mit Gremien, die eindeutig von der SED ins Leben gerufen waren, einen Gesamtberliner Anspruch erhoben, aber faktisch deren überparteilich aufgezogene Einflussarbeit in West-Berlin betrieben. Wie das bereits genannte „Großberliner Komitee der Kulturschaffenden“ und der „Club der Filmschaffenden“ blieben ihre Bilanzen, gemessen am finanziellen und organisatorischen Aufwand, weit hinter den Erwartungen ihrer Auftraggeber zurück. Sie zogen deshalb von Zeit zu Zeit eine Auflösung in Erwägung, unterließen sie aber aus Gründen der Gesamtberliner Propaganda.49 Zu Beginn der 50er Jahre, vermehrt dann in der kurzen Periode des „Neuen Kurses“, fanden in Berlin noch gemeinsame Kunstausstellungen statt – im Juni 1954 letztmalig eine zentrale Berliner Exposition. Zwar bescheinigte ihr der Magistrat „in der Thematik […] sehr grosse Schwächen“50, tolerierte jedoch ihre pluralistischen Aussagen. 1954, in einer Phase relativer Beruhigung nach dem ostdeutschen Volksaufstand, verstärkten sich die Innerberliner Kontakte zwischen Künstlern und Kulturschaffenden. In einem Hotel im US-amerikanischen Sektor trafen sich im November und Dezember 1954 deren Vertreter aus Ost- und West-Berlin, um Aspekte eines „Gesamtberliner Kulturlebens“ zu diskutieren. Wenngleich die östliche Seite erfah49 Vgl. Abteilung Volksbildung und Kultur der SED-BL, Vorlage für das Büro der BL, 6.1.1958, in: ebd., Nr. 353, Bl. 17. 50 Schreiben von Fechner an Ebert, 2.6.1954, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238.

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rungsgemäß direkt oder aber mittelbar im Auftrag der SED handelte, sollte ihren hochkarätigen Abgesandten – u.a. die Dichter Bertolt Brecht und Willi Bredel, Kultusminister Johannes R. Becher und Intendant Wolfgang Langhoff51 – zugebilligt werden, dass sie auch aus Gesamtberliner Verantwortung heraus und mit bestem Willen agierten. Zeichen für eine Innerberliner Entspannung setzten auch DEFA und West-Berliner Künstler mittels gemeinsamer Filmproduktionen. Es gebe keine West- und Ostschauspieler, meinte der DEFA-Besetzungschef, „sondern lediglich deutsche Schauspieler“.52 Im gleichen Jahr traten mit stillschweigender Billigung von Senat und Magistrat zu verschiedenen Anlässen der Männerchor Weißensee und der Neuköllner Männergesangsverein „Orpheus“ gemeinsam in beiden Teilen der Stadt auf53, und christliche Chöre trafen sich Ende 1957 dort zum Weihnachtssingen. Desgleichen fand 1956 in Ost-Berlin das erste Gesamtberliner Arbeitersängerfest statt – unter offizieller Teilnahme der Landesgruppe West-Berlin des Deutschen Allgemeinen Sängerbundes. Sie habe „ein eigenes Konzert mit Zustimmung ihres Senats durchgeführt“54, wie es in einem Bericht hieß. Umso erstaunlicher war es, dass das Sekretariat des ZK der SED im Sommer 1959 ostdeutschen Chören untersagte, am Bundessängerfest des Deutschen Allgemeinen Sängerbundes (im September 1959) teilzunehmen – knapp drei Jahre also, nachdem dieser als Gast in Ost-Berlin weilte. Das Ablehnungsschreiben des eingeladenen DDR-Chorausschusses hatte das ZK bereits wörtlich formuliert. Es schob fadenscheinige politische Gründe vor.55 In diesem Fall spielten eindeutig Außeneinwirkungen (Berlinkrise) eine Rolle. Hingegen waren bei einer missglückten Kontaktaufnahme zwischen den beiden Berliner Zille-Komitees persönliche Animositäten mitbestimmend.56 In anderen Fällen – zumeist Jubiläen – 51 Vgl. Steinhage/Flemming, Berlin – Vom Kriegsende bis zur Wende, S. 69. 52 Zitiert nach: Ralf Schenk, Mitten im Kalten Krieg. 1950–1960, in: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946–1992, hrsg. vom Filmmuseum Potsdam, Berlin 1994, S. 87. 53 Vgl. Information, undatiert (1954), in: LAB, C Rep. 902, Nr. 220, Bl. 73 und Berlins WestOst-Probleme, Stand: 15.12. 1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156, Bl. 36. 54 Schreiben des Hauses der Volkskunst (Ost-Berlin) an den Amtierenden OB Schmidt, 24.10.1956, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 353. 55 West-Berlin sei zum Kriegsherd geworden und es finde dort demnächst ein „groß angelegtes Revanchistentreffen“ statt. Vgl. Protokoll Nr. 25 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED am 25.1.1959, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3/652. 56 Der bei der SED in „Verschiss“ geratene Kreuzberger Bezirksbürgermeister Kressmann, Mitglied des Zille-Komitees West, hatte dem Leiter des Ost-Berliner Märkischen Museums ein enges Zusammenwirken zwischen den beiden Komitees, die Bildung eines Gesamtberliner Zille-Ausschusses und gemeinsame Ehrungen zum 100. Geburtstag des sozialkritischen Grafikers und volkstümlichen Zeichners vorgeschlagen. Die SED-Bezirksleitung reagierte

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begingen beide Seiten Gedenktage, die zum gemeinsamen historisch-kulturellen Repertoire gehörten, getrennt und damit in Konkurrenz zueinander. Das betraf große Ereignisse – etwa den 250. Jahrestag der Gründung Charlottenburgs (1955) und den 150. Geburtstag der Berliner Universität –, aber auch die weniger spektakulären Feiern von ursprünglich Gesamtberliner Institutionen und Betrieben, die nach 1948 getrennt weiter bestanden: Als die SED-Bezirksleitung Groß-Berlin beispielsweise von der West-Berliner Planung zur 75-Jahr-Feier der BEWAG (Mai 1959) erfuhr, ordnete sie sofort eine Festveranstaltung für die Ost-Berliner BEWAG im Friedrichstadtpalast, wenige Tage vor den Feierlichkeiten in WestBerlin, an. An diesen dürften BEWAG-Beschäftigte des Ostbetriebes auf keinen Fall teilnehmen. Da den Angehörigen der BEWAG-West Jubiläumsgelder ausgezahlt würden, müsse man auch bei ihrem Ost-Pendent „Jubiläumsprämien“ bereitstellen – insgesamt 1,3 Mio. Ostmark57, lautete die Direktive. Bei Angelegenheiten, die „außer Konkurrenz“ liefen, plädierte die SED jedoch durchaus für Gesamtberliner Aktionen, wenn sie politischen Nutzen versprachen und überdies von Ost-Berlin kontrolliert werden konnten. Das betraf nicht zuletzt die von der SED organisierten Gesamtberliner Jugendweihen58, in die der SPD-nahe Freidenkerverband, mit politischer Absicht, eingebunden werden sollte.59 Demgegenüber

brüsk, Kressmann blieb ohne Antwort und der verständigungsbereite Museumsleiter wurde von der Partei zur Verantwortung gezogen. Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL Berlin, Protokoll Nr. 031/57 vom 29.11.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 308, Bl. 4. 57 Vgl. Vorlage an das Büro der SED-BL Berlin: „75-jähriges Jubiläum der Berliner Kraft und Licht (BEWAG)-AG“, 14.4.1959, in: ebd., Nr. 378/1, Bl. 11f. 58 Die SED hatte eine Gesamtberliner „Gemeinschaft für Jugendweihe“ ins Leben gerufen. Die Jugendstundenleiter kamen aus beiden Teilen der Stadt. Die Werbung für die Jugendweihe und ihre konkrete Organisierung waren für West-Berlin den dortigen SED-Kreisleitungen übertragen worden. Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL: „Vorbereitung und Durchführung der Jugendweihe im demokratischen Sektor und Westberlin“, 9.9.1955, in: ebd., Nr. 247/1, Bl. 92–96. 59 Man wollte, „anknüpfend an die starken antireligiösen Tendenzen der sozialdemokratischen Anhänger“ des West-Berliner Freidenkerverbandes, über die Jugendweihe zu „gemeinsamen Aktionen“ mit sozialdemokratischen Genossen kommen. Da überdies die Kirchenleitungen von Brandenburg und Mecklenburg gegen die Jugendweihe „hetzten“, würde deren gemeinsame Durchführung im ganzen Berlin dieser „Hetze“ stark entgegenwirken, und außerdem böte das Angebot an den Freidenkerverband die Möglichkeit von gemeinsamen Aktionen „gegen die Schulreaktion“ in West-Berlin. „Gleichgültig, ob die andere Seite ablehnt oder annimmt, ergeben sich für uns gute Diskussionsgelegenheiten mit den sozialdemokratischen Genossen. Selbstverständlich muß die Durchführung von Jugendweihen in Ost- und Westberlin im Sinne des Beschlusses des Politbüros gewährleistet werden.“ Sekretariat Wengels: Vorlage für das Büro der SED-BL „Betr. Angebot auf Durchführung ge-

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favorisierte der Senat, um kommunistische Einflüsse auszuschließen, kleine Gesamtberliner Formen des Feierns, etwa alljährliche Kinderfeste in Sektoren übergreifenden „Kiezen“60. Originell gestaltete sich der zumindest teilweise gesamtstädtische Zeitungsverkauf. Die Ostpresse war an den Westkiosken, zum Verdruss des Senats, erhältlich. Da nichtkommunistische Westzeitungen im Ostsektor verboten waren, kamen findige „fliegende“ Zeitungsverkäufer auf die Idee, in S-Bahn-Zügen, die zwischen den Sektoren pendelten, sowohl West- als auch Ostzeitungen 1:1 anzubieten. Der Magistrat konnte das nicht wirksam kontrollieren und der Senat tolerierte es.61 Auch um der Devisen willen war die Ost-Berliner Seite an einem möglichst großen Umsatz ihrer Presseerzeugnisse im Westen interessiert, führte deshalb sogar einige Preissenkungen durch.62 Insgesamt trug das Phänomen des informellen Presseaustauschs zum Erhalt Berliner Gemeinsamkeiten offenbar nicht unwesentlich bei. Als die Mauer stand und die Ost-West-Zeitungshändler ausblieben, gingen in West-Berlin die Auflagen der Presse um einige Tausend zurück.63

1.3 Der Gesamtberliner Kulturplan des Senats und die Reaktionen in Ost-Berlin (1956–1961) Seit dem Frühjahr 1956 diskutierte der Ost-Berliner Magistrat die Probleme des Gesamtberliner kulturellen Lebens als „Bindeglied der Menschen im Osten und Westen unserer Stadt“ wieder intensiv. Dahinter standen die Liberalisierungstendenzen im Umfeld des XX. Parteitages der KPdSU, mehr aber noch die Inanspruchnahme Ost-Berlins als DDR-Hauptstadt sowie das steigende Interesse der Weltöffentlichkeit an der Stadt „als Brennpunkt zwischen Ost und West“, der stärker als zuvor unter kulturellen Aspekten wahrgenommen wurde.64 Im Senat sah man die Frage einer Verstärkung der Gesamtberliner Kulturarbeit ähnlich und bereitete seit Anfang 1956 praktische Maßnahmen vor, „um den Ostbewohnern

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meinsamer Jugendweihen in Berlin an den Freidenkerverband“, 14.12.1954, in: ebd., Nr. 200/1, Bl. 220. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1958, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 33f., 36. Vgl. ebd., Stand 15.9.1959, Nr. 2158, Bl. 33. Beispielsweise wurde der Preis der Periodika „Die Weltbühne“ auf Anweisung des ZK von 0,50 auf 0,30 Westmark herabgesetzt. Vgl. Protokoll Nr. 113 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED um 9.6.1950, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV, 213/113. Vgl. Peter de Mendelsohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Frankfurt am Main/Berlin (W)/Wien 1982, S. 583. Magistrat, Abteilung Kultur: Sommerveranstaltungsplan für Groß-Berlin, undatiert (1956), in: LAB, C Rep. 121, Nr. 117, Bl. 8.

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die Teilnahme am kulturellen Leben unserer Stadt zu erleichtern“.65 Aktionen wie die Erhöhung der Ost-Plätze in der „Freien Volksbühne“ erwiesen sich jedoch angesichts der sowjetischen „auffälligen Betonung, daß der Ostsektor die ‚Hauptstadt der souveränen DDR‘“ sei, in den Augen des Senats als unzureichend. Weil sich in seiner Sicht eine neue politische Lage ergebe, forderte er eine dauerhafte und umfassende „besondere Berlin-Aktion“ zur Unterstützung der WestBerliner Kultur mit gesamtstädtischer Konsequenz. Sie sei finanziell im Wesentlichen von der Bundesrepublik zu tragen, schließlich handele es sich hier auch um eine gesamtdeutsche Aufgabe.66 Im Sommer 1956 gab es nach intensiven Verhandlungen zwischen dem Senat und dem Bundesfinanzministerium „bereits grundsätzliches Einvernehmen über die Förderung besonderer kulturpolitischer Maßnahmen gesamtdeutschen Charakters in Berlin“. Im Mittelpunkt stand der Gedanke, die Kultur stärker für den Zusammenhalt beider Berliner Teile zu nutzen. So schlug der Finanzsenator vor, den Bewohnern des Ostsektors den Besuch kultureller Veranstaltungen im Westteil der Stadt durch einen Eintrittspreis 1:1 „zu erleichtern“ und dabei auf die bislang übliche Kontingentierung zu verzichten. Es müsse erreicht werden, „daß alle Berliner unterschiedslos zu gleichen Bedingungen […] teilnehmen können“. Der Senat dachte an einen jährlichen „Währungsausgleich“ in Höhe von ca. 14 Mio. Westmark aus dem Bundeshaushalt67, was Bundesfinanzminister Schäffer als viel zu hoch bezeichnete.68 Neben Abstrichen an den tatsächlich „üppigen“ Senatsvorstellungen verlangte er, dass die Verhandlungen zwischen seinem Ressort und der Stadtregierung direkt und nicht über den Umweg des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen (und dessen Etat) stattfänden. Am 12. Oktober 1956 stimmte der Bundeskanzler dem Plan im Gespräch mit Suhr grundsätzlich zu. Doch war es für die Finanzierung des als Gesamtberliner Kulturplan bezeichneten Großprojekts ab Oktober 1956, wie der Senat gewünscht hatte, bereits zu spät. Das führte zu geharnischter Kritik WestBerliner Politiker, zu Kompetenzstreitigkeiten sowie zu neuen finanzpolitischen Auseinandersetzungen. Weitere Verschleppungen69 interpretierten die verant65 Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen an das SPD-Kreisbüro Kreuzberg, 18.1.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2074. 66 Schreiben des persönlichen Referenten des Reg. Bgm., Horst Schultze, an Senator Tiburtius, 14.1.1956, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 723. 67 Vgl. Schnellbrief des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen an den Bundesfinanzministers, 9.8.1956, in: ebd., B Rep.002, Nr. 10.988. 68 Vgl. Schreiben des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen an den Bundesfinanzminister, 4.4.1957, in: ebd. 69 Suhr hatte Schäffer Anfang Dezember 1956 geschrieben, dass, da selbst für 1957 noch kein Beitrag „für die verstärkte Betreuung der Bevölkerung des sowjetisch besetzten Sektors eingesetzt wurde, eine wesentliche Chance der westlichen Welt verspielt werden würde“. Büro

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wortlichen Senatsstellen politisch und spitzten ihre Argumentation zu.70 Als Suhr im April 1957 für das laufende Jahr 10 Mio. Westmark Bundeshilfe beantragte, bewilligte der Haushaltsausschuss des Bundestages fünf Mio. unabhängig von der Frage, in welcher Höhe die Summe tatsächlich abgerufen werde, die Schäffer immer noch zu hoch erschien. Doch erging der Hinweis, dass Kinokarten vom Bund nicht subventioniert würden71. Im September 1957 trat der Gesamtberliner Kulturplan mit der von allen Beteiligten akzeptierten 1:1-Regelung bei Theatern, Konzerten, bunten Abenden, Sportveranstaltungen, Besuchen von Zoo, Botanischen Garten, öffentlichen Kultureinrichtungen sowie Ausstellungen, aber auch Büchereien, Bibliotheken u.a., öffentlichkeitswirksam in Kraft.72 Er solle „möglichst weitherzig“ praktiziert werden und die Ost-Berliner nicht durch Empfehlungen bevormunden, was sie besuchen sollten und was nicht.73 So kommentierte es der Senat, der vor allem ostdeutsche Jugendliche kulturell anzusprechen gedachte.74 Bereits Mitte Dezember 1957 konstatierte er einen durchschlagenden Erfolg des Gesamtberliner Kulturplans, den seitens der Bundesregierung nun doch das gesamtdeutsche Ministerium betreute. Der Ostbesuch hatte sich seit September 1957 von zehn auf 20 Prozent des Gesamtbesuchsvolumens (außer Kino) „etwa

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des Reg. Bgm.: „Betrifft Sitzung des Ausschusses für gesamtdeutsche Berliner Fragen [des Bundestages], am 10.1.1957, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2161. Alles dränge, schrieb Bgm. Amrehn, „da die Maßnahmen angekündigt worden sind und der Bevölkerung Ostberlins […] auch entsprechende Zusicherungen gemacht werden konnten“. Es sei dringend geboten, sie am 1.10.1956 anlaufen zu lassen. Amrehn setzte sich aus politischen Gründen auch gegen jede Kürzung von Beihilfen für Kinobesuche Ostdeutscher ein. Schreiben Amrehns an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, STS Thedick, 30.6.1956, in: ebd. Vgl. dazu auch das Schreiben von Suhr an Schäffer, 13.6.1956, zitiert nach Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen an Bgm. Amrehn, 22.11.1956 sowie das Schreiben von Suhr an Schäffer. 20.6.1956, in: ebd. Im letzteren hatte Suhr geäußert, dass es ihm „politisch unmöglich“ erscheine, dass er am Vorabend des 17. Juni noch immer nicht über eine definitive Zusage Schäffers verfügte. Vgl. Zschaler, Öffentliche Finanzen, S. 242. Vgl. beispielsweise „Der Tag“, 17.9.1957. Vgl. Information des Büros für Gesamtberliner Fragen an Bgm. Amrehn, 19.10.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2161. Gerade die Jugend, „der die Vergleichsmöglichkeit zu früheren Jahren fehlt, und die der einseitig ausgerichteten Kulturpropaganda der östlichen Machthaber besonders ausgesetzt ist, muß rechtzeitig und so umfangreich wie möglich an das Kulturgut der freien Welt herangeführt werden“. Senatspapier: „Jugendpflegearbeit für Ostjugend“ (im Rahmen des vorbereiteten Gesamtberliner Kulturplans), 11.3.1957, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 120.

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verdoppelt“75. Dies wog umso mehr, als es sich mit dem Plan eindeutig um eine „politische Aktion“ handelte76, wie nicht nur die Verantwortlichen im Westen, sondern auch die im Ostsektor wussten. Bereits im Vorfeld der nicht geheim gehaltenen Vorbereitungen des Projektes erkannten SED und Magistrat, dass OstBerlin angesichts von geplanten Kürzungen seines Kulturetats im Rahmen des 2. Fünfjahrplans nicht in der Lage sein würde, „den Vergleich mit Westberlin auszuhalten“77. In gewisser Weise bot die West-Berliner Kulturoffensive dem Magistrat ein Argument, in den „Debatten im Politbüro“ bewusst zu machen, dass es nicht tragbar sei, der Kultur, der Volksbildung und dem Sport in Ost-Berlin „keine oder nur sehr geringe Mittel“ zur Verfügung zu stellen.78 Da sie mit den der Teilstadt zur Verfügung stehenden Möglichkeiten kaum erhöht werden konnten, konzentrierte sich der erste Gegenplan zur West-Berliner politischen Kulturinitiative auf die Optimierung von materiell Vorhandenem sowie auf die Mobilisierung eigener Kräfte nach alten Pauschalrezepten.79 Sollten diese „Gegenmaßnahmen“ nicht ausreichen, so meinte ein skeptischer Magistrat, müsse die DDR-Regierung in Berlin „weitere kulturelle Schwerpunkte durch Zurverfügungstellung größerer Summen“ schaffen. Das beträfe nicht zuletzt das Bibliothekswesen80 und den Film, dem ein Hauptaugenmerk gelte. Gemessen an den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen handelten die Ost-Berliner Kulturpolitiker durchaus vernünftig, wenn sie in der Folge dort ihre Werbung verstärkten, wo sie nach wie vor Erfolge konstatieren konnten: im Theaterbereich, der weiter ausgebaut und mit angeblichen West-Berliner Defiziten kontrastiert wurde. Diese Linie und das Argument, dass der Gesamtberliner Kulturplan lediglich „Unterwanderung bzw. 75 Vgl. Protokoll über die 41. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 12.12.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070. 76 Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen (Bloch) an Bgm. Amrehn, 9.8.1958, in: ebd., Nr. 2161. 77 Schreiben der Stellv. OB, Johanna Blecha, an die SED-BL (Wengels), 31.1.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 78 Schreiben von Blecha an OB Ebert, 31.1.1957, in: ebd. 79 „Die erfolgreichste Gegenmaßnahme wird es sein, wenn seitens aller kulturellen Einrichtungen […] nach wie vor durch ein reichhaltiges, inhaltvolles kulturelles Leben die Aufmerksamkeit unserer Menschen auf den demokratischen Sektor gelenkt wird.“ Damit würden sie „von Theater- und Kinobesuchen in Westberlin abgehalten“. Dazu trüge auch eine dringend zu verbessernde betriebliche Kulturarbeit bei; befriedige sie die Bedürfnisse der Werktätigen, „umso weniger Zeit bleibt ihnen“, von West-Berliner Angeboten Gebrauch zu machen. Auch sollten „bewußte Genossen“ versuchen, Mitglied der West-Berliner „Freien Volksbühne“ zu werden, die zur Zeit um Neuzugänge werbe. Magistrat, Abteilung Kultur: „Gedanken für Gegenmaßnahmen zum Beschluß des Kaiser-Ministeriums zum Verkauf von Theaterkarten im Verhältnis 1:1“, 1.10.1957, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 26. 80 Ebd.

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Aufweichungspolitik gegenüber dem demokratischen Berlin“ betreibe81, rieb sich mit der lebhaften westlichen Medienreklame zur Popularisierung des Plans im Osten.82 Die Zahl der Ost-Besuche von Theater-, insbesondere aber Operettenveranstaltungen und Bunten Abenden stieg weiter an, desgleichen die Ostbeteiligung an Urania-Vorträgen und Kursen der Volkshochschulen.83 Im Zeitraum von Januar 1958 bis Januar 1959 besuchten ca. 400.000 Ostbewohner West-Berliner Theater, 60.000 Konzerte und 420.000 „bunte“ und andere Veranstaltungen. Insgesamt seien 33,5 Prozent der Gesamtbesucher an den kulturellen Veranstaltungen West-Berlins Ostdeutsche, vor allem Ost-Berliner, gewesen, meldete der Senat.84 Damit erhöhte sich auch der finanzielle Aufwand. Waren 1957 1,6 Mio. Westmark effektiv verbraucht worden, stieg die Bewilligungssumme 1958 auf 4,37 Mio.85 1959 erreichte sie ca. 6,91 Mio. Westmark, allein 3,5 Mio. für Filmsubventionen, die erst 1958 in den Gesamtberliner Kulturplan aufgenommen worden waren. 1960 wurde er bereits mit 12,5 Mio. Westmark subventioniert, für 1961 sah er 13,5 Mio. vor.86

81 Magistrat, Abteilung Kultur, „Bericht über die Grundsätze zur gesamtberliner Arbeit der staatlichen Organe von Groß-Berlin“, Mai 1958, in: ebd. 82 So stimmten RIAS und SFB dem Ersuchen von Senator Tiburtius zu, die Ostbewohner „in gewissen Zeitabständen“ über Programme und den Kartenverkauf im Rahmen des Kulturplans zu informieren. Vgl. Schreiben von Tiburtius an RIAS und SFB, 5.8.1958 und Antwort (des SFB), 20.8.1958, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1356. 83 Insgesamt seien (außer Filmvorstellungen) im Zeitraum von September 1957 bis 31.1.1958 926.000 West-Berliner und 209.722 Ostgäste bei Kulturveranstaltungen gezählt wurden. An den Kursen der Volkshochschulen hätten von September 1957 bis zum Ende des Sommersemesters 1958 etwa 100.000 Ostbewohner teilgenommen. Vgl. Senatsbericht an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen: „Förderung des Gesamtberliner Kulturlebens“, 22.2.1958, in: ebd., Nr. 720. Vgl. auch Information, Oktober 1958, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1936, Nr. 2161. 84 Vgl. Information des Büros für Gesamtberliner Fragen, 27.2.1959, in: ebd., Acc.1703, Nr. 2218–2219. 85 Vgl. ebd., Acc.1636, Nr. 2161. 86 Vgl. Schreiben von Bgm. Amrehn an Senator Tiburtius, 13.10.1958 und von Tiburtius an Amrehn, 14.11.1958 in: ebd. sowie die Anforderung von Tiburtius an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 14.12.1960, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 720. Aus dem Dokument geht hervor, dass die Osteintrittskarten 1958 für die Theater mit 1,599 Mio. Westmark (davon 486.000 für die „Freie Volksbühne“) und für Konzerte mit 213.840 Westmark subventioniert wurden (Im Weiteren: „Heitere Massenveranstaltungen“ = 600.000; Jugendund Sportveranstaltungen = 140.000; „sonstige Veranstaltungen“ = 403.900 Westmark). Die Filmbeihilfen wurden mit 3 Mio. Westmark beziffert, 1960 betrugen sie 8,809 Mio., die Theater erhielten 2,072 Mio. Westmark.

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Von dieser bis zum Mauerbau ungebrochenen Tendenz ging für SED und Magistrat ein fataler Zwang zum „Nachziehen“ unter sich verschlechternden Konkurrenzbedingungen aus. Qualitativ verbesserte Programme sollten die kulturelle Wanderungsdynamik der eigenen Bevölkerung nach West-Berlin eindämmen helfen und zum anderen die „Einflußnahme auf die Westberliner“ intensivieren – insbesondere durch anziehende Theater- und Filmaufführungen. Eine verstärkte Ost-Berlinwerbung müsse für Freizeit im Grünen und in Bädern, für Dampfersowie Busrundfahrten, wie auch Kulturgruppenveranstaltungen u.a.m. werben.87 Neu im Konkurrenzkonzept war, dass die Berliner Randgemeinden „zu einer Perlenkette schöner Ortschaften“ rings um die Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten und kulturellen Angeboten gerade für die auf die West-Berliner Kultur fixierte Ost-Berliner Jugend gestaltet werden sollten. Das zog nach 1958 einige, vom Senat aufmerksam beobachtete, Aufbau- und Renovierungsarbeiten vor allem in Potsdam nach sich.88 Eingedenk ihrer begrenzten finanziellen Ressourcen konzentrierte sich die SED-Kulturpolitik in der Berliner Konkurrenz aber auch weiterhin auf ihr „Schaufenster“ Theater. Mit dem Beginn der Herbstsaison 1959 boten die Ost-Berliner Spielstätten West-Berlinern Abonnements zu sehr niedrigen Ostmark-Preisen an, sogar mit dem Hinweis darauf, „daß die hierfür erforderlichen Geldmittel auf dem Wege des Wechselstubenumtauschs aufgebracht werden können“89, was der Senat besorgt registrierte. Tatsächlich stieg das West-Berliner Publikumsinteresse zumindest zeitweise an90, konnte aber letztendlich insgesamt kein Gegengewicht zur Dynamik des Gesamtberliner Kulturplans sein, der immer mehr Ost-Berliner nach West-Berlin zog. Wie ebenfalls viele Reaktionen des Ostens auf ihn trug der Plan zum Erhalt kultureller Gemeinsamkeiten bei. Gleichzeitig blieb er aber auch ein Kulturdokument des Kalten Krieges.

87 „Entwurf. Plan der gemeinsamen Kommission des Magistrats von Groß-Berlin und des Ausschusses der Nationalen Front der Hauptstadt Berlin zur Vorbereitung und Durchführung des 10.Jahrestages der Gründung der DDR“, undat. (1959), in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5534. 88 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1959, in: ebd., B Rep.002, Acc.1636, Nr. 2158. 89 Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen (Völckers) an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 30.9.1959, in: ebd., Nr. 2162. Vgl. dazu auch „Charlottenburger Nachrichten“, Nr. 16/17, August 1959. 90 Vgl. „Hinweis aus den Bürositzungen der Westberliner Kreisleitungen vom 14.8.1959“, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 626.

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2. Theater als Konfliktzone 2.1 Die Sprechbühnen nach der Teilung Berlins Als traditionelle „Hauptstadt des Theaters“ hatte Berlin durch die administrative Spaltung und Währungsreform erheblich gelitten. Das betraf in erster Linie seinen Westteil, wo von zehn städtischen Bühnen nur vier („Hebbel-Theater“, „Renaissance-Theater“, „Schloßpark-Theater“ und „Städtische Oper“) übrig blieben und sich auch die Privattheater erheblich reduzierten. 1951 schloss das „HebbelTheater“. Es machte dem im Herbst des Jahres eingeweihten, zentral gelegenen „Schiller-Theater“ Platz, das Reuter als neues „National-Theater“ mit herausragender west-östlicher Brückenfunktion sah.91 Nach anderen Angaben besaß WestBerlin 1952 sieben respektive acht Sprechtheater von unterschiedlicher Qualität. Einen Indikator dafür, dass es in den ersten Jahren nach 1948 nur noch ein Zentrum der deutschen Schauspielkunst unter mehreren war, gibt die Entscheidung der großen Theatermänner Gustaf Gründgens und Heinz Hilpert ab, trotz lukrativer Angebote nicht nach West-Berlin zu kommen. Der andere Teil Berlins hingegen blieb ostdeutsche Theatermetropole.92 Im Ostsektor agierten zur gleichen Zeit (1951) die im Admiralspalast in der Friedrichstraße spielende „Deutsche Staatsoper“, das „Deutsche Theater“, die „Kammerspiele“, die „Neue Bühne“ (Unter den Linden), das „Theater der Freundschaft“ als staatliche Einrichtungen sowie die städtischen Häuser „Theater am Schiffbauerdamm“, „Komische Oper“, „Metropoltheater“ (bis 1955 in der Schönhauser Allee) und „Friedrichstadtpalast“. Der Magistrat unterhielt ebenfalls den einzigen Berliner Zirkus („Barlay“) in einem schon etwas wackeligen Holzbau in der Friedrichstraße. Außerdem existierten zwei Privatbühnen: das „Puhlmann-Theater“ in der Schönhauser Allee und das „Tivoli“ in der Pankower Berliner Straße. Aus wirtschaftlichen Gründen figurierten diese beiden relativ großen Einrichtungen (820 und 823 Sitzplätze) gleichzeitig als Kinos.93 Im Oktober 1952 eröffnete im Gebäude der ehemaligen Singakademie das „Maxim-Gorki-Theater“ unter der Leitung von Maxim Vallentin eine Spielstätte insbesondere für russische und sowjetische Dramatik. Als im März 91 Vgl. Müller, Theater der Restauration, S. 167f.; Berlin von Heute, hrsg. vom Verkehrsamt Berlin, Berlin (W), o.J. und o.S. sowie Bollwerk Berlin, S. 46f. 92 Vgl. Henning Rischbieter (Hrsg.), Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945–1990, Berlin 1999, S. 10f. 93 Vgl. Liste, undatiert (offenbar April 1952), in: LAB, C Rep. 124, Nr. 353. Die „Staatsoper“ im Admiralspalast besaß 2.001, die „Komische Oper“ 1.316, das „Deutsche Theater“ 856, die „Kammerspiele“ 480, die „Neue Bühne“ 491, das „Metropol-Theater“ 1.153, der „Friedrichstadtpalast“ 3.101 und der „Circus Barlay“ 1.963 Plätze. Vgl. ebd.

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1954 das bislang im „Deutschen Theater“ gastierende „Berliner Ensemble“ im „Theater am Schiffbauerdamm“ ein nun von Bertolt Brecht und Helene Weigel geleitetes eigenes Haus erhielt, erlebte Ost-Berlin eine kulturelle Sternstunde. Im gleichen Jahr erhielt es mit der wieder aufgebauten „Volksbühne“ am RosaLuxemburg-Platz (ehemals Bülowplatz) sein letztes großes Sprechtheater. Seit 1949 hatte bis dahin eine alle Ost-Berliner Spielstätten erfassende Theaterorganisation unter dem Namen „Berliner Volksbühne“ bestanden, die als Besucherdienst fungierte, Anrechte vergab und in dieser Funktion – einer immens kulturpolitischen – auch nach West-Berlin wirkte.94 Gemessen an ihren finanziellen Möglichkeiten vollbrachten beide Stadtgesellschaften im Theaterbereich erhebliche Leistungen.

2.1.1 Der Kalte Krieg erobert das Schauspiel Die Spielpläne waren reichhaltig und vielfältig. Betrachtet man sie heute in der Gewissheit, dass der Kalte Krieg auch auf sie abgefärbt hat, fällt es dennoch schwer, in ihnen dafür Konkretes zu finden. Zwar widerspiegelten sie bereits seit 1947 unterschiedliche Tendenzen und Konzeptionen, doch wurde auf beiden Seiten „in der Regel hervorragendes Theater“ gemacht.95 Während aber in den West-Berliner Sprechbühnen neben den deutschen und internationalen Klassikern viele moderne zeitgenössische Dramatiker aller Stilrichtungen vertreten waren – vom Expressionismus bis zum Existentialismus –, lehnte sie die OstBerliner Kulturpolitik als westlich-dekadent, formalistisch, elitär und subjektivistisch, eben als nicht volksverbunden, ab. Die bereits in den 30er Jahren entwickelte stalinistische Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus, von dem auch ihre Apologenten nie so recht wussten, was das eigentlich war, beließ aber den OstBerliner Theaterleuten Handlungsspielräume. Aus der Wunsch-Trinität der SED, deutsches und ausländisches Erbe sowie sozialistische und progressive bürgerliche Dramatik, ging nicht immer und überall ein Zwang zur flächendeckenden Durchsetzung des Realismus-Dogmas hervor. Zum einen verfügten die Ost-Berliner Theater neben einem Stamm ausgezeichneter Schauspieler über fachlich kompetente Dramaturgen, Regisseure und Intendanten. Sie hatten – wie Wolfgang Langhoff oder Brecht – in den internen Auseinandersetzungen mit den SED94 Bereits im April 1949 beschloss die SED-Führung, Verhandlungen mit der Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) und der sowjetischen Besatzungsmacht über eine Subvention von 3,6 Mio.. Ostmark zu führen, die der Organisation „Berliner Volksbühne“ über den neuen Ostmagistrat zufließen sollte. Vgl. Protokoll Nr. 19 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED am 8.4.1949, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3/18. 95 Pagel, Die kulturelle Lage, S. 184.

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Bürokraten kulturpolitische Erfahrungen gesammelt, die ihnen in Kombination mit eigener Autorität, internationalem Ruf und prinzipieller Sozialismustreue gestatteten, einige Verbote zu umgehen oder Restriktionen zu vermeiden – manchmal mit „Schlitzohrigkeit“, immer aber flexibel und voller Einfälle. Zum anderen zwang die exponierte Lage Ost-Berlins als sozialistisches „Schaufenster“ die SED zu einer in den meisten Theatern der DDR nicht zu findenden Toleranz. Überdies leistete die Konkurrenz mit den West-Berliner Theatern, deren Akteure die eigene künstlerische Autonomie und das pluralistische Gestaltungsprinzip unterstrichen, der Ost-Berliner Theater-Hochkultur gute Dienste. Diese Faktoren hoben jedoch die prinzipielle Kontrolle durch die Partei- und Staatsorgane nicht auf. Harte Direktiven ergingen vor allem in der ersten Hälfte der 50er Jahre. Das gesamte Theaterprogramm habe patriotisch zu sein und in diesem Sinne der „Erziehung unserer Bevölkerung“ zu dienen96, hieß es 1953. Die Zensur wirkte hinter den Kulissen97, und Spielplanrestriktionen, Absetzungen von ideologisch „gefährlichen“ wie Neuaufnahmen von tendenziösen Stücken bestimmten den Theateralltag mit. Damals ärgerlich, geben ideologische Eingriffe heute manchmal Anlass zu Heiterkeit.98 Dass dabei auch die kulturpolitischen Interessen der Sowjets (wie im anderen Teil Berlins die der Westalliierten) hineinwirkten, lässt sich für die ersten Jahre durch Indizien belegen: „Die Russen beteten das Theater an“, meinte der bekannte West-Berliner Bühnenkritiker Friedrich Luft. Sie hätten die OstBerliner „an der reinigenden Kraft der Bühne fleißig teilhaben lassen“, aber gemerkt, dass die Stücke ihres „sozialistischen Realismus“ bei ihnen nicht ankamen, dafür aber die Dramen eines Jewgenij Schwarz umso mehr. Sie ließen ihn nach

96 Magistratsbeschluß Nr. 6 vom 20.2.1953, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 876, Bl. 34. 97 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. OV/58 der Sitzung am 28.8.1958, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 339, Bl. 3. 98 Die Serie von Stück-Absetzungen wurde mit Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“ frühzeitig eröffnet. Die Ost-Berliner SED-Führung griff in der Folgezeit – manchmal unvermittelt und kurzfristig – relativ häufig in die Spielpläne ein. Vgl. Rischbieter, Durch den Eisernen Vorhang, S. 12 und Beschluß des Büros der SED-BL Berlin, Protokoll Nr. 29/1954 vom 12.8.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 129/1, Bl. 147f. Heiterkeit kommt in der Tat auf, wenn man den Kurs der SED nachvollzieht, überall zur „patriotischen Erziehung“ geeignete Stücke unterzubringen. So wurde das „Metropoltheater“ gelobt, weil es sich bei seinen Operetten-Inszenierungen erfolgreich bemüht habe, „den Gedanken der patriotischen Erziehung besonders bei der Neuinszenierung des ‚Zigeunerbarons‘ zu berücksichtigen“. „Vorlage für das Sekretariat. Zwischenbericht über die Durchführung des Planes zur patriotischen Erziehung der Angehörigen der VP und der Werktätigen Berlins“, in: ebd., Nr. 165, Bl. 65.

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Ost-Berlin kommen, und er wurde gefeiert.99 Abgesehen davon, dass dessen großartige Märchendramen alles andere als unpolitisch und einige, wie „Der Drache“, eine phantasievoll verpackte Totalitarismuskritik darstellten, eröffneten sie in Berlin eine interalliierte Theaterkonkurrenz, „eine Art Idealkonkurrenz“: Die Briten führten T. S. Eliot mit seinem „Mord im Dom“ nach West-Berlin und die Amerikaner Thornton Wilder, der dort sein metaphysisch gekräuseltes Stück „Wir sind noch einmal davongekommen“ erstaufführte. Die Franzosen warben Jean Paul Sartre, der zur deutschen Erstaufführung seiner „Die Fliegen“ nach Berlin reiste.100 Das bedeutete aber noch lange nicht Kalten Theaterkrieg oder Sowjetisierung bzw. Westifikation der Berliner Kulturlandschaft. Zwar hatten sich die Russen mit dem „Maxim-Gorki-Theater“ und der Auflage, dass die sowjetische Bühnenliteratur zunächst mit zehn, dann mit knapp 20 Prozent an allen ostsektoralen Programmen beteiligt sein müsse, einen Spielplanschwerpunkt und damit Einflussmöglichkeiten gesichert; doch übererfüllten die SED-Kulturpolitiker, offenbar ohne Zutun der Besatzungsmacht, deren Direktive. Der „Import“ russischer Theatermodelle und die Gründung von „Stanislawski-Zirkeln“ an den Ost-Berliner Bühnen sollten die „Methode des sozialistischen Realismus“ durchsetzen helfen.101 Sicherlich trug auch dieser herrschaftssichernde Kulturdirektivismus zum Geist des Kalten Theaterkrieges bei. Luft sah ihn bereits 1947 ausgebrochen102, als das am „Deutschen Theater“ aufgeführte, prononciert antiamerikanische Stück von Konstantin Simonow „Die russische Frage“ zu heftigen polemischen Auseinandersetzungen sowie zur Aufführung des „kommunisten-skeptischen“ Stücks von Sartre „Die schmutzigen Hände“ im „Renaissancetheater“ führte – sicher nicht als direkte theaterpolitische Vergeltung, aber doch als eine Art Gegenstück zu Simonows literarischer USA-Attacke.103 Auch Luft verlor die kritische Distanz und wurde zum Opfer der allgemeinen Bedrohungspsychose.104 Dennoch ließ der von ihm formulierte „Kalte Krieg auf der Theaterszene“ keineswegs einen alles trennenden „Eisernen Vorhang“ auf die Berliner Bühnenlandschaft herab. Jede 99 Vgl. Friedrich Luft, Die Theaterstadt Berlin, in: Dieter Baumeister (Hrsg.), Berlin Fibel. Berichte zur Lage der Stadt, Berlin (W) 1975, S. 79f. 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 6 vom 20.2.1953, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 876, Bl. 33. 102 Vgl. Rischbieter, Durch den Eisernen Vorhang, S. 14. 103 Luft, Die Theaterstadt Berlin, S. 82f. 104 Berlins Theater habe „nicht nur dem Vergnügen der Einwohner zu dienen, jede Vorstellung fast geschieht in Notwehr und deutlichem Angriff gegen einen politischen Totalitätsanspruch“, ließ er sein Publikum wissen. Zitiert nach: Müller, Theater der Restauration, S. 167.

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Seite warb um das eigene und das Publikum der anderen Seite. Die Qualität der Aufführungen, aber auch sehr günstige Kartenpreise, zogen viele West-Berliner nach Ost-Berlin. Manche Vorstellungen – etwa im „Berliner Ensemble“ – waren in den 50er Jahren zur Hälfte mit ihnen besetzt.105 Demgegenüber ging die Zahl der Ost-Berliner in den Theatern West-Berlins bis 1956/57 zurück.106 Das lag aber weniger an ihren Programmen als an der Schwäche der umzutauschenden Ostmark107, was angesichts der im Westen nominell höheren Eintrittspreise schwer wog. Eine Lösung des Problems wurde dort seit 1948/49 diskutiert, aber bis 1957 aufgeschoben. Bis dahin zeigte sich die Bundesrepublik aus finanziellen Gründen zu generellen Lösungen nicht in der Lage, auch überzeugte die ewige antikommunistische Rhetorik der West-Berliner Verwaltung den politisch nüchterneren Bundeskanzler offenbar nicht immer.108 Adenauer sah zu Beginn der 50er Jahre andere Prioritäten. Das kam indirekt auch dem internationalen Renommee der Ost-Theater zugute. Mit Stolz berichtete der „Deutsche Friedensrat“, dass viele in West-Berlin studierende Ausländer, unter ihnen junge Menschen aus der arabischen Welt, dort noch kein einziges Mal im Theater waren, umso mehr aber in denen des „demokratischen Sektors“.109 2.1.2 „Volksbühne“ gegen „Volksbühne“ Ministerpräsident Grotewohl hatte mit ähnlicher Genugtuung bei der Eröffnung der „Volksbühne“ darauf hingewiesen, dass die kulturellen Bedürfnisse der „Werktätigen“, aber auch die Nachfrage vieler Menschen aus dem Westen Deutschlands und Berlins sowie aus dem Ausland, so anwüchsen, dass die Theaterkapazität der DDR-Hauptstadt nicht mehr ausreichte.110 Im Hintergrund seiner Ausführungen standen die Anstrengungen um die internationale Anerkennung der DDR, die in eine stärkere Wechselbeziehung zum politischen Faktor Kultur traten. Das nahm 105 Vgl. Pagel, Die kulturelle Lage, S. 184. 106 Im „Schlosspark-Theater“ von 28 Prozent (1950/51) auf 11 Prozent (1957); im „SchillerTheater“ von 18 Prozent (1951/52) auf 15 Prozent (1956/57). Vgl. Müller, Theater der Restauration, S. 167. 107 Vgl. Luft, Die Theaterstadt Berlin, S. 84. 108 Adenauer war Pragmatiker, kein Ideologe. Ihm war sicherlich klar, dass der Senat, um mehr Finanzhilfen zu erhalten, seine Argumente absichtsvoll zuspitzte: etwa, dass in OstBerlin nur Theaterstücke aufgeführt würden, „die das Publikum an die kommunistische Weltanschauung heranführen“. Schreiben Reuters an Adenauer, 20.6.1952, in: LAB, B Rep. 6, Acc. 2221, Nr. 1865. 109 Vgl. Aktennotiz des „Deutschen Friedensrates“, 21.11.1958, in: BA Berlin, DZ 9/K. 265. 1354. 110 „Zur Wiedereröffnung der Volksbühne“, hrsg. von der Intendanz, Berlin (O) 1954, S. 7f.

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auch die West-Berliner Kulturpolitik wahr, die in einigen Ost-Berliner Einrichtungen und Neugründungen eigens gegen sie gerichtete Kampforgane sah. Das betraf speziell die „Volksbühne“ und das ihr gleichnamige Theaternetzwerk, das der Leiter des West-Berliner Hauptamtes Kunst als eines der rührigsten „kommunistischen Tarnorganisationen“ bezeichnete.111 Das aber war es nicht. Es besaß klare organisatorische und planwirtschaftliche Aufgaben, stellte aber gleichzeitig ein kaum verschleiertes Instrument der kulturellen Systemkonkurrenz dar. 1953 führte die östliche Volksbühnen-Organisation 88.700 Mitglieder, davon kamen 5.000 aus West-Berlin. Im Übrigen blieb sie den Arbeitertraditionen der Volksbühnenbewegung aus der Vorkriegszeit treu, wenn für „Werktätige aus Westberlin“ die gleichen Mitgliedsbedingungen und finanziellen Präferenzen galten wie für Ost-Berliner.112 Das war natürlich verlockend, aber auch insofern kein unfairer Wettbewerb, als in West-Berlin die „Freie Volksbühne“ als Verein mit ähnlichen sozialen Grundsätzen arbeitete, der keine anderen Wurzeln als sein Pendant besaß und der ebenfalls über Mitglieder aus dem anderen Berlin – nur eben aus seinem Ostteil – verfügte. Ihr Anteil vergrößerte sich im Umfeld des Gesamtberliner Kulturplans: 1958 wurden neben den 23.000 alten 7.500 neue Ostmitgliedschaften in der „Freien Volksbühne“ registriert. Der Anstieg war so rapid, dass der Senat eine vorübergehende Begrenzung der Aufnahmen anordnete.113 1963 erhielt die „Freie Volksbühne“ ein eigenes Theater, das Erwin Piscator bis 1966 leitete. Zu diesem Zeitpunkt war die „Volksbühnen“-Konkurrenz aber bereits dadurch entschieden, dass mit der Eröffnung des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz die alte Organisationsform „Deutsche Volksbühne“ aufgelöst worden war und trotz des Engagements Helene Weigels auch kein neues Subventionssystem für WestBerliner zustande kam. In diesem Fall ging Wirtschaftlichkeit vor politischideologischer Werbung.114 Mehr antiwestlich ausgerichtet war das 1953 in Reaktion auf die „Insulaner“ gegründete Kabarett „Die Distel“ mit seinem festen Spielort nahe des Bahnhofs Friedrichstraße. Sie galt vielen Ost-Berlinern als „frech“, 111 Vgl. Vermerk des Hauptamtes (Wallner-Basté), 21.4.1952, in: LAB B Rep. 014, Nr. 1305. 112 Abteilung Kultur der SED-BL Berlin: „An das Sekretariat zur Vorlage“, 24.2.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 161, Bl. 102, 105. 113 Vgl. Vermerk der Senatsverwaltung Volksbildung, 27.8.1958, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1356. 114 Helene Weigel hatte für das „Berliner Ensemble“ und die „Volksbühne“ vorgeschlagen, West-Berliner Rentnern und Arbeitslosen eine 50prozentige Ermäßigung zu gewähren oder aber Gutscheine mit dem Vermerk „West“ an Bedürftige, auch Studenten, auszugeben. Eine Gutscheinlösung wurde als optimal erachtet, weil sie möglicherweise die 6.000 Mitglieder der aufgelösten Ost-Berliner „Volksbühnen“-Organisation zurückgewinnen würde. Vgl. „Protokoll der Theaterbesprechung mit eingeladenen westberliner Freunden am 16.3. um 18 Uhr“, 18.3.1954, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 293.

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nahm sozialistische Fehlleistungen „auf die Schippe“115, ging manchmal bis an die Grenze des Möglichen und riskierte dabei verschiedene Gratwanderungen und Disziplinierungsandrohungen. Es versuchte aber nie, den von der Partei gesetzten Handlungsrahmen generell zu durchbrechen. Daran hinderte es auch die regelmäßige Spielplan-Begutachtung durch den Magistrat.116 Ihre nach außen gerichtete, von der SED besonders akribisch kontrollierte Aufgabe war der kabarettistische Kampf „gegen die ganze Bonner und Schöneberger Sippschaft“.117 Einige schöne „Lacher“ erzielte „Die Distel“ als Propagandistin der SED anlässlich der Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus.118 Andererseits sagte sie – wie im Fall des bereits vereinbarten Auftritts einer West-Berliner Komödiantentruppe im März 1960 – Gastspiele in ihrem Haus unter dem Einfluss der Magistratszensur ab: Die Texte dieser West-Berliner Truppe könnten auf keinen Fall im demokratischen Sektor gebracht werden.119 Hier zeigte sich geradezu exemplarisch das Dilemma aller an der Innerberliner Konkurrenz Beteiligten, deren Außenwirkung immer wieder durch systemimmanente Gebote begrenzt wurde. SED und Staatsapparat, aber auch die West-Berliner Seite, konnten eine Optimierung ihrer Theaterarbeit natürlich durch eine qualitative Programmverbesserung erreichen und die Konkurrenz durch den Mehreinsatz finanzieller Mittel mitentscheiden. Letztere Möglichkeit schwand im Osten allmählich, vergrößerte sich aber tendenziell im Westen. Die erfolgreiche östliche Taktik, die Eintrittspreise einheitlich niedrig zu 115 Beispielsweise die ideologisch bedingte Papierverschwendung. Ein Sketch traf dabei besonders: Zwei Waldarbeiter stellten ein Transparent mit der Losung „Jeder Axtschlag ein Schlag gegen die kalten Krieger“ auf. Jetzt kommen zwei Junge Pioniere. Sie fragen, warum die Bäume gefällt werden. „Na, daraus wird Papier gemacht“, antwortet der erste Waldarbeiter. „Und was macht man aus Papier?“, fragt der zweite Arbeiter die Pioniere. „1. Pionier: Vor allem Broschüren und Zeitungen. 2. Waldarbeiter: Na, noch mehr? 2. Pionier: Ja, noch mehr Broschüren. 1. Pionier: Aber auch Aufklärungsschriften […]. 1. Waldarbeiter: Seht ihr, dabei geht eben so mancher Baum drauf. 2. Waldarbeiter: Ganze Wälder haben wir schon aufklärerisch abgeholzt. 1. Pionier: Auch wir haben den Wert der Broschüren erkannt. 2. Pionier: Darum sammeln wir sie! 2. Waldarbeiter: Und was entnehmt ihr den Broschüren? 1. Pionier: Ne ganze Menge. 1. Waldarbeiter: Nunmal ein bisschen genauer, ich meine, was bringen sie euch, die Broschüren? 1. Pionier: Für´n Zentner 6,Mark.“ Vgl. „Die Distel“, Programmentwurf an den Magistrat, Abteilung Kultur, undatiert (1960), in: ebd., Nr. 270. 116 Die Akten geben in der Regel keine Auskunft darüber, ob die zur Kontrolle eingereichten Texte „kassiert“ oder aber, und gegebenenfalls mit welchen Überarbeitungen, genehmigt wurden. 117 Vgl. Horst Wagner, 2. Oktober 1953, Berliner Kabarett „Die Distel“ eröffnet, in: Berlinische Monatsschrift, Heft 3 (2001), S. 137. 118 „Betr. Wahleinsatz der Distel“, 10.11.1958, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 277. 119 Aktennotiz der Abteilung Kultur des Magistrats, 30.3.1960, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 277.

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halten, hatte zuvorderst eine innere sozialpolitische Maßnahme dargestellt, erreichte aber auch als eine nach außen wirkende „Schaufenster“-Funktion120 ihre Grenzen. Auch schufen organisatorische und andere Defizite der Kulturplanungen und -programme in West-Berlin für die Ost-Berliner Bühnen keine dauerhaften Vorteile.121 2.1.3 Grenzgänger des Theaters? Der Ost-Berliner Magistrat und die hinter ihm stehende SED-Führung hatten bereits zu Beginn der 50er Jahre eine probate Werbekombination entwickelt. Das Ziel, ein dem Westen überlegenes Theater zu schaffen, wurde mit erneuerbaren Gesamtberliner Gesprächs- und Kooperationsangeboten auf allen Ebenen, aber auch mit Offerten an West-Berliner Künstler verbunden, in Ost-Berlin beruflich zu wirken. Wenn die West-Berliner Stadtregierung, explizit die unter dem langjährigen Senator Joachim Tiburtius (CDU) arbeitende Volksbildungsverwaltung und dort insbesondere der Leiter ihres Hauptamtes Kunst, Wallner-Basté, gegen eine kulturelle Zusammenarbeit mit Ost-Berlin neben politischen ebenfalls moralische Argumente122 ins Feld führten, meinten sie doch immer harten kulturpolitischen Konkurrenzkampf. Die Verweigerungshaltung gegenüber dem Ost-Berliner Regime, um es nicht anzuerkennen oder auch nur aufzuwerten, war allgemeines politisches Gebot. Der Kultusverwaltung diente es als Universalinstrument für den konfrontativ geführten Wettbewerb. Was aber auf der offiziellen Ebene relativ einfach zu handhaben war und ein weitreichender antikommunistischer Gesellschaftskonsens in den Westsektoren abdeckte, gestaltete sich in der Frage individueller, teilweise „dissidenter“ Kontakte mit Ost-Berlin weit komplizierter. Zum einen waren es zahlreiche West-Berliner Künstler, die nach 1949 von ihrer Ar120 Siehe dazu die Diskussion zwischen dem Magistrat und dem DDR-Volksbildungsministerium. Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 614 vom 28.12.1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 854, Bl. 44. 121 Träten für das West-Berliner Theater „tote Zeiten“ ein, die durch verschiedene kulturelle Ereignisse, wie die „Interbau“, verursacht würden, müsse man das sofort durch entsprechende Veranstaltungen im „demokratischen“ Sektor „ausnutzen“ und „Gegenpläne“ entwerfen. Vgl. Schreiben der Stadträtin Blecha an den Leiter der Abteilung Kultur, Füller, 30.4.1957, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 249. 122 „Während die Grenzschikanen mit unerschöpflichem Erfindergeist variiert und verfeinert werden, während die Volksrichter über Personen, die häufig im Westen ‚beobachtet‘ werden, barbarische Strafen verhängen, wird mit Dringlichkeit für einen Künstleraustausch geworben“, notierte Wallner-Basté empört. Vermerk, 21.4.1952, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1305.

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beitslosenunterstützung lebten und einem Jobangebot des Ostens deshalb aufgeschlossen gegenüberstanden; und zum anderen handelte es sich um zumeist gestandene Persönlichkeiten, die in West-Berlin über ein berufliches Einkommen verfügten, aber in Ost-Berlin noch einer Nebenbeschäftigung nachgingen. Während der Senat gegen die Freischaffenden unter ihnen keine rechtlichen Mittel besaß, erwog er seit 1950 intern, Beschäftigten des öffentlichen Dienstes eine derartige Tätigkeit zu verbieten. Das stieß auf Schwierigkeiten: Würde nicht eine derart illiberale Praxis gegen freiheitliche Prinzipien verstoßen und den Eindruck erwecken, dass dem Senat an einer Berliner und deutschen Einheit überhaupt nicht gelegen sei? Könnte überdies in der Öffentlichkeit der Verdacht entstehen, man versuche der erfolgreichen östlichen Kulturkonkurrenz juristisch beizukommen? In jedem Fall hatte der Senat mit dem Widerspruch der Betroffenen aus pekuniären oder anderen Gründen zu rechnen. Einige Prominente waren an Verträge mit Ost-Berlin aus der Zeit vor 1948 gebunden, was sich in den bereits geschilderten Auseinandersetzungen mit Architekten, Wissenschaftlern und Ingenieuren – allerdings eher marginal – gezeigt hatte. Wieder andere West-Berliner Künstler unterhielten zu Ost-Berliner Kollegen und Kulturstätten gewachsene persönliche Beziehungen, die sehr emotional wirkten. Zwar betraf das vor allem Musiker und Opernsänger, worauf noch einzugehen sein wird. Doch fühlten sich auch Akteure des Sprechtheaters diszipliniert, als der Senat im September 1951 auf der Basis eines Beschlusses des Abgeordnetenhauses alle ihm arbeits- und dienstrechtlich Unterstellten aufforderte, sämtliche Nebenbeschäftigungen und Vertragsverhältnisse in Ost-Berlin aufzulösen. Zunächst hätten sie eine Erklärung abzugeben, „ob und evtl. welche Nebentätigkeit von ihnen bzw. ihren Angehörigen ausgeübt wird“123. Parallel dazu verstärkte sich der Druck auf Theater- und Filmleute, die nicht der Jurisdiktion des Senats bzw. der Bundesregierung unterstanden und prinzipiell für deutsche „Verständigung“ plädierten. Als der Filmregisseur Wolfgang Staudte („Die Mörder sind unter uns“; „Der Untertan“) vor die Alternative gestellt wurde, sich unbefristet zu verpflichten, nicht mehr für die DEFA zu arbeiten oder aber sein bereits begonnenes, westlich gefördertes Projekt „Gift im Zoo“ niederzulegen, brach er die Dreharbeiten dazu ab.124 Ähnlich erging es Berta Drews, die in dem von der DEFA geplanten Farbfilm „Mutter Courage“ die Titelrolle übernehmen wollte. Die Senatsverwaltung sabotierte das Projekt auf ihre Art: Sie „empfahl“ dem Intendanten des „Schillertheaters“, den dafür notwendigen Urlaubsantrag 123 Schreiben des Senators für Inneres an alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, 3.9.1951, in: ebd., Nr. 1304. 124 Vgl. Kontakte. Mitteilungen vom Kongress für kulturelle Freiheit, 1. Jg. (1951), Nr. 6, November 1951, S. 7.

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der dort beschäftigten großen Schauspielerin nicht zu genehmigen, „zumal dieser Film auch hinsichtlich der Stoffwahl politisch nicht unbedenklich erscheint“125. Im Zusammenhang mit diesen Episoden wurde klar, dass neben der West-Berliner Presse mit ihren antikommunistischen Angriffen einige Persönlichkeiten von kulturpolitischem Einfluss die Position des Senats engagiert unterstützten. Tenor war, dass er diejenigen, die trotz ihrer wirtschaftlichen Not den Verlockungen Ost-Berlins, seiner Theater und der DEFA, widerstanden, „belohnen“ müsste, weil die Intendanten und Filmproduzenten West-Berlins „so instinktlos sind, die Falschen und Gefährlichen zu engagieren und die Richtigen umkommen zu lassen“. So hart hatte es die Leiterin der „Max-Reinhardt-Schule“, Hilde Körber, formuliert.126 Etwas moderater sprach sich Luft für eine klare Positionierung schwankender West-Berliner Schauspieler aus: Sie sollten sich nun endlich entscheiden, „ob sie in West oder in Ost, ob sie für Ost oder West (und ob sie für Westgeld oder für Ostgeld) spielen wollen“127. Das ging auch gegen solche Künstler, die sich, wie der Regisseur Falk Harnack, dem Osten auch aus politischer Überzeugung angeschlossen hatten, dann aber mit der SED in Konflikte gerieten und wieder in den Westen wollten. Auch sie traf der „Bannstrahl“ des Senats.128 „Unverbesserliche“ wurden, wenngleich ihnen intern ein Handeln aus dem Gedanken der „Einheit des deutschen Theaterlebens“ heraus attestiert wurde – so im Fall des bekannten Ost-Berliner Theaterkritikers und Friedrich Luft-Konkurrenten Herbert Ihering129 – zumindest vom Lohnumtausch ausgeschlossen. Der Mann habe „lange Zeit an maßgeblicher Stelle des Kulturlebens innerhalb des kommunistischen Machtbereichs gestanden und die Durchsetzung kommunistischer Ziele gefördert“130, erfuhr dessen Anwalt. Die argumentativen Schwächen 125 126 127 128

Hausinterne Information an Tiburtius, 22.9.1955, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1127/1. Schreiben von Körber an Wallner-Basté, 28.8.1952, in: ebd., Nr. 2260. Luft, Die Theaterstadt Berlin, S. 84. Harnack habe sich nach der Spaltung eindeutig für den Osten entschieden und sei dort nacheinander am „Deutschen Theater“ und bei der DEFA tätig gewesen, „den beiden Hauptpflegestätten östlicher Propaganda“. Bei seinen „Brotgebern in Ungnade“ gefallen, entdecke er jetzt sein Herz für den Westen, kommentierte Wallner-Basté. „Dieses Verhalten zu erklären, sind weder die wissenschaftlichen noch die antinationalsozialistischen Verdienste verstorbener Familienmitglieder geeignet.“ Vermerk, 23.12.1952, in: LAB, B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 141. Harnacks Vater, Arvid, gehörte dem deutschen Widerstand an und war im Dezember 1942 von den Nazis hingerichtet worden. Dessen Vater war ein bekannter Literaturhistoriker, der Onkel, Adolf von Harnack, Theologe und Kirchengeschichtler von Weltrang. 129 Vgl. Vermerk von Werckshagen (Senatsverwaltung für Volksbildung), 9.7.1953, in: ebd. 130 Schreiben des Finanzsenators an Rechtsanwalt Dr. Riecke, 13.10.1958, in: ebd., B Rep. 14, Nr. 2635.

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des Senats, seine undifferenzierte antiöstliche Polemik und unangebrachte Repressionen stärkten die nicht eben gefestigten Positionen der Gegenseite. Auch war die Forderung der SED nach einer aktiven „Verbesserung der Zusammenarbeit mit Westkünstlern“131 alles andere als eine bloße Propagandaformel. Mit entsprechenden Angeboten an sie konnten SED und Magistrat den Senat vor dem Hintergrund übertriebener, aber nicht erdichteter, sozialer Nöte im Westen politisch empfindlich treffen. Frau Körber wies erneut auf das ihres Erachtens gefährliche Spannungsverhältnis hin: Während in West-Berlin 1.200 Schauspieler arbeitslos seien, biete ihnen der Ostteil „unentwegt Chancen“. Jetzt offeriere die DEFA sogar Schülern ihres Instituts Rollen in „unpolitischen“ Filmen.132 Mit einer kurzen Unterbrechung im Umfeld des 17. Juni 1953 stieg die allerdings nirgendwo exakt erfasste Zahl der in Ost-Berlin verpflichteten westsektoralen Künstler seit 1950 an. Auch der SED war klar, dass sie größtenteils aus sozialen, nicht etwa politischen Gründen kamen und Angst vor West-Berliner Maßregelungen hatten. Die Schauspielerin Rosa Lindt stand offenbar für viele.133 Als die SED-Bezirksleitung im November 1954 feststellte, dass die „Führung des kulturpolitischen Kampfes noch zum großen Teil in den Händen des Gegners“ liege, sah sie eine wichtige Ursache darin, „dass die vorhandene Unzufriedenheit der Künstler über den Gesinnungsterror und die Beschränkung der Freizügigkeit durch Tiburtius sich vorwiegend in der privaten Sphäre der Kulturschaffenden bemerkbar macht“134. Gleichzeitig kritisierten die SED-Kulturpolitiker die Konformität des Landesvorstandes der „Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger“ (GDBA) mit der „Spaltungspolitik von Tiburtius“, der dessen Ehrenmitglied, die Schauspielerin Helene Riechers, fristlos entließ, weil sie an der kommunistisch gesteuerten „Gesamtberliner Konferenz der Kulturschaffenden in Ost-Berlin“ teilgenommen hatte. Die SED-Bezirksleitung konstatierte aber auch Widerstand: Beispielsweise gebe es in der Sektion Darsteller des Verbandes der West-Berliner Filmschaffenden „eine starke Bewegung zur Zusammenarbeit“ mit dem Osten. Ihr Sektionsleiter setze sich sehr „für die Freizügigkeit der Engagementswahl in ganz 131 Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Kultur, Protokoll der Dienstbesprechung am 18.2.1954, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 2. 132 Schreiben von Körber an Wallner-Basté, 20.5.1954, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 349. 133 Sie berichtete, dass sie in West-Berlin ohne Aufträge sei. „Mein Mann ist schon vor einiger Zeit nach dem Osten gegangen, um Geld zu verdienen. Wir Künstler brauchen Betätigung, denn wenn wir längere Zeit raus sind, will uns niemand mehr. Ich selbst habe Angst, im Osten ein Engagement anzunehmen, doch die Verhältnisse zwingen mich, Geld für das Studium meines Sohnes irgendwie aufzubringen.“ Zitiert nach: Papier der SED-BL: „Die Lage der Kulturschaffenden in Westberlin“, November 1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 195, Bl. 43. 134 Ebd., Bl. 44.

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Berlin ein“135. Sicherlich spielte dabei das finanzielle Interesse an Projekten im Osten eine Rolle. Das schloss jedoch Überzeugungen in die Notwendigkeit der kulturellen Einheit von Ost und West nicht aus. Aus diesem Verständnis heraus hatte Staudte seinen gesamtdeutsch besetzten DEFA-Märchenfilm „Der kleine Muck“ gerade uraufgeführt (Nov. 1953). Er wurde zu einer Art Kinder-Kultfilm, blieb aber in der Bundesrepublik über Jahre tabu. Das Phänomen des nach 1954 vermehrten Überwechselns von prominenten Künstlern und Schriftstellern, aber auch anderer Intellektueller, aus West-Berlin und der Bundesrepublik in den sowjetischen Sektor bewegte auch die Ost-Berliner. Abgesehen davon, dass einige Überwechsler den „demokratischen Sektor“ bald wieder verließen, sahen viele dort die Entscheidung westlicher Prominenter für Ost-Berlin weniger als Zeichen der politischen Zustimmung zu den östlichen Verhältnissen als vielmehr des Wirkens sozialer Präferenzen und pekuniärer Verlockungen.136 Wenngleich die OstBerliner Propaganda Angaben über Verdienste beispielsweise von Spitzenschauspielern tunlichst vermied, sprach sich doch in Theaterkreisen herum, dass sie auch für Leute aus dem Westen außerordentlich lukrativ seien, überhaupt, wenn sie mit einem begehrten Einzelvertrag verbunden waren.137 Junge Ost-Berliner Schauspieler ohne solche Vorzugskonditionen, aber mit viel Talent, wie Marianne Wünscher oder Armin Müller-Stahl, erhielten ein eher mäßiges Entgelt138, durften aber zu Recht auf Reputation und Karriere hoffen. Das Werben der SED um prominente westliche Bühnenkünstler basierte jedoch in vielen Fällen, entgegen den Behauptungen von Senat und Westpresse, nicht nur auf politisch-repräsentativem Kalkül. Die SED verlangte künstlerische Qualität. Häufig resultierten insbesondere Stückverpflichtungen von WestBerlinern oder Gastverträge auch aus Ost-Berliner personellen Engpässen. OstIntendanten, wie der in West-Berlin wohnende Chef der „Volksbühne“ Fritz 135 Ebd., Bl. 45. 136 Vgl. Berlins Ost-West-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 52. 137 Die Einzelverträge für renommierte Theaterschauspieler sicherten ihnen – allerdings sehr differenziert – Einkommen, die sich für die Endfünfziger Jahre sehen lassen konnten. So erhielten an der „Volksbühne“ Manja Behrens monatlich 3.000 Ostmark, Albert Garbe 4.000, Ernst Kahler 2.900, Franz Kutschera (als Österreicher) 6.000 (plus 2.000 österreichische Schillinge), Edwin Marian 2.300, Steffi Spira 1.700, Herbert Grünbaum 3.500 und der Intendant Fritz Wisten 10.250 Ostmark (nebst Dienstwagen und Chauffeur). Daneben garantierte ihnen der Einzelvertrag eine Altersversorgung in Höhe von 80 Prozent ihrer monatlichen Verdienstsumme. Vgl. Liste, 15.8.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 293. 138 Sie bekamen in der Spielzeit 1956/57 je 800, in der Spielzeit 1957/58 900 Ostmark. Vgl. Anlage zum Revisionsprotokoll vom 5.5.1958, in: ebd.

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Wisten, mussten dem Magistrat immer nachweisen, dass sie Darsteller aus WestBerlin nur dann verpflichteten, wenn die eigenen Besetzungsmöglichkeiten fehlten139 – schließlich ging es auch um Devisen.140 Dass den Intendanten umgekehrt daran gelegen war, gute Stammkräfte an ihren Häusern zu halten, zeigen tatsächliche oder absichtsvoll vorgetäuschte Abwerbungsversuche von renommierten Ostkünstlern durch westliche Theater.141 Hier waren Magistrat und Senat gleichermaßen der systemübergreifenden Konkurrenz ausgesetzt, deren Instrumente sich einige Künstler virtuos zu bedienen wussten. Dabei machte sich infolge internationaler Einflüsse sowie der zunehmenden Abgrenzung des Ostsektors als „Hauptstadt der DDR“, aber auch der West-Berliner Kulturkonjunktur, eine Trendwende bemerkbar: Hatte die SED bislang West-Berliner Künstler umworben, trat 1957 ein Werbestillstand ein, wenngleich kein generelles Beschäftigungsverbot.142 Doch erging in Ost-Berlin für den Bereich Rundfunk und Fernsehen ein „Beschluß über Nichtbeschäftigung von westdeutschen und westberliner Künstlern“, der nur noch Ausnahmen zuließ. Über sie entschied der Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Rundfunk oder sein Stellvertreter.143 Allerdings bildete das Theater bis 1961 eine gewisse Ausnahme – eben weil es den Wettbewerb mit West-Berlin weiterhin erfolgreich durchstand. Diesen Aktivposten der OstBerliner Kulturpolitik sah und behandelte der Senat erstrangig als Gefahr für seine freiheitlich-pluralistischen Kulturkonzepte, die sich jedoch in der alltäglichen Konkurrenz mit dem Osten Blessuren zuzogen.

139 Vgl. Schreiben des Intendanten Wisten an den Magistrat, 28.11.1957, in: ebd. 140 Schauspieler aus West-Berlin erhielten einen Teil ihrer Gage in Westwährung ausgezahlt, offenbar betrug er an der „Volksbühne“ pro Person monatlich 610 Westmark. Wisten bezog, da er ebenfalls aus West-Berlin kam, 1.000, später 1.500 Westmark monatlich. Hierzu traten Devisenausgaben für Stückverträge mit West-Berlinern. Als beispielsweise für „Ein Sommernachtstraum“ in Ost-Berlin keine Tänzerinnen aufzutreiben waren, vermittelten eine West-Berliner Bühnenagentur neun Balletteusen an die „Volksbühne“, die diese 450 Westmark pro Person und Monat sowie ein Abendhonorar (50 DM pro Vorstellung) kosteten. 141 So berichtete der Schauspieler Herbert Grünbaum seinem Intendanten, dass ihm das Staatstheater Stuttgart „ein sehr günstiges Angebot“ gemacht habe, er aber der „Volksbühne“ die Treue halten wolle. Sofort gestand Wisten ihm den erbetenen mehrmonatigen Gastaufenthalt an der Stuttgarter Bühne zu. Vgl. Schreiben von Wisten an die Kulturverwaltung des Magistrats (Füller), 5.12.1957, in: ebd. 142 Entsprechende Gerüchte dementierte auch der Senat. Vgl. Information, undatiert (1958), in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2181. 143 Vgl. Sekretariat des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR, 22.1.1958, in: BA Berlin, DR 6/513.

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2.1.4 Boleslaw Barlog, der Osten und die Unduldsamkeit Nach der Entfesselung des Koreakrieges im Juni 1950 verschwanden alle BrechtStücke für sieben Jahre aus den Spielplänen der West-Berliner Theater; nach dem 17. Juni 1953 weitete sich dieser Boykott auch auf die Bundesrepublik aus.144 Für beide weltpolitischen Ereignisse war der Stalin’sche Kommunismus verantwortlich. Brecht war Kommunist. In der Logik seiner Gegner gehörte er deshalb zu den Mitschuldigen. Es bedurfte im Prinzip keiner staatlichen Anordnung, seine zu Weltliteratur gewordene Dramatik auf eine imaginäre „Schwarze Liste“ zu setzen. Das wäre „eine freiwillige Handlung politischer Selbstachtung“, frohlockte „Der Tagesspiegel“.145 Und auch ein Intimfeind Brechts, Friedrich Luft, sah in der Aufführung dessen Stücke eine „Hilfestellung für einen Gesinnungsakrobaten“ sowie einen Ausdruck für mangelnde Solidarität mit West-Berlin.146 Das stieß nicht nur im Osten auf Proteste. Der namhafte Theatermann Boleslaw Barlog, seit 1945 Intendant des Schloßparktheaters, nahm den Boykott Brechts, für ihn mehr als nur ein guter Bekannter, widerwillig hin, war er doch 1951 auch Intendant des neuen „Schillertheaters“ geworden. Doch widersprach der anerkannte Theaterund Filmregisseur dem politischen und ideologischen Abgrenzungskurs des Senats und seiner Kulturadministration gegenüber der Ost-Berliner Theaterwelt. Tiburtius hatte ihn wiederholt ersucht, „dafür Sorge zu tragen, dass an den Premieren des Schiller-Theaters und des Schloßpark-Theaters künftig Persönlichkeiten des sowjetzonalen oder sowjetsektoralen kulturellen Lebens von Berlin nicht mehr teilnehmen […] Sollten sich Herren wie Legal [Intendant der Ost-Berliner Staatsoper], Ihering, Felsenstein [Intendant der „Komischen Oper“] und Wisten Karten gekauft haben, so würde ich Sie bitten, sie unverzüglich davon zu verständigen, dass ihr Erscheinen in einer Premiere von uns nicht geduldet wird, folglich als Friedensstörung eingeschätzt und behandelt werden müsste […] Der etwa gezahlte Kaufpreis wäre den genannten Herren selbstverständlich zu erstellen.“ Da er nicht mit Sicherheit davon ausgehen könne, dass sie nach der entsprechenden Erklärung Barlogs „angesichts der östlichen Beharrlichkeit“ von sich aus verzichteten, müsse man seitens der Volksbildungsverwaltung „ein übriges tun und durch geeignete Vertrauensmänner dafür sorgen, dass nicht etwa doch einer der genannten Herren die Vorstellung besucht“147. Das war nicht nur ein Affront gegen die OstIntendanten, sondern auch gegen den weltoffenen Barlog, für den der gegenseitige Premierenbesuch zur Selbstverständlichkeit geworden war. Der Intendant zögerte. 144 145 146 147

Vgl. Rischbieter, Durch den Eisernen Vorhang, S. 50. „Der Tagesspiegel“, 30.4.1955. Friedrich Luft, in: „Neue Zeitung“, 18.11.1952. Schreiben von Tiburtius an Barlog, 5.9.1951, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3406–3407.

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Das brachte ihm „ununterbrochene Rückfragen auf Grund anonymer Denunziationen“ ein, hinter denen er – wohl nicht zu Unrecht – den eifernden WallnerBasté vermutete, der sich ihm gegenüber weigerte, „die Namen der Denunzianten zu nennen“. Daraufhin griff Barlog Wallner-Basté, seinen Dienstvorgesetzten, polemisch an. Tiburtius sprach dem Intendanten deshalb einen Verweis aus. Barlog reagierte postwendend: Erst, „wenn diese Methoden der Bespitzelung aufhören, wird es möglich sein, daß dieser ganze Nervenkrieg, der mir ein ersprießliches Arbeiten unmöglich macht, aufhört“. Er setze sich „endlich einmal mit denselben Mitteln zur Wehr“, derer sich „Herr Dr. Wallner-Basté bedient“148. Offenbar stand Barlog kurz vor einer Rücktrittsentscheidung. Legal, Felsenstein, Wisten, Langhoff (Intendant des Deutschen Theaters), von Barlog über das Verbot des Senators in Kenntnis gesetzt, reagierten ihrerseits moderat, aber effektvoll. Man habe durch die Verfügung von Herrn Senator Tiburtius nun leider auch nicht die Möglichkeit gehabt, Barlog zur Übernahme des „Schiller-Theaters“ zu beglückwünschen. Uns, „den Intendanten der Berliner Theater, Ihren Kameraden und Kollegen“, sei der Eintritt untersagt worden: „Gibt es einen ähnlichen Fall in der Geschichte der Kunst?“149 Barlog ließ den Brief zwar unbeantwortet, gab ihn aber Tiburtius nicht zur Kenntnis. Der Senator erfuhr erst von ihm, als das „Neue Deutschland“ das Schreiben – aus taktischen Gründen mit dreiwöchiger Verzögerung – anlässlich einer öffentlichen Premiere am 19. Oktober 1951 abdruckte. Am Abend der sich anschließenden Premierenfeier kritisierte Barlog unter dem Eindruck der Ost-Berliner Veröffentlichung den Kultursenator ob seiner Verbotspolitik. Tiburtius reagierte auf die persönlichen Vorwürfe des Intendanten gegen ihn moralisierend und äußerte sein Befremden darüber, dass er und die Öffentlichkeit erst durch das SED-Zentralorgan von der Existenz des Briefes erfuhren.150 Wenngleich in dieser Sache die Vernunft eine Deeskalation gebot, 148 Doch stand auch das Verlangen des leitenden Kulturbeamten dahinter, Barlog solle für West-Berliner Parlamentarier Freikarten zur Verfügung stellen, was er begründet ablehnte. Schreiben von Barlog an Tiburtius, 15.9.1951, in: ebd., B Rep. 14, Nr. 2126. 149 Schreiben von Legal, Felsenstein, Rodenberg, Wisten und Langhoff an Barlog, 22.9.1951, in: ebd. 150 „Wenn Sie mich beschimpfen, so erscheint es mir zwar als eine recht absonderliche Ungerechtigkeit, da ich einen erheblichen Teil meiner Zeit darauf verwende, Sie in Schutz zu nehmen, wozu ich wahrhaftig mehr Anlass habe als mir lieb ist. […] Wenn Sie unsere gute Stadt verlästern, so überschreitet das Verzeihen dafür meine Vollmacht. Ich glaube aber, dass ich berechtigt bin, solche Reden – noch dazu nach einer Premiere […] nicht tragisch zu nehmen. […] Schwerwiegender ist der Fall des Briefes von Langhoff und Genossen. Unsere Verständigung in derartigen Fragen wird dadurch verhindert, dass Sie immer noch glauben, diese Herren lediglich als Ihre Kollegen ansehen zu dürfen und nicht sehen wollen, dass sie – auch Herr Felsenstein – sich nach eigenem Willen als äußerst aktive und

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nahm Barlog doch in der Folgezeit keineswegs alle Versuche verschiedener Kräfte hin, die Verbindungen mit Ost-Berlin weiter abzuschnüren. Ein Beispiel dafür lieferte seine sachlich-kühle Reaktion151 auf eine Beschwerde der „Gemeinschaft der Bild- und Filmreporter“ beim Senatspresseamt, dass an den Städtischen Bühnen Mitglieder des östlichen FDGB „und ständige Mitarbeiter Ostberliner Zeitungen und Zeitschriften […] nicht nur als Bildreporter zugelassen sind, sondern in einzelnen Fällen auch bevorzugt behandelt werden“.152 Dahinter steckte freilich Konkurrenzegoismus. Dass die Kulturverwaltung mit Barlog jetzt vorsichtiger und im Ganzen zuvorkommender umging, lag einerseits daran, dass er mit Inszenierungen moderner Dramatiker (E. Albee, C. Zuckmayer, J. Osborne) internationales Aufsehen erregte und den Ost-Berliner Theatern damit Hervorragendes entgegensetzte. Andererseits mehrten sich nun ebenfalls im westlichen Ausland Stimmen, die, wie Barlog, den „Kulturkampf“ im geteilten Berlin kritisierten.153 Auch verstand man in den europäischen Kulturmetropolen immer weniger den für den Außenbetrachter widersinnigen Boykott von Brecht-Stücken, die jederzeit in Ost-Berlin gesehen werden konnten. Ebenfalls wunderten sich viele Besucher Berlins, dass Klassikerstücke wie „Don Carlos“ und „Nathan der Weise“ gleichzeitig in beiden Teilen der Stadt in deutlicher Konkurrenz zueinander aufgeführt

wirksame Propagandisten derselben Politik bestätigen, die unsere Mitbürger von der Strasse weg lebenslänglich einsperrt.“ Barlog möge „endlich begreifen, dass die Herren nicht als Künstler, Kollegen und Privatleute, sondern als Politiker an Sie einen eindeutig politischen Brief schreiben“. Tiburtius kritisierte, dass Barlog diesen Brief nicht ihm, der Öffentlichkeit und der Senatsverwaltung schon 14 Tage früher zur Kenntnis gegeben habe und man nicht auf die Lektüre des „Neuen Deutschlands“ angewiesen sein sollte. Schreiben von Tiburtius an Barlog, 20.10.1951, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3406–3407. Vgl. dazu auch „Neues Deutschland“, 19.10.1951 und Schreiben von Tiburtius an Hirschfeld, 20.10.1951. 151 Er finde das Prozedere in Ordnung, schrieb Barlog. Man lade ja auch Ost-Berliner Kritiker ein und zwar nicht, „um den Russen oder SEDisten eine Freude zu machen, sondern um die Verbindung mit den Ostberlinern aufrechtzuerhalten, die so denken und fühlen wie wir und die ja unsere Theater recht zahlreich besuchen sollen“. Er lege auch Wert darauf, die Bildreporter zu den Generalproben einladen zu dürfen. Im Übrigen finde er „die Demarche der Arbeitsgemeinschaft der Bild- und Filmreporter nicht sehr fair. Ich bin immer dagegen, daß man aufgrund politischer Beschuldigungen sich wirtschaftliche Vorteile verschafft.“ Schreiben Barlogs an das Presseamt des Senats (Hirschfeld), 19.11.1951, in: ebd. 152 Schreiben der Arbeitsgemeinschaft an das Presseamt des Senats (Hirschfeld), 25.10.1951. 153 Vgl. den Artikel von O.R. de Feuilly (Paris), Kulturkampf in Berlin, in: „Aachener Nachrichten“, 12.7.1952.

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wurden – im Osten trotz einiger „Ideologie“ nicht schlechter als im Westen.154 Hinzu kam, dass West-Berlin zu Beginn der 50er Jahre nicht gerade reichlich über exquisite Leute wie Barlog und Leitungskandidaten für andere Theater verfügte, die wie er Kreativität mit Erfahrung verbanden. Jürgen Fehling, der dafür beispielsweise in Frage kam, wurde von Wallner-Basté nach ersten Verhandlungen abgelehnt, weil er bei dem bekannten Regisseur einen „pathologischen Geisteszustand“ zu erkennen glaubte155, andere kamen aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht. Der über die Ostkonkurrenz sachlich urteilende156 Barlog blieb ständig diszipliniert. Als ihn die Intendantin des „Berliner Ensembles“, Helene Weigel, ein reizvolles Austauschgastspiel vorschlug157 – sicher nicht ohne Konsultation mit SED und DDR-Kultusministerium – zeigte er sich der alten Bekannten in dieser Sache aufgeschlossen. Er müsse aber erst die „zuständigen Behörden“ fragen, was er auch tat, Tiburtius aber ablehnte.158 Das erfuhr Weigel von Barlog alsbald und auch, dass in diesem Fall „die politische Persönlichkeit von Bert Brecht noch ganz besonders hindernd im Wege (stehe)“159. Als ihm die Ost-Berliner Akademie der Künste 1960 die Mitgliedschaft antrug und er Tiburtius darüber informierte, erhielt Barlog zur Antwort, er sollte, „abgesehen von allen politischen Erwägungen“, doch erst der West-Berliner Akademie angehören. Und im Übrigen komme der Sache „gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt“ eine Bedeutung zu, „die über die rein persönliche Sphäre hinausgehe“160. Barlog war doppelt vorsichtig geworden: den eigenen Dienstherren gegenüber und den Offerten der SED, die er ablehnte. Ihren Vorschlag vom April 1958, sich als Mitglied des West-Berliner Ausschusses „Gegen den Atomtod“ für eine „einheitliche Kampffront“ einzusetzen und für 154 Vgl. die Ausführungen des norwegischen Theaterjournalisten Carl Fredrik Engelstad „Berlin – ein europäisches Theaterzentrum“, Oktober 1955, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 347. 155 Vermerk von Wallner-Basté (für Senatsdirigent von Philippsborn), in: ebd., Acc. 2323, Nr. 141. 156 Noch im November 1954 meinte er, „daß er niemals solche künstlerischen und finanziellen Voraussetzungen hat wie Intendant Wisten von der Volksbühne“. Zitiert nach: Papier der BL der SED Berlin: „Die Lage der Kulturschaffenden in Westberlin“, November 1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 195, Bl. 43. 157 Die Weigel regte an, mit ihrem „Berliner Ensemble“ im „Schiller-Theater“ den „Kaukasischen Kreidekreis“ und „Krieg und Frieden“ aufzuführen. Im Gegenzug könnte das WestBerliner Theater mit Stücken seiner Wahl am Theater am Schiffbauerdamm gastieren. Vgl. Schreiben von Weigel an Barlog, April 1955, in: ebd., Nr. 349. 158 Vgl. Schreiben von Barlog an Weigel, 29.4.1955 und an Tiburtius, 29.4.1955 sowie von der Senatsverwaltung für Volksbildung an Barlog, 11.5.1955, in: ebd. 159 Schreiben Barlogs an Weigel, 20.5.1955, in: ebd. 160 Schreiben von Tiburtius an Barlog, 2.3.1960, in: ebd., Nr. 2126.

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eine Volksabstimmung gegen die Atomrüstung zu plädieren, lehnte er strikt ab: Er sei der Meinung, die SED sollte sich besser aus West-Berliner Dingen heraushalten, „zum mindesten so lange, bis eine zweite Sache, die einer Volksbefragung würdig wäre, auch innerhalb des Machtbereichs der SED durchgesetzt werden könnte, nämlich die Möglichkeit freier Wahlen für das ganze Deutschland“161. Das sah Tiburtius nicht anders. Barlog konnte nicht wissen, dass der Intendant des „Deutschen Theaters“ von der SED gerade deshalb kritisiert wurde, weil er West-Berliner und speziell Barlogs Theater angeblich zu selten aufsuchte. Die SED-Bezirksleitung sei aber der Ansicht, dass der Verkehr zwischen Künstlern in Ost- und West-Berlin viel reger sein müsse, der „Genosse Langhoff“ also häufiger ein West-Berliner Theater aufsuchen sollte.162 Was immer konkret dahinter stehen mochte: An Einladungen des Ostens und seiner Kulturfunktionäre für westliche Kulturschaffende fehlte es zu keiner Zeit. Sie ergingen an alle West-Berliner Intendanten, die, immer politische Hintergründe vermutend, pflichtbewusst ablehnten.163 Ob alle Gesamtberliner Vorschläge im Theaterbereich von politischen Ambitionen geleitet waren, ist allerdings zweifelhaft. Diese Frage wurde beispielsweise im Schillerjahr 1955 aufgeworfen, als man die Feiern zum 150. Todestag des Klassikers parallel zueinander auf beiden Seiten vorbereitete. Jeder nahm den „deutschesten“ aller Dramatiker für sich in Anspruch. Es verwunderte nicht, dass die SED den Ost-Berliner Theatern ihre Aufführungswünsche diktierte; schließlich fielen die Vorbereitungen zu den Schillerfeiern ins Jahr des IV. Parteitags der SED, und einige SED-Vorschläge klangen nicht unvernünftig.164 Das Jubiläum kam in Ost-Berlin sehr „national“ daher, unterschied sich darin aber von den West-

161 Schreiben von Bruno Baum an Barlog, 17.4.1958 und Antwortschreiben Barlogs, 19.4.1958, in: ebd. 162 Schreiben des Sekretariats Wengels (SED-BL Berlin) an die SED-Kreisleitung BerlinLichtenberg, 30.8.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 163 Vgl. beispielsweise das Schreiben des Groß-Berliner Komitees der Kulturschaffenden (Kernicke) an den Intendanten des „Renaissance-Theaters“ Kurt Raeck, 3.3.1952, und Antwortschreiben von Raeck, 7.3.1952, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 348. 164 Etwa wenn die SED-BL meinte, man benötige nicht eine dritte Neuinszenierung von „Kabale und Liebe“ am „Deutschen Theater“ und sollte stattdessen „Die Jungfrau von Orleans“ in den Spielplan aufnehmen. Befremdlich muteten hingegen die dringenden Vorschläge an, Felsenstein müsse von der Notwendigkeit der Aufnahme einer „Oper oder Operette“ aus der Sowjetunion oder den volksdemokratischen Ländern in sein Programm überzeugt werden. Gleiches verlangte man von einem neuaufzunehmenden Theaterstück durch das „Berliner Ensemble“ u.a.m. Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL Berlin, Protokoll Nr. 29/1954 vom 12.8.1954, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 192/1, Bl. 147f.

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Berliner Feier-Vorstellungen kaum wesentlich.165 Beide Schiller-Komitees agierten sehr „volkstümlich“ und eben gesamtnational. So kam das Ost-Berliner Gremium auf die Idee, Schillers „Braut von Messina“ zusammen mit West-Berliner Regisseuren und Dramaturgen zu inszenieren und auf beiden Seiten aufzuführen. Das DDR-Kulturministerium hatte unter bestimmten Bedingungen nichts dagegen, und so wurde der Plan sowohl Tiburtius als auch Barlog in einer sachlichen Anfrage als Vorschlag unterbreitet und angemerkt, dass der Magistrat dafür Mittel zur Verfügung stellen würde.166 Tiburtius schwieg wie der RIAS, den das Ost-Berliner Schiller-Komitee freundlich ersucht hatte, ihm den Wortlaut einer Sendung zur „Braut von Messina“ zur Verfügung zu stellen.167 Das östliche Schillerkomitee erhielt auch keine Antwort auf seine Anfrage an den Senat, ob es Sinn habe, wenn es sich darum bemühe, die Schiller-Statue von Lederer im Schloßpark Niederschönhausen gegen die Kopie des von Reinhold Begas geschaffenen Schillerdenkmals im West-Berliner Lietzenseepark einzutauschen168, um sie an der Stelle zu platzieren, wo einst sein Original stand: auf dem Ost-Berliner Gendarmenmarkt vor dem Schinkel´schen Schauspielhaus. Ansonsten lud das Gremium eine Reihe namhafter West-Berliner Persönlichkeiten zu den Ost-Berliner Schillerfeiern ein – in der Regel ohne Resonanz. Der faire Barlog jedoch antwortete: Er wünsche den Veranstaltungen des Ost-Berliner Schillerkomitees alles Gute, sehe sich aber nicht imstande, daran teilzunehmen.169 Der Kalte Krieg hatte die Berliner Sprechtheater in eine konfrontative Konkurrenz gedrängt, bei der die Außenaktionen im Vordergrund standen. Die Auseinandersetzungen um das Wettbewerbsverhältnis zwischen den Musiktheatern und Konzertsälen der geteilten Stadt wiesen stärker auf die inneren Widerspruchsdimensionen hin.

165 Vgl. „Volkstümliche Schiller-Feier des Kuratoriums Unteilbares Deutschland am Abend des 8.5.1955 im Sportpalast“, 20.4.1955, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1968. 166 Vgl. Protokoll der ersten Sitzung der Kommission „Festakt 9. Mai und Braut von Messina“ des Berliner Schillerkomitees, Februar 1955, 17.2.1955, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 397. 167 Vgl. Schreiben des Schiller-Komitees an RIAS-Berlin, Kulturredaktion, 5.3.1955, in: ebd. 168 Vgl. Schreiben des Schiller-Komitees an den Stellvertretenden OB Fechner, 9.3.1955, in: ebd. 169 Vgl. Schreiben von Barlog an das Schiller-Komitee, 31.3.1955, in: ebd.

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2.2 Der „Sängerkrieg“ an der Spree 2.2.1 Das musikpolitische „Schlachtfeld“ und die Schwierigkeiten für Senator Tiburtius Da Ost-Berlin zu Beginn der 50er Jahre auch auf dem Gebiet von Oper und Konzert über gute Voraussetzungen verfügte und auf beachtliche Bilanzen verweisen konnte, sahen es SED und Stadtregierung für ein „Schaufenster“ besonders geeignet. Auch versprach dieser kulturelle Sektor Erfolg bei dem Versuch, nicht nur, wie oben geschildert, Schauspieler, sondern in einem noch größeren Umfang West-Berliner Sänger und Musiker mit lukrativen Angeboten dauerhaft oder zeitweilig in den sowjetischen Sektor zu ziehen. Dies besaß zweifellos einen künstlerischen Selbstzweck, denn die Engagements gerade prominenter Künstler verliehen dem eigenen Kulturbetrieb Glanz und Anziehungskraft. Gute finanzielle Angebote bewogen aber auch viele in West-Berlin lebende arbeitslose oder schlecht bezahlte Chargen, einen Job in Ost-Berlin anzunehmen. Zwar meinten viele von ihnen, im Osten herrsche eine „Kunstdiktatur und keine Freiheit der Persönlichkeit“170, doch konnte man dort, wie ihre Kollegen aus den Sprechtheatern, eben Geld verdienen. Überdies äußerte auch eine Reihe westlicher Prominenter, dass ihr Auftreten „drüben“ der Vertiefung der Spaltung entgegenwirke und sogar ein Beitrag für ihre Überwindung sein könne. Vor diesem Hintergrund argumentierte der West-Berliner Senat, allen voran Volksbildungssenator Joachim Tiburtius (CDU), wie geschildert. Zwar sah die West-Berliner Verwaltung die Notwendigkeit von kulturellen Beziehungen zwischen beiden Teilen der Stadt, deren Einheit sie wollte, gleichzeitig aber in den Gesamtberliner Kulturaktionen von SED und Ostmagistrat nur eine Camouflage kommunistischer Machtsicherung und Spaltungspolitik. Tiburtius leitete sofort nach seinem Amtseintritt (1951) repressive Maßnahmen gegen in Ost-Berlin tätige Musiker aus dem Westteil der Stadt ein. Es machte einiges Aufsehen, als er im Juli 1951 die West-Berliner Aufführung zweier Orchesterstücke von Rudolf Wagner-Régeny verbot, weil der bekannte Komponist (u.a. „Die Bürger von Calais“) an der Ost-Berliner Staatlichen Musikhochschule lehrte.171 Dieser Affront erfolgte nicht von ungefähr, denn Régeny galt als Befürworter eines Staatssinfonie-Orchesters in Ost-Berlin, nachdem die Berliner Philharmoniker in West-Berliner verblieben und im anderen Teil nicht mehr spielten. Ost-Berliner Kulturfunktionäre, aber auch Künstler, verlangten nun ein eigenes 170 Bezirksleitung Groß-Berlin der SED: „Die Lage der Kulturschaffenden in Westberlin“, Nov.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 195, Bl. 43. 171 Vgl. „Die Musikwoche“, Nr. 25/26, 20.7.1951, S. 202.

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„hochqualifiziertes Sinfonieorchester“, das gleichzeitig ein „Gegengewicht“ zu den Philharmonikern mit „hoher propagandistischer Bedeutung“ bilden sollte. Es müsse „die gleichen Qualitäten“ wie die Philharmoniker erreichen, damit es „den machtvollen Kulturaufbau der DDR sicht- und hörbar repräsentieren kann“ und sollte entsprechend großzügig subventioniert werden.172 Demgegenüber sah das Hauptamt Kunst in der Senatsverwaltung nicht nur „Stalinkantaten und kommunistische Tendenzstücke Brechtscher Prägung“ als ideologische Gefahr an. Eben auch absolute Musik aus dem Osten könne einen „politischen Einschlag“ haben „durch ihren Autor, ihren Titel, ihre Vorgeschichte und sogar ihre Faktur“173. In die Kritik war auch die West-Berliner Hochschule für Musik geraten. Einige ihrer vertraglich gebundenen Angehörigen, Lehrer und Solisten, gastierten in Ost-Berlin oder übten dort Nebentätigkeiten aus, angeblich ohne Mitteilung an Tiburtius als ihren Dienstherrn. Als Rektor dieser akademischen Bildungsstätte verteidigte der bedeutende Komponist Werner Egk die innerstädtische Freizügigkeit. Tiburtius verlegte sich daraufhin Anfang 1952 auf die Disziplinierung zunächst solcher West-Berliner Tonkünstler, die im Ostteil der Stadt politisch aktiv geworden waren – etwa der Komponist Eduard Künnecke. Tiburtius führte den Kampf gegen die Ost-Berliner Kulturkonkurrenz von Anfang an auch an zwei westlichen Fronten: In West-Berlin und in der Bundesrepublik. Sowohl das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen als auch Landeskulturpolitiker sahen das Kontaktproblem ähnlich wie der Senator, hatten aber ihre „gesamtdeutschen“ Bedenken. Als Tiburtius beispielsweise versuchte, ein Gastspiel der Deutschen Staatsoper in Westerland auf Sylt durch eine bürokratische Intervention zu unterbinden174, wies der schleswig-holsteinische Kultusminister das Ansinnen klar zurück: Das würde nur Unruhe und Kritik in der Öffentlichkeit hervorrufen und von der Ostzone „politisch ausgeschlachtet“ werden.175 Aber auch in West-Berlin gab es ähnliche Vorbehalte. Das betraf vor allem das geplante generelle Ost-Auftrittsverbot für alle Künstler im Senatsdienst. Eine 172 Schreiben von Generalmusikdirektor Gerhard Wiesenhütter an das Ministerium für Kultur, 15.1.1951, in: SAPMO- BArch, DR 1/162. 173 Vermerk von Wallner-Basté, 16.7.1952, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 2252. 174 Angesichts der „gegebenen politischen Verhältnisse“ erschiene es ihm untragbar, „daß eine westliche Kulturbehörde Verträge mit der Intendanz der Deutschen Staatsoper, einem Institut, das ausschließlich der Verwaltung und Lenkung einer sowjetzonalen Behörde untersteht, beschließen kann“. Er bitte darum, „dahingehend Einfluss zu nehmen, dass diese Gastspiele nicht zur Durchführung gelangen“. Schreiben von Tiburtius an das Volksbildungsministerium des Landes Schleswig- Holstein, 28.7.1951, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 349. 175 Schreiben des schleswig-holsteinischen Kultusministers an Tiburtius, 7.8.1951, in: ebd.

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Vorstufe dazu stellte die Verweigerung von Gastrollen für Ost-Berliner Sänger in West-Berlin dar. Es galt der auslegbare Grundsatz, dass „Mitglieder sowjetsektoraler Bühnen“ nur herangezogen werden dürften, wenn es sich „um eine echte Aushilfeleistung handelt, [die] im Westen nicht zu beschaffen“ sei.176 Überdies sei es Bedingung, dass die in Frage kommenden Künstler keine Parteigänger des „ostzonalen Regimes“ seien. Als z.B. die West-Berliner Singakademie im Dezember 1952 Gerhard Niese (Komische Oper) zur Mitwirkung an einer musikalischen Messe als den dafür Geeignetsten vorschlug, lehnte die Senats-Kultusverwaltung aus politischen Gründen ab. „Selbst wenn es so wäre“, meinte Wallner-Basté, halte er einen „weniger geeigneten Vertreter aus Westberlin für die richtigere Besetzung als den besser geeigneten von der Komischen Oper. Nur wenn sie sich eine zeitlang dem Primat des Politischen beugt, hat die Kunst Aussicht, später wieder allein nach ihrem eigenen Gesetz leben zu können.“ Dem Argument, Niese sei kein SED-Anhänger, begegnete er mit dem Einwand, dass es fast immer unmöglich sei, „die wirkliche Meinung eines östlichen Partners zuverlässig zu erkennen“. Dieser könne „jederzeit als politischer ‚Sendbote‘ in Anspruch genommen werden“ und überdies müsse „seinetwillen ein Westberliner zurückstehen“. So sei jede Art „Seelenforschung“ untauglich und auch den Einwand, Niese habe eine „innere christliche Überzeugung“, könne man nicht gelten lassen.177 Ein prinzipielles Auftrittsverbot für West-Berliner im Ostteil der Stadt stieß neben den politischen und sozialen aber auch auf juristische Schwierigkeiten. Bei einer vom Senat durchgeführten Aktion zur Registrierung aller ihm dienstrechtlich unterstellten Opernkünstler, die nebenbei in Ost-Berlin „jobbten“, stellte sich heraus, dass einige renommierte Gesangskünstler, wie die große „alte Dame“ der deutschen Oper, Frida Leider, und der Tenor Jaro Prohaska, beide verbeamtete Lehrer an der West-Berliner Musikhochschule, noch vertraglich an die Staatsoper gebunden waren. Geltende Verträge durfte aber auch der Senat nicht brechen. Der Kunstausschuss der westdeutschen Kultusministerkonferenz bezeichnete im August 1952 eine Drosselung des Kulturaustausches zwischen Westdeutschland und der „Sowjetzone“ nach West-Berliner Vorbild als „grundsätzlich unerwünscht“. Eine derartige Reglementierung sei auch kaum mit dem Grundgesetz vereinbar. „Überdies solle alles vermieden werden, was den Eindruck erwecken kann, dass Westdeutschland sein Interesse an Ostdeutschland verloren habe, und das der Regierung der DDR zum Vorwand dienen könnte, ihrerseits entsprechend

176 Vermerk von Wallner-Basté, 26.12.1952, in: ebd., B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 141. 177 Ebd.

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zu argumentieren.“178 Tiburtius musste schließlich feststellen, dass alle Versuche, die westdeutschen Kultusminister zu einer gemeinsamen Front gegen Ostauftritte westdeutscher Künstler zu formieren, definitiv gescheitert waren. Seine Verärgerung über diese seines Erachtens unsolidarische Haltung gegenüber dem „bedrohten Berlin“, aber auch der sich versteifende Widerstand WestBerliner Musiker und Sänger, ließen die Senatsverantwortlichen in ihrem Machtbereich umso mehr an ihrem rigiden Kurs der Kontaktverbote festhalten. Das traf auch den berühmten Kammersänger Michael Bohnen. 2.2.2 Die „Dissidenten“: Michael Bohnen, Margarete Klose und Erich Kleiber So hatte der große Tenor, der „deutsche Schaljapin“, zusammen mit der Schauspielerin Helene Riechers vom Schiller-Theater an der von der SED kontrollierten propagandistischen „Konferenz der Berliner Kulturschaffenden“ teilgenommen. Dem inzwischen in schwierigen finanziellen Verhältnissen lebenden Weltstar wurde deshalb ein bereits in Aussicht gestelltes Ehrenruhegeld des Senats nicht gewährt.179 Seine politische Naivität sowie ein zunehmend peinlich erscheinender Geltungsdrang, nachdem seine große Karriere hinter ihm lag, forcierten den „Fall“ Bohnen, dessen wichtigstes Handlungsmotiv offenbar persönliche Not und Enttäuschung waren. Der immer noch populäre Opernsänger – 1952 feierte er seinen 63. Geburtstag – war nach dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig Intendant der West-Berliner Städtischen Oper gewesen und offenbar durch Intrigen „gestürzt“ worden. Den Vorwand für die Entlassung des als schwierig bekannten Mannes lieferte wahrscheinlich eine Denunziation als Nazi, die sich aber als völlig gegenstandslos erwies.180 Bereits Anfang 1951 verbreitete sich Bohnens Behauptung, er habe berufliche „Angebote von der Ostzone“ erhalten, die er jedoch nicht annehmen wolle.181 Gegenüber Tiburtius führte er diskrete Offerten der DDR an.182 Es ist allerdings 178 Niederschrift über die Sitzung des Kunstausschusses in Coburg am 1./2. 1952, in: ebd., Nr. 163–170. 179 Vgl. Schreiben der Senatsverwaltung Inneres an den Senator für Volksbildung, 12.2.1952, in: ebd., B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 141. 180 Vgl. Eidesstattliche Erklärung des Opernsängers Hans Beirer, 1.2.1949 und das Schreiben des ehemaligen Leiters der Entnazifizierungskommission für Künstler, Helmut Schade, an Bohnen, 16.6.1951, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1897. 181 Vgl. Schreiben des Intendanten der Städtischen Oper Heinz Tietgen an OB Ernst Reuter, 29.1.1951, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 31–93. 182 So habe man ihm die Intendanz der Dresdner Oper sowie eine Professur an den „östlichen Konservatorien“ und Gastspiele an der Deutschen Staatsoper angeboten. Die Russen hät-

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zu fragen, ob er seine Darstellung nicht in der Absicht übertrieb, sich seine „Treue“ zum Westen irgendwie honorieren zu lassen.183 Als die Senatsverwaltung darauf aber nicht einging, wandte er sich demonstrativ der östlichen Einheitspolitik zu. Schnell wurde er zu einem wichtigen Gesprächspartner der SED, dessen Bedeutung für den kulturellen „Klassenkampf“ sie erkannte und propagandistisch ausnutzte. Sie hofierte den für Ehrungen außerordentlich zugänglichen Künstler, der sich im Westen zunehmend unterbewertet und gedemütigt fühlte. Im Sommer 1952 erhielt er den Goethe-Preis der Stadt Berlin (Ost).184 Offenbar strebte er nach einer herausragenden Stelle im dortigen Kulturbetrieb, die man ihm jedoch nicht einräumte. Die Akten des Magistrats lassen nur erkennen, dass ihm „eine bestimmte künstlerische Aufgabe gegeben werden“ sollte, aber seine monatelangen Verhandlungen mit staatlichen Stellen zu keinem Ergebnis geführt hätten.185 Bohnen resignierte. Er fühlte sich nun auch von der SED-Kulturpolitik hintergangen und missbraucht. So vollzog er im April oder Mai 1953 den Bruch mit Ost-Berlin und versuchte eine Annäherung an den Senat. Inzwischen hatten sich West-Berliner Persönlichkeiten und Politiker wieder für den noch stärker mit finanziellen Nöten Ringenden eingesetzt. Tiburtius reagierte zunächst sehr ungehalten186, ließ sich aber zu einer einmaligen Zuwendung an Bohnen (200 West-

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ten ihn zu deren Intendanten machen wollen; er habe aber auch das abgelehnt und in seiner Eigenschaft als „Präsident der Kunstschaffenden“ Herrn Ernst Legal als Intendanten eingesetzt. Schreiben von Bohnen an Tiburtius, 20.8.1951, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1897. Schließlich, so Bohnen, sei er auf die östlichen Offerten „trotz meiner nicht zu schildernden Not“ nicht eingegangen. „Ich blieb dem Westen treu, behielt meinen Charakter und meine Haltung.“ Ebd. In der Begründung hieß es: Bohnens Name sei „in der ganzen Welt und besonders in der Geschichte der deutschen Oper als einer der herausragendsten deutschen Sänger und Operndarsteller eingetragen[…] Bei allen seinen Engagements, besonders in den USA und der Metropolitan-Oper, hat er nie vergessen, dass er in erster Linie ein deutscher und Berliner Künstler ist […] In der Staatsoper und im damaligen Städtischen Opernhaus waren seine Auftritte Welterfolge […] Als Mitglied des Arbeitsausschusses des Groß-Berliner Komitees der Kulturschaffenden kämpft er aktiv für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und für die Erhaltung des Friedens und insbesondere für die Erhaltung und Entwicklung eines internationalen Kulturerbes in unserer Hauptstadt. Als West-Berliner weicht er in diesem Kampf nicht zurück und tritt den Spaltern Berlins mutig und entschlossen entgegen.“ Bezirksleitung der SED Groß-Berlin, Sekretariatsvorlage „Betr. Vorschläge zur Verteilung des Goethe-Preises der Stadt Berlin 1952“, 7.7.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 164. Schreiben des Stellvertretenden OB für Kultur, Fechner, an OB Ebert, 17.4.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. „Die Hochachtung, die wir alle der Kunst eines ehemalig grössten deutschen Sängers zollten“, sei durch seine „unqualifizierte charakterliche Haltung“ so empfindlich getrübt

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mark) bewegen. Dieser bewarb sich daraufhin beim Senator – völlig an der Realität vorbei – um die gerade vakante Stelle des Intendanten der Städtischen Oper. Dabei spielte er sein politisches Engagement im Osten verständlicherweise herunter und suchte nach plausiblen Erklärungen für sein Verhalten.187 Die folgenden Jahre waren von Bitten Bohnens an den Senat um finanzielle Soforthilfen und dem Ringen um eine Ehrenversorgung gekennzeichnet. Sie wurde ihm schließlich auch gegen die bürokratischen Einsprüche der Senatsverwaltung Volksbildung188 von einem mitfühlenden Tiburtius nicht nur gewährt, sondern auch allmählich erhöht.189 Der Senator verschaffte dem alten Herrn 1958 eine beachtliche Aufstockung der Ehrenversorgung190 und das Bundesverdienstkreuz, später sogar das Große Bundesverdienstkreuz.191

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worden, dass der Senator kaum noch die Möglichkeit eines Überbrückungsgeldes sehe. Schreiben des Persönlichen Referenten von Tiburtius an Bezirksbürgermeister Dr. Batzel, 6.11.1953, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 1897. Er müsse die ihm „unterstellte Hinneigung zum Osten als persönliche Verunglimpfung“ zurückweisen. „Wenn ich ganz vorübergehend und von bitterer Daseinsnot gezwungen im Monat Oktober 1950 3mal Toska und 2mal Rosenkavalier gesungen habe, und im November 1952 als Gastregisseur von Othello in Erscheinung getreten bin, so habe ich weiter nichts getan, als was andere namhafte Künstler heute noch tun. Andere Beziehungen haben niemals vorgelegen. Wenn der Osten trotzdem meinen Namen für seine Bestrebungen verwendet hat, und meine westlichen Gegner daraus Schlussfolgerungen zu einer politischen Verdächtigung gezogen haben, so war ich allein ohnmächtig, dem entgegen zu wirken. Dass es an sehr verführerischen Bemühungen, mich für die Staatsoper und alle anderen östlichen Theater als Generalintendant zu gewinnen, nicht gefehlt hat, gleichzeitig auch glänzende wohnliche Unterbringung und sonstige materielle Vorteile angeboten wurden, ist Tatsache. Jederzeit nachweisbar ist aber auch, dass ich aus westlicher Kulturverbundenheit alle gebotenen Vorteile rundweg ausgeschlagen und im Anschluss daran seit nunmehr einem Jahr jede Verbindung abgebrochen habe. Mehr Opfer um einer höheren Aufgabe willen, können von einem Manne in verzweifelter wirtschaftlicher Lage nicht gebracht werden.“ Schreiben Bohnens an Tiburtius, 12.11.1953, in: ebd. Es sei daran erinnert, „dass Bohnen in einer Weise gegen Westberlin öffentlich gesprochen, geschrieben und gewirkt hat, die von keinem sowjetdeutschen Kulturfunktionär übertroffen werden kann“, wandte Wallner-Basté gegen eine Erhöhung der Ehrenbesoldung für Bohnen von 200 auf 300 DM ein. Aktenvermerk für Tiburtius, 3.5.1955, in: ebd. „Das hat er seit längerer Zeit eingestellt und bereut“, entgegnete Tiburtius. „Ich will gegen einen bedeutenden Künstler, der lange Zeit in Not lebte und auch jetzt nicht reichlich versorgt ist, nicht kleinlich empfindlich sein.“ Anmerkung von Tiburtius, 12.5.1955, in: ebd. Auf beachtliche 700 DM. Vgl. Senatsvorlage Nr. 4494/58 vom 10.6.1958, in: ebd. Bundespräsident Theodor Heuss, ein Verehrer Bohnens, hatte diese höhere Ordensstufe gewünscht. Vgl. ebd.

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Der „Fall“ Bohnen zeigte einerseits, dass die kommunistische Führung namhafte westliche Künstler für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren versuchte. Dieses Motiv war aber für die SED durchaus mit dem bereits erörterten Eigenwert vereinbar: Der Kammersänger konnte auch zum künstlerischen Niveau sowie zum Renommee des Ost-Berliner Kulturlebens beitragen. Auf der anderen Seite demonstrierten Tiburtius und der Senat Entschlossenheit: West-Berliner Künstler, die sich mit dem Osten einließen, hätten mit Sanktionen und dem öffentlichen Vergessen zu rechnen, hieß die Botschaft. Bohnen, der in diesem Kampf von Anfang an hoffnungslos Unterlegene, wurde zu einem Präzedenzfall, der mit Rücksichtslosigkeit geklärt wurde: Erst als er sich von seinem „Irrtum“ lossagte, nahm ihn die westliche Wertegemeinschaft wieder auf, und er durfte sich neuer obrigkeitlicher Gnaden erfreuen. Das kleine Drama endete mit einem „Happy End“. Nur insofern war diese Episode untypisch für andere Geschichten im Kalten Krieg. Für die kulturpolitische Auseinandersetzung mit dem Senat gingen von ihr für renommierte Künstler Anregungen über effektive Konflikttaktiken aus. Das zeigt sich bei der weltberühmten Mezzosopranistin/Altistin Margarete Klose und bei dem nicht minder bekannten Tenor Ludwig Suthaus besonders deutlich. Zunächst hatten sie ihre Bereitschaft erklärt, von ihren Ost-Berliner Verpflichtungen zurückzutreten192, wenn auch andere Mitglieder der Städtischen Oper keine Ausnahmegenehmigung für Auftritte im Sowjetischen Sektor mehr erhielten. Jedoch dachten offenbar beide nicht im Geringsten daran, auf ihre großen und finanziell lukrativen Rollen (Jenufa und Stolzing) zu verzichten. Dafür gab es auch keinen Anlass, hatte doch gerade ihr namhafter Kollege, der Bariton Josef Herrmann, seine ihm zugesagte, dann aber von der Senatsverwaltung verweigerte Partie des Holländers an der Städtischen Oper erfolgreich per Anwalt eingefordert, nachdem er in Ost-Berlin (u.a. in „Othello“, „Fidelio“ und „Toska“) brillierte.193 Er und andere konnten nach bekanntem Begründungsschema auf die Präzedenzfälle renommierter westdeutscher Sänger194 verweisen, die an der Deutschen Staatsoper (im Admiralspalast) und an der Komischen Oper erfolgreich gastierten. Sie kamen weiter ungehindert nach Ost-Berlin, weil auch ihre Intendanten ein Auftrittsverbot für sie gegenüber dem Senat beharrlich ablehnten – zwar mit „Bedauern“ und allen möglichen Begründungen, aber unmissverständlich.195

192 Vgl. Vermerk: „Betr. Ost/West-Frage, hier Städtische Oper“, 31.8.1954, in: ebd., Nr. 349. 193 Vgl. Schreiben von Werckshagen an Senatsrat Paproth, 15.7.1954, in: ebd. 194 So auf begabte Nachwuchssänger wie Hedwig Müller-Bütow (Mannheim), Erich Witte (Bremen) u.a. Vgl. Schreiben der Städtischen Oper an Tiburtius, 20.9.1954, in: ebd. 195 Man zeigte zwar Verständnis für die „besondere Situation Berlins im Ost-West-Konflikt“; doch gäbe es keine rechtlichen Mittel, die Hausmitglieder zu hindern, zumal viele ihren

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Zwar schloss der immer nervösere Senat mit westdeutschen Künstlern bereits in Aussicht gestellte Verträge für die Städtische Oper nicht ab, wenn sich – wie im Fall des Münchener Sängers Benno Kusche – herausstellte, sie auch in Ost-Berlin ein Engagement angenommen hatten196, doch führte das zu schier endlosen Rechtsstreitigkeiten.197 Das forcierte den Konflikt, den Tiburtius so verbissen wie aussichtslos führte. Er fand mit seinem rigiden Kurs auch in der Bundesregierung wenig Resonanz, wenngleich er speziell den pragmatischen Bundeskanzler zu einer energischen Haltung zu drängen versuchte – nicht von ungefähr mit antisowjetischen u.a. Igor Oistrach diskreditierenden „Kultur“-Argumenten.198 Natürlich sahen sich vor allem die Deutsche Staatsoper und die Städtische Oper traditionell wie aktuell als unmittelbare Konkurrentinnen. Als Letztere beispielsweise den „Don Giovanni“ inszenierte, setzte die Lindenoper diese Aufführung parallel dazu auf ihren Spielplan. Für Kenner war der Vergleich reizvoll; die Senatsverwaltung hingegen sah darin zutreffend den Versuch einer „Torpedierung“ und wetterte gegen die Darstellerin der Donna Anna (Helene Werth), die sie im Osten gab, um gleichzeitig in der Städtischen Oper in „Der fliegende Holländer“ aufzutreten.199 Im Hintergrund der Opernkonkurrenz stand freilich auch viel Persönliches. Als der redliche Ernst Legal als Intendant der Ost-Berliner Staatsoper zurückgetreten war, ging das Gerücht um, dass der Dirigent von höchstem Rang Erich Kleiber, der vor seiner Emigration (1935) 11 Jahre lang Generalmusikdirektor an der Preußischen Staatsoper gewesen war und hier mit der Uraufführung von Alban Bergs „Wozzeck“ (1925) Musikgeschichte geschrieben hatte, sein Nachfolger oder doch musikalischer Leiter des Hauses werden würde. Vertraglich nicht gebunden, dirigierte Kleiber ab Juni 1951 sowohl an der Städtischen Oper als auch an der Staatsoper, der er sich auch emotional stark verbunden fühlte.

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Urlaub nutzten, „auf den vertraglich nicht einzuwirken sei“. Vgl. Vermerk über eine „Konferenz der großen Opernbühnen in Berlin am 4. und 5. Dezember 1954“, in: ebd. Vermerk, 23.9.1954, in: ebd. Vgl. Rechtsstreitigkeiten, in: ebd., Nr. 442 und Nr. 1398 (hier u.a. Hedwig MüllerBütow). Der vom Osten gelenkte Versuch, „sowjetischen Künstlern in Westberlin Eingang zu verschaffen, wurde hier sogleich als das erkannt, was es ist: politische Propaganda mit den Mitteln der Kunst“. Angebote des Geigers Igor Oistrach und des Moskauer Balletts seien deshalb von ihm abgelehnt worden. Doch stellten nicht mehr sie, sondern die „sowjetdeutschen Söldnertruppen [deutsche Künstler]“, das „Hauptkontingent im Kalten Kulturkrieg“, meinte der Senator. Schreiben von Tiburtius an Adenauer, 24.9.1954, in: ebd., Nr. 1127/1. Vermerk für Tiburtius, 27.5.1952, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 348.

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So nahm es nicht wunder, dass SED wie Senat versuchten, den berühmten Namen mit lukrativen Offerten dauerhaft an sich zu binden, Tiburtius ebenfalls in der Absicht, damit prominente Sänger an der Städtischen Oper zu halten. Auch die Tatsache, dass die Gegenseite den Wiederaufbau der historischen Knobelsdorff-Oper Unter den Linden in Angriff genommen hatte, aber offenbar auch der diskrete Auftrag des Senators, veranlassten den Intendanten der Städtischen Oper, Heinz Tietjen, einst Generalintendant der Preußischen Staatsoper und die „graue Eminenz“ des deutschen Musiktheaters, bei Kleiber (in Buenos Aires) „außerdienstlich“ anzufragen, ob er nicht geneigt sei, seine Berlintätigkeit ganz auf die Städtische Oper zu verlagern.200 Tietjen stand im 73. Lebensjahr und wollte demnächst in den Ruhestand treten. Kleiber kabelte zurück: „Leider unmöglich.“201 Ein Gerücht bestätigte sich: Der Dirigent wolle zum 1. Oktober 1953 die musikalische Leitung der Staatsoper übernehmen.202 Der Senat reagierte „säuerlich“ und lancierte bittere Vorwürfe gegen ihn in die Presse. Sie bauschte die Sache in der Öffentlichkeit zum politischen „Fall Erich Kleiber“ auf.203 Der Maestro geriet zunehmend unter politischen Druck. Wie Carl Ebert, der neue Intendant der Städtischen Oper, sah er wohl auch, dass mit der Lindenoper ein Konkurrent „im großen Stil“ entstehen würde, „dem unbegrenzte materielle Hilfsquellen“ zur Verfügung stünden, weil hinter denen „der Propagandaapparat eines politischen Systems steht“.204 Als Kleiber von der Entscheidung der SED erfuhr, die Inschrift über dem Porticus der wieder erstandenen Lindenoper: „Fredericus Rex Apolloni et Musis“ gegen seinen Protest in „Deutsche Staatsoper“ umzuwandeln, nahm er das zum Anlass, um das Handtuch zu werfen. Im März 1955 verließ er Berlin. Der Groll von Tiburtius gegenüber dem Dirigenten wirkte allerdings weiter.205 Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass Kleibers ursprüngliche Entscheidung eine 200 Information von Tietjen an Wallner-Basté mit der Bitte, Senator Tiburtius über seine Bemühungen zu verständigen, 8.9.1952, in: ebd. Nr. 2260. 201 Telegramm von Kleiber an Tietjen, ebd. 202 Vgl. „National- Zeitung“, Berlin (Ost), 19.6.1952. 203 „Kleiber hat sich vor den Wagen einer politischen Propaganda spannen lassen, für die die Kunst, die Musik nur eines von vielen Mitteln zum Zweck zur Errichtung einer ‚Kultur“Fassade ist, hinter der sich blutige Tyrannei und grauenhafte Vernichtung […] breitmachen.“ „Der Fall Erich Kleiber“, in: „Der Tag“, 4.3.1953. 204 Vermerk: „Betr. Konferenz der großen Opernbühnen in Berlin am 4. und 5. Dezember 1954“, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 349. 205 Er wolle den Streit mit Herrn Kleiber nicht fortsetzen, „empfinde es aber als traurig, daß ein großer Musiker erst in dem Augenblick Anlass zur Trennung von diesem System findet, in dem Gewalttaten ihn selber berühren und nicht aus Erkenntnis der Grundsätze“. Schreiben von Tiburtius an Walter Busse, Redaktion „Die Welt“, 6.4.1955, in: ebd., Nr.

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Reihe von West-Berliner Opernsängern, die in der einen oder anderen Art mit ihm verbunden waren, zu Gastauftritten im Ostsektor ermutigt hatte und einige der Namhaftesten – Josef Herrmann z.B. und Margarethe Klose – gar zur neuen Lindenoper überwechseln wollten. Das war im Fall der Klose, die mit Kleiber aufs engste befreundet war, für die West-Berliner Kulturverwaltung besonders ärgerlich. Die beliebte Künstlerin bestand weiter auf ihren Gastauftritten in Ost-Berlin, aber gleichzeitig auf ihrem Einsatz in der „Jenufa“, die am 25. Januar 1955 in der Städtischen Oper Premiere haben sollte. Der Senat und Intendant Ebert sahen sich zunächst vor die Entscheidung gestellt, die Janacek-Oper entweder abzusetzen oder Frau Klose auszuwechseln. Die erste Variante ging mit Blick auf die Öffentlichkeit nicht und bei der alternativen zweiten befürchtete der Senat eine Schadensersatzklage der Sängerin. Die Lösung des Problems sah man dann – perfiderweise – in den erwarteten „Störungen des Publikums“, das einen Präzedenzfall schaffen sollte.206 Das Publikum raste am Abend des 25. Januar – aber nicht vor Zorn über den „Verrat“ der Diva, sondern vor Begeisterung. Das hatte sich allerdings trotz einer üblen Pressekampagne gegen sie und andere Sänger als gewissenlos und geldgierig207 bereits vorher angedeutet – etwa bei der Aufführung des „Troubadour“ am 20. Januar.208 Auch schlug die öffentliche Meinung bei ihrem schließlich vollzoge-

2252. Noch im Mai 1955 bezeichnete er es als „schmerzlich“, wenn „ein großer Künstler mit dem Glanz seines Namens die üble Camouflage zudeckt, die mit dem Bau eines Luxusopernhauses betrieben wird“. Schreiben von Tiburtius an Eberhard Otto, Direktor der Städtischen Musikschule in Weiden, 4.5.1955, in: ebd., Nr. 1128/2. 206 „Kommen tatsächlich aber Störungen vor, die evtl. Veranlassung geben, sogar die Aufführung abzubrechen, dann liegt das allein an dem Verhalten von Frau Klose und wir brauchen keinen Schadensersatz […] zu zahlen, im Gegenteil bleibt sogar die Möglichkeit, sie für den finanziellen Schaden der Oper haftbar zu machen.“ Ebert stimmte zu: „Geschähe etwas, so könne er in gewissem Sinne das sogar begrüßen, da dann auch der Westen aus seiner Lethargie in diesem Punkte erwachen könne und es auch eine Warnung für das übrige Ensemble sei.“ Vermerk „Betr. ‚Jenufa‘-Aufführung mit Frau Klose“, 6.1.1955, in: ebd., Nr. 349. 207 „Bin nur ein Nigger, zieh durch die Welt – singe für money, tanze für Geld“, führte die West-Berliner „BZ“ die Klage eines Komödianten aus Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ mit deutlichem aktuellen Bezug an. „Wo ist da eigentlich der Unterschied zwischen dem Nigger und den Opernsängern?“, fragte das Blatt bösartig. „Berliner Zeitung“, 3.1.1955. 208 Frau Klose habe nicht Ablehnung, sondern „demonstrativen Beifall“ erhalten, der sich noch verstärkte, als beim Schlussapplaus einige Pfiffe ertönten. Vermerk für Senator Tiburtius, 21.1.1955, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 349.

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nen Vertragsabschluss mit der Staatsoper nicht um.209 Bald schon räumte der Verlierer Tiburtius ein völlig korrektes Verhalten der Klose ein, aus dem er vernünftige Konsequenzen zog. Schadensbegrenzung war nun die Devise.210 Forciert durch die West-Berliner Pressekampagne und die harte Haltung Carl Eberts im Gleichklang mit der Kulturverwaltung des Senats211 entstand kurzfristig eine Atmosphäre des Misstrauens gegenüber Opernsängern, der Verdächtigungen und Gerüchte. Ihr fielen auch Künstler zum Opfer, die überhaupt keine Verbindung zu Ost-Berliner Musikbühnen aufgenommen hatten.212 Natürlich handelte es sich im Fall der prominenten Überwechsler zur Lindenoper um Abwerbungen, und richtig war auch, dass sie hier hohe Gagen erhielten, wenngleich sie sicherlich übertrieben wurden.213 Aber treibende Kraft blieb in allen Fällen der Berliner Systemwettbewerb, der sich durch den Glanz des neuen Hauses Unter den Linden und seinen „Dumping“-Preisen noch intensivierte. Die Opernkonkurrenz zog weiter an.214 Auf der östlichen Seite des Konflikts wurde 1955 mit Stolz eine erfolgreiche Opernbilanz präsentiert.215 In der Tat erreichten die dortigen Häuser nicht nur 209 Die Künstlerin schwärmte, sie habe in Ost-Berlin einen „wunderbaren Vertrag“ bekommen. „Der Tag“, 4.1.1955. 210 Frau Kloses Verhalten sei vertragstreu, denn sie wolle erst nach Ablauf ihres Kontraktes mit der Städtischen Oper zur Staatsoper überwechseln. Sie für noch 10 Abende mit 12 bis 13.000 DM „ohne jede Gegenleistung abzufinden“, wäre unklug, befand die Kulturverwaltung. Das würde Frau Klose für die Ostpresse in die Rolle einer „Märtyrin der Kunst“ drängen. Vermerk für Tiburtius, 17.1.1955, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 349. 211 Fünf Sänger, die Verpflichtungen an der Deutschen Staatsoper übernommen hätten, dürften nach Ebert nicht mehr an der Städtischen Oper auftreten. Vgl. „Hamburger Abendblatt“, 6.1.1955. 212 Man müsse Frau Klose, Josef Herrmann, Josef Metternich, Rudolf Schock und Helmut Melchert „aus der Liste unserer Prominenz streichen“, forderte die „BZ“ vom 3.1.1955. Schock und Metternich hatten überhaupt keine Verträge mit der Staatsoper abgeschlossen, gerieten also vollkommen „unschuldig“ in die Schusslinie der Presse. 213 Offenbar erhielten sie an der neuen Staatsoper „in Westmark noch höhere Gagen als sie die Städtische Oper zahlt“, mutmaßte die „Nacht-Depesche“ am 5.1.1955. Der Osten biete Frau Klose und Herrn Herrmann „märchenhafte“ Gagen, die „Hollywood-Format“ hätten. 214 Eine Teilnahme von West-Berliner Künstlern an Veranstaltungen in Ost-Berlin trage „in der Regel nur den Charakter der Konkurrenz“. Sie werde jetzt „besonders unerfreulich“, wenn West-Berliner Sänger „demnächst in der Staatsoper auftreten wollen“. Tiburtius: „Gedanken für das Referat über die Kulturpolitik in der West-Ost-Spannung“, für die Kultusministerkonferenz am 3.3.1955, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 2252. 215 Magistrat: „Bericht über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1955 in Groß-Berlin“, Februar 1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 252/1, Bl. 37.

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eine ca. 93prozentige Auslastung der Plätze, sondern auch mit 17, zumeist auch im Westen anerkannten Neuinszenierungen, ein beachtliches Ergebnis. Dagegen half auch der gewundene Senatsbeschluss wenig, „daß die Berliner Presse vom Senat keine Bestätigung der von einigen Zeitungen geübten Gepflogenheit erwarten dürfe, Aufführungen in Ost-Berliner Kunstinstitutionen zu besprechen. Dies umso weniger, „als der Senat nicht etwa den West-Berliner Künstlern zum Auftreten in Ost-Berlin Vorwände liefern könne“.216 Für ihn noch bedenklicher war die befürchtete politische Ausstrahlung der von der SED zum Nationalsymbol stilisierten Staatsoper. Ihre Eröffnung (4. September 1955) sei ein Kulturereignis nicht nur für Berlin und die DDR, sondern für ganz Deutschland. Die Pflege des kulturellen Erbes müsse alle Deutschen „über die Zonengrenzen hinweg“ verbinden. Deshalb sei es so bedeutungsvoll, dass die Künstler der Staatsoper, die aus dem Osten wie aus dem Westen des Vaterlandes kämen, „diese kulturelle Einheit schon verkörpern“, hatte ihr Intendant Max Burghardt ausgeführt.217 Das war ein Anspruch, dem der Senat auf Dauer nicht mehr allein durch Abgrenzung und Abwehr begegnen konnte. Diese Einsicht schien sich auch bei ihm allmählich durchzusetzen. Auf dem Höhepunkt des Konflikts begann die Suche nach neuen Lösungsansätzen. Dabei wirkte sich die deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage West-Berlins günstig aus. Jetzt war Tiburtius gefordert, alternative Ideen für den Umgang mit der östlichen Kulturkonkurrenz zu entwickeln. Zwar gab es in den folgenden Jahren immer wieder durch Eskalationen des Kalten Krieges bedingte Rückfälle in die Zeiten des „Sängerkrieges“, doch begann sich unter den Bedingungen der erstarkenden West-Berliner Kulturkonkurrenz am Ende der 50er Jahre das Blatt zu wenden. Vor allem spülte seit 1957 der von Bonn finanzierte Gesamtberliner Kulturplan das Geld auch in die Theaterkassen. Jetzt gastierten immer mehr Stars der Ost-Berliner Opern bei der Konkurrenz im Westteil der Stadt, und vor allem mit Felsensteins „Komischer Oper“ gebe es ideologische Schwierigkeiten, ärgerte sich die Ost-Berliner Führung.218 Und ab 1961 glänzte die neue Deutsche Oper in Charlottenburg.

216 Vertraulich: Senatsbeschluß Nr. 2626/56 vom 23.11.1956 über Ostkontakte, in: ebd., B Rep. 014, Nr. 2887. 217 Zitiert nach: Steinhage/Flemming, Berlin – Vom Kriegsende bis zur Wende. 218 Vgl. Vorlage der Abteilung Volksbildung und Kultur der Bezirksleitung Groß-Berlin der SED für das Büro der SED-Bezirksleitung, 10.12.1957, in: LA Berlin, C Rep. 902, Nr. 309.

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2.2.3 Die Affäre Walter Felsenstein „Bis zu den Augusttagen des Jahres 1961 entfaltete sich zwischen den drei Berliner Opernhäusern eine fruchtbare Konkurrenz, die wie eine Neuerweckung der Blüte und Vielfalt des Berliner Opernlebens Ende der zwanziger Jahre erschien, wo Klemperers Krolloper als ein progressives Experiment eine ähnliche […] Funktion ausübte, wie sie später Felsensteins Komische Oper übernahm.“219 Götz Friedrich, einer der engsten Mitarbeiter Felsensteins, interpretierte die Zeit bis zum Mauerbau zu Recht als einen immens produktiven kulturellen Wettbewerb, der innerhalb der konfrontativen regionalen Systemkonkurrenz geeignet schien, dem Übergreifen der politischen Spaltung Berlins auf seine Kultur und kulturelle Identität entgegenzuwirken. Walter Felsenstein brachte einen reichen Erfahrungsschatz in die „Komische Oper“ ein, die er 1947 übernommen hatte und 28 Jahre leitete. Er schrieb in dieser Zeit deutsche und internationale Theatergeschichte und entwickelte an seinem Haus ein eigenes Opernmodell.220 Obwohl selbst kein „Ursprungs“-Berliner (er war gebürtiger Österreicher), hatte er bereits vor 1945 einige Jahre an der Seite prominenter Theaterleute wie Heinrich George, Jürgen Fehling, Paul Wegener und Lucie Höflich in der Reichshauptstadt gearbeitet und auch in der schwierigen Nachkriegszeit zu Berlin eine Beziehung entwickelt, die nicht anders als innig zu bezeichnen war. So führte er das Opernhaus in der Behrenstraße in der Hoffnung, aber auch in dem Bewusstsein, „daß Berlin die erste Theaterstadt Deutschlands bleibt“.221 Diese Aufgabe blieb ein durchgängiges Ziel Felsensteins. So verhehlte er während des Kalten Krieges nie seine „lange Sorge um die politische Entwicklung, speziell in Berlin“, die Sorge, „wie lange es für uns die Kommunikation zwischen Ost- und West-Berlin“ noch gebe. Deshalb wandte sich der in gesamtdeutschen Kategorien denkende und im besten Sinn patriotische Intendant gegen künstlerische und berufliche Entscheidungen aus politisch motivierten Gründen.222 Auch seine tiefe Einsicht in die Notwendigkeit des Friedens, den er, im Unterschied zu den Phrasen des Kalten Krieges, immer auch als konkrete persönliche Schaffensgrundlage 219 Götz Friedrich, Walter Felsenstein, in: Lothar Gall (Hrsg.), Die großen Deutschen unserer Epoche, Frechen 2002, S. 312. 220 Mit folgenden Funktionsmerkmalen: „Stimulanz der Entwicklung bei entschiedener Abgrenzung vom internationalen Operngeschäft, ‚Werkstatt‘ geistig-künstlerischer Neuaufarbeitung, Gegenvorschlag zur ‚Grande opèra‘ jedweder Couleur, Modell eines Musiktheaters auch unter Gefahr der Einseitigkeit bei der Konzentration auf Werke und Stile, die für das Experiment besonders geeignet erschienen.“ Vgl. ebd. 221 Ebd. S. 316. 222 Ebd. S. 316f.

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sah223, zeigt ihn als Zoon politikon – engagiert, aber subjektiv unabhängig von parteipolitischen Richtungen und den Normen der ideologischen Systemauseinandersetzung. Das brachte ihn offenbar in keinerlei Konflikt mit der sowjetischen Besatzungsmacht, die ihn beim Aufbau der „Komischen Oper“ sehr unterstützt hatte und die ihn als „erhofften Verbündeten seines künstlerischen Programms“ auch weiter in die Pflicht und beim Wort nahm. Ebenso bewahrte er Loyalität gegenüber der Führung der SED sowie dem DDR-Staat und seinen Behörden. Sie war ihm als „Ausdruck der Räson“ und seiner persönlichen Korrektheit eine Selbstverständlichkeit.224 Obgleich Felsensteins politische Integrität, die klar zu bestimmen und somit auch berechenbar war, sowie seine menschliche Größe von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen werden konnten, legte die Kulturverwaltung des Senats von West-Berlin Felsensteins Staatsloyalität als prinzipielle Parteinahme für die diktatorischen Verhältnisse in Ost-Berlin und der DDR aus. Eines Beweises dafür hätte es auch nicht bedurft. Nicht nur die herausgehobene Stellung als Intendant der „Komischen Oper“, allein schon, dass er in Ost-Berlin tätig war und seine Kunst in den Dienst des dortigen Kulturbetriebes stellte, ließ ihn in die Kritik geraten. Sanktionen folgten. So verhängte Volksbildungssenator Tiburtius im Spätsommer 1951 auch über Felsenstein ein Hausverbot für West-Berliner Theater. Der eigentliche Konflikt entstand jedoch nicht aus der unmittelbaren Konkurrenz zu West-Berlin und seiner Kulturverwaltung, sondern aus der Ende 1957 von der Ost-Berliner SED-Führung und dem Magistrat erhobenen Forderung, der Intendant müsse sich von seinen zahlreichen West-Berliner Mitarbeitern aus ideologischen Gründen trennen, da ansonsten keine Stabilisierung der als politisch instabil diffamierten Lage an der „Komischen Oper“ möglich sei. Eine Beruhigung würde aber nur eintreten, wenn es den West-Berliner Dienststellen, „die an einer Minderung der Aktivität und der Atmosphäre des Optimismus und der Sicherheit interessiert sind, immer schwerer gemacht wird, ihre infiltrativen Absichten durchzusetzen“225, urteilte die SED-Bezirksleitung. Die politische Absicht verband sich mit einem wirtschaftlichen Motiv. Denn die an der „Komischen Oper“ Tätigen 223 „Es gibt – jedenfalls für die Dauer unseres Lebens – heute nur eine relative Ruhe, nämlich: ohne Krieg auskommen. Kein Mensch – mit Ausnahme der wenigen, die vom Kriege leben – kann eine Lebensaufgabe erfüllen ohne Frieden. Dafür mit seinen Möglichkeiten und bei den ihm erreichbaren Menschen einzutreten, ist auch – und besonders für den Künstler – ein Akt der Selbsterhaltung und nicht der Politik. Wie er dafür politisch betitelt wird, muß ihm gleichgültig sein.“ Ebd. S. 317. 224 Vgl. ebd. 225 Schreiben des Kultursekretärs der SED-BL Berlin, Wengels, an Felsenstein, 26.11.1957, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 430.

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tauschten einen Teil (40 Prozent) ihrer Ostgeld-Einnahmen über die WestBerliner Lohnausgleichskasse offiziell in Westmark um und konnten als OstGrenzgänger überdies „gegen Ost“ in der „Hauptstadt der DDR“ billig einkaufen und hier Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Etwa 400.000 Ostmark flössen jährlich „legal und illegal“ nach West-Berlin ab.226 Felsenstein wehrte sich mit plausiblen Argumenten: Eine Entlassung der Westmitarbeiter würde die Arbeit der „Komischen Oper“ und ihr Profil irreparabel schädigen – von ihren 326 künstlerischen Mitgliedern kämen 194 aus West-Berlin, zwei Drittel des Orchesters und knapp drei Viertel des Chores.227 Wenngleich zu einigen Zugeständnissen bereit, verweigerte sich der Intendant prinzipiell der vom Magistrat immer drängender erhobenen personellen Forderung. Die harte Sprache seiner auch persönlich gegen ihn eingenommen unmittelbaren Dienstvorgesetzten, der Stadträtin für Kultur, Johanna Blecha, verletzten das Ehrgefühl und das Loyalitätsbewusstsein Felsensteins. Sie drängte ihn in eine Position, die er in einer sachlichen Diskussion dann so kompromisslos kaum eingenommen hätte. So erschien denn seine Lage in dem Maße aussichtslos, wie sich die Partei- und Verwaltungsfronde gegen ihn unter Führung des Politbüromitgliedes Oberbürgermeister Ebert sowie dessen Magistratsadministration verfestigte, die von der SED-Bezirksleitung Berlin vorbehaltlos unterstützt wurde. Hinzu kam, dass sie in der „Komischen Oper“ eine Gruppe von SED-Vertrauensleuten formiert hatte, die – angeführt vom Verwaltungsdirektor des Hauses (und stellvertretenden Intendanten) – gegen den zunächst ahnungslosen Felsenstein konspirierte und über den Parteiweg tendenzielle Informationen nach „oben“ lieferte. Auch durch andere Anschuldigungen228 in die Enge getrieben, spielte der frustrierte Intendant mit dem Gedanken, die „Komische Oper“ zu verlassen, drohte zumindest mit diesem Schritt. Seine kompromisslosen Gegner arbeiteten faktisch genau darauf hin, wenn sie die „führende Rolle“ der Partei und ihre konkreten Forderungen nach der „Säuberung“ der weltbekannten „Komischen Oper“ höher

226 Vgl. „Mitteilungen des Gen. Kostka, Komische Oper“, November 1957, in: ebd. 227 Vgl. Bericht der SED-Bezirksleitung Berlin, Dezember 1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 309, Bl. 86. 228 So wurde ihm nicht zu Unrecht ein recht generöser Umgang mit finanziellen Mitteln, vor allem Devisen, vorgeworfen, aber auch die Nichteinhaltung der Anzahl von Neuinszenierungen, zu der er sich dem Magistrat gegenüber verpflichtet hatte. Diese Argumente, wie aber auch die finanziellen Forderungen Felsensteins bei der sich über Monate hinziehenden Aushandlung seines neuen Arbeitsvertrages, wurden von seinen Gegnern politisch instrumentalisiert – letztendlich, um ihn, vor allem in der Frage der Entlassung von Westkräften, zu disziplinieren.

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bewerteten als deren Wirkung auf die politisch-kulturelle Systemkonkurrenz sowie das Können und Charisma eines Ausnahmekünstlers. Doch wendete sich das Blatt.229 Nach heftigen SED-internen Auseinandersetzungen gab der Staatssekretär im DDR-Kulturministerium (und spätere Minister), Alexander Abusch, Ebert und der übrigen Anti-Felsenstein-Fronde unter harscher Kritik an Blecha (und indirekt auch am Oberbürgermeister) zu verstehen, nicht nur er und sein Kulturministerium, sondern auch Ulbricht und Grotewohl seien der Meinung, und hätten ihm einen entsprechenden Auftrag erteilt, dass Felsenstein unbedingt gehalten werden müsse. Das sei schließlich nicht nur eine „Berliner Angelegenheit“, habe der Erste Sekretär des ZK der SED gesagt; gerade angesichts der „Abwerbungsversuche unserer Gegner“ müsse man auf Felsensteins Wünsche bezüglich seiner Kräfte aus West-Berlin eingehen.230 Das betraf aber auch dessen Forderung nach der Entfernung der illoyalen SEDFunktionäre aus der „Komischen Oper“. Das war in der Geschichte Ost-Berlins beispiellos und eigentlich auch undenkbar: Treue und bewährte SED-Funktionäre zugunsten eines „bürgerlichen“ Theatermannes mit ideologischen Schwierigkeiten zu opfern und der Partei vor Ort und in der Öffentlichkeit eine Schlappe zuzufügen, stellte ein Sakrileg dar – und das angesichts der schadenfrohen WestKonkurrenz. Wenngleich er lange Zeit nichts über das Gerangel hinter den OstBerliner Kulturkulissen erfuhr, erhielt der Westen durch dessen Ausgang eine deutliche Botschaft: Felsenstein bleibt an der „Komischen Oper“, und er bekenne sich ausdrücklich zu Ost-Berlin. Die West-Berliner Zeitungsmedien reagierten sehr differenziert. „Die Welt“ sah die „Lex Felsenstein“ der SED als einen Akt politischer Vernunft231 an, der für den Erhalt der gesamtdeutschen und Berliner Kultur richtig und notwendig sei.232 „Der Tagesspiegel“ fragte eher bedauernd, ob Felsenstein, „der zwischen Ost und 229 Zu den Hintergründen und zum wechselvollen Verlauf der Auseinandersetzung: Michael Lemke, Der „Fall“ Felsenstein, in: ders. (Hrsg.), Konfrontation und Wettbewerb. Wissenschaft, Technik und Kultur im geteilten Berliner Alltag (1948–1968), S. 209–231. 230 Schreiben von Abusch an Ebert, 3.3.1958, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 430. 231 „Wenn die Sowjetzonenregierung jetzt mit einer ‚Lex Felsenstein‘ auf den Plan tritt, die die ideologischen, menschlichen und ‚politischen‘ Probleme […] zumindest für diesen Fall ausklammert, so wäre das weniger verwunderlich als die Entscheidung, sich von einem Mann zu trennen, der die Komische Oper zu einem der stärksten Aktivposten nicht nur der Theaterstadt Berlin, sondern des modernen Musiktheaters überhaupt gemacht hat.“ „Die Welt“, 10.6.1958. 232 „Der Weggang Felsensteins wäre ein Signal gewesen, das die ganze westliche Kulturwelt alarmiert hätte. Er hätte die Tür zwischen Ost und West vollends zugeschlagen. Jetzt bleibt für den gesamtdeutschen Aspekt wenigstens noch ein schmaler Durchblick. Das ist kulturpolitisch wichtig.“ „Die Welt“, 28.6.1958.

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West wählen konnte, nicht die Chance verpaßt hat, der lebendigen produktiven Kunst zu dienen“.233 An westlichen Angeboten für Felsenstein hatte es augenscheinlich nicht gefehlt. Noch Ende Mai 1958 kursierte in der Senatsverwaltung Wissenschaft die freilich ungesicherte Information, er habe ein Düsseldorfer Angebot als Regisseur oder „gar als Intendant“ angenommen.234 Wenn die SEDFührung immer wieder von „Abwerbungs“-Versuchen sprach, mussten sich weder sie noch andere ereifern. Auch und gerade in diesem Fall galten die Gesetze nicht nur der politischen Konkurrenz, wie sie die SED beinahe ausschließlich sah, sondern auch des künstlerischen und wirtschaftlichen Wettbewerbs. Ob und wie Felsenstein verschiedene westliche Offerten tatsächlich ernsthaft erwogen hat, sie als persönliche Aufwertung behandelt oder sie möglicherweise mehr für seine Kündigungs-Drohkulisse gegenüber der SED und dem Magistrat nutzte, wird sich wohl nicht mehr herausfinden lassen. Noch einmal brachte ihn der Kalte Krieg in die Schlagzeilen, als er an der Hamburger Oper auf Einladung von Rolf Liebermann den „Rigoletto“ vorbereitete, eine seiner wenigen Inszenierungen außerhalb Ost-Berlins. Die „Bild-Zeitung“ forderte ihn ultimativ auf, „sich klar zu entscheiden, ob er ein Mauerstein des Ostens sein will oder ein Felsenstein bei uns“.235 Das Blatt verkannte, dass Felsenstein immer Felsenstein blieb. Felsenstein errang 1957/58 einen persönlichen Sieg, der zweifellos auch ein Gewinn für die „Komische Oper“ war. Nicht nur er und der mit ihm verbundene Nimbus des Hauses blieben, sondern auch viele bewährte Künstler und technische Kräfte aus West-Berlin, die der Bravourakt ihres Meisters noch stärker motivierte. Doch hatte der Intendant keine Kraftprobe mit der SED angestrebt. Sie wurde ihm aufgezwungen, und er nahm sie an, weil er seinen moralischen und künstlerischen Prinzipien und Überzeugungen, letztendlich auch sich selbst, nicht ausweichen konnte. Überdies entwickelte die Fehde mit ihrer oft überraschenden Dynamik möglicherweise eine für ihn kreative Spannung. Felsenstein wäre nicht Dramaturg und Regisseur gewesen, wenn er sie – natürlich ungewollt und wahrscheinlich auch unbewusst – nicht ein wenig den Regeln des Schauspiels unterwarf. Es gab Helden und Bösewichte, retardierende Momente und theatralische Zuspitzungen des Dramas, bis es sich schließlich in einem Konsens der Kontrahenten auflöste. Dieser Vorgang, der nicht zuletzt auch Mitglieder des Politbüros gegeneinander positionierte, nimmt sich aus wie eine Novelle im Sinne Goethes, als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“. Wenngleich sie die Herrschaft der SED, ihre kulturellen Prinzipien sowie ihre Kaderpolitik in keiner Weise in Frage stellte, 233 „Der Tagesspiegel“, 28.6.1958. 234 Vermerk von Wallner-Basté, 27.5.1958, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1128/1. 235 „Bild-Zeitung“, 12.5.1962.

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blieb sie in Ost-Berlin vor dem Mauerbau einzigartig. Obwohl ohne den Kalten Krieg und die Berliner Systemkonkurrenz nicht denkbar, war der „Fall“ Felsenstein ein interner politisch-ideologischer Konflikt. In dem Maße, wie beide Seiten auf ihren Prinzipien bestanden – einerseits die führende Rolle der SED sowie die dogmatischen Kompetenzansprüche des Magistrats und andererseits die künstlerisch-moralischen, aber auch patriarchalisch-fürsorglichen Grundsätze Felsensteins –, nahm die von hoher Eigendynamik gekennzeichnete Auseinandersetzung zeitweilig antagonistische Züge an. Sie stellte schließlich die kategorische Frage: SED-Dogma oder Felsenstein. Das Problem wurde auf zwei Ebenen verhandelt. Während der Intendant im „primären“ Streit mit dem Magistrat und dessen Verbündeten den „Kürzeren“ zog, wurde seine auswegslos scheinende Position durch die „sekundäre“ Kontroverse zwischen dem Magistrat und dem Kulturministerium stabilisiert, hinter dem Ulbricht und andere Politbüromitglieder standen. Sie gingen in diesem Fall von einem Primat der künstlerischen Einmaligkeit Felsensteins und seines damit verbundenen internationalen Renommees über den nie prinzipiell in Frage gestellten Führungsanspruch der Partei aus, wenn sie angesichts der kulturellen Systemkonkurrenz in Berlin (und des Ringes der DDR um Anerkennung) die Forderungen Felsensteins erfüllten. Der Mauerbau 1961 störte die Kontinuität seiner erfolgreichen Arbeit und seines Ensembles zunächst empfindlich. In den ersten Wochen nach diesem Ereignis erreichten die West-Berliner Mitarbeiter ihre Arbeitsstätte nicht und der Beginn der Spielzeit 1961 musste um gut zwei Wochen verschoben werden. Doch gelang es dem Intendanten, alle seine West-Berliner Mitarbeiter auch jetzt zu halten – so sie denn hier weiter arbeiten wollten –, und erhielt ihnen dadurch den Arbeitsplatz. „Da erwies er sich als praktizierender Humanist und realisierte, was er auf der Bühne als Programm durchsetzen wollte: Humanisierung.“236 Seine Bemühungen waren aber auch deshalb erfolgreich, weil die SED-Führung und das Kulturministerium gerade nach dem Desaster des 13. August Felsenstein nicht an den Westen verlieren und sein Theater nicht zur Disposition stellen wollten. Das sei ein „politischer Faktor“, schrieb der neue Kulturminister, Hans Bentzien, an Ulbricht. Eine Auflösung der Komischen Oper würde bedeuten, „daß Brandt […] einen sofortigen Erfolg in unserem Kulturleben hätte“237. Das hätte für die kulturelle und kulturpolitische Konkurrenz zwischen beiden Teilen Berlins schwerwiegende Folgen gehabt: Gerade war in Charlottenburg die Deutsche Oper eröffnet worden und eine Reihe prominenter Sängerinnen und Sänger hatten Ost-Berlin bereits verlassen oder kehrten nun von Auslandsgastspie236 Friedrich, Walter Felsenstein, S. 317. 237 Schreiben von Bentzien an Ulbricht, 17.8.1961, in: SAPMO-Arch DY 30, IV 2/906/105.

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len nicht mehr dorthin zurück. Davon blieb aber auch die „Komische Oper“ nicht verschont.

2.3 Ein ähnliches Paar? West-Berliner „Festwochen“ und Ost-Berliner „Festtage“ Um die kulturelle Ausstrahlung der Teilstadt besorgt, waren verschiedene WestBerliner Persönlichkeiten der Initiative des Intendanten der Städtischen Oper, Heinz Tietjen, nähergetreten, ab Herbst 1951 einmal im Jahr „als ständige Einrichtung“ Theater-Festspiele zu veranstalten. Nach der Zustimmung durch den zuständigen Stadtrat May entwickelte Tietjen gegenüber Oberbürgermeister Reuter seinen Plan, in dessen Mittelpunkt die Eigenleistungen West-Berlins standen.238 Sie müssten aber finanziell durch alliierte Zuwendungen ergänzt werden, was das im Juni 1950 gegründete gemischte Vorbereitungs-Komitee auch so artikulierte.239 So baten denn Reuter und May bei der HICOG um finanzielle Hilfe, da die Durchführung der geplanten Festspiel-Woche von Berlin allein nicht zu tragen sei, sie aber doch „von außerordentlicher politischer und kultureller Bedeutung […] ist“240. Nach einer prinzipiellen Zusage der amerikanischen Besatzungsmacht beauftragte die West-Berliner Verwaltung Tietjen mit der Leitung der Festwochen. May sicherte ihm Handlungsfreiheit zu. Für die Finanzierung der Festspiele 1951 veranschlagte die Berliner Seite sieben Mio. Westmark „als Mindestkosten“, musste die Summe jedoch auf 1,2 Mio. reduzieren; 700.000 Westmark sollten der Anteil der Alliierten und 500.000 Westmark der West-Berlins sein.241 Die „Berliner Festwochen“ fanden in einer Mischung aus Theater- und Musikaufführungen von Anfang an unter internationaler Beteiligung statt. Mit der Eröffnung des wieder aufgebauten Schiller-Theaters am 9. September 1951 fanden sie ihren würdigen Auftakt. Im Unterschied zu den ebenfalls 1951 ins Leben gerufenen Internationalen Filmfestspielen („Berlinale“) waren die „Berliner Festwochen“ weniger ideologisch aufgeladen und vom Geist des Kalten Krieges durchdrungen, wurden aber in der westlichen Öffentlichkeit ebenfalls als „eine Demonstration für die Freiheit des 238 Schreiben von Tietjen an Reuter, 31.5.1950, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1301. 239 Vgl. „Niederschrift über die erste Besprechung des Deutsch-Alliierten Komitees am 27.6.1950“, ebd. 240 Schreiben von May an Thompson, Erziehungsabteilung der HICOG, 15.9.1950, in: ebd. Vgl. dazu ein ähnliches Schreiben Reuters an den Stabschef der Alliierten Kommandantur, Taylor, 30.10.1950, ebd. 241 Vgl. Protokoll „Betrifft: Internationale Festspiele 1951“, 30.11.1950 und Vermerk, 14.2.1951, in: ebd.

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Geistes und der Kunst auf vorgeschobenen Posten“242 wahrgenommen. Als Bestandteil des nach Osten gekehrten „Schaufensters“ West-Berlin entwickelten sie im Sinne von Attraktivität und Anziehungskraft der Teilstadt zunehmend auch künstlerische Dynamik. Zu Recht stellte Tiburtius bereits 1952 „künstlerisch und damit zugleich kulturell“ einen „entscheidenden Erfolg“ der Berlinwerbung durch die Festwochen heraus. Ihr Ziel bleibe es, „Berlin als Weltstadt und kulturellen Mittelpunkt Deutschlands wieder zur Geltung zu bringen“243. Die westliche Presse bestätigte West-Berlin nur zu gern, wieder eine „Metropole des deutschen Theaters“244 geworden zu sein, gar die „Theaterhauptstadt“ Europas.245 Auch konnte sich der Senat auf weitere finanzielle Beihilfen der Alliierten im Prinzip verlassen, die darüber hinaus noch wesentliche Unterstützung bei der Organisation und Durchführung wichtiger Gastspiele leisteten, wie Gerhard von Westermann, seit 1952 Leiter der „Berliner Festwochen“, berichtete.246 In der Tat trugen alliierte Initiativen und Verbindungen angesichts der starken Ost-Berliner Theaterkonkurrenz zu anspruchsvollen Programmen, manchmal als „Sensationen der Saison“247 bei. Sie, wie etwa der auf Ost-Berliner Besucher abzielende „Tag der Sensa-

242 So sahen es, stellvertretend für viele Presseorgane, die „Hessischen Nachrichten“ (Kassel) vom 1.10.1958. Die Zeitung bezeichnete West-Berlin als „zumindest kulturell autogene Insel“. Die Festwochen als „künstlerischer Start“ hätten als Beginn in Berlin eben ein größeres politisches Gewicht, als sie es in München, Köln oder Stuttgart besäßen. Zugespitzter argumentierte „Der Bund“ (Bern) vom 12.10. 1958: „Der Brennpunkt wird zum Leuchtturm, den just jene sehen müssen, denen er nur unangenehm ist, daß sie ihn bereits vor zehn Jahren zu stürzen versuchten […]. Besonders während der Festwochen überschreiten Abend für Abend ungezählte Ostberliner die Sektorengrenze, um ein Theater oder Konzertsaal im freien Teil der Stadt zu besuchen.“ 243 Senatsvorlage Nr. 2596 für die Sitzung am 8.12.1952, in: LAB, B Rep. 14, Acc. 2323, Nr. 156–157. 244 „Main-Post“, Würzburg, 2.10.1958. 245 „Die Freiheit“, Wien, 1.11.1958. 246 Schreiben von G. von Westermann an Magistratsdirektor von Philippsborn, 20.4.1953, in: LAB, B Rep. 14, Acc. 2323, Nr. 156–157. 247 Zu den Festwochen 1955 weilte – erstmals nach 1929 – die Mailänder Scala mit Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in Berlin. Die Aufführung erlebte einen triumphalen Erfolg. Maria Callas sang die Titelpartie: „Sie ist der Typus der Primadonna, wie ihn die großen Meister […] forderten“. Der Partner dieses einmaligen „Stimmphänomens“ war Gioseppe Di Stefano, „einer der berühmtesten Tenöre der Gegenwart“, Herbert von Karajan dirigierte. Publikum und Presse sahen in der glänzenden Aufführung zu Recht die „Sensation der Saison“. Vgl. Senatsbericht, undatiert (offenbar Juni 1955), in: ebd., B Rep. 014, Nr. 347.

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tionen“, stellten die „Zusammengehörigkeit der Berliner Bevölkerung in Ost und West“ besonders heraus.248 Gerade junge und theaterbegeisterte Leute aus dem Osten fühlten sich vom Programmangebot der Festwochen angezogen. Obwohl das Theaterleben in OstBerlin mit seinen repräsentativen Häusern und beachtlichen Inszenierungen Gleichwertiges bot und vor allem Klassikeraufführungen einen ausgezeichneten Ruf besaßen, sahen viele Neugierige aus dem anderen Teil Berlins und Deutschlands in den Festwochen ein einmaliges Ereignis. Sieht man von ihrem äußeren Glanz ab, der für so manchen ein Erlebnis an sich war, reizten insbesondere Stücke moderner internationaler Dramatiker, die in der östlichen Welt aus zuvorderst ideologischen Gründen nicht aufgeführt wurden. Gerade die Festspiele 1953 zogen in dieser Hinsicht außerordentlich an.249 Aber auch die Musiktheater lockten mit großer Oper und Star-Besetzungen.250 Bereits Anfang des Jahres zeigte sich in Anfragen und Voranmeldungen ein reges Interesse bei Ost-Berlinern, die nach dem 17. Juni und den vorübergehenden Sperrmaßnahmen der grauen Realität ihres Alltags wenigstens kurzzeitig zu entkommen suchten.251 Die östliche Gegenseite ließ zunächst nicht erkennen, dass sie sich um den Einfluss der West-Berliner Festspielwochen sonderlich sorgte. Zum einen standen die eigenen Theater auf der Haben-Seite und zum anderen waren die Theaterspiele 248 Vgl. „Bericht für den Herrn Regierenden Bürgermeister“, 20.8.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1703, Nr. 2218–2219. 249 Im Schiller-Theater standen „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ von Max Frisch und Sean O’ Caseys „Der Preispokal“ in der Inszenierung von Fritz Kortner im Mittelpunkt. Intendant Boleslaw Barlog leitete die Erstaufführung von Sophokles/Hölderlins „Antigone“. Erstaufführungen im Rahmen der „Festwochen“ waren auch das von KarlHeinz Stroux inszenierte Stück „Und sie bewegt sich doch“ (Herbert Le Perrier) sowie Samuel Beckets „Warten auf Godot“ im Schloßpark-Theater, zu dessen Programm u.a. auch Franz Kafkas „Das Schloß“, Heinz Coubiers „Ein Kommandant meutert“, Eduardo De Philippos „Philomena Marturano“ und „Bedienung bitte“ (John Murray/Allan Boretz) gehörten. 250 Deutsche Erstaufführung war „Der Prozeß“ von Gottfried von Einem unter dem Dirigat von Artur Rother, der auch die musikalische Leitung der Opern „Der Rosenkavalier“, „Salome“, „Fidelio“, „Elektra“, und „Die Walküre“ innehatte. Besondere musikalische „Leckerbissen“ stellten „Die Zauberflöte“ (dirigiert vom Altmeister Leo Blech) und „Siegfried“ (Dirigent: Wilhelm Furtwängler) dar. 251 Bernd Donath (Jg. 1936), damals Schüler der 11. Klasse an einer Oberschule im OstBerliner Weißensee erinnert sich lebhaft: „Wir waren drei Freunde aus der gleichen Klasse, die über die evangelische ‚Junge Gemeinde‘ Eintrittskarten für das Drama „Kaiser Pauls Tod“ im Schillertheater bekommen hatten. Fritz Kortner und Martin Held waren einfach großartig: Den Abend vergesse ich nicht. Wir standen ja noch sehr unter dem Eindruck des 17. Juni.“ Gespräch mit Donath, 21.11.2007.

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ideologisch weit weniger brisant und nicht so massenwirksam wie die Kinos oder einige Ausstellungen. Erst nach dem Volksaufstand des 17. Juni entstand mit der Frage, wie der „Neue Kurs“ zur inneren Stabilität der DDR und ihrer Hauptstadt, aber auch im Sinne Gesamtberliner Politik, effektiv umgesetzt werden könne, ein Motiv, über eigene Festspiele nachzudenken. Doch hatten alle Planungen zu berücksichtigen, dass die DDR und ihre Metropole nicht in der Lage waren, kurzfristig ein den westlichen Festwochen entsprechendes internationales Festival ins Leben zu rufen. Es fehlten die finanziellen und künstlerischen Mittel. Außerdem sah die SED unmittelbar nach dem 17. Juni in einer institutionalisierten Großveranstaltung offenbar ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Sie fand einen Ausweg, der auch diesen Aspekt berücksichtigte, in einem Kompromiss: die Potsdamer „Parkfestspiele“. Durch Einladungen an WestBerliner Künstler versuchte die SED-Parteileitung Berlin, die kulturelle Blockadepolitik des Senats zu unterwandern und sich über den Außenposten Parkfestspiele durch Gesamtberliner Programme und Sympathiewerbungen unter WestBerlinern allmählich eine stabile Basis für die SED-Kulturpolitik zu schaffen.252 Potsdam besaß als traditioneller Kulturort bei den West-Berlinern einen hohen Bekanntheitsgrad. Es war beliebt und schien deshalb besonders geeignet, die „Bedenken des sogenannten politischen Missbrauchs zu zerstören“ sowie die „Gewinnung der noch Abwartenden“ voranzutreiben253, meinte die SED-Bezirksleitung. Dieses Konzept schien auch insofern praktikabel, als es auf der Grundlage der „erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen“ eine „Liberalisierung“ des Einreiseverbots für West-Berliner und bequeme Anreisewege bot.254 Allerdings reichten die „Parkfestspiele“ als Ersatzlösung auf Dauer nicht aus. Denn die SED nahm sehr wohl wahr, dass die „Festwochen“ „inmitten einer weltweiten Stagnation der deutschen Frage eine ganz realistische Möglichkeit (zeigten), abseits der eigentlichen Politik eine deutsche Initiative zu entfalten“255, die auch die SED für sich in Anspruch nahm. Andererseits vergrößerten sich auch die materiellen Möglichkeiten ihres um internationale Anerkennung ringenden Staates, für den die Bewer252 Die „Parkfestspiele“ sollten Ausgangspunkt für eine weitgehende Festivalplanung sein. Vgl. SED-BL Groß-Berlin, Sekretariat Wengels, „Betrifft: Parkfestspiele Sanssouci“, 16.6.1954, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 994. 253 Vgl. ebd. 254 Für die Transporte der West-Berliner Gäste zu den „Parkfestspielen“ wurden auch private westsektorale Busunternehmen unter Vertrag genommen. Auch stand ab Bahnhof Zoo ein Doppelstock-Personenzug zur Verfügung. Zu Pfingsten 1961 erwartete die SED 12.000 West-Berliner zu den „Parkfestspielen“, die dazu beitrügen, „an weitere Teile der Westberliner Bevölkerung heranzukommen“. „Vorlage an das Sekretariat der SED-BL“, 20.2.1961, in: ebd. 255 „Sonntagsblatt“, Hamburg, 20.10.1957.

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bung Ost-Berlins als Hauptstadt mit in den Vordergrund trat. Deshalb stellten die erstmals für 1957 geplanten „Berliner Festtage“ in Ost-Berlin256, so kompliziert ihre Einrichtung auch war, eine conditio sine qua non dar. Ihre Anlage als Konkurrenz zu den West-Berliner „Festwochen“ ergab sich auch durch deren zunehmende Attraktivität bei den Ost-Berlinern. Als der ab 1957 wirkende Gesamtberliner Kulturplan „Festwochen“-Besuche finanziell subventionierte, sah sich die SED ebenfalls dadurch zum Handeln gezwungen. Sie entschloss sich jedoch erst definitiv für eigene „Festtage“, als der Senat es ablehnte, die West-Berliner „Festwochen“ gemeinsam in beiden Teilen der Stadt zu begehen. Das hätte für den Osten eine finanzielle „Billigvariante“ sein können, die ihm Einflussmöglichkeiten offen ließ, wenn die Offerte denn ernst gemeint war. Doch bot die westliche Ablehnung die offizielle Begründung für das „Gegengewicht zu den Berliner Festwochen“, zu denen die Konkurrenz auch in der Sicht des Senats „künstlerische Spitzenkräfte“ aus beiden Teilen Deutschlands und Berlins verpflichtete.257 Nicht von ungefähr führte Ost-Berlin seine „Festtage“ zeitgleich mit den damit automatisch wetteifernden West-Berliner „Festwochen“ durch und bot, wie auch der Senat bemerkte, durchweg Niveauvolles.258 Zwar blieb der politische Schlagabtausch nicht aus259, hielt sich aber in Grenzen. Die östliche Seite nahm den Vergleich beider Berliner Feste zunächst mit vorrangig sozialen sowie kulturpolitischen Argumenten vor, „politisierte“ sich aber in der Folgezeit. Sie sah nun ihre „Festtage“ prinzipieller und kulturideologischer, aber auch in einem antifaschistischen Kontrast zum Westen.260 Ebenfalls entwickelte sich eine seit 1959 sichtbarere 256 Der Magistrat quantifizierte die internationale Beteiligung an den „Festtagen“ 1957 mit sechs Ländern, 1953 mit neun und 1959 mit 14 Ländern. Vgl. Abteilung Kultur des Magistrats: „Bericht über die kulturpolitische Arbeit im Jahre 1959, 15.1.1960, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 41. 257 Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 36. 258 Hervorgehoben wurden die Gastspiele des Jüdischen Theaters Warschau, der Mozart Players London, des Balletts Español Madrid und der Staatsoper Brno ebenso wie der sowjetische Pianist Wladimir Aschkenasi und der Leningrader Dirigent Arvid Jonas. Von den Künstlern aus der Bundesrepublik seien u.a. der Sänger Karl Schmitt-Walter, das Münchener Koeckert-Quartett und der beliebte Kabarettist Martin Rosenstiel nennenswert gewesen. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., Nr. 2156, Bl. 36. 259 So hatte beispielsweise der Reg. Bgm. Suhr anlässlich der Vorbereitung der „Berliner Festwochen“ von den geistig „armen Ostbewohnern“ gesprochen, was die Ost-Berliner Kulturstadträtin als „Anpöbeleien“ des Dr. Suhr bezeichnete. Vgl. Schreiben Blechas an die SED-BL Berlin, 11.6.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 994. 260 Während das Gesamtprogramm der Ost-Berliner Veranstaltung „humanistischen Inhalts“ sei, zeigten die West-Berliner „Festwochen“ ein „eindeutiges Experimentieren und Suchen nach Methoden, um die anormale Lage in West-Berlin zu verschleiern und durch eine

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massenkulturelle Schwerpunktsetzung.261 Das stand in einem Zusammenhang mit der volkstümlich verbrämten Herausstellung der Rechtmäßigkeit und Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber der eigenen Bevölkerung, die von den „Festtagen“ für die Planerfüllung zu stimulieren sei262, sowie mit der Instrumentalisierung der „Berliner Festtage“ in der internationalen berlinpolitischen Auseinandersetzung.263 Den politischen Stellenwert der „Festtage“ unterstrich die SED nach dem Mauerbau durch ihre Genugtuung, dass alle Ost-Berliner Theater nach dem 13. August 1961 „spielfähig“ seien und das Festival am „Erfolg der Maßnahmen vom 13. August“ Anteil habe.264 Das sei „ein schwerer Schlag gegen die Frontstadtstrategen in West-Berlin, die in blindwütigem Hass prophezeiten, daß die ‚Berliner Festtage‘ ein Fiasko werden und das gesamte Kulturleben in der Hauptstadt zusammenbricht“.265 Der Mauerbau beendete auch die unmittelbare Festspielkonkurrenz, die zur Attraktivität des kulturellen Angebots in ganz Berlin auf ähnliche wie unterschiedliche Weise beigetragen hatte.

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Fülle belangloser formalistischer Boulevard-Dramatik die Snobs zufriedenzustellen“. Dort, wo der Versuch unternommen werde, „echte künstlerische Leistungen zu bieten, wie z.B. die Oper ‚Moses und Aron‘ von Arnold Schönberg, kam es […] zu provozierten faschistischen, antisemitischen Krawallen“. Bei den „Festtagen“ in Ost-Berlin träten hingegen von den Nazis rassistisch und politisch Verfolgte auf – etwa Lin Jaldati mit jiddischen Liedern. Im Übrigen zahlten die Besucher im Westen (z.B. beim Auftreten der Operndiva Callas) „Wirtschaftswunderpreise“ von 20 bis 100 Westmark, die Teilnehmer an den östlichen „Festtagen“ hingegen „niedrige, soziale Eintrittspreise“. Abteilung Kultur des Magistrats: „Bericht über die kulturpolitische Arbeit im Jahre 1959“, 15.1.1960, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 41. Die „Berliner Festtage“ 1959 zählten 600.000 Besucher (1958: 300.000) bei 6.500 aktiv Mitwirkenden, davon 3.500 Laienkünstlern. Vgl. ebd. Die „Festtage“ zeugten von der Rechtmäßigkeit der DDR, die der alleinige „Garant für die Pflege des kulturellen Erbes und des weiteren Aufblühens einer echten, dem Volk eng verbundenen und von ihm geliebten Kultur ist“, sowie von der Überlegenheit der sozialistischen Kultur, die durch die „Festtage“ einen Impuls erhielte, „um die großen leuchtenden Ziele unseres Siebenjahrplanes […] schneller zu erreichen“. Magistrat: „Politischkünstlerische Konzeption der ‚Berliner Festtage‘ 1960“, 2.8.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 434, Bl. 72. Die „Berliner Festtage“ seien ein „bedeutender Faktor“ im Kampf gegen die deutschlandund berlinpolitischen Bestrebungen der herrschenden Kreise in Westdeutschland und West-Berlin als „Brückenkopf“ aggressiver Politiker. Ministerium des Innern, Sekretariat Abusch: „Entwurf der Arbeitsgrundlage für die Vorbereitung und Durchführung der ‚Berliner Festtage‘ 1960“, in: SAPMO-BArch, DR1/7934. Vgl. SED-BL Berlin: „Einschätzung der ‚Berliner Festtage‘ 1961“, 30.10.1961, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 994. Ebd.

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3. Die Kinokonkurrenz 3.1 Kulturpolitik auf der Leinwand Bereits das Vorkriegsberlin war einschließlich seiner brandenburgischen Produktionsstätten (UFA Babelsberg) eine Hochburg des Films und des Kinos gewesen. An entsprechende Traditionen versuchten Politiker, Künstler und Unternehmer nach 1945 anzuknüpfen und die Attraktivität des Mediums Film durch ein repräsentatives Programmangebot, intensive Werbung sowie internationale Filmfestspiele zu erhöhen. Im geteilten Berlin erlebte das Kino in den 50er Jahren266 eine freilich weltweit wirkende Konjunktur. Sie trug dazu bei, dass die Auseinandersetzung um das Lichtspielwesen zur wichtigsten Ebene und geradezu Inkarnation des Berliner „Kulturkampfes“ wurde.267 Der massenwirksame Film ließ sich beinahe universell einsetzen. Das schloss die Möglichkeit ein, über ihn, der vor allem als Spielfilm die kulturellen Alltagsbedürfnisse eines breit gefächerten Publikums zu befriedigen vermochte, auch politische Botschaften zu vermitteln. So war es nicht verwunderlich, dass sich unter den besonderen Bedingungen eines politisch geteilten und dennoch offenen Berlin die Frage der politischen Instrumentalisierung des Films mehr oder weniger automatisch stellte. Beide Seiten meinten, die an sich ambivalente Filmkunst sei in jedem Fall von großer propagandistischer und psychologischer Wirksamkeit.268 Doch während in West-Berlin das Medium Film vor allem kommerziellen Gesetzen und den Bedürfnissen eines zahlenden Publikums folgte und deshalb politische Ziele nur 266 In West-Berlin gab es zu Beginn der 1950er Jahre ca. 260 ausschließlich private Kinos mit insgesamt etwa 125.000 Sitzplätzen (56,8 je 1.000 Einwohner), in Ost-Berlin 100 Lichtspielhäuser mit insgesamt ca. 37.000 Sitzplätzen (30,7 je 1.000 Einwohner). 1951 befanden sich noch 67 Ost-Berliner Kinos in privater Hand (1956 = 52; 1960 = 17). Während im Westen die Anzahl der Kinos leicht anstieg (1957 = 261), nahm sie im Ostsektor ab (1957 = 94). Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 66 und VEB-Progress Film-Vertrieb an Blecha, 16.7.1956, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 156 sowie Information der Abteilung Kultur des Magistrats, 30.1.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 267 Vgl. Michael Lemke, Die Kino-Konkurrenz im geteilten Berlin 1949–1961, in: Heinz Timmermann (Hrsg.), Das war die DDR. DDR-Forschung im Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur und Souveränität (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, 128), Münster 2004, S. 635–676. 268 Vgl. Memorandum des Verbandes Berliner Filmtheater e.V., August 1959, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2162 und vertrauliches Papier des Magistrats von Groß-Berlin: „Analyse des Besuches von Westberliner Kinos durch Bewohner unseres Wirtschaftsgebietes“, 16.4.1956, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 126.

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„nebenbei“ bediente, sah es die SED im Ostsektor als ein politisches Mittel sui generis an, um die Menschen in die sozialistische Gesellschaft integrieren zu helfen. Das widersprach nicht der auch bei der SED anerkannten finanziellen Dimension der Ware Film und ihrer Freizeit- und Unterhaltungsfunktion, setzte aber die Prioritäten anders: Der Film hatte vorrangig die Aufgabe, im Sinne des sozialistischen Aufbaus zur Erziehung des „neuen“ Menschen beizutragen, neue Werte zu popularisieren und dazu in Abgrenzung von der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Kulturbetrieb einen Beitrag zum „Klassenkampf“ zu leisten – nicht zuletzt durch antikapitalistische Feind- und sozialistische Idealbilder. Der Film werde im Westen zum Erhalt „der von Untergang bedrohten kapitalistischen Gesellschaftsordnung herangezogen“, im Osten diene er hingegen dem humanistischen Fortschritt und der Bildung des Menschen.269 Diese Auffassung legte die realsozialistische Kultur- und Filmpolitik stark auf die ideologischen Bedürfnisse der Machtausübung und Herrschaft fest. Doch schloss das im Westen abschätzig als „Tendenzkunst“ bezeichnete Ost-Berliner Filmwesen künstlerische Qualität nicht aus, und so hofften die Verantwortlichen im Ostsektor, mit aus ihrer Sicht anspruchsvollen Filmen auch Bewohner West-Berlins anziehen zu können. Eine „Schaufenster“-Funktion hatte aber auch die westliche Konkurrenz im Sinn, wenn sie davon ausging, dass ihr Konzept von den Bewohnern Ost-Berlins und seiner Randgebiete angenommen würde, differenzierte, aber „glanzvolle“ Unterhaltung zu bieten, dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, vom Alltag auszuspannen, ihn aber gleichzeitig politisch zu „magnetisieren“. Das Kino „leuchtet weit ins Land hinein, weit über Ostberlin hinaus; es wirbt und kündet von einer Welt des Lichts. Und das geschieht bewußt. Es lockt den Osten zur Konkurrenz heraus, stillt den Lichthunger der Menschen des Ostens und ihre Sehnsucht nach Freiheit und Wohlstand und zeigt Westberlin als das Vorbild für den ganzen unfreien Osten.“ Der „wesentliche politische Effekt, der erreicht werden soll“, entstehe nicht nur durch Spielfilm, Wochenschau und Kulturfilm, sondern durch „das ganze Fluidum eines Kinobesuchs in Westberlin“270. Schließlich habe das Westkino die „Aufgabe, den Menschen hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘ abendländisches Kulturgut zu vermitteln“271. Diese programmatischen Aussagen teilten 269 Ebd. 270 Büro für Gesamtberliner Fragen an Bgm. Amrehn, 1.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2160. 271 Entwurf eines Rundschreibens desselben an die West-Berliner Kinobesitzer, 31.3.1955, in: ebd.

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West-Berliner und bundesdeutsche Kulturpolitiker prinzipiell, wenngleich sie konkret weit weniger Einflussmöglichkeiten auf den Filmbetrieb hatten als umgekehrt die östliche Administration auf denjenigen im sowjetischen Sektor. Auch lässt sich nicht nachweisen, dass es westlicherseits Absichten und Absprachen gegeben hätte, den Film gezielt gegen die Entwicklung im Ostteil der Stadt einzusetzen. Ihrer hätte es auch nicht bedurft, konnte doch die Berliner Bevölkerung „hüben und drüben“ weitgehend frei darüber entscheiden, welche Filmangebote sie annahm – im Rahmen der durch zwei Währungen begrenzten finanziellen Möglichkeiten. Allerdings billigte man und verstärkte Effekte, die auf eine Schwächung der Ost-Berliner Kulturkonkurrenz, der kommunistischen Ideologie und Propaganda hinausliefen. Erklärtes Ziel des Senats war es jedoch, durch WestkinoBesuche für Ost-Berliner und DDR-Bürger „Erleichterung“ zu schaffen, „sie am kulturellen Leben unserer Stadt teilnehmen zu lassen“ und dadurch das Gefühl der Einheit Berlins und der Zusammengehörigkeit seiner Menschen zu fördern.272 Der Stellenwert dieser integrativen Aufgabe war auch an der Filmpolitik der Alliierten – vor allem der Amerikaner – in Berlin ablesbar. Wie in anderen prinzipiellen Fragen der kulturellen Auseinandersetzung übten sie auch über das WestBerliner Lichtspielwesen eine keineswegs nur formale Kontrolle aus. So unterlagen z.B. die dort verwendeten Filmverleihkataloge, aus denen die Kinobesitzer die Filme auswählten, ihrer Zustimmung.273 Besonders aktiv war die West-Berliner Gliederung der High Commission for Germany (HICOG), die eine eigene „Abteilung für Filmwesen“ („Film Section“) unterhielt, die vor allem Kinobesuche für Ost-Berliner organisierte und subventionierte.274 Natürlich förderte sie von Anfang an Filmveranstaltungen, die – wie die Satire „Ninotschka“ – den zahlreichen Besuchern aus dem Ostsektor Gelegenheit gaben, „offen über die sich selbst verdummende Bürokratie eines Regimes zu lachen, dass ihnen zur Zeit aufgezwungen ist“275. Dafür waren auch die vom Gesamtberliner Büro 1952 initiierten politischen Diapositive (Karikaturen) geeignet, die in den Reklameteil des Filmabends eingebaut wurden.276 Darüber hinaus erfüllte es die West-Berliner Politiker, mehr

272 Büro für Gesamtberliner Fragen an den Regierenden Bürgermeister und Senat von Berlin, 25.11.1953, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163. 273 Vgl. Erika M. Hoerning, Zwischen den Fronten, Berliner Grenzgänger und Grenzhändler 1948–1961, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 51f. 274 Vgl. Office der HICOG, Berlin Element, Public Relations Branch, 20.7.1950, in: LA Berlin, B Rep. 002, Nr. 3363/3. 275 Vgl. Office der HICOG, 6.6.1950, in: ebd. 276 Es handelte sich dabei um „Karikaturen prominenter ‚Ostgrößen‘ und aktueller Begebenheiten des Sowjetgebietes […] ähnlich der Bilder in der ‚Tarantel‘ [des Satireblättchens der antikommunistischen KgU]“. Der Reg. Bgm. hatte den Plan, der ab April 1953 verwirk-

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vielleicht noch die Amerikaner als alliierter Konkurrent, mit Genugtuung, dass das Interesse an sowjetischen Filmen im Ostteil der Stadt gering war.277 So bewegte sich die Berliner Filmkonkurrenz auf verschiedenen Handlungsebenen und entwickelte dabei Eigendynamik. Augenfällig war ihr aufeinander bezogenes Wirken.278 Gleich nach 1949 war noch keineswegs klar, ob es dem Ostkino nicht doch gelingen könnte, eine nennenswerte Anhängerschaft gerade bei den sozial Benachteiligten West-Berlins zu finden. In dieser ambivalenten Situation sah sich die SED in Berlin noch nicht veranlasst, eine konzeptionell fundierte Abwehrstrategie gegenüber dem Westkino verbunden mit einer „massenwirksamen“ Eigenwerbung auszuarbeiten. Unter dem Eindruck der wachsenden Konkurrenzfähigkeit der West-Berliner Lichtspielhäuser änderte sich das allerdings bald.

3.2 Die technische und finanzielle Situation Schon zu Beginn der 50er Jahre hatten die westsektoralen Kinos sowohl vom Programmangebot her als auch technisch den von den westlichen Industrienationen und der Bundesrepublik bestimmten Standard erreicht. Auf der Basis der Kinokonjunktur investierten sie beträchtlich und verbesserten die Ausstattung der Lichtspielhäuser mit modernen Vorführgeräten, Sitzen und anderem Interieur kontinuierlich. Schon die von Scheinwerfern angestrahlten, mit bunten Lichtern und Reklameplakaten geschmückten Fassaden der West-Berliner Kinos nahmen den Ankommenden gefangen, und die palastartigen Vestibüls stimmten ihn auf das Kommende ein. Aber auch die Serviceleistungen stimulierten: Angebote an Getränken, kleinen Snacks und Speiseeis, die in den Pausen von freundlichen jungen Damen gereicht wurden, verstärkten das Filmerlebnis. Das gepflegte Ambiente, die Ruhe und Behaglichkeit sowie der Luxus der „Lichtburg“ schmeichelten dem Gast, und ihm war ziemlich egal, ob der Glanz in allem echt war oder mehr die schöne Kulisse für das Geschäft abgab. Das Filmangebot war groß und breit gefächert. Abgesehen davon, dass es wie auch anderswo gute und schlechte licht wurde, zugestimmt. Bericht von Carlbergh an Reuter, 25.9.1952, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163. Vgl. auch Vorlage für Reuter vom 10.4.1953, in: ebd. 277 Undatierte Information, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 372. 278 Als in West-Berlin 1949/50 beispielsweise dazu übergegangen wurde, neben dem Spielfilm und der „Wochenschau“ durchgängig Kultur- (als Vor-)Filme zu zeigen, die nicht selten ein westliches Weltbild und Zivilisationsverständnis propagierten, reagierte der OstBerliner Magistrat prompt: Im September 1950 erging die Anweisung, neben der DEFAWochenschau „Der Augenzeuge“ ebenfalls „einen Beifilm (Kultur- oder Kurzfilm) vorzuführen“. „Verordnung über Filmvorführungen“, Magistratsbeschluß Nr. 218 vom 28.9.1950, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 851.

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Filme zu sehen gab und Filmverleiher und Kinobesitzer in erster Linie unter der Fragestellung auswählten, wie viel Gewinn ein Film einspielen würde, gab es für jeden etwas: Gesellschafts-, Liebes- und Heimatepen sowie Kriminal-, Abenteuer-, Wildwest- und andere Filme. Sie waren in der Regel „brandneu“ auf dem Markt, und da genügend Kopien gezogen wurden, konnten die Kinos flächendeckend sowie schnell versorgt werden. Dies bot die Möglichkeit eines zügigen, von einer professionellen Filmwerbung begleiteten Programmwechsels. Breit gefächert war auch die nationale Herkunft der Filme. Eindeutig überwogen zu Beginn der 50er Jahre US-amerikanische Produktionen, die Bundesrepublik bzw. der deutsche Film waren relativ schwach vertreten.279 Gegenüber dem Westkino blieben die Ost-Berliner Kinos von Technik und Ausstattung her deutlich zurück. Bedingt durch die zentrale Planwirtschaft, die auch den Ost-Berliner privaten Kinobesitzern kaum finanzielle Handlungsspielräume bot und sie zwang, beim monopolistischen DDR-Progress Filmvertrieb einzukaufen, erfolgten notwendige Modernisierungen nicht oder nur unzureichend – das betraf im Prinzip auch den staatlichen Kinosektor. Vor allem war zu beklagen, dass die größtenteils aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammende Vorführtechnik sehr störanfällig war und viele Lichtspielhäuser auch äußerlich verfielen, abgesehen davon, dass sie keinerlei Komfort boten.280 Die meisten der in den 50er Jahren geplanten Kinobauten wurden immer wieder zurückgestellt und lediglich zwei, darunter das „Gerald Philippe“ in Treptow, nahm der Magistrat unter dem Gesichtspunkt ihrer Nähe zu West-Berlin in Angriff.281 Das galt auch für einige größere Renovierungen und Umbauten wie des „Colosseums“ in der Schönhauser Allee, bislang vom Metropol-Theater genutzt, wobei die SED die

279 Nach Ost-Berliner Angaben waren von Mitte 1950 bis Ende 1953 von 2071 in WestBerlin gezeigten Filmen 999 US-amerikanisch, 1953 seien es von insgesamt 460 Filmen 232 gewesen. Der deutsche Anteil habe nur 23 Prozent betragen. Vgl. ebd., C Rep. 902, Nr. 195, Bl. 36. 280 Das Kino „Sylvana“ z.B., das einzige in Baumschulenweg, machte den Eindruck eines „Stalles“, und im Kino selbst sei es „immer so kalt, daß die Besucher gezwungen sind, sich Decken mitzubringen“. Häufig hätten nur einige Tausend Ostmark genügt, um die dringendsten Reparaturen ausführen zu können; doch fehlten sie ebenfalls, und auch in Aussicht genommene Zwangskredite, die privaten Besitzern auferlegt werden sollten, stellten sich als unsinnig heraus, da sie nicht getilgt werden konnten. Stellvertretender OB Fechner an Friedrich Ebert, 14.1.1954, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238 und Abteilung Kultur des Magistrats an das Sekretariat des OB, 17.5.1956, in: ebd., Nr. 353. 281 Vgl. Rat des Stadtbezirkes Pankow an seine Abteilung Kultur, 9.5.1956, in: ebd.

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hier auftretenden Schwierigkeiten der Westkonkurrenz gleich mit anlastete.282 Hinzu kam, dass der Magistrat die begründeten Wünsche der Stadtbezirke nach Kinoneubauten immer wieder mit dem Argument zurückwies, dass man „in der Stalinallee das kulturelle Leben verbessern“ und hier ein „der Hauptstadt würdiges Uraufführungskino“ bauen müsse.283 Diese Ausrichtung als auch die Schließung einiger Filmtheater wegen „schlechten technischen und baulichen Zustandes“ trug dazu bei, dass sich viele verärgerte Ost-Berliner „durch das Fehlen eines Kinos“ in ihrem Kiez westsektoralen Spielstätten zuwandten.284 Die prekäre Lage wurde noch dadurch verschärft, dass weder ausreichend neue Spielfilme zur Verfügung standen noch von den vorhandenen genügend Kopien angefertigt wurden. Dadurch verzögerte sich der Umlauf der Filme wie auch des „Augenzeugen“. Diese Probleme bildeten Konstanten des Ost-Berliner Filmwesens. Doch sie waren nach 1950 nicht die wichtigste Ursache dafür, dass die Ost-Berliner massenhaft in die Westkinos abwanderten. Sie lag vielmehr im Filmangebot begründet, das eben der Konzeption folgte, man müsse den Film für die Sache des Sozialismus und konkret auch für die Erfüllung der Planaufgaben nutzen. In den Augen der Ost-Berliner Kulturpolitiker leisteten das nur Filmwerke optimal, die im Sinne und mit den Mitteln des sozialistischen Realismus die prinzipiellen und alltäglichen Probleme richtig widerspiegelten und Anleitungen zum bewussten Handeln vermittelten. So zeigten die Kinos in Ost-Berlin viele im Übrigen gut synchronisierte Filme aus der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten sowie Streifen aus der DDR, die als „Problemfilme“ die Vorzüge der neuen Ordnung, das Ringen um die richtige Position im gesellschaftlichen Leben und zu seinen Mitmenschen sowie die soziale Verantwortung des Einzelnen thematisierten, aber auch den antiimperialistischen Kampf um Frieden sowie um die Realisierung der Produktionsaufgaben. Neben zahlreichen drögen Ideologiefilmen, die z.T. im historischen Gewand daherkamen, gab es freilich filmkünstlerisch und inhaltlich ausgezeichnete Spielfilme gerade aus der Sowjetunion. Aus ideologischen, freilich auch aus kommerziellen Gründen, waren Importe aus der Bundesrepublik und dem westlichen Ausland nach 1950 selten. Nicht vordergründig 282 So habe die Republikflucht des verantwortlichen Architekten bewiesen, „daß andere Stellen im Bunde mit denen sind, welche Planung, Bauausführung und Entwicklung unserer volkseigenen Lichtspieltheater verzögern und hintertreiben“. Schreiben des Sekretärs für Kultur der Bezirksleitung der SED Berlin an den Bevollmächtigten der Kommission für Staatliche Zentrale Kontrolle in Groß-Berlin, 29.11.1956, in: ebd., Nr. 353. 283 Vgl. Fechner an den Vorsitzenden des Rates des Stadtbezirkes Treptow, Gräfe, 6.9.1954, in: ebd., Nr. 1008. 284 Vgl. Sekretariat des Stellvertretenden OB Waldemar Schmidt an Blecha, 23.8.1956, in: ebd., Nr. 353.

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politische Gründe bewogen die Ostdeutschen massenhaft, die Westkinos zu besuchen, sondern die differenzierte Ablehnung des gelenkten Ost-Berliner Filmangebots.

3.3 Das Kinoproblem in der östlichen Wahrnehmung Bereits ab Mitte 1952 begann das Amt für Information des Ost-Berliner Magistrats mit einer zunächst noch unsystematischen Ursachenforschung per Befragungen in Betrieben und Schulen. Die Ergebnisse waren auch nach gewisser Glättung noch eindeutig genug: Die Erwachsenen hätten artikuliert, „dass sie im Film Entspannung durch Humor, Heiterkeit, Romantik“ suchten. Sie wollten sich nicht mit „neuen Problemen belasten, die ihnen die Filme im demokratischen Sektor stellen. Sie erklären, wenn wir am Tag an unserem Arbeitsplatz stehen, wollen wir dasselbe nicht noch einmal im Film sehen.“ Politische Problemstellungen würden „von der übergroßen Mehrheit abgelehnt“. Bei den Jugendlichen käme noch der „Hang nach Sensationen“ dazu, und auch die Kinder „suchten eine Abwechslung und wollen nicht nur Probleme gestellt bekommen, sondern sie suchen in den Filmen Spannung und Romantik“.285 Das äußerten vor allem ältere Kinder und Jugendliche als die wichtigsten Zielgruppen des Westkinos.286 Das Kino-Verhalten der „Werktätigen“ konstatierte die SED resignativ: „Sie weichen davor zurück, sich mit den Problemen zu befassen, die ihnen die Filme […] stellen“287. Die weitgehende Ablehnung des sowjetischen Films, die auch mit der verbreiteten 285 „Besuch des Westkinos durch Bewohner des demokratischen Sektors“, 17.5.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 286 Alle Befragten räumten ein, dass sie „des Öfteren“ ins Westkino gingen. Die Jugendlichen Struck und Becker meinten, sie wollten „nicht immer schwere Filme mit politischem Inhalt“. Die Liebesfilme im Westen seien „romantisch, andere Filme sind spannend und es werden auch mal ziemlich unverhüllte Mädchen gezeigt. Die ganze Art der Westfilme ist für uns freundlicher und anheimelnder. Wenn auch das Gezeigte nicht den Tatsachen entspricht. Das wirklich Leben sehen wir tagtäglich.“ Klaus Witt, 13 Jahre: „Die Filme sind ‚schau‘ […]. Die Tarzan-Filme und Lustspiele, auch die utopischen Filme gefallen mir gut. Die Wild-Westfilme sind großer Quatsch, trotzdem sehe ich mir welche an. Der größte Teil meiner Schulkameraden geht ebenfalls mal ins Westkino.“ Peter Linke, 14 Jahre: „Ich bevorzuge die Zukunftsfilme und Filme mit romantischem Inhalt und guten Landschaftsaufnahmen. ‚Abenteuer am Roten Meer‘ hat mir sehr gut gefallen und da habe ich auch mir bekannte Pioniere getroffen.“ Rolf Finzel, 13 Jahre: „Habe ungefähr 15 Schüler aus Biesdorf, Kaulsdorf im Westkino getroffen. Würde nicht hingehen, aber unser Programm […] ist viel zu ernst.“ Ebd. 287 Vgl. Abteilung Agitation der SED-Landesleitung Berlin: „Bericht über die Lage der Berliner Filmtheater und Vorschläge zur Veränderung“, 9.9.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 371.

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Resistenz der Ost-Berliner gegen eine kulturelle Sowjetisierung und mit tradierten antirussischen Ressentiments zusammenhing, stellte die Partei höflich umschrieben in Rechnung: Viele sowjetische Filme würden anerkannt, „aber im großen und ganzen“ abgelehnt, „weil sie in der Thematik oft noch dem Bewusstsein unserer Menschen zu weit voraus sind“288. Eine wichtige Ursache für die Misere fanden die Verantwortlichen im Mangel an verfügbaren Spielfilmen. Jährlich benötige Ost-Berlin 105, komme aber (1952) nur auf 62.289 Das Zurückziehen (seit 1951) alter deutscher Filme aus der Zeit vor 1945 und von „deutschen Beutefilmen“ (aus den von den Nazis besetzten europäischen Ländern), die sich allesamt „großen Zuspruchs“ erfreut hätten, trüge dazu bei. Ebenfalls sahen die „bewussten“ Funktionäre und die Abteilung Kultur des ZK eine wichtige Ursache für die schwierige Lage in den ideologischen Problemen der eigenen Genossen, die sich nicht für wertvolle sozialistische Filme engagierten.290 Überhaupt betrachteten sie den Umstand, dass kein „offensiver Kampf gegen die westliche Unkultur“ geführt werde, als Hauptgrund des Besuchs der Westkinos. Die Schwierigkeit wurde noch dadurch vergrößert, dass viele SEDMitglieder, aber auch Staatsfunktionäre, heimlich die Kinos in West-Berlin besuchten, was die Ost-Berliner Öffentlichkeit aufmerksam beobachtete und gelegentlich hämisch kommentierte.291 Doch stellten sich flexiblere Kulturfunktionäre die Frage, was man von der Westkonkurrenz lernen und wie man ihr in Kombination mit den eigenen Möglichkeiten wirksam begegnen könne. Dabei wurde deutlich, wie genau sie die Gegenseite wahrnahmen und deren Methoden und Erfolge studierten.292 Veränderungsvorschläge betrafen folgerichtig zuvorderst die im Osten kümmerliche Filmwerbung und die Frage der Einführung von Sondervorstellungen für West-Berliner Erwerbslose, Rentner, Kinder und Hausfrauen zu 288 Vgl. Evemarie Badstübner-Peters, Ostdeutsche Sowjetunionerfahrungen. Ansichten über Eigenes und Fremdes in der Alltagsgeschichte der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 291–311. 289 1951 kamen 15 Spielfilme aus der DDR, 40 aus der Sowjetunion und den anderen volksdemokratischen Staaten und nur sieben als „Austauschfilme“ aus den westeuropäischen Ländern. 290 Bei „fortschrittlichen Filmen“ seien nur wenige Genossen unter den Besuchern. „Die Genossen entschuldigten sich mit Überlastung durch Parteiarbeit.“ „Wenn aber ein Rühmann-Film oder ähnlicher Kitsch gegeben wird, kommen alle.“ „Besuch des Westkinos durch Bewohner des demokratischen Sektors“, 17.5.1952, in: LAB, C Rep. 101, Nr. 5589. 291 Vgl. ebd. 292 Vgl. „Bericht über die Lage der Berliner Filmtheater und Vorschläge zur Veränderung“, 9.9.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 165.

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ermäßigten Preisen. In punkto Reklame und Gegenreklame kam einiges in Bewegung: Der „Unter den Linden“ aufgestellte Filmpavillon wurde auf den grenznahen Potsdamer Platz versetzt und ein Plakat „gegen die West-Berliner-Unkultur“ in Auftrag gegeben.293 Auch meldeten sich Kinoleiter und Filmfunktionäre mit eigenen Vorschlägen zu Wort. Zum einen gaben sie zu bedenken, dass nur die „Auflockerung des Programms eine Besserung“ bringe, aber auch ein „grundlegender Wandel“ in der Filmproduktion einsetzen müsse.294 Zum anderen zeigten sich die Pragmatiker vor Ort davon überzeugt, man könne den drohenden finanziellen Zusammenbruch nur mit billigen Westfilmen abwenden.295 Aber auch das bot angesichts der SED-Dogmen und fehlender Investitionsmittel im Konkurrenzkampf keinen Lösungsansatz. Insbesondere das Syndrom der westlichen Verschwörung gegen den sozialistischen Aufbau behinderte praktische Maßnahmen zur Effektivierung des Lichtspielwesens. In der Krisenphase der DDR ab Mitte 1952 bildeten sich in der Kombination mit einem planvoll geschürten Kulturnationalismus und dem zugespitzten Antiamerikanismus die offiziellen Argumentationen der Ostseite voll heraus: Erstens diene der westliche Film den amerikanischen und westdeutschen Kriegstreibern und der Vorbereitung der Jugend auf einen Krieg; zweitens bezwecke er eine Störung des sozialistischen Aufbaus, und er wolle die DDR-Bürger, vor allem die Berlins, vom Einsatz für den Arbeiter- und Bauern-Staat abhalten; drittens verunglimpfe der Westfilm gezielt die Verhältnisse in Ost-Berlin und der DDR; viertens führe er zu asozialem Verhalten, Kriminalität sowie Unmoral und die Jugend in den verderblichen Frontstadtsumpf. Und fünftens beabsichtige er, die Entwicklung eines „neuen“ Menschen durch Vermittlung westlich-amerikanischer Lebensart sowie kleinbürgerlicher Ideale und Verhaltensweisen nachhaltig zu sabotieren. Es fanden sich genügend junge Rowdys, die vor den Schranken der Ost-Berliner Gerichte bezeugten, ihre strafbaren Handlungen unter dem Einfluss von Westfilmen begangen zu haben. Ein verschwörungstheoretischer Gipfelpunkt des Kultur- und Kirchenkampfes der SED sowie ihres kalten „Filmkrieges“ war erreicht, als auch Pfarrer beschuldigt wurden, aus 293 Vgl. Amt für Information, 13.5.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5270. 294 Vgl. „Besuch des Westkinos durch Bewohner des demokratischen Sektors“, 17.5.1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5270. 295 Der Leiter des Kinos im berlinnahen Finkenkrug redete „Tacheles“: „Wir stehen vor der Pleite […]. Wir brauchen Filme wie ‚Grün ist die Heide‘ und ähnliches Romantisches.“ Er habe in den letzten vier Tagen ganze 84 Ostmark eingenommen. Die Leute brauchten 15 Minuten, dann seien sie im nächsten Westkino. Ein Funktionär des Progress Filmvertriebs berichtete, der „minderwertige Film ‚Das Herz einer Frau‘ hat dem PuhlmannTheater in der Ost-Berliner Schönhauser Allee einen Hausrekord gebracht […]. Die anderen Filmtheater machen mit dieser Schmarre dieselben Erfahrungen.“ Ebd.

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politischen Gründen Kinder für das Westkino zu werben. Von der SED dagegen organisierte Protestaktionen folgten dann obligatorisch.296 Auch einige auf die Gewinnung der West-Berliner angelegten ideologischen und werbetechnischen Detailvorschläge297 wiesen mehr auf das illusionistische Denken ihrer Urheber als auf reale Chancen hin. 1952 war intern erstmalig eine Zahl aufgetaucht: Monatlich würden 300.000 Ostdeutsche die Sektorengrenze wechseln, um ins Westkino zu gehen. Die offenbar realistische Schätzung verdeutlichte das Ausmaß und die Brisanz der Sache, die sich mit einem dramatischen Besucherrückgang der Ost-Berliner Filmtheater verband. Das Amt für Information des Magistrats bezifferte ihn mit 50 Prozent in der Zeit vom I. Quartal 1950 bis zum I. Quartal 1952: Allein von April 1951 bis April 1952 seien die Einnahmen des Progress Filmvertriebes um 35,5 Prozent zurückgegangen, und viele Kinos hätten katastrophale Einbrüche erlitten.298 Die SED und Staatsorgane sprachen von einer „Verlagerung“ und „Abwanderung“ des Ost-Berliner Filmtheaterwesens in den Westen.299 Andere als im Wesentlichen propagandistische Mittel zur Abwehr von Westkino-Einflüssen besaßen Partei und Magistrat nicht. Der Besuch an sich stellte keinen Strafrechtsbestand dar. Zwar war jedes Verbringen von Ostmark in den Westsektor verboten, doch nicht praktikabel, Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit dem Westkinobesuch juristisch zu verfolgen. Er ließ sich auch mit polizeilichen und anderen administrativen Instrumenten kaum beeinträchti296 Vgl. SED-BL, Protokoll Nr. 20/1953 der Sekretariatssitzung am 7.5.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 169. 297 An der Sektorengrenze sollten in „allen Häusern“ die Spielpläne der im Stadtbezirk gelegenen Kinos verbreitet und die „besonders wertvollen fortschrittlichen Filme“ durch Lautsprecherwagen popularisiert werden, „wodurch auch Westberliner Grenzgänger agitatorisch erfasst werden könnten“. Überdies sei zu prüfen, ob in den Ost-Berliner Zeitungen „Nachtexpress“ und „BZ am Abend“ eine Rubrik „Für unsere Westberliner Leser“ eingerichtet werden sollte mit Informationen über „neueste fortschrittliche Filme“ in OstBerlin. In diesem Sinne könnte auch der Rundfunk mit Hinweisen aktiv werden. Im Innern Ost-Berlins versprach man sich von der Aufklärungsarbeit in den Schulen gegen den „verderblichen Einfluss der westlichen Hetz- und Gangsterfilme“ sowie von der Agitation (auch bei den Eltern) für den „fortschrittlichen Film“ Besserung. Diese sei auch durch Gespräche mit Filmschaffenden „an der Sektorengrenze“ anzustreben. Dass die Parteien und Massenorganisationen dazu beitragen sollten, war eine beinahe selbstverständliche Forderung. Staatliches Filmkomitee: „Vorschläge für das Bezirksfilmaktiv betreffs Popularisierung der Filme in den Sektorenkinos“, 6.5.1953, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 221. 298 Vgl. Bericht des Amtes für Information des Magistrats, August 1952 und „Bericht über die Lage der Berliner Filmtheater und Vorschläge zur Veränderung“, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 165, 371. 299 Vgl. ebd.

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gen. Allerdings konnte man Funktionäre der Parteien, Massenorganisationen und des staatlichen Verwaltungsapparates unter Androhung von beruflichen Nachteilen per Revers auf Abstinenz festlegen und die Pioniere und Schüler moralisch verpflichten, nicht ins Westkino zu gehen. Doch das fruchtete wenig und verkehrte sich häufig ins Gegenteil: Das Verbotene zog viel eher an. Und die Erfahrung zeigte, dass man sich nicht gegenseitig bei Schuldirektoren und Lehrern „verpetzte“ – deren Schützlinge sie gelegentlich ebenfalls im Westkino sahen und in der Regel diskret an ihnen vorbeischauten. Erst in der Folge des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 und des „Neuen Kurses“ nahm die Berliner SED-Bezirksleitung auf der Basis bislang ungewöhnlicher Kritik eine Korrektur ihrer Kino- und Filmpolitik erfolgverprechend in Angriff. Am 28. November 1953 beschloss das Sekretariat der Bezirksleitung der SED einen umfangreichen Maßnahmeplan, „um die Filmtheater des demokratischen Sektors zu gut besuchten Erziehungs- und Kulturstätten zu machen und den Besucherstrom nach West-Berlin einzudämmen“. Deshalb seien u.a. die in der Nähe der Sektorengrenzen liegenden Kinos „mit besonders stark ansprechenden Filmen zu versehen (auch vorhandenen Westfilmen, aber mit guten, erzieherischen Beiprogrammen)“300. Die Senatsverantwortli300 Diese Notwendigkeit bestand für die SED dringender denn je: So waren die Besucherzahlen im Ostkino vom I. zum II. Quartal 1953 bei einer Gesamtkapazität von 8,4 Mio. Plätzen von 3,44 auf 3,0 Mio. gesunken. Dafür wurden auch „die starre Filmdisposition von Progress“, der „katastrophale Zustand in der Ausstattung und in der Werbung“ sowie „das Nichtverstehen der Problematik von DEFA-, sowjetischen und volksdemokratischen Filmen durch einen Teil der Bevölkerung“ verantwortlich gemacht, wobei sich die westliche „Hetze“ besonders negativ auswirke. Erstmals geriet auch die DEFA massiv in die Kritik; sie produziere zu wenige und qualitativ nicht ausreichende Spielfilme. Es fehle jedoch auch an ausländischen Filmen. Da jährlich 104 neue Spielfilme notwendig, aber nur 70 vorhanden seien, führe das zu einem zu häufigen Einsatz von Reprisen. Weil die Erhöhung der Anziehungskraft des sozialistischen Kinos Hauptaufgabe bliebe, sollten auch den OstBerliner privaten Lichtspielbetreibern gegebenenfalls Kredite gewährt werden (was dann aber nicht geschah). Vor allem aber war die Rede von stärkeren Eigeninitiativen der Theaterleiter bei der Renovierung und Bewerbung ihrer Kinos sowie von „Bühnenschauen“ unter Mitwirkung bekannter Filmschauspieler. Nach Möglichkeit hätten verschiedene Kinos nach „sowjetischem Vorbild“ Kulturräume mit Zeitungen und Zeitschriften zu schaffen. Dies beschränkte sich in der Praxis auf die beiden Großkinos „Babylon“ und „Berlin“. Die Einrichtung eines „Nachspielkinos“ sowie eines Zeitkinos im Ostbahnhof und von Nachtvorstellungen (wie im Westen) ordnete die SED per Ukas an. Ein besonderes Augenmerk legte ihre Berliner Führung auf die Filmwerbung in den Betrieben. Filmdiskussionen und Besucherkonferenzen mit namhaften Filmschaffenden seien hier in die Wege zu leiten und die „besten Schauspieler“ zu popularisieren. Weiter wurde die Entlarvung der „amerikanischen Schundfilmproduktion als ein Mittel der Kriegsvorbereitung, der Zersetzung des nationalen Empfindens und der Verrohung der Jugend“ gefordert. Beschluß des

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chen beobachteten diesen Trend nicht ohne Besorgnis und reagierten umgehend.301 Das betraf nicht zuletzt sozial benachteiligte West-Berliner Kinobesucher.302 Doch bereits ab Mitte 1955, stärker im Folgejahr, fiel trotz der relativen Erfolge gegenüber der West-Berliner Konkurrenz die ostdeutsche Filmpolitik in die ideologischen Dogmen der Zeit vor der Einleitung des „Neuen Kurses“ zurück. Die Ursachen dafür lagen wesentlich in der Verschärfung des Kalten Krieges nach den gescheiterten alliierten Deutschlandkonferenzen in Berlin (1954) und Genf (1955) sowie in der zunehmenden Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik, die, wie der Senat für Berlin, ihren Alleinvertretungsanspruch kanonisierte. Die vorübergehende relative Verbesserung des Ost-Berliner Filmangebots stellte für die West-Berliner Kinounternehmer und den Senat letztendlich kein nachhaltiges Problem dar.

Sekretariats der SED-Bezirksleitung Berlin, 26.11.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 169, Bl. 136–139. 301 Das Gesamtberliner Büro sah den Einsatz von einigen „guten Filmen“ aus dem RGWBereich und nun stärker auch aus dem Westen als eine Ursache für den relativen Erfolg Ost-Berlins. Auch würde man sich dort nach dem 17. Juni bemühen, „die propagandistischen Fesseln etwas zu lockern“. Die eigentliche Konkurrenz lag aber darin, dass interessante Westfilme bei einem Eintrittspreis von in der Regel einer Ostmark sowohl Bewohner des Ostsektors anzog als auch West-Berliner, die den gleichen Preis in „Ost“ zahlten. Das Büro schlussfolgerte: „Wenn in Ostberlin ein Westfilm gezeigt werde, sinke die Zahl der Ostbesucher in den Westkinos sichtbar um 30 Prozent. Der gezielte Ankauf von zugkräftigen Spielfilmen aus der freien Welt durch die ‚SBZ‘ müsse ausschlaggebend“ dafür sein, „die maßgeblichen Stellen von der politischen Delikatesse“ u.a. der Probleme Grenzkino und steuerliche Erleichterungen zu überzeugen. Trotz der immer noch dünnen Finanzdecke der Teilstadt ging der Senat dazu über, verbilligte Sonderveranstaltungen zu fördern, wenn diese niveauvolle Filme zeigten. Aktennotiz Völckers, undatiert, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2136 und „Besprechung der Frage einer Neuregelung einer Sondervorstellung für Ostbewohner“ (Senat, Filmtheaterverband, Landesfinanzamt, HICOG), 3.3.1953, in: ebd. 302 So wurde in Absprache mit dem Staatlichen Filmkomitee beschlossen, den West-Berliner Rentnern und Arbeitslosen bei Ostkinobesuchen eine 50prozentige Preisermäßigung zu gewähren. Damit würden sie „in größerem Maße […] unsere Lichtspieltheater an den Sektorengrenzen besuchen“. Diese lange hinausgezögerte Entscheidung fügte sich in die Politik der SED ein, in West-Berlin Einfluss auf sozial benachteiligte Gruppen zu nehmen und Gesamtberliner Fürsorge zu demonstrieren. Damit reagierte der Magistrat auch auf den Beschluß des Senats, in ein bis zwei Kinos pro Stadtbezirk den „Arbeitslosen Berlins die gleiche Ermäßigung zu gewähren wie beispielsweise für Ostbewohner in den Grenzkinos“. Schreiben Fechners an Ebert, 25.9.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238 und Büro für Gesamtberliner Fragen (Völckers) an den Verband der Berliner Filmtheater (Cammann), 7.7.1952, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163.

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3.4 Die Grenzkinos als politisches Ärgernis Sorge bereitete ihnen hingegen die mangelnde Qualität vieler Spielfilme, die insbesondere in den sogenannten Grenzkinos gezeigt wurden. Auf amerikanische Initiative hin hatten einige Lichtspielhäuser per alliierter Lizenz den Status von finanztechnisch begünstigten Grenzkinos erhalten303, weil sie speziell auf Ostbesucher ausgerichtet waren. Die Idee war plausibel: Die Grenzkinos konnten nicht nur auf traditionelle Strukturen des Kinobesuches und auf damit verbundene Mentalitäten und Gewohnheiten zurückgreifen, die zum Erhalt eines gemeinsamen intersektoralen Erlebnisraumes und von alten Nachbarschaften beitrugen. Aufgrund ihrer Lage dicht am Ostsektor schienen sie geeignet, durch besondere Eintrittspreise und Filmangebote ein größeres Publikum auch aus den weiter entfernten östlichen Stadtteilen und den brandenburgischen Randgebieten an sich zu ziehen. Schon insofern war die ihnen von den Amerikanern zugedachte Aufgabe immens politisch. Auch die SED hatte aus den gleichen Motiven heraus versucht, ein OstBerliner Pendent von offiziellen Grenzkinos zu schaffen, was aber – zuvorderst aus wirtschaftlichen Gründen – nur ansatzweise gelang.304 Seit dem Frühjahr 1951 richteten alle West-Berliner Grenzkinos besondere Programme für Ostbesucher ein, die für die Veranstaltungen am Nachmittag 0,25 Westmark und für alle Abendveranstaltungen 0,50 Westmark gegen Vorlage ihres Personal- oder eines anderen amtlichen Ausweises zahlten. Dafür erließ der Senat den Kinoinhabern teilweise die Vergnügungssteuer. Diese Regelung führte zu der Bestrebung, täglich möglichst viele Vorführungen zu realisieren, was sich angesichts der erheblichen östlichen Nachfrage sehr rentierte, aber zur Verschlechterung des Programms beitrug. In der Tat liefen in den Grenzkinos immer mehr minderwertige Streifen, vor allem billige Wildwest-, Abenteuer-, Liebes-, Kriminal- und Lustspielfilme305, 303 Ihre Anzahl war limitiert, vergrößerte sich jedoch beträchtlich (1950 = 5–10; 1951 = 15; 1955 = 22; 1956 = 23). Vgl. Steinecke, Freizeit in räumlicher Isolation, S. 124 und Erika M. Hoerning, Sektoren-Währungen-Grenzen. Grenzhandel in Berlin-Wedding, in: Der Wedding – hart an der Grenze. Weiterleben in Berlin nach dem Krieg, hrsg. von der Geschichtswerkstatt, Berlin (W) 1987, S. 210. 304 Bis 1956 existierten nur drei Ost-Berliner Grenzkinos, denen das Prädikat „Grenztheater“ zuerkannt worden war („Universum“ Schönholz, „Capitol“ Rosenthal, „Fortuna“ Pankow). Im gleichen Jahr kamen die „Urania-Lichtspiele“, Wilhelmsruh und die „AstorLichtspiele“, Mitte hinzu – beide unmittelbar an der Sektorengrenze gelegen. VEB Filmtheater an den Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Kultur, 27.7.1956, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 156. Diese Kinos wurden aus politischen Gründen in Stand gehalten, auch die drei privat betriebenen unter ihnen. 305 Im Juni 1952 zum Beispiel: „Königin einer Nacht“; „Schön muss man sein“; „Engel im Abendkleid“; „P. und P. als Modekönige“; „Die Erbin vom Rosenhof“; „Wenn du eine Schwiegermutter hast“; „Buffalo Bill“; „Die rote Schlucht“; „Rache ohne Gnade“; „Allot-

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die sie zum Teil von „windigen“ Verleihfirmen bezogen. Während der westsektorale Verband der Berliner Filmtheater e.V. aus Konkurrenzgründen gegen die Grenzkinos mit ihren von den Alliierten genehmigten Dumpingpreisen wetterte, sträubte sich der Senat, vor allem die Verwaltung Volksbildung und das Büro für Gesamtberliner Fragen, „Schund“ und „arbeitsscheue Elemente des Ostsektors“ über Steuererleichterungen zu subventionieren.306 Zum einen brachten die Grenzkinos die gesamte West-Berliner Kinokultur in Misskredit, zum anderen schienen sie die „Schmutz“-Argumente der SED nur zu bestätigen, die sich in der Konkurrenz vorrangig auf die „bürgerliche“ Kritik in West-Berlin berief.307 An der miserablen Qualität der hier gezeigten Filme war der Gast aus dem Ostsektor nicht unschuldig. Es nutzte wenig, ihn durch Westpresse und Rundfunk auf „anständige Filme“ aufmerksam zu machen, um allmählich eine „Änderung des Durchschnittsniveaus“ der Grenztheater herbeizuführen, klagte der Senat. Im Gegenteil: Bei guten Filmen ginge die Besucherzahl zurück.308 Dennoch enstand um das Grenzkino gerade bei Jugendlichen eine Legende. Es repräsentierte Abenteuer und Pioniergeist, die zum Idealbild westlicher Lebensweise und zum östlichen Nacheifern durchaus beitrugen. Das wog jedoch die negative Besetzung des Begriffs Grenzkino bei den Gebildeten in Ost und West nicht auf. Formal folgte die US-Militärverwaltung den Argumenten des Senats309, der die Grenzkinos durch finanzielle Sanktionen zu Programmverbesserungen und mehr Wettbewerb

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ria in Florida“; „Hab mich lieb“; „Konzert in Tirol“; „Glücklich und verliebt“; „Veronika die Magd“; „Die schwarze Füchsin“; „So jung und so verdorben“. Vgl. LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163. Ein leitender Mitarbeiter des Gesamtberliner Büros (Völcker) notierte, dass die Grenzkinos moderne Standards nicht einhielten. Besonders in den Bezirken Kreuzberg und Wedding handele es sich um „Bruchbuden“, die „mit ihren Tagesvorstellungen nur von der Halbwelt des Sowjetsektors und den herumlungernden Jugendlichen leben“. Das Publikum setze sich zu 80 Prozent aus Leuten zusammen, „auf die West-Berlin weder aus politischen noch moralischen Gründen Wert legen sollte, mit anderen Worten: um jugendliche arbeitsscheue und sonstige Nichtstuer“. Denn die arbeitende Bevölkerung und die „breite Bürgerschicht des sowjetischen Sektors“ können sich einen Kinobesuch am frühen Nachmittag nur im Urlaub leisten und würden durch das „schlechte Benehmen“ des genannten Personenkreises eher vom Besuch abgehalten. Aktennotiz, 21.10.1954, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163. Vgl. Steiniger, Westberlin, S. 196. Vgl. Aktennotiz von Völcker, 27.10.1954, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2163. Diese Aufführungen würden größtenteils nur von „Halbwüchsigen“ besucht, meinte der US-amerikanische Filmoffizier, so dass die Filme „keinen greifbaren Wert im Sinne des amerikanischen Informationsprogramms haben“. Schreiben von Carl Gebuhr, Informations Officer (Film), HICOG, Berlin Element, Public Affairs Division, an Völcker, 10.9.1953, ebd.

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zwingen wollte. Doch hielt sie aus politischen Gründen praktisch nicht nur an ihnen fest, sondern finanzierte auch (seit 1951) im großen Umfang FilmSonderaufführungen für Ostdeutsche u.a. im „Titania-Palast“ und FreilichtProgramme. Das schädigte aber das Geschäft der West-Berliner Filmtheater. Im Geflecht divergierender Interessen behaupteten sich die Grenzkinos, ohne ihre Spielpläne qualitativ gravierend verbessern zu müssen. Ihre Besitzer lebten angesichts des großen Zustroms aus dem Ostsektor und damit klingelnder Kassen nicht schlecht, und sie wussten, dass ihre Kinos ohne den Besuch von „drüben“ nicht existieren könnten. In der internen Auseinandersetzung mit Senat und Alliierten blieb der Ost-Berliner der politische Verbündete und „stille Partner“ der Grenzkinos, dem jeder Abstrich an den Subventionsleistungen an den in der Regel kleinen Geldbeutel ging und der beim Senat wirksam Einspruch gegen jede angekündigte Preiserhöhung erhob.310

3.5 Die Lichtspiele im Osten und das „Tauwetter“ Hatte die SED noch Anfang 1954 einen Rückgang des Westkinobesuchs insbesondere von Jugendlichen festgestellt, so gestand sie sich schon wenige Monate später ein, dass es „trotz aller Anstrengungen“ nicht gelungen sei, die Kinder und Jugendlichen vom Besuch der Kinos in Westberlin abzuhalten. Gerade Schüler würden sie massenweise und z.T. organisiert frequentieren und „die Erfahrungen bei den Kinobesuchen“ in den Schulen austauschen. Das beträfe verstärkt auch Lehrlinge, obwohl sie in Ost-Berlin Theateranrechte besäßen und ihre Berufsschulen dort Kinobesuche organisierten.311 Auch so zeigte sich, dass die Kinofrage in hohem Maße Jugendpolitik war, aber auch für die Ost-Berliner Kulturpolitik insgesamt und speziell in der Konkurrenz zum Westen an Bedeutung gewann. Die Zeichen alarmierten.312 Das umso mehr, 310 Vgl. Schreiben des Büros für Gesamtberliner Fragen an den Reg. Bgm., 20.3.1953, in: ebd., Acc. 1512, Nr. 1788, Bl. 282. 311 Bei Sondervorstellungen der Westkinos seien 60–70 Prozent Schüler und Lehrlinge. „Oftmals besteht der Eindruck, dass es sich […] um Teile einer Klasse oder um die Lehrlinge eines Betriebes handelt, die einen Gemeinschaftsbesuch des betreffenden Kinos veranstalteten.“ „Analyse des Besuchs von Westberliner Kinos durch Bewohner unseres Wirtschaftsgebietes“, 6.6.2957, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 156. Vgl. zum Komplex Lehrlinge den Bericht der SED-BL über die Berufsausbildung, 27.1.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 217, Bl. 22, 25. 312 Die Besucherzahl in den Kinos des sowjetischen Sektors hatte sich von 1954 auf 1955 binnen weniger Monate von 7,717 Mio. auf 7,234 Mio. verringert. In manchen Monaten fanden sich 1,8 bis 2 Mio. „Besucher aus dem demokratischen Sektor“ (Mehrfachbesuche) in den Lichtspielhäusern des Westens ein. Vgl. Lemke, Die Kino-Konkurrenz, S. 652.

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als sich der Kinowettbewerb auch wirtschaftlich dynamisierte. Während sich das private West-Berliner Lichtspielwesen auch dank der Ost-Berliner Nachfrage zu einer florierenden Unterhaltungsindustrie entwickelte, belasteten die Kinosubventionen den Kulturetat des Magistrats und damit den Staatshaushalt erheblich. Immer weniger ging in die Kassen der eigenen Kinos und immer mehr floss die Ostmark und somit Kaufkraft in die Westsektoren ab.313 „Neben der ungeheuren Schädigung des Kinos im demokratischen Sektor“ ergebe sich daraus „eine mögliche Stützung des Wechselkurses“, stellte der Magistrat zutreffend fest. Überdies werde der Staat durch die sinkenden Steuereinnahmen geschädigt. Bei einer Auslastung der Kinokapazität von manchmal nur 8 bis 10 Prozent bewirkte das den Mangel an Mitteln für Instandsetzungen und Modernisierungen mit. Auch registrierte der Magistrat eine weitere Tendenz: Kinobesuche in West-Berlin würden von DDR-Bürgern gern zunehmend genutzt, um dort einzukaufen.314 So wirkte das Westkino auch indirekt auf den Abfluss von östlicher Kaufkraft in den Westen, was wiederum zu einem ungünstigeren Wechselkurs für die Ostmark beitrug. So entstanden insgesamt ein Problemstau und dringender Handlungsbedarf. Doch erst unter dem Einfluss des XX. Parteitages der KPdSU gelang der SED unter dem Druck der Berliner Kulturkonkurrenz und flexiblerer Vorstellungen ein neuer kinopolitischer Ansatz. Es entstand die Frage, inwiefern die poststalinistische Kulturpolitik zu über „Flickwerk“ hinausgehenden Reformen willens und in der Lage sein würde. Im Frühjahr 1956 setzte ein intensives Studium der Werbung und Geschäftsmentalität der Westkinos und des Verhaltens ihrer ostdeutschen Nutzer ein.315 313 Im Mai 1955 lag erstmals eine Analyse des östlichen Berliner Stadtkontors vor, derzufolge dem „demokratischen“ Sektor täglich 61.551 Ostmark (monatlich 1,846 Mio.) verlorengingen. Eine Untersuchung der Deutschen Notenbank, der Staatsbank der DDR, bestätigte diese Zahl, wobei ebenfalls von einem monatlichen Westkinobesuch (einschließlich der Grenzkinos) in Höhe von 1,8 bis 2 Mio. ausgegegangen wurde. Nach anderen Informationen kauften DDR-Bürger bei einer Zugrundelegung des Wechselkurses 1:3,85 im Jahr 1954/55 Karten im Wert von 22,2 Mio. Ostmark (1955/56 = 19,8; 1956/57 = 18,8; 1958/59 = 16,1 Mio.). Dabei sind freilich die schwankenden Wechselkurse zu berücksichtigen und auch der geringere Einsatz von Ostmark durch die 1:1 Regelung im Rahmen des Gesamtberliner Kulturplans. Vgl. Analyse des Magistrats, 25.2.1960, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 156. 314 Vgl. Vertrauliche Dienstsache der Abteilung Kultur des Magistrats: „Analyse des Besuches von Westberliner Lichtspielhäuser durch Besucher unseres Wirtschaftsgebietes“, 6.6.1957, in: ebd. 315 Zur quantitativen Bestimmung des östlichen Besucherstromes in die Westkinos trugen Angestellte des Magistrats, aber auch haupt- und ehrenamtliche Helfer der Ost-Berliner Parteien und Massenorganisationen sowie der SED-Kreisverbände im Westteil der Stadt bei. Sie postierten sich in der Nähe der Kassen bzw. Eingänge der für Ostbesuche reprä-

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Parallel dazu beschlossen SED-Bezirksleitung und Magistrat auf Kinder und Jugendliche zugeschnittene Aktionen.316 Wenngleich die West-Berliner Kinos immer den ideologischen Bezugspunkt bildeten und sich die konkurrenzbezogene Propaganda in den Maßnahmekatalogen wiederholte, ging die Ost-Berliner Kulturpolitik im Ganzen sachbezogen vor. Da „der technische Stand der Kinos im Westen […] dem Stand unserer Filmtheater weitaus überlegen (ist)“, sollte ihre unumgängliche Modernisierung den Wandel zur Innerberliner Wettbewerbsfähigkeit einleiten.317 Eine sorgfältige Perspektivplanung habe eine exakte Finanzierung aller Bau- und Ausstattungsschritte und vor allem die Frage zu erfassen, wann und wo in Ost-Berlin neue Kinos entstünden. Auch müsse sich der Komfort der Kinos erhöhen, was das Problem der materiellen Interessiertheit seiner Belegschaften aufwarf.318 Von unmittelbarer Wirkung war jedoch die deutliche Verbreiterung des Angebots. Die DEFA stellte mehr und teilweise künstlerisch anspruchsvolle Spiel-, Kurz- und Trickfilme zur Verfügung, und vor allem erhöhte sich der Anteil der sentativen Westkinos und stellten fest, wie viele Personen sich mit dem Personalausweis der DDR, sowie – bei Kindern – mit Pionierausweisen oder den Stammabschnitten der Lebensmittelkarten auswiesen. Durch Hochrechnungen gelangte die östliche Statistik zu Ergebnissen, die durch Angaben der Gegenseite im Wesentlichen bestätigt wurden. Vgl. Vertrauliche Dienstsache der Abteilung Kultur des Magistrats: „Analyse des Besuches von Westberliner Lichtspieltheatern von Bewohnern unseres Wirtschaftsgebietes“, 6.6.1957, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 156. 316 Da die verlangte Anzahl an „guten Kinderfilmvorstellungen“ in absehbarer Zeit nicht zu erreichen sei, wurde beispielsweise der Einsatz alter Märchen- und Trickfilme sowie von jugendfreien Spielfilmen empfohlen. Gleichzeitig regte die SED an, die in der Regel strengen Jugendprädikate (Filme ab 14 und 18 Jahre) durch „Zwischenprädikate“ liberaler zu handhaben, um auch dadurch die „ansteigenden Besucherzahlen von Jugendlichen des demokratischen Sektors in West-Berliner Kinos“ zu drosseln. Vgl. „Maßnahmen, um den Besuch in den Filmtheatern des demokratischen Sektors zu erhöhen und die ideologischen Einflüsse westlicher Filmerzeugnisse einzudämmen“, 24.5.1956, in: ebd., Nr. 274, Bl. 15– 20. 317 Jetzt wurde prononciert herausgestellt, dass nicht nur das westliche Filmprogramm, sondern auch die modernen „zahlreichen mit CinemaScope versehenen Kinos“ des Westens, die technischen Neuheiten an sich, die eigenen Bürger anzögen: Man schätzte deren tägliche Zahl auf 27.000 bis 30.000. Vorlage der Abteilung Kunst und kulturelle Massenarbeit der SED-Bezirksleitung an das Sekretariat der Bezirksleitung: „Maßnahmen, um den Besuch in den Filmtheatern des demokratischen Sektors zu erhöhen und die ideologischen Einflüsse westlicher Filmerzeugnisse einzudämmen“, 20.6.1956, in: ebd., Nr. 1008. 318 Der Magistrat erhielt die Auflage, eine „Prämienordnung“ zu erlassen und die Wettbewerbsbedingungen beim Progress-Filmvertrieb so zu verändern, dass dabei „ein größerer Anreiz für die Steigerung der Besucherzahlen bei fortschrittlichen Filmen geboten werde“. Ebd.

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internationalen, insbesondere westlichen Produktionen.319 Da das mit einem Rückgang des Besuchs sowjetischer Filme in Ost-Berlin verbunden war, vermutete die SED-Führung darin eine politische Tendenz320, duldete aber die populäre relative „Verwestlichung“ des Filmangebots in Ost-Berlin.321 Einige Weststreifen wurden aus ideologischen Gründen nur dort und nicht in der übrigen DDR gezeigt. Es fehlten jedoch neue US-amerikanische Filme, was aber nicht an der DDR lag, sondern am Exportverbot der USA für Filme in die sozialistischen Länder.322 Die Konkurrenz mit West-Berlin stand auch im Hintergrund der lebhaften Diskussion um die Einführung eines Filmkunst- bzw. Wiederaufführungstheaters, das jedoch erst Jahre später in der Friedrichstraße entstand. Mehr Flexibilität legten die Ost-Berliner Kulturpolitiker, wie noch zu sehen sein wird, auch im Wettbewerb mit der „Berlinale“ an den Tag. Zur Zeit ihrer Durchführung boten sie den Ost-Berlinern per „Sondermaßnahme“ Spitzenfilme an323, zum Teil Erstaufführungen. Außerdem wurde das System der gerade bei jungen Leuten beliebten Spätvorstellungen erweitert. Das filmpolitische „Tauwetter“ im sowjetischen Sektor erstaunte die West-Berliner Kulturpolitiker, die ein steigendes Selbstbe-

319 1957 liefen in den Ost-Berliner Kinos Filme aus über 25 Staaten. Sein Filmwesen besaß ständige Verbindungen zu 550 Verleihfirmen in 75 Ländern. Im Unterschied zu den vergangenen Jahren kamen ebenfalls westdeutsche Filme stärker zum Einsatz. Für das Renommee des Ostkinos sorgte auch die größere Anzahl von ausländischen Spitzenfilmen (u.a. „Gervais“, „Die Liebenden von Verona“, Frankreich; „La Strada“, „Ein Amerikaner in Rom“, „Liebe, Brot und tausend Küsse“, Italien) sowie ostdeutsch-französische Koproduktionen („Die Elenden“ und „Tyl Ulenspiegel“). Auch gelang es der DEFA, einige namhafte ausländische Schauspieler (z.B. Rudolf Forster in der „Spielbankaffaire“) für ihre Produktionen zu gewinnen. 320 Der Besuch sowjetischer Filme sei erheblich zurückgegangen. „Ich befürchte, dass sich das nicht nur auf die sowjetischen Filme, sondern auch auf die politisch wichtigsten erstreckt.“ Schreiben des ZK-Sekretärs für Kultur, Paul Wandel, an Joachim Mückenberger, Filmreferent in der ZK-Abteilung Kultur, 2.2.1956, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV/2/2.026/75, Bl. 1. 321 ZK-Papier: „Vorschläge zur Verbesserung der Filmarbeit in Berlin“, 1.2.1956, in: ebd., Bl. 9. 322 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme; Stand: 15.3.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1936, Nr. 2155, Bl. 36. 323 So zeigte die „Skala“ in der Schönhauser Allee Originalfassungen von Filmen (u.a. „Das Dach“ und „Flucht aus der Hölle“), die in der DDR bisher nicht erstaufgeführt worden waren, und das „Aladin“ in der Friedrichstraße beliebte alte deutsche Spielfilme („Der zerbrochene Krug“, „Der Verteidiger hat das Wort“, „Die Dreigroschenoper“ u.a.) sowie einige andere Kinos ebenfalls populäre Filme. Vgl. Schreiben des VEB Filmtheater an den Magistrat, Abteilung Kultur, 4.6.1957, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 156.

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wusstsein der SED und eine neue Atmosphäre von Offenheit und Diskussion beobachteten.324 Tatsächlich schien die SED in Ost-Berlin im Umfeld ihrer zaghaften Entstalinisierung an einer partiellen Demokratisierung der Film- und Kinopolitik interessiert zu sein. Dies alles trug zu einer relativen Aufwertung des Ostkinos bei. Bei seiner Sympathiewerbung in den Westsektoren forderte eine Reihe von SEDKulturpolitikern, auch West-Berliner an der sozialistischen Filmarbeit und Spielplangestaltung zu beteiligen, ohne freilich „prinzipienlose Konzessionen zu machen“325. Eine derartige Beteiligung außerhalb von Parteiaufträgen an Mitglieder der West-Berliner SED blieb allerdings in der Regel aus. Doch veranlasste die sichtbare Positionsverbesserung der Ost-Berliner Filmpolitik den Senat, über die Effektivität seiner Gesamtberliner Kinoprogramme und die Ostkonkurrenz erneut zu reflektieren.

3.6 Westliche Kinosubventionen und ihre Folgen für Gesamtberlin Zwar konnten die West-Berliner Kulturpolitiker für 1956 auf insgesamt 10,5 Mio. teilweise verbilligte Kinokarten an Ostbewohner verweisen, doch dachten sie an weitere Vergünstigungen für sie, vor allem im Rahmen von subventionierten Nachmittagsvorstellungen.326 Es fehle dem Osten jetzt nicht mehr so sehr an Filmangeboten, meinte man im Kulturressort des Senats, doch „vorläufig noch an einer gleichwertigen technischen und sonstigen Ausstattung“327. Aber Magistrat und SED begannen auch hier nachzuziehen.328 Trotz dieser Erkenntnisse erhielten die West-Berliner Lichtspielhäuser über den Mitte September 1957 in Kraft getretenen Gesamtberliner Kulturplan keine Subventionen für die Kinobesuche Ost324 Die SED hebe mit Stolz empor, „daß unter den Filmen aus kapitalistischen Ländern 15 im Sowjetsektor […] früher gelaufen sind als in Westdeutschland [und West-Berlin]“. Auch erstaunte den Westen, dass „große DEFA-Filme“ in Ost-Berlin „sehr offen kritisiert“ würden und nicht die ungeteilte Anerkennung seiner Kritiker fanden. Vgl. Berlins WestOst-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1936, Nr. 2155, Bl. 36. 325 Schreiben der SED-BL an die Abteilung Kultur des Magistrats, 14.8.1957, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 1040, Bl. 51. 326 Hier sollten die Karten bis zu 50 Prozent verbilligt werden. Vgl. Berlins Ost-WestProbleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1936, Nr. 2155 und Protokoll der 35. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen des Abgeordnetenhauses, II. Wahlperiode, 11.4.1957, in: ebd., Nr. 2069. 327 Information an den Kultussenator, 15.10.1956, in: ebd., Nr. 752. 328 Vgl. dazu auch die West-Berliner Angaben, in: Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2155, Bl. 36.

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deutscher. Zum einen hätte das einen jährlichen Zuschuss von vier bis fünf Mio. Westmark allein für die Abendprogramme bedeutet und 12,5 Mio. für die gesamten Vorstellungen der Westkinos. Überdies sahen Bundesregierung und Senat, dass ein derartiger Schritt „die wirtschaftliche Existenz der [privaten] Filmtheaterbesitzer“ in Ost-Berlin vernichten würde und aus Konkurrenzgründen dann „auch in Ostberlin in steigendem Maße westliche Filme gezeigt werden“, was unerwünscht sei. Zum anderen spielte das auch von der Bundesregierung immer wieder bemängelte Image der West-Berliner Kinos als Hort des minderwertigen Films eine Rolle. Unter dem Druck der politischen Zielsetzung, vor allem aber des agilen Verbandes der Berliner Filmtheater, fanden Bundesregierung, Senat und Kinobesitzerverband zu einer einvernehmlichen Lösung: Nur Filme, denen die amtliche Filmbewertungsstelle Wiesbaden das Prädikat „wertvoll“ oder „besonders wertvoll“ (Prädikatsfilme) zuerkannte, würden subventioniert, d.h. den Ostbesuchern 1:1 angeboten. Durch die Aufnahme des Sektors Film ab dem 29. August 1958 stiegen die Aufwendungen aus dem Gesamtberliner Kulturplan 1958 von den ursprünglich geplanten 4,37 Mio. Westmark auf insgesamt 7,33 Mio. an. Die Lichtspielhäuser erhielten mit 4,209 Mio. Westmark den „Löwenanteil“. Es war dann vorrangig der Film, der zur erheblichen Progression der von der Bundesrepublik zur Verfügung gestellten Finanzmittel im Rahmen dieses Plans beitrug. Damit verband sich eine rasante Steigerung des Anteils der Prädikatsfilme am Gesamtfilmeinsatz. Das wiederum führte zu einer erheblichen Verbesserung der Qualität des West-Berliner Kinos insgesamt, dessen Betreiber daran interessiert waren, so viele Prädikatsfilme wie irgend möglich einzusetzen. Im Frühjahr 1961 war ihr Anteil schließlich mehr als doppelt so groß wie in der Bundesrepublik. Nicht selten organisierten Kinos täglich bis zu sieben Vorführungen, auch in der Nachtzeit.329 Ab September 1958 setzte ein Strom von Kinobesuchern aus Ost-Berlin ein, der alle Erwartungen und Schätzungen des Senats übertraf. Er hatte mit monatlich 200.000 Ostdeutschen gerechnet, die das 1:1-Angebot wahrzunehmen gedachten: es kamen aber bis zu 600.000. Die Einbeziehung des Films in den Kulturplan und das Prozedere330 wirkte nicht nur auf Ost-Berlin und seine Randbezirke, sondern weit in die DDR hinein. 329 Vgl. Bericht über Maßnahmen zur Förderung des „Gesamtberliner Kulturlebens“, 22.2.1957, in: ebd., Nr. 2160 und Schreiben des Senators für Volksbildung an den Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, 8.12.1958, in: ebd., Nr. 2161. 330 Die Besucher aus Ost-Berlin und der DDR wiesen sich bei 1:1-Vorstellungen, wie schon früher im Grenzkino, mit ihrem Personalausweis aus, Kinder mit einem anderen Dokument, das ein Lichtbild enthielt.

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Während die Westkinos teilweise überfüllt waren, erlebte die östliche Konkurrenz wieder „leere Sitzreihen“. Die Tendenz von Besuchen aus dem Osten stieg bis zum Mauerbau an; im Sommer 1961 registrierte man bei den subventionierten Vorstellungen der West-Berliner Filmtheater beinahe genau so viele Ost- wie WestBerliner, im französischen Sektor bildeten die Ostbesucher sogar die Mehrzahl.331 Die westliche „Kino-Offensive“ gegen die Ost-Berliner Filmkonkurrenz fiel 1958 mit systeminternen, aber auch äußeren Faktoren zusammen. Zum einen hielt das filmpolitische Tauwetter nicht lange an. Kulturideologische Dogmen und Klassenkampfmentalität gewannen gegenüber flexiblerem Denken und pragmatischem Handeln allmählich wieder die Oberhand. Zum anderen schlug die von der UdSSR entfachte zweite Berlinkrise auch auf die östliche Filmpolitik durch. Auch ließ der Mangel an finanziellen und technischen Mitteln dem 1956 so erfolgversprechenden Beginn der Modernisierungen und Instandsetzungen im Lichtspielbereich schnell die „Luft“ ausgehen. SED und Magistrat begannen zwar eine „Gegenoffensive“, die aber – bei einigen Teilerfolgen332 – die Grundprobleme333 nicht lösen half. Signifikant blieb die 331 Allein bei den geförderten Filmvorführungen (1:1) zählte man in West-Berlin in der Zeit vom 1.4.1959 bis 31.3.1960 9,81 Mio. Zuschauer aus dem Westen und 6,65 Mio. aus dem Osten. Im französischen Sektor waren es 1,47 Mio. West- und 2,68 Mio. Ostbesucher. Die Zahlen der Ostbesuche stiegen bis zu einem „Patt“ 1961 an. Der Magistrat gab für 1957 = 7.065.920 Besuche an (täglich 19.572); für 1958 = 8.422.000 (täglich 23.395). Diese Angabe berücksichtigte offenbar nur die vom West-Berliner Kulturplan subventionierten Besuche. Mit westlichen Angaben stimmte überein, dass einige Westkinos bis zu 80 Prozent Ost-Berliner Publikum verzeichneten; bei 1:1-Vorstellungen sei es in allen Kinos durchschnittlich mit 50 Prozent vertreten, bei Sondervorstellungen sogar mit 90 bis 100 Prozent. Die Zahl der monatlichen Westkinogänger sei auf 750.000 gestiegen, die der Besucher in den Ost-Berliner Lichtspielhäusern 1959 hingegen auf insgesamt 11,6 Mio. gefallen (1958 = 13,5 Mio.). Die durchschnittliche Auslastung der Platzkapazität betrage 30 Prozent, meldete der Magistrat an die SED-BL. Die westlicherseits angegebenen Besucherzahlen für 1960 (subventionierte Besuche) von „rund zehn Millionen aus Ostberlin und den Randgebieten“ kämen, wie er unterstrich, „dem Ergebnis unserer Ermittlungen ziemlich nahe“. Bericht der Senatsverwaltung für Volksbildung, undatiert (April oder Mai 1960), in: ebd., Nr. 720; Schreiben des Magistrats an die SED-BL, 18.6.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 156 und „Analyse des Besuches Westberliner Lichtspieltheater durch Bürger der DDR einschließlich des demokratischen Sektors von Groß-Berlin“, 25.2.1960, in: ebd. 332 Die in den Ost-Berliner Stadtbezirken geschaffenen Filmaktivs, die ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Filmprogramme besaßen und sie einfallsreich popularisierten, trugen bei einigen Filmen zu Rekordbesuchen bei: Die sowjetischen Streifen „Der stille Don“ (1. Teil), nach Scholochows großem Roman, und „Die Kraniche ziehen“ sahen 258.626 bzw. 347.986 Zuschauer.

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Differenz zwischen dem, was an Problemen erkannt wurde und der strukturellen Unfähigkeit, Erkenntnisse umzusetzen. Hinzu kam, dass mit der heraufziehenden Systemkrise der DDR von immer mehr Ost-Berlinern eine Art „Recht auf Westkinobesuch“ geltend gemacht wurde.334 Die durch den Gesamtberliner Kulturplan erreichte neue Qualität des West-Berliner Filmangebotes – und dessen sich mehrenden Highlights335 – entschieden die Berliner Kinokonkurrenz endgültig für den Westen. Kinobesuche gehörten zur „Republikflucht auf Zeit“. Damit trat aber auch ein, was dem Senat seit langem klar war: Seine erheblichen Subventionen für die West-Berliner Lichtspiele beschleunigten die Liquidierung des privaten Kinoeigentums in Ost-Berlin336 und seinen Vororten, zum einen durch die rücksichtslose unmittelbare Konkurrenz, zum anderen indirekt, weil die wirtschaftlich geschwächten Privaten dem Verstaatlichungsdruck der SED auf Dauer nicht standzuhalten vermochten und „freiwillig“ aufgaben. Vor allem deshalb konnte sich die sozialistische Kulturpolitik auf dem Kinosektor massiver repressiver Maßnahmen enthalten.

333 Immer wieder verprellte konkret der mit dem Spielfilm betriebene Antikapitalismus und die sozialistische „Produktionspropaganda“, die mit der 1960 einsetzenden DDR-Krise noch verstärkt wurde. Nach 1958 spielten aber auch nichtspezifische allgemeine, vor allem mentale Ursachen eine noch größere Rolle: Schon vor dem Mauerbau begann sich der Nimbus Westkino herauszubilden, der besonders bei Jugendlichen aus Ost-Berlin wirkte, vielleicht aber noch mehr auf die aus seinen brandenburgischen Vororten. Es lockte das Risiko eines überschaubaren Abenteuers, das seine Delikatesse vor allem dadurch erhielt, dass es SED und Staat verteufelten. Viele andere fanden den Ausflug in die West-Berliner Glitzerwelt des Kinos einfach schick; man wollte dabei sein und zu Hause darüber berichten: In der Schule und im Betrieb diskutierten Kinder und Jugendliche Westfilme und wurden so zu ihren Propagandisten und Werbe-Multiplikatoren. Auch verstärkte sich die Tendenz, das Westkino zum Anlass zu nehmen, um Verwandte und Bekannte zu besuchen oder im Westteil der Stadt ein wenig zu „bummeln“ und einzukaufen. 334 Selbst junge Kandidaten der SED opponierten gegen Verbotsversuche: „Muß ich denn erst den Parteisekretär um Erlaubnis fragen, daß ich in Westberlin ins Kino gehen darf?“, sei gefragt worden. Und im Übrigen sei doch die DEFA daran schuld, dass so viele Menschen dort die Kinos besuchten. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL: „Beispiele des massenpolitischen Kampfes sowie der Auseinandersetzung mit parteifremden und inaktiven Mitgliedern und Kandidaten“, 15.4.1958, in: ebd., C Rep. 209, Nr. 620. 335 So habe beispielsweise der Kassenmagnet „Windjammer“ innerhalb weniger Tage 45.000 Ost-Berliner in den Sportpalast gelockt und in der Folge Hunderttausende in die regulären Westkinos. Vgl. Bericht über die Sitzung im Bundeshaus am 15.10.1958, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1703, Nr. 2218–2219. 336 Ende 1957 waren von den insgesamt 94 Ost-Berliner Kinos 52 privat, Anfang 1960 noch 17, Ende 1961 ganze neun. Vgl. Lemke, Die Kino-Konkurrenz, S. 670–674.

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3.7 Die politische „Berlinale“ Berlin strebe an, wieder die „Filmmetropole Deutschlands“ zu werden, nachdem es „einmal die Heimat des deutschen Films war“337, hieß es in Senatsdarstellungen. So lag die Inszenierung von Filmfestspielen im Westen Berlins nicht nur im Interesse seiner Politiker, die ihrer Stadt einen weiteren Glanz hinzufügen wollten, sondern der ganzen Berliner Kulturwelt. Auch wirtschaftliche Überlegungen spielten eine Rolle.338 Doch sollte ein Filmfestspiel mit internationaler Perspektive in der politischen Hauptsache „hinter dem Eisernen Vorhang ein kulturelles Zeugnis des Westens ablegen“.339 In diesem Sinne war von dem US-amerikanischen Filmoffizier Oscar Martay und seinen deutschen Mitstreitern Alfred Bauer und Manfred Barthel die Gründungsinitiative ausgegangen, die wegen ihrer Bedeutung gegenüber Ost-Berlin und der SBZ trotz der ungünstigen wirtschaftlichen Situation der Teilstadt 1950/51 durch finanzielle Zuwendungen und Darlehen der Amerikaner schnell konkrete Formen annahm. In der Zeit von 1951 bis 1953 war das als „Berlinale“ bezeichnete internationale Filmfestival keine feste Institution, erst danach wurde sie zur ständigen Einrichtung. Schon Reuters Grußwort am 6. Juni 1951 verwies auf eine politisch konfrontative Zielstellung. „Die Sprache war hart und plakativ.“340 Die Festspiel-Eröffnung, die intern für September/Oktober 1951 erwogen worden war, fand zu diesem früheren Zeitpunkt statt, weil die Initiatoren einerseits allen westdeutschen Städten zuvorzukommen gedachten, die für den Sommer und Herbst des Jahres ebenfalls Filmfestivals planten. Zum anderen sah Martay mit den in Ost-Berlin für den Sommer 1951 einberufenen III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten die politische Notwendigkeit eines früheren Termins. Martay irrte aber, wenn er das kommunistische Jugendfestival als östliche Reaktion auf die Ankündigung der „Berlinale“ interpretierte.341 Doch betrachtete er sie – konkurrenzbewusst – als 337 Schlußbericht, „II. Internationale Filmfestspiele Berlin“, 12.–25.6.1952, in: LAB, B Rep. 014, Acc. 2323, Nr. 153–155. 338 Vgl. Schreiben der Festspielleitung an die Bundesstelle für den Warenverkehr, 22.8.1953, in: ebd., Nr. 158–160. 339 Vgl. Schlußbericht, „II. Internationale Filmfestspiele Berlin“, 12.–25.6.1952, in: ebd., Nr. 153–155. 340 Reuter nannte Berlin eine „Insel der Freiheit und Unabhängigkeit, umgeben vom System der Gewalt, der Unterdrückung und der Dienstbarkeit der Kunst zu Propagandazwecken“. Er sah die Stadt als ein „Bollwerk, das die totalitären Mächte vergeblich berennen“. Zitiert nach: Wolfgang Jakobsen, 50 Jahre Berlinale. Internationale Filmfestspiele Berlin, Berlin 2000, S. 24. 341 Das eigentliche Motiv für die Veranstaltung von bereits länger geplanten Weltfestspielen in Ost-Berlin bildeten die Bemühungen der Sowjets und der SED um die Integration der

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„das nötige Gegenteil“ und „die [Hervorhebung im Original] Attraktion für die Ost-Berliner und die Ostzonenbevölkerung und nicht zuletzt auch für die Jugend der östlichen Volksdemokratien“342. Eine unmittelbare Konkurrenz entstand durch das allerdings kleinere Filmfestival („Filmwoche des volksdemokratischen Films“), das Ost-Berlin im Anschluss an die „Berlinale“ im Juli 1951 durchführte.343 Durch die Teilnahme der ČSR, Polens, Rumäniens, Ungarns, Bulgariens und Chinas (mit jeweils einem Film) sollte allerdings weniger Internationalität artikuliert werden als vielmehr der Protest gegen den Ausschluss der Ostblockstaaten von der „Berlinale“. Wenngleich künstlerisch anspruchsvoll und nach Westen integrierend wie völkerverbindend, sprach aus der West-Berliner Gründung auch durch diesen Akt der Isolation die politische Konfrontation. Umgekehrt verstärkte sie sich durch die ideologischen Angriffe der Ost-Berliner Presse auf die „dekadente Filmfassade“ West-Berlin.344 Die Polemik wurde auch durch demonstrativsymbolische Akte der westlichen Kulturkonkurrenz angeheizt.345 Da die östliche Seite nicht in der Lage war, eine gleichgewichtige „Gegen-Berlinale“ durchzuführen, verlegte sie sich nach 1951 durchgängig auf zeitgleiche kleine kulturelle Veranstaltungen in Ost-Berlin und auf eine keineswegs wirkungslose Störtaktik. Konzeptionelle und organisatorische Schwächen der „Berlinale“ ausnutzend, warb sie Journalisten und andere Teilnehmer an für Kulturbesuche in Ost-Berlin und insbesondere Besichtigungen ostdeutscher Vorzeige-Kinos und Filmproduktionsstätten. Das empörte wiederum die Protagonisten einer als politisch verstandenen „Berlinale“.346 Die westliche internationale Presse schoss im Ton des Kalten Krie-

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Jugend in die kommunistische neue Ordnung sowie deutschlandpolitische Zielstellungen. Vgl. Lemke, Die „Gegenspiele“, S. 16f. Zitiert nach: Jakobsen, 50 Jahre, S. 21. Vgl. ebd. Insbesondere die auf der „Berlinale“ laufenden westdeutschen und West-Berliner Spielfilme wurden – stellvertretend für die gesamte kapitalistische Filmproduktion – pauschal verunglimpft: Sie seien „dekadent im Inhalt“, offenbarten „kleinbürgerlich-versöhnlerische Sentimentalität, monströs aufgedonnerten Kitsch, antisowjetische Tendenz und Kriegshetze“ sowie „nihilistische Leere und pathologische Exzesse“. „Tägliche Rundschau“ (Ost-Berlin), 23.6.1951. Etwa durch die Übernahme der Schirmherrschaft über die „Berlinale“ durch den Bundesinnenminister Lehr, der in ihrem Rahmen den Deutschen Filmpreis (später: Bundesfilmpreis) verlieh. Es war seine Intention, „diese Berliner Filmfestspiele gegenüber ähnlichen Veranstaltungen der Ostzone gebührend hervortreten zu lassen“. Jakobsen, 50 Jahre, S. 21. Ein Teil der Gäste sei wegen mangelndem Rahmenprogramm nach Ost-Berlin zur DEFA gegangen und hätte sich bei ihr Filme angesehen. Der Theaterkritiker Friedrich Luft meinte, dass vor allem die „zugereisten Journalisten“ auf der „Berlinale“ (1952) so wenig unterhalten wurden, „daß viele von ihnen aus reiner Neugier und auf heimtückische Einladungen hin“ viel Zeit bei der DEFA verbrachten. Zitiert nach: ebd., S. 41.

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ges zurück und ließ ebenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie zuvorderst eine Veranstaltung gegen die östlichen Diktaturen sei.347 Das spiegelte sich auch im Selbstverständnis der Filmfestspiele, die deshalb Abstriche an repräsentativen Programmen und am künstlerischen Gesamtkonzept in Kauf nahm.348 Wenngleich die Bundesregierung zunächst kein übermäßiges Interesse an der „Berlinale“ zu haben schien349, nahm sie doch ihre propagandistischen Möglichkeiten im Kampf mit dem östlichen Kultur-Regime wahr – so 1951 mit einem aufwändigen Propagandafilm.350 Einen fühlbaren Besuchereinbruch erlebte das Festival, als die Sowjets in der Folge des Volksaufstandes vom 17. Juni die Sektorengrenzen zeitweilig sperrten und die für Ostbesucher vorgesehenen Sitzplätze – etwa 20 Prozent der Gesamtkapazität – leer blieben. Das bedeutete nicht nur für einige Filmtheater einen erheblichen Einnahmeverlust, sondern verdeutlichte auch die Problematik des Aufwandes der nach Osten gerichteten Werbung.351 Immer neue Kosten warfen die Frage nach der Effektivität der „Berlinale“ auch im Zusammenhang mit der finanziellen Beteiligung ostdeutscher Besucher auf. Als die Veranstalter nach 1954 begannen, die vergünstigten Eintrittspreise für Ostdeutsche von 25 auf 50 Westpfennige pro Film zu erhöhen und 1955 die Beihilfen für Programmhefte strichen, hagelte es von allen Seiten Kritik. Allerdings stellten sich die in den künstlerischen Wettbewerb hineinwirkenden politischen Probleme als gravierender dar. 1953 erhielten drei Filme, „die den Idealen der freiheitlich gesinnten Welt“ am meisten entsprachen, die Filmsonderpreise, so Elia Kazans „Man on a tightrope“, der eigentlich ein „Kalter Krieg“-Film war.352

347 Vgl. dazu die Sammlung von internationalen Pressestimmen, in: 10 Jahre Internationale Filmfestspiele Berlin im Spiegel der Weltpresse, hrsg. v. d. Festspielleitung, Berlin (W) 1960. 348 Man verzichtete „bewußt auf ein Preisgericht und große Auszeichnungen, weil der Sinn dieser Festspiele ein anderer ist. Hier geht es nicht zuletzt um eine kulturpolitische Demonstration gegenüber einem System der Unterdrückung, und wo anders wäre der Ort dafür als Berlin?“ III. Internationale Festspiele Berlin 1953. Offizielles Festprogramm „treffpunktberlin“. 349 U.a. verärgerte es die West-Berliner Verantwortlichen, dass der Bundesinnenminister seine Teilnahme an drei „Berlinalen“ kurzfristig absagte. Vgl. Jakobsen, 50 Jahre, S. 43. 350 Der Dokumentarstreifen „Film hinter dem Eisernen Vorhang“ des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen lief außerhalb des offiziellen Programms. Vgl. ebd., S. 41. 351 So warben auf über 120 Flächenwänden 480 vom Ostsektor gut einsehbare Plakate speziell beim Publikum aus diesem Teil der Stadt für die „Berlinale“. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. zu den Subventionen für Ostteilnehmer auch: Rolf Grünewald, Der Titania-Palast. Berliner Kino- und Kulturgeschichte, Berlin 1992, S. 139. 352 Jakobsen, 50 Jahre, S. 44.

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Die euphorische Zustimmung zur „Berlinale“ als einem „Schaufenster“ und Vorbild für gemeinsames Handeln zur Stärkung Berlins und der westlichen Welt353 begann allmählich einer kritischeren Betrachtungsweise zu weichen, zumal das Teilnahmeverbot von Spielfilmen der DEFA und aus dem Ostblock die Internationalität und den künstlerischen Auftrag des Festivals ernstlich in Frage stellte. Im Umfeld der an anderer Stelle angeführten kommunistischen Liberalisierungszeichen setzte sich 1956 eine Reihe von West-Berliner Intellektuellen, Künstlern und Filmwissenschaftlern deshalb für Filmwerke auch aus ostdeutscher Produktion ein, wurde aber diszipliniert.354 Dahinter stand verstärkt die Deutschlandpolitik der Bundesregierung, die in einer Beteiligung der DDR, aber auch ihrer Bündnispartner, eine Verletzung des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruches sah. Zwar diskutierte inzwischen auch der Organisationsausschuss der „Berlinale“ unter anwachsender öffentlicher Kritik mögliche Einladungen an die DDR und den Osten – so hatte das Filmland ČSR sein großes Interesse bekundet – doch änderte sich auch auf der „Berlinale“ 1957 nichts. Tatsächlich blieb sie gegenüber dem Osten ein besonderer Ausdruck westlicher Abgrenzungspolitik, während die DDR, „verfolgte man die politische und kulturpolitische Debatte dieser Zeit“, offiziell noch gesamtdeutsch argumentierte.355 Erst nach Antritt Brandts als Regierender Bürgermeister begann sich das offizielle Verständnis von der „Berlinale“ als künstlerischem und politischem Schnittpunkt zweier Welten zugunsten der Überwindung der deutschen und Berliner Spaltung zu differenzieren. Die Diktion der Eröffnungsrede des neuen Stadtoberhauptes zur „Berlinale“ 1958 blieb zwar antikommunistisch und westlichmissionarisch, enthielt aber nun stärker die Idee der Zusammengehörigkeit aller Berliner und der Beendigung der Zweiteilung der Stadt, zu deren Überwindung

353 Die „Berlinale“ sei ein Beispiel für innerwestliche Integration und Zusammenarbeit, „und die Verantwortlichen sollten es genau studieren, wie Berlin politisch, moralisch und wirtschaftlich gestärkt werden kann. Und nicht nur Berlin […], denn die Filmfestspiele in Berlin sind zugleich eine Demonstration der freien Welt mitten im Machtbereich der Sowjets.“ „Hamburger Echo“, 30.6.1954. Vgl. zum „Schaufenster“ Filmfestspiele auch: „Die Filmwoche“, Karlsruhe, 23.6.1954; „FAZ“, 25.6.1954; „Frankfurter Rundschau“, 21.6.1954. 354 Stein des Anstoßes war die Absicht der West-Berliner Heinrich-Zille-Gesellschaft, während der Filmfestspiele 1956 in der Filmbühne am Steinplatz zwei DEFA-Filme zu zeigen (Die „Blauen Schwerter“ von Wolfgang Schleif und „Die Buntkarierten“ von Kurt Maetzig). Alfred Bauer – der Leiter der „Berlinale“ – setzte mit Hilfe der Senatsverwaltung Volksbildung durch, dass der Plan „unter politischem Druck“ fallengelassen wurde. Vgl. Jakobsen, 50 Jahre, S. 66. 355 Ebd., S. 74.

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das internationale Festival beitrüge.356 Erstmals war die Sowjetunion eingeladen worden; sie verweigerte aber eine Teilnahme, weil man sie der DDR nicht gewährte. Mit der im Herbst 1958 einsetzenden Berlinkrise schien auch das Filmfestival in politische Turbulenzen zu geraten. Inzwischen hatte es an künstlerischer Qualität und internationalem Renommee beträchtlich gewonnen und West-Berlin tatsächlich zu neuem kulturellen Glanz verholfen. Die von vielen gesehene Gefahr seiner Beeinträchtigung durch den internationalen Konflikt erwies sich jedoch als weitgehend unbegründet. Offenbar traf auch für die „Berlinale“ zu, dass die Berliner Verflechtungsgesellschaft mit Konfliktsituationen im Alltag umzugehen wusste und mehr Flexibilität entwickelte. Wolfgang Jakobsen sprach zutreffend vom Dialog „zwischen Ost und West außerhalb der politischen Bühne trotz des politischen Konflikts und polemischer Töne in der DDR-Presse“357. Dazu trugen die zahlreichen, von den „Obrigkeiten“ häufig nicht gewünschten systemübergreifenden Kontakte zwischen deutschen und ausländischen Journalisten sowie Künstlern auf dem Filmfestival bei. So herrschte in seinem Umfeld keineswegs politische Sprachlosigkeit. Zudem sicherten die seit der VIII. „Berlinale“ (1958) im Rahmen des Gesamtberliner Kulturplans bereitgestellten Finanzmittel deren ostdeutsche Besuche materiell weitgehend ab. In diesem Jahr kamen 36.885 Interessenten aus Ost-Berlin und der DDR, wenngleich ihre Anzahl bis 1961 trotz des vergrößerten Werbeaufwandes speziell für Ost-Berliner – für den Senat etwas befremdlich – leicht zurückging.358 Mit dem Abflauen des Ost-West-Konflikts entwickelte sich die „Berlinale“ von einer weitgehenden Kulturveranstaltung des Kalten Krieges allmählich zu einem filmkünstlerischen Ort von hohem Rang, der den internationalen Vergleich (und die weltweite Konkurrenz) mit anderen Filmfestivals nicht zu scheuen brauchte und dessen „Goldene“ und „Silberne“ Bären zu begehrten künstlerischen Trophäen wurden.

356 Ebd., S. 81. 357 Ebd., S. 87. 358 Auf 35.912 (1960) und 32.210 (1961). Zur XI. Berlinale 1961 betrugen die Subventionen für Ostdeutsche 128.000 Westmark, der (statistische) Werbeaufwand für Ost-Berliner 62.321 Westmark. Vgl. Senatsinformation, undatiert (1961), in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2166.

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4. Der Dualismus von Rundfunk und Fernsehen 4.1 Die Struktur des Berliner Hörfunks nach der Teilung Die elektronischen Medien kennen keine territorialen Grenzen. Einzig und allein die technischen Voraussetzungen und Sendestärken entscheiden über ihre Reichweiten. So blieb auch das vom Rundfunk aufgegriffene Berlinthema in seinen ungezählten Facetten weder an bestimmte Radiostationen noch Hörer gebunden. Die besonders intensive Konkurrenz der Berliner Sender im Kalten Krieg359 verlief sowohl regionalspezifisch als auch gesamtdeutsch360, immer aber aufeinander bezogen. Der RIAS, zunächst DIAS (Drahtfunk im Amerikanischen Sektor), war als ein Sender der US-amerikanischen Besatzungsmacht 1948 in der ersten Berlinkrise entstanden und blieb während seiner gesamten Existenz de jure amerikanisch, während sich sein Personal weitgehend aus Deutschen rekrutierte. Aus finanziellen, aber auch politischen und besatzungsrechtlichen Gründen verfügte das Land Berlin nach 1949 über keinen eigenen öffentlich-rechtlichen Sender. Dessen Stelle übernahm weitgehend der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR), in dem die Station West-Berlin als NWDR Berlin sowohl über ein eigenes Programmvolumen als auch Mitspracherecht verfügte. Eine Reihe West-Berliner Politiker plädierte jedoch in der Auseinandersetzung mit den Westalliierten aus politischen und kulturellen Gründen energisch für einen eigenen Sender.361 Aber erst 1953 erging ein Gesetz über die Einrichtung einer selbständigen Rundfunkanstalt „Sender Freies Berlin“ (SFB) – schon im Namen steckte indirekt die Abgrenzung von Ost-Berlin – und im Mai 1954 übergab der NWDR alle seine West-Berliner Einrichtungen an die neue Anstalt.362 359 Vgl. u.a. Galle, RIAS Berlin und Berliner Rundfunk; Kundler, RIAS Berlin; Christian Könne, Hörfunk im Kalten Krieg. Berliner Radioprogramme in der Systemkonkurrenz, in: Lemke (Hrsg.), Schaufenster der Systemkonkurrenz, S. 365–387. 360 Vgl. u.a. Konrad Dussel, Hörfunk in Deutschland. Politik, Programm, Publikum 1923– 1960, Potsdam 2002; Adelheid von Saldern/Inge Marßolek (Hrsg.), Zuhören und Gehörtwerden, Bd. 2, Radio in der DDR der 50er Jahre zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998; Klaus Arnold/Christoph Classen (Hrsg.), Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin 2004. 361 Allen voran der Kulturpolitiker und Senator Tiburtius. Vgl. Westermann, Mitte und Grenze, S. 323. 362 Vgl. Herbert Kundler, Fernsehstadt Berlin, hrsg. vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin (= Berlin Forum 5/71), Berlin (W) 1971, S. 38–44; Emil Dovifat, Der NWDR in Berlin 1946–1954, Berlin (W) 1970, S. 20f., 34; Keiderling, Die Berliner Krise, S. 408.

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In Ost-Berlin sendete der von der sowjetischen Besatzungsmacht bereits im Mai 1945 für die Gesamtstadt zugelassene und von ihr kontrollierte Berliner Rundfunk mit seinem Sitz im britischen Sektor (Masurenallee) aufgrund alliierter Abmachungen zunächst weiter, figurierte aber seit der ersten Berlinkrise faktisch ausschließlich als sowjetsektorales Organ. Erst 1952 zwangen die britischen Besatzungsbehörden den Berliner Rundfunk zu einem Umzug von der Masurenallee ins Ost-Berliner Grünau. Bereits 1947/48 plante das Leitungsgremium des Berliner Rundfunks vor dem Hintergrund der SED-Deutschlandpolitik und nach ersten Versuchssendungen (Juni 1948) einen gesamtnationalen „Deutschlandsender“, der dann ab Oktober 1948 mit Sitz im „demokratischen“ Sektor in Betrieb ging. Zwar hatte es bereits von 1928 bis 1945 einen gleichnamigen Langwellendienst der Reichsrundfunkgesellschaft gegeben, doch entschieden sich Sowjets und SED aus nationalpolitischen Gründen für die „eingetragene“ und vielen Deutschen vertraute Altbezeichnung. Während der Deutschlandsender auf der Basis der traditionellen Sendeanlage in Königswusterhausen nahe Berlins in die Bundesrepublik strahlte, erhielt der Berliner Rundfunk arbeitsteilig Berlin und die DDR als Aufgabengebiet. Mit einer ersten Neuorganisierung des ostdeutschen Rundfunkwesens im Juni 1954 entstanden aus dem Berliner Rundfunk Sender mit speziellen Aufgaben: Berlin 1 (Programm für die gesamte DDR) und Berlin 2 (Programm für Ost-Berlin). Im September 1955 erfolgte eine erneute Umstrukturierung: Radio DDR, Deutschlandsender und Berliner Rundfunk.363 Während der ganzen Zeit wurde auf beiden Seiten der Stadt technisch aufgerüstet: Im Juli 1952 nahm der Deutschlandsender in Berlin-Uhlenhorst die erste ostdeutsche Großsendeanlage (mit einem 240 m hohen Stahlrohrmast) in Betrieb. Fast parallel dazu fand in Berlin-Steglitz die Einweihung des neuen RIAS-Senders statt – des stärksten Mittelwellensenders Europas.364 Im Februar 1956 bezog der Berliner Rundfunk sein neues Domizil in der Nalepastraße in Berlin-Oberschöneweide, und ein reichliches Jahr später errichtete der SFB dort, wo sein Konkurrent 363 Vgl. Gerhard Walther, Der Rundfunk in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn/Berlin 1961, S. 32, 65f.; Wolfgang Mühl-Benninghaus, XYZ, Medienpolitische Probleme in Deutschland zwischen 1945 und 1989. Zum unterschiedlichen Verständnis der audiovisuellen Medien in beiden deutschen Staaten, in: Heide Riedel (Hrsg.), Mit uns zieht die neue Zeit. 40 Jahre DDR-Medien. Eine Ausstellung des Deutschen Rundfunk-Museums, 25.8.1993 bis 31.1.1994, Berlin o. J.; Maral Herbst, Demokratie und Maulkorb. Der deutsche Rundfunk in Berlin zwischen Staatsgründung und Mauerbau, hrsg. vom Deutschen Rundfunkmuseum, Berlin 2001, S. 161. 364 Vgl. Rogasch, Ätherkrieg über Berlin. Der Rundfunk als Instrument politischer Propaganda im Kalten Krieg 1945–1961, in: Ausstellung: Deutschland im Kalten Krieg 1945– 1963, Berlin 1992, S. 80.

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1952 „exmittiert“ worden war, seine Zentrale – im umgebauten Sendehaus in der Masurenallee, dem von Hans Poelzig 1929/30 errichteten „Haus des Rundfunks“365. In Ost-Berlin vollzog sich bis Mitte der 50er Jahre eine hochgradige Konzentration des Rundfunks. Dazu gehörte auch der sogenannte Stadtfunk, der ein Drahtfunksystem mit 1957 noch 7.000 Hörern und 26 öffentliche Tonsäulen darstellte. Bereits 1955 wurde er zwar nicht mehr als eine Abteilung des zentral leitenden staatlichen Rundfunkkomitees betrachtet, „weil er in [dessen] Struktur nicht hineingehörte“, aber erhalten, da er täglich „Hunderttausenden freiwilligen Aufbauhelfern“ durch die Tonsäulen über die Berliner Enttrümmerung berichtete.366 Doch schlug ihm im September 1957 aus wirtschaftlichen Gründen die letzte Stunde.367

4.2 Die Ziele und Feindbilder des rundfunkpolitischen Wettbewerbs Im Unterschied zu den Akteuren in anderen Bereichen, die eine Berliner Systemkonkurrenz ungenau oder nur am Rande wahrnahmen, sahen sie die Medienaktivisten von Anfang an in aller Schärfe und Konsequenz. Schon der NWDR hatte seine eigentliche politische Bedeutung „in seinem Einfluss auf die sowjetische Besatzungszone und in der Aufklärung des Westens über die Zustände in der Ostzone“ gesehen.368 Nach 1952 und den radikalen DDR-Reisebeschränkungen würde es immer wichtiger werden, „den Mitteldeutschen die Vergleichsmöglichkeiten zu erhalten“, meinte der SFB-Programmdirektor. Man müsse ihnen nicht nur westlich-freiheitliche Urteile über die SED-Politik anbieten, sondern, diese konterkarierend, eine sachliche Darstellung der politischen Positionen und Maßnahmen in der Bundesrepublik und in West-Berlin.369 Diese „eminent politische 365 Die Briten hatten auf Wunsch der Sowjets über einen Tausch des sich besatzungsrechtlich in deren Hoheit befindlichen Rundfunkhauses mit dem Gelände des sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten verhandelt, das sich im britischen Sektor befand. Der Regierende Bürgermeister protestierte: Denn es gäbe nicht nur keine Verbindung zwischen Sowjetsektor und Denkmalsgelände, sondern es müsse „unter allen Umständen der Fahrverkehr vor dem Brandenburger Tor auf Westberliner Seite wie bisher frei sein“. „Vermerk über eine Besprechung mit dem Britischen Kommandanten, 3.8.1955, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 4800. 366 Vgl. Vorlage der Abteilung Agitation und Propaganda der SED-BL: „Übergabe des Stadtfunks […]“, 23.6.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 235, Bl. 62. 367 Vgl. Beschluß der SED-BL, undatiert (Spätsommer 1957), in: ebd., Nr. 316, Bl. 21. 368 Vgl. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Länder, Ausgabe Berlin, Hamburg 1961, S. 87. 369 Sender Freies Berlin (SFB) 1957/58, hrsg. vom SFB, Abteilung Presse und Publizistik, Berlin (W) 1959, S. 18.

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Aufgabe“ zwinge dazu, „angesichts der Programme des Zonenrundfunks“ ständig im Äther zu sein.370 Die Verantwortlichen im Berliner Rundfunk formulierten ähnlich, wenngleich noch polemischer: Er habe den „Kampf um die Gewinnung der Westberliner Bevölkerung zu führen und sie zu Aktionen gegen die Frontstadtpolitik und gegen die imperialistische Spionage- und Mörderorganisation zu mobilisieren“371. Der Berliner Rundfunk sah sich überdies – hierin dem SFB nicht unähnlich – noch bis zum Mauerbau als „Stimme der Hauptstadt der ganzen ungeteilten Nation“372. Er verstand sich aber zunehmend als Repräsentant der DDR-Hauptstadt und ihrer Politik. Das betraf vorrangig die Auseinandersetzung um aktuelle Probleme, etwa um das Berlin-Ultimatum Chruschtschows, das die Berliner Rundfunkanstalten hüben und drüben stringent aufeinander bezogen thematisierten.373 SFB und Berliner Rundfunk entwickelten sich in Berlin zu den eigentlichen Kontrahenten, zu einer Art negativen Partnern. Das zeigte sich auch bei ihrer nur im Osten explizit formulierten Aufgabe, durch die Beeinflussung der Bevölkerung in ihren Sektoren zur Stabilisierung der Verhältnisse beizutragen. Das geschah prinzipiell durch eine freundliche, in der Regel beschönigende Darstellung der eigenen Seite, während die andere zumeist in dunklen Kontrastfarben erschien: in Bildern und Gegenbildern von tatsächlichen oder vermeintlichen Demokraten, verdienstvollen oder volksverräterischen Politikern, bösen oder guten Institutionen. Den moralisierenden Dualismus trieb der Osten in beinahe religiöser Inbrunst am weitesten.374 Doch widerstand der SFB ebenfalls nicht der schematischen Einfachheit billiger Polemik, wovor auch sein verkündetes Sachlichkeitsprinzip375, als 370 371 372 373 374

Sender Freies Berlin (SFB) 1958/59, hrsg. vom SFB, Berlin (W) o. J. [1960]. Herbst, Demokratie und Maulkorb, S. 167. Walther, Der Rundfunk, S. 29. Ebd., S. 92. „Gegen die Aggressoren im Äther, gegen die wütende Propaganda des Kalten Krieges ertönt Tag und Nacht die Stimme der guten Deutschen, die Stimme des Friedens und des Fortschritts. Gewaltig erhebt sich diese Stimme nur wenige Kilometer von den Brutstätten des Hasses und der Lüge entfernt.“ Der Rundfunk in der DDR sei „ein wirksames Instrument, das operativ an führender Stelle mithilft, den Weg zum Siege des Sozialismus in der DDR zu weisen.“ Zitiert nach: RIAS und SFB im Spionagedschungel Westberlin. Mit 32 Illustrationen, hrsg. vom Verband der Deutschen Journalisten, Berlin (O) 1962, S. 85. 375 Ton und Stil der „Auseinandersetzung mit dem politischen Osten“ seien „von dem Bemühen bestimmt, sich schon in der Form von der Presse und dem Funk der Zone zu unterscheiden. Das bedeutet: Verzicht auf propagandistische Effekte zugunsten sachlicher Argumentation (Kritik nicht nur nach Osten, sondern ebenso gegenüber dem Westen). Keine Scheu vor heiklen Fragen. Sachlichkeit und rückhaltlose Offenheit bleiben die einzigen Trümpfe, die im Gespräch mit Mitteldeutschland heute noch stechen.“ Sender Freies Berlin (SFB 1957/58), S. 17f.

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Abgrenzung vom „ideologischen“ Osten, nicht zuverlässig schützte. Aber auch der Berliner Rundfunk plädierte angesichts des Aufeinanderprallens antagonistischer Ideologien für „große Wissenschaftlichkeit“ in einer mit überzeugenden Argumenten geführten Auseinandersetzung.376 Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander. Die Dynamik des Kalten Krieges bestimmte auf beiden Seiten den Ton. Er verschärfte oder milderte sich je nach Bedarf, politischer Lage und immer auch besonderen Anlässen. Das betraf auch die gegenseitigen publizistischen Angriffe auf die Leiter und Journalisten der Sender. Für den Osten galt der SFB als „Sammelbecken alter Nazis“377, der seinerseits den Berliner Rundfunk fest in der Hand von Altkommunisten sah, von denen einige vorher tatsächlich in westlichen Rundfunkanstalten gearbeitet hatten.378 Andererseits traf auch zu, dass eine Reihe von Redakteuren und Journalisten des Berliner Rundfunks zum SFB überwechselten, was undifferenziert „gezielte Abwerbung“ hieß.379 Allerdings ist von keinem der Sender jemals bestritten worden, dass die Konkurrenz professionelle Arbeit leiste und sie über fähige Köpfe verfüge. Beide Seiten versuchten natürlich, in ihren Sendern und den ihnen übergeordneten Gremien Leute ihres Vertrauens zu beschäftigen. Das gestaltete sich im Machtbereich der autokratischen SED einfacher als unter den demokratischen Verhältnissen West-Berlins. In brisanten Fällen verhinderte der Senat durch sein Veto, dass Personen, die angeblich nicht eine den Sendegrundsätzen des SFB „entsprechende demokratische Haltung“ zeigten, in seinen Rundfunkrat gelangten – etwa Bert Brecht oder der linke Theologe Martin Niemöller.380 Beide Seiten informierten über die Sendungen ihrer Wettbewerbsgegner bestens. In Ost-Berlin beschäftigte sich ein „Abhördienst“ explizit mit der Auswertung von RIAS, SFB (und NWDR).381 Aber auch RIAS und SFB handelten immer mit

376 Vgl. Vorlage des Büros der SED-BL: „Perspektivplan der Chefredaktion des Berliner Rundfunks für das Programm des Sommerhalbjahres 1957“, 15.3.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 287, Bl. 52. 377 RIAS und SFB im Spionagedschungel, S. 71f. 378 So u.a. Kommentatoren und Redakteure wie Herbert Geßner (ehemals Chefkommentator des Bayerischen Rundfunks), Karl-Eduard von Schnitzler (früher Chefkommentator des Westdeutschen Rundfunks), Karl Georg Egel (ehemals Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks) sowie Karl Gass (früher Wirtschaftsredakteur des Westdeutschen Rundfunks) und Günther Cwojdrak (ehemals Kulturredakteur beim NWDR) u.a.m. 379 Vgl. Gerhard Keiderling, Berlin 1945–1986, Berlin (O) 1987, S. 504f. 380 Mühl-Benninghaus, XYZ, S. 11. 381 Vgl. Protokoll Nr. 51/1953 der Sekretariatssitzung der SED-BL Groß-Berlin am 29.10.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 182, Bl. 106.

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geübtem Blick auf die DDR-Programme.382 Wenngleich die Ost-Berliner Ideologen meinten, der SFB stehe dem RIAS „in der Hetze, Lüge und Verleumdung, in der Anzettelung von Provokationen“ in nichts nach, zeigten sie in der Praxis jedoch eine differenziertere Haltung. Indizien dafür waren eine durchgängig weniger scharfe Polemik gegen den SFB und der Umstand, dass er kaum mit Störfrequenzen belegt wurde sowie nicht zuletzt der zwar sehr begrenzte, aber dennoch zu einer partiellen Entspannung beitragende Programmaustausch bei Kultur und Sport. Beispielsweise waren bei der Wiedereröffnung der Staatsoper Berlin am 4. September 1955 erstmals westliche Rundfunkstationen zugeschaltet. Allerdings verweigerten die ARD, und damit auch der SFB, Live-Übertragungen „aus Furcht vor Ost-Propaganda“.383

4.3 Eine „freie Stimme der freien Welt“: Der RIAS Für die kommunistische Seite war der RIAS der Staatsfeind Nummer eins im Äther. Formal an keinerlei deutsche Kontrolle gebunden, entwickelte er sich nach 1948 zur „Stimme der freien Welt“ gegen die Verhältnisse im Machtbereich der SED-Diktatur. Zwar wurde er im Betrachtungszeitraum als das eigentliche Gegenstück zum Deutschlandsender gesehen, wirkte aber nicht nur auf die als „Ostzone“ titulierte DDR, sondern – wie der SFB – in besonderem Maß auf Berlin ein. Insofern kann der RIAS auch von seinem Standort und Hörerkreis her durchaus als ein Berliner Sender gelten. Wenngleich er nicht, wie vom Osten behauptet, zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 aufgefordert und ihn „konterrevolutionär“ angeleitet hatte384, war der stramm antikommunistische Sender im Ganzen385 auf die Beendigung der SED-Diktatur ausgerichtet. Wie Berliner Rundfunk und Deutschlandsender wandte er sich mit umgekehrten politischen Vorzeichen an die West- und Ost-Berliner, um sie im Kampf gegen die diktatorischen Verhältnisse moralisch und politisch zu unterstützen sowie die „Bevölkerung des Sowjetsektors“ dabei zur Mitarbeit aufzufordern. Er besaß die aktive Unterstützung des Senats, der mit von ihm angeregten Sendungen, z.B. „Berlin spricht zu Berlin“, die 382 So empfahlen die ARD-Programmdirektoren ihren Intendanten, das ARD-Nachtprogramm bis morgens um 5.00 Uhr zu fahren, da die DDR-Programme bis morgens um 4.30 Uhr ausgestrahlt würden. „Auch auf dieser Ebene wollte man dem Rundfunk der DDR keinen strategischen Vorteil überlassen.“ Herbst, Demokratie und Maulkorb, S. 158. 383 Ebd. S. 156. 384 Vgl. „Tägliche Rundschau“, 19.6.1953; „Neues Deutschland“, 23.6.1953. 385 Vgl. Der Aufstand der Arbeiterschaft im Ostsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Tätigkeitsbericht der Hauptabteilung Politik des Rundfunks im amerikanischen Sektor in der Zeit vom 16. Juni bis zum 23. Juni 1953, hrsg. von der RIAS-Hauptabteilung Politik, ohne Jahr und Ort.

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„Herstellung eines engen Kontaktes zu den Bewohnern des sowjetischen Sektors“ unter besonderer Berücksichtigung „psychologischer Momente“ beabsichtigte.386 Insbesondere seien mit Hilfe des Senats neue Berührungspunkte zu den OstBerlinern „und ein politisches Gegengewicht zu den propagandistischen Maßnahmen des Ostmagistrats und seiner Handlanger“ zu schaffen.387 Auf beiden Seiten der Sektorengrenze handelte der Rundfunk in der Absicht, das politische Feindgebiet mit seinen Mitteln zu infiltrieren. Dabei war der RIAS, genauer bei der ihm von der SED-Propaganda vorgeworfenen „ständigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ Ost-Berlins und der DDR388, besonders offensiv und erfolgreich. Natürlich stellten seine ausgefeilten Unterhaltungsprogramme nicht bloße Mittel zum Zweck dar. Aber sie halfen eindeutig, die Ost-Berliner Bevölkerung politisch zu beeinflussen. Und wenn die SED das mangelnde Engagement ihrer „Volksmassen“ für bestimmte Haupt- und Staatsaktionen auf „RIAS-Parolen“ zurückführte389, lag sie häufig dicht bei der Wahrheit. Auch musste der Sender bei seinen Informationen und Berichten aus Ost-Berlin sowie den regelmäßigen politischen Betrachtungen und Kommentaren nicht sonderlich lügen. Sein Umgang mit ungeprüften Nachrichten aus dem Ostsektor und der „Zone“ ließ zwar so manche „RIAS“-Ente schlüpfen; aber eigentlich hatte er bloße Erfindungen nicht nötig – offenbar aber Überspitzungen, Ausschmückungen und gezielte Desinformationen. Schließlich arbeitete er mit den US-Geheimdiensten zusammen. Vielen Sendungen merkte der Hörer die „fast schon makabre Schadenfreude über Pannen“ beim DDR- und ostsektoralen Aufbau an.390 Die Ostdeutschen sollten auch dadurch desillusioniert, die Anhänger der SED demoralisiert und sie selbst an den Pranger gestellt werden. Dass zwischen 70 und 80 Prozent der DDR-Bürger RIAS hörten und bei ihm jährlich 15–20.000 Hörerbriefe insbesondere aus Ost-Berlin eingingen391, dankte er allerdings nicht nur der politischen Sympathie für den Sender, sondern seinen professionellen Unterhaltungsprogrammen rund um die

386 Büro für Gesamtberliner Fragen: Protokoll der Sitzung am 5.12.1952, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3127. 387 Bericht des Gesamtberliner Büros (Völcker) an den Reg. Bgm. (Reuter), 11.12.1952, in: ebd. 388 Vgl. RIAS und SFB im Spionagedschungel, S. 24. 389 SED-BL Berlin: „Einschätzung der Kundgebung am 8. Mai“, 9.5.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 610. 390 Rogasch, Ätherkrieg über Berlin, S. 77f. 391 Michael Derenburg, Streifzüge durch vier RIAS-Jahrzehnte. Anfänge und Wandlungen eines Rundfunksenders, hrsg. vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin (= Berliner Forum 2/86), Berlin (W) 1986, S. 36.

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Uhr.392 Herbert Kundler sieht die verstärkte Hinwendung des RIAS zu den Problemen der Ostdeutschen als die wichtigste Ursache dafür an, dass er „nach und nach zu deren mit weitem Abstand bevorzugten Sender“ avancierte.393 OstBerliner, damals im jugendlichen Alter, erinnern sich als Generation der „Schlager der Woche“ häufig etwas anders.394 Jedenfalls irrte die SED, wenn sie alle Hörer des RIAS pauschal der Sympathie für dessen politische Mission verdächtigte. Viele im Osten mochten seine differenzierten Musik- und Unterhaltungsangebote, glaubten aber längst nicht alles, was er an Informationen und Botschaften abstrahlte. In Verkennung der vielschichtigen Sichten wurde das RIAS-Hören, vor allem im politisch sensiblen Ost-Berlin, von der SED, den staatlichen Organen und verschiedenen Kräften (auch in den Verwaltungen, Schulen und Betrieben) als Verrat an der Arbeiterklasse, am Frieden und dem Sozialismus geächtet, stand aber niemals unter Strafe. Da der RIAS-Empfang nach den sozialistischen Moralnormen zumindest einen Makel darstellte, bei juristischen Prozessen häufig strafverschärfend wirkte und in öffentlichen Räumen streng untersagt war, entstand aus pragmatischen, häufig Berufs- und Karrieregründen, ein breiter sowie stabiler gesellschaftlicher Konsens: Man hörte RIAS und sprach darüber mit Freunden oder im Bekanntenkreis, schwieg aber in der Öffentlichkeit sowie gegenüber „unsicheren“ Personen. Dass sich sogar kleine Hörergemeinschaften an „leise gestellten [Radio-]Apparaten“ versammelten, um sich mit der Hilfe des Senders den Begriff „Freiheit“ zu erhalten395, war offenbar apologetisch verklärt. Doch Ärger konnte es schon geben, 392 Vgl. Tamara Domentat/Christina Heimlich, Heimlich im Kalten Krieg. Die Geschichte von Christina Ohlsen und Bill Heimlich, Berlin 2000, S. 6. 393 Kundler, RIAS Berlin, S. 109. 394 Das Ost-Berliner Ehepaar Gerda und Fred Behrend (beide Jg. 1940) sagten übereinstimmend aus, dass sie sich eigentlich nur für die RIAS-Musiksendungen interessiert hätten. Da habe man die neuesten Schlager gehört von ihren Lieblingen – Peter Kraus, Freddy, Elvis u.a. Auch ihre Schulkameraden sowie die späteren Mit-Lehrlinge hätten deshalb den RIAS „angeknipst“. Vgl. Gespräch mit Gerda und Fred Behrend, 21.6.2006. Aufschlussreich ist auch eine „RIAS-Diskussion“, die der Rat des Stadtbezirks Friedrichshain kurz vor dem Mauerbau mit Jugendlichen in Jugendheimen führte. Sie hörten regelmäßig die „Schlager der Woche“ und machten auch keinen Hehl daraus. Aber auch eine darauf angesprochene Heimleiterin meinte, dass die Ostsender „keine gescheite Musik [sendeten], für die sich die Jugendlichen interessieren könnten“. Sie hörten „heiße“ Musik aus dem Westen, „randalierten nicht dabei und haben Erholung“. Außerdem sei das doch nicht verboten. Rat des Stadtbezirks Friedrichshain, Referat Jugendfragen: „Monatsbericht März 1961“, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 62. 395 Vgl. Tag und Nacht. Drei Jahre RIAS Berlin 1946–1949, hrsg. von der Presseabteilung des RIAS, Berlin (W) o.J. und o.S.

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wenn beispielsweise in Ost-Berliner Verwaltungen oder Schulen bekannt wurde, dass jemand häufig dem RIAS lauschte.396 Allein schon der Name stand für eine bei linientreuen Parteigängern des sozialistischen Aufbaus verbreitete Verschwörungspsychose, die RIAS gleichsetzte mit Hetze, Spionage und Sabotage. Nicht von ungefähr wurden vor allem WestBerliner Politiker häufig in eine Verbindung zu ihm gebracht und Komplizenschaften konstruiert. RIAS geriet zum Symbol für antikommunistische Feindschaft. Über brauchbare Gegenmittel verfügte die SED nicht. Am ehesten wirkten noch lustige Anti-RIAS-Karikaturen. Die in der Ost-Berliner Satirezeitschrift „Frischer Wind“ in Serie produzierte Cartoon-Figur Zacharias397 erhielt sogar einige Popularität. Indes brachten aufwändige Kampagnen gegen den Empfang von RIAS-Sendungen398 in den Betrieben und Institutionen sowie plakative Enthaltsamkeits-Verpflichtungen ihrer Mitarbeiter beinahe nichts.399 Sie wirkten eher lächerlich. Witze machten die Runde. Allerdings gelang es der SED relativ problemlos, die Sendungen des RIAS technisch zu beeinträchtigen. Dafür sorgten zunächst nach sowjetischem Vorbild installierte Störsender, die sich in der Nähe Berlins seit 1952 befanden.400 Ihr Jaulen und Pfeifen minderte das Hörvergnügen beträchtlich, ließ die meisten aber 396 Gert Ducke (Jg. 1941), der 1954 Schüler an einer Grundschule in Friedrichshain war, berichtete, er sei deshalb von irgendjemandem „verpfiffen“ worden. Er glaube, von einem Mitschüler, weil er dem nicht seine „Knallplätzchen“-Pistole (aus West-Berlin) geborgt habe. Der 13jährige musste zum Schuldirektor, der ihm das RIAS-Hören vorhielt. Das sei für einen „Jungen Pionier“ unwürdig. „Ich habe ihm gesagt, dass ich immer die ‚Schlager der Woche‘ höre und gefragt: „Was denken Sie, wer die in der Schule nicht hört? Der Direktor meinte nur: Ich nicht.“ Und er habe ihn mit einer Ermahnung weggeschickt. Das wäre aber schon alles gewesen. Gespräch mit Gert Ducke, 12.3.2007. 397 Zacharias war die Inkarnation des dummen, aber gläubigen RIAS-Konsumenten, dem vom Hören des Senders schon Eselsohren gewachsen waren. Er wurde am Beginn der 50 Folgen umfassenden Serie mit dem Reim eingeführt: „Hier wird der dümmste Mensch der Welt in Kürze Ihnen vorgestellt.“ Regina Stürickow, Der Insulaner verliert die Ruhe nicht. Günter Neumann und sein Kabarett zwischen Kaltem Krieg und Wirtschaftswunder, Berlin 1993, S. 70f. 398 Verpflichtungen waren besonders von Kindern und Jugendlichen erwünscht. Vgl. Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung Volksbildung: „Einschätzung der Sommerferiengestaltung 1961 für Schüler und Lehrlinge Berlins“, 17.11.1961, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 65. 399 Eine SED-Kontrollbrigade, die im Mai 1958 die Wirkung von entsprechenden Maßnahmen im Stadtbezirk Pankow überprüfte, konstatierte in den Produktionsbetrieben ein verbreitetes „Abhören des Rias“. Selbst in Gegenwart der Parteisekretäre würde „in provokatorischer Weise der Rias eingestellt“. Bericht an das Büro der SED-BL „über den Einsatz in der Kreisparteiorganisation Pankow“, 23.5.1958, in: ebd., C Rep. 902, Bl. 901. 400 Vgl. Kundler, RIAS Berlin, S. 176 sowie Walther, Der Rundfunk, S. 116.

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nicht auf das RIAS-Angebot verzichten. Als im Senat bekannt wurde, dass Einrichtungen für die Störsender auch aus der Bundesrepublik geliefert würden, stellte sich ihm die Frage, ob man nicht im Gegenzug DDR-Sender stören sollte.401 Das Problem begann sich aber dadurch zu erledigen, dass der sich ebenfalls in der DDR und Ost-Berlin durchsetzende UKW-Empfang technisch nicht mehr beeinträchtigt werden konnte.

4.4 Berliner Radioprogramme im Wettstreit 4.4.1 Das gesprochene Wort Das wichtigste Instrument zur Vermittlung politischer Ziele stellten in West und Ost die Wortsendungen beider konkurrierender Paare dar: RIAS und SFB versus Deutschlandsender und Berliner Rundfunk. Neben den regelmäßigen Nachrichten und Kommentaren vermittelten Informationssendungen und Reportagen über das jeweils andere Berlin, aber auch über die deutschen Staaten, politische Inhalte. Dass die Hegemonialmächte USA und Sowjetunion sowie die von ihnen geführten Bündnissysteme auch in besonderen Sendungen gepriesen wurden, blieb eine Norm. Der Deutschlandsender eröffnete die Reihe „Ein Sechstel der Erde“ 1950 mit einem permanenten Lob des Kommunismus und der UdSSR. Gleichzeitig präsentierte er mit der Sendefolge „Wahrheit über Amerika“ sein negatives Gegenbild. Damit reagierte er gezielt auf die durch die RIAS-„Stimme Amerikas“ vermittelte positive Sicht auf die westliche Supermacht.402 Selbstverständlich interessierte die Berliner die Entwicklung ihrer gespaltenen Stadt im internationalen und deutschen Umfeld, mehr aber noch, wie ihre Akteure auf außen- und innenpolitische Herausforderungen reagierten sowie innerstädtische Fragen und Entscheidungen angingen. Genau diesem Bedürfnis waren bereits 1948 das NWDR-Studio Berlin mit der Sendereihe „Berlin am Mikrophon“ und der RIAS Anfang 1949 mit seiner weitgefassteren „Sendung für Mitteldeutschland“ entgegengekommen. Der SFB offerierte knapp zehn Jahre später sein erfolgreiches „Hier spricht Berlin“, zu dem das gesamtdeutsch ausgerichtete „Unteilbares Deutschland“ trat, sowie einige Features, die – wie „Berlin durch zwei“ – aktuelle Probleme in der geteilten Stadt aufgriffen. Der RIAS entwickelte 1951 mit „Zeit im Funk“ eine „klassische Zeitfunksendung“ – „eine Mischung von Musik, Reportagen, Interviews, Glossen“ sowie Spiegelungen des „Schaufensters Berlin“. Aber auch dafür gab es inhaltlich 401 So äußerte Innensenator Lipschitz diesen offenbar verbreiteten Gedanken. Vgl. Schreiben von Lipschitz an Senator Günter Klein, 11.9.1961, in: LAB, B Rep. 003–01, Nr. 27. 402 Vgl. Walther, Der Rundfunk, S. 29f.

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Ost-Berliner Pendants: „Forum deutscher Patrioten“ und die ebenfalls vom Deutschlandsender ausgestrahlte Sendung „Auf den Straßen der Republik“. Sie richteten sich zuvorderst an die Hörer in der Bundesrepublik, während der Berliner Rundfunk seine Sendungen „Von Moabit bis Wannsee“ und „Rund um den Ku-Damm“ an die West-Berliner Höreradresse richtete. Hingegen thematisierten dessen Reihen „10.40 Uhr – Alexanderplatz“ und „Zwischen Spree und Panke“ den Ost-Berliner Alltag. Im Unterschied dazu sprach er mit den Serien „Berliner Berichte“, „Rund um Berlin“ und „Links und rechts der Havel“ Gesamtberlin und seine Randgebiete an. Damit stellte er auch auf lokaler Ebene die Verantwortung des Ost- für den Westteil sowie den Hauptstadtcharakter des „demokratischen Sektors“ heraus. Der SFB „unterwanderte“ diesen Anspruch u.a. mit seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, die im Sinne Theodor Fontanes an die Einheit der Region erinnerten.403 War im Vorfeld der zweiten Berlinkrise kurzfristig eine gewisse Beruhigung auch im Duell des Rundfunks eingetreten, dessen politische Aufgabe Brandt im Mai 1958 integrativ-missionarisch definierte404, führte der neue internationale Konflikt zur Intensivierung des Schlagabtausches.405 Das betraf ebenso Wortsendungen, die von ihrem Genre her nicht unbedingt durch den Ost-West-Konflikt aufgeladen schienen: zum Beispiel das traditionell gepflegte Hörspiel. In der geteilten Stadt nahm es eine politische Sonderstellung ein: „Im Berliner Hörspiel der 50er Jahre vollzog sich die Ausformung eines Genres […], das den politischen Gegensatz zwischen Ost und West an menschlichen Schicksalen der geteilten Stadt verhandelte.“406 Daneben sendeten beide Seiten politisch nicht oder wenig ambitionierte Gesellschafts-, Abenteuer- sowie historische, aber auch Kriminalhörspiele. Die RIAS-Serie „Es geschah in Berlin“ galt in den 50er Jahren als ein regelrechter „Straßenfeger“, und der Berliner Rundfunk bot gute Dramatisierungen von Romanklassikern. Hingegen waren die Sendungen des Kinder- und Jugendfunks stärker ideologisch aufgeladen und von 403 Vgl. Vorlage an das Büro der SED-BL: „Perspektivplan der Chefredaktion des Berliner Rundfunks für das Programm des Sommerhalbjahres 1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 287, Bl. 54; Sender Freies Berlin (SFB) 1957/58, S. 18 und 1958/59, S. 52; Derenburg, Streifzüge, S. 36f. und Herbst, Demokratie und Maulkorb, S. 150–156. 404 „Meinungsaustausch und Gespräch bedeuten das Gegenteil von bloßer Propaganda oder gar Gezänk. Wir wollen versuchen, der Wahrheit zu dienen und den Menschen zu helfen, sich zu verständigen […]. Uns in Berlin ist vom Schicksal die Rolle auferlegt, zwischen den Menschen der beiden Teile unseres Volkes zu dolmetschen.“ Zitiert nach Sender Freies Berlin 1957/58, S. 13f. 405 Vgl. Walther, Der Rundfunk, S. 92. 406 Helmut Peitsch, Etwas Besonderes. Hörspiel in Berlin, in: Eine Kulturmetropole wird geteilt. Literarisches Leben in Berlin (West) 1945–1961. Eine Ausstellung des Realismusstudios der NGBK, Berlin (W) 1987, S. 104.

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scharf kalkulierter Konkurrenz geleitet. Da der RIAS der Indoktrination der Kinder und Jugendlichen im Osten etwas entgegensetzen wollte, baute er seit Ende der 40er Jahre einen Kinderfunk auf. Seine originelle Bezugsperson erhielt er mit dem „Onkel Tobias“. Sonntag für Sonntag erklang zu den Worten „Der Onkel Tobias vom RIAS ist da“, eine eingängige Melodie, die Kinder in Ost und West gleichermaßen an die Radioempfänger holte.407 Der RIAS entwickelte auch kindgemäße Programme gegen das sozialistische Weltbild.408 Auf der Gegenseite war dessen parteiliche Vermittlung die Absicht. Doch griffe es zu kurz, darin das einzige Ziel des Kinderfunks des Deutschlandsenders und des Berliner Rundfunks zu sehen. Wie ihr West-Berliner Widerpart präsentierten sie den Junioren eine bunte Unterhaltungspalette: Reportagen, Tiererzählungen und Märchen sowie Lehrstücke und Geschichten aus dem Schulalltag. Gut gemacht und bei den Schülern beliebt waren die Nachmittagshörspiele des Berliner Rundfunks und des Deutschlandsenders, die, häufig auch in Fortsetzung gesendet, Heranwachsenden spannende Bearbeitungen von Abenteuerromanen, u.a. von Jules Vernes sowie bekannte Märchen aus aller Welt409 boten. Beim Kinderfunk stark, verfügten die Ostsender jedoch nicht explizit über Jugend- und Schulfunkprogramme. Hier dominierten der RIAS mit seinen Schulfunksendungen nebst „Schulfunkparlament“ zur Einübung demokratischer Spielregeln sowie der SFB-Schulfunk. Gerade er habe jungen Hörern „im Berliner Sowjetsektor ungefärbtes Wissen zu vermitteln“. Seine Beiträge müssten „vor allem die geistige und politische Rolle unserer Stadt als Zentrum des Deutschen Reiches in der Vergangenheit und ihre geistige Funktion im gegenwärtig geteilten Deutschland sehen“, formulierte der SFB.410 Tatsächlich vermittelte er Geschichte und Erinnerungskultur im Ganzen ausgewogen und stach deshalb häufig vom dogmatisierten Geschichtsunterricht der Ostsender ab. Brandt lobte die „Berliner Schulfunkstunde“ nicht zuletzt als Korrektiv für den Osten: Sie vermöge „Wahrheit, Humanität und Wissen an eine Jugend heranzubringen […], die durch den Propagandaapparat der Zonenregierung verwirrt werden soll“.411 Die gleiche Absicht verfolgten auch der Jugendfunk von RIAS Berlin und SFB mit ihren vielseitigen Programmen – in scharfer Ab407 Vgl. Derenburg, Streifzüge, S. 25f. 408 Vgl. Uta Hartmann-Beth, „Wie Onkel Tobias zum Panther kam“ – Der Kinderfunk, in: Rexin (Hrsg.), Radio-Reminiszenzen, S. 201. 409 Parteiideologen und Pädagogen vertraten zwar die Ansicht, „dass Märchen nicht gleich Märchen und Lied nicht gleich Lied“ sei und es darauf ankomme, wer sie von welchem „Klassenstandpunkt“ aus interpretiere, doch wurden die Märchen selbst nicht ideologisch verdreht. 410 Vgl. Sender Freies Berlin (SFB) 1957/58, S. 36. 411 Zitiert nach ebd., 1958/59, S. 42.

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grenzung zu den Beiträgen der FDJ in den Ostmedien. Dabei spielte auch die Existenz der ebenfalls von jungen Ost-Berliner Intellektuellen genutzten „RIASFunkuniversität“ mit ihren wissenschaftlichen Vorträgen sowie „Studenten haben das Wort“ eine Rolle, besonders bezüglich der geistigen Systemauseinandersetzung.412 Ihre wirksamste Form erhielt sie jedoch im RIAS-Kabarett „Die Insulaner“ unter der Leitung von Günter Neumann. Es stellte als „Waffe des Lachens“ und als psychologische Möglichkeit eine der „wirksamsten Einrichtungen politischer Kriegführung“ dar.413 „Die Insulaner“ griffen die kommunistische Herrschaft nie direkt und mit irgendwelchen rationalen Argumenten an, sondern machten sie einfach lächerlich. Die Hauptziele des Spottes waren die Machthaber der SED, ihre inneren ideologischen Auseinandersetzungen sowie die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Verhältnisse in der DDR und Ost-Berlin. Im regelmäßig als Programmpunkt des Kabaretts auftauchenden „Funzionär“, dargestellt von Walter Groß, symbolisierten „die falsch ausgesprochenen Fremdwörter und verdrehten Begriffe weder Respektlosigkeit vor der Obrigkeit noch die Zurschaustellung einer selbstgefälligen Halbbildung, sondern die intellektuelle Überforderung des meist aus der Arbeiterschaft stammenden SED-Parteifunktionärs, der weniger aus Überzeugung als aus ahnungslosem Gehorsam gegenüber der Partei die durchaus komplizierten ideologischen Theorien weiterzugeben hat“.414 Wenngleich Neumann und „Die Insulaner“, zu Recht als antikommunistisch und antisowjetisch 412 Vgl. Derenburg, Streifzüge, S. 22f. 413 Das war auch die Sicht der amerikanischen Besatzungsmacht in West-Berlin. Vgl. Bryan T. van Sweringen, Kabarettist an der Front des Kalten Krieges. Günter Neumann und das politische Kabarett in der Programmgestaltung des RIAS 1948–1968, Passau 1995, S. 17. 414 Regina Stückerow, Der Insulaner, S. 84f. Ein typisches Beispiel: Neumanns „Funzionär“ zum Pfingsttreffen der FDJ 1950: „Funzionär: … und damit, meine liebe Freie Deutsche Jugend, bin ich am Ende von meine Pfingstausführungen jekommen. Is noch ürgenjemand ürgendwas unklar? […] 1. Kind: Ich wollte wissen, wie das is, wenn uns jemand einen Bongbong anbietet? Die anderen Kinder: (lachen) Funzionär: Da gibts gar nichts drüber zu lachen. So’n Bongbong is ne sehr ernste Angelegenheit. Aber darüber is natürlich keine Frage, der Bongbong wird nich jenommen, den Bongbong wollen wir uns mal gleich aus’m Kopf schlagen. Wer Lust auf Bongbongs hat, der spart eben ´n paar Monate und holt sich einen aus’m HO-Laden. Wenn die West-Berliner Bevölkerung nu aber mit schwerem Jeschütz kommen sollte, ich will mal saren Schinkenstullen oder Lachsmayonnaise, da benehmt ihr Euch so, wie ihr Euch zuhause benehmt: Ihr esst jenau nischt! […] Dass mir also keener etwa unsre schöne Ostmark gegen wertloses Westjeld einwechselt und sich dafür ne Jans aus’m Laden holt. Wenn ihr Westberlin leer fresst, dann haben wir’s ja noch zu ernähren, wenn’s uns gehört! Außerdem sind ja die Läden geschlossen, deshalb jehn wir ja Sonntags. Noch jemand ´ne Frage?“ Zitiert nach ebd., S. 91f.

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eingeschätzt, in erster Linie vom Ost-Berliner Gegenkabarett „Die Distel“ bekämpft415, aber auch bald im Westen kritisiert wurden416, besaßen sie vor allem im geteilten Berlin eine enorme Anziehungskraft und waren so „eine der wenigen wirksamen Aktionen des Westens gegen die Sowjetisierung Deutschlands“417. 4.4.2 Musik und Unterhaltung Neben den genannten und vielen anderen Wortsendungen zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft u.a.m. beanspruchten die Kulturprogramme der Rundfunkstationen einen großen Teil der Sendezeit. Innerhalb derer waren es wiederum Musik und „bunte“ Unterhaltung, die für alle Beteiligten – Produzenten wie Konsumenten – von großem Interesse waren. Das quantitative Verhältnis von Wort und Musik war variabel, zeigte jedoch stabile Tendenzen. Um auch West-Berliner anzuziehen, setzte der Berliner Rundfunk allmählich eine Quote von 24 Prozent (Wort) zu (1957) 76 Prozent (Musik) durch, während der SFB nahezu 1:1 sendete. Die stufenweise Entwicklung beim Berliner Rundfunk zugunsten der Unterhaltungsund „schweren“ Musik ging mit dem Abbau von Sendezeiten für Nachrichten, Kommentare, Politik und Propaganda einher.418 Hier lernten die SED und ihre Sender aus einer Vergangenheit, die immer wieder Kritik der Bevölkerung an zuviel Politik und zu wenig Musik geheißen hatte. Sendereihen wie „Eine halbe Stunde für Aktivisten“ und „Berichte aus der Produktion“ „ödeten“ den Hörer in der Regel an. Der Umdenkprozess verlief aber keineswegs kontinuierlich. Bis zur Einleitung des Neuen Kurses 1953 stießen die Berliner Angestellten und Arbeiter, wenn sie denn nach 18 Uhr ihren Feierabend genießen und die knappe Freizeit nach der Devise „Musik, Musik, Musik!“ gestalten wollten, bei den kulturpolitischen Dogmatikern auf taube Ohren.419 Erst nach dem 17. Juni 1953 versprach auch der Magistrat, das Musik- und Unterhaltungsbedürfnis der „Werktätigen“ besser und schneller zu befriedigen.420 Das wirkte sich besonders auf den Berliner 415 „Die Distel“ meinte 1957, von den „Insulanern“ trenne sie mehr als nur die Sektorengrenze: „Dieser fett und ordinär gewordene Haufen mit dem Tränenbibber hinter dem Doppelkinn und Schaum vor der großen Klappe ist direkte Kriegsvorbereitung.“ Zitiert nach ebd., S. 18. 416 Thilo Koch schrieb am 16.1.1958 in „Die Zeit“, die „Insulaner“ seien ein „trotziges Kontra des Kalten Krieges“ gewesen, hätten sich aber überholt und hinter ihren Typen (u.a. „Funzionär“, „Professor Quatschnie“, „Pollowitzer“) stehe keine Wirklichkeit mehr. Zitiert nach ebd., S. 168f. 417 Ebd., S. 169. 418 Vgl. Herbst, Demokratie und Maulkorb, S. 172f. und Walther, Der Rundfunk, S. 76f. 419 Vgl. Walther, Der Rundfunk, S. 29f. 420 Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 275 vom 2.10.1953, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 895.

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Rundfunk aus. Stillschweigend führten die für ihn Verantwortlichen westliche Tanzmusik ein, die noch wenige Monate zuvor als bürgerlich, ja dekadent, galt; kauften sie aber häufig nicht, sondern schnitten westliche Musiksendungen einfach mit und reproduzierten sie ohne Rücksicht auf Urheberrechte. Doch hielt die im Ganzen relativ liberale musikpolitische Periode nicht lange an. Die moderne westliche Unterhaltungsmusik wurde von der SED und ihren Rundfunkpolitikern immer als ideologische Gefahr gesehen und auch praktisch so behandelt. Auch dem Berliner Rundfunk drohte nach einer kurzen „Tauwetter“-Periode bereits ab Herbst 1955 ein Rückfall in die stalinistische „Eiszeit“. Doch beschwerten sich Ost-Berliner und namhafte Institutionen der Teilstadt über die regressive Handhabung des Musikproblems im eigenen Rundfunk. Die Leute würden jetzt viel häufiger auf den SFB zurückgreifen421, und auch West-Berliner, die sich – beispielsweise als Fernfahrer – nachts bislang von der „flotten Musik“ des Berliner Rundfunks begleiten ließen, wunderten sich.422 Kein Zweifel: Das kam der WestBerliner Konkurrenz zugute. Gerade deshalb ließ sich die SED im Umfeld der von ihr zaghaft betriebenen Entstalinisierung ab 1956, wie das auch bei Kino und Theater der Fall war, zu einer weniger dogmatischen Herangehensweise bewegen. Das zog aber sofort ein prinzipielles Problem nach sich: Ost-Berlin hatte die Entwicklung der leichten Unterhaltungsmusik vernachlässigt, und der Anteil an Titeln aus dem sozialistischen Ausland an den Musikprogrammen des Berliner Rundfunks betrug nur etwa zehn bis 20 Prozent. Die SED musste eine eigene Produktion auf die Beine stellen, aber für eine unbestimmte Zeit massiv auf westliche Produktionen zurückgreifen. Dabei gab nicht deren inhaltliche Qualität den Ausschlag – die meisten Schlagertexte waren banal –, sondern Beliebtheit und Nachfrage im Osten. Entsprechende Forderungen und Verhaltensweisen entwickelten gerade Jugendliche und nannten die überall hörbare Alternative: Bringen unsere Sender nicht die gewünschten Schlager, hören wir sie eben im SFB oder RIAS. Da Westimporte aber nicht ohne den Erwerb von Lizenzen möglich waren, drängte die SED mehr aus finanziellen als ideologischen Gründen auf das Abspielen und Senden eigener Musiktitel, fand aber wenig Gehör. Deshalb ließ sie per Verordnung ab 1958 eine Quote festlegen: 60 Prozent der Schlager hätten eigenen Ursprungs zu sein und 40 Prozent dürften aus dem Westen kommen.423 Ganz anders sah es beim Berliner Rundfunk mit der klassischen Musik aus. Sein Archiv war mit ausgezeichneten Aufnahmen überreich ausgestattet und beispielsweise dem Repertoire des RIAS überlegen. Der warb deshalb einen Mitarbeiter des Ber421 Vgl. exemplarisch: Schreiben der Deutschen Akademie der Künste an das Staatliche Komitee für Rundfunk, 10.10.1955, in: BArch Berlin, DR/6/514 (S). 422 Vgl. Information, September 1955, in: ebd., DR/6/515 (Y). 423 Vgl. Walther, Der Rundfunk, S. 88.

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liner Rundfunks für sich an, „der für den RIAS Musikaufnahmen klaute“.424 Raub war also keineswegs nur die Sache des Ostens. Bereits Ende der 50er Jahre holte der Berliner Rundfunk gegenüber den Musiksendungen von SFB und RIAS auf. Entgegen pauschalen Meinungen sei festgestellt, dass man seine Programme leichter Musik – Schlager, Songs, Jazz u.a.m. – in beiden Teilen Berlins wieder hörte und er nicht wenigen im Westen als bester östlicher Musiksender galt sowie für RIAS und SFB musikalisch „als wirkliche Konkurrenz“. Die Qualität der künstlerischen Unterhaltung sei hoch.425 Eine weniger glückliche Hand zeigten Berliner Rundfunk und Deutschlandsender bei „bunten“ und anderen locker gestalteten Unterhaltungssendungen, die der RIAS teilweise unter Einbezug öffentlicher Großbühnen (Waldbühne) veranstaltete. Die Schwierigkeiten bei der Entwicklung derartiger Programme führten dazu, dass sie einige West-Berliner „Renner“ kopierten. Das betraf auch die beliebte Sendung „Mach mit“.426 Zwar liegen aus der Zeit vor dem Mauerbau keine verlässlichen Zahlen über das gegenseitige Hören von Ost- und West-Berliner Sendern vor, doch erbrachte eine allgemeine Analyse der Infratest GmbH München auf der Basis von 1075 befragten „Republikflüchtigen“, dass 78 Prozent der ostdeutschen Hörer ständig Westprogramme empfingen. 70 Prozent von ihnen gaben als Grund dafür die guten Unterhaltungssendungen an und als beliebteste die RIAS-Produktionen „Die Insulaner“, „Schlager der Woche“, „Es geschah in Berlin“ und die „RIAS-Kaffeetafel“. Dass der Konkurrenzdruck in Berlin enorm war, zeigt sich an einem Beispiel besonders deutlich: So stellte der Berliner Rundfunk der Kultsendung „Schlager der Woche“ die eigene „Schlagerlotterie“ entgegen – zur gleichen Sendezeit und zum Teil mit den gleichen Titeln.427

4.5 Die Anfänge der intersektoralen Fernsehkonkurrenz Zu Beginn der 50er Jahre begann auch in Berlin das Fernsehzeitalter. Die Chancen des neuen Mediums für Information und Unterhaltung, aber natürlich auch für die politische Beeinflussung der Massen, erkannten die gesellschaftlichen Eliten sowie die Politik in West- und Ost-Berlin relativ klar. Zwar sprach man zu 424 Domentat/Heimlich, Heimlich im Kalten Krieg, S. 179. 425 Herbst, Demokratie und Maulkorb, S. 156. 426 Die Sendung „Heinz und Inge“ des Berliner Rundfunks ahmte den vertraulichen Ton der „Müllerin“ vom RIAS nach. Dessen „Mach-mit“ habe für die Sendereihe des Berliner Rundfunks „Ein fröhlicher Wettbewerb – per Draht“ Pate gestanden. Vgl. Walther, Der Rundfunk, S. 161. 427 Vgl. ebd., S. 167, 187f.

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dieser Zeit noch nicht vom „Kalten Fernsehkrieg“428, aber die Konkurrenz war eröffnet – zunächst in der Form gegenseitiger eifersüchtiger Beobachtungen. Interne Informationen wiesen den Senat bereits im Herbst 1952 darauf hin, dass „im Sowjetsektor in Adlershof“ ein „ausgezeichnetes, in der Planung und Anlage äußerst zweckmäßig durchdachtes Fernseh-Studiogebäude errichtet worden ist, welches in Kürze baumässig auf die doppelte Größe gebracht werden soll“.429 Das stimmte aber so nicht, denn die zukünftigen Betreiber der Anlage sahen sie als unzulänglich an und witterten „Feindarbeit“430. Der Start für das offizielle Fernseh-Versuchsprogramm der DDR sollte am 1. Januar 1953 sein, wurde aber auf den 21. Dezember 1952 vorverlegt – zu Ehren Stalins, der an diesem Tag seinen 73. Geburtstag beging. Zu diesem Zeitpunkt lief die „Aktuelle Kamera“ an, die sozialistischen Fernsehnachrichten. Der Beginn des regulären Programms war mit dem 1. Januar 1956 terminiert, wurde aber auf den 80. Geburtstag von Staatspräsident Wilhelm Pieck (3. Januar) – ihm zu Ehren – verschoben.431 Demgegenüber hatte der NWDR bereits 1950 mit dem Versuchsbetrieb seiner Fernsehausstrahlung begonnen, nahm den regulären Sendedienst aber erst am 25. Dezember 1952 mit der „Tagesschau“ auf, ganze vier Tage später als die „Aktuelle Kamera“. Allerdings spielte das Fernsehen bis Mitte der 50er Jahre in beiden deutschen Staaten einschließlich Berlins nur eine untergeordnete Rolle, entwickelte sich dann aber im Rahmen des Deutschen Fernsehfunks der DDR und der ARD – der SFB gehörte zu ihren Mitgliedern – beiderseits zügig. Seit dem 11. September 1957 sendete das extra für die Bundesrepublik entwickelte „Telestudio West“ des Deutschen Fernsehfunks Berichte und Kommentare an die Adresse der Westdeut428 Peter Schultze, Eine freie Stimme der freien Welt. Ein Zeitzeuge berichtet, Berlin/Bonn 1995, S. 86. 429 Undatierte Denkschrift an den Senat (offenbar Herbst 1952), in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1364. 430 Beim Bau des Sendeturms habe es gebrannt, weil statt „Glaswolle“ leicht entzündbares Material verwendet wurde. Sein Fahrstuhlschacht war schmaler als der Fahrstuhl breit, der Laufgang zu den Prüffeldern – im Rohbau bereits fertig – musste wieder eingerissen werden, weil er sich als zu schmal herausstellte, und die sanitären Einrichtungen waren schlicht vergessen worden. Überdies brachte man „große Wandgemälde von namhaften Künstlern“ im Vestibül auf so schlechtem Farbuntergrund an, dass sie gleich zweimal hintereinander abfielen. Die „Mängel und Schlampereien, deren Behebung in der Tat viel kostete“, könne durchaus als „Feindarbeit“ gesehen werden. Dafür sprächen ebenfalls die viel zu kleinen Fenster und Türen, fehlende Brandmauern und Einstiegsluken, aber auch nicht vorhandene Treppen und vorschriftswidrige Installationen, meldete die VP. VPInspektion Treptow: Bericht „Demokratischer Rundfunk, Fernsehzentrum Berlin“ an die Landesparteikontrollkommission (Kiefert), weitergeleitet an Hans Jendretzky, undatiert [Herbst 1952], in: LAB, C Rep. 901, Nr. 206. 431 Kundler, Fernsehstadt Berlin, S. 51–54.

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schen, ab 21. Februar 1960 gab es den „Schwarzen Kanal“ von und mit KarlEduard von Schnitzler. Zwar war diese Sendung noch als gesamtdeutsch konzipiert worden, zeigte jedoch sehr bald, dass sie eigentlich auf die Ost-Berliner und DDR-Bürger abzielte und zum „antiimperialistischen“ Schulterschluss zwischen Partei und Staatsvolk beitragen sollte. Überdies richtete von Schnitzler eine von ihm moderierte Sendung „Treffpunkt Berlin“ als Reaktion auf Werner Höfers sonntägliches „Internationales Journalistenfrühstück“ (später „Internationaler Frühschoppen“) ein.432 Gleichzeitig begann die SED mit ihren Versuchen, den Empfang des Westfernsehens zu unterbinden.433 Da sich Störsendungen technisch als unmöglich erwiesen, verlegte sie sich, wie im Fall des Radiofunks, auf Verpflichtungen und Erklärungen ihrer Bürger, sich des Westfernsehens zu enthalten. Es war jedoch keineswegs so, dass die Ost-Berliner grundsätzlich oder aus welchen Gründen auch immer das DDR-Fernsehen mieden. Sie wandten sich den ARDProgrammen aus den gleichen Gründen zu, die auch im Fall von SFB und RIASHörfunk wirkten. Gleichzeitig sahen aber auch viele West-Berliner interessante Beiträge des Ostfernsehens, das sie launig als „zweites“ Programm West-Berlin bezeichneten. Bereits 1957 habe man dort gesehen, dass die Ostsendungen „ein echtes, sehr hartes und psychologisch recht gut aufgebautes Konkurrenzprogramm“ darstellten.434 In seinem Selbstverständnis betrachtete sich der SFB hingegen von Anfang an als eine „Fernsehbrücke“ zwischen dem geteilten Berlin und Deutschland und richtete im Wettbewerb mit deren östlichen Teilen spezielle Sendungen wie die Serie „Das Mitteldeutsche Tagebuch“ ein. Überdies nutzte er die Möglichkeit, die Äußerungen von SED-Politikern umgehend mit Gegendarstellungen zu konfrontieren.435 Am Ende der 50er Jahre schien noch in Vielem offen zu sein, wer sich an die Spitze der Fernsehkonkurrenz in Berlin setzte. Zu dieser Ambivalenz trug die Frage der Senderfinanzierung insbesondere aus WestBerliner Perspektive bei: Der Sowjetsektor könne seine „politisch gefärbten Programme“ mit „unbegrenzten finanziellen Mitteln“ ausbauen, während der SFB „mit seinem knappen Gebührenbereich“ ins Hintertreffen gerate und es deshalb schwer habe, „seine politische und kulturelle Verpflichtung zu erfüllen“.436 Auch der Senat glaubte aus diesem Grund ein bereits „ganz erhebliches Übergewicht“

432 Vgl. Information, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2158, Bl. 51. 433 Vgl. Mühl-Bennighaus, XYZ, S. 13f. 434 Staatliches Komitee für Rundfunk, undatiert (Frühjahr 1957), in: BArch Berlin, DR/6/515 (St). 435 Vgl. Sender Freies Berlin (SFB), 1957/58, S. 56, 58ff. 436 Berliner Begleiter, S. 23.

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des Ostfernsehens wahrzunehmen.437 Das entsprach jedoch nicht der Realität. Die finanziellen und technisch-innovativen Spielräume des Deutschen Fernsehfunks waren zum einen relativ eng begrenzt und zum anderen kämpfte die SED sowohl mit ideologischen Schwierigkeiten, vor allem in ihrer Hauptstadt, als auch mit der zunehmenden Attraktivität des West-Berliner Fernsehens. Angesichts ihrer Hauptstadtansprüche störten die SED jetzt vor allem SFB-Sendereihen, die an die kulturelle Verflechtung der Region erinnerten, u.a. „Nur eine Stunde von Berlin“.438 Der Ton der Fernsehduelle verschärfte sich, wie beim Rundfunk, im Vorfeld der zweiten Berlinkrise. Die Zuschauer sahen sich neuen Anforderungen und Stimmungen gegenüber, die von der im September 1958 eingerichteten „Berliner Abendschau“ des SFB problematisiert und an Alltagsbeispielen durch Bild und Ton in Szene gesetzt wurden. 1959 erreichte die Berliner Fernsehkonkurrenz einen ersten Höhepunkt. „Adlershof“ scheute vor dem politischen und wirtschaftlichen Systemvergleich zunehmend zurück und wich auf Ideologie und Propaganda, Überlegenheitsrhetorik sowie auf einige Berliner sozialpolitische Themen aus. Das durchgängige Prinzip dabei war, kritische Sendungen des Westfernsehens über Missstände in West-Berlin sofort durch die Konfrontation mit den (besseren) realsozialistischen Verhältnissen zu beantworten.439 Etwas anders sah es im Unterhaltungsbereich aus. Von den Zuschauern häufig ob ihrer Einseitigkeit und Farblosigkeit kritisiert, verschaffte sich das DDR-Fernsehen allmählich einige Glanzpunkte, u.a. mit der von Heinz Quermann geschaffenen Show „Herzklopfen kostenlos“, die auf unkonventionelle Art auf Suche nach jungen musikalischen und anderen künstlerischen Talenten ging. Die Sendung erreichte in Ost-Berlin hohe Einschaltquoten und wurde auch von Jugendlichen im anderen Teil der Stadt gern gesehen.440 Die geistig-politische und kulturelle Konkurrenz erhielt einen besonderen materiellen Ausdruck, als beide Teile Berlins, jeder für sich, den Bau von Fernsehtürmen planten. Der Senat wollte seinen Turm insbesondere „in Hinblick auf die jüngste Entwicklung im Ostsektor und in der Zone [Mauerbau]“. Man müsse der 437 Vgl. Schreiben von Innensenator Lipschitz an Senator Klein (Bundesangelegenheiten), 11.9.1961, in: LAB, B Rep. 003–01. Nr. 27. 438 Vgl. Sender Freies Berlin (SFB), 1958/1959, S. 60, 64. 439 Hier ging es vorrangig um alternative „Antworten“ auf die West-Berliner Mieten, Arbeitslosigkeit und Altenpflege. Vgl. Staatliches Komitee für Rundfunk, undatiert (1959), in: BArch Berlin, DR/6/71 (Pkt. IV). 440 „Ich habe die Sendung zusammen mit meiner Cousine aus Zehlendorf gesehen“, erinnert sich Carola Winter, Ende der 50er Jahre in Friedenau zu Hause. „Diese Schau war einfach aufregend und ich habe mit den Kandidaten richtig mitgelitten. Die haben sich solche Mühe gegeben.“ Vgl. Gespräch mit Carola Winter (Jg. 1945) am 17.8.2007.

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Bevölkerung dort „sobald wie möglich den einwandfreien Empfang westlicher Sendungen ermöglichen“.441 Die SED-Bezirksleitung dachte ähnlich, als sie einen entsprechenden 360 m hohen Bau in der Ost-Berliner Dimitroffstraße beschloss.442 Das war aber eben auch eine Reaktion auf die in West-Berlin konträr diskutierten Pläne eines 2. Fernsehprogramms, das sich mit dem Sendeturmbau eng verknüpfte. Einige Verantwortliche wollten ihn auf dem Reichskanzlerplatz errichteten, andere in der Nähe des Zoos, jedenfalls zentral, um bessere Empfangsmöglichkeiten des SFB für den Ost-Sektor zu garantieren.443 Viele Zeitgenossen sahen das geplante Bauwerk mit einer Höhe von 250 m schon als neues Berliner Wahrzeichen an.444 Wenngleich auch die Westalliierten nichts gegen das Projekt einwandten445 und sich die Bundesregierung aus eigenen Medieninteressen dafür aussprach446, wurde es als ein Berliner Zentralbau nicht realisiert. Der Ostturm hingegen entstand – am innerstädtischen Alexanderplatz. Und er übertraf das West-Berliner Projekt um über 100 m Höhe. Seine volle Wirksamkeit im geteilten Berlin entfaltete das Medium Fernsehen erst nach dem Mauerbau. Dann allerdings stellte es bald die wichtigste Informationsquelle für die bewusste gegenseitige Wahrnehmung zweier sich unterschiedlich entwickelnder regionaler Gesellschaften dar.

5. Doppelte Offerten: Populärkultur und Freizeitgestaltung 5.1 Unterhaltungskunst, Amüsement und volkstümliche Weihnachtsmärkte „Leichte Muse“, „Bunte Abende“ und andere Genres der Unterhaltungskunst erfreuten sich gerade nach den durch Krieg und Kriegsfolgen bedingten Entbehrungen großer Beliebtheit. Ganz Berlin wollte vergnügt sein und tanzen. Doch während „Unterhaltung“ in seinem Westteil im Wesentlichen Selbstzweck und 441 Schreiben von Innensenator Lipschitz an Senator Klein (Bundesangelegenheiten), 11.9.1961, in: LAB, B Rep. 003–01, Nr. 27. 442 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL Berlin, Protokoll Nr. 60 der Sitzung am 13.8.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 434, Bl. 11. 443 Vgl. „Schreiben der Landespostdirektion Berlin an den Senator für das Post- und Fernmeldewesen, 24.8.1959 und „Der Tagesspiegel“, 13.10.1959. 444 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 14.10.1959. 445 Vgl. Schreiben der Alliierten Kommandantur an die Senatskanzlei, 18.8.1959, in: LAB, B Rep. 003–01, Nr. 27. 446 Vgl. Schreiben des Bundesministers für wirtschaftlichen Besitz des Bundes an den Senator für Finanzen, 3.3.1961, in: ebd.

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Bevölkerung dort „sobald wie möglich den einwandfreien Empfang westlicher Sendungen ermöglichen“.441 Die SED-Bezirksleitung dachte ähnlich, als sie einen entsprechenden 360 m hohen Bau in der Ost-Berliner Dimitroffstraße beschloss.442 Das war aber eben auch eine Reaktion auf die in West-Berlin konträr diskutierten Pläne eines 2. Fernsehprogramms, das sich mit dem Sendeturmbau eng verknüpfte. Einige Verantwortliche wollten ihn auf dem Reichskanzlerplatz errichteten, andere in der Nähe des Zoos, jedenfalls zentral, um bessere Empfangsmöglichkeiten des SFB für den Ost-Sektor zu garantieren.443 Viele Zeitgenossen sahen das geplante Bauwerk mit einer Höhe von 250 m schon als neues Berliner Wahrzeichen an.444 Wenngleich auch die Westalliierten nichts gegen das Projekt einwandten445 und sich die Bundesregierung aus eigenen Medieninteressen dafür aussprach446, wurde es als ein Berliner Zentralbau nicht realisiert. Der Ostturm hingegen entstand – am innerstädtischen Alexanderplatz. Und er übertraf das West-Berliner Projekt um über 100 m Höhe. Seine volle Wirksamkeit im geteilten Berlin entfaltete das Medium Fernsehen erst nach dem Mauerbau. Dann allerdings stellte es bald die wichtigste Informationsquelle für die bewusste gegenseitige Wahrnehmung zweier sich unterschiedlich entwickelnder regionaler Gesellschaften dar.

5. Doppelte Offerten: Populärkultur und Freizeitgestaltung 5.1 Unterhaltungskunst, Amüsement und volkstümliche Weihnachtsmärkte „Leichte Muse“, „Bunte Abende“ und andere Genres der Unterhaltungskunst erfreuten sich gerade nach den durch Krieg und Kriegsfolgen bedingten Entbehrungen großer Beliebtheit. Ganz Berlin wollte vergnügt sein und tanzen. Doch während „Unterhaltung“ in seinem Westteil im Wesentlichen Selbstzweck und 441 Schreiben von Innensenator Lipschitz an Senator Klein (Bundesangelegenheiten), 11.9.1961, in: LAB, B Rep. 003–01, Nr. 27. 442 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL Berlin, Protokoll Nr. 60 der Sitzung am 13.8.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 434, Bl. 11. 443 Vgl. „Schreiben der Landespostdirektion Berlin an den Senator für das Post- und Fernmeldewesen, 24.8.1959 und „Der Tagesspiegel“, 13.10.1959. 444 Vgl. „Der Tagesspiegel“, 14.10.1959. 445 Vgl. Schreiben der Alliierten Kommandantur an die Senatskanzlei, 18.8.1959, in: LAB, B Rep. 003–01, Nr. 27. 446 Vgl. Schreiben des Bundesministers für wirtschaftlichen Besitz des Bundes an den Senator für Finanzen, 3.3.1961, in: ebd.

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kommerzialisiert war, blieb sie in Ost-Berlin letztendlich ein Mittel, seine Bewohner in den Aufbau des Sozialismus einbinden zu helfen. Diese Funktion schloss „Zerstreuung“ und Amüsement nicht aus, was die meisten jenseits von Politik und Alltagsproblemen suchten, beeinträchtigte aber durch ideologische und politische Absichten. Zwar verfügte nur Ost-Berlin über ein großes Operetten- und ein Revuetheater, doch bunter ging es im kapitalistischen Teil der Stadt zu, der über viele Möglichkeiten der „Belustigung“ verfügte: Zahlreiche Tanzlokale, Bars und Clubs, Kabaretts, „Jazzschuppen“, kleinere Revuebühnen, aber auch Unterhaltungspaläste mit wechselnden Programmen. Daran mangelte es in Ost-Berlin aus finanziellen und materiell-technischen Gründen, mehr aber vielleicht deshalb, weil die SED und ihre gesellschaftlichen Verbündeten Unterhaltungskunst zunächst klein schrieben. Trotz des Bedarfs und der Einsichten weitsichtigerer Funktionäre widmeten ihr auch die Staatsorgane in der Regel nicht die notwendige Aufmerksamkeit, zumal Glanz und Glimmer an kapitalistisches Gewinnstreben und „Verführung“ erinnerten und auf den Einfluss eines „Klassenfeindes“ hinzuweisen schienen, der die Ost-Berliner vom ernsten Aufbaualltag abzulenken und westliche Ideale zu vermitteln versuchte. Doch trug gerade die West-Berliner Konkurrenz zur Aufweichung dieser Dogmen bei, als die SED langsam realisierte, dass sie den Bedürfnissen nach Unterhaltung stärker entgegenkommen müsste, wenn die Ost-Berliner nicht ihr Vergnügen in den Westsektoren suchten. „Titania-“ und „Sportpalast“, „Waldbühne“ und Rundfunksäle erfreuten sich immer eines erheblichen Ostpublikums, wenn „Bunte Abende“ auf dem Programm standen und sich, etwa bei der „Titania“-Veranstaltung „Sterne von Europa“ Ende September 1950, bekannte internationale Sänger und Musiker ein Stelldichein gaben.447 In gewisser Weise stellte der „Titania-Palast“ in Steglitz das Wettbewerbs-Pendant zum Ost-Berliner Friedrichstadtpalast dar, dem größten europäischen Revuetheater, das zeitweise erhebliche West-Besuche erlebte.448 Es hielt, trotz materieller und Ausstattungsprobleme449, ein vergleichsweise hohes künstlerisches Niveau 447 Mehr als ein Dutzend Rundfunksender übertrugen die von etwa 100 Mio. Menschen gehörte Veranstaltung. Auf Bitten der US-amerikanischen Militäradministration trat der große Geiger Yehudi Menuhin in Berlin auf. Vgl. Meldung, 26.9.1950, in: LAB, B Rep. 002., Nr. 3363/2. 448 Unter den Besuchern der beliebten Veranstaltungsreihe „Da lacht der Bär“ im Friedrichstadtpalast befanden sich bis zu 40 Prozent West-Berliner. Vgl. Information an das Büro der SED-BL, 3.31961, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 464, Bl.94. 449 Manchmal fehlte es an den einfachsten Ausstattungsgegenständen, die – beispielsweise frisches Obst für Bühnendekorationen – manchmal aus West-Berlin bezogen wurden. Vgl. Wolfgang Schumann, Friedrichstadtpalast. Europas größtes Revuetheater, Berlin 1995, S. 33.

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und entwickelte vor allem dann Anziehungskraft, wenn Künstler aus dem Westen gastierten. Das brachte jedoch häufig ideologische Schwierigkeiten mit sich, die einerseits in SED-internen Querelen um kaum disziplinierbare Interpreten450 ihren Ausdruck fanden und andererseits in der offiziellen Kritik an der tatsächlichen oder vermeintlichen Niveaulosigkeit westlicher Gastprogramme.451 In der Tat bekundeten ihnen viele Ost-Berliner nicht selten, relativ unabhängig von künstlerischen Qualitätsfragen, beinahe prinzipiell ihre Sympathie, und der Beifall nahm in dem Maße zu, wie West-Berliner Akteure „mit hintergründigen Finessen“ östliche Verhältnisse „auf die Schippe“ nahmen.452 Rücksicht auf den Publikumsgeschmack mussten die Veranstalter von „Bunten“ Programmen auf beiden Berliner Seiten nehmen, politische Konsequenzen daraus ergaben sich aber nur im Ostteil der Stadt.453 Allerdings wirkte die Unterhaltungskunst, so sehr sie sich 450 Der politisch unabhängige Revuestar Harald Nielsen beispielsweise wurde trotz des Drängens von Direktor Gottfried Herrmann nicht in den Friedrichstadtpalast eingeladen, weil er sich „in der letzten Zeit für ausgesprochen politische und antidemokratische Veranstaltungen, die sich auch gegen die DDR richteten, in Westdeutschland und Westberlin zur Verfügung gestellt (habe)“. Schreiben des Ministeriums für Kultur der DDR an den Magistrat, 10.2.1959, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 264. 451 So schrieb der Ost-Berliner „Sonntag“ empört, „nationale Eigenheiten“ würden den Kunstauffassungen „westlicher Pseudokultur“ geopfert, „bürgerlicher Dekadenz die Türen geöffnet und die sozialistische Moral in einigen Fällen zugunsten ökonomischer Kalkulation verraten. Niveaulose westliche Darbietungen beherrschen die Bühnen, und unsere keineswegs schlechten Artisten bekamen […] auf ihre Offerten manchmal noch nicht einmal eine Antwort! Eine Art ,Front-Kabarett-Dilettanterie‘ unseligen Angedenkens schlich sich für niedrigste Gagen in die Veranstaltungen ein.[…] Ausländische Schnulziers wurden zu Stars gezüchtet, und einige Conferenziers bezeichneten ihre schamlosen Ausfällen gegen unseren jungen Staat als harmlose Kritik.“ Zitiert nach: Schumann, Friedrichstadtpalast, S. 40. 452 So wurden Brigitte Mira und andere Kabarettisten der RIAS-Reihe „Die Insulaner“, die im November 1956 an der bunten Veranstaltung zum Jubiläum der Berliner Bärenlotterie in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle teilnahmen, der „Hetze“ gegen den Osten beschuldigt. Sie hätten u.a. „ihre Einstellungen gegen den Militarismus mit unserer Armee und Volkspolizei“ vermischt, die Chinesen als „blöd“ hingestellt und CDU und SPD im Westen in einen Topf mit der SED geworfen. Dabei müsse man leider sehen, so kritisierten deren Beobachter, dass es gerade dafür den meisten Publikumsbeifall gegeben habe. Bericht der Kreisparteischule der SED „August Bebel“ an die SED-BL Berlin (Wengels), 3.12.1959, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 994. 453 Angesichts solcher Fälle, wo Westkünstler bejubelt, Darbietungen aus dem Osten hingegen mit „Schmährufen“ bedacht und von der Bühne aus Witze gerissen würden („Es ist gut, dass wir so viele Sachsen in Berlin haben, sonst hätten wir keine Regierung“), erwogen SED und Magistrat Disziplinierungsmaßnahmen, aber auch strafrechtliche Ahndungen. Vgl. Schreiben der SED-BL Berlin (Wengels) an Blecha, 6.12.1956, in: ebd.

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auch politisch „neutral“ gab, vielleicht aber gerade deshalb, auf das gesellschaftliche Bewusstsein ihrer Gesamtberliner Konsumenten ein. Zunächst erstaunt, wie sehr sie die regionale Unterhaltungsbranche faktisch noch als eine alltagskulturelle Einheit wahrnahmen, die durch Konkurrenz eher gefestigt als aufgelöst zu werden schien. Zu diesem Bild trugen neben dem Austausch von Interpreten und Gastspielen u.a. auch noch gemeinsame künstlerische Ausbildungsstätten454 bei, wenngleich sich die „Kaderfrage“ unter dem Konkurrenzaspekt zu stellen begann.455 Freilich wirkte das Groß-Genre „Unterhaltung“ in beiden Teilen Berlins immer als ein nach innen gerichtetes „Schaufenster“. Doch entwickelte dessen Ausgestaltung auch im intersektoralen Systemwettbewerb zunehmend Eigendynamik und Spezifika. Aufgrund seiner lokalen Traditionen, Möglichkeiten und ideologisch-kulturellen Strukturen bildeten sich in den 50er Jahren in Ost-Berlin Schwerpunkte heraus, die als typisch für das kulturelle Profil des realen Sozialismus als eine Gegenstrategie zur „stundenweisen Republikflucht“456 der OstBerliner angelegt wurden, aber eben auch West-Berliner anzogen. So manches Originelle, einschließlich preiswerter Volksfestschlemmereien, fanden sie in ihren Wohnorten kaum vor.457 Das verärgerte den Senat, kamen sie doch scharenweise zu den „Propaganda-Fleischtöpfen Pankows“458. Das betraf u.a. die in Ost-Berlin gepflegten Volkstanzaufführungen459, spektakuläre „Volksfeste“ im Zusammen454 Beispielsweise wurden in Ost-Berlin eine Anzahl West-Berliner Kinder zu Artisten ausgebildet. Vgl. Schreiben des Magistrats, Abteilung Kultur, an die SED-BL Berlin, 8.11.1954, in: ebd., C Rep. 121, Nr.26. 455 Das Staatliche Komitee für Rundfunk der DDR machte wiederholt darauf aufmerksam, dass Ost-Berliner junge Talente des Schlager- und Chansongesangs nicht an die Kultureinrichtungen der DDR gebunden würden und stattdessen in den Westen gingen, um hier – u.a. bei der Plattenfirma Polydor – Ausbildungsverträge einzugehen. Vgl. Information, 24.6.1957, in: SAPMO-BArch, Staatliches Komitee für Rundfunk, DR 6/513. 456 Dabei standen die konkreten Wettbewerbsgegner „Waldbühne“, „Deutschlandhalle“ und „Titania-Palast“ und ihre „bewusst aufgezogenen Super-Veranstaltungen“ im Vordergrund. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 133/61, 19.5.1961 zur Beschlußfassung, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 312. 457 Das waren in der Tat Großveranstaltungen auf Freilichtbühnen u.a. in der Wuhlheide (mit bis zu 19.000 Gästen) und in der Schönholzer Heide. Vgl. Magistratsbericht über die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1956, undatiert (1956), in: ebd., C Rep. 902, Nr. 282, Bl. 100. 458 „Von mal zu mal vergrößert sich die Zahl der Westberliner“, die mit ihren „gar nicht kleinen Autos“ familienweise durch das Brandenburger Tor in den Osten zögen. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156. 459 Gerade der Volkskunst „als Bestandteil unserer Nationalkultur“ wurde von der SED-BL zugetraut, „breiteste Kreise der Bevölkerung“ für den Kampf um Frieden und die Einheit Deutschlands und Berlins zu mobilisieren. Deshalb sei sie auch für die patriotische Wer-

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hang mit sozialistischen Feiertagen460 und andere recht kostenintensive „Hauptund Staatsaktionen“, die von der SED tatsächlich immer auch als Attraktion für die West-Berliner mitgedacht wurden.461 Im Konkreten stellten sie häufig die auch in anderen Konkurrenzbereichen konstatierten Gegenveranstaltungen zu einem Kulturereignis im anderen Berlin dar.462 In dieses Wettbewerbskonzept passte sich auch der Ausbau der Ost-Berliner Kulturhäuser trotz finanzieller Engpässe ein.463 Demgegenüber „punktete“ West-Berlin mit seinem ungleich differenzierteren Unterhaltungsangebot in den verschiedensten Formen. Vor allem glänzte sein Nachtleben, während Ost-Berlin nach Sonnenuntergang „grau“ blieb, was in erster Linie schon optisch dem Mangel an Gaststätten, Bars und Tanzlokalen geschuldet war. Vorhandenes blieb häufig mehr Schein als Wirklichkeit, und in den wenigen niveauvollen, aber vergleichsweise teuren Restaurants verkehrte ein „gehobenes Publikum“464, während die „Werktätigen“ nach Feierabend und an den Wochenenden nach Preiswerterem suchten.

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bung und die „Weckung des Nationalstolzes“ in den Westsektoren so wichtig. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL: „Betr. Wettbewerbe und Festspiele der Volkskunst 1953/54“, in: ebd., Nr. 165, Bl. 88. Organisierte große Volksfeste und bunte Großveranstaltungen fanden vor allem am 1. Mai und am 7. Oktober statt. Vgl. „Kulturplan zur Vorbereitung und Durchführung des 1. Mai 1955“, 22.3.1955 und „Ablaufplan der Festveranstaltungen […] während der Zeit vom 20.9.–7.10.1959“, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 226, Bl. 46–49 und C Rep. 101, Nr. 5534. Vgl. Magistrat, „Vorschläge zur Vorbereitung und Durchführung des 1. Mai 1955“, 23.3.1955 und „Protokoll der Magistratssitzung am 8. Juli 1961“, 12.7.1961, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 75. Besondere Anreize zum Besuch der Volksfeste boten prominente internationale Persönlichkeiten: 1961waren es der Sänger Paul Robeson und Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall. So rief die SED das „1. Sommerfest am Müggelsee“ als ein Pendant zu konkreten Veranstaltungen der West-Berliner Filmfestspiele ins Leben. Das Fest trüge Gesamtberliner Charakter und sei so terminiert, dass es zeitgleich mit einer Großveranstaltung in der „Waldbühne“ stattfinde. Vgl. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL Berlin: „Durchführung des 1. Sommerfestes am Müggelsee am 28.6.1959 unter dem Motto ‚Ganz Berlin trifft sich am Müggelsee‘“, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 404, Bl. 39. Vgl. Schreiben der SED-KL Prenzlauer Berg an das Büro der SED-BL Berlin, 15.10.1956, in: ebd., Nr. 993. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156, Bl. 33. Die Nobel-Restaurants rund um den Bahnhof Friedrichstrasse, die Cafes in der Stalinallee („Warschau“ und „Budapest“) und einige andere „gehobene“ Gaststätten und Bars („Ganymed“, „Johanneshof“, „Rialto“) wurden vom Gesamtberliner Büro offenbar systematisch beobachtet.

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Zwar unternahm die SED immer wieder Versuche, den Missstand im Gaststättenbereich und bei Tanz und Amüsement zu beheben465, doch echte Besserungen traten aus den bereits genannten Gründen kaum oder aber viel zu langsam ein. Ebenfalls wirkten Modeschauen, Modebälle und Hundeschauen mehr als Abklatsch vom Westen als original ostberlinisch.466 Zog die konventionelle Unterhaltungskunst im Ostsektor als Teil einer weitgehend „durchplanten“ Massenkultur in erster Linie die ältere und mittlere Generation der Berliner einschließlich der aus dem Westen an, ging die Jugend in der Regel nicht auf sie ein. SED, FDJ und Magistrat registrierten zwar aufmerksam deren Bedürfnisse und Wünsche, verweigerten sich ihnen aber weitgehend oder unterdrückten sie gar. Nicht von ungefähr vermuteten sie ständig westliche Einflüsse467 und beargwöhnten vor allem im „Zankapfel“ westliche Schlagermusik und in deren Interpreten468 einen Angriff auf Sozialismus und sowjetische Vorbild-Kultur.469 Defizite des kulturellen Alltagslebens versuchten SED und Magistrat durch bevölkerungsnahe integrative Einrichtungen zu minimieren, die zuvorderst Familien und Kinder ansprachen und die Aussicht eröffneten, auch für West-Berliner ein echter „Knüller“ zu werden. Dafür schien beispielsweise der volkstümliche zentrale Weihnachtsmarkt im Herzen Ost-Berlins besonders geeignet. Seine eigentliche politische Bedeutung erhielt dieser traditionelle Markt nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 im Zuge des „Neuen Kurses“. Er werde „alles bisher Dagewesene […] übertreffen und sichtbar die erzielten Erfolge in Verwirklichung des Neuen Kurses zum Ausdruck bringen“470. In der Tat sprengte der Weihnachtsmarkt seinen bisherigen Rahmen.471

465 Vgl. u.a. „Bericht über die Magistratssitzung am 16.10.1953 über Maßnahmen zur Verbesserung der kulturellen Massenarbeit“, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 896. 466 Vgl. „Deutsche Modenschau“ (Ost-Berlin), August 1959, Werbeplan, 23.4.1959, in: ebd., C Rep. 113, Nr. 412. Vgl. dazu auch „Der Augenzeuge“ Nr.14/54 und Nr. 16/54, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. 467 Auch wolle die SED nicht dazu beitragen, „den negativen Amüsierdrang gewisser Teile der Jugend zu vergrößern“. Entwurf: „Entschließung der Kulturkonferenz Groß-Berlin der FDJ“, 10.4.1958, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 357, Bl.11. 468 An erster Stelle Caterina Valente, amerikanische Musikstars und Kurt Edelhagen (Orchester). Vgl. SAPMO-BArch, Staatliches Komitee für Rundfunk, DR 6/51. 469 Bei musikalischen Veranstaltungen riefen bestimmte Jugendliche nach Jazz, den sie „in West-Berliner Manier randalierend untermalten“. Spielte man Titel aus der Sowjetunion, inszenierten sie „solchen Lärm“, dass die Interpreten ihren Vortrag unterbrechen mussten. „Sie riefen laut: Wir wollen amerikanische Lieder hören und ähnliches.“ Information für den Stellv. OB Fechner, 12.2.1954, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 238. 470 Magistratsbeschluß Nr. 362 vom 13.11.1953, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr.898.

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Er sei „aus den großen Ereignissen des Jahres nicht mehr hinwegzudenken“, resümierte der Magistrat 1957. Seine politische Bedeutung liege jetzt auch „in der Beteiligung vieler tausender Westberliner“. Überdies verliefe seine Vorbereitung zeitgleich mit dem Bundestagswahlkampf und der Präparation auf den 40. Jahrestag der Oktoberrevolution.472 Hier zeigte sich die Verknüpfung von äußeren mit innenpolitischen Aufgaben des vorweihnachtlichen Ortes, der auf Wachstum und in gewisser Weise als eine Bündelung wirtschaftlich-technischer Ressourcen Ost-Berlins473 angelegt war. Angesichts eines fehlenden zentralen Weihnachtsmarktes in West-Berlin erhielten die östlichen Planungen, über die der Senat aus taktischen Gründen nicht informiert werden sollte474, einen prononciert gesamtstädtischen Anstrich. 1956 waren auch einige westliche Schausteller zur Teilnahme eingeladen worden, was dem Senat offenbar nicht passte.475 Erst nach den Abgrenzungsbemühungen der SED im Kontext ihrer verstärkten Hauptstadtpropaganda fragte sich das Politbüro, ob es nicht politisch „zweckmäßig und möglich“ sei, die zahlreichen WestBerliner Besucher durch die Errichtung eines Weihnachtsmarktes für sie zu separieren.476 Kostengründe spielten bei dieser nicht weiter verfolgten Idee wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle. Verschiedene Subventionen, die auch den Gästen aus dem anderen Teil Berlins zugute kamen, wie auch indirekt der für sie günstige Wechselkurs, trieben die Gesamtkosten in die Höhe, zumal sich eine durchgängige Ausweiskontrolle beim Kauf von Bockwürsten, Buletten, Bier, Glühwein und Leckereien als undurchführbar erwies. Zwar erreichte der Gesamtumsatz von 471 So boten u.a. eine zwei Kilometer lange Ladenstraße, ein Zirkuszelt, eine „Märchenstadt“ im Lustgarten, eine Pioniereisenbahn sowie ein „Märchenschiff“ vor allen den Kindern Erlebenswertes. Noch nie waren so viele Schausteller mit „Volksbelustigungen“ und volkseigene sowie private Betriebe mit ihren Erzeugnissen auf einem Berliner Weihnachtsmarkt vertreten. Vgl. ebd. 472 Konzeption Berliner Weihnachtsmarkt 1957, 6.8.1957, in: ebd., C Rep.121, Nr. 122. 473 Für die reibungslose Belieferung des Weihnachtsmarktes, die wegen dessen politischer Bedeutung eine Vorrangstellung einnahm und deshalb streng kontrolliert wurde, nahm der Magistrat auch private Unternehmen und spezielle Handelsorganisationen in die Pflicht. Vgl. Schreiben des Magistrats an die DHZ Eisenwaren, 6.11.1954, in: ebd. Vgl. dazu auch eine „Einschätzung“ der SED-BL, 15.12. 1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 188, Bl. 279. 474 Vgl. Schreiben des Stadtrats Fechner an den Stellvertretenden OB Schmidt, 4.11.1954, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. 475 Vgl. Magistratsbericht „Weihnachtsmarkt 1956“, Mitte Dez. 1956, in: ebd., C Rep.121, Nr. 122. 476 Protokoll Nr. 43/58 der Sitzung des Politbüros am 21.10.1958. in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2/615, Bl.2.

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Konsum und HO (1959) über 2,7 Mio. Ostmark; 243.000 Ostmark zahlte der Magistrat für seinen Weihnachtsmarkt jedoch drauf.477 Politisch aber lohnte er sich. 1960 machten die Ost-Berliner Veranstalter unter seinen 1,6 Mio. Besuchern 350–400.000 West-Berliner aus. Auch dadurch brächte der Ost-Berliner Weihnachtsmarkt „das Sieghafte unseres sozialistischen Aufbaus zum Ausdruck“, schlussfolgerte die SED.478 Der Senat hatte es bislang nicht vermocht, der „Weihnachts“-Konkurrenz etwas Gleichrangiges entgegenzusetzen. Das änderte sich erst im Herbst 1960 unter dem Einfluss West-Berliner Lokalpolitiker: Die Errichtung eines zentralen Weihnachtsmarktes sei „geradezu eine politische Notwendigkeit, weil der östliche Weihnachtsmarkt im Lustgarten trotz seiner überwiegend politischen Tendenz auch von West-Berlinern besucht wird, die einen ähnlichen Markt in West-Berlin vermissen. Dem Propagandamarkt des Ostens muss deshalb ein attraktiver Markt entgegengestellt werden, der geeignet ist, zahlreiche Besucher anzuziehen.“479 Die Idee fand in der Öffentlichkeit große Resonanz. Als der erste West-Berliner zentrale Weihnachtsmarkt am Funkturm Anfang Dezember 1960 seine Pforten öffnete, erreichte er zwar noch nicht die Gesamtbesucherzahl der Veranstaltung im Osten, doch kamen mehr Ost- als Westbesucher, die er der östlichen Konkurrenz zumindest teilweise entzog. Die Ost-Berliner hätten ein besonderes Interesse an Verlosungen und Südfrüchten gezeigt, hieß es in der Auswertung des Senats. Doch kam auch er nicht umhin, seinen Weihnachtsmarkt zu subventionieren.480 Beide Dezembermärkte waren als Gesamtberliner Orte angelegt worden; der Mauerbau verhinderte einen weiteren Wettbewerb unter dem Tannenbaum.

5.2 Tierpark versus Zoo: Eine Ost-Berliner Erfolgsstory Der in West-Berlin gelegene, 1844 als Aktiengesellschaft gegründete Berliner Zoo, im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört, war relativ schnell wieder entstanden und hatte an Beliebtheit nichts eingebüßt. Das galt auch für die Ost- und Randberliner, die zunächst etwa 25 Prozent der Besucher ausmachten und knapp die Hälfte der Eintrittsgelder – allerdings in Ostmark – realisierten. Das führte aber zur finanziellen Mehrbelastung des Zoos, der sich einem „Dauer-Aderlass“ ausgesetzt

477 Vgl. Information für Ebert, 29.12.1959, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 39. 478 Konzeption Berliner Weihnachtsmarkt 1957, 6.8.1957, in: ebd., Nr. 122. 479 Schreiben des Charlottenburger Bezirksstadtrats Alfons Grajek an Bgm. Amrehn, 21.10.1960, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2167. 480 „Bericht über den Gesamtberliner Weihnachtsmarkt am Funkturm vom 6. bis 23. Dezember 1960“, in: ebd.

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sah.481 Zwar störte die östliche Seite der Umtauschmodus ebenfalls, weil Ostmark nach West-Berlin abfloss; sie hatte aber mehr die politische Dimension der „Wochenend-Wanderung“ ihrer Bürger in den Zoo im Auge. Seit Anfang 1954 suggerierte ihnen vor allem die „Berliner Zeitung“, dass das „neue Berlin“ auch einen neuen Tierpark benötige.482 Der dann am 27. August 1954 gefasste entsprechende Beschluss des Magistrats reflektierte sowohl die Hauptstadt-Konzeption der SEDFührung als aber auch das mit dem Projekt verbundene Finanzierungsproblem. Es sollte in hohem Maße durch das an anderer Stelle bereits vorgestellte Nationale Aufbauprogramm mit freiwilligen Aufbauhelfern gelöst werden und auch dadurch den Eindruck erwecken, dass der Tierpark in Friedrichsfelde ein Kind des sozialistischen Aufbaus sei und die Art seines Entstehens „wiederum ein Beweis mehr“ für die Überlegenheit der östlichen Gesellschaftsordnung über das „kapitalistische Westberlin“.483 Da der Park mit seinem barocken Schloss über Jahrhunderte adliger Grundsitz war, besaß er großen symbolischen Wert nunmehr als Eigentum des „schaffenden Volkes“. Das Konzept ging aber deshalb auf, weil der neue, maßgeblich aus unbezahlter Arbeit der Ost-Berliner hervorgehende Tierpark von ihnen angenommen und als ein Naherholungsziel par excellence sich bald großer Beliebtheit erfreute. Überdies erwies sich die in der Öffentlichkeit Widerhall findende Vermutung, viele Tiere des neuen Landschaftsgartens würden über Lotteriegelder, Spendenmittel und Geschenke von in- und ausländischen Zoos zu erwerben sein, ebenfalls als realistisch.484 Auch ostdeutsche Betriebe und Privatpersonen betätigten sich als Sponsoren und freuten sich, dass sie die Ost-Berliner Presse dafür lobte. Ausnahmen bestätigten die Regel.485 Über Jahre blieb in dem schönen weitläufigen

481 West-Berliner zahlten Anfang der 50er Jahre eine Westmark Eintritt, Ostdeutsche zwei Ostmark. Da der Wechselkurs die Ostmark aber im Schnitt nur mit einem Fünftel des Westmarktwertes bewertete, fuhr der Zoo hohe Währungsverluste ein, musste aber sämtliche Ausgaben in Westgeld bestreiten. Vgl. Der Zoologische Garten Berlin. Erster Bericht und Wegweiser nach dem Kriege, 1951. Hrsg. vom Aktien-Verein des Zoologischen Gartens zu Berlin, Berlin (W) 1951, S. 12. 482 Vgl. Tierpark Berlin (Hrsg.), Tierpark Berlin, Berlin 1958, ohne Seitenangabe. 483 Vgl. ebd. 484 Das erste Tier, ein Kamel, kam als Geschenk aus Leningrad. Vgl. Joachim Trenkner, Berliner Leben. Eine Jahrhundertchronik. Mit über dreihundertfünfzig Dokumenten aus zeitgenössischen Film- und Fernsehaufnahmen, Berlin 1999, S. 136. 485 Der Ost-Berliner Konrad Müller, Geflügelzüchter und Wurstfabrikant, hatte dem Tierpark einen Schimpansen geschenkt, was die Ost-Berliner Presse als vorbildlich popularisierte. Nun beging er aber gleich darauf Republikflucht. Das veranlasste die SED-BL zu einem Verbot der weiteren Herausstellung von Geschenk und Spender, zu dem der Tier-

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Schlosspark mit seinem alten Baumbestand (und über 7 Hektar Wasserfläche) vieles Provisorium486, das sich aber Stück für Stück zu einem professionell geführten Tierpark mit internationaler Geltung entwickelte und bald auch zu einer echten Konkurrenz für den alten Berliner Zoo. Zwar besaß diese traditionelle Einrichtung von Weltrang ungleich mehr Tiere, doch konzentrierten sie sich auf einen verhältnismäßig engen Raum, während sie im großflächigen Schlosspark mehr Platz erhielten und ihre auf längeren „Wanderwegen“ erreichbaren Gehege und Häuser mitten im Grünen sowie zwischen Blumenrabatten lagen. Dass man in Zukunft mit der neuen Konkurrenz rechnen müsse, sah auch der Senat, der jedoch in diesem Fall seine Anerkennung intern nicht versagte.487 „Die zunehmende Konkurrenz des Tierparks in Friedrichsfelde (bereitet) uns immer größere Sorgen“, gestand denn auch der Berliner Zoo, der sowohl auf sinkende OstBesucherzahlen488 als auch wiederholt auf die steigende Diskrepanz zwischen seinen Ostgeldeinnahmen und dem „Wert der Westmark“ hinwies. Zu Recht und mit Erfolg baten seine Betreiber um Subventionen aus dem Gesamtberliner Kulturplan.489 Aber auch die Leitung des Tierparks unter ihrem fachlich kompetenten und politisch flexiblen Direktor Heinrich Dathe nutzte die Zoo-Konkurrenz listig, um Zuwendungen in Fluss zu halten und sich wichtige publizistische Freiräume zu schaffen.490 So setzte er sich z.B. mit Hilfe des Magistrats und triftigen Konkurrenzargumenten gegen das Staatliche Rundfunkkomitee durch, das seine

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park jeden Kontakt umgehend abzubrechen habe. Vgl. Schreiben der SED-BL an Blecha, 13.11.1957, in: LAB, C Rep. 121, Nr. 179. Als der Tierpark am 2. Juli 1955 eröffnet wurde, verfügte er nur über „450 Tiere in 100 Formen“, 16 Tierhäusern mit Gehegen sowie 19 provisorischen Tierunterkünften. Vgl. Tierpark Berlin (Hrsg.) Tierpark Berlin, Berlin 1955, ohne Seitenangabe. „Noch fehle die Vielfalt der Tiere, noch seien viele Unterkünfte provisorisch, jedoch gemessen an dem bisher geleisteten und wenn man sich der Schönheit und Größe des […] Geländes bewusst wird, muss man mit einer ernsthaften Konkurrenz für den Westberliner Zoo rechnen“, vermutete auch das Gesamtberliner Büro. Berlins West-Ost-Probleme. Stand: 15.9.1956, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 8. Bereits 1955 ging der Anteil der Ostbesucher an den gesamten Besucherzahlen trotz der erheblichen finanziellen Vergünstigungen für sie um 16,6 Prozent zurück. Vgl. „FAZ“, 7.8.1956. Vgl. Schreiben des Aktien-Vereins Zoologischer Garten zu Berlin an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 26.8.1957, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2160. Da die über den Kulturplan subventionierte Zoo-Konkurrenz „außerordentlich bemüht ist, uns das Wasser abzugraben“, durfte Dathe einen für seinen Tierpark werbenden Aufsatz in einer (nicht genannten) West-Berliner Zeitschrift veröffentlichen. Er käme „unseren Absichten, in diesem Jahr besonders stark in Westberlin hervorzutreten […] sehr entgegen“. Schreiben von Dathe an den Magistrat, Abteilung Kultur, 11.3.1960, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 176.

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Sendereihe über das „Tierparkgeschehen“ beenden wollte.491 Auch führten Dathes ehrgeizige Pläne zum Ausbau des Tierparks ab 1957 tatsächlich mit zu einer stärkeren Subventionierung aus dem Staatshaushalt, da Nationales Aufbauwerk (NAW) und „Bärenlotterie“ finanziell überfordert würden.492 Da der Tierpark inzwischen ein SED-Erfolgs- und Renommierprojekt war und Dathe auch immer die internationale Dimension zu betonen wusste493, kam die SED den finanziellen Anforderungen ihres Tierparks im Wesentlichen nach. Das wiederum trug zu seiner Anziehungskraft, auch auf die West-Berliner, bei.494 Dieser Umstand schien der politischen Führung in Ost-Berlin für ihre Gesamtberliner Rhetorik besonders geeignet. Dabei sah sie Dathe in der Rolle eines politischen „Agitators“ in der Berliner Kulturkonkurrenz495, der er jedoch keineswegs war und im Gegenteil bei allen Eigeninteressen und seinem ausgeprägten Wettbewerbsbewusstsein496 ge-

491 Selbst für die westdeutsche Bevölkerung sei der Tierpark „beispielgebend“. Er zeige, „dass der Aufbau einer derartigen Kulturstätte nur in einem sozialistischen Staat möglich ist. Auch in der gesamtberliner kulturpolitischen Arbeit spielt diese Sendung eine nicht zu unterschätzende Rolle.“ So sei die Sonntag-Morgen-(Radio-)Sendung des West-Berliner Zoodirektors Dr. Kloes zeitlich schon mehrmals so verändert worden, dass sie entweder vor oder nach dem Rundfunkbeitrag Dathes liege, „um die westberliner Bevölkerung von dem Besuch unserer Einrichtung abzuhalten“. Schreiben des Magistrats an das Staatliche Rundfunk-Komitee, 2.5.1958, in: ebd. 492 Dathe legte Anfang 1957 einen Plan zum Ausbau des Tierparks vor, der von einer Investitionssumme von 120 Mio. Ostmark in den nächsten zehn Jahren ausging. Das könne nicht mehr vom NAW getragen werden, meinte dessen Ost-Berliner Leiter. Die „Bärenlotterie“ erwirtschafte jährlich 11 Mio. Ostmark, von denen der Tierpark die Hälfte „verschlinge“. Der Gedanke, dass das NAW weiterhin dessen permanente Finanzierung übernehme, sei „gruselig“, zumal es ein Problem zu werden drohe, wenn die Verantwortlichen bei der Erläuterung der Verwendung von NAW-Mitteln gegenüber der Bevölkerung „immer wieder“ den Tierpark in den Mittelpunkt stellten. Schreiben von Erdmann an die Abteilung Kultur des Magistrats, 5.3.1957, in: ebd., Nr. 424. 493 Vgl. Bericht Dathes an den Magistrat, 22.7.1960, in: ebd., Nr. 179. 494 „Die Welt“ vom 17.7.1957 schätzte den Anteil von West-Berliner Besuchern des Tierparks auf etwa ein Viertel, Dathe sprach für das laufende Jahr 1960 von – möglicherweise etwas übertriebenen – 40 Prozent. Vgl. ebd. 495 Im Rahmen der Gesamtberliner Arbeit müssten sich die Anstrengungen des Magistrats darauf richten, „durch Diskussionen mit dem Professor [Dathe] dazu beizutragen, daß er immer mehr erkennt, daß seine internationalen und nationalen Verbindungen wesentlich dazu beitragen können, unsere Kulturpolitik zu popularisieren und daß er in den entsprechenden Gremien als Agitator für uns auftritt“. Hauptreferat Kulturelle Massenarbeit beim Magistrat: „Betr. Gesamtberliner Arbeit“, 19.5.1958, in: ebd., Nr. 26. 496 So initiierte Dathe eine Großwerbefläche des Tierparks auf dem Bahnhof-Zoo – also in unmittelbarer Nähe zum Wettbewerbsgegner. Sie sollte „noch mehr die Wirkung [des

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samtstädtisch und in dieser Zeit auch gesamtdeutsch dachte. So ging er intern beispielsweise gegen die Magistratsordnung an, dass West-Berliner auch bei einem geringen Verzehr (unter zwei Ostmark) in der Tierparkgastronomie Westgeld bezahlen müssten.497 Dathe verstand etwas von Vermarktung und Werbung. Inzwischen betrachteten auch westliche Zeitungen den Tierpark als „das einzige Produkt der Spaltung“, das in einem wiedervereinigten Berlin bestehen bleiben müsste498, während ein bekanntes Blatt behauptete, der Zoologische Garten in West-Berlin habe „seine Kraft als Klammer an der zerrissenen Stadt“ nach und nach verloren.499 Immerhin schätzte der Senat im Frühjahr 1958 ein, dass der Tierpark trotz Kulturplansubventionen für den Zoo „immer größere Bedeutung“ gewänne und sich für ihn „zu einer starken Konkurrenz“ ausgewachsen habe.500 Der „Magnet Tierpark Berlin“, wie ihn gut gemachte Ost-Berliner Werbe- und Informationspublikationen nannten, war auch insofern international und gesamtdeutsch, als er entgegen aller realsozialistischen Abgrenzungspolitik der SED freundschaftliche Beziehungen auch zu bundesdeutschen Tiergärten unterhielt und die bei Dathe eingehenden Anfragen aus vielen Zoologischen Gärten der Welt „zum Aufbau von Tiergärten“ allgemeine Hochachtung bezeugten.501 Sie prägte auch das insgesamt sachliche Verhältnis zwischen Tierpark und Zoo als einer in der Öffentlichkeit sichtbaren Konkurrenz502 „auf gleicher Augenhöhe“.

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Tierparks] als Schaufenster zu Westberlin herausstellen“. Bericht Dathes an den Magistrat, 22.7.1960, in: ebd., Nr. 179. Er weise u.a. darauf hin, dass im Zoologischen Garten seit mehreren Jahren für Besucher aus Ost-Berlin und der DDR Verzehrbons gegen Ostmark ausgegeben würden. „Überdies bedürfte es selbstverständlich keines Wortes, daß die Höhe der Besucherzahlen des Tierparks durch die Magistratsmaßnahme beeinflußt würde.“ Vgl. Schreiben von Dathe an Stadtrat Wolff, 17.6.1961, in: ebd., Nr. 176. „Welt am Sonntag“, 3.5.1959. „Die Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung“, 30.5.1959. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1958, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2157, Bl. 36. Mit seinen modernen Bauten und großzügigen Parkanlagen sei der Ost-Berliner Tierpark der größte seiner Art auf dem Kontinent. Um verschiedenartige Ratschläge bei der Gestaltung ihrer eigenen Projekte hätten u.a. die Tiergärten in Neu Delhi, London, Los Angelas, Bukarest und Winnipeg gebeten. Vgl. Bericht Dathes an den Magistrat, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 179. 1957 zählte der Tierpark 1,5 Mio. Besucher, damit überrundete er den meistbesuchten deutschen Zoo in Frankfurt am Main um 100.000. Die neuen Satzungen (1958) seiner Fördergemeinschaft ermöglichten auch West-Berlinern, „sich stärker an der Entwicklung des Tierparks“ durch die Mitgliedschaft in diesem Gremium zu beteiligen. Das war natürlich eine Gesamtberliner Maßnahme, zog aber vom Zoo Interesse ab. Der Magistrat betrachtete dessen „Wahnsinnseinkäufe“ von Tieren als Reaktion auf den Zuwachs von Tie-

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Das stärkte das Selbstbewusstsein nicht nur von Tierpark, SED und Magistrat, sondern auch vieler Ost-Berliner.503 Sein Image als „größter Tierpark Europas“ war kein Propagandakonstrukt, sondern weitgehend die Folge von Leistungen und kontinuierlichem Wachstum sowohl des Tierbestandes als auch der Besucherzahlen.504 Sie gingen mit dem Mauerbau durch das Ausbleiben der West-Berliner zeitweilig erheblich zurück. Dennoch blieb die Tierparkgeschichte insgesamt eine Ost-Berliner Erfolgsstory, zu der die ostdeutschen Sympathien für Dathe und viele freiwillige Leistungen505 beitrugen. Inzwischen im Wortsinn volkstümlich geworden, bildete er für viele Ost-Berliner ein grünes Alltagsrefugium, war aber gleichzeitig ein wirksames Mittel, um sie auf eine subtile Art in die sozialistische Hauptstadtgesellschaft integrieren zu helfen.

5.3 „Magnetische Messen“ und Ausstellungen Messen und Ausstellungen besitzen für eine Reihe von Großstädten und Regionen wirtschaftlich, kulturell und politisch, insbesondere für ihr häufig übernationales Renommee, erhebliche Bedeutung. Zwar assoziierte Berlin nie „Messestadt“, wie das z.B. bei Leipzig oder Hannover der Fall ist, doch trifft der Begriff insofern zu, als Berlin bereits vor dem Zweiten Weltkrieg einen bevorzugten Standort diverser Messen und Ausstellungen dargestellt und sich insbesondere durch deren professionelle Organisation einen guten Ruf erworben hatte.

ren und Bauten in Friedrichsfelde. Entgegen aller zoologischen Regeln würde im WestBerliner Zoo „eine Unmenge von Tieren auf kleinem Raum konzentriert“, und außerdem sei der „Nachbau“ der attraktiven Stelzvogelwiese des Tierparks durch den Zoo „ein Zeichen eines so genannten ,Konkurrenzkampfes‘“. Nun plane er ein „riesiges Raubtierhaus“, weil das im Bau befindliche Friedrichsfelder Vorbild „das Größte und Beste Europas“ würde. All das habe fast zur „Pleite“ des Zoos geführt, der seine Eintrittspreise auf 1,50 Westmark erhöhen musste. Der „stete Rückgang der so genannten Ostbesucher“ trage zum Dilemma bei. Hauptreferat Kulturelle Massenarbeit des Magistrats, 19.5.1958, in: ebd., Nr. 26. 503 Dazu trugen seine modernen Bauten wie das Antilopenhaus (1956), die Eisbärenanlage (1957), das „Bärenschaufenster“ (1958) und das Raubtierhaus (1960) sowie die großzügigen Parkanlagen erheblich bei. 504 Im Juli 1961 umfasste der Friedrichsfelder Park auf 110 Hektar 2.929 Tiere „in 570 Formen“, die seit seiner Eröffnung von über acht Mio. Besucher gesehen worden seien. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 208/62, 5.7.1961, in: ebd., Nr.45. 505 Die Gesamtzahl von freiwilligen Aufbaustunden wurde bis Anfang 1961 mit 605.000 angegeben. Vgl. ebd.

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Anfang Dezember 1948 war die altbewährte „Berliner Messegesellschaft“ in einen West- und einen Ost-Betriebsteil zerlegt worden. Eingedenk der Bedeutung von Ausstellungen und Messen für Berlin, das in der Vorkriegszeit ein für sie bevorzugter Standort gewesen war, gingen die Politiker auf beiden Seiten der Stadt von der Erkenntnis aus, dass die Rekonstruktion und der Ausbau von Expositionsstrukturen auch unter den Bedingungen der Teilung aus ökonomischen wie weltstädtisch-repräsentativen Gründen unabdingbar sei. Im territorial isolierten und von vielen alten Märkten abgeschotteten WestBerlin trat das wirtschaftliche Motiv schnell in den Vordergrund: Die Teilstadt müsse die Standortnachteile gegenüber der Bundesrepublik wettmachen und um ausländisches Kapital werben. Von Anfang an standen dabei zwei „Zugpferde“ im Vordergrund: Die wiederbelebte „Grüne Woche“ sowie die „Deutsche Industrieausstellung“ (beide seit 1950). Parallel dazu begann der Wiederaufbau zerstörter Messe- und Ausstellungshallen maßgeblich mit US-amerikanischen Finanzmitteln.506 Im Sommer 1951 entstanden als Eigenbetrieb West-Berlins die „Berliner Ausstellungen“ mit der Aufgabe, Konzepte und Materialien zu erarbeiten sowie zu werben und zu organisieren.507 Wenngleich Insider den wirtschaftlichen Wert der Messen und anderer großer Ausstellungen seinerzeit als möglicherweise gering veranschlagten, bezweifelte doch niemand, dass sie in der „exponierten Arena, welche diesen für den scharfen Konkurrenzkampf zweier gegensätzlicher Wirtschaftssysteme“ hätten, „eminent politisch“ seien.508 In diesem Sinn sprach Bundeswirtschaftsminister Erhard anlässlich der Eröffnung der 1. „Deutschen Industrieausstellung“ am 1. Oktober 1950 von ihr als einem „Schaufenster des Westens gegenüber dem Osten“, weil sie „ein nicht wegzuleugnender Beweis für das sinnvolle und schöpferische Streben deutschen Unternehmergeistes und fleißiger Hände von Millionen von Arbeitern“ sei.509 Die politische Brisanz der Ausstellungen in West-Berlin resultierte nicht zuletzt wiederum aus dem großen Anteil von ostdeutschen, insbesondere OstBerliner Besuchern510, die sich über westliche Leistungskraft und Standards in506 Vgl. Leonie Holz, Messestadt Berlin, Berlin (W) 1986, S. 60. 507 Vgl. Schreiben der Pressestelle der „Berliner Ausstellungen“ an das Presseamt des Senats, 16.8.1951, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3245/1. 508 Peter G. Rogge, Die amerikanische Hilfe für Westberlin. Von der deutschen Kapitulation bis zur westdeutschen Souveränität, Tübingen 1959, S. 206f. 509 Zitiert nach: Holz, Messestadt Berlin, S. 60. 510 Nach Rogge käme „rund die Hälfte des gesamten Messepublikums“ aus dem Ostsektor und aus der „Ostzone“. Vgl. Rogge, Die amerikanische Hilfe, S. 207. Das mag für einzelne Ausstellungen zutreffend gewesen sein, dürfte aber insgesamt darunter gelegen haben.

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formieren und sie mit dem Niveau im Staatssozialismus vergleichen konnten. Während andere konkurrierende Bereiche, etwa die Kunst, Unter- oder Überlegenheit in der Regel nur indirekt vermittelten und große Interpretationsspielräume boten, ermöglichten Messen und technische Ausstellungen unmittelbare, durch Fakten gesicherte Urteile sowie die Überprüfung subjektiver Annahmen und Vorurteile. Das traf auf beide konkurrierende Seiten zu. Doch zeigte die Entwicklung nach 1948 schnell, dass West-Berlin in Sachen industrieller und landwirtschaftlicher Ausstellungen weit mehr Menschen aus dem Osten an sich zog als die östlichen Pendants Besucher aus West-Berlin. Das besaß im Kalten Krieg schon an sich eine politische Bedeutung. Sie erhöhte sich mit den nicht ausbleibenden östlichen Gegenmaßnahmen und daraus folgenden konfrontativen Interaktionen. Beide Seiten gestalteten sie zunehmend ideologisch und verwerteten sie besonders im Westen propagandistisch.511 Nicht zufällig stand dabei die „Grüne Woche“ im Mittelpunkt der Konflikte. Zum einen stellte sie mit ihren Exponaten den jeweils neuesten Stand der westlichen Landwirtschaft und ihrer Erkenntnisse vor. Insofern bildete sie ein Gegenstück zur DDR-Agrarausstellung in LeipzigMarkkleeberg512 als sozialistischer Leistungsschau. Zum anderen verkörperten beide Expositionen unterschiedliche agrarpolitische Wege, Konzepte und Programme, warben im Westen für privatwirtschaftliche Modernisierungen und strukturelle Reformen sowie im Osten für genossenschaftliches Eigentum, sowjetische Produktionsmodelle und eigenes Neuererwesen. Der Senat legte die „Grüne Woche“ gezielt als eine gesamtdeutsche Begegnungsstätte an, die deshalb von „nationalpolitischer Bedeutung“ sei, weil sie nicht nur beruflichen Meinungs- und Erfahrungsaustausch biete, sondern auch „Kontakt von Mensch zu Mensch“. Die Ostdeutschen erlebten durch sie, so resümierte der Regierende Bürgermeister, dass Deutschland unteilbar sei.513 Sie sei aber eben nicht nur die „einzige Fachausstellung mit gesamtdeutschem Charakter“514, sondern „Ausdruck des gesamtdeut-

511 Besonders in der „Ära Reuter“. So erklärte der Reg. Bgm. angesichts des östlichen Besucherstroms zur 1. „Deutschen Industrieausstellung“ im Oktober 1950: „Wenn heute unsere Landsleute aus dem Osten in Scharen zu uns strömen, um hier […] zu sehen, was der Westen zu bieten hat, dann ist es eine der größten moralischen Niederlagen, die wir dem Osten beibringen können, mit friedlichen Mitteln, aber eine Niederlage, die ihm den Atem verschlägt.“ Zitiert nach Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter, S. 615. 512 Eine vergleichende historische Analyse beider Expositionen entsteht, wie in der Einleitung erwähnt, derzeit am ZZF Potsdam. 513 Vgl. Rede des Reg. Bgm. Suhr zur Eröffnung der „Grünen Woche“ 1955, 28.1.1955, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3591. 514 Vgl. Informationsdienst der Pressestelle der „Grünen Woche“, 7.2.1954, in: ebd.

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schen Bewußtseins“515, ergänzten Bundespräsident Theodor Heuss und andere. Die der „Grünen Woche“ zugesprochene Wiedervereinigungsfunktion ließ sie regelmäßig zum Podium für die führenden bundesrepublikanischen sowie WestBerliner Politiker und ihrer Einheitsbekenntnisse werden.516 Sie erhielt einen historischen Augenblick lang weltpolitischen Charakter, als ihre gesamtdeutschen Appelle die Teilnehmer der alliierten Berliner Außenministerkonferenz im Januar/Februar 1954517 erreichten. Von nachhaltiger Wirkung blieb jedoch ihre außerordentlich große Ost-Berliner Beteiligung518, für die SED das eigentliche Politikum. In der Tat wurde die Exposition für zahlreiche Ostdeutsche „zum Schaufenster einer begehrten Welt“, wie „Fox Tönende Wochenschau“ kommentierte.519 Viele Ost-Berliner kamen, um einfach zu schauen, ostdeutsche Landwirte, um sich fachlich zu informieren und sich mit westlichen Berufskollegen auszutauschen, andere wieder, um ihrem Ärger über die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie über die ganze SED-Agrarpolitik Luft zu machen.520 Das lag durchaus im Interesse des Senats und einer Vielzahl von nichtstaatlichen prononciert antikommunistischen Organisationen.521 Sie richteten „Kontaktstellen“ für Ostbesucher für alle möglichen Zwecke ein, vorrangig aber zur Diskussion „allgemeiner politischer Fragen“, etwa: „Wird denn in absehbarer Zeit eine Änderung [in der DDR] kommen, wie wird sie 515 Vgl. Rede von Bundespräsident Heuss auf der Kundgebung des Deutschen Bauernverbandes anlässlich der „Grünen Woche“, 27.1.1951, in: ebd., Nr. 572. 516 Vgl. z.B. die Rede Brandts auf der 25. „Grünen Woche“, 27.1.1961, in: ebd., Nr. 8030/1. 517 Vgl. Informationsdienst der Pressestelle der „Grünen Woche“, 7.2.1954, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3591. 518 1951 waren von 310.000 Besuchern der „Grünen Woche“ 144.000 Ostdeutsche; 1954 von 424.000 etwa 194.000 (1955: West=260.000, Ost=213.000). Vgl. u.a. in: ebd., Nr. 572 und Nr. 3591 sowie das Protokoll über die 17. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 5.1.1956, in: ebd., B Rep. 012, Nr. 184. 519 Vgl. „Fox Tönende Wochenschau. Die Stimme der Welt“, Nr. 35/40, 1.2.1952, in: Filmarchiv, Fehrbelliner Platz. 520 Vgl. die Reden des Bundeslandwirtschaftsministers Heinrich Lübke und des Vizepräsidenten der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft Frh. Dietz von Thüngen auf der „Grünen Woche“, 27.1.1956, in: LAB, B Rep. 002, Nr. 3609. 521 Die „Kontaktstellen“ rekrutierten sich aus dem „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ (UFJ), der KgU, dem „Ring politischer Jugend“, der „Arbeitsgruppe für gesamtdeutsche Fragen“, der „Vereinigung politischer Ostflüchtlinge“, dem „StaatsbürgerinnenVerband“, den „Deutsch-Balten“, dem „Bund der Verfolgten des Naziregimes“, dem „Landesverband der Heimatvertriebenen“ sowie dem „Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen“. Vgl. Information, undat. (Frühjahr 1956), in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2077.

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kommen?“522 Sicher ist, dass die „Grüne Woche“ einen geeigneten Ort für das Sammeln von Informationen aus der DDR bildete.523 Der Senat stimulierte das Interesse der Besucher aus Ost-Berlin und der DDR durch „politische Maßnahmen“ wie die Ausgabe von Verzehrbons, eine bereits bei der „Deutschen Industrieausstellung“ erprobte „Nägelspende“, die Bereitstellung von „Ostfahrkarten“ (1:1)524 sowie durch die Schaffung von kostenlosen Übernachtungsmöglichkeiten.525 Letzteres ging auf eine Initiative der US-amerikanischen Militäradministration zurück, die „ohne jede Rücksicht auf eine evtl. Sogwirkung“ dafür Finanzen „im reichlichen Maße“ anbot.526 Die SED wusste um den politischen Hintergrund der „Grünen Woche“ und ihre innenpolitisch destabilisierenden Wirkungen. Ihre Gegenstrategie fußte, wie gehabt, auf einer Verteufelung dieser Veranstaltung als Ort lediglich von Spionage und Agentenwerbung. Das glaubte jedoch kaum jemand. So erging es auch der hilflosen Denunziation der SED, die „Grüne Woche“ sei ein „Seuchenherd“, sie verbreite die Maul- und Klauenseuche sowie die Hühnerpest.527 Auch nahmen sich konkrete Gegenveranstaltungen wie das in Berlin-Wartenberg stattfindende Dorffest528 eher kläglich aus. Größere politische Effekte bei der Verhinderung von DDR-Besuchen auf der „Grünen Woche“ versprach sich das ZK der SED im Januar 1954 von kurzfristig angesetzten Kontrollen und Repres522 Vgl. ebd. 523 Vgl. Informationsdienst der Pressestelle der „Grünen Woche“, 5.1.1953, in: ebd., Nr. 573. 524 Die „Verzehrgutscheine“ wollte der Senat für die „Grüne Woche“ 1956 aus „räumlichen Schwierigkeiten“ aussetzen, nahm aber seinen Beschluss unter dem Druck des Abgeordnetenhauses zurück. Bei der „Nägel-Spende“ handelte es sich um „ein Pfund Nägel und Nähzeug“ für jeden Ostbesucher. Die Sache sei jedoch noch geheimzuhalten. Vgl. Senatsvorlage, 21.12.1955, in: ebd., Nr. 2068 und Protokoll der 17. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, 5.1.1956, in: ebd., Nr. 2068. 525 Vgl. u.a. Schreiben des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 5.3.1956 und von Carlbergh an Bgm. Kressmann, 28.8.1956, in: ebd., Acc. 1703, Nr. 2224–2226. Das Bundesministerium zögerte in der Übernachtungsfrage, weil es Gegenmaßnahmen der DDR im Reiseverkehr befürchtete. Senat und Abgeordnetenhaus setzten ihre Vorstellungen jedoch durch. Vgl. hierzu Protokoll über die 27. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, 6.9.1956, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2070 und undatierte Information (1956) in: ebd., Nr. 2154. 526 Die Sache müsste auch in Presse und Rundfunk bekanntgegeben werden, meinten die Amerikaner. Vgl. Schreiben von Carlbergh an Bgm. Amrehn, 9.2.1956, in: ebd., Acc. 1703, Nr. 2224–2226. 527 Vgl. Schwarze, Ärgernis oder Bindeglied, S. 32. 528 Vgl. Notiz der Abteilung Kultur der SED-BL Berlin, 6.1.1960, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 992.

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sionen, die es mit der Absicherung der alliierten Außenministerkonferenz in Berlin begründete.529 Die Taktik der Behinderung setzte sich 1956 vor allem mit „Reiseschikanen“ und Großeinsätzen der Volkspolizei fort530, führte aber nicht zu der von der SED gewünschten fühlbaren Einschränkung des östlichen Besucherverkehrs. Einen ähnlich großen östlichen Zulauf konnten die großen West-Berliner Industrieausstellungen für sich in Anspruch nehmen. Bereits von der 1. „Deutschen Industrieausstellung“ meldeten ihre Veranstalter eine besondere ostdeutsche Nachfrage, nicht zuletzt nach Werbematerial531, das trotz der Verbote und Kontrollen in die Heimatorte mitgenommen würde. Das unterstrich die politische Botschaft der Industrieexposition: Sie stelle der „minderwertigen HenneckeStachanow-Produktivität den alten deutschen Qualitätsbegriff gegenüber und demonstriert das Leistungsniveau der westlichen Hemisphäre […] Besser leben! Das ist der Fortschrittsglaube, den Berlin mit der westlichen Welt teilt.“ OstBerlin liege aber im Wirtschaftsgebiet der sowjetischen Besatzungszone, „die den Fortschritt lediglich auf Spruchbändern plakatiert“. Deshalb hätten Ausstellungen in West-Berlin „so ungeheure Bedeutung“532. Schon die 1. „Deutsche Industrieausstellung“ zählte bei insgesamt knapp 1,1 Mio. Besuchern etwa 440.000 ostdeut-

529 Das Politbüro beauftragte die Volkspolizei, während der „Grüne Woche“ zu kontrollieren, wer sein Dorf „für längere Zeit verlassen hat“. An den Grenzbahnhöfen nach Berlin seien die Bauern durch „Diskussionen“ vom Besuch der „Grünen Woche“ abzuhalten, und Schülern, Studenten und Lehrern von landwirtschaftlichen Fachschulen und universitären Fakultäten sei in dieser Zeit eine Fahrt nach Berlin zu untersagen u.a.m. Vgl. Protokoll Nr. 4/54 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 15.1.1954, in: SAPMOBArch, J IV 2/2/342, Bl. 10f. 530 Der Senat registrierte anlässlich der „Grünen Woche“ einen Großeinsatz der Volkspolizei, die die S-Bahnhöfe im „Zonenrandgebiet“ schlagartig besetzte, aber auch einen vollbesetzten Eisenbahnzug aus Sachsen zur „Grünen Woche“ für einige Stunden aufhielt, seinen Insassen die Ausweise abnahm und sie zwang, mit einem vorbereiteten Leerzug umgehend die Rückreise anzutreten. Der Vorortverkehr der DDR-Reichsbahn sei insgesamt eingeschränkt und – u.a. durch Pendelverkehr bei der S-Bahn – gezielt ein „Verkehrschaos“ herbeigeführt worden. Die VP habe auch vorübergehende Festnahmen von Reisenden durchgeführt. Berlins West-Ost-Probleme, Stand 15.6.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 46. 531 Vgl. undatierte Information (Herbst 1950), in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3363/1. Für die 1. „Deutsche Industrieausstellung“ seien über 2 Mio. Handzettel und Druckschriften sowie anderes Informationsmaterial mit einem Gesamtgewicht von 125 t produziert worden. 532 Vgl. Berlin-Treffpunkt der Welt. Heft 3: „Berlin ist eine Reise wert.“ Hrsg. vom Verkehrsamt der Stadt Berlin, Berlin 1952, S. 40.

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sche Gäste.533 Als 1959 im Rahmen der Industrieausstellung erstmals nach dem Krieg wieder eine Automobilschau stattfand, zog sie verständlicherweise viele OstBerliner in ihren Bann.534 Dabei lockten auch die Verzehrbons des Senats sowie Eintrittspreise 1:1. Ost-Berliner Gegenveranstaltungen, wie eine große französische Eisrevue in der Werner-Seelenbinder-Halle535, änderten daran wenig. Allerdings zog die seit Mitte der fünfziger Jahre an Attraktivität gewinnende Leipziger Herbstmesse potenzielle Besucher von der gleichzeitig stattfindenden Industrieausstellung ab, was den Senat ernstlich besorgte.536 Zu größeren Industrieausstellungen in Ost-Berlin sahen sich Partei und Regierung trotz weitreichender Planungen537 aus finanziellen Gründen nicht in der Lage. Auch fragte sich angesichts des Mangels an modernem industriellen Know how und technischen Konsumprodukten, was man eigentlich ausstellen sollte. War die Planwirtschaft dazu begrenzt imstande, lief die SED Gefahr, dass sie bei der Bevölkerung per Ausstellungen Bedürfnisse weckte, die von der Produktion dann nicht befriedigt werden konnten. Die einzige, jährlich stattfindende, größere industrielle Exposition in Ost-Berlin blieb die Campingausstellung. Sie resultierte auch aus der richtigen Erkenntnis der SED, dass die Campingmöglichkeiten in Ost-Berlin und der DDR ausgebaut werden müssten, um sowohl die Defizite an festen Urlaubs- und Touristikunterkünften als auch den Mangel an Auslandsreiseangeboten zu kompensieren. Wenngleich die DDR-Campingproduktion im internen industriellen Ver533 Vgl. Holz, Messestadt Berlin, S. 64. 534 Der Osten habe eben nichts Gleichwertiges anzubieten. Die Zahl der Autoschau-Besucher aus dem kommunistischen Machtbereich sei mit ca. 250.000 anzusetzen. Vgl. Schreiben von Völcker an Bgm. Amrehn, 14.7.1959, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1703, Nr. 2221. 535 So wurde der SED-Führung gemeldet, dass manche Arbeiter täglich zur Industrieausstellung nach West-Berlin führen. Einer von ihnen aus Oberschöneweide meinte, „er bekommt dort einen Bon für 1,50 West, dafür kann er sich als Besucher der ‚Zone‘ Bier und Zigaretten kaufen. Karten für die Werner-Seelenbinder-Halle würden ja verschoben an die vollgefressenen Bonzen, in den Betrieben an Partei- und BGL-Funktionäre, Arbeiter würden keine bekommen.“ Abteilung Leitende Organe der SED-BL Berlin: „Argumentationen“, 27.9.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 614. 536 Suhr führte gegenüber den Westalliierten aus, dass die Leipziger Messe der „Deutschen Industrieausstellung“ in Berlin „einem gewissen Abbruch tue“. Der Senat trage sich mit dem Gedanken, sie deshalb „thematisch etwas umzuwandeln“. „Vermerk über die Kommandantenbesprechung bei General Gize am Dienstag dem 27.März 1956“, 27.3.1956, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 4800. 537 Eine große Rundfunk- und Fernsehausstellung, eine Nahrungs- und Genussmittel – sowie eine Industriemesse waren seit 1953 immer wieder geplant, aber nicht realisiert worden. Allerdings fanden in Ost-Berlin kleinere Veranstaltungen statt – beispielsweise Sport- und Foto-, aber auch Briefmarkenexpositionen. Vgl. Materialien des Stellv. OB Fechner, 5.1.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238.

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gleich relativ gut abschnitt, was ihre Exposition auswies, stand sie in unmittelbarer Konkurrenz zu ihrem leistungsstärkeren westlichen Pendant, dessen Wassersportund Campingausstellung in West-Berlin regelmäßig wenige Tage vor der OstBerliner stattfand. Die unmittelbare Vergleichsmöglichkeit beeinflusste letztere ebenfalls nachhaltig.538 Kein eigentliches Gegenstück besaßen einige WestBerliner Expositionen, wie die in einem anderen Zusammenhang bereits erwähnte Internationale Bauausstellung vom 6. Juli bis 29. September 1957, die zeitweilig parallel zur Interbau-Industrieausstellung auf dem Messegelände am Funkturm stattfand. Vom Senat großzügig subventioniert, zogen einige Attraktionen (Seilbahn, Geländebahn, Tunnelbahn, Schaukran) besonders junge Ost-Berliner an. Allein auf der Interbau-Industrieausstellung zählten die Veranstalter in 16 Tagen 146.000 Ostdeutsche (bei insgesamt 448.350 Besuchern).539 Vor allem OstBerliner Jugendliche drängten in die Doppelausstellung und „schummelten“ häufig.540 Zwar existierte auf der „Stalinallee“ eine „Ständige Deutsche Bauausstellung“, die anlässlich der West-Berliner Exposition verbessert sowie erweitert werden sollte, um die Überlegenheit sozialistischen Bauens zu beweisen541, aber auch kleinere Ost-Berliner Konkurrenzveranstaltungen dämmten den Besucherstrom nach West-Berlin nicht wirklich ein. Ausstellungen im geteilten Berlin blieben bis zum Mauerbau immer eine politische Größe. Besonders nach dem Beginn der zweiten Berlinkrise verfolgten beide Seiten die Bemühungen des jeweiligen Konkurrenten um eine große politische Berlin-Ausstellung besonders aufmerksam. Als das Landesamt für Verfassungsschutz dem Senat die Ablichtungen einer vom Politbüro der SED geplanten Berlin-Ausstellung (auf 5.000 Quadratmeter) zur Position der DDR in der Berlinfrage zum Einsatz in Ost-Berlin und in den „Volksdemokratien“ übermittelte, erwog er, falls eine „Gegenausstellung“ in Frage käme, sie angesichts begrenzter Mittel „auf das Selbstbestimmungsrecht für ganz Deutschland abzustellen“.542 Offenbar kam eine derartige Berlin-Ausstellung in 538 Vgl. Berlin-Werbung Berolina: „Auswertung der IV. Ausstellung „Wassersport, Wochenend und Urlausbfreuden 1959“, 14.5.1959, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 40. 539 Vgl. Protokoll über die 36. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, 20.6.1957 und undatierte Informationen, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Bd. 2069 und Bd. 2165. 540 Die Veranstalter klagten, dass die jungen Leute die 1:1 Regelung bei den Verzehrbons dadurch „mißbrauchen“, dass sie mehrmals durch die Kassensperren gingen und sich „jeweils einen neuen Verzehrbon kauften, auf den sie sich Zigaretten besorgten“. Vgl. ebd., Nr. 2070. 541 Vgl. Vorlage an das Büro der SED-BL: „Einleitung von politischen und organisatorischen Maßnahmen, die sich aus der Durchführung der Internationalen Bauausstellung in Westberlin ergeben …“, 15.5.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 291, Bl. 57–59. 542 Schreiben von Egon Bahr (Chef der Senatskanzlei) an Brandt und Amrehn, 5.7.1961, in: ebd., B Rep. 002, Nr. 3373.

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den USA auch ohne die Realisierung des konkurrierenden SED-Plans kurzfristig zustande.543

6. Bildung, Hochschule und Sport 6.1 Die Schulkonkurrenz im geteilten Berlin Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war dem Neuaufbau des Schulwesens in Berlin sowohl von deutschen Politikern als auch den Alliierten nicht zuletzt deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden, weil die Schule von 1933 bis 1945 ein Hort des nationalsozialistischen Ungeistes war. Es galt, ihn mit Stumpf und Stil auszurotten. Damit verbunden musste die konstruktive Aufgabe der Schule sofort in Angriff genommen werden: Die Schaffung eines demokratischen Schulwesens, das zur Umgestaltung der deutschen und Berliner Gesellschaft optimal beitrug. Vielen Bildungspolitikern war dabei klar, dass die Schule bereits vor 1933 nicht mehr den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft entsprochen hatte und an Haupt und Gliedern erneuert werden musste. Konzepte für durchgreifende strukturelle Veränderungen konnten an die Ideen der linksbürgerlichen Schulreformer aus der Weimarer Republik anknüpfen, die in Berlin über eine vergleichsweise starke Position verfügten. Es war nicht zuletzt ihrem Einfluss zuzuschreiben, dass sich in Berlin das Modell der Einheitsschule durchsetzte. Als „grundsätzliche demokratische Reform des Bildungswesens“ mit Schulgeld- und Lernmittelfreiheit sowie Koedukation bildete es die Grundlage für das Mitte November 1947 im Abgeordnetenhaus verabschiedete „Berliner Schulgesetz“. Damit hatte sich mit den Stimmen von SPD, SED und LDPD das demokratische Prinzip der „Einheitlichkeit des gesamten Bildungswesens“ gegen den Widerstand der CDU durchgesetzt, die in der im Juni 1948 eingeführten Einheitsschule eine Entdifferenzierung von Bildungsmöglichkeiten und letztendlich „sozialistische Gleichmacherei“ sah.544 Ein bereits „erbittert geführter Kulturkampf“545 in der ehemaligen Reichshauptstadt hatte aber noch andere Ursachen: Die politische Auseinandersetzung in der formal noch einheitlich regierten Stadt nahm stärker konfrontative Züge an. Als das Gesamtberliner Schulgesetz am 1. Juni 1948 in Kraft trat, war die Einheitlichkeit des Schulwesens in der Stadt bereits durch die Alliierten Vorbehaltsrechte in den jeweiligen Sektoren, mehr aber noch durch die

543 Vgl. Information der Senatskanzlei (Kettlein), 7.8.1961, in: ebd. 544 Vgl. Conradt/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 82. 545 Vgl. ebd., S. 90.

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den USA auch ohne die Realisierung des konkurrierenden SED-Plans kurzfristig zustande.543

6. Bildung, Hochschule und Sport 6.1 Die Schulkonkurrenz im geteilten Berlin Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war dem Neuaufbau des Schulwesens in Berlin sowohl von deutschen Politikern als auch den Alliierten nicht zuletzt deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden, weil die Schule von 1933 bis 1945 ein Hort des nationalsozialistischen Ungeistes war. Es galt, ihn mit Stumpf und Stil auszurotten. Damit verbunden musste die konstruktive Aufgabe der Schule sofort in Angriff genommen werden: Die Schaffung eines demokratischen Schulwesens, das zur Umgestaltung der deutschen und Berliner Gesellschaft optimal beitrug. Vielen Bildungspolitikern war dabei klar, dass die Schule bereits vor 1933 nicht mehr den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft entsprochen hatte und an Haupt und Gliedern erneuert werden musste. Konzepte für durchgreifende strukturelle Veränderungen konnten an die Ideen der linksbürgerlichen Schulreformer aus der Weimarer Republik anknüpfen, die in Berlin über eine vergleichsweise starke Position verfügten. Es war nicht zuletzt ihrem Einfluss zuzuschreiben, dass sich in Berlin das Modell der Einheitsschule durchsetzte. Als „grundsätzliche demokratische Reform des Bildungswesens“ mit Schulgeld- und Lernmittelfreiheit sowie Koedukation bildete es die Grundlage für das Mitte November 1947 im Abgeordnetenhaus verabschiedete „Berliner Schulgesetz“. Damit hatte sich mit den Stimmen von SPD, SED und LDPD das demokratische Prinzip der „Einheitlichkeit des gesamten Bildungswesens“ gegen den Widerstand der CDU durchgesetzt, die in der im Juni 1948 eingeführten Einheitsschule eine Entdifferenzierung von Bildungsmöglichkeiten und letztendlich „sozialistische Gleichmacherei“ sah.544 Ein bereits „erbittert geführter Kulturkampf“545 in der ehemaligen Reichshauptstadt hatte aber noch andere Ursachen: Die politische Auseinandersetzung in der formal noch einheitlich regierten Stadt nahm stärker konfrontative Züge an. Als das Gesamtberliner Schulgesetz am 1. Juni 1948 in Kraft trat, war die Einheitlichkeit des Schulwesens in der Stadt bereits durch die Alliierten Vorbehaltsrechte in den jeweiligen Sektoren, mehr aber noch durch die

543 Vgl. Information der Senatskanzlei (Kettlein), 7.8.1961, in: ebd. 544 Vgl. Conradt/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 82. 545 Vgl. ebd., S. 90.

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Anpassung der Ost-Berliner an die sowjetzonale Schulpraxis, in Frage gestellt.546 Zog man auf der anderen Seite die Opposition der CDU und der sie alsbald unterstützenden FDP mit ins Kalkül, so verstärkte sich der Eindruck einer im Alltag zunehmenden Diskrepanz zwischen der Einheitsschule in Ost- und der in WestBerlin. Dazu trug faktisch auch die starke Berliner SPD bei. Zwar hob sie die formal noch von der SED geteilten Erziehungsmaximen – Toleranz, Geistesfreiheit und soziale Gleichheit – heraus, richtete sie aber zunehmend gegen ihren bildungspolitischen kommunistischen Partner, wenn sie diese Grundsätze als „Abwehr gegen jede dogmatische Ideologie, sei sie sowjetisch, totalitär oder konfessionell“, interpretierte.547 6.1.1 Die Auseinandersetzung um die Berliner Einheitsschule und die Offensive der SED Mit dem Beginn der ersten Berlinkrise versteifte sich der konservativ-liberale Widerstand gegen die Einheitsschule. Unter dem Eindruck der drohenden Teilung der Stadt kritisierte die bürgerliche Presse die am Schulgesetz festhaltende Mehrheit im Abgeordnetenhaus, weil sie die Stadt dadurch auf den „Weg der Schule in der Ostzone“ bringe.548 Nach dem politischen Vollzug der städtischen Spaltung erhob die CDU West-Berlins folgerichtig die Forderung, die „rote Einheitsschule“ mit ihren „einseitig marxistischen“ Tendenzen als „Überbleibsel der sozialistischkommunistischen Blockpolitik von 1946/48“ zu beseitigen. Schließlich leide die Glaubwürdigkeit der West-Berliner Administration, wenn ihre Schulpolitik im Kalten Krieg an Gemeinsamkeiten mit der SED-Politik festhalte, zumal die Teilstadt die besondere Aufgabe habe, „bis zur Wiedervereinigung Deutschlands westliche Kultur für alle Menschen aus der sowjetisch besetzten Zone […] anzubieten“.549 In den von der Bundesregierung massiv unterstützten Forderungen der CDU und der FDP nach Angleichung des West-Berliner Schulwesens an das der westdeutschen Länder zeigte sich deutlich ein Integrationskonflikt: Man wolle nicht sechstes Land der Ostzone, sondern 12. Land der Bundesrepublik werden, und so müssten das Schulsystem der Stadt und der Bundesrepublik miteinander kompatibel sein. Die West-Berliner SPD argumentierte hingegen andersartig 546 „Organisatorische Veränderungen, didaktische Umorientierungen und SED-Personalpolitik in Ostberlin“ hatten erheblich dazu beigetragen. Marion Klewitz, Berliner Einheitsschule 1945–1951. Entstehung, Durchführung und Revision des Reformgesetzes von 1947/48 (= Historische und Pädagogische Studien; Bd. 1, hrsg. von Otto Büsch und Gerd Heinrich), Berlin (W) 1971, S. 238. 547 Vgl. ebd., S. 235. 548 Vgl. Conradt/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 82. 549 Klewitz, Berliner Einheitsschule, S. 235.

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integrativ: Sowohl die angestrebte Wiedervereinigung als auch die bildungspolitische Einbindung der nach West-Berlin strömenden Ostflüchtlinge geböten die Beibehaltung der Einheitsschule, vor allem der achtklassigen Grundschule.550 Deren Verteidiger hatten aber schon insofern die „schlechteren Karten“, als nicht nur die Integration West-Berlins in das System der Bundesrepublik einen alternativen schulpolitischen Weg verbot, sondern er auch dem vom Kalten Krieg gesetzten Imperativ westlicher Solidar- und Bündnispolitik widersprach. So konnte die SPD ein Schulgesetz, in dem ihre Kontrahenten sozialistisches Ideengut und ein kommunistisches Instrument sahen, unter diesem Vorzeichen nicht dauerhaft halten. Bis Ende 1950 rangen ihr die CDU und die FDP in der Frage der Einheitsschule lediglich einige Konzessionen ab; die neue West-Berliner SPD-CDU-Koalition schaffte die „rote Einheitsschule“ im Dezember 1950 hingegen ganz ab: Der neue West-Berliner Senat unter Führung Reuters führte ab 17. Mai 1951 eine sechsjährige Grundschule und drei geschlossene Oberschulzweige ein. Zwar ging das der „abendländisch“ argumentierenden551 CDU noch nicht weit genug – sie verlangte auch private und konfessionelle Schulen –, doch „punktete“ sie machtpolitisch. Insofern ist das Urteil von Marion Klewitz über das West-Berliner restaurative Schulprogramm in den folgenden Jahren bedenkenswert: Dessen eigentliche Ursachen seien nicht in der sowjetisierten Einheitsschule in Ost-Berlin und nicht in der Bindung der Teilstadt an die Bundesrepublik zu suchen, sondern vielmehr in der Absicht von CDU und FDP, im Umfeld des Ost-WestGegensatzes ein antisozialdemokratisches innenpolitisches Instrument zu schaffen.552 Dieser Konflikt wirkte auch auf die Ost-Berliner Bildungspolitik ein, deren erklärtes Ziel es blieb, das Berliner Schulgesetz von 1947/48 als das „bis dahin demokratischste Schulgesetz in Deutschland“ zu erhalten. Tatsächlich hielt die SED an der Einheitsschule fest, weil sie diese in Ost-Berlin praktisch nach ihren Vorstellungen und Bedürfnissen gestalten und damit gleichzeitig gegen die Beseitigung der „von der gemeinsam kämpfenden Arbeiterklasse durchgesetzten Errungenschaften“ im Schulwesen West-Berlins vorgehen konnte. Die schrittweise Revision des gemeinsamen Schulgesetzes sah sie als einen Ausdruck der „Wieder550 Vgl. ebd., S. 241. 551 So erklärte der CDU-Politiker Ernst Lemmer auf dem CDU-Landesparteitag am 28./29.4.1951, dass es bei dieser „Reformierung unseres Schulwesens auch um die Reform seiner […] geistigen Struktur (geht)“, nämlich darum, „daß die Schule dieser gefährdeten, für die Freiheit kämpfenden Stadt eine andere Seele bekommt. [Beifall] Eine Seele, die stärker und deutlicher die Verwurzelung unserer Jugenderziehung in dem alten Mutterboden unseres christlichen Abendlandes erkennt“. Zitiert nach: ebd., S. 331. 552 Vgl. ebd., S. 242.

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herstellung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“ und des „reaktionären Kurses“ des West-Berliner Magistrats, der die Unterdrückung aller „demokratischen Regungen und Bestrebungen im Westberliner Schulwesen“ beabsichtige.553 Doch war in allen politischen Lagern Berlins klar: Das Kippen der Einheitsschule im Westen würde Konsequenzen vor allem für Schüler haben, die auf der Grundlage des Gesamtberliner Schulgesetzes die freie Wahl des Schulortes innerhalb der Stadt nutzten, die in der einen Teilstadt wohnten, aber in der anderen lernten. Die Aufhebung des einheitlichen Schulsystems in West-Berlin zwang die ostdeutschen Politiker zu neuen Regelungen. Im Dezember 1950 erging ein neues DDR-Schulgesetz. Unter Einschluss Ost-Berlins, für das es die SED eigentlich schuf, legte es alle Bürger ausschließlich auf die Beschulung ihrer Kinder in den Schulen der DDR fest.554 Gleichzeitig setzten die regionale SED und der Ostmagistrat auf Geheiß des SED-Politbüros eine propagandistische Kampagne gegen den „Abbau der Schulreform“ in West-Berlin in Gang. Sie zielte dort vorrangig auf sozialdemokratische und „andere fortschrittlich eingestellte Eltern und Elternbeiratsmitglieder“ und sollte durch Proteste, Resolutionen und Versammlungen die Wiedererrichtung der „reaktionären Standesschule“ verhindern.555 Die energisch betriebene Offensive fand dort bei einer Reihe von Anhängern der Einheitsschule zunächst einige Resonanz. Dabei geriet die SPD-Führung besonders in die Schusslinie, weil sie dem „Feldzug der Reaktionäre gegen das Einheitsschulgesetz“ nur geringen Widerstand entgegengesetzt habe und ihnen gegenüber zum „Kuhhandel“ bereit sei. Natürlich befürchteten die SED und ihre Verbündeten, dass die West-Berliner Schule nun zu einer „antikommunistischen Bastion“ ausgebaut würde556 und ein besonderer Konkurrenzkampf mit ungewissem Ausgang entbrennen würde. Doch lautete der Parteiauftrag für jeden denkbaren Fall, dass die „Schule im demokratischen Sektor“ als Gesamtberliner Modell herausgestellt werden müsse. Als Vorbild für West-Berlin habe sie der Entwicklung entgegenzuwirken. Aus dieser Aufgabenstellung resultierten Maßnahmen im Ost-Berliner Schulwesen, die eine fühlbare Verbesserung der östlichen Konkurrenzsituation

553 Ausschuß für Deutsche Einheit (Hrsg.), Das Schulwesen in Westberlin, Berlin (O) 1958, S. 2. 554 Vgl. LAB, B Rep. 015, Acc. 1382, Nr. 8. 555 Anlage Nr. 8 zum Protokoll Nr. 58 vom 9.4.1951 (offenbar der Sitzung des Politbüros): „Die nächsten Aufgaben im Kampf gegen den Abbau der Schulreform in Westberlin“, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 388. 556 Vgl. Karl-Heinz Füssl/Christian Kubina, Berliner Schule zwischen Restauration und Innovation. Zielkonflikt um das Berliner Schulwesen 1951–68, Frankfurt am Main/Bern 1983, S. 39f.

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beabsichtigten.557 Dabei war vor allem der Nachweis zu erbringen, dass Ost-Berlin nicht nur mehr Leistungen für die schulische Bildung erbringe und mehr finanzielle Mittel für sie bereitstelle, sondern auch das schulische Umfeld besser ausstatte – etwa die Schulspeisung558, die Vorschule, die Kindertagesstätten559 sowie außerschulische Einrichtungen.560 Außerdem seien die Ost-Berliner kindgemäßen Frei557 Als Vorbild für ganz Berlin sollten an den Grundschulen bis zum 1.1.1952 50 neunte Klassen geschaffen werden. Das Projekt wurde jedoch, offenbar aus finanziellen und personalpolitischen Gründen, eingestellt. Der Magistrat beschloss im Weiteren die Einrichtung von mindestens einer Schule pro Stadtbezirk mit einem bestimmen fachlichen Schwerpunkt („Schwerpunktschulen“), die Vermehrung von Berufsschulen sowie den Einsatz „neuzeitlicher Unterrichtsmittel“ (Film, Lichtbild, Tonträger). Alle Grundschulen sollten ein Pionier-, die Ober- und Berufsschulen ein FDJ-Zimmer erhalten. Ein besonderes Augenmerk legte der Magistrat auf die Verbesserung der Lehrkraftsituation: Alle Stellen seien sofort zu besetzen und für die Leitungsebenen mehr junge Kader vorzubereiten. Sie sollten u.a. die neu zu schaffende Stelle des stellvertretenden Schulrats besetzen und zu 50 Prozent die Schulleiterstellen. Mindestens 25 Prozent der stellvertretenden Schulleiter müssten Frauen sein. Überdies billigte der Magistrat den Schulleitern und ihren Stellvertretern Abminderungsstunden zu. Vgl. „Maßnahmen zur Leistungssteigerung der Schulen und zur organisatorischen Verbesserung der Schularbeit“, Magistratsvorlage Nr. 694 für die Sitzung am 5.5.1951, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 857, Nr. 69. 558 Vgl. Vermerk: „Schulspeisung im Ostsektor“, 4.1.1950, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 246. Aus dem Vermerk ging u.a. hervor, dass die tägliche Schulspeisung im Osten mehr Kalorien als die in West-Berlin habe. 559 Zügiger als in West-Berlin wurden im Ostteil der Stadt Kindertagesstätten und Horte ausgebaut und dafür neue Stellen geschaffen – allein im Mai 1953 etwa 200. Sie wurden über den Mechanismus kurzfristig ausgebildeter Erziehungshilfskräfte besetzt und sollten zur Lösung der „bisher nicht gelösten Frage der ‚Schlüsselkinder‘“ beitragen. Der Ausbau der Schulhorte enthob im Verständnis des Magistrats „die arbeitenden Mütter der ca. 30.000 vorhandenen Schlüsselkinder der täglichen Sorge um ihre Kinder, während sie selbst beruhigter ihrer Beschäftigung nachgehen können“. Die für Kinder unter sechs Jahren vorgesehenen Kindertagesstätten gäben „aufbauwilligen arbeitsfreudigen Müttern die Möglichkeit, sich in die Produktion einzureihen“ und bereiteten die Kinder auf den Schulbesuch vor. Magistratsvorlage Nr. 126 für die Sitzung am 5.6.1953, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 886. 560 Hier handelte es sich um Arbeitsgemeinschaften, Klubs, Pionierhäuser und -parks, Stationen (der Jungen Naturforscher, Techniker, Touristen), Sportgruppen u.a.m. Sie pflegten Neigungen und Hobbys, sollten aber politisch die Aufgabe wahrnehmen, die „Jungen Pioniere und Schüler in der Liebe zu ihrer Heimat, in die Ergebenheit gegenüber dem deutschen Volk und im Vertrauen zur Arbeiterklasse […] zu erziehen. Sie sollen die kulturelle Massenarbeit unter den Kindern auf dem Gebiete der Wissenschaft und Technik, der Literatur und Kunst, des Spiels und der Arbeit, der Gymnastik und des Sports anleiten und auf breiter Basis entwickeln. Sie sollen […] die Liebe zu den Berufen erwecken, die für den planmäßigen Aufbau des Sozialismus von besonderer Bedeutung sind. Sie helfen der Schu-

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zeitangebote ungleich besser als in West-Berlin. Entsprechende Botschaften kamen dort an – nicht zuletzt im Senat und bei den mit Schule und Jugendarbeit befassten Organisationen. Wie noch zu sehen sein wird, nahmen viele WestBerliner Schüler, mochten sie in der Mehrheit auch aus linken Milieus stammen, die Freizeitangebote Ost-Berlins an. Für sie, nicht nur für die Kinder im sowjetischen Sektor, gab der Ostmagistrat viel Geld aus.561 Ob Schulwanderungen oder „konkurrierende“ Weihnachtsfeiern562; solche Aktionen waren gesamtstädtisch angelegt, und sie erhöhten nicht nur die Sympathien für den sichtbar kinderfreundlichen Kurs des Ostens, sondern warben auch für dessen Schul- und Bildungssystem. Das verunsicherte die westlichen Bildungsoffiziellen. Kontaktversuche Ost-Berliner Schulen wiesen sie teilweise brüsk zurück563 und ignorierten alle jugendpolitischen Angebote des Magistrats, so durchschaubar sie auch waren und so sehr dieses Verhalten des Senats der SED ins Kalkül passte. Demgegenüber besaß er weder ein Konzept für die Gewinnung der eigenen noch gar für die OstBerliner junge Generation. Schüler- und Jugendbegegnungen stand er häufig skeptisch und defensiv gegenüber. Auch sei seine „Gegenpropaganda“ völlig unzureichend, und sie gebe der ostdeutschen Jugend nichts, wie beispielsweise die Evangelische Jugend mokierte.564 Tatsächlich hatte der Westen das „Buhlen“ der SED um

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le und der Pionierorganisation […] bei der Erziehung der heranwachsenden Generation zu Kämpfern für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus.“ „Verordnung über die außerschulischen Einrichtungen“, Februar 1953, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 876, Bl. 34. Der Magistrat stellte beispielsweise für die sommerlichen Schulwanderungen 1952 etwa 624.000 Ostmark mit der besonderen Auflage zur Verfügung, West-Berliner Kinder dabei mit der gleichen finanziellen Zuwendung (acht Ostmark pro Person) zu berücksichtigen wie die Ost-Berliner Teilnehmer. Vgl. Magistratsbeschluß Nr. 941, 16.4.1952, in: ebd., Nr. 865, Bl. 56. Vgl. dazu auch Nr. 865, Bl. 53f. Als der stellvertretende Ost-Berliner OB Fechner im Dezember 1953 erfuhr, dass der Senat für 50.000 Ost-Berliner Kinder in West-Berlin Weihnachtsfeiern mit Geschenkpaketen plane, schlug er Ebert als Gegenmaßnahme vor, 15.000 Kinder von West-Berliner Erwerbslosen zum Ost-Berliner Weihnachtsmarkt und zu Weihnachtsveranstaltungen einzuladen und zu beschenken. Gleichzeitig meldete er ähnliche Weihnachtsaktionen der FDJ, des FDGB und der Jungen Pioniere für etwa 3.000 West-Berliner Kinder. Vgl. Schreiben von Fechner an OB Ebert, 4.12.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. Schulen in Ost-Berlin hatten demonstrativ „Patenschaften“ für West-Berliner Schulen übernommen, mit denen sie in engere Verbindung zu treten gedachten. Die West-Berliner Schulbehörde wandte sich dagegen und ordnete an, den Briefverkehr zwischen „Ostsektoralen mit Westberliner Schulen“ zu unterbinden. Vgl. Protokoll Nr. 58 der Gesamtkonferenz der Schulräte vom 7.5.1952, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 98, Bl. 2. Vgl. Michael Schmidt, Jugendarbeit im Schatten des Kalten Krieges, in: Gruppenleben und politischer Aufbruch. Zur Geschichte der Jugendverbandsarbeit und des Landesju-

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die junge Generation im Berliner Schulkampf erkannt565, doch vermochte er deren gezielter schul- und jugendpolitischen Förderung kaum etwas Gleichrangiges entgegenzusetzen. Nach 1949 fehlte es an finanziellen Mitteln, mehr aber noch an durchsetzbaren Ideen zur Realisierung der an sich banalen Einsicht, dass die Zukunft der Stadt in ihrer Jugend liege und sich nicht auf die Schulbildung beschränke. Nur langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Westen ein Gegengewicht zu den erheblichen kommunistischen Leistungen und zur Ostpropaganda schaffen müsse und es nicht angehe, „daß in Westberlin die Millionenzahlen für die jugendpflegerischen Arbeiten des Ostsektors und der Ostzone bekannt werden, wenn gleichzeitig […] von Westberlin Mittel für diese Ausgaben weiter erheblich reduziert werden“.566 Auch blieb der 1953 vom West-Berliner Landesjugendring geforderte „Ost-West Begegnungsfond“ aus. Ein Wandel deutete sich erst 1955 an, als finanzielle Zuwendungen der amerikanischen Besatzungsmacht und der Bundesregierung stärker zu fließen begannen.567 Wenngleich die Ost-Berliner Führung an der bildungs- und jugendpolitischen Front einige Erfolge verbuchte, liefen ihre „Volksfront“-Bemühungen gegen den weiteren Abbau der Einheitsschule in West-Berlin zunehmend ins Leere. Die Gliederung der West-Berliner weiterführenden Schulen in Oberschule Praktischer Zweig (OPZ) und Oberschule Technischer Zweig (OTZ) bezeichnete die SED – wie auch linke Sozialdemokraten – als „Etikettenschwindel“, weil nur die Oberschule Wissenschaftlicher Zweig (OWZ) eine Oberschule im „echten Sinn“ sei, sie aber beinahe ausschließlich von den Kindern der besitzenden Schichten besucht werde. Ein politisches Ärgernis sahen die Kritiker in der SED und WestBerliner Linken in der Wiedereinführung des Beamtenstatus für West-Berliner Lehrer (1953/54), der deren „quasi politische Entmündigung“ bedeutete, sowie in der Reduzierung des Mitbestimmungsrechtes der nur noch ehrenamtlichen Elternausschüsse (1957), die „dem Lande Berlin zur Treue verpflichtet“ würden. Besondere Kritik rief die durch § 131 des Grundgesetzes ermöglichte Übernahme gendrings Berlin zwischen den fünfziger und siebziger Jahren, hrsg. vom Landesjugendring Berlin, Berlin 1993, S. 45. 565 Der Osten versuche „rücksichtslos […] mit seinen Propagandamethoden an unsere Jugendlichen heranzukommen“. Der Senat schlussfolgerte, dass die Betreuung der Jugend „nicht ernst genug genommen werden (kann)“ und sie eine wichtige Aufgabe sei, „besonders in Berlin, dem politischen Vorposten“. Vgl. Senator für Arbeit/Senator für Volksbildung/Hauptjugendamt (Hrsg.), Die Jugend in West-Berlin, Denkschrift zur Jugendnot, Berlin (W) 1961, S. 3. 566 Vgl. Schreiben des Hauptjugendamtes an den Finanzsenator, 7.8.1950, zitiert nach: Schmidt, Jugendarbeit, S. 46. 567 Vgl. Schmidt, Jugendarbeit, S. 46.

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von „vielen Nazis“ in den Schuldienst, auch in gehobene Dienstpositionen, hervor. Ebenfalls erregte sie die Einführung der Fächer Gemeinschaftskunde und „Ostkunde“. In der Tat gab das faktisch revisionistische Unterrichtsziel der Ostkunde, die „von fremden Mächten verwalteten deutschen Ostgebiete in ihrer geschichtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung für Deutschland […] ständig nahezubringen“ sowie die intellektuelle Negierung der Oder-NeißeGrenze, beispielsweise in Schulatlanten, Anlass für berechtigte Kritik. Bildungsund sozialpolitisch beurteilten die Befürworter der Einheitsschule die ab 1954 wieder zugelassenen privaten und konfessionellen Schulen in West-Berlin als ein Instrument für das „Bildungsprivileg der Reichen“.568 6.1.2 Schulpolitische Wechselwirkungen Die schul- und jugendpolitische Entwicklung in den Westsektoren stand mit der Ost-Berlins in einem engen Wechselverhältnis. Das zeigte sich insbesondere in der Frage der Finanzierung von Schulbildung, in der Ost-Berlin, noch über die Mitte der 50er Jahre hinaus, im Vergleich besser als der West-Berliner Konkurrent abschnitt569, und in der fortschreitenden Einbeziehung der Institution Schule in die ideologisch geleitete Systemauseinandersetzung. Wenn beide Seiten den Vergleich von Bildungsinhalten weitgehend aussparten, aber dennoch Überlegenheit demonstrierten, war ihnen der hohe öffentliche Stellenwert der materiellen und personellen Ausgestaltung der Schulen bewusst, aber auch die in Ost und West ähnlichen Folgeprobleme.570 Auf ideologischem Gebiet verbanden sie die Rechtmäßigkeit und den Führungsanspruch ihrer Bildungssysteme „dialektisch“ mit den Überlegenheitsaxiomen ihrer Gesellschaftsordnungen. Hier sah sich die östliche Seite auch deshalb immer wieder in die Offensive gedrängt, weil sie Schule und 568 Ausschuß für Deutsche Einheit, Das Schulwesen, S. 5. 569 Der Senat gab 1956 pro Grundschüler 304,68 und pro Oberschüler 567,17 Westmark aus, der Magistrat jeweils 508 und 999 Ostmark. Die östliche Vergleichsangabe ist zwar problematisch, weil sie West- und Ostmark wertgleich setzte, doch bleibt ein relativer finanzieller Mehraufwand des Ostens erkennbar. Vgl. Ausschuß für Deutsche Einheit (Hrsg.) Das Schulwesen, S. 19. 570 Anfang 1957 wurde in sechs von 12 West-Berliner Bezirken der Unterricht noch schichtweise erteilt, in Ost-Berlin nur noch an drei Schulen; die Klassenfrequenz in den Grundschulen betrug im Westen durchschnittlich 36, im Osten 32 Schüler, die Pflichtstundenzahl der Grundschullehrer in West-Berlin 29, in Ost-Berlin 28 (26 in der Mittelstufe). Dort fehlten zum Berichtszeitpunkt 50 Klassenräume (im Westen 430) und 28 Turnhallen (im Westen 322). Die Behebung dieser Defizite würde im Osten 5 Mio. Ostmark und im Westen 233 Mio. Westmark kosten, wurde vorgerechnet. Magistrat, Abteilung Volksbildung: „Schulverhältnisse in Westberlin und im demokratischen Sektor“, 30.1.1957, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 993.

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Bildung zum deutschen und internationalen Vorzeigeobjekt zu entwickeln gedachte, dabei aber zunehmend auf Schwierigkeiten stieß. Zum einen führte der schulpolitische Wettbewerb zu einer ständigen Suche nach neuen Konzepten, die zwar eigene und sowjetische Erfahrungen in sich aufnahmen, gleichzeitig aber auch West-Berliner Beispiele berücksichtigten – etwa in der Frage der Oberstufenreform.571 Mehr noch bewirkten die zunehmende Attraktivität des Schul- und Bildungsangebotes sowie die steigende Finanzkraft West-Berlins beinahe permanente Anstrengungen im materiell-technischen Bereich, der die Ressourcen OstBerlins stark beanspruchte. Zum anderen verpflichtete der Gesamtberliner Anspruch zu sichtbaren Vorbild-Leistungen, aber auch zu plausiblen Begründungen, wenn sie ausblieben. So verstärkte sich zwangsläufig die Tendenz, Fehlleistungen und schulpolitische Misserfolge den Feinden der „Arbeiter- und Bauernmacht“ anzulasten. Die besonders intensive Ideologisierung und politische Instrumentalisierung der Schule hatte – oft periodisch – ihre „Säuberung“572 mit Konsequenzen keineswegs nur für unangepasste Schüler und Lehrer zur Folge. Viele gingen, wie zu sehen sein wird, nach West-Berlin und hinterließen fachliche und pädagogische Lücken. Das Misstrauen der SED in die ideologisch nicht zuverlässigen bzw. par-

571 Im Mai 1953 beschloss das Sekretariat der SED-Bezirksleitung ein „einheitliches System der Oberstufe der allgemeinbildenden Schule“. Danach sollten in Ost-Berlin ab 1.9.1953 33 Oberschulen (davon 14 Schulen in Verbindung mit einer achtklassigen Grundschule) bestehen, die – in Anlehnung an die West-Berliner Spezialisierung – neben Russisch eine zweite Fremdsprache anböten (u.a. 16 Französisch, 12 Englisch, drei Latein). Gleichzeitig seien jeweils eine Spezialschule für Musik, bildende Kunst, Körpererziehung und „mit verstärktem Russisch-Unterricht“ zu eröffnen. Vgl. „Beschluß des Sekretariats vom 4.5.1953, Betr.: Reorganisierung der Oberstufe der allgemeinbildenden Schulen und der Lehrerbildung in Groß-Berlin“, 4.5.1953, in: ebd., Nr. 169, Bl. 34f. 572 Etwa im Vorfeld des 17. Juni 1953. Die Ost-Berliner „demokratische Schule“ könne in ihrer gegenwärtigen Struktur ihrer Aufgabe, junge Menschen auf den Hochschulbesuch vorzubereiten, „nicht gerecht werden“, hieß es. Bildungsumfang und Organisation der Oberschulen entsprächen nicht mehr den aus dem sozialistischen Aufbau resultierenden Notwendigkeiten. Insbesondere führe der zu umfangreiche Lehrstoff in vielen Fächern, insbesondere in den Naturwissenschaften, nur zu einer formalen Wissensaneignung. Gleichzeitig müsse das „gesamte System der Lehrerbildung unter Ausnutzung der sowjetischen Erfahrungen geändert werden, um die Schulen rechtzeitig und ausreichend mit hochqualifizierten Lehrern […]“ versorgen zu können. Kaderüberprüfungen seien mit dem Ziel der „Entfernung der Lehrkräfte“ notwendig, „die unwissenschaftlich unterrichten und deren politische Unzuverlässigkeit nachgewiesen wird“. Zu überprüfen seien aber auch alle Oberschüler. Diejenigen, die „bisher keine positive Entwicklung gezeigt haben“, seien „von der Schule zu entfernen“. Ebd. Bl. 33, 35.

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teilosen Lehrer blieb signifikant573; es galt aber auch allen, die Schüler außerschulisch unterwiesen oder erzogen574, und weiterhin unberechenbaren Oberschülern, die sich auf die eine oder andere Weise zum Staat bekennen müssten.575 Denn verschiedene Vorkommnisse an Ost-Berliner Oberschulen hätten bewiesen, dass das Auswahlkriterium „Arbeiterkind“ kein „einwandfreies“ Verhalten garantiere576 und es sich, beispielsweise anlässlich der Proteste von Studenten der Humboldt-Universität gegen die Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956, „schlagartig“ gezeigt habe, dass es sich hier um „Absolventen unserer Oberschule“ handelte.577 Auch bereitete der SED der Einfluss West-Berlins auf die Ost-Berliner Schüler und Jugendlichen zunehmend Sorgen. Ihr Interesse an den östlichen Kulturangeboten sinke und die (öffentlich heruntergespielte) Kriminalität nehme zu. Asoziales Verhalten werde von der „Schmutz- und Schundliteratur“, die sie massenweise aus West-Berlin bezögen, und von dort gesehenen Filmen gefördert, die überdies die „amerikanische Unkultur“ verherrlichten und zum Nachahmen der westlichen Lebensweise animierten.578 Repressive Maßnahmen gegen die alltägliche Westorientierung vieler Schüler, wie das Verbot, in den Schulen amerikanische Militär-

573 Das Büro der SED-Bezirksleitung sah es 1954 als unhaltbar an, dass 75 Prozent der Lehrer parteilos sowie nur zu 38,5 Prozent Arbeiter- und Bauernkinder seien. Es stellte sich das Ziel, deren Anteil beim zukünftigen Hochschulstudium unbedingt auf 80 Prozent zu erhöhen. Vorlage für das Büro der SED-BL: Kaderanalyse, 26.8.1954, in: ebd., Nr. 195, Bl. 88. 574 Sie seien nur „geeignet“, wenn sie „positiv zum Staat“ stünden. Vorlage für das Sekretariat der SED-Bl: „Anweisung zur Sicherung von Ordnung und Stetigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozess der demokratischen Schule“, undat. (1956), in: ebd., Nr. 269, Bl. 131. 575 Das konnte nach Ablegung des Abiturs der Verzicht auf ein Universitätsstudium sein, um eine „Berufsausbildung im VEB zu beginnen oder – als „wichtigster Gradmesser“ – der Eintritt in die Volkspolizei. „Thesen zum Rechenschaftsbericht der IV. Bezirksdelegiertenkonferenz der FDJ“, 28.4.1955, in: ebd., Nr. 229, Bl. 48. 576 Immer wieder seien dem „Klassenfeind“ „Einbrüche an unseren Schulen“ gelungen – so, wenn Schüler „Schweigeminuten“ einlegten – im konkreten Fall am 25.1.1954 anlässlich der Berliner Außenministerkonferenz der Vier Mächte. Vgl. Stellungnahme der SED-BL, 1.3.1954, in: ebd., Nr. 222, Bl. 39f. 577 Vgl. Vorlage der Abteilung Volksbildung und Kultur der SED-BL zum Bericht der SEDKL Friedrichshain „über die Lage an den Oberschulen“, 9.9.1957, in: ebd., Nr. 317, Bl. 25f. 578 Vgl. dazu Diskussionsbeitrag von OB Ebert auf der Parteiaktivtagung der SED-BL Berlin, 25.5.1957, stenographische Niederschrift, in: ebd., Nr. 110 und Steiniger, Westberlin, S. 187–193.

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mäntel zu tragen579, zeigten sich wenig wirksam. Mehr noch wurmte die SEDFührung, dass Ost-Berliner Oberschüler, wie Ulbricht anmerkte, den „demagogischen Phrasen“ westlicher Gesprächspartner „hilflos“ ausgeliefert wären „und im politischen Streit unterlagen“.580 Das war freilich kein Beweis, aber doch ein Indiz dafür, dass die Ost-Berliner Schule in einem ihrer ideologischen Kernbereiche – der staatsbürgerlichen Erziehung – Defizite aufwies, die sich auf die Auseinandersetzung mit der „NATOSchule“ in West-Berlin negativ auswirkten. Das betraf das DDR-Modell der polytechnischen Bildung aber auch insgesamt, das seit 1959 durch die Zehnklassige Polytechnische Oberschule in Konkurrenz zum Westen verwirklicht wurde. Es besaß unbestritten Vorzüge, doch stieß sein gesellschaftspolitisches Ziel, die DDRJugend in der Auseinandersetzung mit westlichen Bildungsinhalten zügig zu bewussten sozialistischen Persönlichkeiten und zu einer sozialistischen Lebensweise zu erziehen, auf Widerstände. So registrierte die SED-Bezirksleitung Anfang März 1959 selbstkritisch, „dass in der sozialistischen Entwicklung des Schulwesens ein erheblicher Tempoverlust entstanden (ist)“.581 Der Hauptmangel bestehe in der Loslösung der Schule von der Praxis des sozialistischen Aufbaus, „besonders von der sozialistischen Produktion und von den arbeitenden Menschen“. Auch deshalb habe sich „die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu einer sozialistischen Lebensweise gegen die verderblichen Einflüsse des Militarismus und Imperialismus und gegen die bürgerliche Ideologie noch nicht allseitig durchgesetzt. Die polytechnische Bildung, das Kernstück der sozialistischen Entwicklung der Schule, steht noch nicht im Mittelpunkt der schulischen Arbeit.“582 Einige Monate vor dem Mauerbau lag der SED-Bezirksleitung Berlin eine aufschlussreiche interne Analyse der politischen Positionen von Ost-Berliner Schülern vor. Unter der Frage, „warum ist noch keine Wende erreicht worden“, hatten die Berichterstatter drei Gruppen von Schülern herausgestellt: Nur eine „relativ kleine Gruppe von Pionieren und FDJ-Mitgliedern“ stünde fest zu diesen Organisationen und zur „Arbeiter-und-Bauern-Macht“; der größte Teil der Schüler verhalte sich ihnen gegenüber und in den politisch-ideologischen Grundfragen aber „abwartend und schwankend“. Doch gebe es eine „kleine Gruppe von Kindern 579 Vgl. Kurzinformation der Abteilung Organisation und Kader der SED-BL, 27.10.1960, in: ebd., Nr.630. 580 Vgl. Referat Ulbrichts auf der Parteiaktivtagung der SED-BL Berlin, 25.5.1957, stenographische Niederschrift, in: ebd., Nr. 110. 581 Abteilung Volksbildung und Kultur der SED-BL: „Stellungnahme zum Entwurf der Beschlußvorlage für die Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin“, 17.3.1959, in: ebd., Nr. 376, Bl. 51, 53. 582 Entwurf der Beschlußfassung, 10.3.1959, in: ebd., Bl. 55.

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und besonders Jugendlichen der 8., 9., 10. Klassen, die meist durch Eltern, aber auch durch Verwandte, Bekannte oder jugendliche ‚Vorbilder‘ durch direkte Westberliner Einflüsse, z.T. auch durch kirchliche Kräfte beeinflußt und gelenkt, bewußt in politischer Opposition stehen“. Die Position dieser Jugendlichen weise zwar in ihrer Lebensweise bestimmte Unterschiede auf, „aber ihre Grundhaltung ist der Antikommunismus.“ Ihre „westliche Lebensweise“ übe vielfach „einen großen Einfluß auf die anderen aus“ und sie genössen „wegen ihrer ‚Opposition‘ und des damit verbundenen ‚Mutes‘ Autorität unter den Mitschülern“, auch unter Pionieren und FDJ-lern.583 Die ausgewerteten Quellen geben keinen Hinweis auf die Existenz von West-Berliner Schülergruppen, die sich, in Opposition zum westlichen Schulsystem, der östlichen Konkurrenz zugewandt hätten. Das schloss freilich Schülerkritik am eigenen Bildungssystem nicht aus. 6.1.3 Der intersektorale Kampf um die Schüler aus dem Osten Da die administrative zwar die schulpolitische Teilung mit sich brachte, aber aufgrund des formal noch einheitlichen Berliner Schulgesetzes und alliierter Bestimmungen weiterhin eine sektorenübergreifende Beschulung und damit auch das Schulpendeln noch bedingt möglich war, entstand im Umfeld des Kalten Krieges in den Jahren 1949 und 1950 praktischer Regelungsbedarf. Das betraf sowohl Schüler und Studenten, die in Ost-Berlin lebten und in West-Berlin lernten bzw. studierten, als auch vergleichsweise wenige, die vom westlichen Wohnort aus täglich in ihre östlichen Bildungsstätten wechselten. Auf der Grundlage eines vom Westmagistrat erwirkten Befehls der westalliierten Kommandantur erhielten sie über die Lohnausgleichskasse eine bestimmte Geldmenge 1:1 umgetauscht.584 Diese Vorsorgungsbestimmungen waren in hohem Maße politischer Natur. So stellte der Senat Schüler aus dem Osten, die „aus politischen Gründen“ bei ihren Familien dort nicht wohnen konnten, von allen Schulgeldzahlungen frei, während in Ost-Berlin studierende junge West-Berliner nur dann umtauschberechtigt waren, wenn sie Naturwissenschaften, Theologie, Landwirtschaft und Gartenbau sowie Veterinärmedizin belegten, sich an anderen Fakultäten in den Examenssemestern befanden oder nachwiesen, dass sie „vergeblich um Immatrikulation bei der Freien Universität“ nachgesucht hätten. Ein Beschluss des Westmagistrats 583 Vorlage an das Büro der SED-BL: „Bericht über den Stand der politisch-moralischen Erziehung in den 7. bis 10. Klassen der Berliner Oberschulen“, 16.1.1961, in: ebd., Nr. 461, Bl. 25. 584 Vgl. Schreiben des Magistrats von Groß-Berlin (West) an die Lohnausgleichskasse, 30.5.1949, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 221. In West-Berlin Studierende mit Wohnsitz im Osten konnten bis zu 30 und im Westen lebende, in Ost-Berlin studierende Personen bis zu 90 Mark umtauschen (Schüler bis zu 70 bzw. 25 Mark).

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vom 13. März 1950 hob diese Geldumtausch-Regelung auf und führte „unter den gleichen Bedingungen“ für den Kreis der Berechtigten eine Währungsbeihilfe ein. Sie galt jedoch nur für Schüler und Studenten aus dem Osten, die eine „vorübergehende Zugangsgenehmigung“ für den Schulbesuch oder das Studium in WestBerlin besaßen, und wenn „hinsichtlich seines [des Antragsstellers] Charakters keine Bedenken vorliegen“.585 Ab Anfang 1952 erhielten auch die in West-Berlin lernenden, aber bei ihren Familien im Osten wohnenden Schüler eine monatliche Beihilfe von fünf Westmark. Die Währungsbeihilfen gestalteten sich zu einem wirksamen sozialen und politischen Instrument der Regulierung der ostdeutschen „Nachfrage“ nach West-Berliner Schul- und Studienplätzen. Ihr Umfang wurde zum einen maßgeblich von der zeitweilig angespannten Haushaltslage der Teilstadt, immer aber auch vom konkreten Verlauf der Berliner Systemkonkurrenz bestimmt. Sie warf die Frage auf, inwiefern West-Berlin die Beschulung und das Studium von Ostdeutschen nütze oder aber eher schade, und welche Folgen nicht nur im Umgang mit der kommunistischen Seite, sondern auch für die Zukunft Deutschlands und Berlins entstünden. Demgegenüber fragte sich die SED, wie das Abwandern von Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit wirke und welche Gegenmittel zur Verfügung ständen. Eine probate Antwort darauf, warum sie westsektorale Bildungseinrichtungen besuchten und sich kaum jemand aus WestBerlin im Ostteil der Stadt beschulen ließ, fand die SED nicht. Zumindest hätten selbstkritische Fragen erbracht, dass die Argumentation der betreffenden OstBerliner Kinder und ihrer Eltern weniger ökonomisch und auch nicht so sehr sozial als vielmehr von einer politisch-weltanschaulichen Motivlage bestimmt war. Ob Leute aus bürgerlichem Milieu, nichtkonforme Intellektuelle oder Arbeiter: Man lehnte das östliche Bildungssystem aus Prinzip ab oder aber, weil es normativ oder in der praktischen Auseinandersetzung mit dem Alltag nicht kompatibel mit den eigenen Anschauungen von Gesellschaft, Politik und persönlicher Perspektive schien. Andere waren durchaus bereit, sich mit dem DDR-System zu arrangieren, wurden aber durch eine dogmatische „Klassenkampf“-Politik zurückgewiesen, die Arbeiter und Bauern bildungspolitisch privilegierte, aber Kinder aus bürgerlichen Haushalten sowie aus anderen als politisch unzuverlässig diskreditierten Milieus nicht oder nur begrenzt zur Oberschule oder zum Studium zuließ. Auch befremdeten Relegierungen von Arbeiterkindern, wenn sie sich nicht systemkonform verhielten. Im Untersuchungszeitraum bedeutete ein derartiger gesellschaftlicher Ausschluss in der Regel das Ende der Bildungskarriere im Osten. Für die meisten

585 Vgl. Durchführungsbestimmungen, 1.10.1950, in: ebd. Vgl. dazu auch das Fernschreiben des Westmagistrats an dessen Finanzabteilung, 28.8.1950, in: ebd.

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Betroffenen blieb nur der Ausweg West-Berlin, um doch noch zu Abitur und Studium zu gelangen.586 Offenbar sah ein großer Teil der Ost-Berliner „Schulflüchtlinge“ und ihrer Eltern jedoch dort einfach die besseren Bildungschancen und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Zunächst hatte es an Kriterien und Beweisen dafür gefehlt, dass der Unterricht im Westen tatsächlich „besser“ sei, seine Inhalte wissenschaftlicher, die Methoden moderner und die Vermittler qualifizierter. Doch zeigte sich in der Ost-Berliner Einheitsschule einschließlich ihrer Oberstufe tatsächlich eine zunehmende Ideologisierung des Lehrstoffes. Es waren vor allem Fächer wie Geschichte und Gegenwartskunde, die davon und von ihrer Entdifferenzierung zeugten und die zur politischen Gängelung der Schüler beitrugen. Das trug zur Ablehnung des Angebots der sozialistischen Einheitsschule zugunsten des, freiheitliche Prinzipien und Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchenden, West-Berliner Schul-Alternativmodells bei. Betrachtet man zunächst die Gesamtschülerzahl in West-Berlin, lassen die statistischen Angaben über ihren Ostanteil nur auf einen relativ geringen Stellenwert der Beschulung von jungen Ostdeutschen schließen.587 Doch ändert sich die Perspek-

586 Der „Tagesspiegel“ sprach kurz nach Beendigung des Ost-Berliner Schuljahres 1957 von über 500 Aufnahmeanträgen von relegierten bzw. „nicht versetzten“ Oberschülern beim West-Berliner Schulamt. Sieht man von einigen Fällen ab, bei denen leistungsschwache Schüler ihr „Sitzenbleiben“ politisch bemäntelten, um bei der „Konkurrenz“ ans Abitur zu gelangen, sah die Zeitung die Ursachen richtig: Die Oberschüler seien sowjetfeindlich eingestellt und zeigten das auch. Viele hätten sich – beispielsweise bei der Abiturientenabschlussfeier im Ost-Berliner Metropoltheater – provokant verhalten und die autoritären Machthaber gereizt. Auch sei die Anzahl der Pionier- und FDJ-Mitglieder an den Oberschulen „unter dem geforderten Soll“ geblieben, und es habe in Weißensee sogar den Versuch eines Schulstreiks und an anderen Stellen einige Proteste und illegale Flugblattaktionen gegeben. Die Folge wären „kurzfristig angesetzte verschärfte Versetzungsbedingungen insbesondere in den 10. und 11. Klassen zur Feststellung von nicht linientreuen Elementen“ gewesen, die über ein besonderes Prozedere „beseitigt“ würden: „Schülern, die in allen Fächern gute und sehr gute Noten vorlegten, wurde die Versetzung wegen unbefriedigender Leistungen in Gegenwartskunde verweigert. In anderen Fällen setzte man die Noten in wissenschaftlichen Fächern willkürlich und ohne Prüfung herab. Gegenwartskunde und Geschichte mangelhaft, das ist die häufigste Notenkombination bei den Nichtversetzten. Nichtversetzung bedeutet in diesem Zusammenhang Verweisung von der Schule und damit Ausschluß von jeglichem weiteren Schulbesuch im Ostsektor und der Ostzone.“ Bis zu 50 Prozent der ostsektoralen Oberschulschülerschaft würden zu „Opfern dieser kommunistischen Ausrottungspolitik“. „Der Tagesspiegel“, 27.7.1950. 587 Im Juni 1950 wurden insgesamt 333.210 Schüler gezählt, die in 574 Schulen West-Berlins lernten. 14.005 kämen aus dem Osten. Davon wohnten 9.631 von ihnen mit zeitweiliger

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tive, wenn man berücksichtigt, dass es sich neben Grundschulpflichtigen zunehmend um Oberschüler und um eine Reihe besonderer Fachschüler588, also um eine „Elite“, handelte. Unter diesem Aspekt fiel deren Anteil mit bald über Tausend Ostabiturienten pro Jahr589 in jeder Beziehung ins Gewicht. Da der zahlenmäßige Anstieg bei nur zeitweiliger Stagnation und kurzfristigen Rückgängen im Prinzip kontinuierlich verlief, entstand in der Öffentlichkeit nicht nur der Eindruck einer „Schlappe“ für die SED, sondern auch die Vermutung, dass sich mit dem Fortschreiten des realen Sozialismus auch dessen bildungspolitische Attraktivität und Bindungskraft verringere. Dem kam die seit Anfang 1957 weiter verbesserte Währungshilfe des Senats für die in West-Berlin wohnenden Ostschüler entgegen, die nun auch eine „Miethilfe“ erhielten.590 Der gesamte Prozess bekam zudem größeren „Schauwert“, als die Westmedien den Weggang der von der SED in Vielem umworbenen Bildungselite stärker thematisierte und sich „Abtrünnige“ in der Presse vermehrt kritisch zu Wort meldeten. Auch dadurch gerieten sie zu einem Symbol des Freiheitswillens der jungen Generation Ost-Berlins. Dessen Behörden standen auch diesem Phänomen relativ hilflos gegenüber. Propagandaaktionen verliefen im Sande, und politische sowie rechtliche Gegenmittel fehlten zunächst. Auch geplante soziale Repressionen – beispielsweise der Entzug der Lebensmittelkarte für alle in West-Berlin beschulten Kinder aus dem Ostsektor im Herbst 1950 – erwiesen sich als in ihren Folgen unkalkulierbar.591

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Aufenthaltsgenehmigung in West-Berlin und 4.374 bei ihren Familien im Osten. Vgl. interne Information des Senats. Stand: 1.6.1950, in: ebd. So meldete der „Lette-Verein“ Mitte 1949 527 Ost- und 463 Westschülerinnen und das Pestalozzi-Fröbel-Haus 101 Ostschüler (von insgesamt 575). Vgl. Information vom Juni 1950, in: LAB, B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 221. Die Angaben über „Ostabiturienten“ wurden in den Quellen nicht kommentiert. Die Zahlen bezogen sich offensichtlich auf Oberschüler, die im jeweils genannten Jahr ihr Abitur ablegten, nicht auf die Summe derer, die sich zum Zeitpunkt der Information insgesamt im West-Berliner Oberstufen-Ausbildungsgang befanden, der in der Regel die 9. bis 13. Klasse umfasste. 1952 erfasste die Statistik 250 Ostabiturienten, 1955 etwa 1.400 (1953 = 500; 1954 = 1.087). Vgl. interne Senatsinformation, wohl Spätsommer 1955, in: ebd. Weitere Erhöhungen der Währungshilfe wurden vom Senat in Aussicht gestellt. 1956 stieg die Zahl der Oberstufenschüler aus dem Osten (bei 4.188 Ostschülern bis zur 8. Klasse) auf 1.233 in öffentlichen und 182 in privaten Lehranstalten weiter leicht an; Anfang 1957 seien es bei einer Gesamtschülerzahl aus dem Osten von 7.000 bereits etwa 1.500 Oberschüler gewesen. Vgl. Protokoll über die 33. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 14.2.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070. Vgl. „Die Neue Zeitung“, Nr. 280, 30.11.1950.

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Im Mai 1951 erließ der Magistrat auf der Grundlage des bereits genannten neuen Schulgesetzes der DDR vom 15. Februar 1950 eine „Schulpflichtverordnung für Groß-Berlin“, die sowohl die allgemeine Schulpflicht für den „Besuch der achtklassigen Grundschule“ und der berufsbildenden Schule bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres gebot als auch den Beschulungsort bestimmte: „eine öffentliche Schule desjenigen Verwaltungsbezirkes, in dem der Erziehungsberechtigte seinen Wohnsitz hat“. Für die Oberstufe entscheide konkret das Ost-Berliner Hauptschulamt. Die Begründung der Verordnung wies klar auf ihren eigentlichen Zweck hin: Es gebe im demokratischen Sektor „eine Reihe von Eltern, die ihre Kinder in Schulen Westberlins schicken. Die Entwicklung der Schulverhältnisse in Westberlin muss aber zu größten Bedenken Anlass geben. Es gibt zahlreiche Beispiele für eine offene Hetze im Unterricht gegen die Deutsche Demokratische Republik, gegen die Sowjetunion, gegen die Oder-Neiße-Grenze und damit gegen Polen. Der Kampf für den Frieden wird behindert, Friedenskämpfer wurden in den Schulen verfolgt.“592 In der internen Diskussion um die Ahndung von Zuwiderhandlungen schlug der Ost-Berliner Justizstadtrat Kofler vor, sie nicht als bloße Übertretungen, sondern als Vergehen zu bewerten und sie mit einer Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 10.000 Ostmark zu bedrohen593, konnte sich aber nicht durchsetzen. Im Gegenteil verfolgten SED und Administration einen zunächst eher „weichen“ Kurs. Zwar wurden die Eltern von in West-Berlin beschulten Kindern definitiv dazu aufgefordert, sie „umgehend“ in einer Schule OstBerlins oder der DDR anzumelden594, doch verbreiteten die ostdeutschen Medien in einer seit Januar 1951 laufenden Kampagne, dass es sich bei der Durchführung 592 Magistratsvorlage Nr. 695 zur Beschlußfassung am 5.5.1951, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 857, Bl. 75. 593 Vgl. Schreiben des Stadtrates für Justiz, Kofler, an die Abteilung Volksbildung des Magistrats, Hauptschulamt, 27.4.1951, in: ebd., Bl. 70. 594 Die standardisierten amtlichen Schreiben folgten einem Begründungsschema: Die Schulentwicklung in West-Berlin sei durch zunehmende Remilitarisierung gekennzeichnet. Deshalb habe der Senat die demokratische Schulreform bewusst zurückgenommen; die Jugend werde „durch Schund-, Schmutzliteratur und Gangsterfilme verseucht“, so atmeten denn auch Aufsatzthemen den „Geist der Verhetzung“. Der Reutersenat biete der Jugend keine Zukunft, sie werde nach dem Schulabschluss arbeitslos, und ihr Weg führe „von der Stempelstelle zur Bürgerkriegsgarde oder zur Fremdenlegion, und damit haben die Jugendlichen als einzige Perspektive das Massengrab vor sich“. Die Regierung der DDR reagiere mit diesem Schulgesetz, weil sie „nicht mehr länger verantworten kann, dass Schüler aus der DDR in den westberliner Schulen geistig auf den Krieg vorbereitet werden“. Schreiben des Rates der Landeshauptstadt Potsdam, Volksbildungsamt, an Bruno Kirst, 4.12.1951, in: ebd., B Rep. 004, Nr. 52.

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des Gesetzes „um keine Zwangsmaßnahme“ handle, wie das die Westpresse behaupte, „sondern um eine Rückgewinnung der Schüler auf freundschaftlicher Basis, auf ein allmähliches Gewinnen der misstrauischen Eltern durch sachliche Gespräche, durch Wecken ihres Verantwortungsgefühls“. Überdies stünden die Schulen im Osten vor der schwierigen Aufgabe, die personellen und technischen Schwierigkeiten für die Aufnahme „so vieler Schüler in kürzester Frist“ zu überwinden. Die bislang in West-Berlin unterrichteten Kinder seien zudem „fachlich vielfach hinter den Schülern der gleichen Klasse der demokratischen Schulen zurück“. Es müssten Förderkurse eingerichtet werden, „um den Schülern zu helfen, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern den Anschluss an die Klasse zu erreichen“. Auch fehle es an Lehrern.595 Seltsamerweise thematisierten OstPresse und Staatsorgane nicht, dass zu diesem Zeitpunkt noch über 500 Lehrer mit Wohnsitz im Osten in West-Berliner Schulen unterrichteten.596 Offensichtlich scheuten die Verantwortlichen in der sensiblen Beschulungsfrage eine Zuspitzung. Zwar war sie eindeutig unter dem Einfluss der Remilitarisierungsdebatte in der Bundesrepublik aufgeworfen worden – davon zeugt auch die antimilitaristische „Friedens“-Diktion in den offiziellen Verlautbarungen. Doch trat die konfrontative Art der Auseinandersetzung zeitweilig zurück, als der Osten im Umfeld der Diskussion um den „Grotewohlbrief“ vom November 1950 aus taktischen Gründen ein gewisses Maß an Entspannung für geboten erachtete. Ebenfalls musste die SED deshalb etwas vorsichtiger agieren, weil einige prominente DDRPolitiker und Funktionäre ihre Kinder in die Westschule schickten.597 Für ein differenziertes Herangehen spricht auch das Bestreben der Staatspartei, das Problem soweit als möglich sozialpolitisch zu beheben. So führte der in dieser Beziehung gut beratene Magistrat im Oktober 1952 für den Problembereich Oberschüler nicht unerhebliche Stipendien (Unterhaltsbeihilfen) ein, ebenfalls eine Reaktion auf die West-Berliner Währungshilfen für ostdeutsche Schüler.598 Zunächst

595 „Berliner Zeitung“ (O), 27.2.1951. 596 Noch Anfang 1953 waren neben diesen Lehrern 250 Ost-Berliner mit pädagogischer Ausbildung in der West-Berliner Senatsverwaltung für Volksbildung und ihren Gliederungen beschäftigt. Vgl. Information für Innensenator Müller, 23.1.1953, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 223–225. 597 Darunter ein Sohn des DDR-Außenministers Dertinger und die Töchter des Vizepräsidenten der ostdeutschen Finanzverwaltung. Vgl. „Der Tagesspiegel“, 4.1.1951. 598 Eltern von Oberschülern erhielten, wenn ihr Einkommen eine bestimmte Grenze nicht überschritt, monatlich 70,50 Ostmark (in der DDR 60,45) pro Oberschulkind. Der Magistrat zahlte sogar rückwirkend Stipendien für das abgelaufene Schuljahr 1951/52 aus, und stellte dafür insgesamt 2,37 Mio. Ostmark zur Verfügung. Die Beihilfen wurden offiziell bei guten Leistungen, gesellschaftlicher Aktivität in der Schule und wirtschaftlicher

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schienen die Maßnahmen zu fruchten. Zumindest meldete die Ostpresse einen schlagartigen Rückgang der Ostschüler in West-Berlin bis zu 50 Prozent. Diese Behauptung ist statistisch nicht nachweisbar, aber durchaus plausibel, weil viele Eltern im Osten verunsichert waren und ihre Kinder – wenngleich offenbar nur formal – in den Westschulen abmeldeten. Für den kurzfristigen Rückgang der Ostschüler bis auf etwa 3–4.000 innerhalb einiger Monate des Jahres 1951 zeichnete aber eine deutliche Reduzierung der westlichen Währungsbeihilfen mit verantwortlich.599 Nach ihrer schnellen Rücknahme zählte West-Berlin im September 1952 bereits wieder ca. 8.000 Ostschüler.600 Deren relativ zügiger Anstieg wird aber mehr durch die Erfahrung vieler Betroffener erklärt, dass Ost-Berliner Sanktionen bei Übertretungen des Gesetzes sowie auch nur wirksame Durchführungskontrollen weitgehend ausblieben. Erst als sich die internationale und innerdeutsche Auseinandersetzung und parallel dazu die DDR-Systemkrise verschärften, griff die SED ab Ende 1952 auf repressive Maßnahmen zurück. Seit dem 22. Januar 1953 bestand eine amtliche „Registrierpflicht“ für alle eine Westschule besuchende Ostschüler.601 Im Mai erfuhr Oberbürgermeister Ebert, dass viele Eltern trotz der Kampagnen zur „freiwilligen Umschulung“ ihre Kinder immer noch nach West-Berlin in die Schule schickten. 242 dieser Erziehungsberechtigten sollten deshalb „der Generalstaatsanwaltschaft zur Bestrafung“ gemeldet werden.602 Da die Ost-Berliner Schulverordnung von 1950 dafür jedoch keine juristische Handhabe bot, ahndete der Magistrat die Renitenz der Eltern mit dem § 9 des Gesamtberliner Schulgesetzes vom 26. Juni 1948. Es drohte im Falle des Zuwiderhandelns gegen die „Schulpflicht“ Strafen bis 150 DM oder Haft an, obwohl die Betroffenen die Schulpflicht nicht prinzipiell in Frage gestellt hatten. Auch setzten Drangsalierungen ihrer Kinder ein.603

599 600 601 602 603

Bedürftigkeit gewährt. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 1135 für die Sitzung am 9.10.1952, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 870, Bl. 82. Vgl. Schreiben des Oberlinseminars, 14.7.1951, und des Caritasverbandes, 17.9.1951, an den Senat, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 221. Vgl. Information, 1.9.1952, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 2424, Nr. 471. Vgl. Schreiben des Senators für Sozialwesen an den Volksbildungssenator, 22.5.1953, in: ebd., Acc. 1921, Nr. 223–225. Schreiben des stellvertretenden OB für Volksbildung und Kultur Fechner an Ebert, 7.5.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. Im Westen wurde bekannt, dass die DDR-Behörden Zahlungen von Waisenrenten und anderen Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln einstellten, Eltern ihre Arbeitsverhältnisse kündigten und Strafverfolgungen androhten. Kindern würden beispielsweise die Schulmappen und älteren Schülern die Personalausweise abgenommen u.a.m. Vgl. Schreiben des Finanzsenators an den Innensenator, 28.5.1953, in: ebd., B Rep. 004, Nr. 52.

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Nach dem 17. Juni 1953 hörten die partiellen Verfolgungen und exemplarischen Strafaktionen gegen sie beinahe schlagartig auf. Der Magistrat thematisierte die sich mehrenden Übertretungen nicht mehr und beließ es in prominenten Einzelfällen bei diskreter Kritik.604 Erst ab Sommer 1955 „fahndete“ er wieder nach Ostschülern in West-Berlin. Das galt aber mehr den Randgebieten (insbesondere den Kreisen Nauen und Oranienburg) als Ost-Berlin. Das politischjuristische Vorgehen, in Einzelfällen mit Geldstrafen von 50 bis 150 Ostmark, trug vorrangig abschreckenden Charakter. Die begrenzten Aktionen führten bei den betroffenen Bevölkerungskreisen zu „großer Unruhe“, doch fruchteten die Aufforderungsschreiben zwecks Umschulung immer weniger. Bei vielen Eltern zeigten sich Eigensinn und widerständiges Verhalten. Seit Mai 1956 verebbte die partielle Offensive der SED. Dabei spielte eine Rolle, dass der Westen wirksame Gegenmaßnahmen ergriff, östliche Strafen veröffentlichte, Anwaltskosten übernahm und für gemaßregelte Eltern Finanzhilfen leistete.605 Auch schien es einer Reihe von Politikern und Volksbildungsfunktionären Ost-Berlins nach dem XX. Parteitag der KPdSU geboten, über flexiblere Methoden im Umgang mit der politisch und sozial noch keineswegs entdifferenzierten Bevölkerung und über den Abbau von gesellschaftlicher Konfrontation nachzudenken. Insgesamt gestand sich der Magistrat intern ein, dass trotz aller Abgrenzungsbestrebungen „das Ziel unserer Schule nicht erreicht wurde“, weil der WestBerliner Einfluss „noch zu stark“ sei.606 6.1.4 Ostabiturienten zwischen SED und West-Berliner Interessen In West-Berlin bestand in der Frage der Beschulung und Subventionierung von Ostkindern von Anfang an keine Übereinstimmung. Pro und Kontra verliefen quer durch die Gesellschaft und ihre politischen Vertretungen. Zwar setzten sich diejenigen Kräfte durch, die generelle Einschränkungen des Schulbesuchs aus dem Osten ablehnten – schließlich sei die Sache „zu einer politischen Frage“ geworden, die „nicht auf dem Wege der öffentlichen Fürsorge“ gelöst werden könne, und

604 Als bekannt wurde, dass beispielsweise der evang. Generalsuperintendent in Berlin, Krummacher, seinen Sohn „entgegen den staatlichen Gesetzen“ in West-Berlin beschulen ließ, wurde das Amt für Kirchenfragen mobilisiert – offenbar ergebnislos. Vgl. Schreiben der Abteilung Volksbildung des Magistrats an das Amt für Kirchenfragen, 21.10.1954, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. 605 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand 15.9.1956, in: ebd., B Rep., Acc. 1636, Nr. 2154. 606 „Niederschrift über die Besprechung mit den Referatsleitern“, 3.7.1956, in: ebd., C Rep. 104, Nr. 16.

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man habe Gesamtberliner Interessen zu vertreten.607 Doch begründeten die Skeptiker ihre Bedenken ebenfalls wirkungsvoll: Zum einen belasteten die Kosten für Unterricht, Währungshilfen, soziale Vergünstigungen u.a.m. die angespannte Finanzlage West-Berlins in einem nicht vertretbaren Maß. Davon überzeugt, beschlossen die West-Berliner Schulräte im September 1950, „die Aufnahme von Schülern aus dem Osten zu sperren“.608 Obgleich diese Entscheidung nicht durchsetzbar war, wurden Währungsbeihilfen doch zeitweilig quotiert, was zu Protesten der davon betroffenen Lehreinrichtungen führte.609 Zum anderen argumentierten Politiker, dass der anschwellende Strom von Ostschülern, insbesondere Abiturbewerbern, zu einem Abfluss von jungen Eliten aus der Ostzone führe und somit zu großen strukturellen Problemen bei einer Wiedervereinigung. Diese Ansicht stellte Gesamtberliner Interessen über die Möglichkeit, das sozialistische Kadersystem substanziell zu schädigen. Es fand sich eine probate Kompromissformel: Alle in West-Berlin lebenden Ostschüler erhielten die Auflage, nach Beendigung der Schulzeit West-Berlin wieder zu verlassen – allerdings mit Ausnahmen.610 Aber auch die Rückkehrklausel ließ sich praktisch kaum durchsetzen. Doch führte der Umstand, dass immer mehr Ostoberschüler nicht in ihre Heimat zurückgingen und nach dem Abitur den Arbeitsmarkt belasteten, mit zur Entscheidung, die für 1952 geplante Einrichtung von 13 Klassen für Ostschüler um ein Jahr zu verschieben.611 Das Blatt wendete sich gleich nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Angesichts seiner politischen Folgen sowie der sich langsam verbessernden wirtschaft607 Schreiben des Senators für Sozialwesen an den Volksbildungssenator, 22.5.1953, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1921, Nr. 223–225. 608 Auszug aus dem Protokoll Nr. 38 der Gesamtkonferenz der Schulräte (West-Berlins), 6.9.1950, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 1382, Nr. 8. 609 Nur noch ein Drittel der Schüler einer Schule durfte Währungsbeihilfen in Anspruch nehmen. Das betraf sozialpolitisch und pädagogisch ausgerichtete Ausbildungsstätten besonders hart. So kamen z.B. von den 163 Schülerinnen des Oberlin-Seminars 100 aus dem Osten. Ähnlich sah es in Ausbildungsstätten der Caritas aus. Die Leitungen merkten bitter an, dass die Nachfrage aus der Ostzone immens steige, sich aber im gleichen Maße die finanziellen Schwierigkeiten vergrößerten. Vgl. Schreiben des Oberlin-Seminars (Fachschule für Kindergärtnerinnen) an den Senat, 14.7.1951, in: ebd., Acc. 1921, Nr. 221 und des Deutschen Caritasverbandes an den Senat, 17.9.1951, in: ebd. 610 Es hieß, dass besonders begabte und leistungsfähige Ost-Abiturienten, die als „wertvoller Nachwuchs für Westberlin zu betrachten sind“, durch eine befristete Zuzugsgenehmigung von sechs Monaten die Möglichkeit erhalten sollten, sich dort „einen geeigneten Arbeitsplatz“ zu suchen. Schreiben des Volksbildungssenators an den Senator für Inneres, 12.12.1951, in: ebd., B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 52. 611 Vgl. Schreiben des Finanzsenators an den Volksbildungssenator, 11.8.1952, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 2424, Nr. 472–477.

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lichen Situation West-Berlins meinten nun auch die Skeptiker, dass alle Bewerber aus dem Ostsektor „ohne weiteres“ aufzunehmen und Oberschüler aus der Ostzone, die im Westen ein 13. Schuljahr zu absolvieren wünschten, dafür „nach Würdigkeit“ zu berücksichtigen.612 Als im Oktober 1953 in West-Berlin vier Sonderlehrgänge für Ostabiturienten mit insgesamt 43 Klassen eröffnet wurden, argumentierten die Verantwortlichen politisch: Man wolle den Teilnehmern damit vor allem „durch eine Begegnung mit der freien westlichen Welt in der Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus“ behilflich sein.613 Das reflektierte den weiteren Wandel von einer eher passiven zur politisch aktiven Schulpolitik im Umgang mit der kommunistischen Konkurrenz. Auf diese Entwicklung wirkten die Interessen und Aktionen von ostdeutschen Landsmannschaften und rechtskonservativen Wiedervereinigungsprotagonisten erheblich ein. Aber auch das Abgeordnetenhaus vertrat nun parteiübergreifend die Ansicht, man dürfe die Zahl der Ostschüler nicht begrenzen, sondern ganz im Gegenteil versuchen, „so viele Kinder wie nur möglich vor den östlichen Machthabern zu schützen“.614 Die Währungsbeihilfen wurden insgesamt erhöht und mehr Aufenthaltsgenehmigungen für Ostschüler erteilt, was den Zustrom in erster Linie zu den 9. Klassen sowie Sonderlehrgängen für Ostabiturienten und -oberschüler weiter forcierte.615 Wenngleich politische Motive keineswegs wegfielen, kamen sie, wie es auch die SPD sah, verstärkt in den Westen, weil ihnen ein Westabitur die größeren beruflichen Chancen und später bessere Verdienstmöglichkeiten versprach.616 Das Karrieremotiv betonte auch die SED absichtsvoll. Doch zog ihre umfangreiche Analyse des Einflusses der Westschule 1958 trotz des ideologischen Beiwerks eine relativ realistische Bilanz: Jedes Jahr zeige sich nach den Abiturprüfungen, „dass ein erheblicher Teil der Abiturienten anschließend das so genannte 13. Schuljahr in Westberlin besuchte, um dadurch einen Studienplatz an Universitäten in Westberlin oder Westdeutschland zu erhalten“. Das betraf 1957 jeden vierten Absolventen. Manchmal bildeten die

612 Vermerk: „Besprechung über Einrichtung eines 13. Schuljahres für Ostabiturienten und Einrichtung von 9. Klassen für Oberschüler“, 29.6.1953, in: ebd. 613 Schreiben der Senatsverwaltung Volksbildung an den Verband mitteldeutscher Landsmannschaften e.V., 18.11.1955, in: ebd. 614 Protokoll über die 6. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 3.6.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070. 615 Vgl. ebd. und Protokoll der 3. Sitzung, 13.5.1955, in: ebd. 616 Vgl. ebd. und Schreiben des SPD-Landesvorstands Berlin an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 2.10.1958, in: ebd., Nr. 2077.

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Überwechsler aus einer einzigen Abiturklasse einer Oberschule in Ost-Berlin im anderen Teil der Stadt eine geschlossene neue Oberschulklasse.617 Das Argument, sie bekämen im Osten keinen Studienplatz, sei nur vorgeschoben, meinten die Analysten; sie würden von Anfang an planen, nach Erhalt des Reifezeugnisses in den Westen zu gehen. Dies sei besonders bei den Familien „aus den Mittelschichten“ verbreitet. Dem sozialistischen Aufbau entstünde durch solch ein amoralisches Verhalten großer materieller Schaden; man bilde faktisch für den Westen aus und blockiere Oberschulplätze „für andere, der DDR ergebene junge Menschen“.618 Seit 1955 registrierte die Berliner SED ein reges Interesse Ost-Berliner Jugendlicher an den Volksmusikschulen619 in West-Berlin und bei Lehrlingen die Tendenz, in die westsektoralen Berufsschulen überzuwechseln.620 Bis zum Mauerbau veränderte sich insgesamt wenig. Die Gesamtzahl der Ostschüler in West-Berlin blieb in den Jahren 1956 bis 1958 etwa konstant, wobei der Anteil von Oberschülern an ihr weiter überproportional anstieg. 1959 ging er jedoch vor allem im Bereich der 9. und 10. Klassen zurück, weil in der DDR die Zehnklassige Polytechnische Oberschule eingeführt wurde621, die sofort in ein Wettbewerbsverhältnis zu den entsprechenden West-Berliner Oberschulklassen trat. Die Polytechnische Oberschule war durchaus ein Fortschritt, den viele Ost-Berliner Eltern jedoch nicht sahen oder nicht sehen wollten. Sie weigerten sich, ihre Kinder nach der Absolvierung der 8. Klasse noch zwei weitere Jahre in die Schule zu schicken und zeigten sich den vernünftigen Argumenten des 617 Das war z.B. bei der Oberschule (ehemals Gymnasium) Graues Kloster in Berlin-Mitte der Fall. 19 Schüler gingen nach West-Berlin und bildeten dort eine eigene 13. Klasse (von der Ost-Berliner Franz-Mehring-Schule waren es ca. 16 Prozent, von der Schinkel-Schule 23, der Gerhard-Hauptmann-Schule 24,1 Prozent aller Abiturienten). Vgl. Abteilung Volksbildung und Kultur der SED-Bl: Information zu „Fragen der Oberschule“, 30.4.1958, in: ebd., Nr. 332, Bl. 19. 618 Ebd., Bl. 21f. 619 Dabei spielten weniger politische als Kapazitäts-Gründe eine Rolle. Die fünf Ost-Berliner Volksmusikschulen verfügten über insgesamt 2.030 Plätze; benötigt wurden aber weit mehr. 4.000 Schüler erhielten bereits bei freischaffenden Musikerziehern Unterricht. Da immer mehr Bewerber von den staatlichen Schulen abgewiesen werden mussten, wandten sie sich den 11 Volksmusikschulen in West-Berlin zu, die insgesamt rund 12.000 Schüler aufnehmen konnten. Mit dem Verweis auf diese Konkurrenz wurde die Magistratsleitung dringend ersucht, drei neue Schulen dieser Art zu errichten, um zumindest insgesamt 6.000 Kinder berücksichtigen zu können. Vgl. Information der Abteilung Kultur des Magistrats an Blecha, 30.1.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 620 Betrifft: „Bericht des Magistrats über die Lage an den Berufsschulen“, 2.3.1955, in: ebd., Nr. 222, Bl. 44. 621 Vgl. Information, undatiert, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2158, Bl. 54.

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Magistrats, der Schulleitungen und Lehrer gegenüber resistent. Dass sie sich in dieser Sache strikt an die Anordnung hielten, in keiner Beziehung Druck auszuüben, lag auch daran, dass Ost-Berliner Produktionsbetriebe die Achtklässler für eine Lehr- oder Arbeitsstelle zu begeistern versuchten und somit „legitime“ Konkurrenten der neuen Oberschule wurden. Doch erforderte die „Überzeugungsarbeit“ auch deshalb besonderes „Fingerspitzengefühl“, weil bereits einige Eltern im Stadtbezirk Treptow ihre Kinder in West-Berliner Lehrstellen untergebracht hatten, weil sie sich durch die Agitation für die Zehnklassenschule bedrängt sahen.622 Davon abgesehen zeigte sich seit 1956 ein gestiegenes Selbstbewusstsein auch von Elternausschüssen, die sich bei ihren Forderungen nach Verbesserungen in der Schulsituation durch West-Berliner Schulstreiks „sehr angeregt fühlten“.623 West-Berliner Schulpolitiker und nichtstaatliche Bildungsträger bewegte demgegenüber nicht mehr so sehr die im Wesentlichen entschiedene Frage, wie man der realsozialistischen Konkurrenz Schüler entzog und Maßregelungen ihrer Eltern begegnete. Auch waren die mit dem Schulbesuch von Ostkindern verbundenen finanziellen Schwierigkeiten im Prinzip überwunden. Was sich bereits 1954 abzuzeichnen begann und jetzt deutlicher wurde, war das Problem, wie das Ostabitur gewertet werden müsse und welche Maßnahmen geboten seien, es an die Qualität des Westabiturs heranzuführen. Die Frage entstand zum einen, weil die Oberschulzeit im Osten vier, aber im Westen fünf Jahre betrug, also nicht mit der 12., sondern mit der 13. Klasse abschloss. Zum anderen war – wie schon ausgeführt – die Meinung verbreitet, dass die Oberschulausbildung in Ost-Berlin inhaltlich und methodisch weniger anspruchsvoll und effektiv als in West-Berlin sei. Prüfungen hätten ergeben, dass die schulischen Leistungen der Ost-Oberschüler hinter denen ihrer West-Berliner Klassenkameraden weit zurücklägen, die Ostnoten geschönt seien und die Ostabiturienten „wohl manches gelernt, aber wenig begriffen“ hätten.624 Hier artikulierten sich Überlegenheitsmentalität und wohl auch Nichtverstehen, aber auch ein kritisches Urteil sowie unterschwellige Konkurrenzängste. Allen voran verlangten West-Berliner Studenten- und Schülervertretungen einen Leistungsvergleich zwischen West- und Ostabiturienten als 622 Schreiben des Stadtrates für Volksbildung Lengsfeld an Volksbildungsminister Lemnitz, 13.6.1961, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 101. 623 Information von Blecha, 31.1.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 624 Die Ostabiturienten seien die „unschuldigen Opfer einer bis zum Extrem entwickelten Lernschule. Sie werden auf bestimmte Prüfungsthemen hin gedrillt […]. Wenig oder nichts ist wirklich erarbeitet oder verstanden. Man merkt auf Schritt und Tritt, wie das Denkvermögen und die Urteilsfähigkeit nicht gepflegt worden sind.“ „Reifeprüfung von Ostabiturienten“, Bericht der Senatsverwaltung für Schule, Beruf, Bildung und Sport, 8.3.1955, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 2370, Nr. 424.

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Bedingung für ein Hochschulstudium Letzterer.625 Bei den West-Berliner Oberschülern herrschte teilweise eine große Unzufriedenheit über die sozialen Vergünstigungen für Ostabiturienten, die in der Regel auch ein Semester früher als sie mit dem Studium beginnen konnten. In einer Denkschrift der Schülerbetreuung der evangelischen Kirche wurden faktisch alle Schwierigkeiten im West-Berliner Oberschulwesen dem Konkurrenten Ostschüler angelastet: „Die Wurzel allen Übels scheint die große Zahl der Ostabiturienten zu sein.“626 Diese kritischen Stimmungen führten aber weder zu einer prinzipiellen Veränderung des Senatskurses in der Abiturientenfrage noch konnten sie eine Liberalisierung der Anerkennungsbedingungen für die Hochschulreife Ostdeutscher verhindern. Ab September 1957 mussten sie die 13. Klasse, wie es zwischen 1954 und 1957 Pflicht gewesen war, nicht mehr per Sonderlehrgang nachholen, sondern erhielten nach Beendigung ihrer 12-jährigen Gesamtschulzeit im Osten „auf Antrag ohne Sonderprüfung“ vom Senat einen Anerkennungsvermerk, der zur Immatrikulation an eine West-Berliner Hochschule berechtigte.627 Überdies wurde nun nicht mehr nur toleriert, sondern angesichts der boomenden West-Berliner Wirtschaft geradezu gewünscht, dass Ostschüler nach Absolvierung der 13. Klasse im Westen blieben. Hatte man in früheren Jahren aus fachlichen Gründen auf den Sonderlehrgang nicht verzichten wollen und ihn mit „Veranstaltungen zur Erziehung zum westlichen Denken“ verbunden628, so machte der rasante Aufschwung in der zweiten Hälfte der 50er Jahre beides obsolet: Der Stadtstaat benötigte schnell gut ausgebildete Fachkräfte und das „magnetische“ West-Berliner „Schaufenster“ konnte auf „ideologische“ Lehrveranstaltungen verzichten. Nicht zuletzt war es die soziale Marktwirtschaft, die auch dem West-Berliner Bildungssystem Akzeptanz verlieh. 6.1.5 Ferien- und Freizeitgestaltung als Sympathiewerbung Deutlich anders und mit differenzierteren Ergebnissen verlief eine mit dem Beschulungsproblem eng verknüpfte spezielle Form der Bildungskonkurrenz – der Kampf um die Berliner Kinder und Jugendlichen in der Ferien- und Freizeitgestaltung: Wie könne man die junge Generation durch diesbezügliche attraktive Angebote für die einen oder anderen Verhältnisse gewinnen, lautete die Frage. Gleichzeitig war zu prüfen, inwiefern sich das Thema für Öffentlichkeitsarbeit 625 Vgl. Schreiben des AStA der FU Berlin an den Senator für Volksbildung, Tiburtius, 26.5.1955, in: ebd. 626 Denkschrift, 30.4.1957, in: ebd. 627 Senatsbeschluß Nr. 3620/57 vom 17.9.1957, Richtlinien, in: ebd. 628 Vgl. ebd., Acc. 1552, Nr. 62.

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und Propaganda eignete. Den Verantwortlichen des West-Berliner Stadtstaates fehlte es nicht an der Erkenntnis, dass man zur aktiven Gesamtberliner SEDJugendpolitik, besonders in Erholungs- und Ferienfragen, ein konkurrenzfähiges „Gegengewicht“ schaffen müsse.629 Doch kam der Ost-Berliner Seite zustatten, dass West-Berlin nach 1949 aus den genannten Gründen für Jugendarbeit und Feriengestaltung vergleichsweise geringe Mittel einsetzte und dieser Bereich auch konzeptionell nur am Rande der Aufmerksamkeit stand. Hingegen besaß er für die SED, die überdies an kommunistische jugendpolitische Traditionen aus der Zwischenkriegszeit anknüpfte, aus ideologischen und politischen Gründen einen weit höheren Stellenwert, sicherlich aber auch einen humanistischen Selbstzweck. Zwar wurde auch in West-Berlin an entsprechende sozialdemokratische Werte und Erfahrungen aus der Arbeiterjugendbewegung vor 1933 erinnert; sie fanden bei der regierenden SPD West-Berlins aber kaum aktuellen Widerhall, der sich noch am ehesten bei sozialdemokratischen, konfessionellen und liberalen Jugendorganisationen zeigte. Berlins Jugend für die kommunistische Politik und ihre Ideale, aber gleichzeitig auch immer für die jeweils aktuellen politischen Aufgaben zu gewinnen630, stellte auch eine „ferienpolitische“ Aufgabe dar. Sie nahm die SED zentralistisch in Angriff: Blockparteien, Massenorganisationen und Staatsorgane handelten nach den von ihr vorgegebenen Richtlinien gemeinsam und „planmäßig“. Die organisatorische Vorbereitung und Durchführung der jugendpolitischen Großaktionen lag in den Händen des Sekretariats des FDJ-Zentralrats.631 Natürlich wollten er und die SED mit ihren Ferien- und Freizeitprogrammen sozialund bildungspolitisches Verantwortungsbewusstsein und Überlegenheit über den Westen demonstrieren, wenn sie die Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien in beiden Teilen Berlins ansprachen. Ein derartiger gesamtstädtischer Ansatz schien geeignet, politische Ambitionen durch das bekannte Argument zu verschleiern, mit Gesamtberliner Ferien- und Freizeitaktionen zur Wiedervereinigung Berlins beitragen zu wollen. Nicht anders argumentierte die West-Berliner Konkurrenz bei ihren gleichgelagerten Aktivitäten. Nur ging Ost-Berlin auch in der Art systematischer und planvoller heran, als es bestimmte Zielgruppen an-

629 Vgl. Schmidt, Jugendarbeit im Schatten, S. 43f. 630 Im Frühjahr waren es beispielsweise der Kampf gegen die Pariser Verträge und gegen „Schmutz und Schund“ sowie die Herstellung einer Verbindung der Pionierorganisation „mit der Masse der Kinder der Werktätigen Westberlins“. Auch sollte die „Forderung nach Absetzung von Tiburtius“ gestellt werden. Vgl. Protokoll Nr. 11/1955 der Sitzung des Büros der SED-BL, 17.3.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 224, Bl. 5. 631 Vgl. Protokoll Nr. 171/III/51 der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats, 5.7.1951, in: SAPMO-BArch, DY 24/2411.

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sprach: Kinder und Jugendliche aus Arbeiter- und Arbeitslosenmilieus WestBerlins. Diese Prioritätensetzung schien erfolgversprechend, weil sie dort sowohl mögliche Konfliktpotentiale ins Kalkül zog als auch die Chance, sich als kompetent und fürsorglich zu präsentieren. Auch stellte sich die Frage, ob die SED gedachte, die „Schlappen“ ihrer Schulpolitik durch Erfolge an der „Ferien- und Freizeit-Front“ in gewissem Umfang auszugleichen. Gesichert ist, dass sie die SED als Teil und „Weiterführung des schulpolitischen Kampfes in Westberlin“ sah.632 Dabei wandte sie durchgängig die Taktik an, West-Berliner Kinder und ihre Eltern für die Feriengestaltungen mittels der ihr nahen Medien sowie durch Flugblatt- und Plakataktionen, Instrukteure und Werbeeinsätze, aber auch Mundpropaganda systematisch zu werben.633 In West-Berlin waren es hingegen nur die auch im Ostsektor tätigen kirchlichen Verbände und Jugendorganisationen wie die „Falken“, die auf der Basis noch funktionierender Netzwerke die Ostjugend in ihre West-Berliner Zeltlager holten.634 Das Geld dafür warben sie mit Unterstützung des West-Berliner Hauptjugendamtes zumeist bei der amerikanischen Besatzungsmacht und zunehmend auch beim Gesamtdeutschen Ministerium in Bonn ein: Die zu über 50 Prozent von der Jugend aus Ost-Berlin und der Ostzone besuchten Zeltlager seien für sie ein Zufluchtsort, der ihnen ein paar Sommertage „der Freiheit“ biete, nach denen sie ein ganzes Jahr „hungerten“635, hieß es. Aber auch die Gegenseite berichtete glaubhaft von begeisterten Kindern aus WestBerlin, die im Ostteil der Stadt erholsame Tage verbrachten.636 Entsprechende Zustimmungserklärungen wurden a priori propagandistisch genutzt und der Dank der beteiligten West-Berliner öffentlichkeitswirksam organisiert.637

632 Protokoll Nr. 11/1955 der Sitzung des Büros der SED-BL, 17.3.1955, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 224, Bl. 5. 633 Vgl. SED-BL Berlin: „Beschluß zur Vorbereitung und Durchführung der Sommerferien 1960 für die Schüler und Lehrlinge in Berlin“, 10.5.1960, in: ebd., Nr. 425, Bl. 67f. 634 Vgl. Schmidt, Jugendarbeit im Schatten, S. 44. 635 1950 hätten 16.000 Kinder und Jugendliche aus Ost-Berlin und der SBZ an ihnen teilgenommen. Vgl. ebd. 636 Vgl. „Berliner Zeitung“ (O), 6.6.1951. 637 So sollte eine Gruppe West-Berliner Jugendlicher an einer großen Demonstration „ungefähr unter der Losung (teilnehmen); Wir westberliner Jugendlichen danken der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Freien Deutschen Jugend für den ermöglichten Erholungsaufenthalt.“ Der Allgemeinen Deutschen Nachrichtenagentur der DDR (ADN) wurde laufend mitgeteilt, wie viele Jugendliche täglich aus West-Berlin in die DDR-Ferienlager abreisten. Vgl. Protokoll Nr. 180 der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrats am 16.7.1953, in: SAPMO-BArch, DY 24/2413.

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Überdies gehörte es zum agitatorischen Standard, dass tatsächliche oder angebliche Störungen von Ferienbesuchen der West-Berliner Kinder im Osten durch den Senat und die „rechte Gewerkschaftsführung“ in einer Art publiziert wurden, die den Verdacht nahelegten, die SED habe auf Behinderungen geradezu gewartet.638 Was noch 1950 wie ein randständiges Konkurrenzgeplänkel aussah, entwickelte sich ab 1951/52 zu einem systematischen Schlagabtausch. Da die SED und der Magistrat einige Erfolge ihrer Ferienwerbungen registrieren konnten, der Senat auf diesem Gebiet nicht nachzog und im Gegenteil weiter an Boden verlor, erweiterten sie ihr Ferien- und Freizeitangebot639 sowie den dafür notwendigen finanziellen und personellen Aufwand.640 Bis Mitte der 50er Jahre entstand eine spezifische „Ferienlager“-Bürokratie, die größtenteils neben- oder ehrenamtlich arbeitete und zu erheblichen Teilen ostdeutschen Produktionsbetrieben entstammte. Dennoch kritisierte die SED häufig, dass die gesellschaftlichen Kräfte zur „Gewinnung der westberliner Kinder“ nicht konsequent genug agierten.641 Auf der WestBerliner Seite verschaffte das Rote Kreuz von Juli 1953 bis Juli 1957 zwar einigen Tausend West-Berliner Kindern Ferienaufenthalte in der Bundesrepublik über insgesamt fünf „Kinderluftbrücken“642, doch blieben die Aktionen trotz verschiedener Bemühungen weit hinter den Erfordernissen zurück. Im Unterschied zur 638 Vgl. Protokoll Nr. 147 der Sitzung des Sekretariats des FDJ-Zentralrates, 24.5.1951, in: ebd., DY 24/2409. 639 Zu den Ferienlageraktionen traten die sommerlichen „Ferienspiele“ an den Ost-Berliner Schulen und ein verstärktes Angebot an eintägigen Ausflügen, Wanderungen und „Sonderveranstaltungen“, die insbesondere für die Kinder West-Berliner Arbeitsloser durchgeführt wurden. Vgl. Bericht, undatiert, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 238 und Magistratsvorlage Nr. 1172, 6.11.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 971, Bl. 183. 640 1952 seien „erstmalig über 100.000 Berliner Kinder aus allen Sektoren“ erfasst worden. Da das mehr als erwartet waren, stockte der Magistrat nachträglich die Zuschüsse für die Aktion „Frohe Ferientage für alle Kinder“ um beinahe 700.000 Ostmark auf. Auch stiegen die Kosten, weil er ab 1952 „erheblich mehr und bessere Lebensmittel für die örtlichen Ferienlager, Ferienspiele und Schulwanderungen“ bereitstellte. Vgl. ebd. 641 1954 seien 2.300 West-Berliner Kinder in den Ost-Berliner Ferienlagern gewesen, 1955 bereits 4.170. Beinahe alle schulpflichtigen Ost-Berliner Kinder (103.163) nahmen an Pionierlagern und Ferienspielen teil. Da es Mehrfachteilnahmen gab, kam der Magistrat auf ca. 122.000 Teilnehmer. Geklagt wurde wieder besonders über die „schlechte Mitarbeit des FDGB und der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft (DSF). Vgl. Abt. Leitende Organe der SED-BL, Wochenbericht, 6.7.1955, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 611 und Abt. Kultur der SED-BL., Bericht über die Vorbereitung der Ferienaktion 1953, 8.6.1953, in: ebd., Nr. 174, Bl. 38. 642 Vgl. 25 Jahre Deutsches Rotes Kreuz Landesverband Berlin. 1950–1975, Berlin (W) 1975, S. 5, 9, 10.

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„flächendeckenden“ Ferienplatzversorgung in Ost-Berlin klafften große Lücken. Sie taten sich auch bei West-Berliner Urlaubsangeboten an die ostdeutsche Jugend auf. Als der Senat Mitte der 50er Jahre eine erfolgreiche Offensive gegen die SEDSchulpolitik eröffnete, verschlechterte sich parallel und im Widerspruch dazu die allgemeine Ferienlagergestaltung. Die der SPD nahestehende sozialistische Kinder- und Jugendorganisation „Die Falken“ appellierte an den Senat, angesichts der östlichen Initiativen „im politischen Interesse der gesamten freien Jugendarbeit“ einen „entscheidenden Wandel“ herbeizuführen, ein Gegengewicht zum SEDEinfluss in West-Berlin zu schaffen sowie umgekehrt auf die Ost-Berliner Jugend einzuwirken.643 Sie sei den Sommerbetreuungsprogrammen der FDJ zu entziehen.644 Die Appelle blieben nicht ungehört. Etwa ab Mitte 1956 subventionierten Senat, Jugendverbände und andere Träger „Kurzbegegnungen“ von etwa 4.000 Kindern und Jugendlichen aus dem Osten mit jungen Leuten aus West-Berlin. Die Aktion besaß „politischen Charakter“ und firmierte unter „staatspolitischen Erziehungsmaßnahmen“. Weitere 4.500 Ost-Berliner Mädchen und Jungen wurden zu „Ferienbegegnungen“ nach West-Berlin und etwa 2.000 im Rahmen der „Ferienverschickung“ in die Bundesrepublik eingeladen.645 Das trieb den Berliner „Ferienwettbewerb“ immens an und veranlasste die SED mit der nicht ganz unrichtigen Behauptung, „die Erfolge unserer Feriengestaltung“ zwingen den Senat, „so zu tun, als ob er bedeutende Maßnahmen für die Erweiterung der Ferienbetreuung für die westberliner Kinder und Jugendlichen eingeleitet hat und durchführen wird“646, und damit zu verstärkten Anstrengungen. Zwar blieben die Subventionen aus den regulären Etats des Westens nach wie vor unzulänglich. Doch schien ein neuer Ost-Berliner Eifer geboten, weil sich zumindest nichtstaatliche Gelder für die West-Berliner Ferienerholung erhöhten.647 In einer großangelegten propagandistischen Kampagne, die auf Ost-

643 Schreiben des Ersten Landesvorsitzenden der Berliner „Falken“, Harry Ristock, an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 27.6.1955, in: LAB, B Rep. 2002, Acc. 1512, Nr. 1761, Bl. 335. 644 Vgl. Schreiben von Ristock an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 21.4.1961, in: ebd., Bl. 38. 645 Vgl. Berlins Ost-West-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 35. 646 1955 hätten 5.014 West-Berliner Kinder ihre Ferien allein in Betriebsferienlagern der DDR verlebt. Vorlage an das Sekretariat der SED-BL über die Beteiligung West-Berliner Kinder an der Sommerferiengestaltung, 5.4.1956, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 272, Bl. 52. 647 Auch in Ost-Berlin wurde aufmerksam wahrgenommen, dass beispielsweise eine Sonderbriefmarke zugunsten der Ferienaktion, die Fernsehlotterie „Reise ins Glück“, die Aktion „Ein Platz an der Sonne“ sowie private Spenden dazu beitrugen. Das alles sei aber nur ein

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Berliner Erfolgsbilanzen hinwies648, bot der Magistrat dem Senat im Dezember 1957 plakativ 1.000 Ferienplätze für West-Berliner Kinder zu den Weihnachtsferien an. Er habe gehört, dass der Senat dafür keine Mittel zur Verfügung stelle.649 Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte der Magistrat auf inoffiziellem Weg allen WestBerliner Eltern seine Bereitschaft erklärt, „angesichts der katastrophalen Lage“ in den Westsektoren über 15.000 Ferienplätze in der DDR oder im Rahmen der Ost-Berliner Ferienspiele bereitzustellen.650 Ähnliche Angebote wiederholten sich 1957 und 1960. Sie waren ernst gemeint, führten zu neuen östlichen Planungen und Anstrengungen, verfehlten aber mangels Nachfrage erstmals deutlich ihr Ziel.651 Allerdings zeigten die vom Senat ignorierten Offerten bis 1958/59 nicht nur bei den umworbenen West-Berlinern, sondern auch bei ihm selbst und den Bundesbehörden Wirkung: „Die Kommunisten haben mit ihren Kinderferienaktionen eine schwache Stelle im sozialen Gefüge der Bundesrepublik ausgenutzt“, hieß es in einem Papier des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen. Dem könne nur begegnet werden, wenn „größere finanzielle Mittel für den Erholungsurlaub von Kindern“ bereitgestellt würden und die Medien genügend bekannt machten, „welche Möglichkeiten für minderbemittelte Eltern bestehen, ihren Kindern eine Ferienerholung mit geringen Kosten zuteil werden zu lassen“.652

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„Bruchteil“ der benötigten Mittel gewesen. Ausschuß für Deutsche Einheit (Hrsg.), Das Schulwesen, S. 19. 1956 habe Ost-Berlin 2.700 West-Berliner Kinder als Feriengäste begrüßt, 1957 bereits 19.000. Vgl. ebd. Vgl. Magistratsschreiben an Senatorin Kay, 9.12.1957, in: LAB, C Rep. 124, Nr. 181. Vgl. Aufruf: „Liebe Eltern in Westberlin“, Juni 1956, in: ebd. Im Januar 1957 offerierte der Ost-Berliner Schulausschuss der Senatorin für Jugend und Sport 15.000 Ferienplätze für West-Berliner Kinder und Jugendliche. Angeblich hätten 1956 insgesamt 60.000 Kinder aus der Bundesrepublik und West-Berlin ihre Ferien in der DDR verlebt. Das Angebot (15.000 Ferienplätze) wiederholte sich 1960; es wurde von den östlichen Medien „popularisiert“. Vor allem der Rundfunk habe dabei „den wahren Charakter der sogenannten Feriengestaltung in Westberlin zu entlarven“, verlangte die SED-Führung. Das mit großem Aufwand verfolgte Ziel, 6.500 West-Berliner Kinder für einen Sommer-Ferienaufenthalt im Osten zu „werben“, wurde allerdings (mit 1.320 Gästen) weit verfehlt. Vgl. Information, undatiert (1957), in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5535; SED-BL: „Beschluß zur Vorbereitung und Durchführung der Sommerferien 1960 […], 10.5.1960, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 425, Bl. 67 f; SED-BL: „Auswertung der Sommerferiengestaltung 1960“, 29.9.1960, in: ebd., Nr. 439, Bl. 54, 57. Anlage Vier zum Schreiben des Bundesministers für Gesamtdeutsche Fragen an die Senatoren für Bundesangelegenheiten und Inneres, 23.4.1957, in: ebd., B Rep. 013, Acc. 1796, Nr. 215.

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Angesichts fraglicher Realisierungschancen sowie der einer realistischen Analyse unterzogenen ostdeutschen Erfolge653 war man sich dieses „Rezepts“ jedoch keineswegs sicher. Deshalb ersuchte das Bundesministerium den West-Berliner Innensenator, der Ost-Berliner Ferienverschickung „ein besonderes Augenmerk (zu) widmen und für entsprechende Aufklärung (zu) sorgen“.654 Derartige Maßnahmen und einige sichtbare Behinderungen der Ferienreisen West-Berliner Schüler in die DDR führten wiederum zu moralisierenden Propagandaaktionen der SED655, die ihrerseits Reisen von Ostkindern in die Bundesrepublik zu verhindern suchte. Das hatte jedoch ebenfalls Folgen: Nach 1958 stellten der Senat, insbesondere aber die Bundesregierung, weitere Mittel zur Ferienbetreuung von Ost-Berlins Schülern und Jugendlichen656 zur Verfügung und sicherten sie und ihre Eltern besser gegen Schikanen ab.657 Da nun aber auch für die Ferienbetreuung von 70–80.000 Jugendlichen in West-Berlin ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung standen, was dort mit

653 Es sei der SED in der Feriengestaltungsfrage durch die Kontakte zwischen Ost- und Westbetrieben gelungen, eine „verhältnismäßig große Zahl von Kindern“ aus Arbeiterfamilien zu gewinnen. Erfolg habe der Osten insbesondere bei kommunistischen oder politisch labilen Eltern und solchen „mit geringen Einkommen und in Notstandsgebieten“ gehabt. Für viele Kinder wäre das Ferienlager im Osten „die erste Ferienreise ihres Lebens“ gewesen, von der sie begeistert erzählten. Der Transport der Kinder (u.a. mit „modernen Großraumwagen“) und die Unterbringung seien „insbesondere in den von Betrieben betreuten Lagern gut gewesen. So waren die Kinder „nach ihrer Rückkehr gut erholt, mitunter sogar völlig neu eingekleidet“. Da auch die ärztliche Versorgung im Allgemeinen ebenfalls gut gewesen sei, waren die Kinder „von ihrem Ferienaufenthalt begeistert“. Offenbar sei der von der SED gewünschte „erzieherische Effekt“ im „Nebeneinander von Spiel und politischer Beeinflussung“ eingetreten. Das Bundesministerium gab die Gesamtzahl der West-Berliner und bundesrepublikanischen Kinder in den Ferienlagern der DDR im Jahr 1956 mit 22.200 an. Anlage Vier: „Die sowjetzonale Kinderferienaktion in den Jahren 1954–1956. Zentrale Arbeitsgemeinschaft „Frohe Ferien für alle Kinder“, 6.7.1957, in: ebd. 654 Schreiben des Bundesministeriums des Innern an die obersten Jugendbehörden der Länder, 23.4.1957, in: ebd. 655 Vgl. Steiniger, Westberlin, S. 184f. 656 Vgl. Schreiben von STS Thedieck (Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen) an Senatorin Kay, 16.7.1957, in: LAB, B Rep. 2002, Acc. 1512, Nr. 1763, Bl. 28f. 657 Möglichen Repressionen gegen Kinder und Eltern ging man nicht zuletzt durch Flüge von West-Berlin in die Bundesrepublik aus dem Wege. Die Kosten wurden aus einem Fonds des Gesamtberliner Büros bestritten. Überdies wurden zunehmend Zeltplätze in WestBerlin für Ostkinder reserviert. Vgl. Senatsbeschluß Nr. 44/33/58 vom 13.5.1958 und Schreiben von Legien (Gesamtberliner Büro) an Bgm. Amrehn, 6.8.1957, in: ebd., Bl. 3f., 21.

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Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde658, brach das der Ost-Berliner Ferienplatz-Konkurrenz die Spitze. Für sich genommen handelte es sich mit ihr um ein wirkungsvolles östliches Wettbewerbsinstrument, das in der Tat auch dazu angelegt war, die Misserfolge der SED in ihrer Berliner Schulpolitik abzumildern. Tatsächlich ergab sich in dieser Beziehung auch der Eindruck eines bildungspolitischen „Revanchefeldzuges“ des Ostens, der aber ungewollt auch zur allmählichen Verbesserung des jugendpolitischen Angebots in West-Berlin beitrug. Da aber auch der Magistrat das Niveau seiner weitgefächerten Ferienprogramme bewahrte, erfreuten sich die Kinder und Jugendlichen im gesamten Berlin einer vergleichsweise hohen Qualität dieser Art sozialer Fürsorge.

6.2 Das Duell der Berliner Universitäten und öffentlichen Bibliotheken 6.2.1 Die Freie Universität als politische Kreation Die Analyse der universitären Separation bedarf eines Rückgriffs auf die Zeit gleich nach Kriegsende. Bereits am 12. November 1945 war die ehemalige Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität als Berliner Universität wieder eröffnet worden. Wenngleich die Besatzungsmächte sie mit Achtung behandelten, ihr ein hohes Maß an Selbstbestimmung zubilligten und offenbar nicht beabsichtigten, ihr fremde Hochschulmodelle aufzunötigen, nagte der beginnende Kalte Krieg bald auch an ihren akademischen Fundamenten. Der Grundkonsens, dass die im sowjetischen Sektor liegende Universität von politischen Richtungskämpfen und machtpolitischen Außeneinflüssen frei bleiben und sie nach den Erfahrungen mit der Politisierung vor 1933 und ihrer Instrumentalisierung in der Naziära ein Hort der Demokratie und des Wissens sein müsse, löste sich in dem Maße auf, wie der Ost-West-Konflikt Berlin als Ganzes ergriff. In den Jahren 1945 und 1946 waren zwischen den alliierten und deutschen Kräften in Hochschulfragen zwar immer wieder Konflikte entstanden, aber noch keine politischen und ideologischen Gräben, die nicht zu überbrücken gewesen wären. Erst als die Dominanz der Sowjets und der SED an der Berliner Universität auf demokratischen Wegen nicht mehr erreichbar schien und sie bei der Durchsetzung ihrer Herrschaftsansprüche zu autoritären Methoden griffen, zeigten sich ideologische Unversöhnlichkeit und antistalinistischer Widerstand. Sie hatten ihre Wurzeln zunächst in dem Umstand, dass die Berliner Universität nicht, wie es sich viele wünschten, der Stadt Berlin, sondern der von der SED 658 Vgl. „Der Tag“, 8.4.1960; „Die Welt“, 8.4.1960; „Der Tagesspiegel“, 8.4.1960.

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kontrollierten Zentralverwaltung für Volksbildung der SBZ unterstand. Konfliktstoff sammelte sich konkret mit der Errichtung einer dem Magistrat unterstellten Vorstudienanstalt an. Sie war im Mai 1946 mit dem Ziel in eine Vorstudienabteilung umgewandelt worden, „Töchter und Söhne von Arbeitern und Bauern, von antifaschistischen Widerstandskämpfern, von Verfolgten des Naziregimes auf ein Hochschulstudium vorzubereiten und auf diesem Wege zur Brechung des Bildungsmonopols der früher herrschenden Klassen beizutragen“.659 1947 wurde die Vorstudienabteilung zur Erwerbung der Hochschulreife in die Universität eingegliedert. Sicherlich versuchten Sowjets und SED, die unter den regulären Abiturienten nur über eine Minderheit von Anhängern verfügten, auf diesem Wege ihre universitäre Basis zu verstärken. Allerdings entsprang die Vorstudienanstalt nicht nur machtpolitischem Kalkül, und sie lieferte mit dem Ziel, „soziales Unrecht gutzumachen und das Bildungsprivileg der Besitzenden zu brechen“, keineswegs nur eine bloße „Tarnbegründung“, wie es ihre Kritiker undifferenziert unterstellten.660 Linke Kräfte sahen in ihr eine soziale Aufgabe, die sowohl ihren Gleichheits-, aber auch den traditionellen Emanzipationsvorstellungen der Sozialdemokratie entsprach. Dahinter stand die Idee, begabte junge Leute, denen aus sozialen oder anderen Gründen ein Aufstieg über die höhere Bildung bislang verwehrt war, am Aufbau einer neuen Ordnung – wie immer sie auch heißen mochte – aktiv zu beteiligen. An fähigen Nachwuchskräften fehlte es nach dem Krieg, und so bot die Vorstudienanstalt durchaus eine Möglichkeit, notwendige Modernisierungen durch gesellschaftliche Offenheit und soziale Durchlässigkeit zu fundieren. Das allerdings traf auf den Widerstand der traditionellen Bildungseliten. Sie erblickten in der verkürzten Grundausbildung an der Vorstudienanstalt sowohl eine Gefährdung der akademischen Wissensvermittlung und einen standespolitischen Makel, als in den von ihr Begünstigten eine zukünftige berufliche Konkurrenz. Der „Sündenfall“ traf jedoch erst ein, als die SED die erweiterte Aufnahme von „Arbeiterund Bauern-Studenten“ an die Berliner Universität mit der Reduzierung nichtkonformer Abiturienten aus dem bürgerlichen „Lager“ verband. Antagonismen zeigten sich aber auch konzeptionell-inhaltlich. Zunächst hatte eine demokratische Erneuerung von Lehre und Forschung im Interesse aller nichtnazistischen Kräfte gelegen. Als jedoch Ende 1946 eine Vorlesung für alle Studenten über „Politische und soziale Probleme der Gegenwart“ als obligatorisch eingeführt wurde, 659 Vgl. Autorenkollektiv (der Humboldt-Universität), Spaltung. Die Gegenuniversität im politischen Kampf. 1948, in: Uwe Prell/Lothar Wilker (Hrsg.), Die Freie Universität Berlin 1948–1968–1988. Ansichten und Einsichten, Berlin (O) 1989, S. 41. 660 Georg Kotokowski, Die Freie Universität Berlin. Entstehung und Entwicklung, in: Die Freie Universität Berlin, hrsg. im Auftrag des Senats der Freien Universität Berlin, Berlin (W) 1965, S. 7f.

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begann sich der Konsens von der „Basis“ her aufzulösen. Ein Teil der Studenten blieb dieser marxistisch dominierten Veranstaltung fern, weil sie darin eine Beschädigung der politischen Neutralität der Universität sahen und argwöhnten, dass man sie damit, in Verbindung mit der zweckgerichteten SED-Personalpolitik, auf einen linientreuen Kurs bringen wollte. Die studentische Opposition wurde bereits Ende 1946 von konservativen Berliner Presseorganen in ihrer Auffassung bestärkt, dass die Berliner Universität in naher Zukunft „aus der kulturellen Liste Deutschlands“ gestrichen werden müsse, wenn sie ihren Kurs fortsetze.661 Wenngleich eine derartige von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung forcierte Tendenz vorhanden war, befand sich die Alma Mater aber noch längst nicht in kommunistischer Hand. Ihr Lehrkörper bestand weitgehend aus Persönlichkeiten, die sich als politisch nicht gebundene Hochschullehrer empfanden, von denen nur verschwindend wenige der SED angehörten. Auch besaß das von der genannten Zentralverwaltung im Dezember 1946 in Kraft gesetzte Studentenstatut in Vielem noch demokratischen Charakter, und bei den Wahlen zur Studentenvertretung konnten sich von 30 Kandidaten nur drei Kommunisten durchsetzen.662 Selbst noch im November 1947, als „Der Tagesspiegel“ die polemische Frage stellte, ob die Berliner Universität „Universitas oder Parteihochschule“ sei, kam er angesichts der hinhaltenden Abwehr in den gewählten studentischen Gremien zu der Erkenntnis, dass der SED der „ideologische Durchbruch“ noch nicht gelungen sei, er allerdings sehr bald eintreten würde.663 Nachdem sich Anfang 1947 unmissverständlich Anzeichen „eines politischen Drucks und kommunistischer Willkür“ durch die Verhaftung von drei Studentenvertretern gezeigt hatten664, begannen die Widersprüche zwischen kommunistischen und demokratischen Kräften Anfang 1948 den Charakter einer systematischen Auseinandersetzung anzunehmen. Doch nicht sie bestimmte ihren konfrontativen Verlauf, sondern die Zuspitzung des Kalten Krieges in Berlin. Als im April 1948 Drangsalierungen von weiteren Studentenvertretern bekannt wurden und der Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, Paul Wandel, den beiden Herausgebern und dem leitenden Redakteur der demokratisch-oppositionellen Studentenzeitschrift „Colloquium“ die Studienerlaubnis entzog, kam es zum Eklat: Eine Protestkundge661 Zitiert nach: ebd., S. 44. 662 Vgl. Presse- und Informationsstelle der FU-Berlin (Hrsg.), Hochschule im Umbruch, Teil 1: Gegengründung wozu? (1945–1949). Ausgewählt und dokumentiert von Siegward Lönnendonker und Tilman Fichter unter Mitarbeit von Claus Rietschel im Auftrag des Präsidenten der FU Berlin, Berlin (W) 1978, S. 68. 663 „Der Tagesspiegel“, 8.11.1947. 664 Uwe Schlicht, Eine politische Geschichte, in: Freie Universität Berlin, hrsg. vom Präsidenten der FU Berlin, Presse- und Informationsstelle, Berlin 1998, S. 10.

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bung von etwa 1.500 Studenten forderte nun erstmals die Gründung einer alternativen – einer freien – Universität in den Westsektoren. Diese Forderung fand bei einer Reihe von Studenten, Berliner Politikern und der nur kurz zögernden amerikanischen Besatzungsmacht Zustimmung. Sie stieß jedoch auf den Widerspruch nicht nur der SED und ihrer Verbündeten, sondern auch auf die Ablehnung durch zahlreiche Studenten und Professoren sowie schließlich auch des Senats der Universität selbst.665 Es waren nicht zuletzt traditionsbewusste liberale Hochschullehrer, die in diesem Akt einen nicht zu kompensierenden Verlust an Renommee sahen, das sich die weltbekannte Lehr- und Forschungsstätte über Jahrzehnte erworben hatte. Andere hingegen befürchteten ihre gänzliche Vereinnahmung durch den Kommunismus oder waren sich, wie die Westdeutsche Rektorenkonferenz, in dieser schwerwiegenden Angelegenheit uneins.666 Als schließlich die Berliner Stadtverordnetenversammlung am 11. Mai 1948 gegen die Stimmen der SED-Fraktion und weiterer fünf Abgeordneter für die Errichtung einer Freien Universität (FU) in Berlin-Dahlem plädierte und der Magistrat diesen Schritt begründete667, war alles nur noch eine Frage der Zeit. In den folgenden Wochen bildeten sich verschiedene Initiativgruppen und ein Gründungskomitee unter der Leitung von Ernst Reuter. Am 23. Juni 1948 wurde im Manifest zur Universitätsgründung, die den Beginn der Berlinkrise dynamisierte, der Öffentlichkeit prosaisch der Zweck der FU erläutert.668 Am 4. Dezember eröffnete sie ihr Gründungsrektor, der Historiker Friedrich Meinecke, mit programmatischen Worten: „Nicht Kampf gegeneinander, sondern Wetteifer miteinander sei unsere Losung.“669 Wenn Reuter aus dem gleichen Anlass die Gründung dramatisch überhöhte670, wussten doch alle Beteiligten, dass es sich um die politische Gegen665 So polemisierte der Dekan der juristischen Fakultät, Hans Peters, „wie eine Kampfuniversität, die den unergiebigen Auftrag hat, eine andere in derselben Stadt zu zerstören, politisch wirklich frei sein könnte, ist das Geheimnis der Verteidiger dieses Glaubens“. Der Senat der Universität sprach sich am 11.5.1948 gegen eine neue Universität aus. Zitiert nach: Autorenkollektiv (der Humboldtuniversität), Spaltung, S. 49. 666 Vgl. Schlicht, Eine politische Geschichte, S. 15f. 667 Alle Versuche, die Stadt Berlin an der Verwaltung der Universität zu beteiligen, seien gescheitert. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 1121. Zur Beschlußfassung in der Sitzung am 15.9.1948, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 830, Bl. 5. 668 „Aus dem Geist der Selbstbehauptung heraus, mit der sich unsere Stadt gegen die Blockade erhob, soll diese Universität entstehen und als geistiger Mittelpunkt des freiheitlichen Berlins der Genesung Deutschlands dienen.“ Zitiert nach: Schlicht, Eine politische Geschichte, S. 16. 669 Zitiert nach: ebd., S. 18. 670 In einer „Sklavenwelt“ sei eine freie Universität und überhaupt eine „Universitas litterarum“ unmöglich. „Und deshalb haben die Studenten zuerst […] erkannt, daß sie

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gründung zur inzwischen von der SED beherrschten Ost-Berliner (seit 1949 Humboldt-)Universität handelte. Und sie würde den Beginn einer Konkurrenz markieren, die nicht konstruktives Wetteifern hieß, wie es sich Meinecke vorstellte, sondern harte politische Systemauseinandersetzung. Georg Kotokowski stellte zutreffend fest, dass die Gründer der FU von Hause aus nicht „antisowjetisch“ waren, sondern es wurden, weil die stalinsche Deutschlandpolitik „jedes andere Verhalten als das der kritiklosen Unterwerfung“ als antisowjetisch unterstellte.671 Die Deutschlandpolitik spielte auch insofern eine wichtige Rolle, als beide Universitäten nicht nur als regionale akademische Stätten, sondern gesamtdeutsch angelegt waren und als Vorbilder im Ringen um die geistige und politische Einheit der Nation.672 Aus der zeitgenössischen ideologischen Überhöhung673 der Gründung entwickelte sich alsbald ein Mythos aus Dichtung und Wahrheit. Sicherlich war die FU im Kontext von Kaltem Krieg, Berlinkonflikt und ostdeutscher Sowjetisierung unumgänglich geworden. Doch werfen der kompromisslose Modus und das Tempo der Neugründung die Frage auf, ob und inwiefern sie die westliche Seite gewollt, geplant und auch provoziert hatte. Auch entsprach die Gründungslegitimation der FU-Initiatoren, dass die meisten Studenten und Hochschullehrer der Berliner Universität 1948 eine universitäre Alternative in West-Berlin begrüßten und von ihr massenhaft angezogen wurden, so nicht den Tatsachen. Denn zunächst war eher das Gegenteil der Fall.674 Viele Professoren gerieten ins Kreuzfeuer westsektoraler Kritik, weil sie den Umzug nach Dahlem nicht oder nur zögernd

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dort nicht bleiben durften, wo die Fahne der Freiheit nicht weht.“ Zitiert nach: ebd., S. 18, 25. Georg Kotokowski, FREIHEIT. Die Gründung der Freien Universität Berlin 1948, in: Prell/Wilker (Hrsg.), Die Freie Universität. Berlin 1948–1968–1988: Ansichten und Einsichten, Berlin 1998, S. 30. Erwin Redslob, Freie Universität Berlin, Berlin (W), 1963, S. 25, 34, 37. Immer wieder äußerten vor allem amerikanische Publizisten und Journalisten, dass die FU-Gründung eine der „hervorragenden Leistungen der demokratischen Elemente in Berlin und ein ermutigendes Beispiel des starken Widerstandswillens […] gegen die politische und geistige Unterjochung durch die Kommunisten“ darstelle und ein Symbol konstruktiver demokratischer Opposition gegen die Kräfte sei, die Berlin unter ihre Herrschaft zu bringen versuchen. Bericht über die FU von Howard W. Johnston, 20.4.1949, zitiert nach: Presse- und Informationsstelle der FU Berlin, Hochschule im Umbruch, Teil 1, S. 69 und Autorenkollektiv (der Humboldt-Universität), Spaltung, S. 51. Bis zum 31.3.1949 hatten lediglich 350 von 7.200 Studenten die Universität gewechselt, also weniger als fünf Prozent. Bis Ende April 1949 waren es acht Professoren und 15 andere Lehrkräfte. Vgl. Presse- und Informationsstelle der FU-Berlin, Hochschule im Umbruch, Teil 1, S. 69 und Autorenkollektiv (der Humboldt-Universität), Spaltung, S. 51.

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mitvollzogen675 und sie sich in Abwägung der Werte zum Verlassen Ost-Berlins erst dann entschlossen, als sich die sichere wissenschaftliche Perspektive an der FU mit einem verlockenden Westmarkgehalt verband.676 Das stellte ein nicht zu unterschätzendes Konkurrenzargument dar. Inwiefern bei den Einzelnen politische Motive eine Rolle spielten, ist ebenfalls fraglich. Zumindest war die Situation West-Berlins zum Gründungszeitpunkt nicht sicher. Erst mit dem Wintersemester 1948/49 setzte der Zustrom von Ost-Berliner Studenten an die FU ein: Etwa ein Viertel (590 Studenten) wechselte von der alten Universität aus unterschiedlichen Gründen zu ihr hinüber. Wie bereits angedeutet, zog sie in der folgenden Zeit immer mehr Studierende und Abiturienten aus der SBZ/DDR und Ost-Berlin an, die dort keinen Studienplatz erhalten hatten oder aber ihre berufliche Zukunft prinzipiell im Westen sahen. Bei allen gegenteiligen Bekundungen der SED, die sich immer mit ihrer unreflektierten Behauptung verbanden, dass der Westen ostdeutsche Studienkandidaten zur Schädigung des sozialistischen Aufbaus gezielt abwerbe, kam es ihr im Grunde genommen zustatten, dass die FU nichtkonforme oder ihr aus anderen Gründen unliebsame Abiturienten und Studenten mit zumeist bürgerlichem Hintergrund an sich zog. So trug sie zu einer „Säuberung“ der HumboldtUniversität (HUB) bei, die zunehmend mit „Arbeiter-und Bauern“-Kindern aufgefüllt wurde, politisch gesehen mit jungen Leuten, die der SED als systemkonform galten. Auf der anderen Seite profitierte die marktwirtschaftliche Konkurrenz längerfristig von der akademischen Westwanderung, weil ihr talentierter Nachwuchs aus dem Osten zufloss. Auf diese Weise entstand ein funktionierendes System von Interaktionen, aus dem zunächst beide Seiten sehr unterschiedliche Vorteile zogen. Vor allem partizipierte die SED kurzfristig vom „sozialen Sicherheitsventil“677 FU, die im Konkurrenzkampf der ersten Jahre mit erheblichen personellen und finanziellen Widrigkeiten rang.

675 „Der Tagesspiegel“ vom 6.10.1948 sah in diesem Verhalten nicht nur eine Unterstützung des Systems der „geistigen Zwangswirtschaft“, sondern auch einer politischen Herrschaftsform, die u.a. für die Blockade Berlins, willkürliche Verhaftungen und politischen Terror verantwortlich sei. 676 Vgl. Presse- und Informationsstelle der FU Berlin (Hrsg.), Hochschule im Umbruch, Teil 1, S. 69. 677 Vgl. James F. Tent, Freie Universität Berlin 1948–1988. Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, Berlin (W) 1988, S. 275, 284.

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6.2.2 Konstituierung und Konsolidierung der rivalisierenden Berliner Hochschulsysteme Zunächst war die FU auf nur 5.000 Studienplätze ausgelegt. Das lag zum einen an der Finanzsituation West-Berlins, zum anderen aber auch daran, dass qualifizierte Lehrkräfte noch fehlten und so verschiedene Leistungen in Lehre und Forschung von Gastdozenten aus der Bundesrepublik und dem Ausland übernommen werden mussten. Das gehörte ebenso zur „reinen Existenzfrage“ wie das noch fehlende Renommee, aber auch die unsichere Insellage der FU.678 Zwar hatte der Westmagistrat einige in seinen Sektoren gelegene Gebäude der alten Universität mit dem Einverständnis der Amerikaner beschlagnahmt, doch fehlte es an Räumlichkeiten und auch an Ausstattung. Letztendlich trug die amerikanische Besatzungsmacht als Mitinitiator der FU-Gründung und deren eigentliche Garantiemacht durch öffentliche Gelder und umfangreiche nichtstaatliche Spenden (u.a. von der Ford Foundation) zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau von Lehre und Forschung entscheidend bei. Dazu gehörten in den Anfangsjahren die Finanzierung von Tutoren- und Gastdozentenprogrammen, der Austausch von Studenten und Professoren mit Universitäten der USA sowie der Aufbau verschiedener Forschungsrichtungen und Institute. Wie die USA konnten sich auch die Bundesrepublik und der Westmagistrat/Senat ein Desaster der FU in keiner Weise leisten. Doch verschärften sich die Probleme, als in dem Maße, wie die Teilstadt 1949/50 in sozioökonomische Schwierigkeiten geriet, der Anteil der Oststudenten mit 41,5 Prozent aller FU-Studierenden (Wintersemester 1949/50) seinen Höhepunkt erreichte.679 Dahinter stand nicht zuletzt die Verschlechterung des politischen Klimas in der DDR und Ost-Berlin, aber auch die schnell steigende Anziehungskraft der FU. Angesichts der sich bereits im Frühjahr 1949 andeutenden starken „Ost“-Tendenz verlangten sowohl Reuter als auch der West-Berliner Allgemeine Studentenausschuss (AStA) im März 1949 eine quantitative Begrenzung der SBZStudenten zugunsten „West-Berliner Studienbewerber“.680 Dahinter stand die Befürchtung, dass einheimischen Abiturienten Studienplätze weggenommen würden, und wohl auch Konkurrenzängste. Wie im Fall des Zustroms von Ostoberschülern lag das jedoch nicht im politischen Interesse des Westens. Zum ei678 Vgl. Schlicht, Eine politische Geschichte, S. 25–27. 679 Vgl. Tent, Freie Universität Berlin, S. 277, 286. 680 Reuter legte nahe, an der FU Oststudenten „nur in geringem Maße“ zuzulassen, „wenn es aus politischen Gründen unbedingt erforderlich erscheint“, der AStA empfahl der USMilitärregierung, deren Zuzug in den amerikanischen Sektor nur dann zu genehmigen, wenn dadurch keinem künftigen FU Studenten (aus West-Berlin) ein Nachteil entstehe. Vgl. Presse- und Informationsstelle der FU Berlin (Hrsg.), Hochschule im Umbruch, Teil 1, S. 15.

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nen war die FU als „Symbol der deutsch-amerikanischen Freundschaft“ und zum anderen als „akademischer Degen“ für den Kampf um Berlin unverzichtbar. Während die amerikanische Besatzungsmacht mit dem Ausbau der FU zu einer demokratischen Musteruniversität681 als Gegenstück zur Humboldt-Universität nicht nur die Politik der SED, sondern auch die konkurrierende sowjetische Besatzungspraxis in der Stadt diskreditieren wollte, erinnerte die Bundesregierung an ihre gesamtdeutsche Sorgepflicht und an ihren Alleinvertretungsanspruch. Reuter operierte mit dem ihm eigenen Geschick, wenn er diesen „Ball“ aufnahm und es als die „Pflicht der Bundesregierung“ bezeichnete, die finanziellen Kosten für die Ostdeutschen zu übernehmen. Diese „Insel von zwei Millionen“ könne das bekanntlich nicht, und die FU sei eben keine regionale, sondern eine gesamtdeutsche Einrichtung. Dieser Forderung durfte sich die Bundesregierung bei allem „Murren“ prinzipiell nicht entziehen, wenn sie denn in West-Berlin „auch auf geistigem Gebiet“ ein „Bollwerk der freien Welt682 sah. Schließlich betrachtete sich selbst der AStA der FU als „Bestandteil der Abwehrfront gegen die östliche Gefahr“.683 Im Osten galt die Humboldt-Universität ebenfalls als Vorbild für die gesamte deutsche und Berliner Wissenschaftslandschaft, aber auch als der Prototyp einer sozialistischen Universität. Den „gesamtdeutschen Charakter“ der FU bestimmte in den Augen ihrer Protagonisten vor allem die Aufgabe, „die Berlin durch die räumliche Verflochtenheit mit dem Ostsektor und der sowjetischen Besatzungszone gestellt ist“.684 Kontrastierende Feindbilder untermauerten dieses Selbstverständnis: Die Humboldt-Universität bleibe die „traditionelle und rechtmäßige Universität der Hauptstadt“, hieß es im Osten. Die Gründung der FU sei einer der vielen Schritte gewesen, „die das deutsche Monopolkapital im Bunde mit den imperialistischen Besatzungsmächten unternahm, um die eigene Klassenposition 681 Dazu gehöre auch das an der FU geschaffene, für die Studenten vorteilhafte, „Berliner Modell“. So gehörten u.a. zwei Studentenvertreter dem Akademischen Senat und jeweils drei (neben drei Privatdozenten) den Fakultätsvertretungen an. Vgl. Schlicht, Eine politische Geschichte, S. 31, 34. 682 Vgl. entsprechende Reden von Reuter (22.6.1950) und Bundeswirtschaftsminister Erhard (18.6.1954), in: Presse- und Informationsstelle der FU Berlin (Hrsg.), Hochschule im Umbruch, Teil 2: Konsolidierung um jeden Preis (1949–1957). Ausgewählt und dokumentiert von Siegward Lönnendonker und Tilman Fichter unter Mitarbeit von Claus Rietschel im Auftrag des Präsidenten der Freien Universität Berlin, Berlin (W) 1978, S. 10, 26. 683 Ansprache des AStA-Vorsitzenden Spangenberg am 25.11.1950, zitiert nach: Redslob, Freie Universität Berlin, S. 34. 684 Volksbildungssenator Tiburtius 1958. Der Politiker führte aus, dass sich die Bundesregierung aus diesem Grund bereit gefunden habe, „den laufenden Haushaltsbedarf der Universität zu decken“. Zitiert nach: Redslob, Freie Universität Berlin, S. 37.

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zu retten und die Spaltung Deutschlands herbeizuführen“. Die FU habe „dem Ruf der deutschen Wissenschaft großen Schaden zugefügt, da sie nicht geschaffen wurde, um dem friedlichen Aufbau der Wissenschaft und dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen“.685 Das gängige westliche Urteil über die HUB schmeichelte ebenfalls nicht: Sie sei nur noch eine „geistige Drillanstalt für sowjetische Belange“ ohne Lehr-, Lern-, Forschungs- und Meinungsfreiheit, die an der FU gewährleistet sei. Deshalb habe diese die „führende Stelle im geistigen Leben“ Berlins inne.686 Neben der HU und der FU spielten in der politisch-akademischen Systemkonkurrenz aber auch andere Berliner Hochschulen eine zuvorderst politisch definierte Rolle. So war es auch nicht verwunderlich, dass der Ostmagistrat den Beschluss der Stadtverordnetenverwaltung vom 18. März 1948 über die Wiedererrichtung der Hochschule für Politik für sein Verwaltungsgebiet aus fadenscheinigen Gründen687 annullierte. Von 1949 bis zu ihrer Eingliederung in die FU (1959) stellte sie dann als separate West-Berliner Einrichtung für den Osten keine unmittelbare Konkurrenz dar. Demgegenüber geriet die West-Berliner Technische Universität (TU) in Charlottenburg zu einem Brennpunkt der westöstlichen Auseinandersetzung. Diese Universität mit ihrem in der Fachwelt großen Namen besaß auch insofern politische Bedeutung, als sie in den Konfliktjahren 1950 und 1951 bis zu 49 Prozent Oststudenten immatrikuliert hatte und ihr Bestand auch deshalb – trotz Finanznot – nicht in Frage gestellt war. Schließlich gehöre sie zu den „größten technischen Universitäten in West und Ost“, unterstrich der Senat.688 Allerdings lehrten an der TU noch 1950 analog zum bereits dargestellten Kunstbereich eine Reihe von renommierten Professoren, die der SED angehörten oder zumin685 Vgl. Autorenkollektiv (der Humboldt-Universität), Spaltung, S. 51 und Die HumboldtUniversität. Gestern–Heute–Morgen. Zum einhundertfünfzigjährigen Bestehen der Humboldt-Universität zu Berlin und zum zweihundertfünfzigjährigen Bestehen der Charité, Berlin 1960, S. 131. 686 Bollwerk Berlin, S. 44. 687 Nach den Grundsätzen „des bestehenden Magistrats“ müsse das politische Wissen, „insbesondere der wissenschaftliche Sozialismus“, an allen Universitäten gleichberechtigt „durch eine gesellschaftlich-wissenschaftliche Fakultät gelehrt werden“. Die Hochschule für Politik sei aber „als isolierte Anstalt unter den heutigen Verhältnissen als ungenügend anzusehen und außerdem als einseitige politische Zweckgründung […], für die keine Notwendigkeit vorhanden ist“. Außerdem gehe die Wiedererrichtung der Hochschule auf den Wunsch des CDU-Stadtverordneten Landsberg zurück, der auch zu deren Leiter bestimmt worden sei. Magistratsvorlage Nr. 26, zur Beschlußfassung in der Sitzung am 16.12.1948, in: LAB, C Rep. 100–05, Nr. 833, Bl. 85. 688 Internes Papier der Senats-Haushaltsabteilung, 8.5.1951, in: ebd., B Rep. 6, Acc. 2221, Nr. 1863.

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dest in dem Ruf standen, mit ihr zu sympathisieren. Einige andere Hochschullehrer gingen in Ost-Berlin einer Nebentätigkeit nach. Der Kalte Krieg verschlechterte die Atmosphäre an der TU, deren Studenten – wie ihre Kommilitonen an der FU – als „Träger eines kämpferischen Antikommunismus“ galten.689 Den Auftakt für „Bereinigungen“ dort bildete am 13. April 1950 die Entlassung des Chemieprofessors Heinrich Franck, der als SED-Mitglied zeitweilig Prodekan und Dekan gewesen war und dessen Verdienste insbesondere bei der Studienreform niemand bestritt. Der anerkannte Wissenschaftler weigerte sich, auf seine „prokommunistische Tätigkeit“ (er gehörte u.a. zur Führung der Ost-Berliner „Kammer der Technik“) zu verzichten und bekannte sich im Gegenteil zur DDR-Führung.690 In der Folge übte der Senat Druck auf diejenigen TU-Hochschullehrer aus, die, wie die Professoren Mühlig, Scharoun, Bankloh und Heyde, noch Leitungs- oder wissenschaftliche Funktionen in Ost-Berlin, vor allem an der HUB, an der Akademie der Wissenschaften sowie vereinzelt auch in Ostministerien innehatten. Vor die Entscheidung gestellt, ihre beruflichen Stellungen entweder an der TU oder aber in Ost-Berlin aufgeben zu müssen, entschieden sich die meisten – recht unfreiwillig und einige hinhaltend – für die West-Berliner Universität und verließen die HUB oder, wie der bekannte Physiker Leithäuser, das Ost-Berliner Heinrich-Hertz-(Akademie-)Institut, dessen Direktor er war. Im Weiteren erging die Anweisung des Senats, keine Wissenschaftler an die TU zu berufen, „die eine hauptamtliche Tätigkeit im Osten ausüben“.691 6.2.3 Umstrittene Oststudenten an der West-Berliner Alma Mater Waren Ausschlüsse von derartigen Doppelfunktionen, wenngleich sie auch die Spaltung der Berliner Wissenschaftslandschaft vertieften, und entsprechende politische Begründungen692 noch verständlich, brachte der Kalte Krieg bei der 689 Peter Brandt, Wiederaufbau und Reform. Die Technische Universität Berlin 1945–1950, in: Reinhard Rürup (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft, Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1878–1979, Berlin/Heidelberg/New York 1979, S. 511. 690 Vgl. ebd. 691 Dabei ist zu beachten, dass sie diese bereits vor der administrativen Spaltung Berlins wahrnahmen. Vgl. Hausinterne Information an Stadtrat May, 19.6.1950, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 2887. 692 Derartige Doppelfunktionen seien „mindestens in dem Maße, in dem es sich um Tätigkeiten im öffentlichen Dienst handele, untragbar“. Mitte 1951 gingen aber immer noch einige Hochschullehrer der TU an der HUB oder in anderen Wissenschaftsgremien teilweise juristisch verbindlichen Ostverpflichtungen nach (u.a. die Professoren Heyde, Grotian, Splittgerber und Witte an der HUB sowie Mühlig und Nordmann an der Deutschen Akademie der Wissenschaften). Der Volksbildungssenator übermittelte dem Rektor der TU, man sei sich zwar der Härten bewusst, doch zwängen die politische Lage West-

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West-Berliner Administration mental Misstrauensphänomene hervor693, die denen der SED ähnelten. So verbot die Staatspartei Exkursionen von Studentengruppen der TU in die DDR „prinzipiell“ und ließ als Reaktion auf die Senatsmaßnahmen alle an der TU studierenden SED-Mitglieder mit dem Ziel überprüfen, sie zum Überwechseln an die Technische Hochschule Dresden zu veranlassen, „wenn sie nicht unmittelbar vor dem Examen“ stünden oder ein in der Elbestadt nicht vertretenes Spezialfach studierten. Das gleiche galt für parteilose Mitglieder von FDGB und FDJ, soweit sie Stipendien vom (Ost-)Magistrat erhielten.694 Studienverbote für junge Ostdeutsche in West-Berlin wurden indes nie verhängt. Gerüchte, dass ihnen ihr Wohnrecht in der DDR oder Ost-Berlin abgesprochen würde, erwiesen sich als haltlos, zumal auch Kinder „von bekannten Kommunisten“ in West-Berlin studierten, „z. B. auch der Sohn von Grotewohl an der Technischen Hochschule“.695 Während viele aus dem Westen stammende Studenten ihren Lebensunterhalt u.a. mit „Enttrümmerungsarbeit und Teppichklopfen“ verdienten, sahen sich die Oststudenten in West-Berlin sozial etwas besser gestellt. Wie die in West-Berliner Schulen lernenden Oberschüler erhielten sie eine zeitlich befristete Zuzugsgenehmigung und in der Regel eine monatliche, als Ausgleich für den für sie ungünstigen Wechselkurs gedachte Währungshilfe, die der Senat 1951 in ein Stipendium von zunächst 80, dann 100 Westmark umwandelte.696 Diese Zuwendung war nicht eben üppig, reichte aber für viele Studenten aus, die auf der Basis des günstigen Wechselkurses häufig im Ostteil der Stadt einkauften – , wenn sie denn nicht eine überdurchschnittliche Zimmermiete belastete. Die West-Berliner Unis verlangten als eine Art Gegenleistung pro Semester zwei „Fleißscheine“ und einen Studienabschluss innerhalb einer bestimmten Anzahl von Semestern.697

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Berlins „und die Rücksicht auf die öffentliche Meinung eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen“. Schreiben von Tiburtius an den TU-Rektor, 16.6.1951, in: ebd. So schrieb der in der Quelle nicht genannte Informant, dass Prof. Gerths zwar nicht der SED angehöre, ihm aber „persönlich wegen seiner kommunistischen Einstellung bekannt sei“ und auch bezüglich Prof. Wittes: „Die weitere Bereinigung müsste bei diesen Männern ansetzen.“ Hausinterne Information an Stadtrat May, 19.6.1950, in: ebd. Protokoll Nr. 124 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED am 7.7.1950, in: SAPMOBArch, DY 30, J IV 2/3/124. Vermerk der Senatsverwaltung für Inneres, 2.12.1952, in: LAB, B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 52. Vgl. Protokoll über die 6. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen (des Abgeordnetenhauses), II. Wahlperiode, 3.6.1955, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2070. Vgl. Tent, Freie Universität Berlin, S. 283.

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1950 hatte, wie angedeutet, den Westmagistrat und die Universitäten neben den Kostenproblemen am meisten die Frage bewegt, wie angesichts des Zustroms von Studenten aus dem Osten die Gefahr zu bannen sei, dass die Kommilitonen aus West-Berlin benachteiligt würden. Etwas später trat das schon im Zusammenhang mit den Ostabiturienten diskutierte Problem in den Vordergrund, wohin die eigentlich aus Ostdeutschland stammenden Studenten nach Ablegung ihres Westexamens zu gehen hätten. Ihre Zahl schätzte man 1955 auf jährlich etwa 800. Da es keine Rechtsgrundlage für eine unfreiwillige Rückkehr in ihre ostdeutsche Heimat gab, ging der Senat davon aus, dass sie alle dazu „bewegt“ werden müssten. Ausnahmen kämen nur in politischen Ausnahmefällen und bei nicht weiter definierten persönlichen Gründen in Betracht, die ein Zurück unzumutbar erscheinen ließen.698 Offiziell stellte niemand die „selbstverständliche“ Pflicht des Westens in Frage, dafür zu sorgen, dass dieser Nachwuchs „im Falle einer Wiedervereinigung für die akademischen Berufe im Osten zur Verfügung stehen muss“.699 Das blieb jedoch zum einen Theorie, weil bestimmte Examen nur im Westen mögliche Praktika und juristische, medizinische und pädagogische Vorbereitungsdienste nach sich zogen und zum anderen viele Absolventen ihre berufliche Zukunft nicht oder nicht mehr in Ostdeutschland oder Ost-Berlin sahen. Dieser Trend wurde regional bereits seit Anfang der 50er Jahre durch den steigenden Bedarf der WestBerliner Industrie (AEG, Siemens, Osram u.a.) an gut ausgebildeten Ingenieuren und Technikern verstärkt.700 Eine häufig mit der Ablehnung des politischen Systems in der DDR verbundene westlich zentrierte Lebensperspektive ließ den aus politischen Gründen nicht quotierbaren Zugang an Oststudenten weiter anwachsen. Zeitweilig – etwa 1955 – schien sowohl die Grenze der Aufnahmekapazität West-Berliner Universitäten und Hochschulen als auch der finanziellen Möglichkeiten erreicht worden zu sein. Da der Vorschlag des Senats an die Bundesländer, Oststudenten zur Entlastung West-Berlins dort nach einem bestimmten Schlüssel Studienplätze zur Verfügung zu stellen, nicht die erwartete Resonanz fand701, stellte sich auch dadurch keine Entspannung der Situation ein. Trotz einiger Hür698 Schreiben des Innensenators an den Senator für Volksbildung (z.H. Senatsdirektor von Philipsborn), 13.12.1951, in: LAB, B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 52. 699 Schreiben des Senators für Volksbildung an den Präsidenten der Ständigen Konferenz der (westdeutschen) Kultusminister, 5.11.1955, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 2424, Nr. 472–477. 700 „Niederschrift über die Besprechung mit Ausbildungsfachleuten der Industrie und der Berufsbildung über Bedarf und Nachwuchs von Ingenieuren am 12.2.1952 bei der Senatsverwaltung für Volksbildung“, in: ebd., B Rep. 004, Acc. 1650, Nr. 52. 701 Vgl. Schreiben des Senators für Volksbildung an den Präsidenten der Ständigen Konferenz der (westdeutschen) Kultusminister, 5.11.1955, in: ebd., B Rep. 015, Acc. 2424, Nr. 472–477.

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den, die, wie geschildert, von 1952 bis 1957 durch die Nichtanerkennung des DDR-Abiturs und durch eine Sonderprüfung errichtet worden waren, „um ungeeignete Bewerber vom Hochschulstudium fernzuhalten“702, erreichte der Anteil der Oststudenten an den westsektoralen Universitäten und Hochschulen 1954 beinahe 40 Prozent. Er fiel trotz einiger Schwankungen in den folgenden Jahren nie unter etwa ein Drittel ab. Im Unterschied zum Senat registrierte die amerikanische Besatzungsmacht das mit ungeteilter Genugtuung.703 In der Tat sprachen die Zahlen auch für deren Engagement: Nachdem 1949/50 an der FU die bereits erwähnten 41,5 Prozent Oststudenten registriert worden waren, ging ihr prozentualer Anteil auf 33,3 Prozent im Sommersemester 1955, aber nicht ihre absolute Zahl zurück, die etwa konstant blieb bzw. noch leicht anstieg.704 1956 wurden in West-Berlin 4067 Hochschulstudenten als Grenzgänger bzw. mit befristetem Zuzug gezählt, von denen 3.578 volle oder beschränkte Währungsbeihilfen/Stipendien erhielten. Hinzu kamen 892 als politische Flüchtlinge anerkannte Studenten sowie 901 Fachschüler. Allein für Währungsbeihilfen, Stipendien, für verschiedene Zuschüsse (Mensaessen, kulturelle Betreuung) sowie den Erlass von Gebühren stellte der Senat 6.629.400 Mio. Westmark als „unmittelbare Leistungen“ zur Verfügung – eine Mio. mehr als 1955. Der Kostenanteil der Oststudenten am finanziellen Gesamtaufkommen der Universitäten sowie der Hoch- und Fachschulen (1956 = 43,902 Mio. Westmark) betrug 14,634 Mio. Westmark („mittelbare Leistungen“) gegenüber etwa 12 Mio. im Vorjahr.705 Das ergab für ostdeutsche Studenten die Gesamtsumme von 21.263.400 Westmark, die 1957 bei einer nur leicht steigenden Anzahl von Oststudierenden (245) noch einmal um ca. 2,5 Mio. Westmark706 wuchs und sich in den Jahren bis zum Mauerbau etwa auf diesem Niveau einpegelte.707 Die SED und der Magistrat tolerierten anfänglich die Abwanderung vieler akademischer Jugendlicher und den täglichen studentischen Grenzverkehr, weil dieses „Ventil“ oppositionelles Druckpotential verringerte, sie aber letztendlich auch keine wirksamen Gegenmittel besaßen. Erst ab Mitte der 50er Jahre versuchte die 702 Vgl. Richtlinien des Senators für Volksbildung, 18.7.1955, und Schreiben des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen an die Kultusminister der Länder und den Berliner Senator für Volksbildung, 18.4.1956, in: ebd., Nr. 423 und 424. 703 Vgl. Rede des Stellvertretenden Hochkommissars der USA für Deutschland, Henry Parkman, vor der amerikanischen Handelskammer in Berlin, 28.5.1954, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1346, Nr. 593. 704 Vgl. Schlicht, Eine politische Geschichte, S. 26 und Tent, Freie Universität Berlin, S. 276. 705 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 72. 706 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., Nr. 2156, Bl. 56. 707 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.3.1959, in: ebd., Nr. 2158, Bl. 54.

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Ost-Berliner Führung alles, um diese sie diskreditierende, von den Berlinern bespöttelte708 und auch volkswirtschaftlich problematische Entwicklung zu stoppen. Die SED entwickelte für den sozialistischen Aufbau und den ihr aufgezwungenen Wettbewerb spezifische Konzepte. Bei allen systembedingten Unzulänglichkeiten stabilisierte sie ihr Hochschulsystem und schuf Räume für dessen Weiterentwicklung. Dabei zeigte sich, dass die in Vielem problematische Bevorzugung von Arbeiter- und Bauern-Kindern tatsächlich zur Haltbarkeit des akademischen Fundaments der SED-Herrschaft beitrug. Sie eröffnete vielen jungen Menschen, die in der bürgerlichen Gesellschaft als weitgehend unterprivilegiert galten, eine mit beruflicher Erfüllung und gesellschaftlicher Reputation verbundene Lebensperspektive. Das, aber auch daraus resultierende Dankbarkeitsgefühle, gehörten zur Integrationsstrategie der SED, die umgekehrt die Entscheidung für die westliche Konkurrenz als Treulosigkeit und Verrat glaubhaft zu machen suchte.709 Von 1951 bis 1959 konnten die DDR und Ost-Berlin die Zahl der immatrikulierten Studenten nahezu verdoppeln, und es unterstrich die Erfolgsbilanz, wenn im Vergleich sowohl mit der Weimarer Republik und dem Nazireich als aber auch mit der Bundesrepublik der realsozialistische deutsche Staat prozentual, aber auch gemessen an verschiedenen sozialen Leistungen für Studierende, besser abschnitt.710 Im Unterschied gerade zu vielen Studenten an der FU erhielten seit dem Studienjahr 1951/52 mehr als 85 Prozent ihrer Kommilitonen im Ostteil der Stadt ein Stipendium von etwa 190 Ostmark; es gab abgestufte Leistungsstipendien und soziale Zuwendungen, die indirekt auch durch den Bau neuer Studentenwohnheime (u.a. in Berlin-Biesdorf und am Weidendamm in Berlin-Mitte) geleistet wurden. Sie boten über 2.000 Studenten der HUB Unterkunft bei voller Verpflegung. Diese integrative sozialpolitische Komponente trug zur Attraktivität des Studierens in Ost-Berlin bei, wie sie die westliche Seite auch dazu zwang, vor allem über das Problem fehlender Studentenheime nachzudenken und hier großzügig zu planen.711 708 Die FU sei eine „Auswärtige Landesuniversität der DDR“. Vgl. Tent, Freie Universität Berlin, S. 286. Auch hieß es, sie sei die einzige Westmarkuniversität des sozialistischen Lagers. 709 Vgl. Abteilung Leitende Organe: Vorlage an das Büro der SED-BL, 14.2.1956, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 252/1, Bl. 69. 710 1959 kämen auf 10.000 Einwohner der DDR 59 Hochschulstudenten (1928: 18; 1936: 6). In der Bundesrepublik seien es etwa 35 Studierende, von denen fünf Prozent aus Arbeiter- und Bauernfamilien stammten; in der DDR (seit 1954) hingegen ca. 55 Prozent. Vgl. Die Humboldt-Universität, S. 135f. sowie Das ist Berlin, S. 20. 711 Vgl. „Langfristiger Aufbauplan für Berlin“, 24.8.1955, in: LAB, B Rep. 013, Acc. 2092, Nr. 408.

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Auch kam es vor, dass West-Berliner Abiturienten an der HUB studieren wollten. Eigenartigerweise sind solche Fälle von der SED und ihrer Presse nie propagandistisch genutzt, sondern eher mit „diskretem Misstrauen“ behandelt worden. Eine Immatrikulationsgenehmigung bedurfte prinzipiell der Zustimmung des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Groß-Berlin.712 Überdies wollten sie und die FDJ auch keine wissenschaftliche oder wie auch immer geartete freie Kommunikation zwischen den akademischen Einrichtungen in beiden Teilen der Stadt. Sie organisierten allerdings studentische Foren und Diskussionsrunden, die WestBerliner politische und wissenschaftliche Gremien als kommunistische „Tarnveranstaltungen“ zurückwiesen. Deren offizielle Initiatoren versuchten, die WestBerliner Studenten von den Vorzügen des Studierens in Ost-Berlin und der Richtigkeit des gesellschaftlichen Kurses sowie der Friedenspolitik des Ostens zu überzeugen, gingen aber dabei das Risiko frei geäußerter Kritik an den realsozialistischen Verhältnissen ein.713 Das galt auch für die vielen Fälle, in denen bis zum Mauerbau von den FDJ-Leitungen sorgsam ausgewählte Agitationsgruppen der HUB auf dem Gelände der FU auftauchten, um die Studierenden dort in Diskussionen zumeist über aktuelle politische Fragen zu verwickeln. Die unvorbereiteten und in der Regel politisch nicht „geschulten“ Angesprochenen reagierten in der Regel hilflos.714 Demgegenüber unterhielten nicht wenige Studenten aus Ost- und 712 Vgl. Beschluß des Büros der SED-BL, Protokoll Nr. 030/57 der Sitzung am 14.11.1957, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 307, Bl. 5. 713 Beispielsweise äußerte ein Weststudent bei der „Aussprache mit westdeutschen und westberliner Studenten“ am 3. Mai 1952 in Ost-Berlin: „Wir haben im Westen eine Opposition aus Prinzip, die vermissen wir bei euch […] z.B. wird über die Einzelheiten des Fünfjahresplanes kritisiert, aber nicht, ob sie [die Ostdeutschen] den Fünfjahresplan wollen, der wird befohlen. Wir lehnen Ihr System, wie wir es kennen, ab. Wir haben die Freiheit der Rede und Meinung, eine demokratische Freiheit.“ Auch wurde die typische Frage gestellt, warum im Osten „nur auf der Basis des Marxismus“ gelehrt werde; es gebe „doch andere Philosophien, die wahr sind und gleichwertig danebenstehen“. „Ost-West-Gespräch“, Mai 1952, in: ebd., C Rep. 101, Nr. 5589. 714 Ein FU-Student berichtete, dass er den HUB-Agitatoren gegenüber „sehr klischeehaft prowestlich“ argumentiert habe, wie: „Haut doch ab nach drüben, was wollt ihr hier, geht doch wieder rüber.“ Es seien von den Oststudenten auch Broschüren verteilt worden, in denen aktuelle Themen behandelt wurden – etwa die Wiederbewaffnung der Bundeswehr und die deutsche Einheit. Die Ost-Darstellungen wären für ihn und seine Kommilitonen schlichtweg falsch gewesen, „denn es mußte zwangsläufig falsch sein, weil es aus der ‚SBZ‘ kam.“ Zitiert nach: Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 178. Der ehemalige HUB-Geschichtsstudent Peter Bayer (Jg. 1935) fasste seine Eindrücke von den Propagandaeinsätzen etwa zur gleichen Zeit (1956) mit den Worten zusammen: „Wir sind gut instruiert, aber immer ängstlich an die FU gefahren und haben unsere Sprüche abgelassen. Damals waren wir von ihnen halbwegs überzeugt. Verstanden haben uns die Angespro-

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West-Berlin miteinander persönliche Kontakte. Man traf sich „intersektoral“ in privaten Wohnungen bei Feten und in Kneipen, besuchte gemeinsam kulturelle Veranstaltungen oder unternahm Ausflüge in reizvolle Berliner Landschaften. Dass dabei auf beiden Seiten häufig das MfS und westliche Geheimdienste mit von der Partie waren, ist inzwischen hinreichend belegt. Es war die Zeit des „Spitzeltums“.715 Viel schwerer lässt sich im Nachhinein ausmachen, ob und inwiefern zwischen demokratisch gesinnten oder reformorientierten Studenten hüben und drüben in den 50er Jahren politisch relevante Interaktionen mit antikommunistischer Zielsetzung stattfanden und es Ansätze für oppositionelle Netzwerke und organisiertes Handeln gab. Jedenfalls ließ der studentische Protest der „Humboldtianer“ und anderer im Herbst 1956 im Umfeld von „Entstalinisierungen“ und den revolutionären Ereignissen in Ungarn und Polen716 zwar einen allgemeinen westlichen Einfluss, aber keine Kooperation oder auch nur Absprachen mit West-Berliner Studentengruppen erkennen. Das Aufbegehren blieb originär ostdeutsch, wenngleich die SED dafür indirekt auch Kontakte zu WestBerliner Universitäten verantwortlich machte und zu entsprechenden Prophylaxen schritt.717 Die akademische Systemkonkurrenz zwischen der HUB und der FU zeigte sich unverschleiert bei „Haupt- und Staatsaktionen“. Ein prägnantes Beispiel dafür gaben die in anderen Kontexten thematisierten 150-Jahr-Feiern der Berliner Universität und das 250. Jubiläum der Charité-Gründung ab. Während man sie in West-Berlin 1960 auch aus politischen Gründen eher zurückhaltend, aber dennoch mit deutlichen Ansprüchen auf demokratische Traditionen absolvierte, gestaltete sie die Ost-Berliner Führung zu einer aufwändigen Großveranchenen nicht. Eigentlich standen wir uns mit großer Distanz gegenüber, und jede Seite redete in den Wind. Wir waren dann froh, daß wir bald wieder in Ost-Berlin waren.“ Gespräch mit Peter Bayer am 31.5.2007. 715 Sylvia Conrad sah es zutreffend als beiderseitig an: „So wie der Osten etwas von der Westuniversität wissen wollte, wollte umgekehrt der Westen über die Humboldt-Universität bzw. auch über seine eigenen Studenten Bescheid wissen. Es war keine Seltenheit, daß die Studenten aufgefordert wurden, für den CIA oder andere Geheimdienste Spitzeldienste gegen Bezahlung zu leisten. Mir hat man jedenfalls einen solchen Antrag gemacht.“ Conrad/Heckmann-Janz, Reichstrümmerstadt, S. 179. 716 Vgl. hierzu Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 260–271. 717 Die Parteiorgane hätten gegen die „prinzipienlosen Bestrebungen“ mancher Studenten vorzugehen, „auf jeden Fall alle westliche Literatur zu studieren, im großen Ausmaß Reisen in das westliche Ausland zu machen oder ohne gründliche Überlegungen sogenannte Kontakte mit westdeutschen und westberliner Universitäten und Studentendelegationen aufzunehmen“. Vorlage an das Büro der SED-BL: „Plan zur Entfaltung einer breiten Aktivität der Parteiorgane zum Zwecke des Zusammenschlusses aller fortschrittlichen Kräfte an der Humboldt-Universität und zur Entlarvung und Isolierung gegnerischer Elemente“, 7.11.1956, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 267, Bl. 70.

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staltung im Sinne ihrer wissenschaftspolitischen und internationalen Anerkennungsziele. Feiern hieß auch, über eine Mobilisierung aller akademischen Kräfte zum gesellschaftspolitischen Schulterschluss, vor allem der Studenten, mit der Partei- und Staatsführung beizutragen718 und damit auch zur Innerberliner Distanz. 6.2.4 Bibliotheken und grenzüberschreitende Buchausleihe Die Teilung der Stadt wirkte sich erheblich auf das bereits vor dem Krieg gut ausgebaute System der öffentlichen Bibliotheken und den Leihverkehr aus. Was im Wissenschaftsbereich beim Austausch von Fachliteratur zumindest bis Mitte der fünfziger Jahre noch möglich schien719, stieß beim sektorenüberschreitenden Ausleihen von Büchern aus den Volksbibliotheken auf größere Schwierigkeiten. Aus politischen und ideologischen, aber auch pragmatischen Gründen bauten die Kulturverantwortlichen in beiden Stadthälften separate Netzwerke von öffentlichen Leihbibliotheken parallel zueinander aus. Das besaß eben auch eine organisatorische und logistische Folgerichtigkeit, weil viele Leser lange Wege vermeiden und sich der Dienste neuer Leihbibliotheken in ihrem „Kiez“ bedienen wollten. Natürlich gab es auch weiterhin ein Lesepublikum mit einem bestimmten Interesse an einer Literatur, die im jeweils eigenen Teil der Stadt aus Gründen von Staatsräson, Zensur und weltanschaulichen Vorurteilen, aber auch der Rentabilität, nicht oder nur schwer zu haben war; doch blieb sein Kreis begrenzt. War das Ausleihen vor allem von schöngeistiger Literatur aus den Westsektoren nicht prinzipiell verboten, bestimmten jedoch die SED und ihr Kulturapparat, welche Bücher als „humanistisch“ zu gelten hatten oder aber nicht gelesen werden durften, weil sie antisozialistisch und staatsfeindlich oder aber „Schund und Schmutz“ seien. Aber auch der Senat wollte keine Leihliteratur aus dem kommunistischen Machtbereich, dessen Infiltrationsabsichten er befürchtete, es aber anders begründete.720 Auch diese Motive drückten ein spezielles Konkurrenzverhältnis aus, das sich aus der relativen Offenheit der Berliner Grenzen und Gesellschaften ergab. In Ost-Berlin besaß das als Wissen und Waffe interpretierte „gute Buch“ einen au718 Vgl. Schreiben des stellv. STS (im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen), Franz Dahlem, an den DDR-Kulturminister Abusch, 29.7.1960, in: SAPMO-BArch, DR1/7935. 719 Bis in die Mitte der 50er Jahre lieh beispielsweise die West-Berliner TU noch regelmäßig Bücher aus der Ost-Berliner Staatsbibliothek aus. Vgl. Vermerk der Senatsverwaltung Volksbildung, 11.2.1953, in: LAB, B Rep. 014, Nr. 1305. 720 So seien generell alle West-Berliner, „die Bücher aus Ost-Berliner Bibliotheken holten, in ihrer persönlichen Freiheit gefährdet“. Vgl. ebd.

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ßerordentlich hohen Stellenwert. Zum einen lag Lesen in der Tradition der emanzipatorischen Arbeiterbewegung, und zum anderen lehrte die „klassenkämpferische“ Erfahrung, dass es nicht wertfrei, sondern geeignet war, gesellschaftliche sowie politische Ideen und Ziele zu vermitteln und in ihrem Sinne Menschen zu erziehen. An bürgerlichen und sozialdemokratischen Bildungsidealen orientierte sich aber auch die West-Berliner Kulturpolitik, die in Vielfalt und Freizügigkeit die wichtigsten Grundsätze für die Gestaltung volksnaher Bibliotheken als einen Ort zivilgesellschaftlichen Lernens sah. Da das Buch im Verständnis der SED neben Unterhaltung unverzichtbar parteiliche Belehrung zu sein habe, baute die SED das Ost-Berliner Bibliotheks- und Ausleihwesen bedeutend aus, während es in West-Berlin konzeptionell – aber auch mangels finanzieller Mittel – einen weniger hohen Rang einnahm. Noch Mitte der 50er Jahre zeigten sich die Volksbibliotheken im sowjetischen Sektor denen in West-Berlin in wichtigen Positionen überlegen.721 Das galt insbesondere für Schul-, Kinder- und Jugendbibliotheken, aber auch für Betriebsbibliotheken. Sie alle pflegten das nationale Erbe und die sowjetische Literatur, aber berücksichtigten auch die Werke der Weltliteratur in „ausreichenden Stückzahlen“ – eben alle „fortschrittlichen Schriftsteller“. Parallel dazu bauten die SED, ihre Bündnisparteien und der Magistrat das Netz von Buchhandlungen und Literaturverkaufsstellen722 aus. Die Volksbibliotheken blieben bis in die Abendstunden geöffnet, um den „Werktätigen“ Gelegenheit zu geben, sich nach Feierabend Bücher auszuleihen; häufig fanden dort Lesungen sowie Lesezirkel statt, und die institutionalisierte „Woche des Buches“ verbreitete Meinungen und Buchtipps.723 Nicht nur bei Funktionären, sondern auch bei 721 Der Ostteil der Stadt verfügte (1957) nach Senatsangaben über 101 Volksbibliotheken, drei Lesesäle sowie neun Kinderleseräume. Seine Volksbibliotheken könnten auf ca. 500.000 Bücher verweisen (hinzu kämen noch die 800.000 Bände der für sie verfügbaren Ost-Berliner Stadtbibliothek), und sie besäßen 90.000 Leser, die 1.549.654 Ausleihen realisierten. Hingegen existierten in West-Berlin lediglich 80 Volksbüchereien. Für das Jahr 1956 bezifferte der Magistrat die östlichen Ausleihen mit 1,94 Mio.; in West-Berlin sei (1955) bei einem Buchbestand der Volksbüchereien von 614.646 Bänden von 143.841 Lesern 3,56 Mio. Mal ausgeliehen worden. Allerdings unterschlug der Magistrat die drei deutsch-amerikanischen Büchereien mit insgesamt 20.620 Bänden und 99.604 Entleihungen (bei 3.625 Lesern) sowie die amerikanische Gedenkbibliothek mit 160.522 Büchern. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2156, Bl. 36 sowie Abteilung Kultur des Magistrats an Blecha, undatiert (1957), in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 722 Vgl. Anhang zur SED-Sekretariatsvorlage: „Kampf gegen Schmutz und Schund“, 11.9.1952, in: ebd., C Rep. 901, Nr. 168, Bl. 122–125. 723 So stand die „Woche des Buches“ zwar jeweils unter einem aktuellen politischen Motto (1952: „Das Buch, eine scharfe Waffe im Kampf um unsere nationale Einheit und den Abschluß eines Friedensvertrages“), bot aber den Lesern auch Raum für sachbezogene Li-

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gebildeten Ost-Berliner Lesern herrschte die Auffassung vor, in West-Berlin gebe es zwar auch gute Bücher, aber Vieles sei „Schund- und Schmutzliteratur“, die man zusammen mit verantwortungsbewussten Bürgern West-Berlins bekämpfen müsse. Dazu riefen Ost-Berliner Bildungspolitiker im Namen von „Anständigkeit, Sauberkeit und Tüchtigkeit unserer Jugend“ plakativ auch den Senat auf.724 Während die Staatsorgane einen ständigen Kampf gegen die Flut tatsächlich minderwertiger Billigliteratur aus West-Berlin in den Ostsektor führten725, zeigten sie kein großes Interesse an der Werbung West-Berliner Bibliotheksbenutzer. Die ideologischen Risiken des intersektoralen Leih- und Leseverkehrs schienen größer als die politischen Vorteile. Allerdings hielt sich die Nachfrage der WestBerliner nach Literaturausleihen in Ost-Berlin in engen Grenzen – im Unterschied zu ihren sehr preisgünstigen Buchkäufen dort.726 Parallel dazu registrierte die West-Berliner Seite einen ebenfalls nicht konkret bilanzierbaren Bucherwerb von Ost-Berlinern in den Westsektoren, der aber weniger durch die Kontrollen der Volkspolizei als durch die für Ostdeutsche hohen Kosten relativ eng bemessen blieb. Eine von Suhr und Adenauer unterstützte ältere Senatsinitiative zur Subventionierung des Bucherwerbs durch Ostdeutsche war 1958 noch einmal intern diskutiert, dann aber angesichts der großen Betrugsmöglichkeiten727 verworfen worden. Bis zum Inkrafttreten des Gesamtberliner Kulturplans erreichten aber

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teraturgespräche und Diskussionen. Vgl. Undatiertes Material (Frühjahr 1952), in: ebd., C Rep. 121, Nr. 158. Der Magistrat schlug dem nicht antwortenden Senat u.a. ein Verbot der Herstellung und Verbreitung von „Schundschwarten“ zugunsten „wertvoller Schriften und Bücher in ganz Berlin“ vor: „Unsere Eltern fordern, daß wir die Quellen verstopfen, die unsere Jugend zu vergiften drohen. Wir sollten endlich gemeinsame Schritte unternehmen, um die Schundschwarten […] für immer aus dem Leben unserer Hauptstadt zu verbannen“, hieß es in der Begründung. Schreiben des Ost-Berliner Stadtschulrates Becher an die Senatorin für Jugend und Sport (Kay), 9.3.1955, in: ebd., B Rep. 013, Acc. 3037, Nr. 569–571. Das blieb vorrangig ein politisch-ideologisches Problem im Bereich Schüler und Jugendliche, aber skurrilerweise auch bei den von Westliteratur „überschwemmten“ Krankenhäusern. Vgl. „Protokoll über die Besprechung mit den Leitern der Magistratsabteilungen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Kultur am 3. April 1958“, in: ebd., C Rep. 121, Nr. 312. So wurde die Karl-Marx-Buchhandlung in der Stalinallee für westliche Intellektuelle und Studenten zu einem „Eldorado“ des Erwerbs marxistischer bzw. anderer linker oder im Westen nicht verlegter Literatur. Vgl. zur Karl-Marx-Buchhandlung: Das ist Berlin, S. 12. Den Senatsstellen schwebte eine 1:1-Regelung vor, was u.a. das Risiko in sich barg, dass Ostdeutsche massenhaft Bücher für West-Berliner erwarben oder die billig erworbene Literatur in Antiquariaten gegen Westmark verkauften. Vgl. Internes Material des Büros für Gesamtberliner Fragen, 28.2.1958, in: LAB, B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2161.

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auch die Ausleihen der West-Berliner Volksbüchereien in den Osten kein hohes Niveau, stiegen dann aber deutlich an.728 Das wiederum führte zu verstärkten „Kontrollen der Vopos“, was sich „zeitweise merklich“ ausgewirkt habe. Bücherverluste „in größerem Ausmaß“ seien jedoch ausgeblieben.729 Auch spielte eine Ost-Berliner „gezielte Gegenmaßnahme“, das Ausleihen, aber NichtZurückbringen von Büchern730, wahrscheinlich kaum eine Rolle. Die schnelle Bereitstellung von erheblichen Summen für die Anschaffung neuer Bücher für die Volksbüchereien731 seit 1957 aus dem Gesamtberliner Kulturplan spricht für eine gestiegene Aufmerksamkeit des Senats für den grenzüberschreitenden Ausleihverkehr. Seinen Schwerpunkt legte er aus politischen Gründen allerdings auf große Bibliotheken wie die Amerika-Gedenkbibliothek, „zu denen auch unsere Landsleute aus dem Osten so bequem wie möglich hinkommen können“.732 Offenbar überstieg die Zahl derjenigen Ostdeutschen, die große öffentliche Bibliotheken in West-Berlin aufsuchten, um dort einfach zu lesen oder für andere Zwecke zu arbeiten, die der Nutzer im Ausleihverkehr der allgemeinen Volksbüchereien.733 Vielleicht auch unter dem Eindruck dieser Schwerpunktbildung ließ der Senat Anfang 1958 seinen Plan fallen, 1,2 Mio. Westmark für die „Verstärkung des Buchbestandes der Büchereien des Sowjetsektors am Tage X [Wiedervereinigung Deutschlands]“ bereitzustellen.734 Das war aber möglicherweise auch ein Ausdruck der Erkenntnis, dass die Ost-Berliner Bibliotheken bei allen kritisierten Einseitigkeiten im Prinzip auf der Höhe der Zeit standen und im innerstädtischen

728 1957 seien es 900 Ost-Berliner Leser gewesen, deren Zahl bis zum 30.9.1958 auf 3.407 (mit insgesamt 55.000 Ausleihen) angestiegen sei. Vgl. Schreiben des Senators für Volksbildung (gez. Heinrich Albertz) an den Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, 8.12.1958, in: ebd. 729 Vgl. ebd. 730 Vgl. Protokoll über die 35. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 11.4.1957, in: ebd., Nr. 2070. 731 Die für die Erweiterung des Literaturbestandes der Volksbüchereien aus dem Gesamtberliner Kulturplan im Herbst 1957 zur Verfügung gestellten Finanzmittel wurden von 240.000 auf 398.600 Westmark erhöht. Vgl. Information (Herbst 1957), in: ebd., Nr. 2161 sowie Protokoll über die 41. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 12.12.1957, in: ebd., Nr. 2070. 732 Brandt/Löwenthal, Ernst Reuter, S. 585. 733 Der Magistrat berief sich für das Jahr 1956 auf die West-Berliner Zeitung „Der Tag“, der die Ostbesucher allein in der „Bücherei Ost“ am Potsdamer Platz mit 63.000 angegeben hatte. Vgl. Abteilung Kultur des Magistrats an Blecha, undatiert (1957), in: ebd., C Rep. 902, Nr. 993. 734 Vgl. Büro für Gesamtberliner Fragen an Bgm. Amrehn, 24.2.1958, in: ebd., B Rep 002, Acc. 1703, Nr. 2218–2219.

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Vergleich insgesamt nicht schlechter als ihre West-Berliner Wettbewerbspartner abschnitten.

6.3 Sport 6.3.1 Wettstreit zwischen Abgrenzungsideologie und Einheitsmentalität Auch der Sport im gespaltenen Berlin war in seinen vielen Facetten Systemwettbewerb.735 Das Etikett „Sportstadt Berlin“ gehörte zum Gesamtberliner Erbe736, um das ein „innerstädtischer Wettlauf um diesen Titel“737 entbrannte. Dabei fiel ins Auge, dass die Sportfunktionäre in den vier Sektoren trotz politisch und ideologisch unterschiedlicher Positionen beim Neuaufbau des Sports lange an dessen Einheit festgehalten hatten. Doch während sie in West-Berlin seit 1948 zu den traditionellen Rechts- und Organisationsformen der alten Sportvereine zurückkehrten und das auf privater ehrenamtlicher Initiative beruhende Freizeitsportprinzip fortführten, wollte die Ost-Berliner Führung weder bürgerliche Vereine noch einen selbstständigen Arbeitersport, „sondern eine politisch kontrollierbare, dirigistische Einheitsorganisation“. Sie entstand mit dem seit dem 1. Oktober 1948 durchgesetzten Modell der Betriebssportgemeinschaft (BSG). „Grundlagenelement des Sports war damit nicht mehr der selbst verwaltete Verein, sondern eine politische Körperschaft nach sowjetischem Modell.“738 Mit diesem faktischen Vereinsverbot brach die SED-Führung mit dem über hundert Jahre bestehenden Organisationsprinzip der deutschen Turn- und Sportbewegung.739 Schon an sich im hohen Maß wettbewerbsorientiert, erhielt der organisierte Sport in den vom Kalten Krieg geprägten innerdeutschen und Interberliner Beziehungen eine politische Dimension von Konkurrenz als „Vermittlungsinstanz zwischen Sport- und Beziehungsgeschichte“.740 Der sogenannte „unpolitische“ Sport zeigte sich von Anbeginn als ein Konstrukt auf tönernen Füßen.741 Dem hatten beide Seiten Rechnung zu tragen, wenngleich sie sich in der Praxis konkreten Problemen gegenübergestellt sahen. 735 Vgl. Gertrud Pfister, Sportstadt Berlin, in: Sportmuseum Berlin (Hrsg.), Sport in Berlin, Kulturhistorische Schätze aus der Olympia-Stadt, Berlin 1991, S. 8–16. 736 Vgl. Braun/Teichler (Hrsg.), Sportstadt Berlin im Kalten Krieg, hier insbesondere die Einleitung (S. 7–19). 737 Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 343. 738 Ebd., S. 345f. 739 Vgl. Teichler, Die Sportbeschlüsse, S. 44. 740 Uta Andrea Balbier, Kalter Krieg auf der Aschenbahn, S. 16. 741 Ebd., S. 33.

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Bei allem drohte dem Sport in West-Berlin trotz einiger Hilfen des Senats und des Bundes sowie solidarischer Leistungen westdeutscher Sportverbände durch den Verlust seiner Gesamtberliner und märkischen Netzwerke eine „Verinselung“, die für viele Vereine mit der finanziellen Austrocknung einherging. Während populäre Sportarten, die überdies noch am ehesten Sponsoren fanden, sich in erster Linie über Eintrittsgelder und Mitgliederbeiträge über Wasser hielten, kämpften andere um das Überleben. Diese Probleme hatte der Sport in Ost-Berlin nicht; sein Standortvorteil und die erheblichen regulären, aber auch außerplanmäßigen Mittel742, verschafften ihm im innerstädtischen Systemwettbewerb die besseren Ausgangspositionen. Seine Schwierigkeiten lagen hingegen in der Zerschlagung der über Jahrzehnte gewachsenen organisatorischen Strukturen der Vereine, die ihre eingetragenen alten Namen verloren und nun künstliche, in hohem Maße ideologisch geleitete Bezeichnungen (Dynamo, Motor, Einheit) erhielten. Sie verinnerlichte zunächst kaum jemand. Dieser Identitätsverlust wuchs sich für die SED zu einem Gesamtberliner Dilemma aus, weil sie, wie teilweise auch die Westkonkurrenz, ihre Sportpolitik zweidimensional führen musste: Man habe eben die eigene Bevölkerung an den Sport „im demokratischen Sektor zu binden“ und gleichzeitig die West-Berliner in die östlichen Sportstätten zu ziehen.743 Das bedeutete allerdings weder, West-Berliner Sportler und Fans bestimmter Disziplinen in die östlichen Vereine zu holen noch eine Verstärkung des Gesamtberliner Sportverkehrs. Das politisch-ideologische Risiko dafür stellte sich der Ost-Berliner Führung angesichts westlicher Leistungspotenzen und Gesamtberliner Sporteuphorien als unkalkulierbar dar. Insbesondere gerieten die Sicherheitsbedürfnisse der SED in Konflikt mit ihren Gesamtberliner Einheitsbeschwörungen. Gleichwohl erschienen sie ihr im populären Sport als unverzichtbar. Der Sinn entsprechender Kampagnen zeigte sich in Berliner, aber auch deutschen und internationalen Kontexten – beispielsweise, als angesichts der Politisierung des Sportverkehrs und der anmaßenden Behandlung West-Berlins durch die SED der Deutsche Sportbund (DSB) der Bundesrepublik und ihr NOK 1952 ihre Beziehung zur DDR abbrachen und ihnen die West-Berliner Sportverbände im September solidarisch folgten.744 Propagandistische Gegenkampagnen der SED stießen hüben und drüben 742 Beispielsweise bewilligte der Magistrat für 1952 zusätzliche 743.780 Ostmark allein für die Betriebsausgaben von sechs Sportstätten. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 921 zur Beschlußfassung am 21.1.1959, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 864, Bl. 150. 743 Vgl. Schreiben von Fechner an Ebert, 27.3.1953, in: ebd., C Rep.124, Nr. 283. 744 Den Anlass dafür gaben neue ostdeutsche Richtlinien. Danach hätten westdeutsche Sportvereine, wenn sie denn zu Wettbewerben in den Osten wollten, bei der Beantragung von Passierscheinen Auskünfte über diejenigen ihrer Sportler zu erteilen, die aus der DDR

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auf Unverständnis. Als die DDR im Dezember 1952 in einem Deal („Berliner Abkommen“) mit dem DSB faktisch auf den „politischen Missbrauch“ im innerdeutschen Sportverkehr verzichtete, normalisierten sich die Beziehungen. Sie verschlechterten sich dann aber wieder rasant, als die West-Berliner Sportverbände im März 1953, in Überreaktion auf eher nichtige Willkürakte der Volkspolizei745, ihre Beziehungen zur DDR und zum Ostteil der Stadt abbrachen, während der innerdeutsche Sportverkehr weiterlief. Diese West-Berliner Entscheidung war im hohen Maße unüberlegt. Zum einen legte sie den intersektoralen Sportverkehr lahm, und sie nutzte der SED, um die andere Seite als Feind von Einheit und Verständigung hinzustellen; zum anderen unterstützte sie deren längst angelaufene Politik zur sportpolitischen Abgrenzung von West-Berlin sowie zur Abdrängung der im Ostteil der Stadt noch aktiven West-Berliner Sportler. Die Krise der DDR und die Verschärfung des Berlinkurses von Sowjetunion und SED standen im Hintergrund der Absicht, die noch 1.832 West-Berliner Mitglieder in OstBerliner Vereinen746 über den Mechanismus neuer Statuten zu entfernen.747 Die politisch Zuverlässigen unter ihnen seien „organisiert und kontrolliert“ in WestBerliner Sportvereine einzuschleusen.748 Insgesamt jedoch würden sie den OstBerliner Sport „in jedem Fall in der Entwicklung hemmen“, und man müsse sie entfernen, „damit wir dann schneller in der politisch-moralischen Erziehungsarbeit vorankommen“749, fasste es die Berliner Parteiführung zusammen. Auch betrachtete sie mit Sorge, dass immer mehr Ost-Berliner Kinder, deren Zahl Anfang 1953 auf 10.000 angewachsen sei, „in Westberliner Vereinen Sport treiben“.750

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geflüchtet waren. West-Berlin wurde als „Sonderfall“ behandelt. Vgl. Richtlinien für die Durchführung von Vergleichskämpfen mit Sportlern aus Westdeutschland und Westberlin in der Deutschen Demokratischen Republik“, in: SAPMO-BArch, DTSB, DY 12/256. Vgl. dazu auch: Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 359. Ein Fußballspieler, der von einem Ost-Berliner in einen West-Berliner Verein (Viktoria 89) übergewechselt war, wurde von der VP aus einem Bus heraus verhaftet, und sie beschlagnahmte einige West-Berliner Boote in Ost-Berliner Gewässern. Vgl. „Der Tag“, 14. und 15.3.1953. Unter den 48.000 Vereinsmitgliedern waren 1.500 aus West-Berlin sowie weitere 433, die dort lebten, aber in Ost-Berlin arbeiteten. Sie konzentrierten sich in Wassersportclubs, in einigen BSG’s waren sie mit einem Drittel der Mitglieder, bei „Motor Grünau“ sogar mit etwa drei Viertel, vertreten. Vgl. Schreiben des Büros des Sekretariats der SED-BL. „An alle Ersten Sekretäre der Groß-Berliner SED-Kreisverbände“, 10.3.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 1362. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Büro des Sekretariats der SED-BL: „Bericht über die Lage des Sports in Berlin […]“, 10.3.1953, in: ebd., Nr. 162. Papier der SED-BL Berlin, 7.3.1953, in: ebd., Nr.223, Bl. 86.

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Die Folgen des 17. Juni 1953 und der „Neue Kurs“ ließen die SED in Berlin jedoch sportpolitische Korrekturen vornehmen. Die Partei begab sich kurzfristig wieder auf einen Gesamtberliner Kurs, der zunächst keineswegs nur Propaganda war. Natürlich ging es um ein Übergewicht in der Konkurrenz, wenn der Magistrat sich ab September 1953 ernsthaft um eine „Normalisierung des einheitlichen Berliner Sportverkehrs“ bemühte751 und in Verhandlungen mit den meisten WestBerliner Sportverbänden vernünftige Übereinkünfte erzielte.752 In einigen Fällen (Boxen und Fußball) konnten bereits konkrete Abmachungen getroffen werden.753 Die SED und der Magistrat erklärten das Jahr 1954 schließlich zum Jahr der Gesamtberliner „großen Initiative“ im Sport754, und in der Tat begann eine bislang nicht gekannte, in Vielem ambivalent erscheinende Gesamtberliner Offensive.755 Innerberliner Leistungsvergleiche, die in einigen Disziplinen Ost-Berliner Athleten für sich entschieden (Schwimmen, Turnen), musste sie in der Tat nicht scheuen.756 Im Jahr 1955 gewannen sie von 66 Vergleichskämpfen mit Westdeutschland und West-Berlin 38, wenngleich, wie die SED anmerkte, ihr „politisch-ideologisches Bewußtsein“ hinter diesen Erfolgen zurückbleibe.757 Während sich die Berliner über die politische Entspannung im Sportverkehr sichtlich freuten und ihren Favoriten in zahlreichen Gesamtberliner Begegnungen 751 Schreiben Fechners an Ebert, 15.9.1953, in: ebd., C Rep. 124, Nr. 238. 752 Mit den West-Berliner Fachverbänden Fußball, Gymnastik, Turnen, Boxen, Eishockey, Tischtennis, Radfahren, Wintersport, Segeln und Hockey. Der Abschluss mit den Sektionen Rudern, Kanu, Faustball, Billard und Handball stünde unmittelbar bevor. Nur die West-Berliner Verbände Judo und Schwimmen würden sich Übereinkünften sperren. Vgl. Schreiben Fechners an Ebert, 14.10.1953, in: ebd. 753 Vgl. Schreiben Fechners an Ebert, 4.11. und 14.11.1953, in: ebd. 754 Schreiben Fechners an Ebert, 10.3.1954, in: ebd. 755 Schreiben Fechners an Ebert, 17.5.1954, in: ebd. und Papier der SED-BL zur Lage des Sports in Berlin, undatiert (offenbar November 1954), in: ebd., Nr. 199/1, Bl. 306f. Im Papier der Partei hieß es, dass man in Berlin einen „einheitlichen Sportverkehr“ benötige, „um voneinander zu lernen und in Freundschaft unsere sportlichen Leistungen steigern zu können“. Die Stadt brauche „gemeinsame repräsentative Vertretungen in allen Sportarten“. Allerdings „forderte“ der Magistrat diese Vertretungen von den West-Berliner Sportverantwortlichen und „verlangte“ die Bildung gemeinsamer paritätisch zusammengesetzter Arbeitsausschüsse. Überdies lag ein „Pferdefuß“ in der Forderung, dass der WestBerliner Sport „nach dem Vorbild des Magistrats und der volkseigenen Betriebe“ finanziell und personell gefördert werden müsse. 756 Vgl. Abteilung Leitende Organe der SED-BL: „Leistungstabelle des Berliner Sports in Gegenüberstellung zum Weltrekord, Deutscher Rekord, DDR-Rekord und Westberlin“, 9.3.1955, in: ebd., Nr. 223, Bl. 93. 757 „Bericht des Magistrats“ (an die SED-BL), Februar 1956, in: ebd., Nr. 252/1, Bl. 37.

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zujubelten, änderte die SED ihre sportpolitische Konzeption für Berlin in Wahrheit kaum. Nach wie vor ging es ihr darum, „einen massenpolitschen Einfluß in den westberliner Sportvereinen“ zu erreichen und kontrollierbare Gesamtberliner Sportkonferenzen, feste Verbindungen zu West-Berliner Gemeinschaften sowie einen gelenkten Austausch von „Sportdelegationen“ zu schaffen.758 Auch aus diesem Grund schluckte die SED-Führung die „Kröte“ freier Sportbegegnungen, die im Mai 1955 mit einer Gesamtberliner Fußballelf aus sieben Ost- und vier West-Berliner Spielern in einem Städteturnier gegen Prag (vor 70.000 Zuschauern im Walter-Ulbricht-Stadion) ihren Höhepunkt, aber auch vorläufigen Abschluss fanden. Offenbar ging dieses in Berlin enthusiastisch gefeierte Treffen dem Ersten Sekretär des ZK der SED dann doch zu weit. Eine dauerhafte Gesamtberliner Fußballelf und neue Turniere kamen nicht zustande, weil Ulbricht am 2. November im ZK erklärte, dass Ost-Berlin nicht daran interessiert sein könne, „die Westberliner Vereine durch Vergleichskämpfe mit ihnen zu finanzieren“.759 Dieser sicherlich zutreffende, von Braun und Wiese hervorgehobene wirtschaftliche Aspekt760 war jedoch wahrscheinlich weder der einzige noch für Ulbricht wichtigste. Denn die Mitte 1955 verkündete Zwei-Staaten-Theorie und der nun verkündete Anspruch der SED auf Berlin nunmehr allein als „Hauptstadt der DDR“ sowie die neue Qualität der östlichen Bemühungen um völkerrechtliche Anerkennung verlangten nach stärkerer politischer Abgrenzung und ließen sportpolitische Berliner Gemeinsamkeiten als geradezu absurd erscheinen. Einige Sportbeziehungen zwischen beiden Berliner Teilen schienen noch tolerierbar, ein gemeinsames Band jedoch nicht. Zudem befürchtete die Ost-Berliner Seite, dass die ab 1955/56 von Senat und Bund unter dem Vorzeichen des Einbezugs von Kindern und Jugendlichen aus dem Osten gewährten erweiterten Finanzmittel761 die Wettbewerbschancen des West-Berliner Sports weiter erhöhten, zumindest aber den Zulauf von Ost-Berlinern in die Sportstätten der Konkurrenz. Das bestätigte sich im Zuge des Gesamtberliner Kulturplans ab 1957 augenscheinlich.762 Die SED wusste, dass etwa 6.000 zumeist junge Leute aus Ost-Berlin und seinen Randgebie758 Abteilung Leitende Organe der SED-BL, Vorlage an das Büro der BL: „Politische Einschätzung zur bisherigen Arbeit auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport […]“, 7.3.1955, in: ebd., Nr .223, Bl. 83. 759 Ulbricht am 2.11.1955 im ZK, zitiert nach: Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 361. 760 Vgl. ebd., S. 360f. 761 Neben den erhöhten Haushaltsmitteln und Lottogeldern kamen Finanzen aus dem Bundesjugendplan, aus Fonds für Jugendbegegnungen, für die sportliche Betreuung von Ostflüchtlingen sowie für den Ausbau von Ost-West-Begegnungen zwischen Sportvereinen u.a.m. hinzu. Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.9.1956, in: ebd., B Rep. 002, Acc. 1636, Nr. 2154, Bl. 35. 762 Vgl. Berlins West-Ost-Probleme, Stand: 15.12.1957, in: ebd., Nr. 2156, Bl. 35.

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ten West-Berliner Sportvereinen als Mitglieder angehörten.763 So nahm das ohnehin nur schwache Interesse der Parteiführung an einem kontinuierlichen Innerberliner Sportaustausch, der sich weitgehend ihrer Kontrolle entzog, weiter ab. Der „Kampf um Berlin“ in der internationalen Krise seit Ende 1958 bewirkte ein Übriges. Er führte aber dennoch nicht zu einem völligen Abreißen der Sportkontakte, wenngleich es der SED nicht passte, dass die West-Berliner Fußballer, Ruderer u.a. die Wettkämpfe im Ostteil der Stadt bestritten, dort aber in gezielten „Aussprachen“ gegen die Politik der SED polemisierten. Dabei erwuchs den OstBerliner Sportgemeinschaften oft der Vorwurf, die Gäste seien „ziemlich unkontrolliert“ aufgenommen und „politisch kaum beeinflusst“ worden.764 Nachdem 1957 der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) gegründet und von der DDR auch damit ein sichtbares Zeichen für die Absage an alle deutschen und Berliner Einheitsziele im Sport gesetzt wurde, verzichtete die SED zwar nicht völlig auf ihre Gesamtberliner Propaganda, setzte sie nun aber stärker zur Beeinflussung ganz bestimmter Sportorganisationen ein. Sie suchte man im Bereich der kleineren und mittleren West-Berliner Vereine, weil sie von Arbeitern, kleinen Angestellten und Angehörigen des Mittelstandes frequentiert würden.765 Auch wollte die SED- Sportführung nicht wie in den beiden Vorjahren möglichst viele WestBerliner Sportler für das III. Deutsche Turn- und Sportfest gewinnen – 1958 waren es immerhin 4.300 gewesen –, sondern mehr Wert auf deren Auswahl legen und so nach einem strengen Schlüssel Athleten selektieren, die aus „fortschrittlichen Vereinen“ West-Berlins kämen.766 Dennoch nahmen die Innerberliner öffentlichen Sportbegegnungen auch nach der West-Berliner Übernahme der Verfügung des 1950 gegründeten Deutschen Sportbundes (DSB), dass die neuen Staatsflaggensymbole der DDR „Hammer und Sichel im Ährenkranz“ (seit 1959) auf dem eigenen Hoheitsgebiet nicht gezeigt werden dürften, zunächst eher noch zu. Zwar missachtete man das Verbot in West-Berlin nur in einem Fall, doch zeigten viele sportliche Begegnungen auch den westlichen Sportpolitikern, dass Berlin als Verflechtungsgebiet des Sports und die Mehrheit seiner Anhänger bemerkenswert resistent gegen politische Angriffe auf dessen Einheit war, die auch auf den 763 Vgl. Protokoll über die 43. Sitzung des Ausschusses für Gesamtberliner Fragen, II. Wahlperiode, 21.3.1958, in: ebd., B Rep. 012, Nr. 184. 764 „Information über den Wahlkampf in Westberlin. 2. Tagesbericht“, 26.11.1958, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 622. 765 Vgl. Vorlage an das Büro der SED-BL: „Direktive für die Gesamtberliner Arbeit der Partei und Massenorganisationen“, 21.1.1959, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 371, Bl. 46. 766 DTSB, „Information über die Vorbereitung des III. Deutschen Turn- und Sportfestes“, März 1959, in: ebd., Nr. 377, Bl. 111.

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Höhepunkten der politischen Konfrontation von den Sportbegeisterten beiderseits der Sektorengrenzen solidarisch verteidigt wurde.767 Die SED riskierte auch jetzt keinen Abbruch der regionalen Sportbeziehungen, wenngleich Ulbricht nicht grundlos gegen die Diskriminierung des östlichen Staatssportes wetterte und er Vergleiche mit West-Berliner Mannschaften nur noch gestatten wollte, wenn gewährleistet sei, dass sie offen für den Abschluss eines Friedensvertrages und für die Umwandlung der Westsektoren Berlins in eine „Freie Stadt“ aufträten.768 Im ersten Halbjahr 1961 gingen die Innerberliner Sportbegegnungen auch wegen des Zeigeverbots für das DDR-Staatswappen im Westteil der Stadt deutlich zurück.769 Das lag aber auch an der Gegen-Konzeption der SED und des Magistrats, den „Spiel- und Sportverkehr“ so zu gestalten, dass der Senat durch die eigene Bevölkerung gezwungen werde, das keineswegs populäre und auch von Sportfunktionären nicht verteidigte Verdikt zurückzunehmen. Von der Weigerung der Ost-Berliner Verantwortlichen, unter dieser Bedingung „eigene“ Sportler nach West-Berlin zu entsenden, ging auf die West-Berliner Sportadministration ein gewisser Druck aus, andererseits aber signalisierte diese Konsequenz eine strategische Veränderung: Denn die erstrebte Anerkennung der DDR und Berlins als ihre Hauptstadt verlangte in den Augen der SED-Führung eine größere Ausstrahlung des DDRSports national wie international, besonders aber auch auf den anderen Teil Berlins. Fürderhin müsse bei möglichen Gesamtberliner Vergleichen, aber auch bei der eventuellen Aufstellung gemeinsamer Mannschaften, der „Leistungsstand der sozialistischen Sportbewegung“ entsprechend berücksichtigt werden. Dabei wollte die SED nicht auf plakative Aktionen im Verkehr mit den West-Berliner Sportverbänden verzichten, „um den Gesamtberliner Sportverkehr in unsere Hände zu bekommen“770. Doch sah sie den Hauptweg für einen größeren Einfluss in der überzeugenden Leistung ihrer inzwischen auch auf internationaler Ebene mit West-Berlin konkurrierenden Spitzensportler. Schließlich holten bei den Olympischen Spielen 1960 in Melbourne die 54 Ost-Berliner Sportler einmal Gold, sechsmal Silber und viermal Bronze, während die acht West-Berliner leer ausgin767 Insbesondere beim Fußball machten sich infolge des Verbots, die DDR-Hoheitszeichen in West-Berlin zu zeigen, „viele West-Berliner Vereine zu Spielen auf Ost-Berliner Gebiet auf“. Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 362. 768 Ulbricht sprach von der in letzter Zeit eingerissenen „Unsitte, möglichst viele Vergleiche mit Westberliner Mannschaften durchzuführen“. Ebd. 769 Im 1. Halbjahr 1960 hatte es noch insgesamt 130 Begegnungen gegeben, im 1. Halbjahr 1961 waren es „aufgrund der Repressalien des Westberliner Senats“ nur noch 26. Abteilung Organisation und Kader der SED-BL: „Beschlußvorschlag [für das Büro der BL] über die offensive Gestaltung des Gesamtberliner Spiel- und Sportverkehrs von Seiten des DTSB“, 10.1.1961, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 461, Bl. 37. 770 Vgl. ebd., Bl. 39.

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gen. Auch dieses Ergebnis beschleunigte den Ausbau des östlichen Leistungssports und fokussierte ihn. So müsse man sich in der Hauptstadt der DDR auf „massenpolitisch wirksamste“ Sportarten konzentrieren: Fußball, Radsport, Schwimmen, Rudern, Leichtathletik, Boxen und „Eissport“. Für durchschlagenden Erfolg seien einerseits „eine breite Volkssportbewegung“ vonnöten und andererseits die Weltspitze im Leistungssport. Nur so gelänge es, „als Beispiel auf Westberlin auszustrahlen“.771 Die Beeinflussung West-Berlins auf dieser Grundlage müsse dann eine Vielzahl von Großveranstaltungen in Ost-Berlin „mit internationalem Niveau“ nach sich ziehen – an denen es 1960 im Vergleich mit dem Westteil der Stadt noch mangelte.772 Wiederholt wies der außerordentlich wettbewerbsbewusste DTSB darauf hin, dass der West-Berliner Sport „von der Westzone bewußt unterstützt und der Frontstadt-Politik untergeordnet (wird), mit der Zielsetzung, den Wirkungsgrad des Sports im demokratischen Berlin einzudämmen“.773 Das Ost-Berlin besonders berücksichtigende SED-Sportkonzept sollte, was die Entwicklung des Leistungssports betraf, im Wesentlichen aufgehen. Es fügte sich in die Strategie zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und ihrer Hauptstadt ein. Dabei war bereits absehbar, dass der Breitensport, dem die SED in Berlin noch eine wichtige – auch integrative – Funktion zugedacht hatte, zurückgesetzt würde. In der DDR-Hauptstadt, als einer neuen „Sportstadt Berlin“, zeigte sich besonders deutlich, dass die Staatspartei die außenpolitische Rolle des Sports höher veranschlagte als bestimmte innenpolitisch-integrative Funktionen. Vielleicht lag hier auch eine Ursache dafür, dass noch Anfang 1961 über 5.000 an Hochleistungen nicht interessierte Ost-Berliner in 360 West-Berliner Vereinen „Massensport“ betrieben.774 Der Mauerbau, wenige Monate später, beendete das (sportliche) „Duell an der Spree“, das die kulturell-mentale Einheit der Stadt im Alltag mit am deutlichsten widerspiegelte. 6.3.2 Die Konkurrenz der Sportarenen und Sportarten West-Berlin gegenüber wies der Ostsektor im Bereich der großen und traditionsreichen Sportstätten mit Ausnahme des Wassersports (Regattastrecke Grünau) einen „deutlichen Standortnachteil“ auf775, den er mit erheblichen finanziellen 771 Vertraulich, DTSB, Bezirksvorstand Berlin, Vorlage: „Verbesserung der Großsportveranstaltungen in Berlin“, 23.3.1960, in: ebd., Nr. 1362. 772 In der Zeit vom 13.8.1959 bis 10.9.1960 hätten in West-Berlin 105 Sport-Großveranstaltungen stattgefunden, im „demokratischen Sektor“ aber nur 40. Vgl. ebd. 773 Ebd. 774 Vgl. Senator für Jugend und Sport an das Büro für Gesamtberliner Fragen, 15.2.1961, in: ebd., B Rep. 002, Acc, 1636, Nr. 2162. 775 Vgl. Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 347–349.

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Mittel behob. Bereits 1950/51 wurden alte Sportanlagen gründlich restauriert und neue errichtet. In kürzester Zeit – bis etwa Ende 1958 – glich Ost-Berlin dank „enormer Aufbauleistungen“ sein Sportstättendefizit776 aus und begann alsbald, in die Offensive zu gehen. Es war die 1951 in Betrieb genommene Sporthalle in der Stalinallee, aber auch das als Gegenstück zur Neuköllner Stadtrennbahn gesehene moderne Radrennoval im östlichen Weißensee (wie aber ebenfalls kleinere Sportanlagen), die den West-Berliner Senat ein eigenes Defizit befürchten ließen und den Wiederaufbau der kriegszerstörten Deutschlandhalle als „das notwendige politische Gegengewicht“ zur neuen ostsektoralen Sporthalle sowie die Schaffung „ausreichender Sportstätten in der Nähe der Wohnbezirke“ beschleunigte.777 Sportarenen stellten vor allem in Ost-Berlin Orte mit großer symbolischer Wirkung dar, die für einen kraftvollen sozialistischen Aufbau standen. Sie intendierten das Neue und Zukunftsweisende, das zugleich an progressive deutsche Traditionen anknüpfen und an deren für den sozialistischen Sport vereinnahmte Leitfiguren erinnern wollte. In Ost-Berlin war das allen voran Friedrich-Ludwig Jahn als demokratischer Patriot, der aber für die West-Berliner Sportkultur ebenfalls einen volkstümlichen Ahnherren abgab.778 Ein Lieblingskind aller Berliner war schon immer der Motorsport gewesen.779 Er blieb es auch, als in West-Berlin auf der AVUS weiterhin die populären Motorrad- und Autorennen ausgetragen wurden und man in Ost-Berlin 1952, nach einigen gescheiterten Versuchen auf Ausweichpisten, die Rennstrecke „Bernauer Schleife“ eröffnete – Teil des Autobahnrings zwischen den märkischen Orten Schwanebeck und Bernau. Damit war 776 U.a. wurden dem West-Berliner Olympiastadion 1950 das 70.000 Zuschauer fassende Walter-Ulbricht-Stadion und 1951 dem westlichen Olympiabad das neue FriesenSchwimmstadion gegenübergestellt. „Die Werner-Seelebinder-Halle (1950) und die Sporthalle Stalinallee (1951) [im Osten] bildeten das Pendant zu Deutschlandhalle und Sportpalast, schließlich standen der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark („Exer“) und das Stadion in der Wuhlheide dem West-Berliner Poststadion sowie Hertha-Platz gegenüber.“ Ebd., S. 348. 777 Langfristiger Aufbauplan für Berlin, 24.8.1955, in: LAB, B Rep. 013, Acc.2092, Nr.408. 778 Im Oktober 1952 erhielt der Sportplatz an der Ost-Berliner Cantianstraße den Namen „Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark“, und es fand im gleichen Monat eine „Jahn-Festwoche“ statt. Im West-Berliner Neukölln wurde das Andenken „Turnvater“ Jahns u.a. in dem nach ihm benannten Sport- und Erholungspark wachgehalten. Vgl. Magistratsvorlage Nr. 1130 zur Beschlußfassung für die Sitzung am 3.10.1952, in: ebd., C Rep. 100–05, Nr. 870, Bl. 36 sowie „Vorschlag über die Durchführung der Jahn-Festwoche vom 12.–19. Oktober 1952 in Groß-Berlin“, Oktober 1952, in: ebd., C Rep.901, Nr.170, Bl. 90–95. 779 Vgl. zum Thema Berliner Motorsport: Axel Kirchner, Motorsport in Berlin 1947 bis 1957. Zwischen Avus und Bernauer Schleife, Lemgo 2003 sowie Richard Kitschigin, Mythos Avus. Automobilsport in Berlin, Frankfurt am Main 1995.

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„ein stiller Konkurrent um die Gunst der Motorsportenthusiasten“ geboren. Er gewann zunächst an Boden, weil die AVUS-Veranstaltung trotz hoher Eintrittspreise in die „roten Zahlen“ kam und ihr die „Bernauer Schleife“ mit niedrigeren Entrees erfolgreich Paroli bot. Ab 1954 jedoch bekam die AVUS durch den Einsatz internationaler Autorenn-Asse, an denen es im Osten mangelte, Aufwind – ebenfalls aber durch einen tragischen Unglücksfall bei der Konkurrenz.780 Doch zunächst fuhren die Aktivisten noch gemeinsame Berliner Rennen. So siegten 1951 die Ost-Berliner Motorsportler in einem turbulenten Großkampf auf der AVUS und ließen sich von Reuter ehren.781 Auch der Radsport verlief anfangs gesamtstädtisch. Nachdem der „Klassiker“ (seit 1896), das Radrennen „Rund um Berlin“, bis 1949 noch eine Gesamtberliner Phase erlebt hatte, fanden 1950 und dann, mit einer im Westen dreijährigen Unterbrechung, ab 1954 zwei getrennte Veranstaltungen statt, die beide für sich die Fortsetzung der Tradition von „Rund um Berlin“ beanspruchten. Beide konkurrierende Aktionen liefen parallel zueinander immer im September unter der Schirmherrschaft der „Berliner Zeitung“ (Ost) und der „Berliner Morgenpost“ (West). Das herausragende Radsportereignis für Ost-Berlin und die DDR782 stellte jedoch seit 1950 die „Internationale Radfernfahrt für den Frieden Prag-BerlinWarschau“ („Friedensfahrt“) dar, die von den Zentralorganen der kommunistischen Parteien der drei Veranstaltungsländer sowie deren zentralen Sportorganisationen durchgeführt wurde. Es war ein politisches Prestigeprojekt. Berlin als Hauptstadt der DDR galt wegen seiner deutschlandpolitischen Symbolik als unverzichtbares Etappenziel.783 Als auch West-Berlin 1953 eine Amateuretappenfahrt, die „Tour de Berlin“ ins Leben rief, traten die Akteure indirekt zu einem „politischen Kopf-an-Kopf-Rennen“ auch dadurch an, dass die Veranstalter um „die Beteiligung der internationalen Radsportelite buhlten und sich in schöner Regelmäßigkeit gegenseitig die Weltbesten abspenstig machten“.784 Doch setzte sich die „Friedensfahrt“ als das anspruchsvollere internationale Amateurrennen und damit letztlich die SED-Konzeption durch, sie „zu einem großen politischen und sportlichen Ereignis in der Hauptstadt Deutschlands Berlin“ zu gestalten sowie sie als integrative Kraft für die Stärkung der „demokratischen Sportbewe-

780 Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 350. 781 Die Ost-Berliner Film-Wochenschau kommentierte, Reuter habe den ostdeutschen Vertretern „süßsauer“ den Siegerkranz überreicht. Vgl. „Der Augenzeuge“, Nr. 28/51, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. 782 Vgl. Keiderling, Berlin 1945–1986, S. 486. 783 Vgl. Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 352. 784 „Berliner Radsport“, Nr. 5, 2002, zitiert nach: Braun/Wiese, S. 351.

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gung“ zu nutzen.785 So wollte die SED das Eintreffen der Radfahrer am Etappenort Berlin „zu einem Volksfest der Bevölkerung aus ganz Berlin“ gestalten und sah es als erste Aufgabe des Organisationskomitees an, dafür zu sorgen, dass auch „tausende West-Berliner an der Vorbereitung und Durchführung Anteil nehmen“.786 Dieses Ziel wurde aber offenbar nur insofern erreicht, als sich viele West-Berliner passiv an der Friedensfahrt beteiligten – als Zuschauer. Während die Ost-Berliner Handballer ihren West-Berliner Pendants in den bekannten parallelen Neujahrsturnieren lange Jahre unterlegen waren, dann aber aufholten, zeigte sich der ostsektorale Fußball dem in West-Berlin nach anfänglichen Erfolgen bald nicht mehr gewachsen. Zwar nährte der als kleine Sensation empfundene 3:2-Sieg der Ost-Berliner Auswahlmannschaft über die Elf aus den Westsektoren787 1951 bei der Ost-Berliner Sportpolitik noch einmal die Hoffnung zumindest auf Gleichrangigkeit, doch war der ostsektorale Fußball eigentlich nicht mehr konkurrenzfähig. Das betraf aber auch bald die beiden zunächst in der DDR-Oberliga spielenden Ost-Berliner Fußballclubs BSG Einheit Pankow und Motor Oberschöneweide im Verhältnis zu den übrigen Mannschaften in dieser höchsten ostdeutschen Kategorie. Nach der faktischen Oberliga-Insuffizienz der beiden Berliner Vereine gründete der Apparat der SED-Sportpolitik unter erheblichem finanziellen und personalen Aufwand zwei von nicht zivilen Gremien (NVA, MfS, Zollverwaltung) getragene traditionslose, aber politisch und finanziell privilegierte Ost-Berliner Fußballvereine: den Sportclub (SC) Dynamo Berlin und den Armeesportklub (ASK) Vorwärts Berlin.788 Die sektorenübergreifende Konkurrenz des Fußballs in der Stadt erhielt dadurch Bedeutung, dass kaum eine andere Sportart von so enormer Massenwirksamkeit und Anziehungskraft war wie der Fußball. Er wirkte gleichzeitig als eine Klammer, die das Berliner Sportleben zusammenhalten half. Das betraf nicht zuletzt die West-Berliner Traditionsvereine Hertha BSC und Alemannia 90, deren Stammpublikum sich bereits vor dem Krieg in den Stadtbezirken Wedding und Prenzlauer Berg fand und das nach 1948 ebenfalls dort, nun aber beiderseits der Sektorengrenze, zu Hause war. Tatsächlich ließ sich das Zugehörigkeitsgefühl der Fußballanhänger „durch politische Grenzen nicht kappen“. Zu „Hertha“ ins Gesundbrunner Stadion kam in den 50er Jahren ein Drittel aller Zuschauer aus Ost-Berlin, zumal der Verein, aber auch der westsektorale Berliner FußballVerband (VBB), enorme Kartenkontingente für Ostdeutsche via „Ostkassen“ zum 785 Magistratsbeschluß Nr. 79 vom 17.4.1953, in: LAB, C Rep.100–05, Nr. 881, Bl. 17. 786 SED-BL Groß-Berlin: „Plan zur Vorbereitung der VIII. Internationalen Radfernfahrt für den Frieden […]“, 7.3.1953, in: ebd., C Rep. 902, Nr. 223. 787 Vgl. „Der Augenzeuge“, Nr. 28/51, in: Bundesarchiv, Filmarchiv am Fehrbelliner Platz. 788 Vgl. Braun/Wiese, Duell an der Spree, S. 356.

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Vorzugspreis bereitstellten. Das erweckte bei den Sportfunktionären Ost-Berlins umso mehr Verärgerung, als ihre beiden neuen Fußballvereine und -mannschaften zunächst wenig Publikum anzogen789 und viele junge Ost-Berliner Fußballspieler auch aus kleineren Vereinen nach West-Berlin überwechselten – manchmal ganze Mannschaften, wie in den Fällen des Vereins für Ballspiele (VfB, später Einheit) Pankow und der Union Oberschöneweide.790 Der Auftrag der Ost-Berliner SED an den Fußball der Teilstadt, bis 1955 den Leistungsstand der West-Berliner Spitzenvereine zu erreichen791, erwies sich auch unter dem Eindruck dieser „Kader“Abwanderungen als illusorisch. Das enttäuschte die sozialistische Führung umso mehr, als „König Fußball“ für die Identifikation mit der Hauptstadt der DDR und ihrem Sportsystem besonders geeignet schien.

789 Vgl. ebd., S. 354f. 790 Vgl. „Der Tag“, 21.5.1950. 791 Vgl. SED-BL Groß-Berlin: „Plan zur Vorbereitung der VIII. Internationalen Radfernfahrt für den Frieden […]“, 7.3.1953, in: LAB, C Rep. 902, Nr. 223, Bl. 93.

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I. Berlin erfuhr im Umfeld des Kalten Krieges seine politisch-administrative Teilung. Sie war bereits sein Ergebnis, trieb ihn aber in der Folgezeit immens an. Seit der Berlinkrise 1948/49 entwickelte sich die alliierte Sektorenstadt zu einem Brennpunkt des Kalten Krieges. Zwar hatte die Berliner Frage auch Ursachen, die aus dem Zweiten Weltkrieg resultierten, doch erhielt sie erst im Ost-WestKonflikt ihren brisanten Inhalt: Während die drei Westmächte an ihren Berlinrechten kompromisslos festhielten, versuchte die Sowjetunion, sie ihnen zu entziehen. National wie international stellten sich die Berliner zuvorderst als Teil der deutschen Frage dar. Würde Berlin in sich und mit Deutschland wiedervereinigt und seine Hauptstadt sein oder mit der Bundesrepublik und der DDR weiter einen separaten Weg gehen müssen? Konfrontation und Blockbildung im Kalten Krieg führten zwangsläufig zu einer Internationalisierung und Ideologisierung des Problems, dessen Lösung sich dadurch erschwerte. Eine etwas anders dimensionierte Frage ergab sich für die Bewohner der Stadt selbst: Wie würde es mit ihnen weitergehen, wenn sich sowohl der Zustand der regionalen Spaltung, als aber auch die Gefahr militanter Zuspitzungen nicht überwinden ließen? Die politisch-administrative Spaltung nötigte der Stadt eine alle Bereiche der Politik und des gesellschaftlichen Lebens erfassende Systemkonkurrenz auf, die beide Seiten grundsätzlich konfrontativ, aber auch in Gestalt eines nicht antagonistischen Wettbewerbs sowie in Mischungen dieser Grundformen führten. Als generelles Ziel formulierten beide Berliner Konfliktparteien die Wiederherstellung der politischen Einheit Berlins (und Deutschlands) – freilich zu den jeweils eigenen Bedingungen. Damit faktisch gleichrangig rangierte die Einbindung ihrer Sektoren in ihre deutschen und internationalen Präferenzsysteme. Das galt den konkurrierenden politischen Eliten als „Wert an sich“ und als die wichtigste Voraussetzung für jede Wiedervereinigung, aber auch als Basis der Systemkonkurrenz. Die ordnungs- und bündnispolitische Integration, die sich im Innern als Ringen um die Berliner fortsetzte, stellte sowohl für die Besatzungsmächte als auch für beide Stadt- und deutschen Regierungen den Primat ihrer Politik beim Aufbau und der Sicherung der von ihnen beherrschten Sektorengebiete dar. Dabei berücksichtigten sie die rechtlichen, politischen und sozioökonomischen Besonderheiten der geteilten Großgemeinde. Zum einen wirkten dort alliierte Rechte und Absprachen unmittelbar, und alle Besatzungsmächte besaßen im Prinzip uneingeschränkte auch für den Systemwettbewerb relevante Interventions- und

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Kontrollmöglichkeiten, die sie allerdings unterschiedlich wahrnahmen. Während die Westmächte, allen voran die USA, sie in einem Gemenge von Hilfen, Beratung und „höflichen“, aber in der Sache klaren Direktiven gebrauchten, regelte die sowjetische Besatzungsmacht Ost-Berliner Geschäftsgänge systematischer und rigider, traf Entscheidungen häufiger sowie detaillierter und kontrollierte deren Umsetzung intensiv und in der Tendenz flächendeckend, nach 1955 allerdings nur noch partiell unter dem Gesichtspunkt politischer Wichtigkeit. Insgesamt beließen die Westmächte dem Senat weit größere Handlungsspielräume als die Sowjetunion dem Ost-Berliner Magistrat, dem überdies noch die SED und DDRStaatsorgane vorstanden. In der Kombination mit massiven alliierten und westdeutschen finanziellen und anderen Berlinhilfen begann sich die regionale Systemkonkurrenz allmählich stärker selbst zu tragen. Das spielte beispielsweise bei der Konkurrenz zwischen Ost-Berliner Sowjetisierung und westalliierten Einflüssen eine Rolle. Im Alltags- und Kulturbereich bremste die West-Berliner Seite die Sowjetisierung Ost-Berlins durch westliche Angebote erheblich mit ab. Aber auch West-Berlin stand aufgrund seiner besonderen Abhängigkeit erheblich unter dem Einfluss von vorrangig kulturellen „Amerikanisierungen“, die im Alltag, z.B. bei Konsum und Lebensweise, mentale Spuren hinterließen, jedoch in den Bereichen Politik und Wirtschaft ausblieben. Alles in allem trug das staatswahrende Besatzungsregime dazu bei, dass sich im Vergleich mit den beiden deutschen Staaten die noch teilweise kriegsbedingte Umbruchsgesellschaft in der ehemaligen Reichshauptstadt langsamer auflöste und der Prozess der beiderseitigen „Lager“Integration zumindest in den ersten Jahren nach 1948 verzögert verlief.

II. Die politisch Verantwortlichen sahen, wie die Mehrzahl der Berliner und Deutschen, in der geteilten Metropole die traditionelle, ihrer Position nur vorübergehend verlustig gegangene deutsche Hauptstadt, die sie bald wieder sein würde. Während im Westen von der „Hauptstadt im Wartestand“ die Rede war, bezeichnete sie der Osten bis Mitte der 50er Jahre als Hauptstadt ganz Deutschlands und der DDR, danach ausschließlich als „Hauptstadt der DDR“. Diese Sichten setzten, mit Ausnahme der SED-Hauptstadtkonzeption nach 1955, die Einheit Berlins voraus. Beide konkurrierenden Seiten beabsichtigten, sie durch die Übertragung ihres Gesellschaftsmodells auf den jeweils anderen Teil der Stadt zu erreichen, sprich durch radikale Systemveränderung. So verfolgten die westlichen demokratischen Eliten mit dem „Leuchtturm“, „Schaufenster“ und „Bollwerk“ West-Berlin das allerdings sehr vage Rollback-Konzept des Westens. Ein „Halt“ für die Sowjetunion in Berlin, wie es 1948 als Zeichen gesetzt worden war, ordnete

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sich jedoch in die amerikanische Containment-Politik ein, und das hieß in Verbindung mit der westlichen Befreiungsrhetorik faktisch harte Konfrontation mit dem Osten. „Politik der Stärke“ bedeutete für die wehrhafte West-Berliner Demokratie politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit, die dann – pars pro toto – irgendwann zur Freiheit und Wiedervereinigung Deutschlands und Europas führen müsste. Somit fiel dem Vorbild West-Berlin eine Rolle zu, die weit über die lokalen Gegebenheiten hinausging. Gleiches galt für Ost-Berlin im sowjetischen Gesamtkonzept des „gesetzmäßigen“ Vormarsches des Westsozialismus: Berlin als deutsche und DDR-Hauptstadt sei als vorgeschobener Posten des sozialistischen Lagers Beispiel und Symbol für die Überlegenheit der neuen über die zu beseitigende kapitalistische Ordnung. So zielten die Vorstellungen über die Wiedervereinigung Berlins beiderseits auf Systemtransformation und politischen „Anschluss“. Dafür lagen seit dem Beginn der 50er Jahre, konkreter im Westen, Ideen und Planungen vor. Demokratischer und kommunistischer „Expansionismus“ standen sich in Berlin besonders unversöhnlich gegenüber. Da aber Systemveränderungen aufgrund der internationalen Kräftekonstellation kaum von außen zu bewirken waren, wollte man sie nach Lage der Dinge von innen heraus herbeiführen, was auf Konkurrenz in verschiedenen interaktiven Formen hinauslief. Beide Konfliktparteien standen deshalb vor der Aufgabe, die sozial und politisch differenzierte Berliner Gesellschaft – der im eigenen Herrschaftsbereich und der im jeweils anderen – für sich zu gewinnen. Dabei war 1948/49 noch nicht hinlänglich klar, ob und wo sich die parlamentarische Demokratie oder die kommunistischen Kräfte in Berlin endgültig durchsetzen würden. Die Entscheidung darüber lag weitgehend im Wirtschaftlichen und Sozialen, in den Problemen Lebensstandard, soziales Wachstum und politische Zufriedenheit. Doch während der Westen sie und letztendlich Stabilität vorrangig durch die soziale Marktwirtschaft zu erreichen suchte, appellierte der Osten, ohne diese materiellen Bedingungen leugnen zu wollen, an eine Art „höherer Vernunft“, sie insbesondere über das Bewusstsein in die gestaltende Kraft einer überlegenen Planwirtschaft zu erreichen. In allem schimmerte beiderseits die banale wie richtige Erkenntnis durch, dass jede der beiden konkurrierenden Ordnungen mit ihren Berliner „Schaufenstern“ so attraktiv werden müsse, dass sie die Menschen der jeweils anderen Gesellschaft unwiderstehlich anzogen. Diese „Magnettheorie“ wirkte auch in der Theorie und Praxis der Berliner Wiedervereinigung. Den politischen „Königsweg“ dorthin beschrieb die westliche Seite mit freien Wahlen, die sein politisches Maximalprogramm über den Mauerbau hinweg blieben, während die kommunistische Konkurrenz das Einheitsziel durch eine Art Volksfront aller „antiimperialistischen“ Kräfte der Stadt zu erreichen glaubte. Zunehmen dem Legitimationsdruck ausgesetzt, suchten SED und Magistrat nach Ersatzlösungen für freie Wahlen, an denen die SED in West-Berlin seit 1954 teilnahm. Sie boten

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ihr als Gesamtberliner Partei die Möglichkeit, parlamentarische Demokratie auf einem überschaubaren „Experimentierfeld“ einzuüben und Erfahrungen im Umgang mit den konkurrierenden demokratischen Parteien zu sammeln. Das schlechte Abschneiden der SED bei den Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus trug mit dazu bei, dass sie vor dem Risiko demokratischer Abstimmungsformen in Ost-Berlin zurückschreckte und stattdessen Pseudowahlen zum ostsektoralen Stadtparlament nach Einheitslisten oktroyierte. Auch führte sie zu bestimmten Fragen kontrollierte Volksabstimmungen durch, die sie in der politischen Konkurrenz als basisdemokratisch und somit alternativ deutete. Andererseits bestätigte die Teilnahme der SED an den Wahlen im Westteil der Stadt, dass sich die Kommunisten in einem ihnen feindlichen Umfeld an die politischen Spielregeln hielten und keine Bedrohung für die Demokratie darstellten. Im ganz anderen Sinn alternativ gestalteten sich u.a. die im Bündnis mit dem Senat parallel zu den West-Berliner Wahlen 1954 durchgeführten Ost-Berliner Protest-Volksabstimmungen gegen kommunistische Diktatur und Verweigerung demokratischer Wahlen. Beide Konkurrenten erhoben einen politisch und moralisch begründeten, die Legitimität der jeweiligen Gegenseite ausschließenden Anspruch auf das ganze Berlin. Er äußerte sich auch in der Gesamtberliner Heraldik der Teilstädte, in Symbolen und Bezeichnungen. Legitimität leiteten beide Seiten ebenfalls von der unterschiedlich interpretierten Berliner Vergangenheit und ihren in der Konkurrenz instrumentalisierten Traditionen ab. Doppelte Geschichtspolitik und gelenkte Erinnerung brachten teilweise widersprüchliche intellektuelle Konstruktionen hervor, die in Ost-Berlin in verschiedenen Bereichen mit der gemeinsamen Geschichte radikal brachen und sich auf das Stadtbild, die Gedächtniskultur u.a.m. konkret niederschlugen. Der so auch historisch begründete Gesamtberliner „Alleinvertretungsanspruch“ stellte politisch zunächst eine Ableitung diesbezüglicher Dogmen der beiden deutschen Staaten dar, entwickelte aber angesichts der besonderen Lage der „offenen“ Stadt einige Besonderheiten. So verweigerte der Senat der SED-Herrschaft zwar jegliche staatliche Anerkennung und damit offizielle Kontakte, stellte sie aber im Fall einer Liberalisierung der ostsektoralen Verhältnisse differenziert in Aussicht. Die östliche Seite versuchte das Verweigerungsdogma durch eine Politik der Gesprächsangebote auszuhebeln, ohne ihre Herrschaftspraxen auch nur partiell in Frage stellen zu wollen und setzte dabei auf kontrollierte, propagandistisch und politisch, aber auch wirtschaftlich verwertbare Kontakte. Demgegenüber nahm der konsequente, aber einfallslose starre Kurs des Senats von West-Berlin die Möglichkeit, östliche Vorschläge auszuloten und die Verständigungsdemagogie der SED zu entlarven. In dem Bewusstsein, dass die westliche Stadtregierung alles zurückwies oder ignorierte, was sie vorschlug, konnte sie alles nur Denkbare offerieren – auch für sie Riskantes. Beide politischen

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Eliten grenzten sich zunehmend voneinander ab. Hinsichtlich der zentralen Frage nach den Berliner Gemeinsamkeiten entwickelte sich ein widersprüchliches Grundmuster: Während der Senat an ihrer Aufrechterhaltung prinzipiell, aber nicht überall, interessiert war, versuchte sie die SED-Konkurrenz schrittweise abzubauen.

III. Doch folgte der politischen Abgrenzung nicht immer und nicht gleichzeitig ein weiterer Abbau allgemeiner Verflechtungsbeziehungen. Und auch in der politischen Entwicklung gab es Phasen der Beruhigung, die bei vielen Berlinern und „Randberlinern“ die Hoffnung auf eine prinzipielle Wende zum Besseren immer wieder entstehen ließ und bestehende Beziehungsstrukturen auch im individuellen Bewusstsein festigte. Das zumindest zeitweilige Desinteresse der SED an einer forcierten Beendigung innerstädtischer Beziehungen resultierte über das Jahr 1955 hinausgehend u.a. aus gesamtdeutschen propagandistischen Zielen und ihrem Anspruch auf das ganze Berlin. Rücksichten auf die Stimmung der Bevölkerung und eine zur Stabilisierung der innenpolitischen Lage notwendige Glaubwürdigkeit von Überlegenheitskonzepten der SED bremsten den Berliner Teilungsprozess in Abstimmung mit der konkreten Situation ab, die immer auch sowjetische Interessen mitbestimmten. Demgegenüber nahm auch der Senat Rücksicht auf die Stimmungslagen seiner Bürger, die häufig mehr gesamtstädtisches Handeln anmahnten. Dafür bot die Konkurrenz in der beiderseitigen Gesamtberliner Arbeit eine wesentliche Grundlage. Im Osten hoch zentralisiert sowie auch im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich von der SED kontrolliert, trugen sie in West-Berlin zuvorderst nichtstaatliche Gremien und Organisationen. Bei ihrem Ziel, die Berliner, vorrangig auf der jeweils anderen Seite, für sich zu gewinnen, appellierten der Senat, die Verfassungsgremien und die politischen Parteien der Westsektoren an die Einheitswünsche aller Berliner und an die politisch-moralische Verpflichtung, ihre Gemeinsamkeiten unbedingt zu erhalten; die SED und der Magistrat hingegen vorrangig an den grenzüberschreitenden Kampf um die Erhaltung des Friedens, der, wie die Einheit, nur über die Beseitigung der „abnormalen“ West-Berliner Verhältnisse zu erreichen sei. Beide Gesamtberliner Konzepte und Maßnahmen richteten sich faktisch auf die Infiltration und letztendlich Beseitigung des jeweiligen Konkurrenzsystems durch differenzierte Methoden, die Formen des verdeckten Kampfes, von Gewalt und Erpressung eingeschlossen. Die politischen Hauptzielgruppen der kommunistischen gesamtstädtischen Arbeit bildeten die von der SED als Feind und gleichzeitig als Bündnispartner behandelte Berliner Sozialdemokratie sowie das weit gefächerte westsektorale

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Bürgertum, während sie in den Arbeitslosen und anderen sozial Unterprivilegierten eine politische Hilfskraft für die Auseinandersetzungen im sozioökonomischen Alltag und auf der „Straße“ sah. Während die Gesamtberliner Politik und Organisation der SED in eine Sinnund methodische Krise geriet, die Effektivierungsversuche trotz der partiellen Flexibilität jüngerer Funktionäre und Reformansätze nicht zu überwinden vermochten, gewann die konkurrenzorientierte Tätigkeit des Senats nach erheblichen Schwierigkeiten an Kraft. Sein Gesamtberliner Büro entwickelte sich in den 50er Jahren zu einem zentralen Gremium der Kooperation von verschiedensten Organisationen und Aktivitäten, zum kompetenten Berater der politischen Entscheidungsträger und konzeptionellen Vordenker wie zur wirksamen Hilfsorganisation und „Klagemauer“ für Ost-Berliner. Eine besondere Rolle übernahm es bei der Verteilung von finanziellen Mitteln. Obwohl die über verschiedene, teils auch dubiose, West-Berliner Vermittlungsstellen ablaufenden menschlichen Kontakte insgesamt integrativ wirkten, bildeten sie auch Foren der Polarisierung und politischen Denunziation. Davon weitgehend frei gestaltete sich die Tätigkeit der gesamtstädtisch organisierten Kirchen. Sie verklammerten mit ihren Mitteln beide Teile Berlins und versuchten, den Kontrahenten Brücken zu bauen. Doch zeugen besonders die politischen Auseinandersetzungen um die Berliner Kirchentage vom schwierigen Engagement der Gläubigen für alle Berliner, zeigen aber auch, dass beide politischen Seiten versuchten, die Religionsgemeinschaften in die Systemauseinandersetzung hineinzuziehen. Die SED sah sie als ihre ideologischen und politischen Konkurrenten, die sie je nach Interessenlage tolerierte oder aber latent wie offen bekämpfte, manchmal auch durch den Versuch, sie gegeneinander auszuspielen.

IV. Emotional wenig aufgeladen verlief die infrastrukturelle Spaltung Berlins 1948/49, betrachteten sie doch nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung, sondern offensichtlich auch viele städtische Bedienstete, als nicht endgültig. Die Teilung der städtischen Bürokratie widerspiegelte die rationale Idee eines politischen Elitenaustauschs bei weitgehender Wahrung der administrativen Funktionsfähigkeit der Stadt sowie der Interessen der Betroffenen. Zwar wurde dieser Austausch beiderseits von den Parolen des Kalten Krieges, gegenseitigen Schuldzuweisungen und demokratischen Phrasen begleitet. Er erwies sich jedoch insgesamt als ein einvernehmlicher und organisierter Prozess, der sich bei allen sozialen und beruflichen Konsequenzen im Einzelnen nach dem Grundsatz regelte, dass die Berliner Magistratsangestellten dienstlich in den Teil der Stadt überwechselten, in denen

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sie oder ihre Vorgesetzten ihre politische Heimat sahen. Beide Seiten schufen sich parallel zueinander zuverlässige allgemeine, aber auch besondere Konkurrenzbürokratien, die ebenfalls zu einer Aufblähung des Berliner Verwaltungsapparates mit Zukunftsfolgen beitrugen – zuvorderst für die Zeit nach dem Mauerfall. Schwieriger, aber in der Regel ebenfalls nicht dramatisch, gestalteten sich die Trennungen im Verkehrs- und technischen Versorgungswesen. Beide Seiten wollten dadurch die Abhängigkeit ihres Teils von Berlin vom jeweils anderen sowie Störanfälligkeiten minimieren und Erpressungsversuchen vorbeugen, wie sie West-Berlin 1948 erlebt hatte und bei einer neuen Krise befürchtete. Andererseits mussten die Verantwortlichen im Sinne der Lebensfähigkeit beider Stadthälften Gesamtberliner Infrastrukturen erhalten, solange keine separaten zur Verfügung standen oder sich Ersatzlösungen aus pragmatischen Gründen verboten: Doch plante die sowjetische Besatzungsmacht bereits 1950 eine generelle Trennung der gesamtstädtischen Verkehrs- sowie technischen Versorgungssysteme und erließ entsprechende Direktiven an die SED und den Magistrat. Sie bereiteten wichtige Maßnahmen, etwa bei der U-Bahn und bei der Strom- und Wasserversorgung, diskret vor, setzten einige von ihnen bei der Zuspitzung der politischen Lage (1952/53) auch um, entschlossen sich jedoch nicht zu einer radikalen Lösung, die am Berliner Alltag scheiterte und in Moskau nach 1953 offenbar auch nicht weiter verfolgt wurde. Demgegenüber entstanden auf beiden Seiten bis 1955/56 unabhängig voneinander partiell Konzepte für gesamtstädtische technische Regelungen, die der Osten auf Regierungsebene zu treffen gedachte, der Senat aber definitiv ausschloss. Inoffizielle technische Kontakte zogen sich zwar in die Länge, erbrachten aber im Ganzen praktikable Ergebnisse. „Normalitätsprobleme“ im Ver- und Entsorgungsbereich ließen sich in dem Maße vernünftig klären, wie sie wirtschaftlicher Struktur waren und insbesondere die SED in ihrer Lösung finanzielle Vorteile sah. Insgesamt nahmen die administrativ-technischen Gespräche, aber auch Formen einer von Konkurrenzmentalitäten realtiv freien Kooperation bei der Polizei, im Rechtswesen und bei der Amtshilfe keinen großen Raum ein, trugen aber bedingt zur Verhinderung einer totalen Abgrenzung im geteilten Verwaltungsbereich Berlin bei. Aus politischen und ideologischen Gründen blieben im Untersuchungszeitraum verschiedene Chancen für eine Entkrampfung des Dauerkonflikts ungenutzt. „Guter Wille“ beschränkte sich, etwa im Fall der Quadriga 1959, auf symbolische Gesten, so sie überdies für Propaganda und plakative Selbstdarstellungen geeignet schienen. Demgegenüber spitzte sich nach 1950 der allgemeine politische Konkurrenzkampf, zeitweilig unter dem Einfluss des Koreakrieges, zu. Er fand beredten Ausdruck im Ringen der Politik in beiden Teilen Berlins um die Jugend. SED und FDJ veranstalteten in Ost-Berlin zwei Deutschlandtreffen und (1951) die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten. In hohem Maße gelang es dem

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Senat im Zusammenspiel mit den staatstragenden Parteien, gesellschaftlichen Institutionen und antikommunistischen Organisationen der Teilstadt die OstBerliner Jugendschauen durch ein „Kaffee- und Kuchen“-Konzept sowie attraktive kulturelle Angebote „umzudrehen“ und „Gegenspiele“ zu veranstalten. Sie bewirkten einen massenhaften Besuch von FDJlern in West-Berlin und für die SED das blamable Gegenteil ihrer Absicht, die junge Generation durch das „Schaufenster“ Ost-Berlin unisono stärker in den sozialistischen Aufbau und antiwestlichen Kurs einzubinden. Gleichzeitig wies die unangemessene Anwendung von Gewalt durch den Senat anlässlich des organisierten „Einmarsches“ von FDJ-Formationen in West-Berlin geradezu prototypisch auf die Grenzen demokratischer Toleranz gegenüber dem kommunistischen Gegner hin. Zwar verstanden die Ost-Berliner Verantwortlichen das Zeichen, lernten aber auch insofern aus dem Desaster, als sie in den folgenden Jahren mit jugendpolitischen Offerten dazu beitrugen, dass sich die von westlichen Konsumangeboten getragene „Schaufenster“-Politik bei der ostdeutschen Jugend allmählich abnutzte. Das wiederum zwang den West-Berliner Wiederpart zur Suche nach differenzierten Beeinflussungsmethoden.

V. Vor dem Hintergrund der internationalen Auseinandersetzung um die deutsche Frage sowie der krisenhaften Entwicklung in der DDR setzte im Frühjahr 1952 eine signifikante Zuspitzung des Berliner Systemkonflikts ein, die sich aber bereits vorher – etwa durch den Fall Kamith – angedeutet hatte. Als die Regierung der DDR und der Magistrat in Absprache mit der UdSSR im Mai 1952, als Gegenmaßnahme zur Westintegration der Bundesrepublik, „Schutzmaßnahmen“ beschlossen, die auf Sperrmaßnahmen und Restriktionen gegen die West-Berliner hinausliefen, verkündete der Senat Gegenmaßnahmen. Lautstark angekündigt, beruhigten die Absichtserklärungen zwar die eigenen Bürger, offenbarten aber die Hilflosigkeit des Senats, dem wirksame Gegenaktionen rechtlich verwehrt blieben. In der westsektoralen Öffentlichkeit setzte eine durch die Medien getragene propagandistische Offensive gegen die SED ein, die ihr gerade recht kam, um ihre Abgrenzungspolitik zu intensivieren und dafür Scheinangebote an die WestBerliner zu instrumentalisieren. Neue Übergriffe Ost-Berlins, die in spektakulären Entführungsfällen gipfelten, sowie andererseits der verstärkte Einsatz von Polizeigewalt gegen die von der SED in den Westsektoren organisierten Demonstrationen u.a.m., trugen zur Eskalation der Innerberliner Spannungen bei. Eine Beruhigung der Lage schien sich mit dem Neuen Kurs in der DDR anzudeuten, den viele Berliner in beiden Teilen der Stadt angesichts der Schwäche der

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SED differenziert mit der Hoffnung auf eine Liberalisierung der kommunistischen Verhältnisse verbanden, die West-Berliner vor allem in der Erwartung, dass man die Willkürmaßnahmen gegen sie zurücknähme. Auch insofern besaß der neue Kurs eine Gesamtberliner Dimension. Sie zeigte sich aber mehr noch im Umfeld des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953. Weder von WestBerlin aus vorbereitet noch gesteuert, trug es als Teil der Hauptstadt durch seine funktionierenden Informationsstränge einschließlich der elektronischen Medien zur schnellen Publizität des Ereignisses, seines Verlaufs und letztendlich seiner unmittelbaren Wirkung bei. Die spontane Teilnahme von zumeist jugendlichen West-Berlinern – aber keineswegs nur „Rowdies“ und „Provokateuren“ – verstärkte sie. Auch insofern erhielt der 17. Juni eine Gesamtberliner Eigendynamik. Er war aber viel mehr deshalb ein Berliner gesamtgesellschaftliches Ereignis, weil er mit seiner antidiktatorischen Zielstellung die politischen Einheits- und andere Interessen der meisten Berliner widerspiegelte, allerdings nach Ost und West differenziert sowie disproportional. Überdies unterstrichen West-Berliner Teilund Anteilnahme den Gesamtberliner Charakter des revolutionären Versuchs als einen Akt der Solidarität – mehr spontan als dauerhaft. Dazu gehörten neben den West-Berliner öffentlichen und nichtstaatlichen Sofortprogrammen die zahlreichen Hilfen u.a. von Betriebsbelegschaften, Gewerkschaftsmitgliedern und Privatpersonen. Ebenfalls zeugten die sehr ähnlichen Wahrnehmungen des 17. Juni und seiner lokalen „Nachbeben“ von einem noch gesamtstädtischen Bewusstsein, in dem die Erinnerung an diesen „Tag des Zorns“ in beiden Teilen der Stadt aus unterschiedlichen Gründen relativ schnell aus der Erinnerung schwand. In der politischen Konkurrenz erlitten SED und Magistrat am 17. Juni ein Desaster ebenfalls dadurch, dass ihr Gründungskonzept von 1948, den Ostteil zum Gesamtberliner Modell und Vorbild zu gestalten, perdu war und sich bislang noch politisch Unschlüssige im Westteil vom östlichen Alternativangebot definitiv abkehrten. Angesichts sowjetischer Panzer erhielt die „Politik der Stärke“ in den Westsektoren eine gewisse Volkstümlichkeit, und es verfestigte sich der Alleinvertretungsanspruch des Senats, der nunmehr alle Gesprächsofferten des Magistrats mit dem Verweis auf den „Volksentscheid“ vom 17. Juni 1953 zurückweisen konnte. In seiner Folge gelang es den USA im Sommer 1953, ihren sowjetischen Konkurrenten mit einer von der Bundesrepublik unterstützten und vom Senat organisierten Lebensmittelhilfsaktionen für Ost-Berliner und DDR-Bürger einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Die in West-Berlin ausgegebene Lebensmittelspende stellte als ein Schnittpunkt der internationalen, deutschen sowie regionalen Konkurrenz eine geschickte Sympathiewerbung für den Westen dar, die er mit der Absicht verband, die Sowjets und die SED im symbolträchtigen Berlin zu delegitimieren und sie als unfähig vorzuführen, die fundamentalen Lebensbedürfnisse ihrer Schutzbefohlenen zu befriedigen. Die auch für den Senat politisch

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erfolgreiche Aktion nahm für beide Seiten gefährliche Züge an, als die teilweise perfiden Gegenmaßnahmen der SED nicht fruchteten, und es zwischen ihren Sicherheitsorganen und den Ost-Berlinern zu Turbulenzen kam, die ein neues Blutvergießen befürchten ließen. Deshalb nicht fortgeführt, stellte die demagogisch gewandte Aktion dennoch eine erfolgreiche amerikanische „Bündnisübung“ im Kalten Krieg zur Koordinierung von Berliner Wettbewerbspotentialen dar. Die politische Systemkonkurrenz erhielt Anfang 1954 einen weiteren konfrontativen Impuls, als die SED anlässlich der alliierten Berliner Außenministerkonferenz „Friedens“-Kampagnen initiierte, aber es dem Senat und seinen Verbündeten gelang, das Ereignis für antidiktatorische Gegenaktionen zu nutzen, insbesondere für oppositionelles Handeln im Ostteil der Stadt. Daraus gingen aber keine dauerhaften Strukturen und Organisationsformen widerständigen Verhaltens in OstBerlin hervor.

VI. Die relativ kurze Zeit von Anfang 1955 bis Ende 1958 stand im geteilten Berlin im Zeichen der politischen Auseinandersetzung um den Anspruch der DDR auf Berlin als Hauptstadt der DDR, den die SED im Kontext der im Juli 1955 verkündeten sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie definitiv erhob. Die Berliner Konkurrenten lieferten sich in dieser Frage wahre Propagandaschlachten, verhielten sich allerdings in der praktischen Berlinpolitik so, dass die internationale Öffentlichkeit von einer Beruhigung der Lage sprach. Als die politische Berlin-Krise 1958 mit dem Chruschtschow-Ultimatum einsetzte, konnte weder von einem auffälligen Verhalten West-Berlins noch von einer politischen und wirtschaftlichen Konfliktsituation in der DDR und Ost-Berlin die Rede sein. In den „Normaljahren“ 1958/1959 zeigten sich dort im Gegenteil Tendenzen einer relativen Stabilisierung. Die Republikflucht hatte sich auf einem noch keineswegs existenzbedrohenden Niveau eingependelt, ging zeitweilig sogar zurück. Ebenfalls stellten Kalter Krieg und das „Schaufenster“ West-Berlin als permanenter Hintergrund Ost-Berliner Entwicklung noch keineswegs eine zur Systemkrise treibende Kraft dar. Auch wurde die Zuspitzung der internationalen Lage in und um Berlin erst zu einem diesbezüglichen Faktor, als im Innern verschiedene Schwierigkeiten mit Außenhandelsproblemen u.a.m. zusammenfielen, sie eine kritische Dimension annahmen und sich überdies – etwa im Fall der Bonner Kündigung des Interzonenhandelsabkommens – mit massenpsychologischen Krisenwahrnehmungen verbanden. Der Zeitpunkt, von dem an tatsächlich von einer Systemkrise gesprochen werden kann, lag in Ost-Berlin offenbar vor dem in der übrigen DDR. Dass sie in Lebensmittelengpässen ihren Anfang nahm und im Kern zunächst eine

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Versorgungskrise sein würde, deutete sich im politisch sensiblen Ostsektor frühzeitig an. Das West-Berliner „Schaufenster“ geriet zum erstrangigen Krisenkatalysator, als interne Ursachen, zuvorderst die Verschlechterung der Sozialverhältnisse im Osten, mit dem rapid ansteigenden Lebensstandard und Konsumniveau auf der anderen Seite eine Symbiose eingingen. Das zeigte sich auch in der erheblichen Resonanz von Berichten und Kommentaren West-Berliner Medien bei den vom Realsozialismus enttäuschten, aber diskutierfreudigen Ost-Berlinern. Viele von ihnen fühlten sich in der Krisensituation noch mehr dazu aufgefordert, sich dem Westteil der Stadt zuzuwenden – in erster Linie, um sich beim Konkurrenten mit einigen Waren zu versorgen. Im Alltag wies ein intensiverer Gesamtberliner Dialog über die politische Lage in der Stadt auf die Solidarität vieler West- mit den Ost-Berlinern hin, wenngleich sich westliche Wohlstandsüberheblichkeit an der sie kritisierenden östlichen Wahrnehmung stärker zu reiben begann. Davon relativ unbenommen korrespondierten die Sichten und Lageurteile der Berliner sowie ihre Urteile über die SED und die Sowjetunion auf beiden Seiten in hohem Maß. Mehr aber noch bestimmten wirtschaftliche und soziale Einflüsse West-Berlins den Krisenverlauf im Osten mit. Durch die Kombination des Primärproblems Republikflucht mit dem Anwachsen der Grenzgängerei nach West-Berlin sowie der östlichen Binnenfluktuation verschärfte sich das Arbeitskräfteproblem. Der planmäßige Ausbau des Ostsektors zur DDR-Metropole verlieh der massenhaften Abwanderung von Arbeitskräften in den Westen besondere Brisanz. In Ost-Berlin entstand, parallel dazu aber auch in West-Berlin, das sich in einer Phase der Hochkonjunktur befand, eine immense Nachfrage nach Arbeitskräften. Zwar warben sie weder der Senat noch irgendwelche antikommunistische Organisationen in einer Art Verschwörung gegen den sozialistischen Aufbau ab, doch „Abwerbung“ betrieben viele private WestBerliner Unternehmen, die mit besserer Entlohnung und sozialen Präferenzen lockten. Dem „siamesischen Zwilling“ Krise und Republikflucht wurden SED und DDR-Staat nicht mehr Herr. Ihr Krisenmanagement versagte. Eigene Ohnmacht und steigender West-Berliner Einfluss, nun auch im kulturellen Bereich, zogen ineffektive administrative Maßnahmen nach sich, die in Kombination mit dem Ausbau des Sicherheitsapparates und neuen repressiven Maßnahmen die antisozialistischen Stimmungen vergrößerten, auf deren Minimierung sie zielten. Obwohl die konkrete Situation in Vielem anders war als im Umfeld des 17. Juni 1953, ähnelte sie ihr doch in wichtigen Merkmalen. Wirtschaftliche und soziale Funktionen des Staates stellten sich – auch eigendynamisch – zunehmend in Frage, und das Repressionssystem der Diktatur verlor an Wirkung. Seit dem Spätherbst 1960 nahmen SED und Staatsorgane die Gefahr eines neuen 17. Juni 1953 differenziert wahr, relativ unabhängig davon, inwiefern diese Beunruhigung Substanz besaß. Als gesichert kann zum einen die Tendenz zur Auflösung der traditi-

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onellen Arbeitsdisziplin, zur politischen wie mentalen Maximierung der Unzufriedenheit sowie zu einer beginnenden Radikalisierung breiter Ost-Berliner Bevölkerungskreise gelten. Bei den neuen oppositionellen Phänomen handelte es sich zwar nicht um systematische sowie zusammenhängende, keineswegs aber nur um vereinzelte Willensbekundungen bzw. Aktionen. Zum anderen lag deren Gefährlichkeit für die SED auch in ihrer Kombination mit dem Faktor WestBerlin. Das unterstreicht die Vermutung, dass eine Grenzabriegelung, wollte die SED auf ihr Machtmonopol nicht verzichten, irgendwann unumgänglich geworden wäre. Über viele Jahre hinweg hatte die Durchlässigkeit der Innerberliner Grenze die Republikflucht faktisch garantiert, viele Unschlüssige aber auch von einer schnellen Entscheidung für diesen Akt abgehalten. Denn die offene Grenze assoziierte beim Einzelnen, dass er ihn ohne Druck abwägen und jederzeit vollziehen könne. In der Summe war die Republikflucht so in gewisser Weise abgebremst bzw. verzögert worden, wurde aber nun angesichts der krisenhaften inneren und internationalen Zuspitzungen und der damit verbundenen „Torschlusspanik“ – anders als im Kontext des Volksaufstandes – für die SED zur unmittelbaren Überlebensfrage. Die Ausschaltung der Republikflucht geriet folgerichtig zur Primäraufgabe. Sie hieß, unmittelbare Existenzsicherung der DDR und ihrer Hauptstadt durch eine Mauer. Insgesamt bestätigte sich, dass die System- und Mauerkrise in Ost-Berlin nicht ein nur auf diesen Teil der Stadt begrenztes, sondern ein Gesamtberliner und damit auch ein Konkurrenzphänomen darstellte.

VII. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und den umfangreichen Reparationsleistungen an die Sowjetunion bedeutete die Spaltung für das sozioökonomisch geschwächte Berlin einen empfindlichen Eingriff in seine gewachsenen Reproduktionssysteme. Das traf das „verinselte“ West-Berlin besonders hart, weil es seine traditionellen Bezugsquellen für die industrielle Produktion, aber auch die Absatzmärkte im Osten weitgehend verlor sowie gegenüber der westlichen Konkurrenz erhebliche Standortnachteile in Kauf nehmen musste. Dem gegenüber verfügte der in die DDR-Planwirtschaft eingebettete Ostteil der Stadt über ein seine wirtschaftliche Existenz prinzipiell sicherndes Hinterland und konnte dadurch den Verlust der Vernetzungen mit West-Berlin, wenngleich nicht problemlos, wesentlich kompensieren. Während es die Konzeption der SED war, unter Veränderung der Ost-Berliner Eigentums- und Produktionsstrukturen den Anschluss an das ostdeutsche Planwirtschaftssystem möglichst schnell und umfassend zu realisieren, setzte das damit konkurrierende Konzept der Westsektoren auf ein von den Westmächten und der Bundesrepublik finanziell gestütztes Wiederauf-

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bau- und Investitionsprogramm, das es ihnen ermöglichte, sich wirtschaftlich und sozial allmählich aus eigener Kraft zu entwickeln. Mit dem Kernproblem, der Schaffung von Arbeitsplätzen, die auch durch den Wegfall der Hauptstadtfunktion Berlins verloren gingen, verband sich der wirtschaftliche mit dem sozialen Lösungsansatz: Da ein erheblicher Zuwachs an industriellen Arbeitsplätzen zunächst nicht zu erwarten war, ging die Planung von ihrer Schaffung im Dienstleistungsbereich, bei diversen Verwaltungen und durch die Aufstockung des Kultursektors aus. Die West-Berliner Arbeitslosigkeit betrachteten beide Berliner Konkurrenten als Schlüsselfrage der inneren Stabilität und des Systemwettbewerbs. Da es in den ersten Jahren nach 1949 im Ostteil einen Überhang an Arbeitskräften gab, erschien der SED und dem Ostmagistrat die Tolerierung der Ost-Berliner Grenzgängerei nach West-Berlin und die Republikflucht als probate Möglichkeit, die Arbeitsplatzsituation in den Westsektoren weiter zu verschlechtern. Weil der Konkurrent aus rechtlichen und politischen Gründen über keine effektiven Mittel zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms verfügte und so Abschiebe- und Entlastungspläne Makulatur blieben, reagierte er auch deshalb nervös, weil die SED im Heer der West-Berliner Arbeitslosen ein Potential von Unzufriedenheit sah, das sie in der Auseinandersetzung massiv, dann allerdings mit wenig Erfolg, zu instrumentalisieren versuchte. In ihre Linie, West-Berlin sozioökonomisch zu schädigen, passten sich verschiedene Maßnahmen ein, u.a. die Abschnürungsaktionen gegenüber West-Berlin im Frühjahr 1952. Demgegenüber nutzte auch dessen Führung ihre Möglichkeiten, der SED – direkt oder indirekt – wirtschaftliche Blessuren zuzufügen. Das geschah beispielsweise durch Handelsverbote und die rücksichtslose Ausnutzung von Währungsvorteilen, nicht zuletzt durch den umstrittenen Wechselkurs Westmark zu Ostmark. Als einmaliges Phänomen im europäischen Systemwettbewerb geriet er zum besonderen Ausdruck der Leistungskraft der Ordnungen und zum Schnittpunkt von politischer und wirtschaftlicher Konkurrenz, die er erheblich antrieb. In Vielem ambivalent, trug er als Vorraussetzung und Vermittlungsinstanz für den individuellen Kleinhandel zwischen beiden Teilen der Stadt zur Verflechtung der Berliner Gesellschaften „von unten“ bei. Ein wichtiges Kriterium für den Verlauf und die Wirksamkeit des Innerberliner Wettbewerbs stellten die Löhne und Preise dar, die von den Berlinern aufmerksam beobachtet und permanent verglichen wurden. Angesichts dessen entwickelten SED und Magistrat ein Argumentationsschema, das sich sowohl auf generelle Überlegenheitsrhetorik und Behauptungen vom höheren Lebensstandard Ost-Berlins stützte als auch die Möglichkeit bot, soziale Leistungen in die Nominallöhne und in die relativ willkürlich gebildeten Ost-Berliner Preise „hineinzurechnen“. Waren des Grundbedarfs subventionierte der Staat, während er andere aus vorrangig wirtschaftlichen Gründen verteuerte. Da es bis zur Aufhebung des DDR-Rationierungssystems 1958 niedrige Karten- und hohe

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freie Preise (HO-Preise) gab, traten sie gewisserweise in Konkurrenz zueinander, die angesichts des allgemeinen Angebotsmangels jedoch ein Zwangswettbewerb war, den die egalitäre Preispolitik noch zusätzlich verzerrte. Wenngleich in einigen Positionen von Löhnen und Preisen Ost-Berlin vergleichsweise gut abschnitt, blieb es in der Tendenz bereits 1949 hinter West-Berlin zurück, im Verlauf der 50er Jahre jedoch signifikanter. Das schlug in der Regel unmittelbar auf den Systemwettbewerb „vor Ort“ und seine Wahrnehmungen durch. In West-Berlin bildeten sich Löhne und Preise nach den Spielregeln der Marktwirtschaft, die Löhne allerdings stark unter dem Einfluss ihrer sozialen Komponente, die nur in Ausnahmefällen vom Senat gestützten Preise strikt nach Angebot und Nachfrage. Beiderseitige Preissenkungen und Preiserhöhungen nutzen die Konkurrenten zur Abstützung ihrer Überlegenheitsargumente. Kamen sie von der SED, belächelten sie die meisten Berliner zunehmend als „Zweckpropaganda“. Dennoch war die sozioökonomische Konkurrenz im geteilten Berlin auch in der Optik vieler Berliner angesichts der Arbeitslosigkeit und anderer sozialer Probleme West-Berlins nicht entschieden – schließlich hing es über Jahre am finanziellen Tropf zunächst noch der Alliierten, dann stärker der Bundesrepublik. Zwar verzerrte das den intersektoralen Wettbewerb, fiel aber praktisch deshalb nicht ins Gewicht, weil die Berliner nicht Subventionen verglichen, sondern den individuellen Lebensstandard. So traf das Argument der SED, der relative Wohlstand in West-Berlin sei politisch teuer erkauft und wirtschaftlich gesehen eigentlich „Pump“, auf taube Ohren. Auch fanden die antikapitalistischen Argumente der Ost-Berliner Ideologen sowie ihre Aversion gegen alles Private, das sie pauschal mit „Ausbeutung“ identifizierten, kaum Widerhall. Demgegenüber befand sich die vielförmige OstBerliner Privatwirtschaft in einem staatlich forcierten Niedergang. Sie stellte für staatliche und genossenschaftliche Eigentumsformen eine in der Regel produktivere interne Konkurrenz dar, deren allmählicher Exodus zu Einbrüchen in der Ost-Berliner industriellen Produktion und bei der Bevölkerungsversorgung führte, indirekt aber auch zur Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber WestBerlin. Häufig bezogen kleine private Ost-Berliner Produzenten, um überhaupt arbeiten zu können, von dort Material und Werkzeuge. Eine besondere Rolle in der sozialen Konkurrenz kam der Gesundheit zu. In West-Berlin setzten sich unter dem Einfluss der bundesrepublikanischen Gesundheitspolitik allmählich kapitalistisch strukturierte Interessen durch. Das bedeutete, verbunden mit einer vielfältigen Konkurrenz für die staatliche Krankenversicherung, den zügigen Ausbau von privaten Arztpraxen zu Lasten öffentlicher Gesundheitseinrichtungen. Insbesondere betraf das die Polikliniken, die man in Ost-Berlin in Umkehrung der West-Berliner Entwicklung zu Ungunsten der ärztlichen Privatunternehmen ausbaute. Dahinter standen zwei unterschiedliche Auffassungen von Berliner Gesundheitspflege: Für die privat praktizierenden Ärzte und ihre Interessenver-

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treter waren Behandlung und Nachsorge von Erkrankungen beinahe absolut primär, während linke Sozialpolitiker in West-Berlin und die SED im Osten den medizinischen und sozialen Aspekt der Prophylaxe betont wissen wollten. Relativ unabhängig von den divergierenden Konzepten gab es im Unterschied zu anderen Verwaltungsbereichen aus Vernunftgründen eine begrenzte gesundheitspolitische Ost-West-Kooperation, etwa bei der Seuchenhygiene und im Kampf gegen Infektionskrankheiten. Die eigentliche Konkurrenz entstand zum einen durch den Vorsprung West-Berlins bei bestimmten, in Ost-Berlin nicht verfügbaren Medikamenten, die vielen im Osten lebenden Patienten über ein System von Arzneimittelhilfen zur Verfügung gestellt wurden, sowie zum anderen durch die Behandlung von Ost-Berlinern in West-Berliner Praxen und in einigen Kliniken. Die bessere technische und materielle Ausstattung der westsektoralen Krankenhäuser und Arztpraxen führte im Osten zum Nimbus Westmedizin, der insofern die Realität falsch spiegelte, als das Ost-Berliner Gesundheitswesen insgesamt eine durchweg ausreichende medizinische Versorgung der Bevölkerung zu guten sozialen Bedingungen sicherte. Sozioökonomische Konkurrenz „pur“ verkörperten die Grenzgänger sowohl von Ost nach West als auch in umgekehrter Richtung. Das Problem besaß freilich auch politische und ideologische Aspekte, auch, was die Tätigkeit der mit der Grenzgängerei befassten West-Berliner Lohnausgleichskasse betraf; es wurde von den gegensätzlichen, zunächst aber auch von übereinstimmenden Interessen der Konkurrenten sowie von exogenen Einflüssen bestimmt. Dominierten bis 1952 quantitativ die West-Berliner Grenzgänger, die zur Arbeit in den Ostteil der Stadt wechselten, kehrte sich das Verhältnis danach zugunsten der östlichen Grenzgängerei in den Westen um. Wie angeführt, tolerierte die SED das Phänomen, solange es die Ost-Berliner Arbeitskräftesituation nicht spürbar belastete, ging dann aber, als das der Fall war, mit administrativen und sozialpolitischen, insbesondere aber ideologischen Maßnahmen gegen sie vor, verfehlte aber ihr Ziel. Das ab 1960 für die SED unkontrollierbar anschwellende, größtenteils verdeckte Grenzgängertum stellte in der Berliner Systemkonkurrenz einen wichtigen wirtschaftlich-sozialen Faktor dar, das die Berliner Verflechtungsgesellschaft in seiner Eigenart aber auch kulturell mitprägte und zum Erhalt der Gesamtberliner Identität unbedingt beitrug. Wechselbeziehungen bestimmten die Gesamtberliner Arbeits- und Lebenswelt signifikant mit. Häufig trugen die intersektoralen Kontakte sowie das teilweise solidarische Handeln von Arbeitern und Gewerkschaftern zumindest indirekt zu sozialen Verbesserungen, insbesondere in Ost-Berlin, bei. Dessen politische Führung musste ertragen, dass auch von ihr organisierte Solidaritätskampagnen u.a. für West-Berliner Streikende unangenehme Rückwirkungen auf die Forderungen der eigenen „Werktätigen“ besaßen. Das betraf z.B. Löhne und Gehälter, Arbeits-

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zeiten- und Urlaubsregelungen sowie die Humanisierung der unmittelbaren Produktionsbedingungen. Aber auch zu anderen sozialen Problemen – Renten, Kinderbetreuung, Mutterschutz u.a.m. – gab es unter Wettbewerbsvorzeichen einen unterschiedlich intensiven Austausch.

VIII. Bis zum Beginn der ostdeutschen Krise Mitte 1952 konnten es sich Parteiführung und Magistrat noch leisten, den für sie finanziell ungünstigen Erwerb von Lebensmitteln und Dienstleistungen durch West-Berliner im Ostteil der Stadt aus vorrangig ideologischen Gründen zu tolerieren. Viele West-Berliner kauften auf der Basis des außerordentlich günstigen Wechselkurses dort massenweise, häufig auch subventionierte, Lebensmittel ein und nahmen die ebenfalls preiswerten östlichen Dienstleistungen in Anspruch. Das führte zu einer von der SED mit Genugtuung registrierten Abwehrpolitik des Senats, der im Abfluss von Kaufkraft und in Produktionsrückgängen sowie in den „Pleiten“ von Gewerbetreibenden eine ernste Bedrohung seiner Wirtschaft und Sozialpolitik, vor allem aber die Gefährdung weiterer Arbeitsplätze, sah. Zwar drohte er allen „Ostkäufern“ mit Sanktionen, ging teilweise gegen solche im öffentlichen Dienst vor und entfachte aufwändige ideologische Kampagnen („Herr Schimpf und Frau Schande“), sah sich aber nicht in der Lage, Repressionen rechtlich abzusichern oder auch nur wirksame Kontrollen durchzuführen. Seine Verärgerung richtete sich besonders gegen ostsektorales Dumping. So versuchte die Ostseite, einige billig produzierte Waren gegen „Schleuderpreise“ in Westmark zu verkaufen; doch in der Regel handelte es sich um über den Wechselkurs erworbene Produkte, deren Endpreisen die westliche Konkurrenz nicht standhielt. Hier erregte sich der Senat über Mechanismen, zu deren Vätern er gehörte und faktisch über das kapitalistische Prinzip der Preisbildung. Letztendlich half ihm die SED, weil sie den West-Berlinern seit 1952 verbot, in Ost-Berlin einzukaufen. Allerdings wurde ihren administrativen und juristischen Maßnahmen sowie den ideologisch-moralischen Kampagnen („Schieber und Spekulanten“), aber auch Kontrollen von Polizei sowie gesellschaftlichen Organen ebenso wenig Erfolg zuteil, wie dem Konkurrenten Senat. Überdies entstand so etwas wie eine Einkaufsolidarität von Ost-Berlinern, die illegal Waren und Dienstleistungen für West-Berliner besorgten. Parallel dazu kauften Ost-Berliner, ebenfalls über den Wechselkursmechanismus, zunehmend Produkte in West-Berlin, die sie in ihrem Teil der Stadt nicht oder nur in schlechterer Qualität erhielten. Damit gelang ein erheblicher Teil des anwachsenden OstBerliner Kaufkraftüberhangs in die Kassen des West-Berliner Handels, für den die Käufer aus dem Ostsektor einen erheblichen Wirtschaftsfaktor bildeten. Einer-

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seits sahen SED und Magistrat den Abfluss von Ostmark mit Unbehagen, blieben doch auch dadurch eigene Erzeugnisse in den Lagern des ostsektoralen Handels liegen und behinderten den Reproduktionskreislauf. Andererseits versorgte die West-Berliner Konkurrenz den Ostkäufer mit Mangelwaren und half so, die OstBerliner Versorgungslage und damit verbundene Konflikte zu entspannen. Auch insofern besaß das Konsumproblem eine Gesamtberliner Dimension. Das betraf auch den bis etwa Mitte der 50er Jahre florierenden individuellen Warenschmuggel, vor allem aber den offenbar auch von der sowjetischen Besatzungsmacht organisierten Schwarzhandel großen Stils. Er betraf in erster Linie deshalb WestBerlin, weil sich mit ihm das Problem Dumpingpreise verband, hier vor allem bei Kaffee und Benzin. Während der offiziöse Warenaustausch zwischen beiden Teilen der Stadt trotz der Belebungsversuche der an Deviseneinnahmen interessierten östlichen Seite marginal blieb, stellte der informelle individuelle Warenverkehr über die Sektorengrenzen hinweg insgesamt einen – bislang unterschätzten – sozioökonomisch erstrangigen Faktor dar, mit dem sich Systemkonkurrenz im Alltag der Stadt direkt, anschaulich und effektvoll vollzog. Zur Konkurrenzebene der unmittelbaren Anschauung gehörte das Ambiente des Kaufens. Die Läden im Westen waren ungleich moderner und gepflegter als die im Ostteil der Stadt, die Bedienung und der Umgangston häufig freundlicher, die Warensortimente reichhaltiger und bunter. Eine lebhafte Auseinandersetzung erlebten die Berliner in der Konkurrenz um Architektur und Wohnen. Die städtebaulichen Bedingungen, Ansprüche und Konzepte entwickelten sich höchst unterschiedlich. Auch das konkrete Planen und Bauen verlief nach anfänglichen Gemeinsamkeiten unter gegensätzlichen Vorzeichen. „Schaufenster“-Ideologien in Stein und Glas entstanden. Der Ostsektor ergriff mit der Errichtung der Stalinallee die Initiative, dem der Westen das Hansaviertel entgegensetzte und damit einen Wettbewerb auslöste, den letztendlich – vor allem im Wohnungsbau – Finanzen und Ressourcen entschieden, im Ergebnis zugunsten West-Berlins. Abgesehen von den auf den großen Bauausstellungen und Wettbewerben vorgestellten kontroversen Planungen zum Aufbau des Stadtzentrums und neuer Wohnbereiche, einige nicht von ungefähr an den Sektorengrenzen, baute der Westen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus schneller und komfortabler, während entsprechende östliche Projekte sich nur verzögert und unvollständig realisieren ließen. Das generelle planwirtschaftliche Manko versuchte die östliche Seite durch billige Mieten auszugleichen. Sie ließen sich in der Konkurrenz mit West-Berlin als soziales Argument erfolgreich verwenden, spitzten das Wohnungsproblem im Ostteil aber eher noch zu. Ein auf beiden Seiten entwickelter „Baustellentourismus“ stellte im Kern eine Form von Berlinwerbung dar, die sich seit Anfang der 50er Jahre – in Ost-Berlin verspätet – als Wirtschafts-, Image- und Fremdenverkehrswerbung relativ zügig

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entwickelte. Alle konkurrierenden Werbeformen wurden auf beiden Seiten politisch penetriert, ohne dass sie jedoch ihre Eigenwerte aufgaben. Bei vielen Ähnlichkeiten der Ziele und Methoden verfügte die Werbung in West-Berlin gegenüber derjenigen im Ostteil der Stadt über die größeren Handlungsspielräume. Zwar diskutierten und konkurrierten die Fachleute auch dort intern – etwa um konkrete Werbeaufträge, bei der Verteilung von Ressourcen sowie um Erfolgsanteile, doch verliefen Interaktionen nicht auf der Grundlage pluralistischer Entscheidungen und Aushandlungsprozesse. SED und Magistrat bestimmten Werbung maßgeblich als ein Instrument zur inneren Stabilisierung, während die West-Berliner Beteiligten diese Aufgabe „nebenbei“ lösten.

IX. Im gesellschaftlichen Alltag zeigte sich die Kultur des gespaltenen Berlins zwar nicht resistent gegen die Systemkonfrontation, setzte ihr aber vergleichsweise starke Widerstände entgegen. Sie spiegelten sowohl die traditionelle Rolle von Kultur und Kunst als Instanzen zivilisatorischer Gestaltung und ihre gesellschaftlichen Autonomieansprüche als auch kollektive und individuelle Selbstwertgefühle sowie ein unterschiedlich intensives soziokulturelles Sendungsbewusstsein. Vor dem Krieg eine Hochburg von Kultur, Wissenschaft und Kunst, drohte der Stadt nach der Teilung Zweitrangigkeit. Das betraf in erster Linie ihren isolierten Westen, auch weil sich die großen Kulturstätten im Ostsektor befanden. Noch 1948, mit dem Einsetzen der Kulturkonkurrenz, hielten die politischen und kulturellen Eliten beiderseits an ihrem Ziel fest, Gesamtberlin wieder als geistigkulturelles Zentrum Deutschlands mit der alten internationalen Geltung zu bauen und, sollte das vorerst nicht möglich sein, seine Teile so attraktiv zu gestalten, dass sie für sich auf die Welt ausstrahlten und sich diese Wirkung bei einer Vereinigung verdoppelte. Dieser Vorstellung entsprach ein entwickeltes gesamtdeutsches und Gesamtberliner Bewusstsein der meisten regionalen und nationalen Kulturschaffenden, Künstler und Intellektuellen: Sie sahen den immerwährenden Identitätsstifter Kultur als unteilbar an und in ihr ein universales Mittel für den Erhalt von Gemeinsamem sowie die haltbarste Klammer zwischen Ost und West, unter welchen politischen und weltanschaulichen Vorzeichen sie auch stehen mochten. Diese Haltung spielte in den Auseinandersetzungen von Berliner Persönlichkeiten mit ihren „separatistischen“ Obrigkeiten eine Rolle, die mit der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts auch kulturpolitisch auf Teilungs- und Konfrontationskurs gingen oder ihn zumindest akzeptierten. Für sie rangierten nun die Gebote des Kalten Krieges vor denen zum Erhalt der kulturellen Einheit. Man wolle sie zwar bewahren, müsse sie aber, wie sie „hüben und drüben“ erkennen ließen, zugunsten

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des lebenswichtigen Kampfes, auf der einen Seite gegen den Kommunismus, auf der anderen gegen den Imperialismus, zeitweilig zurückstellen. Senat und Magistrat sowie die mit ihnen verbundenen Kräfte fühlten sich als „Leuchttürme“ mit der missionarischen Aufgabe, kulturell und kulturpolitisch ins „Feindgebiet“ hineinzustrahlen, Botschaften zu vermitteln und die Berliner auf der jeweils anderen Seite für die „wahre“ Kultur zu gewinnen. Bis zur Mitte der 50er Jahre erarbeiteten sich SED und Ostmagistrat in der Kulturkonkurrenz einen gewissen Vorsprung. Ihre Kulturpolitiker bedienten sich plausibler Argumente, und sie trafen offensive Maßnahmen, die nicht nur Kulturapparate und Funktionäre als sozialistische Überlegenheit wahrnahmen oder aber deuteten: Viele beschäftigungslose West-Berliner Künstler erhielten Jobs in OstBerlin, traten dort, gut dotiert, in verschiedenen Veranstaltungen auf, bekamen interessante Theater- und Filmrollen oder sangen in den renommierten Opernhäusern der Oststadt. Auch war die Platzkapazität ihrer Bühnen in der Regel gut ausgelastet. Die Eintrittsgelder waren subventioniert und, da man gutes Theater bot, kamen auch viele West-Berliner – zu manchen Aufführungen scharenweise. Dahinter stand auch die großzügige Finanzierung von Kultur und Kunst in OstBerlin, während der Senat auf Grund seiner prekären Finanzlage relativ weniger für sie ausgab und auch die bundesdeutschen Zuschüsse, gemessen am Bedarf, zunächst spärlich flossen. So war es auch eine Form ideologischen Konkurrenzneides, wenn die Kulturpolitiker im Senat, namentlich der zuständige Senator und seine Verwaltung, mit Verweis auf die vermeintlich unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten der Diktatur und den daraus resultierenden Verlockungen, Nebenbeschäftigungen zunächst von westsektoralen Künstlern im öffentlichen Dienst, Engagements und Auftritte, per Dekret untersagten und diese Verbote, in Absprache mit den zuständigen Kultusministern, auf die Bundesrepublik auszudehnen gedachten. Das Senatsargument, ein derartiges als egoistisch unterstelltes Verhalten der betreffenden Künstler würde den kulturellen Glanz des Regimes in Ost-Berlin vergrößern und die SED über diesen Mechanismus aufwerten, schien zwar nicht falsch, vertiefte aber in der Konsequenz die Spaltung der Berliner Kulturlandschaft und ließ den Verdacht aufkommen, die westliche Politik wolle den Ostsektor „abschieben“ und der Senat der Ost-Berliner Konkurrenz mit administrativen, nicht künstlerischen Mitteln und demokratischer Überzeugungskraft Herr werden. So argumentierten dann auch westdeutsche Politiker und wiesen damit die Aspiration der westsektoralen Kulturverwaltung höflich, aber eindeutig zurück. Doch versuchten der West-Berliner Volksbildungssenator und seine dogmatisch argumentierenden Mitarbeiter ihren politischen Kurs teils juristisch und administrativ, teils aber auch repressiv oder mit Drohgebärden durchzusetzen. Das gelang im Fall des weltbekannten Tenors Michael Bohnen, versagte aber u.a. bei der großen Sängerin Margarethe Klose. Andere, wie der Dirigent Erich Kleiber,

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gerieten unter folgenschweren Druck, und der renommierte Theatermann Boleslaw Barlog beugte sich nicht ohne Gegenwehr seinem obersten Dienstherrn, dem die kollegialen Kontakte des Intendanten und Regisseurs zu profilierten OstBerliner Theaterleitern nicht ins Konzept passten. Demgegenüber bestimmte die SED, wer in West-Berlin für Gesamtberliner Kultur-Gespräche als „brauchbar“ in Frage käme und zu den von ihr kontrollierten Foren und Diskussionen nach OstBerlin eingeladen würde. Für sie rangierten eigener Machtwille und ideologische Konformität prinzipiell vor den Bedürfnissen des kulturellen Systemwettbewerbs. Nur einmal, im Fall Walter Felsenstein, erfuhr das Prinzip nach heftigen internen Kontroversen eine plausible Ausnahme. Wenngleich der Kalte Krieg auch die Bühnen eroberte, was auch an Programmen ablesbar war, boten doch beide Berliner Seiten insgesamt bestes Theater. Eindeutig führte die Konkurrenz zwischen ihnen zu qualitativen Verbesserungen und zur Verbreiterung des Angebots, die man in gewisser Weise auch arbeitsteilig erreichte. Im Osten dominierten beispielsweise ausgezeichnete Klassikeraufführungen aus dem deutschen und internationalen Repertoir und West-Berlin bot viel Zeitgenössisches, das als „westlichdekadent“ in Ost-Berlin nicht auf die Spielpläne gelangte. Aufeinander bezogen und konkurrenzbewusst wirkten ebenfalls das sowohl gleiche als auch ungleiche Paar West-Berliner „Festwochen“ und Ost-Berliner „Festtage“ auf die Berliner und internationale Kulturwelt. Der vom Senat 1957 endlich durchgesetzte, von der Bundesrepublik subventionierte Gesamtberliner Kulturplan verlieh mit seiner Grundidee, Ost-Berliner zu den gleichen Bedingungen wie die West-Berliner am Kulturleben teilhaben zu lassen, der Konkurrenz einen gewaltigen Schub. Materiell bedeutete der Plan den Umschlag von einer Unter- zu einer im Wesentlichen ausreichenden KulturFinanzierung, die kontinuierlich anstieg und einen immensen Zustrom von OstBerlinern zur Folge hatte, der insbesondere auf die West-Berliner Kinos zukam. Im Unterschied zu anderen kulturellen Institutionen zogen sie die Ostdeutschen aufgrund der für sie attraktiven, aber keineswegs immer niveauvollen Filme von Anfang an in Massen an: Wildwest- und Liebesfilme sowie Krimis lockten gerade Jugendliche insbesondere in die auch im Westen umstrittenen Grenzkinos. Zwar versuchten die Ost-Berliner Filmverantwortlichen, dem mit alternativen Konzepten und verbesserten Filmangeboten zu begegnen, scheiterten jedoch an den ideologisch-politischen Dogmen der SED-Herrschaft sowie an den miserablen materiellen Bedingungen des Ost-Berliner Lichtspielwesens. Mit der Kulturplanregelung, dass Ostdeutsche in West-Berlin prädikatierte Filme zu vorteilhaften Eintrittsbedingungen sehen konnten, geriet es weiter ins Hintertreffen, und gleichzeitig verbesserten die Prädikatfilme das Niveau der davon auch wirtschaftlich profitierenden West-Berliner Kinokonkurrenz. Zeitweise schien es, als fände eine „Verlagerung“ des Ostkinos in den anderen Teil der Stadt statt, was unge-

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wollt zum Ruin der unterprivilegierten privaten Lichtspielhäuser Ost-Berlins beitrug. Auch gelang es der SED nicht, der anfänglich stark politisch ausgerichteten „Berlinale“ etwas Gleichrangiges entgegenzusetzen. Im Wettbewerb der „leichten Musen“, mit Ausnahme des Varietés „Friedrichstadtpalast“, bei Unterhaltung und Amüsement in seinen verschiedenen Facetten, besaß das eher „graue“ Ost-Berlin ebenfalls die schlechteren Karten. West-Berlin war ungleich bunter, bot eine Fülle von Tanz- und anderen Unterhaltungsmöglichkeiten, verfügte über ein attraktives Restaurant- und Kneipenangebot und verführte mit seinem Nachtleben auch Abenteuer und Abwechslung suchende Ost-Berliner. Tagsüber sowie an Wochenenden flanierten sie gern über den Ku’damm und andere West-Berliner Straßen und ließen sich trotz der Horrorbilder, die sich die realsozialistische Konkurrenz vom „Sumpf“ West-Berlin machte und dann über ihre Medien verbreitete, davon nicht abhalten. Auch zog es die Ost-Berliner zu Tausenden in die diversen westsektoralen Messen und Ausstellungen, deren Veranstalter die steigende Zahl der Ostbesuche, beispielsweise der „Grünen Woche“, propagandistisch zu nutzen wussten. Allerdings entwickelte der Ostsektor im Alltag auch einige „Knüller“, wie den außerordentlich populären, professionell geführten Tierpark in Friedrichsfelde, der dem alten Zoo viele Besucher entzog, sowie den gerade West-Berliner anziehenden, zentralen Weihnachtsmarkt, der in ihren Sektoren kein Pendant besaß. Während viele Berliner an den Wochenenden wechselseitig die beliebten Ausflugsziele im „Grünen“ der Stadt ansteuerten und sie für Familientreffs nutzten, gestalteten sich Nähe und Distanz im Sport komplizierter. Trotz der Zerschlagung der traditionellen Vereinsstrukturen und dem Aufbau von Betriebs- und anderen Sportvereinen im Ostsektor nach den Bedürfnissen des zentral geleiteten realsozialistischen Sportwesens blieb eine nicht geringe Anzahl von West- und OstBerlinern in Clubs und Verbindungen der jeweiligen Gegenseite organisiert. Dass die im Ganzen vorsichtige sportpolitische Abgrenzung vergleichsweise langsam vorankam, zeigte sich bis zum Mauerbau an den Gesamtberliner Besuchern populärer Wettkämpfe, hinter denen oft „Fangemeinschaften“ standen, die sich in ihren grenzübergreifenden „Kiezen“ traditionell für die einen oder anderen Athleten begeisterten. Es gab Gesamtberliner Ausscheide und ansatzweise auch paritätisch zusammengesetzte Mannschaften. Die meisten Berliner Sportenthusiasten nahmen die Wettkämpfe als Konkurrenz „ihrer“ Favoriten wahr, Sportfunktionäre aber bereits als eine Form des Systemwettbewerbs. Seit Ende der 50er Jahre begann die SED-Führung, der eigendynamischen Tendenz zu einem volkstümlichen Innerberliner Sportverkehr als Konkurrenz für ihre neue, Überlegenheit demonstrierende und auf internationale Anerkennung zielende Leistungssportkonzeption, insbesondere aber als Infragestellung ihres Abgrenzungskurses, gezielter entgegenzutreten. Dabei erhielt sie Schützenhilfe von der westlichen Sportpo-

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litik, deren DDR-Nichtanerkennungsmentalität ebenfalls auf Separation hinauslief. Ein besonderes Kapitel der regionalen Systemkonkurrenz schrieben die politisch einander entgegengesetzten Berliner Rundfunksender. Beiderseits liefen ihre Konzepte auf die Stabilisierung der jeweiligen politisch-sozialen Ordnungen hinaus, auf das generelle Lob der eigenen und den Tadel der anderen. Allerdings nahm die Kritik an den eigenen Verhältnissen bei den demokratisch organisierten Westsendern im Einzelnen breiten Raum ein, während sie sich in Ost-Berlin prinzipiell verbot oder sich auf Marginalien beschränkte. Alle Versuche der SED, das Hören von Westsendern zu unterbinden, verliefen praktisch „im Sande“. Zwar lieferten sich die feindlichen Sender im Äther wahre Propagandaschlachten, doch bei Musik und Unterhaltung, wie auch im interessanten Hörspiel- und Reportagebereich, entwickelten sie ausgezeichnete, miteinander konkurrierende Programme, die von den Berlinern beiderseits der Sektorengrenzen gehört wurden. RIAS und SFB konnten in Berlin mit einigen „kultischen“ Sendungen immens hohe Einschaltquoten erreichen. Aber auch die Ostsender besaßen in WestBerlin viele Stammhörer, die sich in erster Linie für deren anspruchsvolle musikalische Beiträge begeisterten. Im Unterschied zum Westradio nahmen aber ihre Beiträge ab, die Gesamtberliner Probleme und Erinnerungen thematisierten. 1952 begannen auch auf ein beiderseitiges Interesse stoßende Fernsehprogramme um die Zuschauergunst zu ringen.

X. Im Kontext der Auseinandersetzung um die Berliner Einheitsschule und des noch gemeinsamen Schulgesetzes von 1948 leiteten SED und Ostmagistrat nach der Teilung der Stadt eine Offensive gegen alle die Einheitsschule und ihre kommunistische Interpretation in Frage stellenden Berliner Kräfte ein. Schulpolitische Wechselwirkungen forcierten eine höchst problematische und ideologisch geführte Auseinandersetzung, die in der Praxis auf den Kampf um Schüler aus dem Ostsektor hinauslief. Die Effektivität der Schulkonkurrenz bemaß sich zum einen an der Quantität der Schüler, die das West-Berliner dem ostsektoralen Bildungswesen insgesamt entzog und qualitativ am Besuch West-Berliner Gymnasien bzw. ihrer 13. Klassen durch zuvorderst Ost-Berliner Oberschüler. Die Abwanderung dieser Schülerelite hatte politische und mit dem Niveau des Unterrichts begründete Motive. Das betraf auch das Studium von DDR- und Ost-Berliner Studenten an den Hochschulen der Weststadt, die dort bis zu einem Drittel aller Immatrikulierten ausmachten und hohe Kosten verursachten. Das führte in West-Berlin zu Überlegungen, deren Anzahl und die der Ostoberschüler zu begrenzen. Eine der-

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artige Forderung erhoben auch die Interessenvertretungen der West-Berliner Schüler und Studenten, die in den Sonderregelungen sowie den steigenden Beihilfen für Schüler und Studierende aus dem Osten deren Bevorzugung und eine Konkurrenz für ihr späteres Berufsleben sahen. Aus erstrangig politischen Gründen behielt der Senat seine schul- und hochschulpolitische Wettbewerbspraxis auch dann bei, als die meisten jungen Ost-Berliner, an denen er auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen über Jahre kein wirtschaftliches Interesse besaß, nach der Absolvierung von Gymnasium und Hochschule nicht, wie es ursprünglich Bedingung war, in den Osten zurückkehrten. Zu diesem Verhalten trug vor allem die allmählich prosperierende West-Berliner Wirtschaft mit ihrem steigenden Bedarf an gut ausgebildeten Fachleuten bei. Demgegenüber betrachteten die SED und die Ost-Berliner Bildungspolitik diese von ihr erheblich mitverschuldete Elitenabwanderung als gravierendes Image-, aber zunächst noch nicht als Wirtschaftsproblem. Im Gegenteil verschärfte diese Fluktuation in den ersten Jahren nach der Spaltung der Stadt die von ihnen gewünschten sozioökonomischen Probleme West-Berlins, und sie besaß eine Ventilfunktion, weil jugendliche Unzufriedene und Oppositionelle das gesellschaftlich nicht stabile Ost-Berlin verließen, damit aber die de facto Teilung der Stadt beförderten. Der dann steigende Bedarf an qualifizierten Berufen und akademischer Qualifikation ließ SED und Magistrat im Wettbewerbskampf um Schüler und Studenten juristische und politische Mittel finden, die sich als ineffektiv erwiesen. Dennoch gingen von der spezifischen Konkurrenz, die im Hochschulbereich Humboldt- und Freie Universität symbolisierten, für beide Seiten Lern- und Optimierungsimpulse aus. Auch verstand es die Ost-Berliner Führung, schulpolitische Nachteile gegenüber West-Berlin beispielsweise durch ein attraktives Ferienangebot auch für West-Berliner Kinder und Jugendliche in gewissem Umfang zu kompensieren und gerade bei sozialen Unterschichten ihre Gesamtberliner Fürsorgepflicht unter Beweis zu stellen. Da der Senat sie für sich ebenfalls in Anspruch nahm, zwang ihn das im Wettbewerb zu verbesserten Angeboten. In der Konkurrenz der Bibliotheken und Buchausleihen zeigte sich die Ost-Berliner Seite in der Frage ihrer materiellen und organisatorischen Grundlagen dem Westteil gegenüber zumindest partiell überlegen, minderte aber angesichts von Zensur und Bevormundung der Leser wichtige Wettbewerbsvorteile.

XI. Wie Ost-Berlin führte auch sein West-Berliner Pendant die Systemauseinandersetzung aktiv und trug unbenommen seiner Einheitsziele durch eine konfrontative Abgrenzungspolitik ebenfalls zur Zementierung der Berliner Spaltung bei. Wenn-

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gleich die regionale Systemkonkurrenz im Untersuchungszeitraum auf bestimmten Feldern von Gesellschaft und Politik ambivalent verlief und einmal die eine und ein anderes mal die andere Seite im Vorteil schien, entschied sie jedoch insgesamt West-Berlin für sich. Doch bleibt die Aussage gültig, dass der Wettbewerb nach der politischen Teilung 1948 in Vielem noch offen war und keiner allgemeinen Prädestination folgte. Dann allerdings bewies das in der Nachkriegswelt einmalige „Experiment“ Berlin, in gewisser Weise eine verkleinerte Kopie des globalen Ost-West-Konkurrenzkampfes, die Überlegenheit der westlich-demokratischen über die östlich-diktatorische Ordnung. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die von außen her subventionierten Westsektoren eine Verzerrung des Systemwettbewerbs verkörperten, der nur über ihre Einbindung in die Bundesrepublik und den Westen durchzuhalten und über das gemeinsame westliche „Schaufenster“ erfolgreich war. Ab Mitte der 50er Jahre beruhte sein Glanz jedoch stärker auf der eigenen Leistungskraft, während sein Ost-Berliner Gegenstück im Wettbewerb weiter verblasste, weil es im Ganzen nicht gelang, es repräsentativ auszugestalten. Wirkten beide aufeinander bezogenen „Schaufenster“ zunächst vorrangig im übertragenen Sinn, warb es im Westen zunehmend mit einem den Konsum und die Produktion ankurbelnden Warenangebot, während es im Ostsektor sehr virtuell und abhängig vom (Unter-)Angebot der zentralen Planwirtschaft blieb. Ein insgesamt starker, im Westen staatstragender und in den Berliner Gesellschaften differenzierter Antikommunismus bestimmte die Konkurrenz im Alltag der Berliner wesentlich mit. Sein Einfluss auf die Frage der Systemglaubwürdigkeit bewirkte – grob gesehen – in der Regel eine einseitige parteiische Sicht: Wenn die Westseite in der politischen Auseinandersetzung ohne schlüssige Beweise etwas behauptete und der Osten es leugnete, wurde es dennoch als wahr hingenommen, dem gegenüber galt als unwahr, was der Osten behauptete, wenn es der Westen dementierte oder auch nur beschwieg. So verfügte West-Berlin über einen „volkstümlichen“, in der Systemkonkurrenz bedeutungsvollen, Wahrheitsbonus. Parallel dazu gewann der für Ost-Berlin herrschaftssichernde Antikapitalismus insgesamt keinen signifikanten Einfluss auf die Gesellschaften der geteilten Stadt, wohl aber auf die Politik und die Modi des intersektoralen Wettbewerbs. Die Analyse bestätigt, dass er einerseits in hochgradig ideologiepenetrierten Bereichen am stärksten war und andererseits dort, wo sich die Innerberliner Verflechtungen besonders intensiv und dauerhaft gestalteten – etwa in Kultur, Bildung und im sozioökonomischem Alltag, wo Konkurrenz auch unter quantitativem Aspekt Gewicht erhielt. Ebenso lässt sich erkennen, dass sie in Berlin in weit höherem als bisher bekanntem Maß Ereignisse und Interaktionen erfasste, die weniger wettbewerbsrelevant schienen. Das hing auch damit zusammen, dass vor allem krisenhafte Entwicklungen in Ost-Berlin, aber auch soziale und politische Probleme des

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Westteils, als Sache der einen oder anderen Seite galten, in Wirklichkeit aber viel stärker unter Gesamtberliner Aspekt und Konkurrenzvorzeichen verliefen. Die Untersuchung zeigt auch die Ambivalenz der Systemkonkurrenz im Wechselspiel von Verflechtung und Abgrenzung. Von komplizierter Struktur und zumeist eine disproportionale Mischung von scharfer Konfrontation und moderaterem Wettbewerb, in dem einmal das eine, ein anderes Mal das andere Element hervortrat, trug die Systemkonkurrenz prinzipiell sowohl zur politischen Abgrenzung als auch zur Verflechtung beider Berliner Teile bei. In ihrer konfrontativen Eigenart trieb sie die politische Spaltung der Stadt voran, trug aber als „ziviler“ Wettbewerb der beiden Ordnungen trotz härtester politischer Rivalität und verordneter Abgrenzung zum Erhalt und partiell zum Ausbau von regionalen Vernetzungen sowie zur gesellschaftlichen Wahrnehmung Berlins als einheitlichem Lebensraum bei. Auch ist gesichert, dass der interaktive regionale Systemwettbewerb mit seinen vielen spezifischen „Schaufenstern“ auf beiden Seiten eine Quelle der Produktivität darstellte. Zu Recht galt der volkstümliche Satz: Konkurrenz belebt das Geschäft. Ebenfalls zog politische Distanz nicht automatisch und sofort einen Abbau von Verflechtungsbeziehungen nach sich. Es gab zudem Momente der politischen Beruhigung, die exogene Faktoren stark mitbestimmten. Verflechtung und Abgrenzung als die wichtigsten „dialektischen“ Phänomene der Berliner Systemkonkurrenz verliefen im Untersuchungszeitraum höchst unterschiedlich und unter Wechsel einiger ihrer Merkmale und Schwerpunkte. Bis zum Volksaufstand im Juni 1953 zeigten sich beide Teile Berlins noch deutlich als eine interaktive sozioökonomische Solidargemeinschaft, die u.a. der individuelle Warenverkehr, ein noch ähnliches Konsum- und Kaufverhalten sowie die Traditionen der hauptstädtischen Alltagskultur verbanden. Im Umfeld des 17. Juni und anderer Krisen verstärkten sich die politischen Momente dieser nun vorrangig gefühlten Solidargemeinschaft. Ab etwa Mitte der 50er Jahre, deutlicher mit dem Gesamtberliner Senats-Plan 1957, stiegen der individuell-private Austausch, aber auch kulturelle und gesellschaftliche Wechselbeziehungen bis zum Mauerbau quantitativ und qualitativ erheblich, wenngleich differenziert, an. Parallel dazu bildeten sich, häufig kurzfristig, konfrontative politische Faktoren heraus, die als Katalysatoren der Abgrenzung in kürzeren Intervallen auf die Berliner Gesellschaften, insbesondere in Konfliktsituationen einwirkten. Dabei schien sich die Tendenz zu erhärten, dass die Intensität der politischen Abgrenzung West-Berlins vom Osten in der zweiten Hälfte der 50er Jahre etwa in dem Maße abnahm, wie sie im Verhältnis Ost-Berlins zu den Westsektoren anstieg – also umgekehrt proportional. In der kurzen Periode bis zum Mauerbau beschleunigte sich die Verflechtungsdynamik kulturell und im Alltag schneller und wirkungsvoller als die ihr entgegenwirkende politische Distanz. Politische Konflikte wurden aber auch subjektiv dadurch relativiert, dass viele Berliner und andere Zeitgenossen die von

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den Wechsellagen des Kalten Krieges bestimmte politische Instabilität offenbar als Normalität wahrnahmen. Diese Beobachtung erhält aber auch dadurch Substanz, dass die kulturell und alltagspolitisch determinierten Verflechtungsgesellschaften gegenüber verschiedenen konfrontativen Zuspitzungen eine erstaunliche Resistenz, beachtliche Stabilität und Flexibilität entwickelten. So zeigten sie sich tatsächlich in der Lage, die Folgen beider Berlinkrisen wirksam zu begrenzen bzw. überwinden zu helfen. Insgesamt bestätigt sich die These des Vfs., dass sich bis 1961 aufgrund der historisch gewachsenen Verflechtungen in Berlin sowie besonderer Beziehungen und Interaktionen in Kultur und Alltag Merkmale für eine systemübergreifende „gemischte“ Gesellschaft herausbildeten, die auf der Grundlage relativer Offenheit bzw. Systemdurchlässigkeit durch einen mehrdimensionalen Austausch innerhalb (und trotz) des Kalten Krieges zustande kamen. Diese Erkenntnis relativiert in keiner Weise, dass sich im Wechselverhältnis von Verflechtung und Abgrenzung auch ein Prozess vollzog, in dessen Ergebnis einerseits Berlin als integrale Hauptstadt der DDR und andererseits West-Berlin als kulturelle Metropole stand, die sich nicht nur von ihrem östlichen Teil, sondern auch von allen Großstädten der Bundesrepublik markant unterschied. Diese Entwicklung würde es kulturell sowie bedingt auch politisch zum europäischen Unikum und in der Welt unverwechselbar machen. Doch bis dahin identifizierten sich die Berliner auf beiden Seiten noch weitgehend mit Gesamtberlin, obwohl ihnen bewusst war, dass es sich um eine gespaltene Stadt mit allen sich daraus für sie ergebenden Konsequenzen handelte. So hieß es in allen Sektoren ganz selbstverständlich: „Wir sind doch alle Berliner.“ Die Systemkonkurrenz trug im Untersuchungszeitraum zweifellos zur Auflösung der historisch gewachsenen politischen und sozioökonomischen Strukturen Berlins wesentlich bei, bewirkte aber kulturell und im Alltag noch keinen Identitätswandel. Er hinkte den rasanten Veränderungen der Realität hinterher. Genau genommen behinderte und verzögerte die Tendenz zum Erhalt der Berliner Verflechtungsgesellschaft eine „freie“ separate Entwicklung. Auch insofern kann die Zeit der unmittelbaren Systemkonkurrenz von 1948 bis 1961 als retardierendes Moment und als die Expositionsphase für eine separate Entwicklung angesehen werden, für die im Untersuchungszeitraum wesentliche Grundlagen geschaffen wurden, die aber erst nach 1961 voll wirkten. Die neuen Bedingungen der globalen Systemkonkurrenz und der Mauerbau brachen die „aufsteigende“ Verflechtungslinie abrupt ab. Zwar sieht der Vf., dass der aktuelle innenpolitische Beweggrund der SED für diesen Gewaltakt die Verhinderung des wirtschaftlichen Ausblutens ihres Staates sowie ihrer Hauptstadt war, ist aber davon überzeugt, dass die nach 1957 eindeutig wachsende Intensität des alltäglichen „verflechtenden“ Austausches zwischen beiden Teilen der Stadt und die Anziehungskraft des überlegenen West-Berlins einen zweiten Grund bildeten, eine Mauer zu errichten.

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Wie anders als durch eine radikale Lösung hätten SED und Sowjetunion den nachhaltigen Einfluss des erfolgreichen Konkurrenten auf realsozialistischen Aufbau und Machterhalt unterbinden sollen? Auch wird abschließend klar, dass die Innerberliner Systemkonkurrenz die Mauer in Nuce bereits 1948/49 entstehen ließ.

Abkürzungsverzeichnis AEG ADN AdW AGB ALU APuZ ARD ASK AStA AVUS AZKW BAB BAO BArch BDA BDI Behala BEWAG BGL Biwa BL BMHW BSC BSG BVG Bw BZ CDU CIA CIC CSU DA DAG

Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Allgemeine Deutsche Nachrichtenagentur (DDR) Akademie der Wissenschaften Arbeitsgesetzbuch (der DDR) Arbeitslosenunterstützung Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilagenheft des Wochenmagazins Das Parlament) Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Armeesportklub Allgemeiner Studentenausschuss Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs Berliner Ausstellungs- und Werbebetrieb Berliner Absatzorganisation Bundesarchiv Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Berliner Hafen-und Lagerhausgesellschaft mbH Berliner Städtische Elektrizitätswerke Betriebsgewerkschaftsleitung Billigwaren-Läden Bezirksleitung Berliner Metallhütten- und Halbzeug-Werke Berliner Sport-Club Betriebssportgemeinschaft Berliner Verkehrsbetriebe Bahnbetriebswerk Berliner Zeitung Christlich-Demokratische Union Central Intelligence Agency Counter Intelligence Corps Christlich-Soziale Union Deutschland Archiv Deutsche Angestelltengewerkschaft

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DEFA DEGEWO DER DEWAG DDR DGB DIAS DIW DIZ DRK DSB DSF DTSB EAW EGKS EKD EPG ERP EVG FAZ FDGB FDJ FDP FU GARIOA GASAG GDBA GEHAG GEWOBAG GSW HICOG HIKO HO HUB IFA IHK KaDeWe KgU KPD KPdSU

Abkürzungsverzeichnis

Deutsche Film AG Deutsche Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaues Deutsches Reisebüro Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Drahtfunk im Amerikanischen Sektor Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Deutsches Institut für Zeitgeschichte Deutsches Rotes Kreuz Deutscher Sportbund Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Deutscher Turn- und Sportbund Elektro-Apparate-Werke (Berlin-Treptow) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Politische Gemeinschaft European Recovery Program Europäische Verteidigungsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei Freie Universität (Berlin) Government and Relief in Occupied Areas Gaswerke Aktiengesellschaft (Berlin) Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft Gemeinnützige Wohnungsbau-Aktiengesellschaft (Berlin) Gemeinschaftsstadtwerke High Commission for Germany Historische Kommision (Berlin) Handelsorganisation Humboldt-Universität Berlin Industrieverband Fahrzeugbau Industrie- und Handelskammer Kaufhaus des Westens Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion

Abkürzungsverzeichnis

KVAB KVP KWO KWV LAB LAK LDPD LL LPG M.A. MfAA MfDG MfS NAP NATO NAW ND NDPD NGBK NOK NSDAP NVA NWDR OB OPZ ÖTV OTZ OWZ PAAA PGH PR RAW Reg. Bgm. RGW RIAS SAG SAPMO SBZ SC SED

Krankenversicherungsanstalt Berlin Kasernierte Volkspolizei Kabelwerk Oberspree Kommunale Wohnungsverwaltung Landesarchiv Berlin Lohnausgleichskasse Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Landesleitung Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Magister Artium Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (der DDR) Museum für Deutsche Geschichte Ministerium für Sicherheit Nationales Aufbauprogramm North Atlantic Treaty Organization Nationales Aufbauwerk Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschlands Neue Gesellschaft für bildende Kunst Nationales Olympisches Komitee Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationale Volksarmee Nordwestdeutscher Rundfunk Oberbürgermeister Oberschule Praktischer Zweig Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr Oberschule Technischer Zweig Oberschule Wissenschaftlicher Zweig Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Produktionsgenossenschaft des Handwerks Public Relations Reichsbahnausbesserungswerk Regierender Bürgermeister Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Rundfunk im amerikanischen Sektor Sowjetische Aktiengesellschaft Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen Sowjetische Besatzungszone Sportclub Sozialistische Einheitspartei Deutschland

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SEW SFB SKK SMA SPD SSD StBKAH STS Stupo TRO TU UdSSR UFA UFJ UNO USA VAB VBB VEB VEG VfB VfZ VOBL VP VVB VVN WJFS ZfG ZK ZZF

Abkürzungsverzeichnis

Sozialistische Einheitspartei Westberlin Sender Freies Berlin Sowjetische Kontrollkommision in Deutschland Sowjetische Militäradministration Sozialdemokratische Partei Deutschland Staatssicherheitsdienst Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus Staatssekretär Stumm-Polizei Transformatorenwerk Oberspree Technische Universität (Berlin) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Universum Film AG Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen United Nations Organization United States of America Versicherungsanstalt Berlin Verband Berliner Ballspielvereine Volkseigener Betrieb Volkseigenes Gut Verein für Ballspiele Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Verordnungsblatt (der Stadt Berlin) Volkspolizei Vereinigung Volkseigener Betriebe Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Weltjugendfestspiele Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentralkomitee Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)

Tabellenverzeichnis

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Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Vergleich von Soll und Ist bei einer Propagandaaktion am 26. und 27.10.1956 (S. 98). Tabelle 2: Vergleich der Stundenlöhne (DDR und Ost-Berlin in Ostmark, Bundesrepublik und West-Berlin in Westmark), Stand: Juni 1955 (S. 294). Tabelle 3: Preisvergleich (Stand:10.Mai 1952 bei einem Kursstand von 100 Westzu 400 Ostmark) (S. 298/299). Tabelle 4: Preisvergleich der Einkaufskörbe für eine vierköpfige Familie (Stand: 10. Dezember 1950) (S. 300). Tabelle 5: Vergleich der neuen Ost-Berliner Einheits- mit den alten Kartenpreisen (Stand: September 1958) (S. 310). Tabelle 6: Rückgang des Ost-Berliner privaten Großhandels (S. 312). Tabelle 7: Im Februar 1952 sparten die Westkäufer bei einer aktuellen Währungsrelation von 1:4 gegenüber den Preisen in West-Berlin bei (in Prozent) (S. 352). Tabelle 8: Preisvergleich ausgewählter Genussmittel (in kg, Stand: März 1956) (S. 383).

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Personenverzeichnis Abusch, Alexander 474 Adenauer, Konrad 128, 138, 177, 199f., 215, 218, 223, 271, 414, 444, 597 Albee, Edward 455 Amrehn, Franz K. 427 Arndt, Melanie 327 Asriel, André 143 Bahr, Egon 160, 164f. Bankloh (Professor, TU) 588 Barlog, Boleslaw 453–458, 630 Bartels, Kurt 143 Barthel, Manfred 505 Bauer, Alfred 505 Baum, Bruno 104 Bebel, August 136 Becher, Johannes R. 432 Begas, Reinhold 458 Bentzien, Hans 476 Blecha, Johanna 473f. Blücher, Gerhard Leberecht von 49 Bodenschatz, Harald 403 Bohnen, Michael 462–465, 629 Brandt, Willy 35f., 47, 67, 91, 138, 160, 225, 261, 476, 508, 520f. Braun, Jutta 603 Brecht, Bertolt 432, 441, 453, 455f., 514 Bredel, Willi 432 Bucerius, Gerd 160 Burghardt, Max 470

Ebert, Friedrich 35, 47, 72, 128, 132f., 223, 260, 272, 373, 473f., 566 Egk, Werner 460 Eisenhower, Dwight D. 215, 218, 227 Eliot, Thomas S. 443 Erhard, Ludwig 340, 542 Fechner, Herbert 162 Fehling, Jürgen 456, 471 Felsenstein, Walter 453f., 470–476, 630 Fontane, Theodor 520 Franck, Heinrich 588 Frenzel (Magistrat) 68 Friedensburg, Ferdinand 280 Friedrich, Götz 471 Gagarin, Jur A. 243 George, Heinrich 471 Gneisenau, August Neidhardt Graf von 49 Graham, Billy 123 Groß, Walter 522 Grotewohl, Otto 118, 128, 234, 358, 444, 474, 565, 589 Gründgens, Gustaf 440

Danelius, Gerhard 104f. Dathe, Heinrich 538–541 Dibelius, Otto 117, 121 Drews, Berta 448

Hanauske, Dieter 410 Harnack, Falk 449 Havemann, Robert 136 Heyde (Professor, TU) 588 Henselmann, Hermann 404, 416 Herrmann, Josef 465, 468 Heuss, Theodor 544 Hilpert, Heinz 440 Hirschfeld, Hans 146 Höfer, Werner 527 Höflich, Lucie 471 Honecker, Erich 142 Humboldt, Wilhelm von 51

Ebert, Carl 467ff.

Ihering, Herbert 449, 453

Carlbergh, Ernst 109 Chruschtschow, Nikita S. 103, 158, 225– 228, 234, 262, 513, 620

670 Jakobsen, Wolfgang 509 Jarausch, Konrad H. 26 Jendretzky, Hans 128 Kähler, Luise 136 Kamieth, Ernst 172f., 186, 618 Kazan, Elia 507 Kennedy, John F. 262 Kleiber, Erich 462, 466ff., 629 Klein, Günter 67 Kleßmann, Christoph 14 Klewitz, Marion 551 Klingelhöfer, Gustav 286 Klose, Margarete 462, 465, 468f., 629 Kofler (Justizstadtrat) 564 Körber, Hilde 449f. Kotokowski, Georg 583 Kraft (Magistratsdirektor) 68 Kressmann, Willy 357, 361, 363f., 395 Kundler, Herbert 517 Künnecke, Eduard 460 Kusche, Benno 466 Lampe, Albrecht 52 Langhoff, Wolfgang 432, 441, 454, 457 Lederer, Hugo 458 Legal, Ernst 453f., 466 Leider, Frida 461 Leithäuser, Gustav E. 588 Liebermann, Rolf 475 Lindt, Rosa 450 Linse, Walter 185f. Lipschitz, Joachim 182 Luft, Friedrich 442, 449, 453 Martay, Oscar 505 May (Stadtrat) 477 Meinecke, Friedrich 582f. Mühlig (Professor, TU) 588 Müller-Stahl, Armin 451 Neumann, Franz 47 Neumann, Günter 522 Nicklitz, Walter 414 Niemöller, Martin 514

Personenverzeichnis

Niese, Gerhard 461 Oelßner, Fred 376 Oistrach, Igor 466 Osborne, John 455 Pieck, Wilhelm 526 Piscator, Erwin 445 Pius XII. 119, 122 Poelzig, Hans 512 Prohaska, Jaro 461 Quermann, Heinz 528 Reuter, Ernst 32, 35, 37, 47, 97, 108, 124, 128, 144, 149, 159, 167f., 177, 182, 185, 199, 200, 205, 218, 221, 271, 301, 361, 363, 440, 477, 505, 551, 582, 585f., 608 Ribbe, Wolfgang 24, 198 Riechers, Helene 450, 462 Sabrow, Martin 22 Satre, Jean Paul 443 Schäffer, Fritz 435 Scharnhorst, Gerhard von 49 Scharnowski, Ernst 199 Scharoun, Hans 397, 588 Scheidemann, Philipp 47 Schiller, Friedrich von 458 Schlegelmilch, Arthur 22, 339 Schnitzler, Karl-Eduard von 527 Schreiber, Walther 11, 135, 223 Schroeder, Louise 357 Schwarz, Jewgenij 442 Semjonow, Wladimir S. 199 Simonow, Konstantin 443 Spira, Steffi 430 Stalin, Josef W. 143, 453, 526 Staudte, Wolfgang 448, 451 Stein, Heinrich Friedrich vom 49 Suhr, Otto 47, 84, 205f., 223, 404, 421, 435f., 597 Suthaus, Ludwig 465

Personenverzeichnis

Thalheim, Karl C 339 Tiburtius, Joachim 447, 450, 453f., 456– 460, 462–467, 469f., 472, 478 Tietjen, Heinz 467, 477 Tschuikow, Wassili I. 188 Ulbricht, Walter 72, 87, 116, 129, 223, 234, 377, 400ff., 407, 474, 476, 559, 603, 605 Vallentin, Maxim 440 Verner, Paul 259 Vernes, Jules 521 Wagner-Régeny, Rudolf 459 Wallner-Basté, Franz 447, 454, 456, 461

671 Wandel, Paul 581 Wegener, Paul 471 Weigel, Helene 136, 441, 445, 456 Werner, Arthur 136 Werth, Helene 466 Westermann, Gerhard von 478 Wiese, Renè 603 Wilder, Thornton 443 Wisten, Fritz 452ff. Wünscher, Marianne 451 Zille, Heinrich 51 Zschaler, Frank 411 Zuckmayer, Carl 455

Abbildungsverzeichnis

Landesarchiv Berlin Foto 4, 8, 11, 13, 14, 16, 18, 20–22, 26–28, 33–34, 36, 38–40, 42–46, 48–49, 64, 66–67, 86, 93, 95/2, 95/5, 99, 107, 110–113, 116, 119, 121, 123, 128, 133, 137– 138 (G. Schütz); 1 (G. Burow); 2 (W. Johann); 3 (G. Gnilka) 5, 9–10, 25, 32, 51, 53–54, 56, 63, 70, 85, 94, 108, 122, 129, 141, 144 (H. Siegmann); 6 (Th. R.); 7, 12, 24, 30, 35, 50, 78–79, 84, 95/1, 101, 126, 140, 142 (B. Saß); 17, 41, 58, 60, 65, 90, 146 (W. Kiel); 19, 23, 29, 31, 47, 52, 61–62, 71–75, 95/3, 97, 120, 125, 132, 134, 136 (o.A.); 37, 55 (J. Willa); 59 (Durniok); 68, 124 (W. Nitschke); 69 (G. Hoffmann); 76–77, 82–83, 87, 96, 106, 118 (R. Perlia); 80, 131, 135 (W. Rißleben); 81 (W. Huschke); 95/4 (H.K.); 98 (E. Schwab); 100 (O. Martens); 104– 105, 109 (C. Willott); 117 (K. Schymatzek); 127 (Weiß); 143 (K.-H. Schubert); 147 (H. Görzig).

Bundesarchiv 15 (G. Köhler); 88 (H. Sturm); 89 (U. Kohls); 114 (E. Kemlein); 115, 130 (H. Junge); 139 (Klein); 145 (M. Beier); 91–92 (o.A.).

Stadtarchiv Berlin 57 (o.A.).

Stadtmuseum Berlin 101-1, 102-2, 102-4, 103-1 (E. Kemlein); 102-3 (H. Croner); 103-2 (W. Saeger); 103-3 (N. von Jaanson); 103-4 (J. Quaschinsky).

I. Politik

1 Ernst Reuter, seit Herbst 1948 Oberbürgermeister, von Januar 1951 bis September 1953 Regierender Bürgermeister von West-Berlin (1951)

2 Friedrich Ebert jr., von 1948 bis 1967 Oberbürgermeister von Ost-Berlin (1949)

I. Politik

3 Sektorengrenze Stresemann- Ecke Köthener Straße. Im Hintergrund der Potsdamer Platz (1950)

4 S-Bahn-Grenzstation Berlin-Zehlendorf (amerikanischer Sektor). Warnung vor der Weiterfahrt in den sowjetischen Sektor (1953)

I. Politik

5 Sektorengrenze Friedrich-, Ecke Schützenstraße. Kontrolle durch die Volkspolizei (1960)

6 Kommunistisches Propagandaplakat im Kastanienwäldchen, Stadtbezirk Mitte (1955)

I. Politik

7 Protestschweigemarsch von 15 000 West-Berlinern gegen die Verweigerung freier Wahlen durch Sowjets und SED (Februar 1954)

8 Verdeckte Abstimmung der Ost-Berliner für freie Wahlen in ganz Berlin. (Eingang der Lebensmittelkarten-Abschnitte im West-Berliner Rathaus Schöneberg, 13.10.1950)

I. Politik

9 Wahl zum West-Berliner Abgeordnetenhaus, 7. Dezember 1958, Tafel der vorläufigen Wahlergebnisse

10 Wahlplakat der SED im Bezirk Wilmersdorf für die Wahl zum West-Berliner Abgeordnetenhaus am 7. Dezember 1958

I. Politik

11 Pressekonferenz der SED im Wedding zur Wahl für das West-Berliner Abgeordnetenhaus am 5. Dezember 1954 mit den SED-Spitzenkandidaten Bruno Baum, Robert Havemann, Josef Orlopp, Paul Wengels (v.l.n.r.)

12 Kongress für Kulturelle Freiheit. Abschlussveranstaltung im Sommergarten am Funkturm, 29. Juni 1950

I. Politik

13 Generalversammlung 1960 des Kongresses für Kulturelle Freiheit vom 16.–22. Juni 1960. Exbundespräsident Theodor Heuss (l.) und Robert Oppenheimer

14 Ein West-Berliner Student wird als Sowjetspion dem US-Militärgericht in Berlin-Lichterfelde vorgeführt, 12. Mai 1952

I. Politik

15 Spionageprozess gegen den „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen“ in OstBerlin, 25. Juli 1952. Vernehmung eines Angeklagten (l., stehend) durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR Hilde Benjamin (Mitte)

16

Notaufnahmelager für Ostflüchtlinge in der Neuköllner Siegfriedstraße, März 1953

I. Politik

17 „Familienszene“ im Flüchtlingslager Siegfriedstraße, Mai 1953

18 Eine FDJ-Demonstration in der West-Berliner Jungfernheide am 3.8.1952 wird durch einen starken Polizeieinsatz verhindert und die Festgenommenen zur Vernehmung in die Polizeiinspektion Charlottenburg abgeführt

I. Politik

19 Die West-Berliner Polizei geht gegen „kommunistische Krawalle“ anlässlich einer Ver­ sammlung von Angehörigen der ehemaligen „Bären-Division“ der Wehrmacht am 29.5.1955 vor

20 West-Berliner Protestkundgebung gegen die Verschleppung von Dr. Walter Linse in den Ostsektor, Juli 1952

I. Politik

21 Östliche Maßnahme gegen den Deutschlandvertrag der Westmächte mit der Bundesrepublik: Straßensperre zwischen den Westsektoren und der DDR in Berlin-Frohnau. Die abgelichteten Kinder sind davon augenscheinlich unbeeindruckt, Juni 1952

22 Warnschilder an der Sektorengrenze Friedrichstraße (Mitte), die auf die mögliche Beschlagnahme West-Berliner Fahrzeuge durch die Volkspolizei hinweisen, Dezember 1952

I. Politik

23 In Ost-Berlin wird eine evtl. Sperrung der Gleise nach West-Berlin, hier durch Gleisumbauten auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Mitte, vorbereitet, Februar 1953

24 Der „Kampfbund deutscher Jugend“ lässt angesichts der Ost-Berliner Repressalien am Rathaus Schöneberg „Freiheitsballons“ steigen, Juni 1952

I. Politik

25 Antikommunistische Leuchtschriftanlage am Potsdamer Platz. Links im Bild das in Ostberlin gelegene mit einer Gegenlosung versehene HO-Kaufhaus, März 1952

I. Politik

26 Unterbrechung des intersektoralen Straßenbahnverkehrs durch die Ost-Berliner Ver­ waltung. In der Potsdamer Straße rangiert die West-Berliner Linie 74, auf dem Leipziger Platz (unten) die Ost-Berliner Linie 74, Januar 1953

I. Politik

27 West-Berliner Konsequenzen: In der Schöneberger Straße, dem neuen Endpunkt, werden die Gleise (hier der Straßenbahnlinie 88) verlegt

28 Volksaufstand am 17. Juni 1953: Streikende Ost-Berliner in der Leipziger Straße auf dem Weg zum Potsdamer Platz, 17.6.1953

I. Politik

29

Sowjetischer Panzereinsatz auf dem Potsdamer/Leipziger Platz,17.6.1953

30

Die West-Berliner Polizei sperrt die Potsdamer Straße gegen den Ostsektor ab, 17.6.1953

I. Politik

31 Spontane Solidaritäts­ kundgebung von WestBerlinern in der Müllerstraße (am S-Bahnhof Wedding), 17. Juni 1953

32 Lebensmittelhilfe für Ostdeutsche im Juli/August 1953, Ausgabestelle Wilmersdorf, Ruhrstraße, 4.8.1953

I. Politik

33

Vorratslager der Lebensmittelaktion in der Nähe einer Ausgabestelle, August 1953

34 Die Gegenaktion: Verteilung von in Ost-Berlin beschlagnahmten West-Berliner Spenden an West-Berliner Arbeitslose, hier in der Friedrichstraße, 3.8.1953

I. Politik

35 Orientierungstafel zum Sperrgebiet während der Berliner Vier-MächteAußenministerkonferenz im Januar/ Februar 1954

36 Pressekonferenz zur Vier-MächteAußenministerkonferenz, 8.2.1954; im Vordergrund Karl-Eduard von Schnitzler, Chefkommentator des Berliner Rundfunks

I. Politik

37 Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin 1950, Teilnehmer vor der Ost-Berliner HumboldtUniversität, Mai 1950

I. Politik

38 Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951 in Ost-Berlin. FDJler mit Stalinbild, August 1951

I. Politik

39 Anlässlich der Weltfestspiele errichtet der Ostmagistrat gegenüber den Westsektoren, hier in der Friedrich- Ecke Zimmerstraße, Straßensperren, 26.7.1951

40

West-Berliner Jugendliche reißen sie nieder, 27.7.1951

I. Politik

41 Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin 1954. In West-Berlin werden – in diesem Fall bei der sozialdemokratischen Arbeiterwohlfahrt – Lebensmittelspenden für jugendliche Besucher aus dem Osten vorbereitet, Juni 1954

42 Willy Brandt, Präsident des Abgeordnetenhauses, diskutiert mit Senatsbeamten die Ablehnung seiner Kontaktversuche durch den Ost-Berliner Oberbürgermeister, 28.4.1956, 3. von l.: Klaus Schütz

I. Politik

43 Dr. Griess, l., Direktor des Abgeordnetenhauses, spricht (inoffiziell) mit einem Vertreter des Ost-Berliner OB Ebert über mögliche Innerberliner Kontakte, April 1956

44 Der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Willy Kressmann beim verbilligten Obstverkauf an Ost-Berliner, 14.7.1953

I. Politik

45 Ost- und West-Berlin setzen gemeinsam die Eisenbahnbrücke zwischen Humboldthain und Nordbahnhof instand, Juli 1956

46 Gesamtberliner Kinderfest an der Sektorengrenze Friedrichstraße/ Kreuzberg, 8.8.1959

I. Politik

47

Großveranstaltung zum Evangelischen Kirchentag im Olympia-Stadion, Juli 1951

48 78. Deutscher Katholikentag 1958 in Berlin. Friedensmesse vor der Hedwig-Kathedrale im Ostsektor, 15.8.1958

I. Politik

49

1. Mai 1952 in Ost-Berlin. Tribüne vor dem Dom

50 1. Mai 1952 in West-Berlin, Kundgebung mit Ernst Reuter (am Mikrofon) auf dem Platz der Republik

I. Politik

51 Mahnmal für die Opfer der Hitlerdiktatur 1933–1945 an der ehemaligen Hinrichtungs­ stätte in Plötzensee, Kranzniederlegung durch den Regierenden Bürgermeister Otto Suhr, 22.1.1955

52 Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus in der Neuen Wache Unter den Linden in Ost-Berlin, Juni 1960

I. Politik

53

Der Mauerbau. Abriegelung des Brandenburger Tors, 14.8.1961

54 Errichten von Stacheldrahtsperren durch Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR am Potsdamer Platz, 14.8.1961

I. Politik

55

Protestdemonstration gegen den Bau der Mauer vor dem Rathaus Schöneberg, 16.8.1961

56 Populäre Forderung der West-Berliner, an die alliierten Schutzmächte gerichtet, August 1961

II. Wirtschaft und Soziales

57

Enttrümmerung der Ruine des Berliner Stadtschlosses

58

Trümmerberg am Funkturm, Juni 1949

II. Wirtschaft und Soziales

59 Trümmerfrauen an der Hagelberger Straße in Kreuzberg (1949)

60

Aufschüttung des Hochbunkers Friedrichshain mit Trümmerschutt (1949)

II. Wirtschaft und Soziales

61

Die Ost-Berliner Stalinallee im Bau, September 1952

62

Die fertiggestellte Stalinallee im Bereich des U-Bahnhofs Marchlewskistraße (1953)

II. Wirtschaft und Soziales

63

Wiederaufbau des West-Berliner Hansaviertels (1957)

64 Ansprache des Senators für Bau und Wohnungswesen Rolf Schwedler bei einer Grundsteinlegung im Hansaviertel-Nord, 12.9.1958

II. Wirtschaft und Soziales

65

Internationale Bauausstellung West-Berlin, Pavillon: Die Stadt von morgen, Juli 1957

66 Internationale Bauausstellung West-Berlin. Vor dem Modell des Hansaviertels, v.l.n.r: Helmut Klawonn, Le Corbusier, Walter Gropius, Rolf Schwedler, Otto Bartning, 23.9.1957

II. Wirtschaft und Soziales

67

Stalinallee, Muster-Wohnzimmer (1954)

68

Hansaviertel, Musterwohnung (1957)

II. Wirtschaft und Soziales

69

Das Ost-Berliner Großkraftwerk Klingenberg (1957)

70

Turbinenhalle des Kraftwerks Berlin-Charlottenburg (1953)

II. Wirtschaft und Soziales

71 Probelauf des ersten Borsig-Fiat-Schiffsdieselmotors (3600 PS). Ernst Reuter (l.) setzt ihn in Gang, 26.11.1952

72

Berliner Glühlampenwerk (vormals Osram) im Ostteil der Stadt (1952)

II. Wirtschaft und Soziales

73 Der West-Berliner Oberbürgermeister Reuter beim Verlassen der außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung im Hotel am Zoo. Hier hatte er gerade die Verordnung über die neue Währung in den Westsektoren verlesen, 30.3.1949

74

Andrang vor einer Wechselstube am Bahnhof Zoo, 9.12.1951

II. Wirtschaft und Soziales

75

Ost-Berliner an einem HO-Imbiss in der Stalinallee, September 1952

76

HO-Brotkiosk am Ost-Berliner Alexanderplatz, Juni 1953

II. Wirtschaft und Soziales

77 „Schlange stehen“ vor einem HO-Geschäft im Ost-Berliner Friedrichshain (um 1953)

78 West-Berliner Verkaufsstände in der Potsdamer- Ecke Linkstraße nahe der Sektorengrenze. Ein Schild (r. oben) verweist auf eine Wechselstube, Oktober 1950

II. Wirtschaft und Soziales

79

Ost-West-Markt unweit des West-Berliner S-Bahnhofs Wannsee, Oktober 1949

80 Gesamtberliner Einkaufsmeile Potsdamer Straße. Passanten überqueren die Sektoren­ grenzen. Im Ostsektor wirbt die HO mit der zentralen Losung „Der kluge Berliner kauft bei der HO“ (s.o.) um Westkunden, August 1951

II. Wirtschaft und Soziales

81 Schaufenster einer WestBerliner Parfümerie (1955)

82 Ost-Berliner Offerte an Käufer aus den West­ sektoren, Strausberger Platz (1951)

II. Wirtschaft und Soziales

83 Kartoffelverkauf in der Ost-Berliner Leipziger Straße. Dort ver­sorg­ ten sich auch viele West-Berliner außerordentlich preiswert (um 1953)

84 Der West-Berliner Zollfahndungsdienst kontrolliert am Reichs­ tagsgebäude aus dem Ostteil der Stadt kommende Fahrzeuge (1952)

II. Wirtschaft und Soziales

85 Kontrollstelle des westsektoralen Zolls am Brandenburger Tor mit Schnee-Schutzwall, Februar 1956

86 Protestumzug der West-Berliner Bäckerinnung gegen den Kauf von HO-Brot durch Bürger der West­ sektoren. Im Käfig die symbolischen Figuren „Schimpf und Schande“, 21.6.1951

II. Wirtschaft und Soziales

87 Ab 28. November 1952 durften West-Berliner nicht mehr im Ostsektor einkaufen. Plakate (hier in der Ost-Berliner Reinhardtstraße) erläutern den entsprechenden Magistratsbeschluss

88 Im Kampf gegen „Schieber und Spekulanten“ nimmt das Ost-Berliner Amt für Zoll und Warenverkehr Ostdeutschen (hier im Dezember 1956) Waren ab, die sie in den Westen verbringen wollten. Ihnen drohen empfindliche Strafen

II. Wirtschaft und Soziales

89 Eine Ost-Berliner Verkäuferin, die „Schieber und Spekulanten“ bei der Volkspolizei angezeigt hatte, erhält eine Prämie, 21.11.1958

90 Umtausch von Ost- bzw. Westgeld durch Grenzgänger in der Lohn­ ausgleichsstelle im Rathaus Schöne­ berg, 1.7.1952

II. Wirtschaft und Soziales

91 Ost-Berliner Plakat zur „Entlarvung“ der Grenzgänger (August 1961)

92 Im Ostsektor und seinen Vororten in Geschäften angebrachtes Plakat gegen die Grenzgänger nach West-Berlin, August 1961

II. Wirtschaft und Soziales

93 Im Frühjahr 1958 legt ein Streik der West-Berliner BVG den Verkehr in den Westsektoren weitgehend lahm. U-Bahnen und Busse (im Bild der Busbahnhof Wedding) bleiben in den Remisen

94 Als Solidaritätsmaßnahme wird auf Geheiß der SED-Führung der WestBerlinverkehr der S-Bahn zeitweilig eingestellt, März 1958

II. Wirtschaft und Soziales

95/1 Berlinwerbung in beiden Teilen der Stadt: Leuchtwerbeturm gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Kurfürstendamm (1954)

95/2 Werbe-Sonnenschirm auf einem WestBerliner Boulevard (1954)

II. Wirtschaft und Soziales

95/3 Berlin-Prospekte des westsektoralen Verkehrsamtes (1956)

95/4 Ost-Berliner Buchreklame in der Friedrichstraße (1959)

II. Wirtschaft und Soziales

95/5 Modenschau im Sommergarten am Funkturm während der Deutschen Industrie­ ausstellung 1952

III. Kultur, Bildung und Sport

96 Die im 2. Weltkrieg zweimal schwer beschädigte Deutsche Staatsoper mit Stalinbild und Sozialismus-Parole, Juli 1952

97

Die wiedererbaute Deutsche Staatsoper am Tage ihrer Neueröffnung, 4.9.1955

III. Kultur, Bildung und Sport

98

Das West-Berliner Schiller-Theater im Wiederaufbau (1951)

99

Das wiedererstandene Schiller-Theater, September 1954

III. Kultur, Bildung und Sport

100 Der Ost-Berliner Friedrichstadtpalast am Schiffbauerdamm 1951, das größte europäische Revuetheater, signalisiert Systemkonkurrenz

101 Der Titania Palast in der Steglitzer Schloßstraße. „Schlange stehen“ an der Vorverkaufskasse, Mai 1951

III. Kultur, Bildung und Sport

102 Bertolt Brecht, weltbekannter Dramatiker und Regisseur, Mitbegründer des Berliner Ensembles (1952)

Helene Weigel, Schauspielerin und Inten­ dantin des Berliner Ensembles (undatiert)

Boleslaw Barlog, Intendant des SchillerTheaters und Regisseur (1956)

Walter Felsenstein, Regisseur und Intendant der Ost-Berliner Komischen Oper (undatiert)

III. Kultur, Bildung und Sport

103 Margarete Klose, Sängerin an der West-Berliner Städtischen Oper, seit 1955 an der Deutschen Staatsoper (1955)

Michael Bohnen, Opernsänger, 1945 bis 1947 Intendant der Städtischen Oper (1962)

Josef Herrmann, Opernsänger, seit 1955 an der Deutschen Staatsoper, vorher an der Städtischen Oper in Charlottenburg (undatiert)

Der Dirigent Erich Kleiber (1951)

III. Kultur, Bildung und Sport

104 Aufführung von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“, am 11.1.1949 im OstBerliner Deutschen Theater. Von r.: Helene Weigel, Paul Bildt, Werner Hinz und Angelika Hurwicz

105 Das West-Berliner Kabarett „Die Insulaner“, 11.10.1958

III. Kultur, Bildung und Sport

106 Filmaufnahmen in der Stalinallee (um 1954)

107 Der Dirigent Wilhelm Furtwängler (r.), Chef der Berliner Philharmonie, erhält von Senator Tiburtius das Bundesverdienstkreuz, 19.4.1952

III. Kultur, Bildung und Sport

108 Gesamtberliner Opernstars: Kammersängerin Frida Leider und die Kammersänger Fritz Soot und Jaro Prohaska (v.l.n.r.), 20.4.1955

109 Der Dirigent und Regisseur Carl Ebert (l.) im Gespräch mit der Ballettmeisterin Tatjana Gsovsky, September 1954. Ebert war von 1954 bis 1961 Intendant der Städtischen Oper in Charlottenburg, Frau Gsovsky gründete 1955 das „Berliner Ballett“

III. Kultur, Bildung und Sport

110 Senatsempfang für prominente Künstler am 4.3.1955. V.l.n.r.: Der Komponist Boris Blacher und die Kammersängerin Erna Berger

111 Ankunft des Ensembles des Pariser Théâtre National Populaire (Paris) in Berlin anlässlich der Berliner Festwochen 1952, 13.9.1952. Vorn Mitte Jean Vilar, stehend: der Schauspieler Gérard Philipe

III. Kultur, Bildung und Sport

112 Heinz Tietjen, Intendant der Städtischen Oper, die Sängerin Polyna Stoska und der Dirigent Leo Blech (v.l.n.r.) während der Berliner Festwochen 1952, 9.9.1952

113 Berliner Festwochen 1953. Deutsche Erstaufführung der Oper „Der Prozess“ von Gottfried von Einem. Links der Komponist, rechts der Dirigent Arthur Rother

III. Kultur, Bildung und Sport

114 Vorbereitung der „Berliner Festtage“ 1958 im Ostteil der Stadt. Probe zu „Wozzek“ am Deutschen Theater, 25.10.1958. In der Mitte des Bildes (sitzend) der Schauspieler Fred Düren, rechts neben ihm Regisseur Wolfgang Langhoff

115 Festliche Eröffnung der „Berliner Festtage“ 1959 in der Staatsoper, 3.10.1959

III. Kultur, Bildung und Sport

116 Tagung der Filmbewertungsstelle in der West-Berliner Landesbildstelle, 26.6.1956. Bildmitte: Franz Wallner-Basté, Vertreter eines harten Kurses gegen die Ost-Berliner kultur­ politische Konkurrenz

117 Kino „Stella“ in der Köpenicker Straße in Kreuzberg – ein typisches West-Berliner Grenzkino

III. Kultur, Bildung und Sport

118 Das „Münz-Theater“ in der Münzstraße (Stadtbezirk Mitte) galt faktisch als ein Grenzkino des Ostens

119 Eröffnung der V. Filmfestspiele (Berlinale) in West-Berlin, 24.6.1955, v.l.n.r.: Magda Schneider, Romy Schneider, Mitsuko Mito

III. Kultur, Bildung und Sport

120 Gespräch des weltbekannten französischen Filmschauspielers Jean Gabin mit dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt anlässlich eines Berlinale-Empfangs, 5.7.1960

121 VI. Berlinale 1956, Zuschauer während der Eröffnung im „Gloria Palast“ am Zoo, 22.6.1956

III. Kultur, Bildung und Sport

122 X. Berlinale 1960, Eröffnung der Internationalen Filmfestspiele für Ost-Besucher im „Corso-Theater“, Wedding

123 Internationaler Autosalon in West-Berlin 1951, Volkswagenstand mit dem Spezialwagen für Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, 5.9.1951

III. Kultur, Bildung und Sport

124 Deutsche Industrie-Ausstellung 1951 in den Westsektoren. Messestand einer regionalen Lackfabrik im Stil der Zeit

125 Ost-Berliner Kinderbuchausstellung im Juni 1960

III. Kultur, Bildung und Sport

126 Kartenverkauf an der Ostkasse der „Grünen Woche“ 1953 auf dem Messegelände am Funkturm, 8.2.1953

127 Eröffnung des Ost-Berliner Tierparks Friedrichsfelde am 2.7.1955, v.l.n.r.: DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck, Tierparkdirektor Heinrich Dathe und Oberbürgermeister Friedrich Ebert

III. Kultur, Bildung und Sport

128 Besuch bei der Zoo-Konkurrenz: Werner Schröder, Direktor des Aqua­ riums West-Berlin und Heinz-Georg Klös, Zoodirektor mit ihrem Gast Walt Disney, 2.7.1958

129 Der Kurfürstendamm als West-Berliner „Flaniermeile“. Im Hintergrund die Ruine und der Neubau der KaiserWilhelm-Gedächtniskirche (1961)

III. Kultur, Bildung und Sport

130 „Flaniermeile“ Stalinallee in Ost-Berlin. Szene im großen Gartenrestaurant nahe dem Café „Warschau“, Juni 1955

III. Kultur, Bildung und Sport

131 Baden auf dem Gelände des ehemaligen Fremdenverkehrshauses an der Potsdamer Straße in West-Berlin, Juli 1949

III. Kultur, Bildung und Sport

132 Beliebtes Badeziel für Ost-Berliner Freikörperkultur-Anhänger: Der Motzener See im Süden Berlins

133 „Gesamtberliner“ Ausflugsdampfer auf der Spree, August 1954

III. Kultur, Bildung und Sport

134 Skatspieler am Alexanderplatz, August 1953

135 West-Berliner Schüler im Schaufensterwettbewerb, 1951

III. Kultur, Bildung und Sport

136 Polytechnischer Unterricht für Ost-Berliner Schüler. Sie montieren im Polytechnischen Zentrum Mitte Mopedvergaser (1959)

137 Aus dem Osten geflüchtete Oberschüler in West-Berlin, Dezember 1956

III. Kultur, Bildung und Sport

138 Ost-Berliner Schulaktion gegen „Schund- und Schmutzliteratur“ in einer Lichtenberger Schule, Februar 1953

139 Schülerinnen, Schüler und Junge Pioniere einer Gesamtschule in Pankow verbrennen in einer gegen die kulturellen Verhältnisse in West-Berlin gerichteten Aktion „Schund- und Schmutzliteratur“, 2.6.1955

III. Kultur, Bildung und Sport

140 Das Hauptgebäude der Ost-Berliner Humboldt-Universität noch ohne figürlichen Schmuck (1954)

141 Das zentrale Gebäude der Freien Universität Berlin in der Boltzmannstraße (1953)

III. Kultur, Bildung und Sport

142 Buchmobil des West-Berliner Amerika-Hauses in einem Reinickendorfer Lager für ostdeutsche Flüchtlinge (1953)

143 Avus-Rennen unter Gesamtberliner Beteiligung, 1.7.1951

III. Kultur, Bildung und Sport

144 47. Berliner Sechstage-Rennen in der westsektoralen Deutschlandhalle, Oktober 1960

145 VII. Radrennfahrt für den Frieden Warschau, Berlin, Prag, Mannschaftsfahrt auf der Stalinallee, 9.5.1954

III. Kultur, Bildung und Sport

146 16. Wettrudern „Quer durch Berlin“, hier auf der Spree in Charlottenburg, 8.5.1955

147 Vorbereitung zu einem Ost-Berliner Ruderwettbewerb in Grünau. Die Betriebssport­ gemeinschaft (BSG) Berliner Bär mit ihren Booten, April 1952

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DIE DEMOKR ATISCHE REVOLUTION 1989 IN DER DDR

1989, das Jahr des zivilgesellschaftlichen Aufbruchs in der DDR, begründet eine Zäsur in der neuen deutschen Geschichte. Die „demokratische“, „friedliche“ oder „nachholende“ Revolution beendete nicht nur die „moderne Diktatur“ der SED in Ostdeutschland, sondern auch die mit der „doppelten Staatsgründung“ 1945 bis 1949 entstandene deutsche Teilung – und damit in weiterer Perspektive einen langen „Sonderweg“ Deutschlands in Europa. Das Buch basiert auf einer Ringvorlesung an der Philipps-Universität Marburg, bei der sich Wissenschaftler und Zeitzeugen mit dem demokratischen Umbruch 1989 beschäftigt und nach Ursachen und Verlauf, nach Akteuren und ihren Zielen und nach Wirkungen der friedlichen Revolution gefragt haben, die sich in der Wiedervereinigung nicht erschöpfen. Der Sammelband mit Beiträgen renommierter Autoren, unter ihnen Konrad Jarausch, Martin Sabrow, Joachim Gauck und Werner Schulz zieht Bilanz und liefert dem Leser zugleich eine historische und politische Einordnung der nunmehr schon 20 Jahre zurückliegenden Ereignisse. 2009. 251 S. MIT 4 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20462-4

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