Eine Mauer für den SED-Staat: Berlin 1961 und die Folgen [1 ed.] 9783428539055, 9783428139057

Die Mauer – ihr Bau wie ihr Fall – ist fest in der Erinnerungskultur Deutschlands verankert. Wer den 13. August 1961 erl

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Eine Mauer für den SED-Staat: Berlin 1961 und die Folgen [1 ed.]
 9783428539055, 9783428139057

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung

Band 102

Eine Mauer für den SED-Staat Berlin 1961 und die Folgen

Herausgegeben von Eckhard Jesse

Duncker & Humblot · Berlin

ECKHARD JESSE (Hrsg.)

Eine Mauer für den SED-Staat

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 102

Eine Mauer für den SED-Staat Berlin 1961 und die Folgen

Herausgegeben von Eckhard Jesse

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-13905-7 (Print) ISBN 978-3-428-53905-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83905-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Uwe Lehmann-Brauns Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Eckhard Jesse Vor dem Bau der Mauer und nach dem Fall der Mauer . . . . . . . . . . . . . . . 9 Manfred Wilke Der Weg zur Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Alexei Filitov „Berlin durch einen eisernen Ring zu umkreisen …“  . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Rolf Steininger Die Westmächte und der Mauerbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Gerhard Wettig Chruschtschow, die Berlin-Krise und die Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Peter März Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Anita Krätzner Die studentischen Proteste nach dem Mauerbau an den ost- und westdeutschen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Kerstin Dietzel und Sascha Möbius Individuelle Schicksale und erlittene Repression im Schatten der Grenze. Das Beispiel des Bezirks Magdeburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Manfred Wilke Die Gedenkstätte Berliner Mauer – die doppelte Erinnerung an Teilung und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

6 Inhaltsverzeichnis Mario Niemann SED-Kaderpolitik nach dem Mauerbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Hans-Georg Wieck Die Deutschlandpolitik vom Mauerbau bis zum Mauerfall . . . . . . . . . . . . . 181 Hans-Hermann Hertle Der Fall der Mauer als mediales Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Karl-Heinz Paqué Menschen drin, Märkte draußen: Die wirtschaftlichen Flurschäden des Mauerbaus nach 50 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sebastian Liebold Finis terrae? – Die Mauer in der deutschen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Grußwort Von Uwe Lehmann-Brauns Berlin im Frühjahr 1961: politisch schon gespalten, aber unterhalb dessen mehr oder minder eins und verklammert. S- und U-Bahnen verbanden die Stadt, die Kulturtempel beiderseits waren zugänglich und auf die verschiedenen Währungen begann man sich einzustellen. Ich begann im Juni 1961 in der Staatsbibliothek Unter den Linden an meiner Dissertation zu arbeiten. Dann fuhr ich in die Ferien. Als ich zurückkam, war Ostberlin zugemauert, das Brandenburger Tor verrammelt, Westberlin rundherum eingezäunt. Auch die Glienicker Brücke, die Berlin mit Potsdam verbindet. Wer jetzt nach Potsdam wollte, auch von Ostberlin aus, musste über die Autobahn ca. 50 km fahren. Bis zum Mauerbau hatten die meisten Westberliner ein gespaltenes Verhältnis zum Ostteil der Stadt. Wir hassten Ulbricht und die Seinen. Andere versorgten sich in Ostberlin ungeachtet des Regimes mit billigen Waren und Dienstleistungen, ließen sich drüben die Haare schneiden etc. Ernst Reuter, der wichtigste Bürgermeister, den die Stadt je besaß, hatte für solche Einkünfte das Wort geprägt und plakatiert: Herr Schimpf und Frau Schande. Die Mahnung lebte in vielen von uns, die wir darauf achteten, drüben bloß kein Geld auszugeben, um den Valuta-Bedarf des Regimes nicht zu befriedigen – aber weiter den Kontakt mit den Leuten zu halten und das Regime zu schwächen. Dieser Konflikt in uns wurde durch die Mauer beseitigt. Niemand durfte mehr rüber, auch Herr Schimpf und Frau Schande nicht, auch nicht die Besucher der Staatsoper, niemand eben. Dasselbe geschah den Ostberlinern – Wut und Resignation hüben und drüben. Aber die Zeit ging weiter, und allmählich verhallte der Satz Willi Brandts an die Grenztruppen vom 13. August 1961: „Last euch nicht zu Lumpen machen.“ Begleitet von der neuen Ostpolitik (menschliche Erleichterungen minus Wiedervereinigung) und bald den höhnischen Rhythmen der 68er. Aber sie verhallten und die DDR wurde schwach, um sie wurde es einsam. Der Mauerfall brachte das auseinanderstrebende Land incl. Berlin in letzter historischer Sekunde zusammen. Heute sind die äußeren Spuren der Teilung selten. Versuche, sie festzuhalten, Mauerreste zu umhegen, zu ergänzen, bleiben unzulänglich. Eine unsensible Senatsregierung hat den Checkpoint Charlie plattgemacht. Eine Versuchung, die Spaltung nachträglich durch

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Uwe Lehmann-Brauns

Äquidistanz zu relativieren, ist nicht zu übersehen. Der auch gefühlten Hauptstadt werden noch immer Ministerien vorenthalten, auch das ist Nachwende. Immerhin, Berlin ist wieder da, kreativ und attraktiv und neugierig – auch auf Ihre Tagung. Ich wünsche ihr viel Erfolg.

Vor dem Bau der Mauer und nach dem Fall der Mauer Von Eckhard Jesse 1. Vor dem 13. August 1961, nach dem 9. November 1989 Wir sind auf die „Mauerzeit“1 fixiert. Vor dem 13. August 1961 gab es noch keine Mauer, nach dem 9. November 1989 keine Mauer mehr.2 Aber trotzdem ist die Lage in Deutschland grundsätzlich anders – bei einem Vergleich zwischen der Zeit von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zum Mauerbau und der doppelt so langen Zeit vom Fall bis heute. In der ersten Phase war Deutschland geteilt, in der zweiten ist es geeint. Das ist nur die eine Seite. Denn in der Zeit, als Deutschland ohne Mauer geteilt war, blieb es in vieler Hinsicht geeint. Und in der Zeit, in der es nun geeint ist, gibt es – auch – die berühmte Mauer in den Köpfen. Vor dem 13. August 1961 konnte sich kaum jemand vorstellen, eine Mauer werde eines Tages mitten durch Berlin gezogen, den Ostteil vom Westteil trennend. Und vor dem 9. November 1989 reichte die Phantasie nicht aus, um den Gedanken ins Auge zu fassen, die Mauer werde eines Tages so schnell verschwinden, wie sie gebaut worden ist. Gegenüber der normativen Kraft des Faktischen blieben andere Überlegungen auf der Strecke. Die Mauer (ihr Bau wie der Fall) ist fest in der Erinnerungskultur Deutschlands verankert. Wer den 13. August 1961 erlebt hat, weiß auch noch 50 Jahre später, wo er sich aufhielt, als er von diesem Vorgang, der eine kriegerische Situation provozieren konnte, erfahren hatte. Und erst recht wird niemand den 9. November 1989 vergessen. Allerdings wusste an diesem Tag noch keiner, dass Deutschland keine elf Monate später rechtlich vereint sein würde. Die Zeit der „Republikflüchtlinge“ und der Wachtürme – sie ist vorbei.

1  Vgl. Jürgen Kleindienst (Hrsg.), Mauerjahre. Als fliehen tödlich sein konnte. 1961–1989, Berlin 2011. 2  Dies ist symbolisch gemeint. Denn der „Bau der Mauer“ im wahrsten Sinne des Wortes begann erst einige Tage nach dem 13. August 1961, und der „Fall der Mauer“ am 9. November ließ diese noch viele Wochen stehen.

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„Für die DDR ist die Zäsur des Jahres 1961 überdeutlich.“3 Dieses Urteil Werner Müllers ist communis opinio. Schließlich wurde die DDR dadurch vor dem „Ausbluten“ bewahrt. Etwa 2,5 Millionen Menschen hatten bis zum 13. August die DDR verlassen, die „Abstimmung mit den Füßen“ gewählt. Der Mauerbau, ein Armutszeugnis für einen Staat, offenbarte damit eine gravierende Schwäche der DDR, doch zugleich bedeutet diese eine Stärke für sie. Denn so mussten sich ihre Bürger mit dem System arrangieren: Das „Schlupfloch“ Berlin (West) war versperrt, der „antifaschistische Schutzwall“, die euphemistische Selbstbezeichnung, „die existentielle Grundlage der DDR“4. Aber der Mauerbau wirkte sich auch, wenngleich nicht annähernd so stark wie auf die DDR, auf die Bundesrepublik Deutschland aus. Diese konnte nicht mehr auf gut ausgebildete Arbeitskräfte aus dem Osten zurückgreifen5, musste sich nun verstärkt um „Gastarbeiter“ bemühen. Und durch den Mauerbau setzte in der Bundesrepublik verstärkt eine Hinwendung zum Westen ein – schon allein dadurch, dass Besuche in die DDR nicht mehr so leicht möglich waren und Besuche aus der DDR kaum mehr. Ebenso deutlich, wenn nicht noch deutlicher, ist der Einschnitt des Jahres 1989 mit der friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer. Was sich in der DDR binnen weniger Monate abspielte – bedingt durch die Flucht- und die Demonstrationsbewegung –, ist von fundamentaler Bedeutung. Am 31. August 1989, als die Flüchtlingswelle über Ungarn die DDR zu destabilisieren drohte, fragte Erich Mielke, der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, einen Obersten ahnungsvoll und bänglich zugleich: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“6 Die Freiheitsrevolution ging binnen kurzem – nach dem Fall der Mauer – in eine Einheitsrevolution über. Die DDR verschwand. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland blieb nicht ohne Folgen für den westdeutschen Staat. Deutschland wurde größer (in mannigfacher Hinsicht), und die untergegangene DDR wirkte in vielfacher Hinsicht auf das deutsche Gemeinwesen ein. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich gewandelt, freilich nicht im Sinne einer „Verostung“ bzw. einer „Ossi3  Werner Müller, Doppelte Zeitgeschichte. Periodisierungsprobleme der Geschichte von Bundesrepublik und DDR, in: Deutschland Archiv 29 (1996), S. 557. 4  In diesem Sinne Armin Mitter / Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 366. 5  Entgegen einer Legende waren DDR-Flüchtlinge angesichts ökonomischer Schwierigkeiten anfangs nicht sonderlich willkommen. Vgl. Patrick von zur Mühlen, „Der friedliebende Staat aller Werktätigen“. Vom Aufstieg und Untergang der SEDDiktatur, Berlin 2011, S. 134. 6  Zitiert nach Armin Mitter  / Stefan Wolle (Hrsg.), „Ich liebe euch doch alle!“ Befehle und Lageberichte des MfS Januar–November 1989, Berlin 1990, S. 12.



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fizierung“. Ob es sich bei dem deutschen Staat mehr als 20 Jahre nach der deutschen Einheit um eine „erweiterte“ oder um eine „neue“ Bundesrepublik Deutschland handelt, ist eine Frage, die die Gemüter bewegt und die unterschiedliche Antworten hervorruft.7 Mauerbau und Mauerfall müssen eng zusammengesehen werden. Leider kommt dieser Gesichtspunkt vielfach zu kurz.8 Denn Folgen des Mauerbaus sind in gewisser Weise Ursachen des Mauerfalls. Die unfriedliche Abriegelung 1961 bildete in gewisser Weise die Voraussetzung für die friedliche „Entriegelung“ 1989. Und das Ende der Mauer in der Realität trug zur Aufwertung der schnöden Vergangenheit hinter der Mauer bei. Bisher war noch gar nicht von der Situation 1961 und 1989 in Berlin die Rede, dem Brennpunkt des Geschehens „Die Trennung der Familien und der Verlust des Umlandes schufen vor allem bei der West-Berliner Bevölkerung eine Mischung aus Angst, Wut und Bitterkeit und brachten jenes eigentümliche Inselbewusstsein hervor, das teilweise selbst noch den Fall der Mauer überlebte.“9 Und nach 1989 gab es nach anfänglicher Euphorie erneut Angst, Wut und Bitterkeit – viele West-Berliner fühlten sich zurückgesetzt, fühlten sich gegenüber „dem Osten“ benachteiligt und trauerten der „Berlin-Zulage“ nach. Mittlerweile ist Berlin jedoch „eine“ Stadt – die Polarisierung gehört weithin der Vergangenheit an. Kenntnis vom anderen baut Vorurteile ab. 50 Jahre nach dem Bau ist eine Vielzahl an einschlägigen Titeln auf den Büchermarkt niedergeprasselt: eine Reihe wichtiger Monographien, mehr zur außenpolitischen Dimension10, weniger zur innenpolitischen; eine Fülle wissenschaftlicher Sammelbände11; eine kaum überschaubare Zahl an einführenden Darstellungen12; eine Menge an Zeitzeugenberichten.13 Die Viel7  Vgl. Heike Tuchscheerer, 20 Jahre vereinigtes Deutschland: eine „neue“ oder „erweiterte Bundesrepublik“?, Baden-Baden 2010. 8  Vgl. Hans-Hermann Hertle  / Konrad H. Jarausch / Christoph Kleßmann (Hrsg.), Mauerbau und Mauerfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen, Berlin 2002. 9  Dies., Die fatale Stabilisierung. Einleitung, in: ebd., S. 11. Siehe auch Peter Schneider, Die Bequemlichkeit der Insulaner, in: Cicero, Heft 8 / 2011, S. 94–98. 10  Vgl. Frederick Kempe, Berlin 1961. Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt, München 2011; Hope M. Harrison, Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach, München 2011; Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte, Berlin 2011. 11  An der Spitze steht der Sammelband von Klaus-Dietmar Henke, Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011. 12  Vgl. u. a. Jens Schöne, Ende einer Utopie. Der Mauerbau in Berlin 1961, Berlin 2011. 13  Vgl. u. a. Burkhard Veigel, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, Berlin 2011.

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zahl der Beiträge darf nicht verwundern. Die Mauer hatte 1961 zwei politische Weltsysteme geteilt. Sie betraf schließlich nicht nur Deutschland. Der Kalte Krieg grassierte. Seinerzeit war nicht absehbar, dass ein halbes Jahrhundert später eine deutsche Zeitung in der freien Welt die Mauer rechtfertigt – ohne Wenn und Aber. Die „junge welt“ ließ es sich am 13. August 2011, auf den Tag 50 Jahre nach dem „antifaschistischen Schutzwall“, nicht nehmen, mit einer Schlagzeile aufwarten, die keineswegs satirischer Natur war, obwohl dies auf den ersten Moment so aussehen konnte: Wir sagen an dieser Stelle einfach mal: DANKE für 28 Jahre Friedenssicherung in Europa für 28 Jahre ohne Beteiligung deutscher Soldaten an Kriegseinsätzen für 28 Jahre ohne Hartz IV und Erwerbslosigkeit für 28 Jahre ohne Obdachlosigkeit, Suppenküchen und „Tafeln“ für 28 Jahre Versorgung mit Krippen- und Kindergartenplätzen für 28 Jahre ohne Neonaziplakate „GAS geben“ in der deutschen Hauptstadt für 28 Jahre Geschichtswissenschaft statt Guidoknoppgeschichten für 28 Jahre Club Cola und FKK für 28 Jahre ohne Hedgefonds und Private-Equity-Heuschrecken für 28 Jahre ohne Praxisgebühr und Zwei-Klassen-Medizin für 28 Jahre Hohenschönhausen ohne Hubertus Knabe für 28 Jahre munteren Sex ohne „Feuchtgebiete“ und Bild-Fachwissen für 28 Jahre Bildung für alle14

– solche plumpen Parolen sind starker Tobak. Zum einen gibt es nach wie vor Ostalgie, zum andern ist diese Position weithin isoliert. Eine offene Gesellschaft verkraftet solche abwegigen Positionen. In diesem Band finden sie sich nicht. 2. Spektrum der Beiträge Der Band geht auf die 33. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung zurück. Sie fand mit freundlicher Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung am 14. / 15. März 2011 in Berlin statt und stand – nicht verwunderlich nach der 50. Wiederkehr des Mauerbaus – unter dem Thema: „Eine Mauer für den SED-Staat – Berlin 1961 und die Folgen“. Gleichwohl wäre ein Buch über „Eine Mauer für den SED-Staat“ nicht sinnvoll, würde nicht zugleich auch ein Teil der Beiträge auf den „Mauer14  junge

Welt v. 13. August 2011, S. 1.



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Fall gegen den SED-Staat“ eingehen. Denn der Bau der Mauer und ihr Fall gehören, wie eingangs erwähnt, eng zusammen. „Der Weg zur Mauer“ beginnt für Manfred Wilke 1945. Von Anfang an setzte die sowjetische Besatzungsmacht, später die DDR-Führung, auf eine Spaltung Deutschlands (obgleich sie eine Wiedervereinigung öffentlich propagierte). Die Mauer ist zum Symbol des gewalttätigen SED-Regimes geworden. Ein Grund für die Abriegelung war die ökonomische Misere und die damit verbundene Abwanderung Richtung Westen, die auch Ulbrichts „Überholkonzept“ nicht bessern konnte. Moskau versuchte in ultimativer Form, die Position der DDR zu stärken – vergeblich deshalb, weil die Sicherung des sowjetischen Machtbereichs offenkundiges Ziel war. Mit dem Mauerbau nahm Ulbricht das Heft in die Hand, nachdem auf dem Wiener Gipfel im Juni 1961 in den Gegenpositionen von Kennedy und Chruschtschow keine Lösung der Berlin-Frage zu erwarten war (sowjetische Panzer sicherten Ulbrichts Handeln). Aus dem Stacheldraht-Provisorium wurde schnell eine Betonmauer. Konrad Adenauer und Willy Brandt hielten auf je eigene Weise an der deutschen Einheit fest, während die DDR auf die „Zweistaatlichkeit“ setzte. Alexei Filitov wendet sich gegen die Meinung, Walter Ulbricht habe sich beim Bau der Mauer gegen einen widerstrebenden Nikita Chruschtschow durchgesetzt. Chruschtschow und Ulbricht einigten sich am 1. August 1961 auf die Abriegelung zwischen dem Osten und dem Westen Berlins. Vom 3. bis 5. August trafen sich die Vertreter aller Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes erneut in Moskau, aber die Entscheidung in der Frage des Mauerbaus war bereits gefallen. Chruschtschow hatte bereits 1958 eine Abriegelung in Berlin ins Auge gefasst; sie war somit in gewisser Weise zwangsläufig. Gleichwohl gab es einen Konflikt zwischen Chruschtschow und Ulbricht. War ein „Friedensvertrag“ für Chruschtschow vor allem Propaganda, so bedeutete dieser für die SED-Führung eine Aufwertung der DDR. Doch ein Friedensvertrag kam nicht zustande. Die Sowjetunion hatte an dieser „Souveränität“ der DDR kein gesteigertes Interesse. Erst die massive innere Umwälzung in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow Ende der achtziger Jahre machte den Weg für die Einheit Deutschlands unter demokratischen Vorzeichen frei. Die Haltung der Westmächte in der Deutschlandfrage gegenüber der Sowjetunion analysiert Rolf Steininger. War das Berlin-Ultimatum von 1958, über dessen Absichten Unklarheit herrschte, für die Westmächte unannehmbar (ein Nachgeben wird als Schwäche interpretiert), so respektierte der Westen den Mauerbau, weil dieser nicht dessen elementare Rechte einschränkte. Die Interessengegensätze gegenüber der Bundesrepublik wurden deutlicher. Die amerikanische und vor allem die britische Politik waren nicht sonderlich an der Wiedervereinigung interessiert, wie interne Doku-

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mente klar zeigen. Die Westmächte wollten Konrad Adenauer, dessen Hoffnungen auf scharfe Reaktionen durch diese sich als unrealistisch erwiesen, von seiner als unrealistisch angesehenen Wiedervereinigungspolitik abbringen. Intern sprachen sie sogar abfällig über den deutschen Bündnispartner. Der Frieden sollte um jeden Preis gesichert bleiben. Wegen Berlin durfte es keinen Krieg geben. So war der Mauerbau beides: Höhepunkt und Ende der Berlin-Krise. Gerhard Wettig zeichnet die Strategie der Sowjetunion zwischen 1958 und 1962 gegenüber dem Westen in der Deutschlandpolitik nach. Der Versuch, mit Hilfe des „Berlin-Ultimatums“ die Westmächte aus Berlin zu vertreiben, gelang nicht. Der Bau der Mauer wurde schließlich angesichts der „Abstimmung mit den Füßen“ unvermeidlich. Chruschtschow, von der Überlegenheit des Kommunismus überzeugt, hatte eine solche drastische Maßnahme im Grunde nicht gewollt. Seine Hoffnung, die Bonner Politik sehe sich aus wirtschaftlichen Gründen veranlasst, stärker die Interessen der Sowjetunion zu berücksichtigen, ging nicht in Erfüllung, auch nicht seine Strategie mit der vorgesehenen Stationierung von Nuklearraketen auf Kuba 1962. Das Vier-Mächte-Abkommen 1971 stabilisierte die Sicherheit von Berlin (West). Der ökonomische Rückstand des Ostens gegenüber dem Westen wurde immer größer, die Wiedervereinigung Deutschlands damit wahrscheinlicher. Positionen und politische Verquickungen der regierenden CDU und der oppositionellen CDU während der zweiten Berlin-Krise analysiert Peter März. Die politische Kultur der „alten“ Bundesrepublik sieht der Autor als zunächst von einer CDU-Hegemonie geprägt an, innerhalb derer die Kirchen ungleiche Haltungen einnahmen. Die SPD schwenkte mit ihren – gegensätzlichen – Führungspersonen Willy Brandt und Herbert Wehner auf atlantische Thesen ein und wurde damit allmählich „regierungstauglich“. Die Unionsparteien waren hingegen geschwächt durch vielfältige Faktoren: Adenauers schlechteren Draht nach Washington, sein unglückliches Agieren nach dem Mauerbau und die „gestutzte“ Position nach der selbst vereitelten Präsidentschaftskandidatur 1959. Am Ende der Regierungszeit von Kanzler Adenauer gerieten die Fronten zur Berlin-Frage in Bewegung. Ohne den Mauerbau, so März, wäre Willy Brandt womöglich nicht zur „nationalen Figur“ Deutschlands aufgestiegen. Ziel des Beitrags von Anita Krätzner ist es, die Reaktionen an den ostund westdeutschen Universitäten mit Blick auf den Mauerbau vorzustellen. Dabei werden die unterschiedlichen Grade und Formen des Protestes untersucht. Im Osten waren die Studenten durch den „Kampfauftrag“, der eine schleichende Einführung der Wehrpflicht bedeutete, mehr oder weniger gezwungen, sich zu einem Eintritt in die NVA zu verpflichten. Dagegen



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richtete sich in Ost- und vor allem in Westdeutschland starker Protest. In der DDR verweigerten Studenten ihre Zustimmung zum „Kampfauftrag“ und initiierten einige Aktionen, in denen sie ihren Unmut zum Ausdruck brachten. In der Bundesrepublik versandten Studenten Protestnoten an die ostdeutschen Universitäten und äußerten ihren Zorn in öffentlichen Erklärungen und Zeitungen. Das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen reagierte empört auf die Aktionen des Westens und versuchte mit gesteuerten Gegenmaßnahmen die Zustimmung der DDR-Studenten zu den Maßnahmen zu beweisen. Kerstin Dietzel und Sascha Möbius widmen sich der Frage, welche Rolle das Grenzregime der DDR im Leben von Menschen spielte, die wegen Republikflucht oder der versuchten legalen Ausreise in politischer Haft waren. Die stereotypen Vorwürfe an die Flüchtlinge, sie hätten doch gewusst, worauf sie sich einließen, sind unbegründet. Insbesondere wird danach gefragt, welche Kenntnisse die politischen Häftlinge, die ein selbstbestimmtes Leben anstrebten, vom Grenzregime und von der Haft beim Ministerium für Staatssicherheit vor ihrer Verhaftung hatten. Die Befragungen ehemals politischer Inhaftierter zwischen 1951 und 1989 ergeben ein klares Bild: Die aus der SED-Diktatur resultierenden Repressalien im Alltag waren vielen Zeitzeugen zwar gut bekannt. Sie galten häufig als Grund für das Verlassen der DDR. Dieser genauen Kenntnis und Reflexion über die „Grenze im Alltag“ stand bei den meisten Zeitzeugen aber eine Unkenntnis des Grenzregimes und vor allem der traumatisierenden Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber. Welche Bedeutung hat die Gedenkstätte „Berliner Mauer“ in der deutschen Erinnerungskultur – das ist die Leitfrage der zweiten Abhandlung von Manfred Wilke. Sie zeichnet den langen Weg zu ihrer Errichtung in Berlin nach, hinterfragt auch ihre Zuordnung in den Gedenkstättenkonzepten des Bundes seit 1998, die unter dem Paradigma des Diktaturenvergleichs standen. Angefangen bei der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Überwindung der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ weisen die Gedenkstättenkonzeptionen eine bemerkenswerte Lücke auf: eine konzeptionelle Behandlung von „Teilung und Grenze“ in Deutschland nach 1945 fehlt. Dieses Problem mussten die Planer der Gedenkstätte „Berliner Mauer“ in der Bernauer Straße lösen; in ihr geht es zentral um die Teilung der Stadt und die Grenze durch Deutschland. Das Berliner Stiftungsgesetz von 2008 für diese Gedenkstätte bestimmt die Behandlung der Teilung als ihre zentrale Aufgabe. Mario Niemann analysiert, hauptsächlich auf der Grundlage ungedruckter und gedruckter SED-Quellen, die Grundlagen und Prinzipien der SEDKaderpolitik im Zeitraum zwischen Anfang der sechziger und Ende der

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achtziger Jahre. Die starke Fluktuation unter den Kadern auf verschiedenen Parteiebenen konnte erst nach dem Mauerbau beendet werden. In diese Zeit fallen verstärkte Bemühungen um eine umfassende politische und fachliche Qualifizierung der Funktionäre, die, gemessen an formalen Kriterien, nicht ohne Erfolg geblieben sind. Eine angemessene Präsenz von Frauen in den mittleren Parteileitungen oder gar der Parteiführung vermochte hingegen zu keinem Zeitpunkt erreicht zu werden. In den achtziger Jahren war die Kaderpolitik der SED weithin von Stagnation gekennzeichnet. Die personellen Revirements in den Kreis- und Bezirksleitungen im Herbst 1989 konnten den Niedergang der SED nicht aufhalten. Dabei wurde auch das Scheitern der jahrzehntelang mit großem Aufwand betriebenen Kaderpolitik sichtbar. Der Mauerbau löste nach Hans-Georg Wieck schwere Verstimmungen zwischen Bonn und den drei Westmächten aus. Ihnen wurde der Verzicht auf angemessene Gegenmaßnahmen vorgeworfen. Zunächst setzte Moskau den Provokationskurs gegenüber dem Westen fort, wie sich am Beispiel der Kuba-Krise 1962 zeigte, doch nach dem Sturz Chruschtschows 1964 ließ die sowjetische Drohpolitik allmählich nach. Durch die Politik Gorbatschows traten tektonische Verschiebungen auf, die schließlich zum sogenannten „Wunder von der Spree“ geführt haben. Zu den vielfältigen Ursachen für diese Wende der geostrategischen Lage Europas gehören auch der Reformprozess in der Volksrepublik China. Die sowjetische Führung hatte die Einsicht gewonnen, ein Nuklearkrieg sei nicht zu gewinnen. Da sich die finanzielle Lage der Sowjetunion zur Zeit der Reformen weiter verschlechtert hatte, ließ die „Supermacht“ ihren Satrapen fallen und strebte stabile Beziehungen zu den USA an, um das antisowjetische Bündnis USA / China aufzubrechen. Mit Blick auf den Fall der Mauer im Herbst 1989 geht Hans-Hermann Hertle der Frage nach, unter welchen Bedingungen sich aus latenten Krisenfaktoren politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und kultureller Natur eine Krise des Regimes entwickelt und strukturelle Krisenerscheinungen in Handlungsbereitschaft und einen Mobilisierungsprozess umschlagen, der in revolutionären Umwälzungen mündet. Der Fall der Mauer entstand unter dem doppelten Druck von Massenausreise und Massenprotest aus einer Koinzidenz von unkoordinierten Entscheidungen der SED-Führung, falschen Situationsdefinitionen der West-Medien, spontanen Entschlüssen von Fernsehzuschauern und Radiohörern sowie ad-hoc-Maßnahmen der Grenzsicherungsorgane, mithin kontingenten Handlungssituationen. Bundesdeutsche Medien interpretierten die Bekanntgabe einer neuen Reiseregelung durch Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 fälschlicherweise als sofortige Grenzöffnung – eine Fiktion, die erst dadurch zur Realität wurde.



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Der Fall der Mauer ist in dieser Sicht das erste welthistorische Ereignis, das als Folge der vorauseilenden Verkündung durch Fernsehen und Hörfunk eintrat. Den wirtschaftlichen Flurschäden durch den Mauerbau spürt Karl-Heinz Paqué nach. Die Abschottung des planwirtschaftlichen Ostens vom marktwirtschaftlichen Westen hat tiefe Wunden geschlagen, die nicht so schnell verheilen. Die DDR-Wirtschaft zwischen 1961 und 1989 ließ es an Innovationskraft missen. Der Mauerbau verschaffte ihr nur eine Atempause, konnte die Politik die Probleme der Planwirtschaft doch nicht bewältigen. Die anhaltenden strukturellen Schwächen der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wiedervereinigung – trotz deutlicher Fortschritte, etwa im Vergleich zu anderen damaligen Staaten des „realen Sozialismus“ –, gehen weniger auf Fehler in den letzten 20 Jahren zurück, sondern auf grundlegende Defizite in den ersten 40 Jahren zuvor. Heute ist Innovationsförderung notwendig, Anwerbung von Investoren und Stärkung des industriellen Mittelstandes. Es wird noch lange dauern, ehe die Wanderung vom Osten Deutschlands in den Westen zum Stillstand kommt. Mauern dienten von jeher als sichtbare Grenzen eines Herrschaftsbereiches. Nur innerhalb von umfriedeten Räumen bestand Freiheit und Rechtssicherheit. Sebastian Liebold zeichnet Funktionen von Mauern in der deutschen Geschichte nach: das Entstehen politischer, wirtschaftlicher und kultureller Zentren in ihrem Innern, ebenso das unveränderliche Differenzgefühl zwischen Bewohnern „diesseits“ und „jenseits“ solcher steinernen Trenn­ linien. Manche Grenze, die in der Erinnerungskultur vermeintlich Schatten wirft, ist bloßes Konstrukt. Die Mauer als Landgrenze ist ein singuläres Phänomen der Moderne: Während Stadtmauern und Zollschranken beseitigt wurden, errichteten Taktiker die „Maginot-Linie“ und den „Westwall“. Die Mauer von 1961 stellt eine Perversion des Umfriedungsgedankens dar, mit ihr kulminierte eine grausame technisierte Abriegelung nach innen. An der Westgrenze der DDR und an der Ostgrenze der Bundesrepublik entwickelte sich „die“ Grenze – mental wie naturräumlich – zum finis terrae. Deutschland ist in Freiheit geeint, doch der Blick auf Mauern in anderen Erdgegenden ernüchtert. Gewiss, mit diesen Beiträgen ist lediglich ein Teil, wenn auch ein wesentlicher, der einschlägigen Themen zur Sprache gekommen. Es war die Absicht, innen- und außenpolitische Aspekte des Mauerbaus gleichermaßen zu berücksichtigen. Zudem sollte die beliebte Fixierung auf das Jahr 1961, für die DDR in der Tat ein „Schlüsseljahr“, vermieden werden. Die monströse Mauer ist Geschichte, aber sie wirkt nach. Das Literaturverzeichnis, das nur (und vor allem: neue) Bücher aufführt, bietet die Möglichkeit zur Vertiefung dieser oder jener Frage.

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Eckhard Jesse

Mein Dank gilt nicht nur den Autoren, sondern auch Niels Dehmel, M.A., Lutz Haarmann, M.A., Dr. Peter März, Prof. Dr. Tilman Mayer, Prof. Dr. Werner Müller, Dajana Richter und Prof. Dr. Manfred Wilke für vielfältige Unterstützung. Die erneut gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Verlag ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit.

Der Weg zur Mauer Von Manfred Wilke 1. Das geteilte Berlin und die Berliner Mauer Der Weg zur Berliner Mauer begann 1945.1 Nach der totalen Niederlage in Hitlers Krieg verlor Deutschland seine Souveränität, und die vier Siegermächte übernahmen die oberste Regierungsgewalt. Das von der nationalsozialistischen Diktatur befreite und besetzte Land wurde in vier Besatzungszonen eingeteilt. Berlin wurde als Sitz des Alliierten Kontrollrates aus dieser Zoneneinteilung herausgenommen und sollte von den Vier Mächten gemeinsam verwaltet werden. Die alliierte Kriegskoalition zerbrach endgültig 1947 / 48 und die Demarkationslinie zwischen der sowjetischen Besatzungszone und denen der Westmächte wurde zur Grenze zwischen dem sowjetischen Imperium und den westlichen Demokratien. Deutschland und Berlin wurden gespalten. Die innerdeutsche Grenze, die auf Befehl von Stalin 1952 auf einer Länge von knapp 1400 km von der DDR abgeriegelt wurde, war die Frontlinie im Kalten Krieg in Europa. Die beiden Berlin-Krisen 1948 / 49 und 1958–1962 gehören zu seinen europäischen Höhepunkten. Das Fundament der Berliner Mauer entstand 1948, als die Kommunisten die einheitliche Berliner Verwaltung spalteten und die Westmächte die DM in den Westsektoren einführten. Danach gab es in Berlin zwei Stadtverwaltungen und Währungen. Trotz der politischen und ökonomischen Spaltung der Stadt blieb die Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin auch noch nach der Schließung der innerdeutschen Grenze durch die DDR weiterhin offen. Berlin wurde zum Tor nach Westen für viele Deutsche aus der DDR; bis zum Mauerbau 1961 flohen 2,9 Millionen Menschen vor dem „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR. Das Bauwerk, das Ost- von West-Berlin trennte, war 44 km lang, 112 km lange Sperranlagen riegelten die Teilstadt von ihrem Umland ab. WestBerlin wurde zur Insel der Freiheit mitten in der DDR. Die Bezeichnung Mauer für das Bauwerk ist begrifflich irreführend und verharmlost ihren Charakter. Sie war eine militärisch gesicherte Grenzbefestigung, die von 1  Dieser Text basiert auf dem in Louisville gehaltenen Vortrag bei der Jahres­ tagung der German Studies Association im September 2011.

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zwei Mauern eingegrenzt war.2 Als Bildikone wurde nur ihre westliche Außenseite millionenfach weltweit verbreitet. Der eigentliche Grenzwall, die „Hinterlandmauer“, die den Ostberlinern den Weg nach Westen versperrte, blieb im Dunkeln – sie durfte nicht fotografiert werden. Aus dem Stadtbild Berlins ist dieses Bauwerk weitgehend verschwunden, nach 1990 wurde es schnell beseitigt. Bis heute ist es aber das weltweit wahrgenommene zentrale Symbol der deutschen Teilung und ihrer Überwindung in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 geblieben. Die Deutschen verbinden mit dieser Mauer sehr gegensätzliche Gefühle: die Ohnmacht, diesen Gewaltakt des SED-Regimes gegen das eigene Volk hinnehmen zu müssen, den Zorn über das persönliche Leid ungezählter getrennter Familien in Berlin, die Trauer über die Toten, die an ihr gestorben sind, den Schmerz über die Teilung Deutschlands und an ihrem Ende 1989 die Freude über ihren Fall. Vom 13. August 1961 an war diese „Grenzbefestigung“ 28 Jahre lang das augenfällige Zeugnis für die Realität der Teilung der Stadt, des Landes und Europas. Die Mauer war nicht nur eine innerdeutsche Grenze, sondern auch eine Außengrenze des sowjetischen Imperiums, ihr Fall sollte sein Ende und das der Sowjetunion beschleunigen. Die Nacht vom 9. zum 10. November 1989 als Augenblick der Befreiung veränderte die symbolische Bedeutung des nun zerfallenden Bauwerks. Die weltweit verbreiteten Bilder der Freude über die Öffnung der Mauer 1989 – der Befreiung durch ein Volksfest der Berliner – haften im kollektiven Gedächtnis der Welt. Die Mauer symbolisierte nun das Ende des Kalten Krieges und den Untergang des sowjetischen Kommunismus. Ihr Fall leitete das Ende des SED-Staates und der 44 jährigen deutschen Teilungsgeschichte ein. Damit verkehrte sich ihre Symbolik für die Deutschen grundlegend. Ihr Fall überstrahlte nun die dunkle Seite der Geschichte der Stadt und symbolisierte nun ihre Wiedervereinigung, die Deutschlands und Europas. Die Bilder der Freude von 1989 standen im krassen Kontrast zu den erschütternden Szenen der Realität dieser Grenzbefestigung, die ebenfalls um die Welt gegangen waren. Unvergessen sind die Fotos vom öffentlichen Sterben Peter Fechters 1962 an dieser tödlichen Grenze. Sieht man nur auf das Ende der Mauer, überstrahlt heute die Symbolik der Befreiung jene der Repression, des Schreckens, die die Wahrnehmung einer ganzen Generation beherrscht hatte. Historisch bleibt ihre symbolische Bedeutung ambivalent. Sie ist untrennbar verbunden mit zwei Zäsuren in der deutschen und europäischen Politik: 1961 befestigte der Mauerbau weltpolitisch den Status Quo der deutschen Zweistaatlichkeit und trug so zur „Entspannungspolitik“ 2  Vgl. Jochen Maurer, Dienst an der Mauer. Der Alltag der Grenztruppen rund um Berlin, Berlin 2011.



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zwischen Ost und West bei. 1989 dagegen bedeutete ihr Fall das Ende der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands. 2. Der Auftakt der Krise 1958 und das sowjetische Ultimatum Der öffentliche Auftakt der Berlin-Krise fand im Juli 1958 auf dem V. Parteitag der SED in Ost-Berlin statt. Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED, war damals der unbestrittene Herrscher über seine Partei und ihren Staat. Er und der sowjetische Partei- und Staatschef Nikita S. Chruschtschow propagierten hier offen ihre politischen Ziele zur Veränderung der Lage in Berlin.3 Ulbricht griff erneut den sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrags mit und über Deutschland von 1952 auf („Stalin-Note“). Er betonte, der sozialistische Kernstaat DDR werde aus historischen und völkerrechtlichen Gründen eine aktive Rolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands spielen, in dem er den Systemwettbewerb zu Gunsten des Sozialismus entscheiden werde. Die politische Konsequenz hieß: Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik müssten sich ändern, und die DDR könne mit „friedlichen Mitteln“ dafür sorgen. Die SED beanspruchte somit ein Interventionsrecht gegenüber der Bundesrepublik. In Deutschland gebe es keine friedliche Koexistenz zwischen DDR und Bundesrepublik, die DDR sei „der rechtmäßige souveräne deutsche Staat“.4 Somit setze eine Politik der Wiedervereinigung der SED die Beseitigung des „deutschen Imperialismus“ in der Bundesrepublik voraus. Um dieses Ziel zu erreichen, bedurfte es der inneren Festigung und der internationalen Anerkennung der DDR – als wichtige Beiträge zum europäischen Frieden. Ulbricht entwickelte auch die „ökonomische Hauptaufgabe“ für die DDR, die im engen Zusammenhang mit dem geforderten Friedensvertrag stand. Rhetorisch orientierte er sich an der Kampagne der chinesischen Kommunisten, die zeitgleich mit einem „großen Sprung nach vorn“, nur gestützt auf die mobilisierten „Volksmassen“ und ohne die notwendigen Stahlwerke, Großbritannien in der Stahlproduktion überholen wollten.5 3  Ulbricht hatte seinen Staatsgast Chruschtschow vom Flughafen abgeholt und damals kursierte ein Witz in der DDR: Als beide durch ein Spalier jubelnder Menschen fuhren, fragte der Gast aus Moskau erstaunt: „Genosse Ulbricht, wie haben sie das organisiert?“ Ulbricht antwortete: „Ganz einfach Genosse Chruschtschow, ich habe ein Schild an unserem Wagen anbringen lassen, wir hauen ab!“ Auf die Erfüllung dieses Wunsches mussten die die Deutschen noch Jahrzehnte warten. 4  Protokoll des V. Parteitags der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 10.–16. Juli 1958 in Berlin, 2 Bände, Berlin (Ost) 1959, Bd. 2, S. 1347. 5  Vgl. Jean-Louis Margoline, China: Ein Langer Marsch in die Nacht, in: Stephane Courtois u. a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998, S. 539–557.

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Ulbricht sagte auf diesem Parteitag: „Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, daß die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft. (Lebhafter Beifall)“6 Das Überholkonzept war Ausdruck der Hoffnung, dass die Systemfragen in Deutschland zu Gunsten des Sozialismus entschieden werden könnten. Aber das Vorhaben war unrealistisch, die ökonomische Basis der DDR war für diese Ambition viel zu schmal. Die SED-Führung wusste das, hoffte aber auf sowjetische Hilfe und darauf, dass die Wirtschaft der Bundesrepublik auf eine Krise zusteuerte – aber das Gegenteil trat ein. Der Arbeitskräftemangel in der Hochkonjunktur der Bundesrepublik übte eine magnetische Anziehungskraft auf gut ausgebildete Fachkräfte aus der DDR aus und verstärkte die Flüchtlingszahlen. An der „Festigung“ der DDR wurde die SED nicht zuletzt durch die Existenz West-Berlins gehindert. Ulbricht unterstrich diesen Zusammenhang in der Sprache der kommunistischen Propaganda: „Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist Berlin. Ein Teil der Hauptstadt, Westberlin, wird gegenwärtig noch als Stützpunkt des kalten Krieges, der Spionage und Sabotage gegen die DDR und die anderen Länder des sozialistischen Lagers mißbraucht. Die Aufgabe ist, diesen unnatürlichen, auch gegen die Interessen der Einwohner Westberlins herbeigeführten Zustand zu ändern, die Verhältnisse in Berlin zu normalisieren und die ganze Stadt zur Stadt des Friedens und des Fortschritts zu machen. In Berlin ist ein entschiedener Kampf zu führen gegen die amerikanische Lebensweise und Dekadenz, die in bestimmten Kreisen Westberlins Platz gegriffen haben.“7 Diese Forderung, die Verhältnisse in West-Berlin grundlegend zu verändern, bildete auch den Kern des sowjetischen Berlin-Ultimatums vom November 1958. Chruschtschow hatte seine Kernforderungen bereits auf dem SED-Parteitag vorformuliert. Er forderte einen Friedensvertrag mit Deutschland. West-Berlin sollte in eine „Freie Stadt“ umgewandelt werden. Er 6  Walter Ulbricht, Über den Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat, Referat auf dem V. Parteitag der SED, in: Walter Ulbricht, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 7, Berlin (Ost) 1964, S. 319. 7  Walter Ulbricht, „Der Sozialismus siegt“! Schlusswort, in: Protokoll des V. Parteitags der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 10.–16. Juli 1958 in Berlin, 2 Bände, Berlin (Ost) 1959, Bd. 2, S. 1348.



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sprach von der Stärke des sozialistischen Lagers und stellte sich demonstrativ hinter die Deutschlandpolitik der SED. Die Frage der Wiedervereinigung sei eine innere Angelegenheit der Deutschen. Schuld an der entstandenen Lage sei die Politik der Westintegration der Bundesrepublik, sie habe eine „Mauer“ in Deutschland entstehen lassen. „Niemand kann leugnen, daß der Eintritt Westdeutschlands in die NATO, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Beschluß über die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atom- und Raketenwaffen die internationalen Beziehungen und insbesondere die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten noch weiter verschärft haben. Die Bonner Regierung selbst errichtet somit Stein für Stein die Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands.“8 Das Wort Mauer im Zusammenhang mit der deutschen Teilung war ausgesprochen. Chruschtschow trug aus seiner Perspektive ein in sich stimmiges Bild der Teilung Deutschlands vor, in dem allerdings die Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht zur Etablierung der SED-Diktatur fehlten. Massiv griff Chruschtschow die Wiedervereinigungsforderung der Bundesregierung auf der Grundlage freier Wahlen in beiden deutschen Staaten an. Diese glaube offenbar, dass die Sowjetunion „ihr Einverständnis dazu geben und sich auf die Liquidierung der Deutschen Demokratischen Republik einlassen könnte.“9 Nach dieser Klarstellung fragte er unter dem Beifall der SED-Funktionäre: „Aber können denn Kommunisten zur Beseitigung einer sozialistischen Ordnung beitragen? Können wir denn dazu beitragen, daß das ganze deutsche Volk zu Kanonenfutter für die amerikanischen Generale gemacht wird?“10 Er wiederholte dann Ulbrichts Forderung, Berlin zu einer „Stadt des Friedens“ zu machen und die „Frontstadtpolitik“ in Westberlin zu beseitigen. Dies sei die Voraussetzung für die Normalisierung des Verhältnisses Westberlins zur DDR.11 Die Forderungen Ulbrichts und Chruschtschows auf dem SED-Parteitag fanden weltpolitisch keine Resonanz. Der SED-Staat war international nicht anerkannt und für die Westmächte kein Verhandlungspartner. Ulbricht war gezwungen, die Interessen seiner DDR auf internationaler Ebene durch die Sowjetunion vertreten zu lassen- ein gewichtiger qualitativer Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu dieser Zeit. In West-Berlin suchte die SED im Wahlkampf zum Abgeordnetenhaus 1958 die offene Auseinandersetzung, um ihre Forderung nach Umwandlung 8  Rede Chruschtschow, in: Protokoll des V. Parteitags der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 10.–16. Juli 1958 in Berlin, 2 Bände, Berlin (Ost) 1959, Bd. 1, S. 279. 9  Ebd., S. 278. 10  Ebd. 11  Vgl. ebd., S. 1336.

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in eine „Freie Stadt“ voranzutreiben. In der Endphase dieses Wahlkampfes griff Ulbricht ein und nahm grundsätzlich Stellung zum Status Berlins. In der mit Moskau abgestimmten Rede12 wiederholte er seine Behauptung, Berlin sei Hauptstadt der DDR und die ganze Stadt liege auf ihrem Territorium. Die „Besatzungsgewalt der Westmächte“ in West-Berlin habe zwar keine gültige Rechtsgrundlage mehr, aber „sie ist doch gegenwärtig noch eine Tatsache.“13 Die Westmächte hätten das Potsdamer Abkommen gebrochen und damit „haben sie die Rechtsgrundlage ihres Aufenthalts in Berlin untergraben und jeden Rechtsanspruch sowie jeden moralisch-politischen Anspruch auf die Fortführung der Besatzung Westberlins verwirkt.“14 Ulbrichts Ankündigung der notwendigen Veränderungen in Berlin fand wenige Tage vor dem 10. November statt, an dem Chruschtschow in Moskau die Bühne des Sport-Palastes betrat und den Westmächten diese Forderungen ultimativ als sowjetische Außenpolitik präsentierte. Die erste Antwort auf die Moskauer Drohungen gaben die Wähler West-Berlins am 7. Dezember 1958, sie ließen sich nicht einschüchtern. Die Wahlbeteiligung von 93 Prozent glich einer Volksabstimmung gegen dieses Ultimatum und die SED bekam nur 1,9 Prozent der Wählerstimmen. Die Partei war sich der Bedeutung dieses Wahlergebnisses wohl bewusst: Die Lage in West-Berlin werde sich für die SED erst dann ändern, wenn die Westmächte abzögen. Das war der zentrale Streitpunkt zwischen der Sowjetunion und den Westmächten in der Berlin-Krise. Mit der Note der Sowjetunion an die drei Westmächte vom 27. November 1958 wurde die zweite Berlin-Krise zur weltpolitischen Realität. Darin forderte Moskau den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland und den Abzug der Westmächte aus Berlin. West-Berlin solle in eine selbständige und entmilitarisierte „Freie Stadt“ umgewandelt werden. Die Note war als Ultimatum formuliert: Falls die Westmächte dem sowjetischen Vorschlag nicht innerhalb von sechs Monaten zustimmen würden, werde die Sowjetunion einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abschließen und dieser die sowjetischen Rechte in Berlin übertragen – und damit die Kontrolle der Transitwege von Westdeutschland nach West-Berlin zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Sowohl die drei Westmächte als auch die Mitgliedstaaten der NATO lehnten das Moskauer Ultimatum noch im Dezember 1958 ab, sie waren 12  Vgl. Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958–1963, München 2006, S. 24. 13  Walter Ulbricht, An die Arbeiterschaft und an alle friedliebenden Bürger Westberlins!, in: ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin (Ost) 1964, S. 649. 14  Ebd., S. 649.



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aber zu Verhandlungen bereit. Die Bundesregierung lehnte im Januar 1959 alle sowjetischen Forderungen ab. Sie wollte keine Anerkennung der DDR, keine Konföderation mit dem SED-Staat und keine Umwandlung WestBerlins in ein selbständiges politisches Gebilde. In den daraufhin einsetzenden Verhandlungen gab die Sowjetunion ihr grundlegendes Ziel nicht auf, wohl aber das damit verbundene Ultimatum: Die Frist von sechs Monaten ließ sie fallen. In einer von Mai bis August 1959 tagenden Außenministerkonferenz in Genf, bei der die beiden deutschen Staaten als mittelbar Beteiligte zugelassen waren, konnte keine Einigung erzielt werden. 3. Positionen der Sowjetunion und der DDR Als Chruschtschow durch sein Ultimatum 1958 die Krise auslöste, dachten weder er noch Ulbricht daran, dass sie am Ende diese Mauer durch Berlin ziehen würden. Ein Motiv des sowjetischen Vorstoßes von 1958 war bereits zu Beginn der Krise offensichtlich: die völkerrechtliche Stabilisierung der DDR als sozialistischer Staat in Deutschland. Das Gefühl der nationalen Zusammengehörig der Deutschen war noch stark, das hatte der 17. Juni 1953 in der DDR – der erste große Volksaufstand gegen eine kom­ munistische Diktatur im sowjetischen Imperium – bewiesen. Der Ablauf der Krise verlief uneinheitlich, Phasen der Konfrontation wechselten mit denen relativer Ruhe; aber zwei Phasen lassen sich in ihrer Geschichte deutlich unterscheiden. Von 1958 bis 1961 dominierten Verhandlungen unter den Vier Mächten und dem abschließenden Gipfeltreffen des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy mit Chruschtschow in Wien ihren Verlauf. Diese Verhandlungen hatten für Chruschtschow in dieser ersten Phase absolute Priorität. Er wollte das West-Berlin-Problem im Rahmen eines mit den Westmächten abgestimmten deutschen Friedensvertrages lösen, der auf eine dauerhafte Dreiteilung Deutschlands hinaus gelaufen wäre: Bundesrepublik, DDR und die „Freie entmilitarisierte Stadt Westberlin“. Für Chruschtschow war West-Berlin kein eigenständiges Ziel, es war der Hebel, um den Einfluss der Amerikaner in Europa zu schwächen, und der geforderte deutsche Friedensvertrag ein Mittel, um die NATO zu „zerreißen“, wie es Chruschtschow gegenüber Ulbricht im März 1961 ausdrückte.15 SED und KPdSU hatten ein gemeinsames Interesse daran, die Präsenz der Westmächte in Berlin zu beseitigen, und West-Berlin in eine „entmilitarisierte Freie Stadt“ umzuwandeln, die auf dem Territorium der DDR lag. In dieser Hinsicht wahrte Chruschtschow Kontinuität mit den Zielen, die Stalin 15  Zit.

nach: Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer, Berlin 2011, S. 278.

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1948 in der ersten Berlin-Krise verfolgt hatte. Die Planungen für diesen sowjetischen Vorstoß begannen 1947, vor der Londoner Außenministerkonferenz über die deutsche Fragen der vier Mächte. Ihr Scheitern war absehbar, da die Weichen für die Entstehung zweier deutscher Staaten bereits gestellt waren. Aus dieser Konstellation zog der stellvertretende sowjetische Außenminister Fedor T. Gusew in einer Expertise für Stalin und seinen Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow die Konsequenz für Berlin. Sollten Amerikaner und Engländer nicht auf die „legitimen“ deutschlandpolitischen Forderungen der Sowjetunion in London eingehen, so könnte sie „gezwungen sein, die Beseitigung der Zone von Groß-Berlin und die Eingliederung des gesamten Berliner Territoriums in die sowjetischen Zone zur Diskussion zu stellen“.16 Die Londoner Konferenz scheiterte und die Sowjetunion verließ den Alliierten Kontrollrat, die alliierte Kommandantur in Berlin, und nahm die Einführung der D-Mark in West-Berlin zum Anlass, um die geplante Blockade der Transitwege von der amerikanischen und britischen Zone nach West-Berlin durchzuführen. Diese erste Berlin-Offensive der Sowjetunion scheiterte vor allem an zwei Männern, an dem amerikanischen Militärgouverneur Lucius D. Clay, der eine Luftbrücke zur Versorgung der West-Berliner Bevölkerung organisierte, und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter, der den Selbstbehauptungswillen der West-Berliner mobilisierte. Die zweite Phase der Krise begann im Herbst 1960 und wurde immer stärker bestimmt durch die wachsende Instabilität der DDR durch die Fluchtbewegung nach Westen. Die Diskussionen zwischen Ost-Berlin und Moskau über die vordringliche Lösung der „Westberlinfrage“ begannen im Herbst 1960 – zu einem Zeitpunkt, als die DDR in eine ökonomische Krise geriet. Durch die Kollektivierung der Landwirtschaft sank 1960 die Produktion von Lebensmitteln in der DDR und es kam zu einer Versorgungskrise bei Grundnahrungsmitteln. Viele Bauern flohen über Berlin in den Westen. Ulbricht berichtete Chruschtschow im November 1960 über die krisenhafte Situation in der DDR und bat um Kredite sowie Wirtschaftshilfe. Die Schließung der Sektorengrenze in Berlin war laut dem russischen Protokoll kein Thema dieses Gesprächs. Der sowjetische Parteichef legte aber den Fahrplan für das weitere Vorgehen fest. Vor dem geplanten Treffen mit dem neuen gewählten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy sollte es in der Berlin-Frage keine Entscheidungen geben. Im Januar 1961 beriet das SED-Politbüro die Lage und beschloss den verstärkten Kampf gegen die „Republikflucht“ – das Codewort, unter dem auch die Grenzschließung in Berlin vorbereitet wurde. Ulbricht informierte Chruschtschow über diese Sitzung, nannte die Zahlen der Abwanderung und 16  Zit.

nach, ebd., S. 164.



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die Altersstruktur der Flüchtenden: 75 Prozent von ihnen waren unter 25 Jahren alt. Die soziale Zusammensetzung war besonders alarmierend, vor allem Angehörige der sogenannten Intelligenz und qualifizierte Facharbeiter verließen das Land. Mit ihrer Flucht verschärften sie die wirtschaftlichen Probleme der DDR. Der konjunkturelle Aufschwung in der Bundesrepublik, der „für jeden Einwohner in der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund dafür, dass im Verlauf von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben“.17 Die entscheidende Voraussetzung für diese Abwanderung erwähnte Ulbricht nicht direkt: die offene Sektorengrenze in Berlin. Doch gerade sie war der Kern des West-Berlin-Problems der SED. Ulbricht drängte nachdrücklich auf seine Lösung noch im Jahr 1961. Dieser Brief kam einem Offenbarungseid der SED gleich. Die Existenzsicherung der DDR durch die Schließung der Sektorengrenze in Berlin rückte unabweisbar in den Vordergrund der durchsetzbaren sowjetischen Konfliktlösung. Chruschtschow hielt gegenüber Ulbricht an der Reihenfolge des Vorgehens in der West-Berlin-Frage fest: „Wir wissen, dass auch Sie der Meinung sind, dass es in der heutigen Lage nach dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten notwendig und wichtig ist, zu versuchen, die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland und der Normalisierung der Lage in West-Berlin aufgrund einer Verständigung mit den USA sowie mit den anderen Westmächten zu regeln. Zurzeit beginnen wir, eine sachliche Erörterung dieser Fragen mit Kennedy einzuleiten. Die vorgenommene Abtastung zeigt, dass es einiger Zeit bedarf, bis Kennedy seine Position in der Deutschlandfrage deutlicher abgesteckt haben und es klar wird, ob die Regierung der USA gewillt sein wird, gegenseitig annehmbare Beschlüsse zu erzielen.“18 Erst wenn diese Frage geklärt sei und man zu keiner Einigung gelange, sei der Zeitpunkt gekommen, um weitere Maßnahmen mit der DDR zu vereinbaren. Zwei Monate später forderte Chruschtschow von Ulbricht, er möge mit Maßnahmen in Berlin warten, bis er selbst mit Kennedy zusammengetroffen sei. Er wollte den Friedensvertrag über Deutschland mit den Amerikanern aushandeln. Sein politisches Kalkül dabei sprach er offen aus: „In den Gesprächen mit Kennedy wird der Friedensvertrag eine zentrale Frage sein. Wenn wir ihm den Friedensvertrag abringen, reißen wir die NATO in Stücke, denn die deutsche Frage zementiert die NATO.“19 Mit Blick auf das 17  Ebd.,

S.  269 ff.

18  SAPMO-BArch,

DY 30 / 3508, Chruschtschow an Ulbricht, 30.1.1961, zit. nach: ebd., S. 273. 19  RGANI, F. 52, Op. 1, D. 557, S. 113–123, Gespräch Chruschtschows mit ­Ulbricht, 31.3.1961, abgedruckt in: Gerhard Wettig in Zusammenarbeit mit Stefan Karner / Horst Möller / Michail Prosumenschtschikow / Peter Ruggenthaler / Barbara

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bevorstehende Treffen versicherte Chruschtschow, er wisse sehr wohl, dass die Amerikaner auf Zeit spielten und sich mit ihren Verbündeten berieten, er sei aber nicht gewillt, länger zu warten. Im Frühjahr 1961 traten auch die Differenzen in den Prioritäten zwischen der Großmacht und ihrem Satelliten offen zutage. Wollte die SED mit dem Friedensvertrag vordringlich ihr West-Berlin-Problem lösen, so beabsichtigte Chruschtschow mit diesem Vertrag nichts weniger als eine weltpolitische Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Europa. Aus den unterschiedlichen Zielprojektionen ergab sich auch eine Differenz in der Einschätzung der Bedeutung der „Republikflucht“ über Berlin. Der sowjetische Parteichef spielte die Fluchtbewegungen in ihrer Bedeutung für die Stabilität des SED-Staates herunter. Noch im März dachte der sowjetische Parteichef nicht daran, in Berlin die offene Türe zu schließen, obwohl ihm Ulbricht eindringlich versicherte: „Gegenwärtig stört uns das mehr als je zuvor, die Flucht hat jetzt einen größeren Umfang als vor zwei Jahren.“20 Ulbricht übertrieb nicht, 1959 verließen 143.917 Flüchtlinge die DDR und Ost-Berlin, 48,3 Prozent von ihnen waren Jugendliche unter 25 Jahren. 1960 stieg diese Zahl auf 199.188, davon drei Viertel Jugendliche. Bis zum 13. August 1961 kamen weitere 207.026 Menschen nach West-Berlin, knapp die Hälfte war unter 25 Jahren. Die dramatische Zuspitzung dieser Fluchtwelle kam allerdings erst noch: Im Juni gingen 19.198, im Juli schon 30.415, und bis Mitte August 1961 noch einmal 47.433. In drei Monaten stimmten somit die Einwohner einer Großstadt mit ihren Füßen ab. 4. Der Wiener Gipfel und die Folgen Auf neutralem Boden in Wien trafen sich Anfang Juni der amerikanische Präsident und der sowjetische Staats- und Parteichef zu ihrem Gipfeltreffen. In ihrer letzten Gesprächsrunde behandelten sie die Frage eines deutschen Friedensvertrages und die Lösung der Berlinfrage.21 Das Gespräch verlief konfrontativ, und Chruschtschow übergab Kennedy ein auf sechs Monate befristetes Ultimatum, um die Berlin-Fragen zu lösen. Im Gespräch betonte Chruschtschow gegenüber Kennedy sein Interesse, mit ihm einen Friedensvertrag zu abschließen. Dieses Angebot verband er sofort mit einer DroStelzl-Marx / Natalja Tomilina / Aleksandr Tschubarjan / Matthias Uhl / Hermann Wentker (Hrsg.), Dokumentation Chruschtschows Westpolitik 1955–1964. Gespräche, Aufzeichnungen und Stellungnahmen. Bd. 3: Kulmination der Berlin-Krise (Herbst 1960 bis Herbst 1962). Diesem Protokoll entstammen alle weiteren Zitate. 20  Zit. nach Manfred Wilke (FN 15), S. 279. 21  Zum Wiener Gipfel vgl. Stefan Karner  / Barbara Stelzl-Marx / Natalja Tomilina / Alexander Tschubarjan / Günter Bischof / Victor Iscenko / Michail Prozumenschikov / Peter Ruggenthaler / Gerhard Wettig / Manfred Wilke, Der Wiener Gipfel 1961 Kennedy – Chruschtschow, Innsbruck 2011.



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hung: „Wenn Sie jedoch nicht die Bereitschaft dazu zeigen, werden wir allein auf einseitiger Grundlage den Friedensvertrag mit Deutschland schließen und dabei vor nichts haltmachen.“22 Die erste Kontroverse über Berlin schien geografischer Natur zu sein. Kennedy: „Aber West-Berlin befindet sich nicht auf dem Territorium der Ostdeutschen Republik.“ Chruschtschow widersprach: „Das ganze Territorium Ostdeutschlands einschließlich WestBerlins bildet das Territorium der DDR.“ Darauf entgegnete Kennedy mit der völkerrechtlichen Position der Amerikaner: „Das ist Ihr Standpunkt. Wir meinen jedoch, dass wir in West-Berlin bestimmte Rechte gemäß den Vereinbarungen mit Ihnen erhalten haben. Und jetzt wollen Sie diese Rechte Ostdeutschland übertragen. Auf einseitige Weise können Sie niemandem unsere Rechte übertragen.“ Chruschtschow fragte: „Aber wozu brauchen Sie West-Berlin, warum halten Sie es für einen wichtigen Punkt?“23 Kennedy ging auf diese Frage ein und unterstellte dem sowjetischen Staatschef, dass er versuche, die USA in die weltpolitische „Isolation“ zu treiben. „Wenn wir diese Bedingung akzeptieren, dann wird das, ich wiederhole, zur völligen politischen Isolierung der USA führen, aber ich bin nicht deshalb Präsident der USA geworden, um bei einem solchen Prozess der Isolierung meines Landes zu präsidieren, ebenso wie auch Sie, dessen bin ich sicher, dem niemals bezüglich Ihres Landes zustimmen würden.“ Chruschtschow: „Heißt das, dass sie den Friedensvertrag nicht unterzeichnen wollen?“ Kennedy: „Wir sind daran interessiert, unser Zugangsrecht und unsere Rechte in WestBerlin insgesamt aufrechtzuerhalten.“ Er wollte den Standpunkt der sowjetischen Seite nicht verändern, appellierte aber angesichts der gegenwärtigen Weltlage an ihn, das „Gleichgewicht der Kräfte nicht zu verändern“. Dieser Wortwechsel war vielleicht von großer Bedeutung für Chruschtschows Entscheidung sechs Wochen später, Ulbricht die Sektorengrenze in Berlin schließen zu lassen. Allerdings kam Chruschtschow in Wien noch einmal auf seine ultimative Drohung zurück, am Ende des Jahres einen separaten Friedensvertrag mit der DDR zu unterzeichnen. Kennedy stellte klar, dass nicht der Abschluss eines Friedensvertrages mit der DDR an sich das Problem sei; ein Vertrag, „der uns unsere Rechte nimmt, ist ein Akt des Krieges.“ Eine formale Übertragung der Berliner Statusrechte der Sowjetunion an die DDR würde das Problem also keinesfalls lösen, denn der Versuch der DDR, diese Rechte gegenüber den Westmächten durchzusetzen, würde einen militärischen Konflikt heraufbeschwören. Kennedy hatte die Schwachstelle in der Drohung mit dem separaten Friedensvertrag gefunden und gegenüber Chruschtschow markiert. 22  Protokoll der Gespräche Chruschtschows mit Kennedy in Wien, 3. Juli 1961, abgedruckt in: Gerhard Wettig (FN 19), S. 220–250; daraus alle folgenden Zitate. 23  Ebd.

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Kennedy fuhr fort, West-Berlin sei für ihn kein Aufmarschgebiet gegen die Sowjetunion, aber die USA hätten vertragliche Verpflichtungen übernommen, „von denen die ganze Welt weiß. Würden wir dem Vorschlag der Sowjetunion zustimmen, würde daraus die ganze Welt den Schluss ziehen, die USA seien ein Land, das seine Verpflichtungen nicht ernst nimmt. Und ich versichere Ihnen, dass wir unsere Verpflichtungen sehr ernst nehmen, die unsere strategischen Interessen berühren.“ Chruschtschow entgegnete mit Blick auf einen separaten Friedensvertrag mit der DDR: „Ich schätze Ihre Offenheit, Herr Präsident, erkläre aber meinerseits, dass, falls Sie nach Unterzeichnung des Friedensvertrages auf Ihrem Recht auf Zugang nach Berlin bestehen, auch eine direkte Konfrontation zwischen uns diese Frage nicht zu Ihren Gunsten entscheiden wird. Wir werden uns gegen die Aggressionen verteidigen, falls Ihre Truppen die Grenzen der DDR überschreiten.“ Kennedy: „Aber Sie wollen doch die bestehende Lage verändern.“ Chruschtschow entgegnete ihm, er wolle den Frieden, „HarvardDrohungen von Ihrer Seite werden uns nicht aufhalten, wir wollen keinen Krieg, wenn Sie ihn uns aber aufnötigen, wird es ihn geben. Das können Sie auch Macmillan, de Gaulle und Adenauer sagen, und behalten Sie, Herr Präsident, aber im Auge, dass dies unser unabänderlicher Entschluss ist und dass wir den Friedensvertrag im Dezember dieses Jahres unterzeichnen werden.“ Kennedy: „Ja, wie es scheint, wird es einen kalten Winter geben in diesem Jahr.“ Kennedy wehrte sich gegen das zweite sowjetische Ultimatum, war aber nicht prinzipiell gegen Verhandlungen über den Status quo in Deutschland. So vertrat er die Ansicht: „Ich glaube, es wäre gut, wenn Westdeutschland und Ostdeutschland einen Weg zur Normalisierung ihrer Beziehungen finden und die UdSSR und die USA ihre Beziehungen in eine positive Richtung entwickeln könnten.“ Chruschtschow befand sich nach dem Wiener Gipfel in einem Dilemma: Den von ihm angestrebten Friedensvertrag mit den Westmächten zur Veränderung des Status quo in Berlin konnte er auf dem Verhandlungsweg nicht durchsetzen, und die Krise der DDR, die sich in der Massenflucht über West-Berlin immer mehr verschärfte, ließ ein weiteres Abwarten nicht zu. Der Wiener Gipfel stellte einen Wendepunkt im Verlauf der zweiten Berlinkrise dar und leitete den Rückzug der Sowjetunion aus einer politischen Offensive ein. Erst nach dem Gipfeltreffen wurde für Chruschtschow die Schließung der Sektorengrenzen zwischen Ost- und West-Berlin durch ­Ulbricht spruchreif. Im Zusammenhang mit dem „Wiener Ultimatum“ hatte am 1. Juli das Präsidium der KPdSU den von den Militärs ausgearbeiteten Einsatzplan „Maßnahmen zur Durchführung einer verstärkten Kontrolle und Bewachung



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an den Außen- und Sektorengrenzen Groß-Berlins“ bestätigt.24 Zwischen Mai und August wurden die sowjetischen Truppen in der DDR um 37.500 Soldaten auf insgesamt 380.000 Mann verstärkt. An der polnischen Westgrenze wurden weitere 70.000 Soldaten stationiert und die Truppen in Ungarn um 10.000 Mann aufgestockt. „Damit war die Mannschaftsstärke der sowjetischen Truppen in Mitteleuropa im Vorfeld des Mauerbaus um etwa 25 Prozent auf mehr als 545.000 Mann erhöht worden. Die Sowjetunion hatte fast ein Drittel der gesamten Landstreitkräfte für die militärische Absicherung der Grenzschließung in Berlin in der DDR, Polen und Ungarn konzentriert.“ Auch die Luftstreitkräfte wurden in der DDR verstärkt, und sie verfügten erstmals über „Spezialmunition“. „Hinter diesem Begriff verbargen sich in der sowjetischen Militärsprache Atomwaffen.“25 Ein qualitativer Unterschied zwischen den beiden Berlin-Krisen bestand darin, dass in der zweiten Krise die Militärs und Politiker beider Seiten wussten: käme es zum militärischen Konflikt; so bedeutete dies einen mit Atomwaffen geführten Krieg in Europa. Weder Moskau noch Washington wollten dieses Risiko eingehen. Das sowjetische Vorgehen in Berlin berücksichtigte die Interessen der Westmächte schon in der Planungsphase der Grenzschließung. Besonders sensibel waren die Flugverbindungen von und nach West-Berlin. Die Luftkorridore waren für die Westmächte, aber auch für die DDR von herausragender Bedeutung. Die sogenannten „Republikflüchtlinge“ wurden zumeist aus West-Berlin ausgeflogen. Ulbricht strebte seit Chruschtschows Ultimatum die Kontrolle über den Flugverkehr von und nach West-Berlin an, er forderte beharrlich die Auflösung des internationalen Flugsicherungszentrums Berlin und die Übernahme seiner Funktionen durch die DDR-Luftsicherung. Den mit West-Berlin abgewickelten zivilen Luftverkehr wollte er nach dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld verlagern. Eine solche Regelung hätte der DDR, unabhängig vom Abschluss eines Friedensvertrages, sofort die vollständige Kontrolle des zivilen Verkehrs auf allen Transitwegen von und nach West-Berlin verschafft. Ein Ausfliegen von DDR-Flüchtlingen wäre nicht mehr möglich gewesen, damit hätte sich eine Mauer durch Berlin erübrigt.

24  Matthias Uhl, Krieg um Berlin?, München 2008, S. 126 f. Dieser Plan ist ihm zufolge bis heute für die historische Forschung gesperrt. 25  Ebd., S.  128 f.

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5. Die Entscheidung Ende Juni / Anfang Juli ließ Ulbricht Chruschtschow mitteilen, dass er bei offener Grenze in Berlin für die Existenz der DDR nicht länger garantieren könne. Bevor Chruschtschow am 20. Juli endgültig entschied, die Berliner Sektorengrenze abzuriegeln, zog er Erkenntnisse und Berichte des militärischen Geheimdienstes (GRU) und des KGB über die amerikanische Politik zu Rate. Sie waren offenbar von zentraler Bedeutung für seine Entscheidungsfindung, zumal die drei Westmächte in ihren Noten vom 17. Juli die Forderungen des Wiener Memorandums vom 4. Juni zurückgewiesen hatten einschließlich der Behauptung, West- Berlin liege auf dem Territorium der DDR. Die drei Mächte bekräftigten ihr Recht auf ihren Aufenthalt in Berlin aufgrund der alliierten Vereinbarungen von 1944 / 45. Die GRU widersprach der propagandistischen Vorstellung von der Überlegenheit der sowjetischen Armee und betonte die Risiken eines militärischen Vorgehens gegen die Westmächte. „Die Sowjetunion würde auf einen gerüsteten und gut vorbereiteten Gegner treffen.“ Die GRU berichtete zudem über die Stärke der amerikanischen Luftstreitkräfte in Europa und ihre Pläne gegen eine Luftblockade West-Berlins. Nach dieser Information verwarf Chruschtschow sein ursprüngliches Vorhaben einer Luftblockade, für die in der Sowjetunion bereits „Spezialtruppen aufgestellt wurden“, und ließ die entsprechenden Planungen der Nationalen Volksarmee der DDR stoppen.26 Der KGB informierte über die Einschätzung der Lage in Washington. „Das amerikanische Außenministerium ging in seinen Überlegungen davon aus, dass die Politik der UdSSR hinsichtlich der Berlin-Frage ein bedeutendes Bluff-Element enthalte und die Sowjetunion kaum das Risiko des Ausbruchs eines Atomkrieges um West-Berlin eingehen werde.“ Das amerikanische Außenministerium empfahl, die Politik des Westens müsse „hart sein und die Sowjetunion auf allen Kanälen über die möglichen Folgen eines bewaffneten Konfliktes um Berlin gewarnt werden.“27 Genau das tat der Präsident beim Gipfeltreffen in Wien, und auch der NATO-Rat erklärte, „die Sperrung des freien Zugangs nach West-Berlin mit Maßnahmen zu beantworten, ‚in deren Ergebnis eine reale Gefahr für die Sicherheit der Sowjetunion entstehen‘ könne. Der Westen verlieh dieser Drohung durch Truppenverstärkungen Nachdruck“.28 All diese Informationen lagen Chruschtschow am 20. Juli vor und ließen für ihn nur eine Schlussfolgerung zu: Die NATO würde die Bedrohung des freien Zugangs nach West-Berlin als militärischen 26  Matthias

Uhl (FN 24), S. 223–225. S. 226. 28  Gerhard Wettig (FN 19), S. 169. 27  Ebd.,



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Ernstfall ansehen. Chruschtschows Ja zur Grenzschließung in Berlin stand am Ende eines langen politischen Entscheidungsprozesses und bedeutete den Rückzug aus einer politischen Offensive, auf den vom Westen geforderten Status quo in Berlin. Julij A. Kwizinskij, der damalige Attaché des sowjetischen Botschafters, war Augenzeuge, als der sowjetische Botschafter Perwuchin Ulbricht die Moskauer Anweisung überbrachte, „die Grenze Westberlins zu schließen und mit der praktischen Vorbereitung dieser Maßnahme unter größter Geheimhaltung zu beginnen“.29 Ulbricht nahm die Mitteilung ungerührt zur Kenntnis und ließ Chruschtschow seinen Dank ausrichten, bevor er detailliert über die Durchführung der Aktion sprach. Um die Grenze zu WestBerlin in ihrer ganzen Länge abzuriegeln, benötige man in ausreichender Menge Stacheldraht, ebenso „Pfähle, und alles müsse insgeheim nach Berlin gebracht werden. Auch die U- und S-Bahn-Verbindungen nach Westberlin müssten unterbrochen werden“. Mit seinen Detailkenntnissen soll er den sowjetischen Botschafter verblüfft haben. Die SED dachte offenbar schon länger über diese Aktion nach. Ulbricht wusste auch bereits, wann man handeln sollte: an einem Sonntag – der 13. August war ein solcher. Geheimhaltung war die Voraussetzung für die Vorbereitung und das Gelingen der Operation „Rose“.30 Die konspirative Kommunikation zwischen Chruschtschow und Ulbricht während der Operation „Rose“31 beschrieb Kwizinskij ebenso wie die personelle Verantwortung in der SED. „Ulbricht legte fest, dass der Chef seiner Leibgarde, Wagler, zu uns Verbindung hielt, und er brachte die Dokumente seines Chefs in die Botschaft und gab sie nur mir persönlich in die Hand. Später löste Otto, der Oberst der Staatssicherheit aus der Abteilung für Sicherheitsfragen des ZK der SED, Wagler ab. Wir übersetzten die Dokumente und übermittelten sie nach Moskau.“32 Das geschah nicht durch Funk, da man fürchtete, der Code sei nicht sicher genug, sondern per Kurier. Perwuchin persönlich schrieb die Briefe für Chruschtschow und war im Zweifel, ob er seinen Außenminister Andrej Gromyko in die Sache einweihen durfte, was er dann aber doch tat. Der SED-Chef entschied, „nur Erich Mielke, den Minister für Staatssicherheit, Innenminister Karl Maron, Verteidigungsminister Erich Hoffmann und Verkehrsminister Erwin Kramer einzuweihen.“ Bis auf Hoffmann gehörten die Genannten zu der Arbeitsgruppe, die schon im Januar 1961 vom 29  Julij A. Kwizinskij, Vor dem Sturm, Berlin 1995, S. 180; auch die folgenden Zitate entstammen dieser Quelle. 30  Ebd., S. 178. 31  Das war der Deckname für die Sperrung der Sektorengrenze in Berlin. 32  Julij A. Kwizinskij (FN 29), S. 181.

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SED-Politbüro eingesetzt worden war, um die „Republikflucht“ einzudämmen. Alle Verantwortlichen für diese Operation waren Moskau-Kader, die 1945 mit Ulbricht aus dem sowjetischen Exil in die sowjetische Besatzungszone zurückkehrten oder wie Mielke in Moskau ausgebildet wurden, um Schlüsselfunktionen in der kommunistischen Partei und der neuen deutschen Verwaltung zu übernehmen. Der Verkehrsminister trug die Verantwortung für die Unterbrechung der S- und U-Bahn-Netze in Berlin.33 „Sie alle hatten Befehl, das Material nur persönlich vorzubereiten, mit der Hand zu schreiben und im eigenen Safe aufzubewahren. Die Ausarbeitung des Gesamtkonzepts übernahm Ulbricht selbst, und erst einige Tage später teilte er mit, dass er beschlossen habe, Erich Honecker als Stabschef einzusetzen.“34 Das formal höchste Führungsgremium der Partei, das Politbüro des ZK, wurde mit der Operation erst befasst, als alle Entscheidungen bereits gefallen waren und es nur noch um die Durchführung der Operation „Rose“ ging. „Ulbricht sprach in der Regel immer über vollendete Tatsachen und wartete erst einmal ab, was in Moskau herauskam, um dann das Politbüro und das Sekretariat zu informieren.“35 Chruschtschow traf eine zweite Entscheidung und beauftragte die militärischen Planungen ihrer Durchführung. Der damalige stellvertretende Chef der operativen Abteilung des Stabes der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), Oberst Anatolij G. Mereschko, wurde beauftragt, den Plan zur Absicherung der Grenzkontrollsperre zwischen Ost- und Westberlin mit Hilfe der DDR-Streitkräfte auszuarbeiten. Der Oberkommandierenden der GSSD Armeegeneral Iwan I. Jakubowskij wurde zum Botschafter Michail G. Perwuchin einbestellt und sollte die Karten der DDR mit dem genauen Grenzverlauf zwischen beiden Teilen Berlins mitbringen. Perwuchin erklärte: „Iwan Ignatjewitsch, wir haben über ein Staatsgeheimnis zu sprechen. Nikita Sergejewitsch [Chruschtschow] hat mich beauftragt, Sie über den Plan zur Einführung der Grenzordnung zwischen den beiden Teilen Berlins zu informieren, den sie auszuarbeiten haben.“ Er hat gefragt: „Wie viel Zeit brauchen Sie für die Ausarbeitung dieses Planes? Beachten Sie, dass nur drei Personen aus der Regierung der DDR 33  Verkehrsminister Kramer emigrierte 1932 in die Sowjetunion, arbeitete im sowjetischen Verkehrswesen, 1937 absolvierte er einen Lehrgang an einer sowjetischen Militärschule; Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, Instrukteur für das ­Pionierwesen eines Armeekorps. 34  Julij A. Kwizinskij (FN 29), S. 180. 35  Gespräch von Wilfriede Otto mit Werner Eberlein am 5. September 1996 über die Beratung der Ersten Sekretäre der kommunistischen und Arbeiterparteien der Staaten des Warschauer Paktes vom 3. bis 5. August 1961 in Moskau, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2 / 1997, S. 40–97, hier S. 85. Eberlein war zu der fraglichen Zeit der Chefdolmetscher von Ulbricht.



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daran teilnehmen werden: nach unseren Vorstellungen Verteidigungsminister Hoffmann, Innenminister Maron und der Minister für Staatssicherheit Mielke. Jakubowskij hat mich angeschaut, und ich sage: ‚Genosse Botschafter, wenn die Lage so kompliziert ist (und wir wussten natürlich darüber Bescheid) und er in kürzester Frist vorliegen muss, so bereiten wir den Plan in einer Woche vor‘.36 Ja, vor unserem Abschied sagte der Botschafter noch: ‚Ich fahre jetzt zum Genossen Ulbricht und wir werden verabreden, dass diese drei Minister an der Ausarbeitung des Planes teilnehmen, und unsererseits wird der Oberst diesen Plan technisch bearbeiten.‘ Jakubowskij antwortete: ‚Ich bitte, dass diese Minister um 15 Uhr nach Wünsdorf37 kommen, und wir werden mit ihnen die Kontakte und die gemeinsame Arbeit verabreden.‘ Und wirklich: Um 15 Uhr – wir waren früher zurückgekehrt – waren diese drei Minister bei uns. Wir haben verabredet, wie wir zusammenarbeiten, wie wir Verbindung halten werden; das Hauptproblem war die Sprachbarriere. […] Aber die Vorbereitungsarbeiten in den Organen der DDR waren deutlich im vollen Gang. […] Die Minister konnten praktisch auf jede Frage schon fertige Auskünfte geben.“38 Die Gebote der Konspiration und der Geheimhaltung galten auch für Mereschko: Vor der Ausarbeitung des Planes hat Jakubowskij mir befohlen: „Weder Deinem Vorgesetzten, noch dem Stabschef, niemandem sollst Du über Deine Arbeit was sagen. Wer was wissen soll, das werde ich selbst bestimmen. Du selbst wirst schweigend arbeiten.“39 In sieben bis zehn Tagen war der Plan in doppelter Ausführung auf Stadtplänen eingezeichnet. „Den Plan hat Jakubowskij unterschrieben, und so weit ich mich erinnere, stehen aus irgendeinem Grunde auch die drei Unterschriften der Minister der DDR auf dem Plan. Ich erinnere mich nicht an Kramer. Rechts oben auf der Karte – ‚Bestätigt. Ulbricht‘, links – ‚Bestätigt. Chruschtschow‘.“ Dieser unterzeichnete den Plan nach Angaben von Mereschko am 8. August. „Es war so, dass die linke Seite wichtiger war. Ein Exemplar des Planes wurde mit Extraboten sofort an unseren Generalstab abgesandt, ein Exemplar blieb in der GSSD.“40 Nach Fertigstellung des Plans zur Abriegelung der Sektorengrenze gab es eine Zusammenkunft mit 36  Manfred Wilke / Alexander J. Vatlin, Interview mit Generaloberst Anatolij Grigorjewitsch Mereschko, Wolgograd, 11. September 2010 (übersetzt von: Dr. Tatiana Timofejew), „Arbeiten Sie einen Plan zur Grenzordnung zwischen beiden Teilen Berlins aus!“, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 89–96; vgl. Manfred Wilke (FN 15), S. 306–308. 37  Sitz des Oberkommandos der GSSD, südlich von Berlin. 38  Interview mit Generaloberst Anatolij Grigorjewitsch Mereschko, vgl. Manfred Wilke (FN 15), S. 306–308. 39  Ebd. 40  Ebd.

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Ulbricht – ihm wurde der Plan vorgelegt und erläutert, bevor er nach Moskau abreiste. Ulbricht und Chruschtschow trafen am 1. August 1961 in Moskau zusammen, um neben den wirtschaftlichen Problemen der DDR, der bevorstehenden Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes, auch Einzelheiten der Sperrung der Sektorengrenze in Berlin zu besprechen. Das Protokoll dieses Gesprächs gehört zweifellos zu den Schlüsseldokumenten des Mauerbaus.41 Die hier dokumentierten Passagen zeigen: Für beide Parteiführer war die Grenzschließung, die über das Schicksal so vieler Menschen entschied, nur ein lösbares, technisches Problem ihrer Machtsicherung. Chruschtschow: „Ich habe eine technische Frage: Wie wird die Kontrolle an den Straßen verwirklicht, deren eine Seite sich in der DDR befindet und die andere in West-Berlin?“ Ulbricht: „Wir haben einen bestimmten Plan. In den Häusern, die einen Ausgang nach West-Berlin haben, werden wir diesen Ausgang zumauern. An den anderen Orten werden wir Sperren aus Stacheldraht errichten. Der Draht ist schon herangeschafft worden. Das alles kann man sehr schnell machen. Schwieriger ist es mit dem Transportwesen. Wir bauen die Bahnsteige der S- und U-Bahn um für das Umsteigen nach West-Berlin.“ Chruschtschow: „Aber wer wird dann denn umsteigen?“ Ulbricht: „Jener Teil der Bevölkerung, der die Genehmigung zum Überschreiten [der Grenze] erhält. Beispielsweise wohnen etwa 14000 Leute, unter ihnen viele Vertreter der Intelligenz, in West-Berlin, arbeiten aber bei uns.“ Chruschtschow: „Ich habe noch eine Frage. Wenn Sie Ihren Leuten erlauben, in West-Berlin zu wohnen, werden dann dort Personen, die bei Ihnen wohnen, arbeiten können?“ Ulbricht: „Nein, das wird nicht erlaubt, das ist etwas anderes. Jedoch gibt es bei uns einige Tausend Kinder, vor allem aus kleinbürgerlichen Familien, die in OstBerlin wohnen und in West-Berliner Schulen lernen.“ Chruschtschow: „Das ist zu unterbinden.“ Ulbricht: „Ja, wir werden sie nicht mehr lassen.“

Ein weiteres Thema zwischen beiden war die Frage: Wie ernst war die Gefahr innerer Unruhen in der DDR? Dieser Teil des Gesprächs gewährt einen einzigartigen, bislang unbekannten Einblick in die Wahrnehmung der Krise des SED-Staates durch die beiden kommunistischen Machthaber. Ulbricht hatte Angst um die eigene Macht, und diese motivierte ihn, auf die Sperrung der Sektorengrenzen in Berlin zu drängen. 41  Gespräch Chruschtschow mit Ulbricht, 1. August 1961, in: Gerhard Wettig (FN 19), S. 295–313, daraus alle folgenden Zitate.



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Chruschtschow: „Ich habe noch eine Frage. Ich lese vertrauenswürdige Geheimberichte aus dem Westen, und sie schätzen die Lage so ein, dass in der DDR die Bedingungen für einen Aufstand herangereift sind. Gemäß ihrer politischen Linie geben sie die Anweisung, die Sache nicht bis zu einem Aufstand kommen zu lassen, weil dies zu nichts Gutem führe. Sie sagen: ‚Wir werden nicht helfen können, und die Russen werden alles mit Panzern niederschlagen‘. Darum rufen sie zum Abwarten auf, bis die Bedingungen herangereift seien. Ist es dem wirklich so? Ich weiß das nicht genau und berufe mich lediglich auf westliche Berichte.“ Das war die Gegenwart des 17. Juni 1953 im Gedächtnis der sowjetischen Staatschefs. Ulbricht wiegelte ab: „Wir haben Informationen darüber, dass die Bonner Regierung durch Anwerbungen und die Organisation von Widerstand Schritt für Schritt Bedingungen für die Organisation eines Aufstandes vorbereitet, damit der Aufstand im Herbst 1961 stattfinden kann. Wir sehen die Arbeitsmethoden des Gegners: Die Kirche organisiert den Austritt der Bauern aus den Genossenschaften, obwohl die Resultate auch nicht groß sind. Es gibt auch Sabotageakte. Ist dies alles real? Ein Aufstand ist nicht realistisch. Aber es sind Aktionen möglich, die uns großen internationalen Schaden zufügen könnten.“ Das Gespräch diente auch der Vorbereitung der Tagung des Politischen Beratenden Ausschuss des Warschauer Paktes, die vom 3. bis 5. August in Moskau stattfand. Ulbricht trug auf ihr seinen Plan zur Schließung der Sektorengrenzen für DDR-Bürger in Berlin vor und sprach offen aus, gegen wen diese Maßnahme gerichtet war – gegen die eigene Bevölkerung. „Diese Lage macht es notwendig, dass zur gegebenen Zeit die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (die mitten durch Berlin geht) für Bürger der Deutschen Demokratischen Republik nur mit besonderer Ausreisegenehmigungen passiert werden darf, oder, soweit das einen Besuch von Bürgern der Hauptstadt der DDR in Westberlin betrifft, mit besonderer Bescheinigung erlaubt wird.“42 Öffentlich galt die These von der äußeren Bedrohung der DDR durch die Bundesrepublik und die NATO. Der Warschauer Pakt forderte in seiner Erklärung mit dieser Behauptung die Regierung der DDR auf, die Grenze in Berlin zu schließen. 6. Vom Stacheldraht zur Mauer Politisch wurde die Erklärung der Staaten des Warschauer Paktes zum Basistext für die am 7. August vom SED-Politbüro gefassten Beschlüsse zur Grenzschließung, die dann von der Volkskammer und dem Ministerrat ein42  Zit.

nach Manfred Wilke (FN 15), S. 324.

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stimmig und damit „demokratisch“ in Regierungshandeln überführt wurden. Der Beschluss des DDR-Ministerrates und die Erklärung der Staaten des Warschauer Paktes dienten der Legitimation der Teilung Berlins. Mit Blick auf den Ministerrat legte das Politbüro fest: „Der Beginn der vorgesehenen Maßnahmen zur Kontrolle erfolgt in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag aufgrund eines Beschlusses des Ministerrates. Genosse Ulbricht wird den Ministerrat am Wochenende zu einem Beisammensein einladen.“43 Am Abend des 12. August beendete Ulbricht in seiner Funktion als Staatsratsvorsitzender gegenüber dem Ministerrat die konspirative Vorbereitung der Grenzsperrung. Es galt, den Beschluss des Politbüros in staatliches Handeln zu überführen, sollte doch die Grenzschließung auf der Grundlage eines Regierungsbeschlusses erfolgen. Diese Sitzung begann als Sommerfest in Ulbrichts Landhaus am Döllnsee. Werner Eberlein44 erinnerte sich: „Ich glaube nicht, dass jemand auch nur ahnte, worum es sich eigentlich handelte. […] Nach dem Essen wurde gegen 21:00 oder 21:30 Uhr abgeräumt und Ulbricht sagte: ‚Wir machen jetzt noch eine kleine Sitzung.‘ […] Dann trug Ulbricht vor, dass die Maßnahmen am 13. August durchzuführen waren. Ins Detail ging er nicht, sondern er las nur die zu fassende Entschließung vor, der allgemein zugestimmt wurde. Nur wenige sagten ein paar Worte dazu. Nachts gegen 22:30 oder 23:00 Uhr wurde der Beschluss angenommen. Als die Gesellschaft ungefähr gegen 23:30 Uhr oder etwas später aufgehoben wurde und nach Hause fuhr, war die Chaussee nach Berlin bereits mit sowjetischen Panzern voll. Die Entscheidung war also bereits vorher gefallen.“45 Ulbricht hatte in Moskau eindeutig klargestellt: Die Schließung des Tors zum Westen richtete sich gegen die DDR-Bevölkerung. Das Verlassen des SED-Staates ohne staatliche Genehmigung war als „Republikflucht“ bereits kriminalisiert, und nun sollte denen, die die Flucht trotzdem wagten, in Berlin der Weg nach Westen endgültig versperrt werden. Diese politische Zielsetzung gab der Sperrung der Sektorengrenzen ihre Form. Sicherheits43  Protokoll 39  /  61 der außerordentlichen Sitzung des Politbüros des ZKs am Montag, 7. August 1961, zit. nach Matthias Uhl / Armin Wagner (Hrsg.), Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), S. 97. 44  Werner Eberlein (1919–2002), Sohn des KPD-Mitbegründers Hugo Eberlein, der 1937 in der Sowjetunion ermordet wurde. Sein Sohn wuchs in der Sowjetunion auf, war 1961 Dolmetscher von Ulbricht, von 1986 Mitglied des Politbüros des ZK der SED bis 1989. 45  Wilfriede Otto, 13. August 1961 – eine Zäsur in der europäischen Nachkriegsgeschichte, Dokumente und Materialien, Gespräch der Autorin mit Werner Eberlein am 1. Oktober 1996, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 2 / 1997, S. 85–89, hier S. 88.



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politisch war sie eine komplexe Aufgabe, bei der den sowjetischen Streitkräften und der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR die militärische Sicherung der Operation oblag. Sie standen für den Fall in Bereitschaft, dass sich über die Kontrolle der Transitwege nach West-Berlin ein militärischer Konflikt mit der NATO entwickelte. Die Grenzabriegelung in Berlin selbst war eine Aufgabe des Ministeriums des Inneren, dem die Grenzpolizei und die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, die Parteiarmee der SED, unterstanden. Nur sie sollten zusammen mit der Volkspolizei in Berlin eingesetzt werden, um der ganzen Aktion den Charakter eines „Polizeieinsatzes“ zu geben. Trotzdem war dies Teil der militärischen Operation – das zeigt sich an der Tatsache, dass die sowjetische Armee die Planungsunterlagen für diese Aktion koordinierte. Auch die Durchführung der Grenzsperrung als Polizeiaktion hatte mit dem Viermächtestatus von Berlin zu tun; Aktionen des deutschen Militärs hätten gegen den entmilitarisierten Status der Stadt verstoßen. Der reaktivierte Marschall der Sowjetunion Iwan S. Konjew übernahm am 10. August das Kommando als Oberkommandierender der GSSD. An diesem Tag erfolgte auch die Befehlsausgabe an die drei DDR-Minister zur Durchführung der Grenzsperrung.46 Die Ernennung Konjews war ein symbolischer Schritt, der die sowjetische Entschlossenheit, ihre Siegerrechte in Deutschland zu behaupten, personalisierte: Konjew hatte zusammen mit Marschall Konstantin G. Schukow auch jene sowjetischen Truppen kommandiert, die 1945 Berlin eroberten. Die Arbeitsteilung zwischen der Gruppe der GSSD und der NVA während der Sperrung der Sektorengrenzen wurde so festgelegt, dass die Volksarmee die Aktion außer Sichtweite der Grenze sicherte und die sowjetischen Truppen „sich in voller Kampfbereitschaft in der zweiten Reihe“47 bereithielten. Die Aktion selbst schlug ein wie einen Blitz, die Berliner und die Welt wurden überrascht. Am Morgen des 13. August standen sie vor den vollendeten Tatsachen der gesperrten Sektorengrenze in ihrer Stadt. Ulbricht hielt Stacheldraht für ein geeignetes Material zur raschen Absperrung der Sektorengrenze. Um den 20. August, erinnerte sich Kwizinskij, fand eine Besprechung zwischen ihm, Botschafter Perwuchin und Marschall Konjew statt. Ulbricht erklärte seinen sowjetischen Gästen, „die heiße Phase der Operationen sei vorüber; jetzt müsse man die Lage konsolidieren und die Grenze befestigen. Der Stacheldraht könne nicht ewig in der Stadt bleiben, er reize die Menschen und provoziere sie zu immer neuen Versuchen, die Grenze zu durchbrechen. ‚Wir werden anstelle des Stacheldrahtes 46  Vgl.

Interview mit Generaloberst Anatolij Grigorjewitsch Mereschko (FN 38). Uhl (FN 24), S. 127.

47  Matthias

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eine Betonmauer bauen‘‚ sagte Ulbricht.“48 Der weitere Ausbau der Grenzsicherung in Form der Ersetzung des Stacheldrahtes durch eine Mauer folgte dieser Vorgabe. Die Berliner Grenzziehung hatte auch Auswirkungen auf die Bewohner an der innerdeutschen Grenze. Mit der „Aktion Festigung“ setzte am 1. Sep­ tember eine zweite Umsiedlungswelle (nach der von 1952) ein, „bei der 3.000 ‚unzuverlässige Elemente‘ entlang der Grenzen zwangsweise ins Binnenland umgesiedelt wurden.“ Das geschah auf Befehl des Innenministers, der die Bewohner klassifizierte, die aus dem Bereich der „5-kmSperrzone und des 500-m-Schutzstreifens“ zu deportieren waren.49 Ulbricht informierte vier Tage vor der Sitzung des Zentralen Stabes Chruschtschow über seine Pläne: „Jetzt wird an der weiteren Befestigung der Grenze gebaut. Die Taktik, schrittweise die Maßnahmen durchzuführen, hat es dem Gegner erschwert, sich über das Ausmaß unserer Maßnahmen zu orientieren, und es uns erleichtert, die schwachen Stellen an der Grenze zu finden.“50 Der Zentrale Stab, der die Grenzabsperrung am 13. August koordinierte, trat auf Beschluss des SED-Politbüros am 20. September noch einmal zusammen, um eine erste Zwischenbilanz der Grenzsperrung zu ziehen. Der Auftrag lautete außerdem: „Alle Durchbruchversuche müssen unmöglich gemacht werden.“51 Generalmajor Willi Seifert vom Ministerium des Innern erläuterte die zu treffenden Maßnahmen, um die Grenzsicherung zu stabilisieren. Für die innerstädtische Grenze plante das Ministerium des Innern, „18 bis 20 km Grenzmauer zu errichten. Bis zur Fertigstellung sind Gräben zu errichten.“ In der „Kanalisation“ seien Sperren zu errichten. „Entschiedene Maßnahmen“ seien u. a. in der Bernauer Straße erforderlich, „wo die Grenzlinie entlang der Hausgrundstücke verläuft“. Hier müsse eine „vollständige Räumung oder schnellere Räumung unzuverlässiger Elemente erfolgen“. Auf Nachfragen erklärte er, dass die Mauer zwei Meter hoch gebaut werden sollte. Als sich die Delegationen von SED und KPdSU am 2. November 1961 in Moskau trafen, hatte Ulbricht noch „eine kleine Frage“ an Chru48  Julij

A. Kwizinskij (FN 29), S. 187. Ritter / Peter Joachim Lapp, Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk, Berlin 2007, S. 28–30. 50  SAPMO-BArch, DY 30  /  3509, Ulbricht an Chruschtschow, 16. September 1961. 51  Protokoll über die Lagebesprechung des zentralen Stabes am 20. September 1961, zit. nach: Werner Filmer / Heribert Schwan, Opfer der Mauer, München 1991, S. 374. Diesem Protokoll entstammen auch die folgenden Zitate. 49  Jürgen



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schtschow, ob es jetzt der richtige Zeitpunkt sei, um die Grenze zu befestigen. Seine Antwort war lapidar: „Aber warum sollte man das nicht tun?“52 7. Deutsche Einheit aus der Sicht der Bundesrepublik und der DDR Der Stacheldraht durch Berlin demonstrierte bildhaft die Teilung des Landes. Diese Bilder warfen schon am 13. August die Frage auf: Mussten die Deutschen nun ihre Hoffnung auf Wiedervereinigung endgültig begraben, und was bedeutete das Ereignis für die künftige Deutschlandpolitik der Bundesrepublik? Bundeskanzler Adenauer benannte noch am 13. August die eigentliche Ursache für diesen Gewaltakt: „Diese Maßnahme ist getroffen worden, weil das der mitteldeutschen Bevölkerung von einer auswärtigen Macht aufgezwungene Regime der inneren Schwierigkeiten in seinem Machtbereich nicht mehr Herr wurde.“53 Dieser Gewaltakt ändere aber nichts an dem Verfassungsauftrag der Bundesrepublik, die deutsche Einheit mit friedlichen Mitteln herbeizuführen. „Mit den Deutschen in der Sowjetzone und in OstBerlin fühlen wir uns nach wie vor aufs engste verbunden; sie sind und bleiben unsere deutschen Brüder und Schwestern. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der deutschen Einheit in Freiheit unverrückbar fest.“54 Die Erklärung war ein Versprechen vor allem gegenüber der Bevölkerung der DDR. Die Bundesregierung beharrte weiter auf dem Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und damit auf dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands. Der Schock für die West-Berliner war ein doppelter: einmal die Brutalität, mit der die SED die Sektorengrenze schloss, und dann die Hinnahme der Grenzsperren durch die Westmächte. Angst vor der eigenen Zukunft und eine Vertrauenskrise in die Bündnisgarantien der Vereinigten Staaten breiteten sich aus. Mussten nun die Möbelwagen bestellt werden, um diese im Stich gelassene Stadt zu verlassen? Das war die Frage. In gewisser Weise wiederholte sich das Szenario von 1948, als die Sowjetunion mit einer Blockade der Transitwege von Westdeutschland nach West-Berlin die drei Westmächte zum Abzug aus der Stadt zwingen wollte. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt trat in die Fußstapfen seines Vorgängers Ernst Reuter, der 1948 den Widerstandswillen der Berliner ge52  Gespräch Chruschtschows mit Ulbricht, 2. November 1961, abgedruckt in: Ger­ hard Wettig (FN 19), S. 519–536. 53  Zit. nach Manfred Wilke (FN 15), S. 351. 54  Zit. nach ebd., S. 352–353.

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gen die Blockade mobilisiert hatte und damit die Voraussetzung für die Luftbrücke der Amerikaner schuf. Wie dieser sprach Brandt für die Stadt. Am 16. August wurde das Schöneberger Rathaus zur Tribüne, vor dem sich 250.000 Berliner versammelten. Mit seiner Rede verwandelte Brandt die ohnmächtige Empörung vieler Berliner über die gewaltsame Teilung ihrer Stadt durch die kommunistischen Machthaber in eine entschlossene Haltung der Selbstbehauptung. Er erinnerte seine Zuhörer daran, dass „unsere Mitbürger“ in Ost-Berlin und in „der Zone“ – so nannte er damals DDR – „die schwerste Last trügen, die man ihnen in diesen Tagen nicht abnehmen könne, „und das ist heute das Bitterste für uns! Wir können sie ihnen nur mittragen helfen, in dem wir ihnen zeigen, daß wir uns der Stunde gewachsen zeigen! Sie fragen, ob wir sie jetzt abschreiben. Darauf gibt es nur die Antwort: Nein, niemals! Sie fragen uns, ob wir sie jetzt verraten werden, und auch darauf gibt es nur die Antwort: Nein, niemals!“55 Er forderte die öffentliche Ächtung des SED-Staates. Zwei Tage später sprach er als SPDSpitzenkandidat bei der bevorstehenden Bundestagswahl über die eingetretene Zäsur für die deutsche Politik, auch im Hinblick auf ihre Verbündeten: „Ein Wurm krümmt sich noch, wenn er getreten wird. Für die westlichen Schutzmächte bedeutet der vergangene Sonntag, dass sie aus jener Viermächtevereinbarung heraus gedrängt worden sind, die sich auf Berlin als Ganzes beziehen. Die Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten und das, was die Zonenregierung darauf gestützt verkündet hat, bedeutet in Wirklichkeit auch, dass den Westmächten die Mitverantwortung für Deutschland als Ganzes streitig gemacht wird.“56

Nüchtern konstatierte er die Konsequenz, die sich aus dieser Analyse für die Bundesrepublik ergab. Sie konnte sich nicht weiter darauf verlassen, dass die drei Westmächte in Verhandlungen mit der Sowjetunion eine deutsche Wiedervereinigung als realistisches Ziel anstreben. Der 13. August hatte diese Tatsache den Deutschen schmerzhaft vor Augen geführt. Die Mauer durch Berlin konnte von der westdeutschen Politik nicht mehr ignoriert werden. Die Schuld an der eingetretenen Verschärfung der internationalen Lage gab Brandt der Führung der Sowjetunion, „die nicht davon ablassen will, das aus Brutalität und Unfähigkeit zusammengesetzte Ulbricht-Regime zu stützen“. Er beharrte auf dem Ziel der deutschen Einheit wie Adenauer: „Die Preisgabe unserer Landsleute wird nicht stattfinden. Wir sind ein Volk […]. Nur Recht und Moral verpflichten uns zu diesem Standpunkt.“57 Nicht die Grenzschließung am 13. August war für Brandt rückblickend der Wendepunkt in seinem politischen Denken, sondern die Reaktion der Westmächte auf diesen Gewaltakt. Er verlor Illusionen und gewann Reali55  Ebd.,

S. 252. S. 352. 57  Zit. nach ebd. 56  Ebd.,



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tätssinn: „Es wurde Ulbricht erlaubt, der Vormacht des Westens einen bösen Tritt vors Schienbein zu versetzen – und die Vereinigten Staaten verzogen nur verstimmt das Gesicht. Meine politischen Überlegungen sind in den folgenden Jahren durch die Erfahrungen dieses Tages wesentlich mitbestimmt worden. Was man meine Ostpolitik genannt hat, wurde vor diesem Hintergrund geformt.“58 International war die bundesdeutsche Politik gezwungen, sich den neuen weltpolitischen Realitäten anzupassen; das wusste auch Adenauer. Seine Überlegungen kreisten um einen Modus vivendi mit der Sowjetunion in der deutschen Frage und die Einsicht, dass wir „die SBZ hinnehmen [müssen], auch als staatsrechtliches Gebilde, wenn die Menschen dort freier und menschenwürdiger leben können.“59 Kurz vor dem Ende seiner Kanzlerschaft konnte er aus dieser Einsicht selbst keine politischen Konsequenzen mehr ziehen. Das demonstrative Nein von Brandt auf die stummen Fragen der Deutschen hinter dem Stacheldraht, ob man sie nun „abschreibe“ oder gar „verrate“, war von grundsätzlicher Natur. Es war zugleich die Anfrage an die Westdeutschen, ob sie gewillt waren, an der nationalen Perspektive der deutschen Einheit angesichts der mit der Mauer endgültig vollzogenen Spaltung Deutschlands festzuhalten. Der Realität deutscher Zweistaatlichkeit mussten die Bundesregierung und der Berliner Senat aber ihren Tribut zollen; sie mussten eine Politik des Nicht-Loslassens entwickeln, die der Logik der Mauer und der Abgrenzungspolitik des SED-Staates entgegenwirkte. Der nationale Zusammenhalt der Deutschen über Zonengrenzen hinweg beruhte seit 1945 in erster Linie auf den familiären Bindungen und auf der gemeinsamen Sprache und Kultur. Die SED-Führung zog die Grenze durch Berlin nicht nur, um die Flucht aus der DDR zu verhindern, sie tat es auch, um die „nationalen Illusionen“ in der DDR absterben zu lassen. Der einheitlichen Sprache wollte die SED durch Zensur und Sprachlenkung beikommen. In ihrer Kulturpolitik betonte sie die Eigenständigkeit der sozialistischen Kultur der DDR in Abgrenzung zu der der Bundesrepublik. Dieser Prozess der erzwungenen Abgrenzung der Bevölkerung der DDR von den Deutschen in der Bundesrepublik bedrohte langfristig die politische Option, einen deutschen Nationalstaat zu rekonstruieren. In Berlin hatte die Mauer viele menschliche Beziehungen zerrissen. WestBerlinern war danach ein Besuch ihrer Angehörigen im Ostteil der Stadt 58  Zit.

nach ebd., S. 356. Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann. 1952–1967, Stuttgart 1991,

59  Hans-Peter

S. 748.

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verwehrt. Es dauerte zweieinhalb Jahre bis zur ersten Passierscheinregelung zwischen dem Berliner Senat und der DDR im Dezember 1963 – der sichtbare Beginn der Politik der menschlichen Erleichterungen seitens des Berliner Senats und der Bundesrepublik während der Spaltung. Ihr späterer Preis ist bekannt, die faktische Anerkennung der DDR als zweiter deutscher Staat. Den Anspruch auf nationale Einheit und Selbstbestimmung gab allerdings keine Bundesregierung völkerrechtlich auf. Auch in den 28 Jahren, in denen die Mauer stand, bewährte sich Berlin als Drehscheibe für Kontakte sowie Informationen und als Brücke zwischen den Menschen in beiden deutschen Staaten. Gegenüber seinem Staatsvolk trat Ulbricht nach dem 13. August als Sieger auf. Am 18. August begründete er der DDR-Bevölkerung im Fernsehen die Grenzsperrung als Tat zur Rettung des europäischen Friedens gegenüber einer drohenden Aggression der Bundesrepublik gegen die DDR. Das bedeutete für die SED aber keine grundsätzliche Absage an die deutsche Einheit, im Gegenteil, Ulbricht nannte den genauen Zeitpunkt einer ­deutschen Wiedervereinigung. Er wiederholte die obligatorische Schuldzu­ weisung an den Westen, die für die Teilung verantwortlich sei und ver­ sicherte: „Niemand aber soll etwa denken, die strenge Sicherung unserer Grenzen hätte zu bedeuten, daß wir etwa die Arbeiter und die friedliebenden Menschen in Westdeutschland abgeschrieben hätten. Nein, niemand ist abgeschrieben.“60

Der letzte Satz war eine Replik auf Brandts Rede am 16. August. Ulbricht verschob den Tag der Wiedervereinigung auf den Sieg des Sozialismus in Deutschland, der zur Voraussetzung die sozialistische Umwälzung in der Bundesrepublik habe. Entgegen der Betonung der Gemeinsamkeiten mit Teilen der westdeutschen Bevölkerung war die Konsequenz der SED für die DDR eine grundsätzliche Abgrenzung von der Bundesrepublik. Ulbricht hatte über ihre Notwendigkeit auch keine Illusionen. Im September 1961 erstattete er einen Lagebericht an das Präsidium der KPdSU. Die Schlüsselworte waren die „Stabilität der Lage“ und das „Umdenken“ in der DDR, in West-Berlin und der Bundesrepublik. Die Voraussetzung für die Stabilität der DDR sei die Grenzschließung. Ulbricht schrieb: „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bewiesen, dass es nicht möglich ist, dass ein sozialistisches Land wie die DDR einen friedlichen Wettbewerb mit einem imperialistischen Land wie Westdeutschland bei offener Grenze durchführen kann.“61 Ein solcher Wettbewerb sei nur möglich, „wenn das sozialistische Weltsystem in der 60  Zit. 61  Zit.

nach ebd., S. 359 f. nach ebd., S. 383 f.



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Pro-Kopf-Produktion die kapitalistischen Länder übertroffen hat“. Das war das Eingeständnis, dass der Sozialismus in der DDR den Systemwettbewerb gegenüber der Marktwirtschaft der Bundesrepublik verloren hatte. Es blieben die geschlossene Grenze und die repressive Machtstruktur der Diktatur inklusive der Existenzgarantie durch die Sowjetunion, die das Regime aufrechthielt. Angesichts dieser Realität glaubte Ulbricht damals, die Menschen in der DDR, die immer noch auf eine Wiedervereinigung im westlichen Sinn gehofft hatten, „waren jetzt gezwungen, die Fragen bis zu Ende zu denken, d. h., dass die Lösung der nationalen Frage des deutschen Volkes […] den Sieg des Sozialismus in der DDR voraussetzt“. Die Intelligenz habe die Situation relativ schnell verstanden, „respektierte“ die Maßnahmen, und „es gab mit ihnen weniger Schwierigkeiten als früher“62. Ulbricht forderte nun von Chruschtschow den Abschluss eines separaten Friedensvertrages mit der DDR und die Übertragung der sowjetischen Statusrechte in Berlin an den SED-Staat. Chruschtschow entschied sich aber für erneute Verhandlungen mit den USA und die Sowjetunion behielt ihre Statusrechte in Berlin. Die SED konnte eine Mauer errichten, aber sie bekam nicht die uneingeschränkte Souveränität über ihr Staatsgebiet. 8. Perspektiven der amerikanischen und der sowjetischen Deutschlandpolitik Nach dem 13. August hing die weitere Zukunft West-Berlins von der Reaktion des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy auf den Mauerbau ab. Der ließ sich am 14. August über die Lage in Berlin informieren; seine Reaktion soll gelassen gewesen sein: „Die anderen sind in Panik geraten – nicht wir. Wir werden jetzt nichts tun, weil es keine Alternative gibt außer Krieg. Es ist vorbei, sie werden Berlin nicht überrollen.“63 Für Brandt dagegen war es nicht vorbei, sondern eine neue Entwicklung hatte begonnen. Er entschloss sich zu einem Brief an Kennedy, um ihm seine Sicht der Lage in Berlin und die Pflichten der Westmächte darzulegen: „Die Entwicklung hat den Widerstandswillen der West-Berliner Bevölkerung nicht verändert, aber sie war geeignet, Zweifel in die Reaktionsfähigkeit und Entschlossenheit der drei Mächte zu wecken. Dabei ist ausschlaggebend, dass der Westen sich stets gerade auf den existierenden Vier-Mächte-Status berufen hat.“

Er wisse wohl, dass sich diese Garantien für die Freiheit der Berliner immer nur auf die Westsektoren bezogen hätten. Die politisch-psychologische Gefahr in Berlin sei aber eine doppelte: 62  Zit. 63  Zit.

nach ebd., S. 384. nach Peter Wyden, Die Mauer war unser Schicksal, Berlin 1995, S. 95.

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„1. Untätigkeit und reine Defensive könnten eine Vertrauenskrise zu den Westmächten hervorrufen. 2. Untätigkeit und reine Defensive könnten zu einem übersteigerten Selbstbewusstsein des Ostberliner Regimes führen, das heute bereits in seinen Zeitungen mit dem Erfolg seiner militärischen Machtdemonstration prahlt.“64

Kennedy sah die Grenzsperrung auch als „Beweis dafür, wie sehr das Thema ‚Freie Stadt‘ ‚leeres‘ Gerede und wie verachtenswert das DDR-Regime war, das die Sowjetunion ‚respektabel‘ zu machen versucht.“65 Dem widersprach Brandt ebenfalls: „Der zweite Akt ist eine Frage der Zeit. Nach dem zweiten Akt würde es ein Berlin geben, das einem Ghetto gleicht, das nicht nur seine Funktionen als Zufluchtsort der Freiheit und als Symbol der Hoffnung auf Wiedervereinigung verloren hat, sondern das auch vom freien Teil Deutschlands abgeschnitten wäre. Dann können wir statt der Fluchtbewegung nach Berlin den Beginn einer Flucht aus Berlin erleben.“

Brandt verlangte nach der Zerstörung des Vier-Mächte-Status für Berlin einen Drei-Mächte-Status für West-Berlin, „die Wiederholung der Garantie der Westmächte, bis zur Wiedervereinigung Deutschlands in Berlin präsent zu bleiben, und eine Erklärung, dass für die Westmächte die deutsche Frage keineswegs erledigt sei.“66 Die östliche Grenzschließung hatte die Rechte der Westmächte in der Stadt respektiert, trotzdem war die Krise nicht vorbei, Chruschtschow hatte sein Wiener Ultimatum noch nicht zurückgenommen. Während man in Washington in den ersten Tagen nach dem 13. August glaubte, „mit müden Protestschreiben die Krise, die aus Washingtoner Sicht gar keine war, im Griff zu haben, schrillten bei den Amerikanern […] in Berlin und Bonn die Alarmglocken. Entsprechend sahen die Telegramme aus, die sie am 16. und 17. August nach Washington schickten.“67 Für eine realistische Meinungsbildung über die Lage in Berlin sorgten in Washington auch amerikanische Journalisten, wie Robert H. Lochner, der vom amerikanischen Außenministerium bestellte Direktor des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS).68 64  Schreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, an Präsident John F. Kennedy, 16. August 1961, zitiert nach Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.), Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe IV, Bd. 7 / 1, Frankfurt a. M. 1976, S. 48 f. 65  Rolf Steininger, Berlinkrise und Mauerbau 1958 bis 1963, München 2009, S. 255. 66  Brandt an Kennedy, 16. August 1961, zitiert nach Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (FN 64), S. 48 f. 67  Rolf Steininger (FN 65), S. 260. 68  Siehe Frederick Taylor, Die Mauer, Berlin 2009, S. 207–228.



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Am 17. August hatte Kennedy den Brief von Brandt in Händen, „der damals in Washington für Irritationen sorgte.“ Kennedy selbst war „außerordentlich verärgert. Er verbat sich solche Ratschläge und entsprechend fiel auch sein Antwortschreiben aus – und zeigte Brandt gleichzeitig die Grenzen der deutschen Politik und des amerikanischen Engagements auf. Kein Wort von Wiedervereinigung, es ging nur um West-Berlin.“ Der Präsident schrieb: „Die Bindung Westberlins zur freien Welt ist keine Sache schöner Reden. So wichtig auch die Verbindungen zum Osten gewesen sind, so schmerzlich ihr Abbruch auch ist, so läuft das Leben der Stadt, so wie ich es verstehe, doch in erster Linie zum Westen hin – ihr Wirtschaftsleben, ihre moralische Basis und ihre militärische Sicherheit.“69 Der Protest aus West-Berlin zeigte jedoch in Washington Wirkung, und die USA ergriffen die Maßnahmen, auf die in Berlin viele warteten. Rolf Steininger kommt zu dem Schluss: „Alles zusammen sorgte für eine graduelle Änderung der amerikanischen Politik – wenn auch nur im Atmosphärischen. Kennedy entschied, die US-Garnison in Berlin um eine Kampfgruppe (1.500 bis 1.800 Mann) zu verstärken […] sowie Vizepräsident Lyndon B. Johnson auf Kurzbesuch, und den ‚Helden‘ der Luftbrü/  49 General Lucius. D. Clay als seinen persönlichen Vertreter nach cke 1948  Berlin zu schicken; gleichzeitig wollten die USA ihre militärische Aufrüstung beschleunigt vorantreiben – ohne dies allerdings öffentlich zu machen. Der Mauerbau, so kritisierte der Präsident, hätte vorhergesehen werden müssen.“70

Über die propagandistische Ausnutzung der Berliner Grenzschließung dachte Kennedy schon am 14. August nach. Die Reise von Johnson nach Berlin bot ihm die Gelegenheit, Grundmuster dieser Propaganda mittels einer Geste der Solidarität medial zu verbreiten. Johnson betonte, dass sich die Amerikaner für die Lebensfähigkeit der Stadt verbürgt hätten. Die „Schranke aus Stacheldraht“ habe „menschliche Bande zerrissen“ und die im Osten würden „einen Sieg für sich in Anspruch [nehmen] und haben ihre Niederlage bewiesen. Die Kommunisten haben sich zu früh beglückwünscht.“ Die Ursache für die Teilung Berlins sah er darin, dass sie den Systemwettbewerb in Deutschland nach 1945 verloren hätten. Während die Deutschen in der Bundesrepublik „ein lebenswertes Leben aufgebaut“ hätten, sei dagegen in Ostdeutschland „ein schrecklicher und tragischer Fehlschlag zu verzeichnen.“ Nun würden „diese Leute“ versuchen, „sich mit Stacheldraht, Bajonetten und Tanks den Kräften der Geschichte entgegenzustellen. Auf kurze Sicht ist der Stacheldraht da und wird nicht durch eine Handbewegung verschwinden. Auf lange Sicht wird aber dieses unkluge Bemühen scheitern. Wendet 69  Rolf

70  Ebd.,

Steininger (FN 65), S. 262. S. 267.

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Eure Augen von diesen Schranken ab und fragt Euch selbst: Wer kann wirklich glauben, dass die Geschichte Deutschland und Berlin ihre natürliche Einheit verweigern wird? Dies ist somit eine Zeit für Vertrauen, Haltung und Glauben an Euch selbst. Dies ist auch eine Zeit für Glauben an eure Alliierten allüberall in der Welt und diese Insel steht nicht allein. Ihr seid ein lebenswichtiger Teil der gesamten Gemeinschaft freier Menschen.“71 Mit anderen Worten, die Teilung der Stadt blieb, auch die Vereinigten Staaten konnten sie nicht mit einer „Handbewegung“ beseitigen, aber die „Insel“ selbst war Teil der westlichen Gemeinschaft. Es blieb die Gewissheit einer kommunistischen Niederlage und die Hoffnung auf die Geschichte und ihre Gesetzmäßigkeiten, die die unnatürliche Teilung Deutschlands und Berlins beenden würden. Die Botschaft „vertraut euch selbst und euren Alliierten“ war auch eine indirekte Antwort auf Brandts Warnung vor einer Vertrauenskrise. Die sowjetische Seite fürchtete genau diese Propaganda mit ihrer Polarisierung von Freiheit und Gewalt, denn sie wirkte. Gleichzeitig startete der amerikanische Präsident eine Verhandlungsinitiative gegenüber Moskau, um den Konfliktherd Berlin zu befrieden. PaulHenri Spaak, der belgische Außenminister, sondierte in Moskau im September 1961, ob Chruschtschow zu solchen Verhandlungen überhaupt bereit sei. Er war es, forderte aber „Realismus in der deutschen Frage“. Was er darunter verstand, verdeutlichte er dem belgischen Außenminister mit einer ­Anekdote aus der Frühzeit der Sowjetunion: „Damals gab es viele Fragebögen zur Befragung von [Partei- und Staats-] Bediensteten.“ Eine der Fragen betraf den Glauben an Gott. „Ein Feuilletonist hat das genutzt und eine Glosse geschrieben. Man fragt einen sowjetischen Bediensteten: Glauben Sie an Gott? Er sagt: im Dienst nein, aber zu Hause – ja. So befassen Sie sich mit den Deutschland-Fragen. Zu Hause, da sagt er nein, im Dienst – ja, denn de Gaulle hat sich nie dafür erklärt, dass es zwei Deutschlands gibt, nirgends hat er sich öffentlich dafür ausgesprochen, aber im Gespräch scheut er sich nicht und sagt offen, man dürfe keinesfalls zulassen, dass es ein Deutschland gibt, es sei nötig, dass es zwei Deutschlands gibt. Die Engländer, die sind diplomatischer. Sie sagen das nicht im Gespräch, sondern man muss in ihren Augen lesen, dass sie nie damit einverstanden sein werden, dass ein Deutschland entsteht. Der Standpunkt zu Deutschland ist hier nicht durchdacht, irreal. Wir glauben, dass es zwei Deutschlands gibt. Und das ist die Realität. Sie, der Westen, wollen ein einziges Deutschland, wie Sie jedenfalls verkünden, aber unaufrichtig.“ 71  Rede des amerikanischen Vizepräsidenten Johnson auf der gemeinsamen Sitzung des Berliner Senats und des Berliner Abgeordnetenhauses, 19. August 1961, in: Jürgen Rühle / Gunter Holzweißig, 13. August 1961. Die Mauer von Berlin, Köln 1981, S.  104 f.



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Nach diesen Ausführungen umriss Chruschtschow die sowjetische Posi­ tion zu Deutschland, die er als Verhandlungsgrundlage ansah: „Um ein einiges Deutschland mit Ulbricht an der Spitze zu haben, ist ein Krieg erforderlich. Um ein Deutschland mit Kanzler Adenauer an der Spitze zu haben, ist ein Krieg erforderlich. Wir sind gegen Krieg. Wir sind für das, wie jetzt die Lage entstanden ist.“72 Die Verhandlungen zwischen den amerikanischen und sowjetischen Außenministern über die Transitwege nach Berlin wurden aufgenommen und Chruschtschow zog im Oktober das Wiener Ultimatum zurück. Dagegen formulierte Henry Kissinger in Washington zeitgleich die amerikanische Interessenlage in der deutschen Frage. In seiner Analyse der deutschen Politik nach dem Bau der Mauer für die amerikanische Administration kam er zum Schluss, diese müsse nach dem 13. August in der Frage der Wiedervereinigung Konsequenzen ziehen. Stacheldraht und Mauer seien international eine deutliche Absage an alle deutschen Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung. Trotzdem würden diese weiter existieren und als Impuls auf die Politik der Bundesregierung wirken. Der Historiker Kissinger dachte Politik in längeren Zeiträumen, und er wusste vor allem, welche Bedeutung die öffentliche Meinung für das Selbstverständnis von Gesellschaften hat. Er befürwortete daher trotz der Bilder aus Berlin, dass die amerikanische Regierung weiterhin für die deutsche Wiedervereinigung eintrete. Für ihn war diese Position keine „politische Träumerei“, sondern eine „absolute Notwendigkeit, um den Aspirationen der deutschen Bevölkerung gerecht zu werden“. Dabei hatte er vorrangig die amerikanische Deutschlandpolitik im Blick, deren oberste Priorität es damals war, die Bundesrepublik im west­ lichen Bündnis zu halten und ihr kein erneutes „Rapallo“ zu ermöglichen. In den westlichen Regierungen war die Furcht vor einer Wiederholung eines neutralistischen Ausgleichs der Bundesrepublik mit der Sowjetunion immer virulent. Kissinger wollte aber diese Möglichkeit dauerhaft ausschließen, in dem sich die USA in dieser Frage klar positionierten: „Der beste Weg hierfür sei es, die Schuld an der fortdauernden Trennung weiterhin der UdSSR anzulasten.“73 An dieser Stelle ist eine Anmerkung notwendig. Der in Fürth geborene Kissinger musste seiner deutschen Heimat vor 1939 entfliehen, ebenso wie der Historiker Gerhard Weinberg oder der Germanist Gerhard H. Weiss. Ihr Schicksal ist Teil der deutschen Tragödie, die die Diktatur der Nationalsozialisten über unser Land heraufbeschwor. Ich persönlich schäme mich immer noch dafür, dass mein Volk diese Verbrechen gegen seine jüdischen 72  Zitiert

73  Harald

S.  136 f.

nach Manfred Wilke (FN 15), S. 361 f. Biermann, John F. Kennedy und der Kalte Krieg, Paderborn 1997,

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Mitbürger und die Juden Europas zugelassen hat, die mit den Vertreibungen ins Exil begannen. Trotzdem ließen viele von ihnen als Amerikaner die deutschen Probleme, sei es als Wissenschaftler oder Politiker, nicht los und sie unterstützten den demokratischen Neuanfang nach 1945; dafür gebührt ihnen Dank. Bonn war nicht Weimar, und eine Berlinpolitik außerhalb der Abstimmung im westlichen Bündnis kam für die Bundesrepublik nicht in Betracht. Alle Bundesregierungen wussten, dass die Vereinigten Staaten die Freiheit West-Berlins garantierten. 9. Die Bedeutung des 13. August für die deutsche Teilungsgeschichte Die Grenzschließung in Berlin führte allen Deutschen die unerbittliche Realität der Teilung ihres Landes vor Augen. Die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten und in Berlin war auch Ausdruck der bipolaren Weltordnung. 16 Jahre nach Kriegsende musste eine ganze Generation Deutscher ihre Hoffnungen auf die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit für lange Zeit aufgeben. Die nächste Generation wuchs im Schatten der Mauer auf. Sie wurde zum Symbol der scheinbar unabänderlichen Teilung Deutschlands als Folge von Hitlers Krieg. Die kollektiven Erinnerungen an den Mauerbau sind bis heute vielschichtig, interessengeleitet und genera­ tionsspezifisch. Für die Erlebnisgeneration war 1961 alles klar: Um die Macht der SED in der DDR angesichts der Flüchtlingszahlen aus dem „Arbeiter- und Bauern-Staat“ zu behaupten, musste das Tor zum Westen in Berlin geschlossen werden. Umgekehrt war für die Aktivisten der DDR die Grenzschließung zur Sicherung des Sozialismus in Deutschland eine unbedingte Notwendigkeit. Nach dem 13. August in Berlin mussten sich die Deutschen in der DDR mit den Verhältnissen abfinden und sich mit dem Sozialismus arrangieren, ohne ihre Herrschaft mehrheitlich zu billigen. Der Entzug der Freizügigkeit durch die SED schuf ein Gefühl einer Freiheitsberaubung, das schließlich eruptiv 1989 in die friedliche Revolution in der DDR mündete und zum Fall der Mauer führte. In der Bundesrepublik wurde die Berliner Mauer in den innenpolitischen Debatten um die Deutschlandpolitik zunehmend als Beweis für das Scheitern der Deutschlandpolitik der Regierungen Konrad Adenauers gewertet, die unbeirrt gegenüber den vier Siegermächten auf eine Lösung der deutschen Frage im Sinne der Wiederherstellung der deutschen Einheit beharrt hatte. Die Mauer wurde in der Bundesrepublik zum Katalysator für eine neue Ostpolitik. Sie musste von den Realitäten der deutschen Zweistaatlich-



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keit ausgehen. Die politischen Differenzen lagen in der Antwort auf die Frage: Hält die westdeutsche Politik die Perspektive der Wiedervereinigung offen oder akzeptiert sie die Teilung als letztes Wort der Geschichte? In der veröffentlichten Meinung und den akademischen Diskussionen wurde die DDR immer mehr zu einem „zweiten Österreich“. Die Hoffnung auf die Einheit der Nation schwand unzweifelhaft im demokratischen Kernstaat Bundesrepublik. Der kommunistische Gewaltakt gegen das eigene Volk, der sich in dieser Mauer manifestierte, wurde außerhalb Berlins immer mehr zur Normalität und schon damals die Mauer zugleich zu einem touristischen Event. Erst die friedliche Revolution in der DDR und der Mauerfall 1989 bewiesen die Gegenwart der Geschichte. Nun entschieden die Deutschen die seit 1949 eingefrorene Systemauseinandersetzung um die Zukunft Deutschlands zu Gunsten einer Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.

„Berlin durch einen eisernen Ring zu umkreisen …“ Von Alexei Filitov Diese Worte sind während des UdSSR-DDR-„Gipfels“ am 1. August 1961 gefallen1. Der sowjetische Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow hat sie an seinen Gesprächspartner, SED-Chef Walter Ulbricht, gerichtet. Was er damit sagen wollte, brachte er (oder der Protokollant, der die Niederschrift der Unterredung angefertigt hat2) nicht genau zum Ausdruck: ob es um die Abriegelung einer Stadt als Ganzes oder dessen westlichen Teils ging, blieb unklar. Die Klarheit kam erst am Ende des Gesprächs auf den Tisch: „N. S. Chruschtschow: Gen. Perwuchin3 sagte mir, dass eine Kontrolle an der äußeren Grenze Berlins errichtet werden soll. W. Ulbricht: Das ist ein tradierter Standpunkt der Außenministerien, die vom VierMächte-Status der Stadt ausgehen. N. S. Chruschtschow: Gen. Perwuchin sagte mir: Lassen wir diese [Leute] in West-Berlin einschleusen, sowieso können sie daraus nicht entkommen. Aber das ist undenkbar, da die großen [Aufnahme]Lager in West-Berlin entstehen werden, und man wird sie den Touristen zur Schau zeigen. W. Ulbricht: Na ja, die Grenze läuft inmitten Berlin selbst. N. S. Chruschtschow: Ich würde die Kontrolle nur in Berlin, nicht entlang der Außengrenze errichten.“4

Der Schluss liegt nahe: Es handelte sich um die Trennlinie quer durch Berlin – wie diese zwei Wochen später, am 13. August 1961, zur grimmigen Realität geworden ist. Eigentlich kann man die Eintragung mit diesem Datum im Text der meistens nur schwer leserlichen Notizen, in denen Ulbricht den Hauptinhalt dieses Gesprächs skizziert hat, ausfindig machen. Quellenkritisch ist der Vergleich zwischen den beiden Dokumenten sehr aufschlussreich: Die sowjetische Fassung ist umfangreicher aber paradoxerweise lü1  RGANI,

52 / 1 / 557, Bl.  130. handelte um einen jungen sowjetischen Diplomaten namens Valentin Kopteltzew, damals Botschaftsrat in der sowjetischen Botschaft in der DDR; nach 1990 leitete er die Berliner Zweigstelle der russischen Botschaft in der Bundesrepublik. 3  Dieser war damals der sowjetische Botschafter in der DDR. 4  RGANI, 52 / 1 / 557, Bl.  145. 2  Es

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ckenhafter als die Notiz von Ulbricht. Ein Beispiel: Als der DDR-Chef die „Grenzschließung“ thematisierte und fragte: „Welcher Termin ist besser festzustellen?“, folgten, laut sowjetischer Niederschrift, ein nicht ganz durchsichtiger Dialog zum „Kirchentag“ in Westberlin, dann der Meinungsaustausch zu den „Grenzgängern“ und zuletzt ein plötzlicher Satz von Ulbricht: „Technisch können wir das in zwei Wochen vorbereiten“. Entweder konnte der Protokollant dem Tempo des Gesprächs nicht folgen, oder er hat bewusst – sehr wahrscheinlich – aus Gründen der Geheimhaltung manche empfindlichen Details ausgelassen (das Thema der „Spione“ kam im Gange des Gesprächs groteskerweise sehr zugespitzt zum Vorschein). Der größte Teil der ziemlich langen Niederschrift (19 Seiten Maschinenschrift in DIN A4-Format) beinhaltet die Klagen und Gegenklagen wegen der wirtschaft­ lichen Engpässe in der DDR, bei denen interessanterweise das Thema der „Abwerbung“ von Arbeitskräften, das später zur Rechtfertigung der Mauer instrumentalisiert wurde, gar nicht vorkam. Der handschriftliche Text von Ulbricht (vier Seiten, zwei von ihnen nicht entschlüsselbar) ist frei von jeder Plauderei, er notiert sich operative Anleitungen zum Handeln in und um Berlin: Es sind fünf ganz konkrete Punkte mit genauen Ziffern für die Anzahl der Kontrollposten, für die nötige Truppenstärke und dem Hauptsatz, der das Wesen der Planungen klar umschrieb: „Einwohner DDR verbieten ohne Genehmigung Westberlin aufzusuchen“. Nebenbei gesagt ist diesen Notizen zu entnehmen, dass keine Behinderungen für die Westdeutschen und Westberliner, die den Ostteil der Stadt besuchen wollten, beabsichtigt waren. Wann und wie es dazu kam, dass die Westberliner dieses „Privileg“ verloren haben (die Besuchserlaubnis wurde zunächst nur sehr beschränkt durch das „Passierscheinabkommen“ vom Dezember 1963 wiedererlangt), geht aus den Dokumenten nicht hervor. Nach dem UdSSR-DDR-„Gipfel“ vom 1. August folgte der zweite, an dem die Vertreter aller Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes (und auch einige „sozialistische“ Länder Asiens) teilgenommen haben. Er fand ebenfalls in Moskau vom 3. bis 5. August statt. Als Bernd Bonwetsch und ich vor über zehn Jahren die Materialien dieser Beratungen veröffentlicht haben, waren die beiden Aktenstücke zum vorausgehenden Gespräch zwischen Chruschtschow und Ulbricht noch nicht bekannt. Den Gesamtkontext der Rede des sowjetischen Partei- und Staatsoberhauptes am 4. August und der Diskussionsbeiträge der anderen Teilnehmer interpretierten wir damals in dem Sinne, dass Chruschtschow anfänglich die Option der „offene(n)“ Stadt Berlin befürwortete und nur notgedrungen die Mauer-Lösung akzeptierte.5 5  Bernd Bonwetsch  / Alexei Filitov, Chruschtschow und der Mauerbau. Die Gipfelkonferenz der Warschauer-Pakt-Staaten vom 3.–5. August 1961, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 168.



„Berlin durch einen eisernen Ring zu umkreisen …“55

Jetzt, im Lichte der neuen Quellen, soll diese Interpretation revidiert werden: Es steht fest, dass die Entscheidung zur Sperrung der Grenze um WestBerlin (mit genauem Termin für deren Verwirklichung) schon am 1. August und nicht „am Vormittag des 5. August“6 getroffen wurde. Die neuen Quellen bestätigen nicht die damalige Vermutung, dass Chruschtschow irgendwelche Bedenken gegen diese Aktion gehabt oder dass es Differenzen zwischen ihm und Ulbricht in dieser Frage gegeben hätte. Wer von den beiden Partei- und Staatsführern dabei die Rolle des Initiators und der treibenden Kraft gespielt hat, ist eine Frage, die bis heute kontrovers behandelt wird. Ein Kommentator der „New York Times“ zog folgende Bilanz: „Among German historians and German experts it is now taken for granted that Ulbricht wanted to close the border and the Soviets didn’t. But the most Germans still put it [die Aktion vom 13. August 1961] off on the Soviets and the cold war and the US-Soviet conflict.“7 Wenn die Darstellung der Mehrheitsmeinung in Deutschland angesichts des angesprochenen Fragekomplexes stimmt, entspricht sie dem Standpunkt, den auch dieser Autor vertrat und vertritt. Was die Situation in der deutschen Geschichtsschreibung betrifft, so scheint sie nicht so „gleichgeschaltet“ zu sein, wie es die Zeitung vermutet. Zumindest vor zehn Jahren gab es auch Einschätzungen, die die Rollenverteilung bei der Entscheidung zum Mauerbau ganz anders darstellten, als die von der US-Historikerin Hope M. Harrison stammende Konstruktion, wonach Ulbricht den Bau der Mauer wollte, nicht jedoch die sowjetische Führung:8 „Denn bei aller Eigenmächtigkeit und Bereitschaft der Ost-Berliner Führung, bei der Artikulierung ihrer Interessen und Forderungen nicht zurückzustecken, war es auch nach der Darstellung Harrisons letztlich die Situation, die zum Handeln zwang, und nicht Ulbrichts Drängen.“9

6  Ebd.,

S. 170. New York Times v. 11. August 2011. 8  Vgl. Hope M. Harrison, Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach, Berlin 2011. 9  Bernd Bonwetsch / Alexei Filitov, Die sowjetische Politik und die SED-Diktatur – Handlungs- und Verantwortungsspielräume der KPD / SED / DDR 1945–1963, in: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, Bd. VIII / 1: Das geteilte Deutschland im geteilten Europa, Baden-Baden, 1999, S. 883. Wenn auch der Beitrag gemeinsam von einem russischen und einem deutschen Historiker konzipiert wurde, stammt der zitierte Satz eindeutig vom letztgenannten Autor. Was etwas problematisch wirkt, ist die Identifizierung der „Ost-Berliner Führung“ mit der Person von Ulbricht. Auch nach der Ausschaltung der „Schirdewan-Wollweber-Fraktion“ scheinen gewisse Spannungen und Differenzen in der DDR-Elite geblieben zu sein. Hier ist ein weites Feld für Recherchen von Historikern. 7  The

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Die neueren Aussagen der „Experten“ (wenn der „Spiegel“-Redakteur in diese Kategorie fällt) passen auch nicht ins Bild des „New York Times“Schreibers: Im Gegenteil: Man stellt nichts von vornherein fest, sondern wartet mit Fragen auf: „Entstand dieses gespenstische Grenzregime auf Drängen Ulbrichts, weil sein Arbeiter-und-Bauern-Staat auszubluten drohte, wie sowjetische Ex-Diplomaten nach dem Ende der DDR behaupteten? Oder befahl Chruschtschow, Chef der östlichen Supermacht, den Mauerbau? Das erzählen ehemals führende SED-Funktionäre.“10 Die Antwort des „Spiegel“-Redakteurs: „Die Initiative dafür war von Chruschtschow ausgegangen.“11 Hier ist wohl ein kurzer Exkurs zum Verhältnis zwischen einem „Experten“ und einem „Historiker“ geboten. Mag eine gewisse Vereinfachung für den Erstgenannten zulässig sein, der Letztgenannte ist verpflichtet, auf diese Verkürzung immer aufmerksam zu machen und ein breiteres und differenzierteres Bild der Realität zu vermitteln. Zu dem eben zitierten „Spiegel“-Text: (1) Die Überakzentuierung der Rolle Ulbrichts war für Juli Kwizinskij, nicht aber, z. B. für Valentin Falin charakteristisch; (2) die These über Chruschtschows Initiative kann nicht nur durch Verweis auf ein einziges Dokument (die Niederschrift der Chruschtschow-Ulbricht Besprechung am 1. August 1961) bewiesen werden. Dennoch: Die Erschließung einer breiteren Palette von Quellen bekräftigt eher die These über die Initiativrolle Chruschtschows, als dass sie sie unterminiert. Mehr noch: Die historische Analyse legt den Schluss nahe, dass er sehr früh, schon 1958, den Gedanken zu einer endgültigen „Abgrenzung“ in Deutschland, einschließlich Berlins, gefasst hat – mit der propagandistischen Beteuerung, einen Beitrag zur Aufweichung der Blöcke (Rapacki-Plan usw.) zu leisten.12 Das „Drängen“ seitens Ulbricht in dieser Richtung brauchte er schlechthin nicht. Seine Aussage im Gespräch mit dem bundesdeutschen Botschafter Hans Kroll am 9. November 1961 („Natürlich, ohne uns hätte die DDR die Grenze nicht geschlossen. Warum sollten wir uns hier hinter dem Rücken von Gen. Ulbricht verstecken? Sein Rücken ist in diesem Fall sowieso nicht so breit“13) spiegelte wohl die reale Lage – in wenig verklausulierter Form – wider. Der letzte Satz in Chruschtschows Statement erweckt den Eindruck, dass seine Einstellung zur Person von 10  Klaus

Wiegrefe, Monströses aus Moskau, in: Der Spiegel v. 30. Mai 2009, S. 44. S. 44. 12  Siehe dazu: Stefan Karner u. a. (Hrsg.), Der Wiener Gipfel 1961. Kennedy – Chruschtschow, Innsbruck / Wien 2011, S. 705–717, hier: S. 705–707. 13  Zitiert nach Matthias Uhl, Krieg um Berlin? Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlin-Krise 1958 bis 1962, München, 2008, S. 147. 11  Ebd.,



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„Gen. Ulbricht“ durch einen Hauch der Geringschätzung, ja Verachtung mitgeprägt wurde. Eigentlich war es charakteristisch für die hegemoniale Mentalität dieses Herrschers; aber der SED-Chef wurde in der Regel von ihm ausnahmsweise ein wenig hofiert. Die Berlin-Krise brachte die Veränderungen in diesem Beziehungsmuster. Es kam zu gegenseitigen Verstimmungen, sogar Konflikten. Ich glaubte einmal deren Hintergründe darin gesehen zu haben, dass Ulbricht die Sperrung der Berlin-Grenze erst nach dem Abschluss eines Friedensvertrages in Erwägung gezogen hätte – im Gegensatz zu Chruschtschow, der anfänglich „eher zur Beibehaltung des Status quo in Berlin“ für eine unbestimmte Zeit neigte und dann plötzlich durch den polnischen Parteiführer Gomulka im August 1961 in Moskau den Ausweg der unverzüglichen Grenzschließung durch die DDR ventilieren ließ. „Mehr als ein Körnchen Wahrheit“ steckte dementsprechend in Ulbrichts Aussage vom 15. Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“14 Die am Anfang dieses Beitrages zitierten neuen Dokumente widerlegen diese Konstruktion – mit einer Ausnahme: Das Verhältnis zwischen der Abriegelung West-Berlins und dem schon lange in Aussicht gestellten Abschluss des Friedensvertrags sahen Chruschtschow und Ulbricht in der Tat ganz anders. Das führte zu einem ernsten Konflikt („Die Krise innerhalb der Krise“15): Gemeint ist die Tatsache, dass die internationale Lage nach dem 13. August sich nicht verbesserte (wenn auch die unmittelbare Kriegsgefahr zeitweilig eingedämmt zu sein schien) und die divergierenden Tendenzen in der Politik der UdSSR und der DDR drohten, diese noch weiter zu verschlechtern. Was waren die Hintergründe des Konflikts? Für Chruschtschow war der Friedensvertrag vor allem Propaganda-Parole und Täuschungsmittel, die die Realisierung seines eigentlichen Ziels (der Schließung eines Schlupflochs im Eisernen Vorhang) verschleiern und vorbereiten sollte. Bestenfalls – bei einem Entgegenkommen der Westmächte – könnten Einschränkungen der Aufrüstung der Bundesrepublik (Verbot der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen) erzielt werden, was aber kein Hauptmotiv der sowjetischen Politik bei der Entfesselung der Berlin-Krise war. Dasselbe gilt für die DDR-Politik – bei aller Rhetorik gegen die Militarisierung der BRD. Doch für die DDR-Elite war der Friedensvertrag viel mehr als bloße Propaganda oder Taktik. Die echten Hoffnungen und Intentionen hat ein hochgestellter Vertreter dieser Elite, Paul Wandel, am Vorabend der Berlin-Aktion in ei14  Alexei Filitov, Die Entscheidung zum Mauerbau als die Folge der inneren Spannungen im „sozialistischen Lager“, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), 1961 – Mauerbau und Außenpolitik, Münster 2002, S. 66 f. 15  Ders., Deutschland in den sowjetischen außenpolitischen Planungen 1941– 1990, Moskau 2009, S. 266 (in Russisch).

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nem engen Kreis der SED-Funktionäre so dargelegt: „Oft wird uns doch die Frage gestellt: Schön, wenn es aber nur ein Friedensvertrag mit der DDR ist, wieso bändigt das die westdeutsche Militaristen und Revanchisten? Wir sagen nicht, daß unmittelbar und sofort ein Friedensvertrag mit der DDR verhindert, daß in Westdeutschland weiter aufgerüstet wird und Strauß mehr und mehr Einfluß bekommt, daß die westdeutsche Militaristen dann nicht mehr nach Atomwaffe drängen. Das kann ein Friedensvertrag mit der DDR allein nicht hindern.“ „Entscheidend“, seien die folgenden Erwägungen: „Ein Friedensvertrag mit der DDR würde die Deutsche Demokratische Republik international, national und im Innern stärken […]. Wir sind zwar ein souveräner Staat, aber für viele draußen wirken doch die feindlichen Argumente, daß die DDR noch ein besetztes Land ist. Der Friedensvertrag würde eine eindeutige und klare völkerrechtliche Grundlage schaffen, die besagt: Die DDR ist ein unbeschränkt souveräner Staat wie jeder andere Staat.“ Dadurch, setzt Wandel fort, „würde sich auch das Staatsbewußtsein unserer Menschen, der Bürgerstolz auf diese DDR noch stärker entwickeln.“16 Alle diese Erwartungen blieben im Konjunktiv bestehen, und dafür hatten die DDR- Oberen allen Grund, Chruschtschow zu tadeln. In seiner Rede am 5. August – wie während der Wien-Gespräche mit Kennedy im Juni – verkündete er seine Absicht, den Friedensvertrag mit der DDR bis zum Ende des Jahres zu schließen. Er nahm von diesem Termin und später auch von der Vertragsschließung Abstand. Damit wurde eine Staatsräson (um diesen etwas altmodisch wirkenden Begriff zu gebrauchen) des deutschen „Arbeiter- und Bauern-Staates“ sehr peinlich tangiert. Die sowjetische „Staatsräson“ wurde ganz offen auf der Sitzung des KPdSU-Präsidiums am 8. Januar 1962 formuliert: „N. S. Chruschtschow: … Ich sehe jetzt keine besondere Vorteile, die die Unterzeichnung des (Friedens)Vertrages uns geben würde. Stimmen: Richtig! N. S. Chruschtschow: Wir bekamen diese am 13. August. F. R. Koslow: [Wir] realisierten diese im Prozess des Kampfes um Berlin. N. S. Chruschtschow: Als Ostdeutschland ein offener Staat gegenüber das Kapitalismus war, erzeugte dieser Knochen [West-Berlin] einen ziemlich starken Entflammungsprozess in unserer Kehle. Als wir die Mauer geschlossen haben, wir haben diesen Knochen entfernt und ihn auf unseren Feind eingestochen, und dieser Knochen arbeitet jetzt nicht gegen uns, sondern für uns.“17 16  SAPMO-BA,

DY 30 / IV 2 / 20 / 67, Bl.  85–86. Fursenko (Hrsg.), Präsidium ZK KPSS, 1954–1964. T. 1, Moskau 2003, S. 538 f. (in Russisch). 17  Aleksandr



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Die durch extravagant bunte Wortwendungen gespickte Darstellung bestätigte, die Mauer erfüllte das Hauptanliegen der sowjetischen Politik, d. h. die Zementierung des europäischen Status quo. Die „unbeschränkte Souveränität“ der DDR, die durch einen Friedensvertrag hätte erzielt werden können, gehörte offensichtlich nicht zu Chruschtschows „Essentials“. Ganz im Gegenteil: Gerade die Beschränkung der souveränen Rechte der Länder der „sozialistischen Gemeinschaft“ entsprach seinem Hegemonialanspruch, der später in der „Brezhnev-Doktrin“ seinen formalen Ausdruck fand. Was bleibt, ist die Frage nach Alternativen. Die „weichere“ Variante der Friedensregelung auf der Grundlage der gegenseitigen Konzessionen mit einer Perspektive der Annäherung und eventuellen Vereinigung beider deutschen Staaten wurde erwogen – vor, während und nach der Berlin-Krise. Die Befürworter dieser Optionen waren auch innerhalb der sowjetischen politischen und diplomatischen Elite vertreten. Ein vor kurzem gefundenes Dokument aus dem Österreichischen Staatsarchiv ließe sich dazu ausführen. Es handelt sich um eine Mitteilung des Botschafters in Belgrad W. Wodak an Außenminister L. Figl, in der er den Inhalt seines Gesprächs mit seinem sowjetischen Kollegen, I. K. Zamtchevski, wiedergegeben hat. Der folgende Abschnitt des Dokuments ist von besonderem Interesse: „Was die deutsche Frage anbetrifft, sagte mein Mitredner auf die diesbezügliche Frage, seien sie bereit, über die deutsche Wiedervereinigung zu reden, doch müsste man verhindern, dass der deutsche Militarismus zu einer neuen Bedrohung werde. Die Sowjetunion habe vor den Deutschen keine Angst mehr, aber die kleineren Länder Europas, wie Frankreich, Holland oder Österreich, könnten wieder Opfer eines aufgerüsteten Deutschlands werden – zur Lösung der deutschen Frage werde man wohl Zeit brauchen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs sagte dann Herr Zamtchevski nach einigem Zögern, dass sie bereit wären, die Wiedervereinigung Deutschlands unter der Bedingung zuzulassen, dass Deutschland neutralisiert werde und dass die Truppen der Großmächte sich hinter die Grenzen von 1939 zurückziehen. Selbstverständlich müsste man auch entsprechende Rüstungsbeschränkungen den Deutschen im Friedensvertrag auferlegen.“18

Das Gespräch fand am 24. Januar 1958 statt. Am 27. November brach die Berlin-Krise aus, die zwangsläufig zum Mauerbau im August 1961 führte. Wenn das, was in diesem Gespräch – und in vielen anderen – thematisiert wurde, zur politischen Agenda mutiert wäre, hätte diese schicksalsschwere Kette gebrochen werden können. Die strikt hierarchische Machtstruktur in der UdSSR erlaubte es nicht. Erst die demokratische Umwälzung unter dem Vorzeichen der Perestroika öffnete den Weg zur Lösung der deutschen Frage. 18  Archiv

der Republik (Wien), BMFaA. Dok. 544 573-Pol / 58.

Die Westmächte und der Mauerbau Von Rolf Steininger 1. Vom Chruschtschow-Ultimatum bis zum Mauerbau Alles begann am 10. November 1958, als Kremlchef Chruschtschow in einer Rede im Moskauer Sportpalast die Aufkündigung des Potsdamer Abkommens ankündigte und den Westmächten nahelegte, ihre Beziehungen zur DDR selbst zu regeln und mit ihr ein Übereinkommen zu treffen, falls sie an irgendwelchen Berlin betreffenden Fragen interessiert seien. Die neue Berlinkrise war da, auch wenn Bundeskanzler Adenauer meinte, Chruschtschow sei wohl „etwas betrunken“1 gewesen. Er war es nicht. Im Westen begann man darüber zu rätseln, was Chruschtschow vorhatte. Im Auswärtigen Amt in Bonn vermutete man, es gehe Chruschtschow um die „Erprobung des westlichen Widerstandswillens, Nötigung der Westmächte zu Verhandlungen mit sog. DDR, Druckmittel gegen deutsche Aufrüstung, Festigung polnischer Bindung an Sowjetunion.“2 Ähnlich sah das auch das State Department in Washington. Dort nannte man vier Motive: (1) die Entschlossenheit der Westmächte testen, ihre Stellung in Berlin zu halten; (2) die Westmächte zur Anerkennung der DDR zwingen; (3) die atomare Bewaffnung der Bundeswehr verhindern; (4) die Westmächte zum Abzug ihrer Truppen aus der Bundesrepublik zwingen.3 Aus Moskau warnte US-Botschafter Thompson: „Chruschtschow hat es eilig und glaubt, dass die Zeit gegen ihn arbeitet, insbesondere was die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik betrifft. Ich glaube da1  Zit. bei Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. /  Berlin 1994, S. 1012. 2  Telegramm Hilger van Schergenberg, Citissime mit Vorrang an deutsche Botschaft Moskau, 11. November 1958. Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Berlin (PA, AA), 700-84-20. 3  Department of State, Circular Telegram, 13. November 1958, in: Foreign Relations of the United States, 1958–1960 (FRUS), VIII, S. 124.

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her, dass sich die Westmächte auf eine entscheidende Auseinandersetzung [‚major showdown‘] in den kommenden Monaten vorbereiten sollten.“4

Als erste bekamen die Briten weiche Knie. Das blieb so bis zum Ende der Krise 1963. Der britische Premierminister Macmillan wurde in vielfacher Hinsicht der beste Verbündete Chruschtschows. Nur vier Tage nach dessen Rede entstand im Foreign Office in London ein Dokument, das zu den schlimmsten der gesamten Berlinkrise gehört. Die Briten nannten drei Alternativen: a) Rückzug aus Berlin, b) Anwendung von Gewalt, das hieß Krieg, c) Verbleib in Berlin, „wobei wir mit der DDR verhandeln und, falls dies notwendig sein sollte, sie auch anerkennen“. Die Alternativen a) und b) wurden sogleich abgelehnt, blieb also nur c). Außenminister Selwyn Lloyd hielt Verhandlungen mit den DDR-Behörden auf Basis einer de facto-Anerkennung für eine „vernünftige Sache“, wobei er noch vielsagend hinzufügte: „Ich hätte nicht viel dagegen, wenn am Ende dieser Verhandlungen die Anerkennung der DDR-Regierung stünde.“ Sollten möglicherweise die Verbindungswege nach Berlin unterbrochen und eine Luftbrücke eingerichtet werden, dann sollte das die Bundesrepublik finanzieren: „Es gibt jetzt ein unabhängiges und reiches Westdeutschland. Die Hauptverantwortung für die Versorgung der Westberliner Bevölkerung liegt bei den Deutschen selbst. Sie sind es, die gegen eine Anerkennung der DDR sind. Wenn sie das mit dieser kostspieligen Operation verhindern wollen, warum sollen sie dann nicht auch dafür bezahlen?“5

Die Briten jedenfalls würden „gar nichts“ zahlen, wie Macmillan später intern betonte.6 Lloyd war sich im klaren darüber, dass die Alternative c) eine „delikate“ Angelegenheit war, die man den Westdeutschen „schonend“ beibringen müsse – „genauso wie den USA und Frankreich“. Eine Anerkennung der DDR würde so oder so kommen. Warum also nicht diesen Schritt frühzeitig tun und es erst gar nicht zu einer Konfrontation mit den Sowjets kommen lassen? „Wenn man weiß, was man zu tun hat, kann man es in Würde tun.“ Die Bundesrepublik sei sowieso ein unsicherer Verbündeter, „unzuverlässig“ und „nicht kooperativ“. Wenn man am Ende nur aufgrund der Anerkennung der DDR in Berlin bleiben könne, dann, so der britische 4  Thompson (Moskau) an Dulles v. 18. November 1958. National Archives of the United States (NA), College Park, Maryland, Record Group 762.0221711-1858 (762.0221 = The status of Berlin). 5  Immediate. Secret. Foreign Office an Botschaft Washington, Tel. 8112, 15.11.1958. United Kingdom National Archives (UKNA), Foreign Office (FO) 371 / 137333 / WG 10713 / 42. 6  Top Secret. Notiz Macmillan v. 13. Juli 1961 (Hervorhebung im Original). UKNA, PREM 11 / 3347.



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Botschafter in Moskau, Patrick Reilly, „sollten wir die Sache jetzt beherzt anpacken und Verhandlungen über die deutsche Frage insgesamt, unter Beteiligung der DDR, vorschlagen. Falls die Bundesregierung zögert, warum sollten wir päpstlicher als der Papst sein?“ Lloyds größte Sorge war, dass die Deutschen „Wind“ von der Sache bekämen und ihnen der volle Wortlaut des Dokumentes mitgeteilt würde. Die Amerikaner könne man leicht davon überzeugen, dass man nicht gemeint habe, was geschrieben ist; es würde aber sehr viel komplizierter, wenn Adenauer erst einmal den Verdacht habe, „dass wir dabei sind, ihn zu verraten“.7 Durch eine ungeschickte Regie wurde das Dokument in Bonn bekannt. Bei einer Routinebesprechung des Außenministers Brentanos mit den drei westlichen Botschaftern übergab der britische Botschafter eine Kopie; der Eindruck war verheerend. Brentano las das Dokument sorgfältig; seine Gesichtszüge veränderten sich während der Lektüre, er war „sichtlich ­ angewidert“.8 Er informierte sofort Adenauer. Die Reaktion war entsprechend. Der Kanzler schrieb noch am selben Tag Briefe an US-Außenminister Dulles, Macmillan und de Gaulle, beschwor die Einheit und Stärke der freien Welt und dass man in Berlin den Anfängen wehren müsse.9 Zum Glück sahen das Paris und vor allen Dingen Washington ebenso. Die Briten wurden dort als defätistisch eingestuft, ihre Überlegungen abgelehnt. Außenminister Dulles und Präsident Eisenhower waren nicht bereit, in irgendeiner Weise der sowjetischen Erpressung nachzugeben. Unterstützt wurden sie dabei von ihren Militärs. Washington war entschlossen, Stärke zu demonstrieren. NATO-Oberbefehlshaber General Lauris Norstad fasste in einem Satz zusammen, worum es ging: „Wenn wir nicht wollen, dass wir uns jetzt auf einen erniedrigenden Weg begeben, auf dem wir der DDR Schritt für Schritt nachgeben müssen, dann müssen wir jetzt klarmachen, was Sache ist, und die Russen müssen erkennen, dass wir notfalls Gewalt anwenden werden, um unsere Position zu halten.“10 Am 27. November überreichte die sowjetische Regierung den drei Westmächten eine gleichlautende Note, in der sie die „Umwandlung West-Berlins in eine selbständige politische Einheit“ forderte – und das innerhalb der nächsten sechs Monate. Würde bis dahin keine Lösung erreicht sein, 7  Immediate. Secret. Lloyd an Botschaft Washington und Botschaft Bonn, v. 19.  November 1958. UKNA, FO 371 / 137339 / WG 1013 / 199. 8  Trimble (Bonn) an Department of State v. 20. November 1958. FRUS, 1958– 1960, VIII, S.  95 f. 9  Adenauer an Dulles, 20. November 1958. Ebd., S. 110 f. 10  Norstad an den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, Nathan Twining v. 23. November 1958. Ebd., S. 115 ff.

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würde die Sowjetunion einseitig handeln und alle Kompetenzen der DDR übertragen. Washington war nach wie vor nicht bereit, in irgendeiner Weise der sowjetischen Erpressung nachzugeben. Für Außenminister John Foster Dulles war klar, dass ein Nachgeben der Anfang vom Ende sei; wenn man absolut fest bleibe, dann sei er persönlich davon überzeugt, die Chancen stünden nicht einmal 1:1000, „dass die Sowjets es bis zum Krieg treiben“. In jedem Fall sollte der Zugang nach Berlin mit einer Division freigekämpft werden; würde das nicht reichen, sollte auf eine andere Art „action“ umgeschaltet werden. Verteidigungsminister Neil McElroy bestätigte, was das bedeuten würde: „Wenn wir das tun, ist Feuer am Dach“, mit anderen Worten: Krieg. Präsident Dwight D. Eisenhower warnte: „Wenn wir uns einmal entschlossen haben, militärische Gewalt anzuwenden, dann sind dieser Gewalt keine Grenzen mehr gesetzt. Dies ist eine Tatsache, über die wir uns im klaren sein müssen.“ Er hoffte immer noch, dass „Chruschtschow wirklich gemeint hat, was er gesagt hat, dass er nämlich die Welt nicht auf den Kopf stellen wird“11. Schon bald zeigte sich, dass Chruschtschow gemeint hatte, was er gesagt hatte. Als am 27. Mai das sowjetische Ultimatum ablief, wurde die Welt jedenfalls nicht von ihm auf den Kopf gestellt. In Genf lief die Außenministerkonferenz, die nach mehreren Wochen ergebnislos beendet wurde. Immerhin hatte Chruschtschow eine Einladung in die USA erreicht. Es wurde verhandelt und geredet, geredet und verhandelt. Man einigte sich schließlich auf eine Gipfelkonferenz im Mai 1960 in Paris, die Chruschtschow dann scheitern ließ. Äußerer Anlaß war der Abschuss eines amerikanischen U2-Spionageflugzeuges wenige Tage vor Beginn der Konferenz. Der entscheidende Grund war offensichtlich die Erkenntnis der Sowjets, dass sie in der Berlinfrage angesichts der entschlossenen Haltung vor allen Dingen der USA, aber auch Frankreichs, nicht das erreichen würden, was sie sich möglicherweise beabsichtigt hatten. Chruschtschow hatte die Hoffnung aufgegeben, mit Eisenhower ins Geschäft zu kommen. Er setzte jetzt auf dessen Nachfolger. Mit John F. Kennedy wurde – fast – alles anders. Ihm ging es nicht mehr um Deutschland oder Berlin insgesamt, sondern nur noch um den Westteil der Stadt. Er war schon bald ganz auf der Linie der Briten, suchte Kompromisse und war bereit, bisherige Grundsatzpositionen aufzugeben, was nur auf Kosten der Westdeutschen gehen konnte, langfristig aber auch westliche Positionen insgesamt gefährden würde. Die neue US-Administration hat 11  Special Meeting des National Security Council v. 23. April 1959. Ebd., S. 624–634.



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damals ungeheure Mengen Akten produziert, in denen alle möglichen Szenarien durchgespielt wurden. Am Ende reduziert sich fast alles auf die vertrauliche Aussage von Außenminister Dean Rusk vom 15. August 1961, wonach eine Lösung der Berlinkrise durch den Mauerbau „eher leichter“ geworden sei.12 Das hatte Botschafter Thompson schon früher angedeutet. Er schrieb am 16. März 1961 u. a.: „Falls wir davon ausgehen, dass die Sowjets die Berlinkrise nicht weiter verschärfen, dann müssen wir zumindest damit rechnen, dass die Ostdeutschen die Sektorengrenze abriegeln, um den für sie unerträglichen Flüchtlingsstrom durch Berlin zu stoppen.“13 Am 13. August geschah genau das, was die CIA bereits im November 1957 für möglich gehalten, Thompson vorhergesagt und das State Department am 22. Juli befürchtet hatte: Die Sektorengrenze wurde abgeriegelt. Wen verwunderte es da, dass am 13. August in Berlin niemand im Westen besonders aufgeregt, offensichtlich nicht einmal überrascht war (mit Ausnahme der Westdeutschen)? Der neue amerikanische Außenminister Dean Rusk meinte damals gegenüber seinem britischen Kollegen Lord Home, er habe „bis heute nicht verstanden, warum man sich über einen separaten Friedensvertrag [mit der DDR] so aufregt“. Die neue Position wurde auch in öffentlichen Kommuniqués erkennbar. Vielsagend war etwa die Formulierung im Schlußkommuniqué des Adenauer-Besuches in Washington im April 1961. Demnach war das Versprechen erneuert worden, „die Freiheit der Bevölkerung von West-Berlin zu erhalten, bis Deutschland in Frieden und Freiheit wieder vereinigt“ sei. Dies wurde die neue Formel der Kennedy-Administration, nämlich West-Berlin. Es ging von nun an nur noch um die Freiheit West-Berlins.14 Für Kennedy wurde das Treffen mit Chruschtschow in Wien am 3. und 4. Juni in vielfacher Hinsicht zu einem Schlüsselerlebnis. Er wollte Chruschtschow vor Fehleinschätzungen der USA in der Berlinfrage warnen und Lösungsmöglichkeiten in anderen Fragen erkunden; Chruschtschow wollte den aus seiner Sicht unerfahrenen und nach der Schweinebucht-Affäre angeschlagenen jungen Präsidenten – ein von der CIA vorbereiteter Invasionsversuch in Kuba durch Exilkubaner war im April kläglich gescheitert. Kennedy hatte öffentlich die Verantwortung übernommen15 – massiv einschüchtern und auf diese Weise eine Berlinregelung erzwingen. Er gab sich brutal in Wien. Kennedy verfluchte den Sowjetführer: „Er hat mich wie 12  Siehe Rolf Steininger, Berlinkrise und Mauerbau 1958 bis 1963, 4. Aufl., München 2009, S. 165–186. 13  FRUS 1961–1963, XIV, S. 32. 14  Siehe Rolf Steininger (FN 12), S. 219–24. 15  Vgl. hierzu Rolf Steininger, Die Kubakrise. 13 Tage am atomaren Abgrund, München 2011, S. 21–29.

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einen kleinen Jungen behandelt.“16 Macmillan hatte später den Eindruck, Kennedy sei „beeindruckt und geschockt“ gewesen. Er bezweifelte im Übrigen die Führungsqualitäten des amerikanischen Präsidenten, von dem er wenig erwartete, vor allem nicht die Initiative zu Verhandlungen, um die Krise zu entschärfen. Deswegen sollte seine Stunde noch kommen. Seinem Tagebuch vertraute er an: „Ich habe das bestimmte Gefühl, dass Präsident Kennedy keine wirklichen Führungsqualitäten besitzt. Die amerikanische Presse und Öffentlichkeit sehen das allmählich auch so. In ein paar Wochen werden sie sich an uns wenden. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Andernfalls kann Berlin zu einem Desaster führen – zu einer furchtbaren diplomatischen Niederlage oder (aus reiner Inkompetenz) zum Atomkrieg.“17

Ähnlich frustriert, wenn auch aus einem anderen Grund, war Dean Acheson. Kennedy hatte den elder statesman und Außenminister unter Truman als eine Art Sonderberater „reaktiviert“. Acheson galt nach wie vor als Hardliner des Kalten Krieges und wurde seinem Ruf gerecht. Ein erstes Berlin-Memorandum hatte er im April Kennedy und Macmillan vorgetragen. Nach Angaben Macmillans erstarrte ihm bei dessen Vortrag das Blut in den Adern. Achesons Präsentation ist als „blood-curdling recital“ in die interne Geschichte der Berlinkrise eingegangen. Als in den folgenden Wochen keine Entscheidungen getroffen wurden, stieg der Frust Achesons. Am 24. Juni schrieb er an Truman („Dear Boss“): „Kennedys Politik beunruhigt mich und gibt mir Rätsel auf. Irgendwie sieht er wie ein erfolgreicher Präsident aus, aber er sieht eben nur so aus, obwohl er beim Treffen mit Chruschtschow ganz gut war. Beide, Kennedy und Dean Rusk, können offensichtlich besser Reden halten als Entscheidungen treffen. Wir haben jetzt oft genug gehört, dass wir Opfer bringen müssen, aber bis jetzt hat uns niemand aufgefordert, welche zu erbringen. Und es gäbe viele; wenn die Regierung doch endlich anfangen würde zu handeln. Die Zeit läuft uns davon.“18

Vier Tage später, am 28. Juni, legte er seinen zweiten Berlinbericht vor, der an Klarheit und Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig ließ und die amerikanische Politik entscheidend beeinflussen sollte. Acheson ging von der Prämisse aus, dass es in der Berlinfrage nicht nur um Berlin, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres ging: um die entscheidende Machtprobe zwischen den USA und der Sowjetunion, von deren Ausgang das weltweite Vertrauen in die USA als Weltmacht abhing. Auf 35 Seiten listete er auf, was militärisch, wirtschaftlich und politisch zu tun sei: Vorbereitung der See-, Luft- und Landstreitkräfte auf einen umfassenden Einsatz in Europa, Verstär16  Ders.

(FN 12), S. 188–96. bei Alistair Horne, Macmillan, Bd. 2, London 1989, S. 310. 18  Acheson an Truman v. 24. Juni 1961. Harry S. Truman Library (HSTL), Independence, Missouri, Acheson, Private Letters. 17  Zit.



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kung der Marine, Vorbereitung auf einen umfassenden Atomkrieg. Das Strategische Bomberkommando sollte in Alarmbereitschaft gehalten werden. Erst wenn die vom Westen durchgeführten Maßnahmen Chruschtschow von der Entschlossenheit des Westens überzeugt hätten, seien Verhandlungen sinnvoll; sie könnten dazu dienen, Chruschtschow den Rückzug zu erleichtern. Für Acheson war Chruschtschow ein „falscher Hund und ein Kriegstreiber“. Der nationale Notstand wurde zwar nicht ausgerufen, aber auf der Basis dieses Memorandums schließlich jener Kompromiß ausgearbeitet, den Kennedy in seiner Rede am 25. Juli verkündete. Da war auch die Rede von den drei „essentials“ für West-Berlin: Recht auf Präsenz der Westmächte, Recht auf Zugang, Sicherung der Freiheit der Bewohner.19 2. Vom Mauerbau bis zur Entspannungspolitik Hat Kennedy etwas vom Mauerbau gewusst? Eine alte Frage, die immer noch nicht klar beantwortet werden kann – und dies trotz einer ungeheuren Fülle von inzwischen freigegebenen Akten. In keinem der offiziellen westlichen Dokumente, die ich gesehen habe, kommt das Wort „Mauer“ vor – wohl aber Absperrung der Sektorengrenze. Entweder ist die Deklassifizierungspolitik besonders geschickt gehandhabt worden, oder es sind darüber tatsächlich keine Überlegungen angestellt worden. Letztgenanntes könnte zutreffen, denn der Mauerbau beeinträchtigte ja keine westlichen Interessen. Ein Blick in die Akten zeigt, wie wenig realistisch deutsche Hoffnungen auf eine scharfe amerikanische Reaktion waren. Da wollte niemand die Stacheldrahtverhaue niederreißen; Washington wünschte mit den Sowjets zu verhandeln! Der Kontakt sollte von Botschafter George F. Kennan in Belgrad geknüpft werden. Bereits am 14. August erteilte Rusk Kennan („Personal and eyes only for the Ambassador“) in einem top secret-Telegramm die entsprechenden Instruktionen. Den Sowjets sollte die ernste Absicht der amerikanischen Regierung klargemacht werden, dass man eine „friedliche Lösung“ der Berlinkrise wolle, die die Interessen aller Beteiligten wahre. Vor allen Dingen hatte Kennan darauf zu achten, dass die Alliierten, „insbesondere die Deutschen“, von diesen Gesprächen nichts erfahren würden.20 Auch die Briten waren über den Mauerbau nicht überrascht. Botschafter Christopher Steel wunderte sich eigentlich nur darüber, dass die DDR nicht schon viel früher die Sektorengrenzen abgeriegelt hatte, wie er am 14. August nach London berichtete. Er habe ja die Botschaftergruppe in Paris eine Woche zuvor gewarnt, dass mit dieser oder einer ähnlichen Absperrmaßnah19  Siehe 20  Rusk

Rolf Steininger (FN 12), S. 200–208. an Kennan (Belgrad). Top Secret, 14. August 1961. NA, 76200 / 8-1461.

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me zu rechnen sei.21 Der Botschafter in Moskau, Frank Roberts, betonte gegenüber dem Foreign Office, man dürfe die Tatsache nicht übersehen, „dass die Russen bei ihren Maßnahmen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, vorsichtig gewesen sind; sie haben diese Maßnahmen auf ihrer Seite des Eisernen Vorhanges durchgeführt und bis jetzt nichts getan, was die Freiheit West-Berlins und die Rechte der Alliierten dort beeinträchtigt“.22 Genauso war es! Erstaunlich war nur, dass sich darüber jemand wunderte. Das änderte nichts daran, dass es in West-Berlin und in der Bundesrepublik angesichts der Untätigkeit des Westens zu einer Vertrauenskrise gekommen war. Die Warnungen der Amerikaner vor Ort in Berlin und Bonn führten dann zu einer graduellen Änderung der amerikanischen Politik – wenn auch nur im Atmosphärischen. Dazu gehörte die Entscheidung Kennedys, die US-Garnison in Berlin um eine Kampftruppe – 1.500 bis 1.800 Mann – zu verstärken, dies im übrigen gegen den Widerstand von Verteidigungsminister McNamara, sowie Vizepräsident Lyndon B. Johnson auf Kurzbesuch und den „Helden“ der Luftbrücke 1948 / 49, General Lucius D. Clay, als seinen persönlichen Vertreter nach Berlin zu schicken. Für Macmillan ging es in erster Linie darum, die Situation nicht zu verschärfen. Er hatte daher seinen Urlaub ungerührt fortgesetzt. Seine wahren Gefühle wurden deutlich, als er beim Golfspielen in Gleneagles am 18. Loch die Beherrschung verlor und meinte, die ganze Krise sei von der Presse hochgespielt worden. Die amerikanischen Aktivitäten betrachtete er mit größter Skepsis – vor allem die Entsendung der Kampftruppe. Für ihn war das „militärischer Nonsens“. Er lehnte die Bitte Kennedys nach Verlegung britischer Soldaten in Stärke eines Bataillons von Großbritannien nach Berlin ab und begründete dies mit dem fadenscheinigen Argument, dass die Schlagkraft der britischen Armee dadurch geschwächt würde.23 Briten und Amerikaner wollten verhandeln. Das ging nur auf Kosten der Westdeutschen. Die, so hatte Dean Rusk vor dem Mauerbau zu seinem britischen Kollegen gesagt, „werden viele Dinge schlucken müssen, die sie bis jetzt für unmöglich gehalten haben“.24 Die Amerikaner würden die Deutschen härter anfassen, als die Briten bislang geglaubt hätten. Genauso sollte es kommen, und hier kamen dann Starrsinn und Zähigkeit bei Adenauer zusammen, um das, was die Amerikaner wollten, zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Das führte auf anglo-amerikanischer Seite zu er21  Secret.

Steel (Bonn) an FO, 14. August 1961. UKNA, PREM 11 / 3349. Roberts (Moskau) an FO v. 16. August 1961. Ebd. 23  Macmillan an Kennedy, 18. August 1961. Ebd. 24  Secret. Record of Conversation between the Secretary of State and Mr. Rusk in Paris on August 5, 1961. UKNA, FO 371 / 160541 / CG1071 / 132. 22  Secret.



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heblicher Frustration. So hielt es George F. Kennan für keine gute Sache, von Verbündeten, sprich Adenauer, abhängig zu sein, deren Erlaubnis man einholen musste, um über Dinge zu sprechen, die für den Weltfrieden von größter Bedeutung waren. So habe man Adenauer zugestanden, mit den Sowjets nichts zu besprechen, was irgendwie von Interesse für sie sein könne; mit anderen Worten: „Wir haben die Franzosen und Deutschen dazu überredet, dass sie uns erlauben, schwimmen zu gehen und sogar unsere Kleider auszuziehen, aber wir haben Mutter Adenauer die Versicherung gegeben, dass wir nicht ins Wasser gehen.“25 Das war Sarkasmus pur. Wie irritiert und frustriert vor allen Dingen auch Macmillan war, wurde bei den Gesprächen mit Kennedy auf den Bermudas am 21. und 22. Dezember 1961 deutlich. Für Macmillan war alles „sehr verwirrend“. Seiner Meinung nach ging es um folgendes: „Wollen wir eine Vereinbarung mit den Russen, oder wollen wir keine?“ Großbritannien werde auf gar keinen Fall in einen Krieg gehen, bevor nicht Verhandlungen geführt worden seien (schon vorher hatte er angeordnet, für den Eventualfall britische Kinder nach Kanada zu evakuieren, um die britische Rasse zu retten). Was seien die Fakten? Ostdeutschland existiere. „Es ist Unsinn, wenn die Westdeutschen so tun, als ob es nicht existiere, aber gleichzeitig Handel mit den Ostdeutschen in einer Größenordnung von 300 Millionen Pfund im Jahr treiben.“ Die Geschichte mit der Nicht-Anerkennung der Existenz Ostdeutschlands sei „reine Fiktion“. Es gehe darum, Ostdeutschland anzuerkennen: „nicht zuviel und nicht zuwenig. Die Franzosen wollen keine Wiedervereinigung, die Russen wollen sie nicht, und ich bin nicht sicher, ob die Deutschen sie wirklich wollen. Wir müssen nur am Anfang der Gespräche sagen, dass Deutschland eines Tages wiedervereinigt wird, und die Russen werden das so lange akzeptieren, als sie sicher sein können, dass nichts geschehen wird.“

Bei der Zufahrt nach Berlin stellte Kennedy eine besonders vielsagende Frage. Es ging um eine mögliche Internationalisierung der Autobahn auf DDR-Gebiet. Könnte man nicht den Sowjets anbieten, so der amerikanische Präsident, in der Bundesrepublik Deutschland genauso viele Kilometer Autobahn wie in der DDR zu internationalisieren?26 Nur einer wollte damals die Mauer niederreißen, nämlich General Lucius D. Clay. Im Oktober kam es zu einer gefährlichen Konfrontation am Checkpoint Charlie. Erstmals standen sich amerikanische und sowjetische Panzer mit scharfer Munition auf Schußweite gegenüber. Am 25. Oktober schickte Clay ein Telegramm an Rusk, in dem er u. a. meinte: „Falls wir bereit sind, 25  Kennan (Belgrad) an Thompson (Moskau) v. 26. Dezember 1961. FRUS 1961– 1963, XIV, S. 706 f. 26  Ebd., S. 698. Das britische Protokoll in: UKNA, PREM 11  / 3782 und CAB 133 / 299.

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einen schnellen, gewaltsamen Vorstoß nach Ostberlin durchzuführen und beim Rückzug die Sperren niederreißen, wird das zur Konfrontation mit den Sowjets führen. Das andere bringt zur Zeit nichts.“27 Rusk stellte unmissverständlich klar: „Der Zugang nach Ostberlin ist für uns nicht von lebenswichtigem Interesse, das Gewaltanwendung rechtfertigt.“ Mit dem Bau der Mauer habe man das stillschweigend akzeptiert.28 In derselben drastischen Sprache, die auch etwas von seiner Geisteshaltung offenbart, machte Macmillan klar, was er von Clay hielt. Auf einem Telegramm von Steel notierte er: „He seems to me a public danger. He was always an ass; now he is an embittered ass.“29 Amerikaner und Briten wollten Adenauer im Frühjahr 1962 so weit bringen, dabei mitzuhelfen, ihre bisherige Deutschland- und Berlinpolitik zu Grabe zu tragen – „to put his hand upon the coffin and help to carry it“, wie Kennedy das gegenüber Macmillan formulierte.30 Kennedy äußerte sich intern in nicht zu überbietender Arroganz über deutsche Politiker; sie sollten ihre „Schnauzen ruhig in den Schweintrog Berlin stecken“, wenn sie wollten (und möglicherweise selbst mit den Sowjets verhandeln).31 Die Briten waren noch schlimmer. Sie wollten keine Wiedervereinigung und stattdessen mit den Sowjets zu Vereinbarungen auf der Basis des geteilten Deutschlands kommen.32 Erst allmählich wurde erkennbar, dass der Mauerbau Höhepunkt und Ende der eigentlichen Berlinkrise war. Kein Geringerer als der britische Botschafter in Bonn, Christopher Steel, hatte das schon in einer geheimen Analyse im Januar 1962 folgendermaßen beschrieben: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Russen von den Auswirkungen der Mauer selbst überrascht und gleichzeitig zufrieden sind. […] Im Rahmen ihres großen Ziels – Stabilisierung der DDR – haben sie etliche Ziele erreicht: Der Flüchtlingsstrom wurde gestoppt, das Schaufenster [West-Berlin] wurde geschlossen. Auf der anderen Seite ist Ulbricht wenig erfolgreich („flop“) und noch dazu ein Stalinist. Die Russen werden sich selbst die Frage stellen, […] ob er sein Land mit einem 27  Eyes only. Clay (Berlin) an Rusk (Washington) und Dowling (Bonn), Tel. 824, 25.10.1961. NA, 762.0221 / 10–2561. 28  Secret. Eyes only. Rusk (Washington) an Clay (Berlin) und Dowling (Bonn), Tel. 607, 26. Oktober 1961. Ebd. 29  Handschriftliche Notiz Macmillan v. 4. November 1961. UKNA, PREM 11 / 3612. 30  Top Secret. Record of Meeting at the White House v. 28. April 1962. UKNA, FO 371 / 163572 / CG1071 / 135. 31  Top Secret. Personal. Ormsby-Gore (Washington) an Home (FO) v. 5. Februar 1962. UKNA, FO 371 / 163567 / CG 1071 / 41. 32  Top Secret. Home (FO) an Ormsby-Gore (Washington) v. 13. Februar 1962. UKNA, FO 371 / 163567 / CG1071 / 73.



Die Westmächte und der Mauerbau71 Friedensvertrag besser regieren wird. Wenn er ihn bekommt, muß er direkten Kontakt, möglicherweise sogar Beziehungen mit dem Westen aufnehmen. Die Russen werden mit Sicherheit nicht begeistert sein bei dem Gedanken, dass dieser ideologische Spinner („ideological crackpot“) es dann in der Hand hat, auf der Autobahn einen Krieg zu beginnen.“

Ulbricht sollte denn auch seinen separaten Friedensvertrag nicht bekommen. Steel erwartete für die Zukunft zwar jede Menge Verwaltungsschikanen, Behinderungen und Spannungen in und um Berlin, hoffte aber zugleich, dass man die Sache so lange unter Kontrolle halten konnte, bis beide Seite bereit waren, miteinander ins Geschäft zu kommen („to do business“).33 Das war unter dem Strich keine schlechte Voraussage. Sie lief letztlich auf jene sieben- bis zehnjährige Pause hinaus, die der amerikanische Botschafter in Moskau schon Anfang 1961 empfohlen hatte. Beide – Chruschtschow und Kennedy – waren für „ihre“ Deutschen so weit wie möglich gegangen. Wären sie weiter gegangen, hätte das möglicherweise die Zerstörung der eigenen Städte bedeutet – und das wegen jener Stadt, die beide Völker 16 Jahre zuvor gemeinsam im Kampf gegen die Deutschen zerstört hatten. Das war absurd. Kennedy empfand das jedenfalls so und äußerte sich dazu wenige Stunden nach seinem Treffen mit Chruschtschow in Wien im Juni 1961 folgendermaßen: „Es wirkt doch einfach idiotisch, dass wir wegen eines Vertrages mit der Gefahr eines Atomkrieges konfrontiert sind, der Berlin als zukünftige Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschland vorsieht – wo wir doch alle wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie mehr wiedervereinigt wird!“34

33  Secret. Steel (Bonn) an FO v. 19. Januar 1962. UKNA, FO 371 / 163564 / CG1071 / 2.

34  Zit. bei Michael Beschloss, Powergame. Kennedy und Chruschtschow. Die Krisenjahre 1960–1963, Düsseldorf 1991, S. 229 f.

Chruschtschow, die Berlin-Krise und die Mauer Von Gerhard Wettig 1. Chruschtschows Forderung nach „Normalisierung“ in Berlin „Walter, versteh doch eins: Bei offenen Grenzen können wir den Wettbewerb mit dem Kapitalismus nicht bestehen.“ Als der Sowjetherrscher Nikita Chruschtschow dies Anfang August 1958 im persönlichen Gespräch äußerte1, war Ulbricht, der Parteichef der SED, hoch erfreut.2 Er hatte schon seit Jahren in Moskau immer wieder darauf gedrängt, die Grenze der DDR in Berlin zu schließen, hatte damit aber kein Gehör gefunden, obwohl die Menschen – vor allem Jugendliche und dringend benötigte Fachleute – in Scharen wegliefen und damit den ostdeutschen Staat empfindlich schwächten. Doch Chruschtschow war davon überzeugt, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen sei und längerfristig für die Bevölkerung im Westen attraktiv werden müsse. Deshalb sollte sich der „friedliche Wettbewerb“ zwischen den beiden Systemen frei entfalten. Wieso blieb denn der sozialistische Staat hinter dem kapitalistischen zurück? Zuletzt fand er dafür eine Erklärung: Störund Sabotageakte von West-Berlin aus waren schuld. Die „anomale Lage“, die sie ermöglichten, bedurfte einer „Normalisierung“ durch Schließung der Grenze zum Westen, die an dieser Stelle noch offen war.3 1  Der Aufsatz fasst Forschungsergebnisse meiner primär auf sowjetischen Archivalien beruhenden Publikationen zusammen: Chruschtschows Berlin-Krise (München 2006); Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958 (München 2011); Dokumentation Chruschtschows Westpolitik, Bd. 3: Höhepunkt der Berlin-Krise ­ 1961 / 62 (München 2011). Die Darstellung von datierten Vorgängen, die nicht in den Fußnoten nachgewiesen werden, beruht auf Gesprächsprotokollen der Dokumenta­ tion, zu der ich einen Bd. 2 über die Jahre 1958–1960 vorbereite. Weiter stütze ich mich auf die Werke von Manfred Wilke (Der Weg zur Mauer, Berlin 2011) und von Aleksandr Fursenko / Timothy Naftali (Khrushchev’s Cold War, New York / London 2006) sowie auf den Sammelband von Stefan Karner u. a. (Der Wiener Gipfel 1961, Innsbruck 2011). 2  Sergej Guk, Pri otkrytych granicach my ne smožem tjagat’sja s kapitalizmom (Interview mit Viktor M. Beleckij, der das Gespräch dolmetschte), in: Izvestija v. 29. September 1992. 3  Siehe hierzu Michael Lemke, Vor der Mauer. Berlin in der Ost-West-Konkurrenz 1948 bis 1961, Köln 2011.

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Das sollte jedoch nicht durch Sperrmaßnahmen geschehen. Das würde in der Öffentlichkeit den Eindruck hervorrufen, der Sozialismus sehe sich dem Wettbewerb mit dem Kapitalismus nicht gewachsen. Auch wäre es blamabel, wenn man vor den Augen der Welt, deren Blicke auf die Stadt als Brennpunkt des Ost-West-Konflikts gerichtet waren, die – trotz politischer Spaltung noch bestehende – Einheit des täglichen Lebens in Berlin mit Zwang und Gewalt zerstörte. Noch am 24. April 1961 erklärte er dem westdeutschen Botschafter Hans Kroll mit großem Nachdruck, er denke nicht daran, „eine Festungsmauer um West-Berlin herum zu bauen oder ein Sonderregime zu errichten“. Das sei „unmöglich, weil Berlin ein einheitliches Wirtschaftsgebiet ist, die Einwohner Berlins in verschiedenen Stadtteilen arbeiten, [dort] Verwandte haben usw.“ Stattdessen gehe es darum, die Flugverbindungen West-Berlins „über einen Flugplatz der DDR abzuwickeln“. Erläuternd fügte er hinzu, das sei notwendig „zur Kontrolle von Ein- und Ausreise, weil ein souveräner Staat nicht bestehen kann, ohne zu wissen, wer in ihn einreist und was man einführt“. Dieser könne „nicht mit offenen Türen leben“. West-Berlin solle „Verkehrsverbindungen per Eisenbahn, auf dem Wasser- und Luftweg, aber mittels Kontrolle der DDR“ haben. Das SED-Regime sollte vor unerwünschter Einwirkung nicht durch ins Auge fallende innerstädtische Sperranlagen, sondern durch die Herrschaft über die Zugangswege geschützt werden. Auf diesem Wege sollte zugleich West-Berlin unterworfen werden, das Chruschtschow als feindliche „Frontstadt des kalten Krieges“ ansah. Diesen „Knochen im Hals“ wollte er loswerden. Erst dann würde der „friedliche Wettbewerb“ zwischen den deutschen Staaten funktionieren. Dann könne die DDR den wirtschaftlichen und sozialen Rückstand gegenüber der Bundesrepublik aufholen und die Führung in dem geteilten Land übernehmen. Diesem Ziel sollten die Liquidierung der Position der Westmächte in WestBerlin und die Unterwerfung der Stadt unter den bestimmenden Einfluss der SED-Führung dienen. Als Instrument dazu war ein Friedensvertrag mit Deutschland vorgesehen, der die Besatzungsrechte, also die Rechtsgrundlage für die Anwesenheit der Westmächte in der Stadt und damit deren Schutz vor östlicher Bedrohung, beseitigen würde. Was Chruschtschow sich davon zusätzlich versprach, erläuterte er dem kommunistischen Chef Nordvietnams, Ho Chi Minh, am 17. August 1961: „Der Abschluss des Friedensvertrags mit Deutschland wird ein großer Sieg des gesamten sozialistischen Lagers sein. Man muss sagen, dass sich die Führer der westlichen Länder, wie ihre geheimen Dokumente beweisen, die uns in die Hände gefallen sind, der Folgen bewusst sind, welche die Regelung der deutschen Frage für sie haben wird. Im Wesentlichen handelt es sich um die Liquidierung des gesamten Systems der aggressiven Blöcke, das von den Imperialisten [den Westmächten] in Westeuropa geschaffen



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wurde. Die Entbehrlichkeit der NATO wird mit der Tat bewiesen werden. Die Regelung der deutschen Frage wird eine völlig neue Lage in Westeuropa schaffen.“ Das war nicht die einzige Äußerung dieser Art. In internen Gesprächen erklärte er immer wieder, dass es ihm darum ging, die NATO zu „ruinieren“, „in Stücke“ zu „reißen“. An die Stelle der beiden Bündnisse sollte ein europäisches System der kollektiven Sicherheit ohne die USA treten. Damit würde die nukleare Supermacht UdSSR, die sich zudem auf die anderen kommunistischen Staaten stützen konnte, eine beherrschende Position in Europa gewinnen. Die Überzeugung Chruschtschows, die NATO würde den Rückzug der Besatzungsmächte aus West-Berlin nicht überleben, beruhte auf der Erkenntnis, dass die Behauptung der Stadt für die Westeuropäer seit der erfolgreich abgewehrten sowjetischen Blockade von 1948 / 49 das Unterpfand dafür war, die USA würden sie bei einer akuten Bedrohung nicht im Stich lassen. Das war die politische Grundlage des atlantischen Bündnisses. Wenn sie erschüttert wurde, war zu erwarten, dass sich die Verbündeten der Amerikaner nicht mehr auf deren Unterstützung verließen. Sie müssten sich dann um eine Übereinkunft mit der UdSSR zu deren Bedingungen bemühen. Die Aussicht auf einen so radikalen Wandel der Machtverhältnisse zu sowjetischen Gunsten ließ starken Widerstand vor allem seitens der Amerikaner erwarten. 2. Durchsetzungsprobleme Wie wollte Chruschtschow damit fertigwerden? Er ging von der Annahme aus, der Gegner werde keinen Krieg riskieren, weil dann die Eskalation zum Kernwaffenkonflikt drohe. Diese Sorge hoffte er für sich zu nutzen, indem er die Entscheidung, ob es wegen Berlin Krieg gebe, dem Westen zuzuschieben suchte. Falls die Westmächte ihre Beteiligung am Friedensvertrag verweigerten, werde die Sowjetunion ihn einseitig mit der DDR abschließen. Diese solle dann die Kontrolle über die Zugangswege nach West-Berlin in der gleichen Weise erhalten, als sei der Friedensvertrag allseitig vereinbart worden. Zwar würde so die UdSSR faktisch über die Besatzungsrechte der Westmächte verfügen und entgegen internationalem Recht eine Übereinkunft zu Lasten Dritter treffen, doch Chruschtschow ließ sich nicht beirren, denn das Gebiet, das für den Zugang benötigt wurde, befand sich in öst­ licher Hand. Daher mussten die Westmächte, wenn sie ihr Benutzungsrecht geltend machen wollten, um ihre Anwesenheit in der Stadt aufrechtzuerhalten, die Zugangswege freizukämpfen suchen. Damit würden sie, so kalkulierte der Kremlchef, zur Eröffnung eines Krieges mit unabsehbaren Folgen gezwungen sein. In diesem Fall drohte eine nukleare Vernichtung unvor-

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stellbaren Ausmaßes, während sie zugleich nicht damit rechnen konnten, dass ihr Vorstoß West-Berlin vor dessen Fall erreichte. Das könne doch nicht in ihrem Interesse sein. Die USA konnten freilich den Spieß umdrehen, indem sie das Kriegsrisiko an die UdSSR zurückgaben. Sie erklärten, die Wahl zwischen Krieg und Frieden liege bei ihr, denn sie sei es, welche die Position der anderen Seite angreife und durch die Androhung eines einseitigen Vorgehens die Gefahr des militärischen Konflikts heraufbeschwöre. Der Westen verteidige sich nur. Die Sowjetunion müsse den Frieden aufrechterhalten, indem sie nicht zum Gebrauch von Gewalt zwinge. Chruschtschow suchte diese gegen ihn gerichtete Abschreckung dadurch unwirksam zu machen, dass er seinen westlichen Gesprächspartnern erklärte, sein Entschluss stehe fest; daran lasse sich nichts ändern. Er stellte ihnen die furchtbaren Folgen vor Augen, die sie zu gewärtigen hätten, würden sie nicht nachgeben. Das sei, so fügte er jedesmal hinzu, keine Drohung, sondern nur die Beschreibung eines objektiven Tatbestands. Im Kriegsfall würden, so erläuterte Chruschtschow, die europäischen NATO-Länder einer augenblicklichen Vernichtung anheimfallen. Deswegen seien sie „Geiseln“ in seiner Hand, welche die USA dazu zwängen, es nicht auf einen Krieg ankommen zu lassen. Zudem hätte auch Nordamerika ungeheuere Verluste, unvorstellbares Leid und den Zusammenbruch seines politischen Systems zu erdulden. Natürlich erlitte die UdSSR ebenfalls großen Schaden, doch der wäre in Anbetracht ihres riesigen Territoriums begrenzt und würde wegen der Festigkeit der inneren Verhältnisse – anders als in den Vereinigten Staaten – das politische System nicht gefährden. Im Gegensatz zum Westen könne man sich daher in Moskau einen nuklearen Krieg notfalls leisten. Chruschtschow zeichnete ein Bild des Kräfteverhältnisses zwischen beiden Großmächten, das der Realität widersprach. Es konnte keine Rede davon sein, dass die UdSSR im Falle eines global-strategischen Schlagabtauschs stärker wäre als die USA. Sie war in dieser Hinsicht abgrundtief unterlegen, denn anders als die USA verfügte sie kaum über Kernwaffenträger mit interkontinentaler Reichweite. Chruschtschow bluffte, als er seine Bereitschaft zum Krieg bekundete. Wenn sich die Frage konkret stellte, zuckte er jedesmal zurück. Ein Krieg kam für ihn unter keinen Umständen in Betracht. Chruschtschow war dennoch davon überzeugt, dass er sich ein offensives Vorgehen leisten konnte, denn er glaubte, dass die von ihm angestrebte Ausdehnung der sowjetischen Macht dem globalen Trend entsprach und daher früher oder später gelinge. Die marxistisch-leninistische Doktrin, zu der er sich gläubig bekannte, hatte es zum Gesetz der Geschichte erklärt, dass sich das politische System der UdSSR, der Sozialismus, weltweit



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durchsetzte. Das internationale Geschehen schien dies zu bestätigen. Wie der Kremlchef meinte, schlossen sich die Völker vor allem der Dritten Welt im Zeichen der Blockfreienbewegung und der Entkolonialisierung zunehmend dem „antiimperialistischen Kampf“ der Sowjetunion gegen den Westen an und veränderten so das Kräfteverhältnis zu dessen Ungunsten. Die Politik Moskaus würde daher zum Erfolg führen. Solange dieser ausblieb, wartete Chruschtschow ab. Übe er Geduld, werde ihm zum Schluss alles zufallen. Wenn er sich auf einen Kompromiss einlasse, verspiele er den Sieg, der zu gewinnen sei. Entscheidende Bedeutung habe dabei die Liquidierung der NATO. Deshalb müssten die Westmächte unbedingt zur Räumung West-Berlin veranlasst werden. Daher durfte es keinesfalls eine Regelung geben, die sie auf Dauer dort beließ. 3. Das erste Berlin-Ultimatum Chruschtschow beauftragte eine Gruppe von Mitarbeitern des Außenministeriums mit der Ausarbeitung der Einzelheiten. Die Diplomaten waren entsetzt, als sie hörten, was der Chef vorhatte. Als sie Einwände geltend machten, entzog er ihnen den Auftrag und behielt sich die Sache selbst vor. Zunächst nahmen ihn wieder andere politische Probleme in Anspruch. Als er schließlich Zeit fand, hielt er es für richtig, Ulbricht vorzuschicken, um die westliche Reaktion zu testen. Nachdem Chruschtschow den Redetext gebilligt hatte, erklärte der SED-Chef am 27. Oktober 1958 öffentlich, das westliche Besatzungsregime in West-Berlin sei mit dem Völkerrecht nicht vereinbar. Die Westmächte hätten kein Recht auf Anwesenheit und Zugang. Die Stadt liege auf dem „Territorium der DDR“. Er verlangte, ihren „Missbrauch“ für Zwecke der „Spionage und Sabotage gegen die DDR“ zu beenden, den „unnatürlichen, auch gegen die Interessen der Einwohner Westberlins herbeigeführten Zustand zu ändern“ und „die ganze Stadt zur Stadt des Friedens und des Fortschritts zu machen“.4 Diesen Äußerungen wurde im Westen wenig Gewicht beigemessen. Man kannte Ulbricht als Scharfmacher und glaubte, er habe nur seine Auffassung zum Ausdruck gebracht. Die schwache Reaktion bestärkte den Kremlchef in der Absicht, die Aufhebung der westlichen Besatzungsrechte zu fordern. Am 6. November 1958 legte Chruschtschow seinen Plan den Mitgliedern der sowjetischen Führung vor. Er berief sich darauf, die Westmächte hätten die Verpflichtungen von Potsdam nicht erfüllt, die nach Moskauer These überall in Deutschland politische Verhältnisse wie in der DDR vorsahen. 4  Dokumente zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Serie III, Bd. 4 / 3, Frankfurt a. M. 1969, S. 1831–1850.

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Von dem Abkommen sei nichts übrig geblieben außer der Berlin-Regelung.5 Darum solle nun auch diese aufgehoben werden. Die deswegen zu erwartende gefährliche Verschärfung des Verhältnisses zu den Westmächten bewog Anastas Mikojan zum Widerspruch. Daraufhin wurde kein Beschluss gefasst.6 Trotzdem erklärte Chruschtschow vier Tage später öffentlich, die westlichen Berlin-Präsenzen seien ohne Rechtsgrundlage und müssten deswegen aufgehoben werden. Er wiederholte, die Westmächte hätten die Potsdamer Verpflichtung zur Demokratisierung Deutschlands nicht erfüllt und könnten sich daher nicht auf die ihnen im Abkommen gewährten Rechte berufen. West-Berlin sei Teil der Hauptstadt der DDR, stelle aber „eine Art Staat im Staate“ dar. Die Westmächte betrieben von dort aus eine „subversive Tätigkeit“ gegen die DDR, die UdSSR und die anderen sozialistischen Länder. Der Berlin betreffende Teil der Vereinbarungen von Potsdam sei zu überprüfen. Auf dieser Basis müsse man die Überreste des Besatzungsregimes beseitigen und eine „normale Lage in der Hauptstadt der DDR“ herbeiführen. Die UdSSR wolle deshalb die Funktionen ihrer Organe auf die souveräne DDR übertragen. Soweit die Westmächte an irgendwelchen Fragen bezüglich Berlins interessiert seien, müssten sie diese mit der DDR vertraglich regeln. Die Sowjetunion werde zu ihren Bündnisverpflichtungen im Warschauer Pakt stehen und darum jedes Vorgehen „aggressive[r] Kräfte“ gegen die DDR als Angriff auf sich und das Bündnis behandeln.7 Diesmal gab es einen Aufschrei im Westen, doch Chruschtschow hielt an seinem Kurs fest. Mit der eigenmächtigen Stellungnahme hatte er jedoch den Bogen innenpolitisch überspannt. Das nötigte ihn zu einigen Modifikationen. Die Note an die Westmächte vom 27. November 1958 enthielt daher nicht nur den – vom Außenministerium für nötig gehaltenen – Verzicht auf die Begründung mit dem Potsdamer Abkommen, sondern auch die Bereitschaft, von einer direkten Einbeziehung West-Berlins in die DDR abzusehen und den Westmächten sechs Monate zu Verhandlungen über die Details ihres Rückzugs aus der Stadt und deren Trennung vom Westen zu geben. Abstriche 5  In Wirklichkeit war auf der Potsdamer Konferenz von Berlin keine Rede gewesen. Die Vereinbarungen über den Vier-Mächte-Status der Stadt waren vorher, im Herbst 1944 mit einer Ergänzung am 1. Mai 1945, in der Europäischen Beratungskommission getroffen worden, vgl. Alois Riklin, Das Berlinproblem, Köln 1964, S. 295–324. 6  Wiedergabe des Kurzprotokolls in: Aleksandr Fursenko (Hrsg.), Archivy Kremlja. Prezidium CK KPSS 1954–1964. Černovye protokol’nye zapisi zasedanij. Stenogrammy, Moskau 2003, S. 338 f. 7  Dokumente zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen, Serie IV, Bd. 1 / 1, Frankfurt a. M. 1971, S. 3–24.



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von den Forderungen sollten aber nicht in Betracht kommen. Deswegen wurde die Note außerhalb des sozialistischen Lagers allgemein als „BerlinUltimatum“ bezeichnet.8 Nicht nur der Hinweis, wesentliche Änderungen an dem geforderten Ergebnis seien von vornherein ausgeschlossen, ließ eine kompromisslose Haltung erkennen. Auch der für West-Berlin vorgesehene Status einer „Freien Stadt“ zeigte die gleiche Ausrichtung. Chruschtschow erklärte, damit ein großes Zugeständnis zu machen und für die Freiheit der Bevölkerung dort einzutreten, während die Westmächte diese zu verteidigen vorgäben, tatsächlich jedoch ein Besatzungsregime ausübten, das sie unterdrücke. Faktisch war die Freiheit, die er der Stadt mit Worten zubilligte, nichts als bloße Fiktion. Wie sollte diese denn die Selbständigkeit in den inneren Angelegenheiten gegenüber einer feindlichen DDR behaupten, der sie wehrlos gegenüberstand? Nicht nur sollte es keinen Schutz vonseiten der Westmächte mehr geben. Es sollten auch alle Verbindungen zur Außenwelt der uneingeschränkten Kontrolle des SED-Regimes unterworfen werden; der Wegfall der politischen und materiellen Unterstützung durch die Bundesrepublik würde eine totale Abhängigkeit vom kommunistisch beherrschten geographischen Umfeld herbeiführen; die im sowjetischen Statutenentwurf vorgesehenen Wohlverhaltenspflichten gegenüber dem ostdeutschen Staat waren geeignet, diesem eine Rechtfertigung für jegliche Pressionen und Interventionen zu verschaffen. Ein solcher Zustand konnte nicht von Dauer sein, sondern war offensichtlich als Zwischenschritt auf dem Weg zur Einbeziehung in die DDR gedacht, wie Chruschtschows wiederholte interne Äußerung andeutete, dass es den West-Berlinern „natürlich“ freistehe, um Aufnahme in die DDR zu bitten. 4. Entwicklung des Konflikts mit den Westmächten Nach dem Ultimatum vom 27. November 1958 hatte der Kreml Schwierigkeiten, mit den USA als der entscheidenden Macht auf der Gegenseite ins Gespräch zu kommen, denn diese wollten nicht unter Druck verhandeln. Erst nachdem die sowjetische Regierung erklärt hatte, dass dies nicht ihre Absicht sei, konnte nach langem Hin und Her am 11. Mai 1959 die Genfer Außenministerkonferenz beginnen. In deren Verlauf und auch in späteren Verhandlungen wollten die Briten und Amerikaner der UdSSR weit entgegenkommen, wenn sie dafür eine Gewähr für ihren Verbleib in West-Berlin und für den Zugang dorthin erhielten. Gerade das wollte ihnen Chruschtschow keinesfalls zugestehen. Er suchte sie vor allem aus der Stadt zu 8  Ebd.,

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vertreiben; alles andere war demgegenüber unwichtig. Daher lehnte er alle informell unterbreiteten Angebote ab: eine Anerkennung der DDR und damit der Zweistaatlichkeit Deutschlands, die bislang durch das Verlangen nach Vereinigung auf der Basis freier Wahlen in Frage gestellt wurde, die Einstellung unerwünschter Aktivitäten in West-Berlin, eine Verringerung der Garnisonen auf nur noch symbolischen Umfang und sogar den Verzicht auf den besatzungsrechtlichen Charakter der westlichen Präsenz. All das hätte, wie der daran brennend interessierte Ulbricht dem sowjetischen Chef vor Augen führte, die östliche Position sehr gestärkt und gute Voraussetzungen für den Erfolg späterer Attacken geschaffen. Chruschtschow ließ sich von diesem Argument nicht beeindrucken. Am 9. Juni 1959 gab er zur Antwort, die UdSSR habe 16 Jahre bis zu ihrer Anerkennung durch die USA gebraucht. Da könne die DDR keine Anerkennung schon nach weniger als einem Jahrzehnt erwarten. Sie solle ruhig noch etwas länger Geduld haben als die Sowjetunion. Der Kremlchef bestand zwar auf der Räumung West-Berlins und rechnete mit einer längeren Frist bis dahin, wollte aber in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass er um eine baldige Verständigung bemüht sei. Daher ließ er seinen Außenminister als Kompromiss ein zeitweiliges Abkommen vorschlagen. Danach sollte auf der Basis der angebotenen Zugeständnisse eine Zwischenregelung für die Dauer von einem, eineinhalb oder sogar zwei Jahren vereinbart werden. Wie sich bei den Verhandlungen darüber herausstellte, verband sich damit das Verlangen, nach Ablauf der Frist müssten die Forderungen der UdSSR ohne neue Diskussion ausnahmslos erfüllt werden. Das lief auf einen bloßen Aufschub der westlichen Kapitulation hinaus. Chruschtschow wusste, dass sich die USA darauf nicht einlassen würden. Trotzdem hielt er bis zum Ende an diesem Standpunkt beharrlich fest. Weder sechs Monate nach dem Halbjahresultimatum vom 27. November 1958 noch am 5. August 1959, als die Genfer Konferenz zu Ende ging, entschloss sich Chruschtschow zum angedrohten einseitigen Abschluss des Friedensvertrags und zur damit verbundenen Übergabe der Kontrolle über die West-Berliner Zugangswege an die DDR. Er hoffte aber noch auf ein Nachgeben der USA, denn er war von Präsident Eisenhower zum Staatsbesuch eingeladen worden. Seine Erwartung, dabei eine Übereinkunft in seinem Sinne aushandeln zu können, ging fehl, weil von amerikanischer Seite bloß ein unverbindlicher Gedankenaustausch ins Auge gefasst war. Trotzdem war er bei Antritt der Rückreise Ende September optimistisch, denn er sah in der Äußerung seines Gastgebers, auch er halte die Lage in Berlin für „anomal“, eine prinzipielle Zustimmung zu seinen Vorstellungen. In Wirklichkeit hatte der Präsident daran gedacht, die Spaltung der Stadt müsse früher oder später durch eine Vereinigung des ganzen Landes überwunden werden müssen.



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Chruschtschows Hoffnung beruhte auch darauf, dass er mit Eisenhower eine baldige Vier-Mächte-Gipfelkonferenz verabredet hatte. Deren Einberufung verzögerte sich jedoch durch unvorhergesehene Umstände. Als der schließlich festgelegte Termin des 16. Mai 1960 näher rückte, war sich der Kremlchef des amerikanischen Nachgebens nicht mehr so sicher. Am 1. Mai sah er sich unverhofft in die Lage versetzt, den USA eins auszuwischen, als erstmals ein von ihnen auf den Weg gebrachtes Spionageflugzeug über der UdSSR abgeschossen wurde und der Pilot mit aller Ausrüstung in seine Hand fiel. Er blamierte daraufhin die Regierung in Washington vor der Öffentlichkeit nach Strich und Faden, indem er wiederholt Dementis provozierte, deren Unrichtigkeit anschließend nachgewiesen wurde. Als sich Chruschtschow am 13. Mai auf dem Flug zum Konferenzort Paris befand, erklärte er seiner überraschten Delegation, er werde nur dann mit den Amerikanern verhandeln, wenn Eisenhower Abbitte für den Flug leiste und alle mit dessen Durchführung befassten Leute bestrafe. Es war von vornherein kaum zu erwarten, dass der Präsident diese Demütigung akzeptieren werde. Faktisch lief die Forderung, an welcher der Kremlchef dann beharrlich festhielt, auf eine Absage an die hartnäckig angestrebten Berlin-Verhandlungen zwischen den Staats- und Regierungschefs hinaus. 5. Zweites Berlin-Ultimatum und Bau der Mauer Anfang 1961, als nach dem Amtswechsel im Weißen Haus wieder verhandelt werden konnte, hatte Chruschtschow Korrekturen an seiner Machtposition vorgenommen. Er war schon im Frühjahr 1960 zu der Ansicht gelangt, der Widerstand der Westmächte gegen den Friedensvertrag sei darauf zurückzuführen, dass er nur auf die strategischen Kernwaffen Wert gelegt und den Umfang der Streitkräfte auf dem europäischen Gefechtsfeld für unwichtig gehalten habe. Er stoppte daher die Verringerung des militärischen Personals und begann, die Zahl seiner Truppen wieder zu vermehren, um am Ort des Konflikts Stärke zu demonstrieren – ein Kurs, dem dann auch die Verbündeten im Warschauer Pakt zu folgen hatten. Im Herbst 1960 hatte er zudem eine wirtschaftliche Schwachstelle entdeckt, als Bonn auf die Einführung der Genehmigungspflicht für westdeutsche Besuche in Ost-Berlin mit der Kündigung des Handelsabkommens zum Jahresende reagierte. Zusammen mit Ulbricht erkannte er, dass die DDR auf Lieferungen aus der Bundesrepublik angewiesen war, denn wenn diese ausblieben, fehlten insbesondere ihrer Industrieproduktion unbedingt benötigte Güter, die von nirgendwo sonst zu beschaffen waren. Die beiden Parteichefs waren sich zwar darüber einig, dass man das Problem durch „Störfreimachung“, das heißt Umstellung auf autarkes Wirtschaften im Kontext des sowjetischen Lagers, lösen müsse, doch Chruschtschow sah, dass sich dies nicht

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von heute auf morgen erreichen ließ. Er nötigte die SED-Führung daher, zunächst nachzugeben, und hoffte, dass sich die Abhängigkeit der DDR binnen Jahresfrist überwinden lasse, so dass kein westdeutsches Embargo mehr zu fürchten sei, falls man sich zum einseitigen Abschluss des Friedensvertrags entschließen müsse. Die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten der USA ließ Chruschtschow hoffen, er werde nunmehr sein Ziel in Berlin erreichen. Er hielt ihn für ein „politisches Leichtgewicht“, das sich wahrscheinlich den Forderungen fügen werde. Diese Erwartung erfüllte sich nicht. Bevor es zur persönlichen Begegnung kam, verneinte Botschafter Llewelyn Thompson am 24. April 1961, ob mit der Zustimmung des Präsidenten zu den BerlinForderungen zu rechnen sei. Chruschtschow wurde wütend und erklärte, das sei eine Kriegserklärung an die UdSSR. Bei den Wiener Gesprächen mit Kennedy am 3. und 4. Juni spielte er seine Stärke als erfahrener Kalter Krieger voll aus und überreichte zum Schluss ein Ultimatum, in dem es hieß, auf jeden Fall würden bis Ende des Jahres der Friedensvertrag geschlossen und die Rechte der Westmächte aufgehoben werden. Der Präsident, der sich eine Annäherung der Standpunkte erhofft hatte, war resigniert und erklärte, es stehe „ein kalter Winter“ bevor. Wie er zu Hause äußerte, fühlte er sich als „kleiner Schuljunge“ behandelt. Daher wollte er dem Kremlchef zeigen, dass er so nicht mit sich umspringen ließ. Er ordnete Rüstungsmaßnahmen an, um seine Entschlossenheit zur unbedingten Verteidigung West-Berlins zu demonstrieren. Unter Hinweis auf die anschwellende Massenflucht, welche die DDR akut bedrohe, hatte Ulbricht seit April im Kreml mit wachsendem Nachdruck eine rasche Schließung der Grenze in Berlin gefordert. Chruschtschow weigerte sich jedesmal. Er sah voraus, dass dies in der Öffentlichkeit einen fatalen Eindruck hinterlassen würde, und glaubte im übrigen, der SED-Chef, der das schon seit langem immer wieder verlangte hatte, dramatisiere die Lage. Diese Ansicht änderte Chruschtschow erst, als ihn sein eigener Mann, der KGB-Chef Aleksandr Schelepin, am 20. Juli wissen ließ, die DDR könne bereits zusammenbrechen, bevor noch der Abschluss des Friedensvertrags Ende des Jahres die Flüchtlinge stoppe. Da­ raufhin wies er Botschafter Michail Perwuchin an, dem Befehlshaber der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Armeegeneral Jakubowskij, den Auftrag zur Sperrung der Sektorengrenze zu erteilen. Dieser bestellte, ohne Ulbricht zu fragen oder auch nur zu unterrichten, die für Sicherheitsfragen zuständigen DDR-Minister zu sich nach Wünsdorf. Die konnten ihm alle Fragen sofort beantworten, denn sie hatten schon im Januar den – auch gegenüber dem Kreml geheim gehaltenen – Auftrag erhalten, geeignete Maßnahmen zu formulieren. Diese Vorarbeit erlaubte es



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dem sowjetischen Militär, die Planung rasch durchzuführen und einen frühen Termin, den 13. August, festzulegen.9 Chruschtschow war bei seiner Entscheidung sehr unwohl. Er überließ es Ulbricht, sie – mit einem von ihm überprüften Text – den Parteichefs der verbündeten Staaten auf der Warschauer-Pakt-Tagung vom 3. bis 5. August mitzuteilen und ihnen die Begründung zu präsentieren. Er selbst beschränkte sich auf eine kurze Erklärung seines Einverständnisses, nannte Berlin eine „offene Stadt“ und veranlasste den – dann am 13. August bekannt gegebenen – Beschluss, die Sperren würden aufgehoben werden, „sobald die Friedensregelung mit Deutschland verwirklicht ist und auf dieser Grundlage die spruchreifen Probleme gelöst sind.“10 Diese Zusicherung und ihre spätere Verwirklichung würden, so hoffte er, die bevorstehende Grenzsperrung weniger schlimm erscheinen lassen. Chruschtschow hatte sich dazu zwar nur ungern entschlossen, bekannte sich aber zu seiner Urheberschaft. Als ihn Botschafter Kroll am 9. November 1961 kritisch auf die Sache ansprach, erklärte er offen, dass er dahinter stand. „Ich leugne das nicht. Natürlich hätte die DDR ohne uns die Grenze nicht geschlossen. Wozu sollen wir uns hier hinter dem Rücken von Gen[ossen] Ulbricht verstecken? Der ist doch in diesem Fall gar nicht so breit. Natürlich, wir haben die Grenze geschlossen, das geschah auf unser Betreiben hin. Technisch hat das die DDR durchgeführt, weil das eine deutsche Frage ist.“11 Die Grenzsperrung am 13. August war insofern ein Erfolg, als sie reibungslos vonstatten ging und bei den Westmächten keinen Widerstand weckte. Präsident Kennedy, der sich nur für das westliche Berlin einsetzte und an der Stadt als Ganzer kein Interesse hatte, war zu Anfang sogar erleichtert. Er hielt die Berlin-Krise für beendet, nachdem die andere Seite ihr Flüchtlingsproblem ohne Friedensvertrag gelöst hatte. Erst später sah er, dass die enttäuschte Hoffnung des westdeutschen Verbündeten auf amerikanischen Beistand das beiderseitige Verhältnis belastete, und noch länger dauerte es, bis ihm klar wurde, dass der Konflikt mit der UdSSR weiter anhielt und sich sogar noch verschärfte. Chruschtschow hatte schon am 9  Interview von Alexander Vatlin und Manfred Wilke am 9. September 2010 mit Generaloberst a. D. A. Mereschko, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 87–96. Als stellvertretender Leiter der operativen Stabsabteilung wurde Mereschko von Jakubowskij zu beiden Unterredungen hinzugezogen und mit der Ausarbeitung der Maßnahmen zur Sperrung der Grenze in Berlin beauftragt. 10  Neues Deutschland v. 13. August 1961. 11  In den Erinnerungen Hans Krolls (Lebenserinnerungen eines Botschafters, Köln / Berlin 1967, S. 526) werden die Äußerungen Chruschtschows so wiedergegeben, dass sie – entgegen dem hier zitierten Wortlauf des amtlichen sowjetischen Protokolls – den Eindruck erwecken, als hätte Ulbricht die Entscheidung des Kremlchefs bestimmt.

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10. Juli den Bau einer nuklearen „Superbombe“ mit der Sprengkraft von 100 Mio. Tonnen TNT befohlen, deren Explosion im Herbst den Westen ausdrücklich einschüchtern sollte, um ihn zur Aufgabe seiner Position zu bewegen. Anfang Oktober ließ er im Manöver „Burja“ den totalen Kernwaffenkrieg proben, um zu zeigen, dass Mittel- und Westeuropa dann der Vernichtung ausgesetzt seien. Darauf könne es die andere Seite doch nicht ankommen lassen. Dieses Vorgehen bewirkte das Gegenteil. Die Regierung in Washington wusste inzwischen aufgrund der neuen Satellitenaufklärung, dass die UdSSR auf der global-strategischen Ebene abgrundtief unterlegen war, und machte dem Kremlherrscher klar, dass sein Land – und nicht etwa Nordamerika – einen Nuklearkrieg zu fürchten hatte. Die Sowjetunion würde kurz und klein geschlagen werden. Sogar nach einem gegnerischen Erstschlag sei man immer noch weit stärker. Chruschtschow sah sich genötigt zurückzustecken. Zu Beginn des XXII. KPdSU-Parteitags am 17. Oktober 1961 erklärte er, die sowjetische Regierung habe „kein Ultimatum gestellt“, sondern sei nur „von der Notwendigkeit ausgegangen, endlich diese herangereifte Frage zu lösen“. Sie werde daher „nicht darauf bestehen, den Friedensvertrag unbedingt bis zum 31. Dezember 1961 zu unterzeichnen“. Als „Hauptsache“ stellte er die Aufgabe heraus, „die Frage zu lösen, die Überreste des Zweiten Weltkrieges zu beseitigen, einen deutschen Friedensvertrag zu unterzeichnen“. Er fügte hinzu, die sowjetische Seite bestehe weiter „auf der raschesten Lösung der deutschen Frage“ und sei „dagegen, sie ewig hinauszuschieben“. Wenn die Westmächte zur Regelung des deutschen Problems bereit seien, werde der Termin „nicht solche Bedeutung haben“.12 Wie sich zeigte, suchte Chruschtschow damit nur sein Gesicht zu wahren, denn anschließend war keine Rede mehr von einem Vorbehalt. Von da an erhielten die an der Sektorengrenze provisorisch errichteten Sperren den Charakter einer dauerhaften Grenzbefestigung. Der 17. Oktober 1961 wurde so zum eigentlichen Geburtstag der Berliner Mauer.

12  Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXII. Parteitag, in: Materialy XXII s-ezda KPSS, Moskau 1961, S. 33 f. In deutscher Übersetzung wurde die Stellungnahme veröffentlicht in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Serie IV, Bd. 7 / 1, Frankfurt a. M. 1976, S.  725 f.



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6. Neue Bemühungen zur Vertreibung der Westmächte aus Berlin Am 8. Januar 1962 erläuterte Chruschtschow den anderen Mitgliedern der sowjetischen Führung, wie er West-Berlin in die Hand bekommen wollte, obwohl die Mittel der Nötigung gegenüber den USA versagt hatten. Vorerst könne man „kaum das Maximum erhalten, weil der Westen dazu noch nicht bereit“ sei, „weder moralisch noch materiell“. Nach wie vor gebe „es noch sehr starke reaktionäre Kräfte, die sich dagegen zur Wehr setzen“. Zugleich sei „der Gegner stark, nicht schwächer als wir“, und könne daher ebenfalls „von der Position der Stärke aus“ handeln. Kennedy schwanke hin und her, daher sei nicht voraussehbar, wie er sich entscheide, „wenn es ums Äußerste geht – Frieden oder Krieg?“ Nach Ansicht Chruschtschows war folglich nicht sicher, ob er dann den Frieden wählen würde. Darum war Vorsicht geboten; das Risiko eines Krieges durfte nicht eingegangen werden. Das schloss die Option militärischer Druckausübung aus. Man musste zu anderen Mitteln greifen. West-Berlin, so erklärte der sowjetische Parteichef, war nach der völligen Abriegelung von seiner Umgebung in eine bedrängte Lage geraten. Dadurch hätten sich die Verhältnisse umgekehrt: Die Position nicht der UdSSR und der DDR, sondern der Westmächte sei bedroht. Man könne abwarten, bis der Sieg heranreife. Hatte Chruschtschow früher erklärt, dass ihm der Knochen im Hals stecke, so sah er ihn jetzt im Hals des Westens. Es habe ein Wechsel „von der einen Seite zur anderen“ stattgefunden. Dieser Knochen habe die Sowjetunion „vor dem 13. August mehr beunruhigt als heute, nach dem 13. August“. Dagegen beunruhige er jetzt die Westmächte sehr, und das möge „auch so bleiben“. „Sollen sie damit leben. Wir schaffen jetzt Schwierigkeiten für West-Berlin, und sie sagen selbst, dass das zum Absterben führen kann. Und was ist das? Das ist der Knochen. So ist es nicht an uns, diesen Knochen herauszunehmen, um das Leben West-Berlins anzuregen.“ Selbst wenn die westliche Seite große Zugeständnisse mache, liege eine Übereinkunft nicht im sowjetischen Interesse, weil dies nur die Stadt stabilisieren würde. Man solle vielmehr auf der Grundlage der Zweistaatlichkeit Deutschlands „die Bevölkerung mobilisieren und die Kräfte der Koexistenz gegen die aggressiven Kräfte mobilisieren“. „Also, als Ostdeutschland [früher] angesichts des Kapitalismus ein offener Staat war, da hatten wir diesem Knochen eine ganz schöne Halsentzündung zu verdanken. Als wir die Mauer zugemacht haben, haben wir diesen Knochen herausgezogen und ihn unserem Feind eingesetzt, und jetzt arbeitet dieser Knochen nicht mehr gegen uns, sondern für uns.“ Nach Chruschtschows Urteil war zu erwarten, dass West-Berlin unaufhaltsam absterben werde. Höchstens zehn Jahre lang würden die Westmächte die Stadt halten

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können. Demnach war der entscheidende Schritt zum Erfolg bereits getan. Es kam nur noch darauf an, an den Forderungen festzuhalten und dem fortschreitenden Niedergang mit geeigneten Pressionen nachzuhelfen. In den folgenden Monaten scheint Chruschtschow gewisse Zweifel daran gehabt zu haben, ob ihn dieses Vorgehen zum Ziel führen werde. Sein Pressionsversuch, die westlichen Luftverkehrsgesellschaften durch wiederholte, zu Beinahe-Zusammenstößen führende sowjetische „Flugübungen“ an der Benutzung der Berlin-Korridore zu hindern, hatte nicht zum Erfolg geführt. Es war auch deutlich geworden, dass die Bundesrepublik den Willen und die Fähigkeit besaß, die durch die Abschnürung West-Berlins verursachten zusätzlichen Kosten zu übernehmen. Demgegenüber kam die DDR ökonomisch nach wie vor auf keinen grünen Zweig und blieb weiter von den Lieferungen aus der Bundesrepublik abhängig. Von störenden Einflussnahmen West-Berlins konnte nach dem 13. August 1961 keine Rede mehr sein. Daher war Chruschtschow zunehmend erbost. Die [Ost-]Deutschen sollten sich endlich auf den Hosenboden setzen und zu arbeiten anfangen, statt immer nur bei der UdSSR um Hilfe zu betteln. Alle bisherigen Schwachpunkte würden keine Rolle mehr spielen, wenn die UdSSR ihre Nuklearraketen auf Kuba in großer Anzahl stationieren konnte, wie Fidel Castro im Frühjahr 1962 angeboten hatte. Die Sowjet­ union werde dadurch die ihr fehlenden interkontinentalen Fähigkeiten durch Flugkörper mittlerer Reichweite wettmachen und war dann auf diese Weise in der Lage, entscheidende Regierungs-, Industrie- und Bevölkerungszentren der USA mit Kernwaffen zu bedrohen. Damit, so glaubte Chruschtschow, hätte er ein Druckmittel in der Hand, mit dem sich der Rückzug der Westmächte aus Berlin erzwingen ließ. Das Risiko, dass der Gegner in Washington die Raketen rechtzeitig entdecken und hindernd eingreifen werde, ignorierte er. In der Erwartung, dass er künftig seinen Forderungen durch militärische Macht überzeugenden Nachdruck verleihen könne, warnte er ab Sommer 1962 Gesprächspartner aus dem Westen immer wieder, seine „Geduld“ mit der Lage in Berlin werde nicht mehr lange dauern. Die Frist, in der Verhandlungen darüber noch möglich seien, schwinde. Ende August wurde auch der Termin genannt, an dem damit Schluss sein sollte: im November nach den Kongresswahlen in den USA – genau zu der Zeit, zu der die Stationierung auf Kuba abgeschlossen sein sollte. Dazu kam es nicht: Chruschtschow sah sich in der Krise von Ende Oktober genötigt, seine Raketen aus Kuba abzuziehen. Danach stellte er die Position der Westmächte in West-Berlin nur noch indirekt – durch Angriffe auf die Bindungen der Stadt an die Bundesrepublik – in Frage, und auch davon nahm er Abstand, als Adenauer im Herbst von der politischen Bühne abtrat und Ludwig Erhard sein Nachfolger wurde. Chruschtschow erwartete nämlich, der neue Bundeskanzler werde sich politisch vom überragenden



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Interesse am Osthandel leiten lassen, das die Westdeutschen nach seiner Ansicht hatten, das aber vom bisherigen Bundeskanzler unterdrückt worden sei. Nunmehr werde sich folglich die Bonner Politik auf die UdSSR ausrichten. Eine derartige Neuorientierung würde die NATO erschüttern. Der Streit um West-Berlin, in dem der Kreml ohnehin keinen baldigen Erfolg mehr erwartete, sollte dieser Entwicklung nicht im Wege stehen. 7. Strategie Chruschtschows – ein Glück für Deutschland Das einzige Ergebnis der beharrlichen, immer wieder mit Krieg drohenden Anstrengungen war die Berliner Mauer, die Chruschtschow nie gewollt hatte und durch welche die Westmächte – anders als ihr deutscher Verbündeter – sich gar nicht herausgefordert fühlten. Mit seinem im Vergleich mit den USA schwachen militärischen Instrumentarium vermochte er zu bluffen und so weit Eindruck zu machen, dass ihm erhebliche Zugeständnisse angeboten wurden. Als er jedoch auf dem Rückzug der Westmächte aus WestBerlin – und das hieß: auf dem Bruch des Schutzversprechens gegenüber der dortigen Bevölkerung und der Preisgabe der Grundlage der NATO – bestand, konnte er sich nicht durchsetzen. Er verlangte alles und erhielt darum nichts. Das war ein Glück für Deutschland, denn auf diese Weise blieb die Verhandlungsmasse erhalten, die dort zu Beginn der 1970er Jahre die Herstellung eines politischen Modus vivendi im Zeichen des VierMächte-Abkommens über Berlin und der Ostverträge der Bundesrepublik ermöglichte und 1990 die Wiedervereinigung erlaubte. Chruschtschow ließ sich von der Überzeugung leiten, dass der Sozialismus das dem Westen überlegene System sei und sich nach den Gesetzen der Geschichte früher oder später weltweit durchsetzen müsse. Das Vorgehen gegen West-Berlin lag auf dieser Linie und sollte damit den Anfang machen. Die Realität sah anders aus. Das sozialistische System führte zu wirtschaftlichem und sozialem Rückstand. Das beschränkte die Optionen gegenüber den Westmächten, ließ im Konfrontationsfall auch ökonomische Risiken erwarten und setzte Chruschtschow, wie sein Entschluss zur Sperrung der Grenze in Berlin zeigt, Handlungszwängen aus, die ihn in nicht gewollte Richtungen führten. Auf den Verlauf der Berlin-Krise wirkte sich stark aus, dass die DDR weder ihre Bevölkerung materiell zufrieden stellen konnte noch sich aus der Lieferabhängigkeit von der Bundesrepublik zu lösen vermochte und dass die UdSSR trotz ihres Rohstoff- und Energiereichtums außerstande war, die wirtschaftlichen Defizite des ostdeutschen Verbündeten zu beheben. Der Rückstand des sozialistischen Lagers gegenüber dem Westen nahm im Laufe der Zeit nicht ab, sondern zu und wurde damit zur Grundlage einer Entwicklung im Ost-West-Verhältnis, die genau umgekehrt verlief, als Chruschtschow gedacht hatte.

Die alte Bundesrepublik und die zweite Berlin-Krise Von Peter März 1. Rahmenbedingungen Der Bau der Mauer durch Berlin am 13. August 19611 findet die „alte“ Bundesrepublik im Zenit ihrer dynamischen ökonomischen Rekonstruk­ tionsphase und zugleich in einem Zeitabschnitt beginnenden kulturellen Wandels. Die durch Ökonomie wie Kultur vorgegebenen Rahmenbedingungen haben zwar das operative Handeln der westdeutschen Politik zwischen dem sogenannten Berlin-Ultimatum des sowjetischen Parteichefs Chruschtschow vom 27. November 1958 und dem allmählichen Auslaufen der sogenannten zweiten Berlin-Krise, nach jener ersten von 1948 / 49, im weiteren Verlauf des Jahres 1962, nicht unmittelbar bestimmt oder determiniert. Aber es gibt indirekte Wirkungsfaktoren: Die dynamische ökonomische Rekonstruktionsphase der „alten“ Bundesrepublik hatte gegen Ende der fünfziger Jahre entscheidend dazu beigetragen, dass sie auf dem Weg schien, wieder europäische Großmacht zu sein bzw. zu werden. Was ihr völkerrechtlich und auf der Bühne der Vereinten Nationen an formalem Status wie an insbesondere nuklearem Rüstungsniveau fehlte, schien sie durch zunehmende ökonomische Stärke wettzumachen: Betrug 1950 der Anteil des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts an dem der USA 13,20 Prozent, hingegen der Frankreichs 13,30 Prozent und der Großbritanniens 20,2 Prozent – im Falle Japans waren es ganze 9,5 Prozent –, so hatten sich die Relationen bis 1960 umgedreht: Nun führte Westdeutschland mit 20,83 Prozent vor Großbritannien mit 19,48 Prozent, Japan mit 16,16 Prozent und Frankreich mit 15,55 Prozent.2 Die westdeutsche Volkswirtschaft, also die der „alten“ Bundesrepublik, hatte sich bis zum Beginn der zweiten Berlin-Krise auf Platz zwei im westlich-marktwirtschaftlich geordneten Teil der Weltwirtschaft vorgearbei1  „Bau der Mauer“ ist hier symbolisch gemeint. Die Errichtung der Mauer im unmittelbar technischen Sinn – begann fünf Tage nach den Absperrungsmaßnahmen in Berlin – am 18. August 1961. Vgl. Frederick Taylor, Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989, München 2006, S. 292. 2  Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 739.

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tet. Und auch die interne Datenlage für die „alte“ Bundesrepublik war in diesen Jahren exzellent: 1959 setzte ein neuer Konjunkturzyklus ein, der bis 1963 anhalten sollte. Das reale Wachstum lag 1960 bei 9,0 Prozent, 1961 bei 5,6 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag bei 1,3 Prozent bzw. 0,8 Prozent, also tendenziell eine Überbeanspruchung des Arbeitsmarktes. Die Brutto­ löhne erhöhten sich – bei einer jährlichen Geldentwertung von 1,4 Prozent bzw. 2,3 Prozent – um 9,3 Prozent bzw. 10,3 Prozent. Die öffentlichen Haushalte erzielten 1960 einen Überschuss von 1,6 Prozent ihrer Haushaltsvolumina, im Folgejahr immerhin noch von 0,6 Prozent. Die Höhe der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte am Bruttoinlandsprodukt betrug in diesen Jahren 17,4 Prozent bzw. 17,2 Prozent, also deutlich unterhalb nur eines Drittels des heutigen sogenannten MaastrichtKriteriums von 60 Prozent.3 Die Exportstärke der deutschen Industrie schließlich machte am 3. März 1961 die erste Aufwertung der DM seit der Währungsreform von 1948 um fünf Prozent notwendig, durchaus gegen den langen Widerstand Konrad Adenauers, den Industrie und Gewerkschaften gemeinsam unter Druck gesetzt hatten, weil sie um Exporte wie Arbeitsplätze fürchteten. Aber die Zahlungsbilanz war zu sehr aus dem Gleichgewicht geraten. Damals begann die lange Phase der starken Position der DM gegenüber Franc und Pfund mit ihren politischen Folgewirkungen für das innereuropäische Gefüge. Und so ist auch im Abstand von drei Jahrzehnten Hans-Peter Schwarz zuzustimmen, wenn er die aus der zweiten BerlinKrise resultierenden Belastungen für Status und sicherheitspolitische Posi­ tionierung Westdeutschlands dafür verantwortlich macht, dass sein damaliger ökonomischer Aufstieg im Ergebnis nicht in politische Münze umgewandelt werden konnte: „Im Jahr 1958, vor Beginn der Krise, befand sich die Bundesrepublik auf dem besten Wege, eine selbstbewusste westeuropäische Großmacht zu werden – an politischem Gewicht bald schon vergleichbar mit Frankreich und Großbritannien […]. Dank dem phönixgleichen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft stand zu erwarten, dass sich nach dem voraussehbaren Abschluss des Aufbaus der Bundeswehr eine gewisse Ranggleichheit wieder herstellen würde […]. Am Ende der Berlin-Krise war von diesen deutschen Erwartungen nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Die Erpressbarkeit und Abhängigkeit wegen Berlin war ein Hauptgrund für die nach allen Seiten weiterhin prekäre deutsche Situation. Dass die Bundesrepublik, anders als Großbritannien und Frankreich, niemals über eigene Kernwaffen verfügen würde, begann sich damals schon abzuzeichnen. Aber vom militärischen Bereich abgesehen, stellte die durch Berlin bedingte Abhängigkeit vom bösen Willen der Sowjetunion und vom guten Willen der Westmächte eine Dauerbelastung dar, die jede eigenständige außenpolitische Entfaltung verhinderte.“4 3  Vgl.

ebd., S. 350. Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957 bis 1963, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Stuttgart, Wiesbaden 1983, S. 250. 4  Hans-Peter



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In die zweite Berlin-Krise fällt nur eine Bundestagswahl, die des Jahres 1961. Bemerkenswert für ihren kulturellen Kontext ist, dass, anders als bei der Bundestagswahl 1965 und den folgenden Bundestagswahlen im Zeichen der sozialliberalen Koalition, eine deutliche Artikulation des kulturell linken Milieus, insbesondere unter den Literaten der Republik, für die SPD noch nicht bzw. kaum erkennbar ist. Erst 1965 waren Günter Grass, Rolf Hochhuth u. a. für die SPD präsent. Das mag 1961 auch der Preis dafür gewesen sein, den Willy Brandt und die Seinen für eine Politik der Verbürgerlichung und Amerikanisierung der SPD seit Ende der fünfziger Jahre zahlen mussten. So schrieb Alfred Andersch an Hans Magnus Enzensberger im Blick auf Brandts Kanzlerkandidatur vier Monate vor der Wahl, am 11. März 1961: „Und ich werde auch nicht diesen Dummkopf, der etwa so sagenhaft Herrliches wie die norwegische Staatsbürgerschaft aufgegeben hat, um in Deutschland Politiker werden, als Alternative zu dem senilen Lumpen [Adenauer!] sehen“.5 Ganz anders verhält es sich mit einem traditionellen gesellschaftlichen Antipoden zum linken Schriftstellermilieu, der katholischen Kirche. Den sicherheitspolitischen wie den gesellschaftspolitischen Grundansatz des ersten Adenauer-Jahrzehnts haben die Evangelischen Kirchen von vornherein nur zu einem guten Teil und auch da mitunter mit schlechtem Gewissen mitgetragen; die bohrende Sorge, dass die europäische Integrationspolitik die Stammlande der Reformation auf Dauer östlich des Eisernen Vorhanges verbleiben lasse, trieb die evangelische Christenheit in Westdeutschland um. Und ein politisch-prononcierter Teil, der sich bis dahin in Gustav W. Heinemanns „Gesamtdeutscher Volkspartei“ gesammelt hatte, schloss sich 1957 der SPD an und errang über sie Repräsentanz im Bundestag. Anders der westdeutsche Katholizismus: Er schien anfänglich so etwas wie die ideologisch-kulturelle Hausmacht des größten Teils der Unionsparteien zu sein und die Bundesrepublik als seinen deutschen Staat zu sehen, erstmals seit 1871 in der deutschen Nationalstaatsgeschichte. Hier spielte insbesondere die Propagierung eines auf christliche Universalitätsvorstellungen zurückweisenden Abendlandgedankens eine Rolle, der die nationalistischen Verirrungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts überwinde. Aber auch diese Fronten begannen sich gegen Ende der fünfziger Jahre aufzuweichen: Der Abendlandgedanke verlor vor dem Hintergrund eines allgemeinen, eher technokratischen Modernisierungsparadigmas an Überzeugungskraft, das sich in der Bundesrepublik breitmachte. Das Jahr 1958 brachte, bereits ein Jahr vor dem Godesberger Parteitag der SPD, eine zweitägige Tagung der Katholischen Akademie in Bayern über „Christentum und demokrati5  Zitat nach Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 228.

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schen Sozialismus“, zu der die SPD ihre intellektuellen Stars, Carlo Schmid und Adolf Arndt, entsandte. Zunehmend gab es katholische Theologen, die sich an einer Attitüde gesellschaftlicher Saturiertheit in den Unionsparteien störten. Der „Kalte Krieg“ selbst forcierte weitere Entfremdungen, paradoxerweise in zwei nahezu entgegengesetzte Richtungen: „In der Diskussion um die atomare Bewaffnung in der Bundeswehr 1958 zeigten sich erste Delegitimationserscheinungen des offiziellen Katholizismus. Anders als noch 1951  /  52, als die Wiederbewaffnung im Katholizismus relativ ‚reibungslos‘ über die Bühne ging“.6 Auf der anderen Seite führte der wachsende sowjetische Druck auf West-Berlin dazu, dass sich in der Stadt Kardinal Döpfner und der Regierende Bürgermeister Willy Brandt deutlich aufeinander zu bewegten – gewissermaßen praktizierter Antitotalitarismus zwischen katholischem Kirchenfürsten und agnostischem7 Stadtoberhaupt mit formaler evangelischer Kirchenbindung. Konrad Adenauer hat die Gefahr abnehmender politisch-kultureller Hegemonie der Unionsparteien durchaus gesehen, aber keine wirksamen Strategien gegen diesen Trend im Zeichen seiner spätestens seit 1959 innenpolitisch schwächer werdenden Kanzlerschaft entwickeln können. 2. Die zweite Berlin-Krise und die SPD Bei der dritten Bundestagswahl am 15. September 1957 erreichte die SPD 31,8 Prozent und lag um nahezu 20 Prozentpunkte gegenüber den Unionsparteien zurück, die mit 50,2 Prozent den größten Wahlsieg auf Gesamtstaatsebene für eine Parteienformation in der deutschen Geschichte errangen. Deutschlandpolitisch, ordnungspolitisch und im politischen Management schien die Ollenhauer-SPD delegitimiert. Knapp 14 Monate später, am 7. Dezember 1958, legte bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus die SPD um volle acht Prozentpunkte auf 52,6 Prozent zu. Der junge, damals ostentativ proamerikanische Regierende Bürgermeister Willy Brandt schien gerade in den Wochen nach dem Chruschtschow-Ultimatum, das auf die Umwandlung West-Berlins in eine so genannte Freie Stadt und die Übergabe von Grenzkontrollfunktionen an DDR-Einrichtungen abzielte, glänzend bestätigt. In der Folge entwickelte sich innerhalb der SPD, was die Deutschlandpolitik anbelangte, eine Auseinandersetzung zwischen zwei Zentren, dem Bonner und dem Berliner Zentrum, wobei, wie so oft, die inhaltlichen, 6  Karl Gabriel, Die Katholiken in den fünfziger Jahren: Restauration, Modernisierung und beginnende Auflösung eines konfessionellen Milieus, in: Axel Schildt / Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre, Bonn 1993, S. 418−430, hier: S. 430. 7  Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart  /  München 2002, S. 422.



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die strategischen und die personellen Fragen in einem engen Bezug zueinanderstanden. Kurz formuliert ging es um die Frage: Wer sollte die Partei in die Bundestagswahl 1961 führen und wie konnte es gelingen, die SPD aus ihrer Zernierung in einem 30-Prozent-Turm zu befreien? Die allgemeinen Stationen in der SPD-Parteigeschichte auf diesem Weg sind geläufig: der Stuttgarter Parteitag 1958, der den alten, noch in der Tradition der Weimarer Republik stehenden Funktionärsapparat entmachtete, das Godesberger Programm von 1959 und Herbert Wehners Bundestagsrede vom 30. Juni 1960, die das Bekenntnis der SPD zu den essentials der Adenauerschen Außenpolitik zum Ausdruck zu bringen schien, zum atlantischen Bündnis, zur europäischen Integration und zur Wiederbewaffnung, und die damit zugleich die Absage an alle Neutralitäts- und disengagement-Konzeptionen der Jahre zuvor enthielt. Aber hinter dieser, nun förmlich festgeschrieben erscheinenden Trias verbarg sich naturgemäß ein sehr komplexes, SPD-internes Gegeneinander, bei dem die Berliner SPD bzw. ihr rechter Flügel unter Willy Brandt eine zentrale Rolle spielte.8 Auf sie bewegte sich die Entwicklung jetzt zu. Die traditionelle Linie der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik hatte noch die heftigen Angriffe auf den Bundeskanzler und Bundesaußenminister von Brentano in der spektakulären Parlamentssitzung vom 23. auf den 24. Januar 1958 beherrscht. Dabei warfen Gustav W. Heinemann, Sozialdemokrat erst seit 1957, wie Thomas Dehler von der FDP, Adenauer eine die Wiedervereinigung sabotierende Konfrontationspolitik gegenüber dem Osten vor. Und auf dieser Linie lagen ferner die Antiatom-Kampagne, der sich die SPD anschloss, und schließlich ihr am 18. März 1959 vorgestellter Deutschlandplan, konzeptionell im Wesentlichen ein Produkt von Herbert Wehner.9 Wenige Tage zuvor hatten Carlo Schmid und Fritz Erler mit Nikita Chruschtschow in Moskau konferiert und dabei erfahren müssen, dass die sowjetische Seite einer Wiedervereinigung unter demokratischen Vorzeichen keine Chance gab. Insofern war dem Deutschlandplan die Grundlage entzogen, bevor er öffentlich gemacht wurde. Wehner hielt gleichwohl zunächst an ihm fest. Der Plan sah eine mitteleuropäische Disengagementzone mit reduzierten militärischen Potenzialen, außerhalb von NATO und Warschauer Pakt, vor. Parallel dazu sollte es zur Errichtung von eigenen deutschen Institutionen kommen, zunächst eines Gesamtdeutschen Rates, sodann eines Gesamtdeutschen Parlamentarischen Rates. Sie hätten am Ende konstitutiv die staatliche 8  Vgl. Wolfgang Schmidt, Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte. Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948 bis 1963, Wiesbaden 2001. 9  Abdruck in: Archiv der Gegenwart, Nachdruck, Bd. 3, Oktober 1957 bis Mai 1962, St. Augustin 2000, S. 2388−2390.

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Wiedervereinigung Deutschlands in die Wege leiten sollen. Offenkundig waren in diesen Plan Neutralisierungs- und Konföderierungsüberlegungen aus den frühen fünfziger Jahren eingegangen. Damit aber waren zugleich die Schwachstellen bezeichnet, die er nicht nur aus Sicht der Bundesregierung, der hinter ihr stehenden Kräfte wie auch der West-Berliner SPD haben musste: Disengagement konnte zugleich als Zone reduzierter Sicherheit verstanden werden, vor allem ohne nukleare Sicherungen. Genau dies war für Brandt, insbesondere wenn es um die Erhaltung der westlichen Positionen in Berlin ging, gänzlich inakzeptabel. Für ihn waren diese Positionen und damit die Freiheit zumindest in den Westsektoren nur dann gesichert, wenn letztere in jeder Hinsicht Bestandteil des westlichen Sanktuariums waren und blieben. Brandt stand in dieser Phase sehr viel mehr bei Adenauer als bei Herbert Wehner, und es war Letzterer, der sich in der Folge bewegte – und mit ihm das Gros des Parteiapparates der SPD. Im ganz weitgehenden Konsens mit der Bundesregierung lehnte Brandt im Hinblick auf die Genfer Konferenz des Jahres 1959 Interimslösungen, die die DDR-Organe aufwerten würden, ebenso ab wie einseitige Zusagen der Westmächte, die ihren militärischen Status in Berlin gemindert hätten; das betraf eine Höchstzahl von 11.000 Soldaten ebenso wie die etwaige Verbriefung einer Denuklearisierung. Wie sehr Brandt damals, gut zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl, bei Adenauer war – oder umgekehrt –, verdeutlichen zwei Vorgänge spektakulär: Anfang 1959 ging Willy Brandt auf eine große, mehrwöchige Reise durch ganz Nordamerika und über Indien zurück nach Europa. Sie wurde von der Bundesregierung finanziert und sollte als Sympathiewerbung für eine feste westliche Berlinpolitik dienen. Und mit derselben Aufgabenstellung redete Brandt den westlichen Außenministern am Rande der Genfer Konferenz zweimal ins Gewissen, am 13. Juni 1959 auf Einladung des amerikanischen Außenministers Christian Herter und dann nochmals, am 30. Juli, nachdem ihn Bundesaußenminister von Brentano dringend nach Genf gebeten hatte – im Übrigen zugleich ein eindrucksvolles Beispiel für die Ambivalenz historischer Prozesse. Willy Brandt war in den späten fünfziger Jahren einerseits proamerikanisch und im atlantischen Sinne unbedingt verlässlich. Das machte ihn zum wertvollen Bündnispartner der CDU / CSU-Bundesregierung. Dadurch aber, dass Brandt dieses Kapital mit Zustimmung der Bundesregierung national und international einsetzte, leistete er, wie strategisch langfristig auch immer intendiert, tatsächlich seiner Rolle als späterer Kanzlerkandidat und Gegenspieler Adenauers Vorschub. Brandts Haltung fußte schon vor dem Mauerbau von 1961 auf zwei Kernüberlegungen. Die eine lautete: Keine Konzessionsbereitschaft in der Berlin-Frage, die andere war die „de facto“-Hinnahme der Zweistaatlichkeit auf deutschem Boden – fast wie nach der Unionsparole von 1957 „keine Experimente“ und damit



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gegen alle Neutralisierungs- und Konföderierungsvorstellungen –, verbunden mit ersten Überlegungen, was das für die Gestaltung jener Phase heißen konnte, in der die Teilung anhielt. Insofern wurde die spätere Neue Ostpolitik nicht erst nach, sondern, wenn auch embryonal, bereits vor dem Mauerbau erdacht: „Von der Tatsache der Verwaltungsorganisation im östlichen Teil Deutschlands haben wir natürlich Kenntnis genommen, beispielsweise bei den Vereinbarungen über den innerdeutschen Handel […]. Demgegenüber steht die Tatsache, daß wir die Spaltung Deutschlands ebenso wenig anerkennen können, wie die Rechtmäßigkeit des dem anderen Teil Deutschlands aufgezwungenen Regimes. […]. Was immer an uns liegt, sollte jedoch geschehen, ein Höchstmaß an wirtschaftlich-technischer Verflechtung, an geistig-menschlichem Austausch zu gewährleisten. Bei einigermaßen gutem Willen der Beteiligten ließen sich hier auch die institutionellen Formen finden …“, so Brandt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 22. / 23. August 1959.10 Schon in seiner Rede vor dem Landesparteitag der Berliner SPD am 28. Dezember 1958, drei Wochen nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus, hatte Brandt im Grunde bündig erklärt, wie die SPD nicht nur in Berlin, sondern in der Konsequenz auch im Bundesgebiet mehrheitsfähig werden könne, nämlich indem sie mindestens im gleichen Maße wie die seit 1949 in Bonn regierenden Unionsparteien Sicherheit verbürge und indem sie gesellschaftspolitisch zu integrieren verstehe, über das traditionell der SPD nahestehende Milieu hinaus. „Uns haben auch solche Gruppen ihr Vertrauen ausgesprochen, die sich bisher anders entschieden hatten […]. Das verständliche Sicherheitsverlangen unserer Menschen in dieser Zeit […] hat sich nicht in Berlin in einen CDU-Sog umgesetzt, sondern die Wähler dieser Stadt trauen in ihrer eindeutigen Mehrheit uns zu, daß wir unserer Stadt drohenden Gefahren mindestens so gut gewachsen sind, wie man es am Rhein mit einem gewissen Monopolanspruch sonst von sich behauptet.“11 Damit waren, fast drei Jahre vor der Bundestagswahl 1961, bereits die konzeptionellen Ausgangsbedingungen für eine spätere Kanzlerkandidatur Willy Brandts bestimmt. Die sowjetische Droh- und Ultimatenpolitik seit Ende 1958 brachte im Ergebnis innenpolitisch in der Bundesrepublik eine Rechtsverlagerung in der SPD und als deren personifizierten Ausdruck den Aufstieg Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten, eine Rolle, die im Sommer 1960 festgezurrt und auf dem SPD-Parteitag im November 1960 sanktioniert wurde. Konzeptionell war er bzw. waren seine Berater mit Klaus Schütz 10  Zitat

nach Wolfgang Schmidt (FN 8), S. 293. Brandt, Berlin bleibt frei. Politik in und für Berlin 1947 bis 1966, Berliner Ausgabe, Bd. 3, Bonn 2001, bearbeitet von Siegfried Heimann, Dokument 43, S. 247–254, hier S. 247. 11  Willy

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an erster Stelle bemüht, deutschlandpolitisch bei der nun beginnenden Wahlaus­ einandersetzung zwischen Adenauer und Brandt möglichst keine Differenzen erkennen zu lassen. Genau dies machte Adenauer nervös, erkennbar ratlos und provozierte seine polemischen Ausfälle gegen Brandt im Wahlkampf. Die Trias von innerer und äußerer Sicherheit, Verwestlichung und Modernisierung und einem deutlich verjüngten personellen Angebot brachte gleichwohl der SPD bei der Bundestagswahl vom 17. September 1961 „nur“ den Zugewinn gegenüber 1957 um 4,4 Prozent auf 36,2 Prozentpunkte oder, in absoluten Zahlen, um knapp zwei Millionen Stimmen von 9,5 Millionen auf 11,4 Millionen. Das war beträchtlich, aber weniger als erwartet und insgesamt für die SPD-Führung enttäuschend. Die Amerikanisierung des Wahlkampfes, die Orientierung an John F. Kennedy, die Präsenz Brandts in seiner Stadt nach dem Mauerbau vom 13. August 1961, schließlich sein „die Luft reinigender“, vorwurfsvoll-offensiver Brief an Kennedy vom 15. August 1961, mit dem er den Westen der Passivität zieh, zugleich die Bundesregierung düpierte und sich insgesamt in einer furchtlosen Heldenrolle profilierte12 – all das hatte bestenfalls einen Teilerfolg gebracht. Brandt selbst war frustriert, wie verstärkt vier Jahre später nach der Bundestagswahl 1965 und wie es seinem zur Melancholie neigenden Naturell entsprach. Aber in Wirklichkeit erwies sich die Bundestagswahl 1961 für die SPD als wenn nicht hinreichender, so doch notwendiger Schritt auf einem langen Weg, der schließlich in die Schaffung der sozialliberalen Koalition 1969 münden sollte: Zunächst einmal wuchsen die Schnittmengen zwischen der SPD und den allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Man denke nur an die in diesen Jahren um sich greifende Planungseuphorie. Dann stellte der „rechte“ Flügel in der SPD um Willy Brandt, Helmut Schmidt und Fritz Erler zugleich einen wesentlichen Faktor in der damals tobenden Auseinandersetzung zwischen Atlantikern und Gaullisten dar. Die Gaullisten, jene Kräfte innerhalb der Unionsparteien insbesondere um Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß, die, frustriert über die KennedyAdministration, auf das Frankreich Charles de Gaulles setzten, waren im gesamten politischen Profil der Republik eben nur eine Minderheit. Die proamerikanische Mehrheitsachse zog sich von Teilen der CDU – ab 1961 mit Außenminister Gerhard Schröder an erster Stelle – über die FDP in die SPD hinein. Auch das stärkte deren Rolle als potenzielle Regierungspartei. Trotzdem aber kam der Bundeskanzler in seinen beiden letzten Regierungsjahren, in taktischer Not, zweimal auf die SPD selbst als denkbaren Regie12  Vgl.

Brandt (FN 11), Dokument Nr. 68, S. 336–338.



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rungspartner zu, nach der Bundestagswahl 1961, um die FDP, die sich einer Verlängerung seiner Kanzlerschaft widersetzte, weichzuklopfen und – sehr viel intensiver – nach der Spiegelkrise des Herbstes 1962, um an die Stelle der FDP nun die SPD als Regierungspartner zu setzen. Beide Male war auf der sozialdemokratischen Seite Herbert Wehner der eigentliche Partner. Das zeigt, welch weiten Weg der stellvertretende SPD-Vorsitzende inzwischen gegangen war, vom gegen die essentials der Bonner Deutschlandpolitik gerichteten Deutschlandplan des Jahres 1959 bis zur Bereitschaft, über alle Gräben hinweg nun mit Adenauer ins Regierungsbündnis zu gehen. Dahinter aber standen die Vorboten einer Entspannungspolitik im Zeichen des Agierens der Kennedy-Administration, eine Entwicklung, für die Unionsparteien, Bundeskanzler und Auswärtiges Amt eben bei Weitem nicht so gut gerüstet waren wie eine SPD mit den – damaligen – Atlantikern Willy Brandt und Fritz Erler – oder einem Carlo Schmid, der 1958 bereits Polen besucht hatte.13 3. Die zweite Berlin-Krise und die Unionsparteien Das Ende der „Ära Adenauer“ und die zweite Berlin-Krise, mit dem Höhepunkt des Baues der Mauer am 13. August 1961, verlaufen nahezu synchron. Insofern war für die Unionsparteien die Berlin-Krise zwar ein zentrales deutschlandpolitisches Thema für sich, zum anderen aber auch wesentlicher Referenzpunkt für einen sich quälend hinziehenden inneren Umbau, Gewichtsverlust und – im Blick auf 1969 – letztlichen Wechsel in die Oppositionsrolle. Der „obere Wendepunkt“ war die Bundestagswahl 1957. Sie brachte nicht nur Konrad Adenauer den größten Wahltriumph in der deutschen Parlaments- und Parteiengeschichte, sondern, wie oft auf dem Höhepunkt, schon den „Aufmarsch der Diadochen“.14 Ludwig Erhard wurde bereits als Nachfolger in Stellung gebracht, hinter ihm blieben zunächst noch die in Deckung, die sich als die eigentlich geeigneten Nachfolger sahen, darunter Franz Josef Strauß, Gerhard Schröder, Eugen Gerstenmaier. Zunächst war freilich nicht erkennbar, dass die Unionshegemonie in Westdeutschland ins Wanken geraten könnte. Wie eine Bestätigung des Wahltriumphes von 1957 erschien der Ausgang der Landtagswahl vom 6. Juli 1958 in Nordrhein-Westfalen. Ihr Ergebnis schien allen Entwicklungen, die in Richtung auf eine sozialliberale Kombination wiesen, demonstrativ einen Riegel vorzuschieben, obwohl es 1956 zum Bruch zwischen Adenauer und 13  Vgl. Peter Merseburger (FN 7), S. 343 ff.; ferner Hartmut Soell, Helmut Schmidt 1918 bis 1969. Vernunft und Leidenschaft, München 2003, S. 280 ff. 14  Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 348.

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der FDP im Bund gekommen war. Gegen die Gefahr einer Marginalisierung ihrer Partei machten die „Düsseldorfer Jungtürken“ mobil und setzten mittels konstruktiven Misstrauensvotums am 20. Februar 1956 den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff als Ministerpräsidenten in den Sattel.15 Schnittstelle einer Kooperation zwischen SPD und FDP im Bund wäre auch schon in diesen Jahren vor allem die Deutschlandpolitik gewesen, auf Seiten der FDP insbesondere durch eine Generation forciert, die vielfach aus den unteren Offiziersrängen der Wehrmacht stammte, sich nun „nationalliberal“ und damit antiklerikal wie antikarolingisch geprägt sah und gegebenenfalls bereit war, mit der SPD eine Deutschlandpolitik des Auslotens etwaiger Chancen mit Ostberlin wie Moskau zu treiben. Aber dafür war es realiter mehr als ein Jahrzehnt zu früh. Die Wählerinnen und Wähler beendeten das Düsseldorfer Experiment nach mehr als zwei Jahren durch die Landtagswahl vom 6. Juli 1958. Die CDU schnellte unmittelbar nach dem Tod ihres hoch angesehenen ursprünglichen Spitzenkandidaten und früheren Ministerpräsidenten Karl Arnold um 9,2 Prozentpunkte auf 50,5 Prozent und damit auf die absolute Mehrheit. Die Fundamente der CDU / CSU-Hegemonie in Westdeutschland schienen fester als je zuvor, schließlich war das Land an Rhein und Ruhr damals sehr viel mehr als heute Kernland der (alten) Bundesrepublik. Aber wer so kalkulierte, erlag auf Dauer einem Trugschluss – nicht nur, weil sich eben die SPD aus ihren programmatischen wie personellen Verengungen der frühen fünfziger Jahre zu lösen begann. Willy Brandt wurde dafür zur Symbolfigur. Das erste Halbjahr 1959 brachte der Bundesrepublik innenpolitisch mit der sogenannten „Präsidentschaftskrise“, außenpolitisch mit der Vorbereitung und schließlich Durchführung der Genfer Konferenz der Außenminister der vier Siegermächte16 gleichzeitige Abläufe, die in der Kombination entscheidend zur Schwächung der Position des ersten Bundeskanzlers beitrugen: Für die Nachfolge des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss hatte die SPD mit ihrem bildungsbürgerlichen Aushängeschild Carlo Schmid, dem von Adenauer an sich geschätzten, wortmächtigen Partner bei der Moskaureise des Jahres 1955,17 einen glaubwürdigen und attraktiven 15  Dieter Düding, Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946−1989. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, S. 382 ff. 16  Die Konferenz fand bekanntlich unter Beteiligung beider deutscher Staaten mit einem auch optisch minderen Status statt – an „Katzentischen“. 17  Vgl. Werner Kilian, Adenauers Reise nach Moskau, Freiburg u.  a. 2005, S. 168. Carlo Schmid hatte in einer kritischen Situation der Moskauer Verhandlungen die richtigen Worte gefunden, als es um die Rückkehr der 10.000 Kriegsgefangenen ging. Adenauer übernahm bemerkenswerterweise den Wortlaut von Schmids Ausführungen am 12. September 1955 in seine Memoiren. Vgl. Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953–1955, Stuttgart 1966, S. 538 f. – Er belobigte ausdrücklich den



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Kandidaten aufgeboten. Adenauer, der die Wirtschaftswunderlokomotive Ludwig Erhard fortloben wollte, bevor dessen Avancen auf das Palais Schaumburg zu übermächtig wurden, ließ am 24. Februar 1959 den Vater des Wirtschaftswunders als Präsidentschaftskandidaten der Unionsparteien nominieren. Das aber ließ die CDU  /  CSU-Fraktion nicht zu. Sie sah in Erhard den Wahlsieger wie den Übergangskandidaten von morgen – für viele eine denkbar attraktive Kombination. Darauf ließ sich am 7. April 1959 Adenauer selbst durch einen von ihm formierten „Kurverein“ als Präsidentschaftskandidat nominieren und zog diese Kandidatur mit Schreiben an den Fraktionsvorsitzenden Heinrich Krone wie an Ludwig Erhard selbst vom 19. und 20. Mai 1959 wieder zurück. Der Grund – gewiss Vorwand, aber nicht nur − war „die sich gefährlich zuspitzende außenpolitische Lage“, namentlich das Berlin-Ultimatum Chruschtschows und die Unübersichtlichkeit der Genfer Konferenz. Wenige Tage später starb John Foster Dulles.18 Schon am 15. April 1959 war er, schwer erkrankt, als US-Außenminister zurückgetreten. Damit hatte der Kanzler unbestreitbar einen wesentlichen Partner verloren. Adenauer gelang es am Ende, die rebellierende Unionsfraktion wieder zu disziplinieren – „meine Herren, Sie können ja das konstruktive Misstrauensvotum einbringen“19 − und am 1. Juli 1959 wurde Bundeslandwirtschaftsminister Heinrich Lübke zum zweiten Präsidenten der Bundesrepublik gewählt. Aber schon bald sollte sich, neben Adenauers wieder vollständig wettgemachtem Prestigeverlust, zeigen, dass mit Lübke durchaus nicht jene unbedarfte Randfigur in die Villa Hammerschmidt eingezogen war, als die er bis heute so gerne kolportiert wird: Lübke stammte vom linken Zentrumsflügel aus den Jahren der Weimarer Republik, aus Zeiten, in denen insbesondere in Preußen das Koalieren zwischen katholischem Zentrum und Sozialdemokratie gängig war. Sein Weltbild, geprägt durch seine ursprüngliche Tätigkeit im Bereich der Agrargenossenschaften, war subsidiär-solidarisch wie gemäßigt national und nicht ordoliberal. Für ‚nationale‘ Sozialdemokraten hatte er einiges übrig. Diese Gemengelage sollte ihn schließlich dazu bestimmen, im Zeichen des Mauerbaus zum Anwalt einer Großen Koalition bzw. einer Allzur Kabinettssitzung am 15. September eingeladenen Oppositionspolitiker (!) Carlo Schmid vor den Ministern. 18  Peter März, Zweimal Kanzlersturz. Adenauer 1963, Erhard 1966, in: Hans/  CSU im Deutschen Peter Schwarz (Hrsg.), Die Fraktion als Machtfaktor. CDU  Bundestag 1949 bis heute, München 2009, S. 39–69, hier S. 43. Zu den Abläufen des Weiteren vgl. Hans-Peter Schwarz (FN 14), S. 502 ff.; – Daniel Koerfer, Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, S. 227 ff. 19  Vgl. Peter März (FN 18), S. 43. Zu Dulles’ Ausscheiden Detlef Felken, Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953−1959, Bonn / Berlin 1993, S. 505.

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parteienregierung zu werden und ihn damit in beachtlichem Maße ins Lager von Willy Brandt und Herbert Wehner führen.20 Seit Nikita Chruschtschows Moskauer Rede vom 10. November 1958 stand die westliche Deutschlandpolitik in der Defensive. Die Drohungen waren unüberhörbar: „Anscheinend ist der Zeitpunkt für die Signatarmächte des Potsdamer Abkommens gekommen, auf die Reste des Besatzungsregimes in Berlin zu verzichten und dadurch die Möglichkeit für die Herstellung normaler Zustände in der Hauptstadt der DDR zu schaffen […]. Die Sowjetunion wird, was sie betrifft, alle Funktionen, die noch bei den sowjetischen Organen belassen sind, der souveränen Deutschen Demokratischen Republik übertragen.“21 Von da an dominierte – bis zum Mauerbau 1961 und darüber hinaus – im Bundeskanzleramt die Sorge, die Westmächte könnten sich solchen Forderungen gegenüber auf mehr oder weniger pragmatisch erscheinende Konzessionen einlassen, sich damit auf eine abschüssige Bahn begeben, West-Berlin immer mehr einer Kontrolle bzw. Reglementierung durch Sowjetunion und DDR überlassen, sodass es am Ende de facto stranguliert werde, und in der weiteren politisch-psychologischen Folge werde dann die westliche Position im Kalten Krieg unheilbar delegitimiert und geschwächt sein. In den Folgejahren bis 1962 wurde insbesondere von Washington und London eine unübersehbare Abfolge von Planspielen ventiliert, wie einerseits der eigene Status in der geteilten Stadt gewahrt und andererseits möglichst schadlos den sowjetischen Forderungen entgegengekommen werden könne. Stillschweigend gingen dabei alle Beteiligten, in Berlin im Schöneberger Rathaus, in Bonn, in den westlichen Hauptstädten, zunehmend davon aus, dass es in der Sache kaum mehr um den Status der gesamten Stadt, sondern um die Integrität ihrer drei Westsektoren, einschließlich der Zugangswege, als Teil der westlichen Welt ging. Das Dilemma der Adenauerschen Politik und zugleich ihrer beiden weiteren wichtigsten westdeutschen Akteure, Bundesaußenminister von Brentano und Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, bestand nun darin, dass sie einerseits allen derartigen Planspielen mit größtem Misstrauen begegneten und sie möglichst zu sabotieren versuchten, dass sie andererseits aber über den Zeitpunkt des Baus der Mauer hinweg keine Alternative bzw. jedenfalls keine öffentlichkeitswirksam plausible Alternative zu formulieren vermochten: Zunächst einmal war dieses konzeptionelle Dilemma auch Resultat des Grunddilemmas der Adenauerschen Deutschlandpolitik nach dem Inkrafttre20  Vgl. Rudolf Morsey, Heinrich Lübke, Eine politische Biografie, Paderborn u. a. 1996, S.  318 ff. 21  Zit. Rolf Steininger, Berlin-Krise und Mauerbau 1958 bis 1963, 4. Aufl., München 2009, S. 25.



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ten der Pariser Verträge von 1954 insgesamt. Die im westdeutschen Publikum geweckten Erwartungen, ein starker und geschlossener Westen unter Einschluss der Bundesrepublik werde die Sowjetunion zum Nachgeben in der deutschen Frage veranlassen, fanden keine Bestätigung. Das war schon bei Adenauers Moskaureise vom September 1955 deutlich, freilich zunächst durch den Propagandahype um die 10.000 freigelassenen Kriegsgefangenen überdeckt worden. Und so, wie es jedenfalls nach außen, deutschlandpolitisch keine operative Perspektive zu geben schien, setzte sich diese Anmutung von Gestaltungsverweigerung auf der konkreten Ebene der Berlin-Politik fort, zumindest in der amerikanischen und britischen Wahrnehmung. Denn das Dilemma von Adenauer, wie auch von Brentano und Strauß, lag eben darin, dass sie zwar etwaige Konzessionen in der Berlin-Frage mehr oder weniger apodiktisch ablehnten, zugleich aber ihren amerikanischen und britischen Gesprächspartnern keine befriedigende Antwort auf die Frage zu geben vermochten, wie denn politisch und gegebenenfalls auch militärisch verfahren werden solle, wenn West-Berlin tatsächlich durch Rote Armee und bzw. oder DDR-Volksarmee stranguliert werde. Adenauer wie Strauß wollten keineswegs, dass die Bundeswehr mit ein oder zwei Divisionen am Freikämpfen entlang der Autobahn Helmstedt-Berlin teilnahm. Einen Atomkrieg um Berlin, der ja zum Atomkrieg um Deutschland werden musste, lehnten sie ebenso ab.22 Matthias Uhls einschlägige Untersuchung weist eindeutig nach, dass die östliche Seite eine solche potenzielle militärische Auseinandersetzung von vorneherein umfassend und unter Einsatz des nuklearen Instrumentariums geführt hätte. Zugleich spricht, von den grundlegenden moralischen wie politischen Fragen ganz abgesehen, sehr viel dafür, dass die Bundeswehr, hastig aufgebaut, auf einem vielfach unbefriedigenden Ausbildungsstand, mit wenig Reserven und mit eher zweitklassigem Material aus Beständen der westlichen Alliierten ausgerüstet, zu diesem Zeitpunkt militärisch gesehen wohl eher ein Schwachpunkt gewesen wäre. „Erst am Ende der sechziger Jahre hatte die Bundeswehr eine bedeutend höhere Kampfkraft entwickelt als noch zehn Jahre zuvor.“23 Jenseits militärischer Projektionen ging es freilich primär darum, dass in den Augen der Amerikaner und Briten die westdeutsche Seite viel verlangte, selbst aber konkret nichts anbot: Die Bundeswehr sollte, jedenfalls nach Bonner Argumentation, zumindest an22  Vgl. Rolf Steininger (FN 21), S. 98 ff., S. 213 ff.; Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 380 ff. Zu den militärischen Planungen der sowjetischen Seite Matthias Uhl, Krieg um Berlin? Die sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlin-Krise 1958 bis 1962, München 2008. 23  Sönke Neitzel, Republik und Armee: Ein gespaltenes Verhältnis, in: HansPeter Schwarz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach sechzig Jahren, Köln u. a. 2008, S. 353–376, hier S. 359.

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fänglich nicht mitkämpfen, da es sich beim Konflikt um Berlin bzw. WestBerlin um eine Angelegenheit der Siegermächte, nicht der NATO handele; und wenn gefragt wurde, wie denn alternativ strategisch Druck auf die sowjetische Seite ausgeübt werden solle, verwiesen Adenauer und Strauß auf die Möglichkeit einer maritimen Blockade der UdSSR, d. h. fernab vom westdeutschen Territorium. Mit solchen Ideen war in Washington und London wenig Eindruck zu machen. Umgekehrt begegnete Adenauer der britischen Politik, die ohnehin einen Atomkrieg wegen Berlin bzw. West-Berlin für absurd hielt, nahezu über seine gesamte Regierungszeit mit großem Misstrauen. Aber auch das Vertrauen des Bundeskanzlers in die amerikanische Führung in Washington ließ im Laufe des Jahres 1959 deutlich nach; entscheidende Zäsur dabei war das Ausscheiden von Außenminister John Foster Dulles. Schon vor der Installierung der Kennedy-Administration Anfang 1961 erfuhr also das Verhältnis zwischen den Regierenden in Washington und denen in Bonn eine zunehmende Verschlechterung. Die ­ Partner hatten einander immer weniger zu bieten, die Bonner erschienen in Washington steril und unbeweglich, die Amerikaner erschienen in Bonn unberechenbar, wankelmütig, ja labil. Gegen eine Entfremdung von den Angelsachsen glaubte Adenauer über ein neues Trumpfass zu verfügen, das Frankreich Charles de Gaulles. Der Auftakt ihrer schwierigen Freundschaft war ihr erstes Zusammentreffen am 14. September 1958 am lothringischen Wohnort des neuen französischen Staatsoberhauptes, in Colombey-les-deux-Églises. Vermutlich hat Adenauer die Ambivalenz seiner Beziehung zu de Gaulle nie wirklich wahrnehmen wollen.24 De Gaulle warb über die Jahre um die Bundesrepublik als Partner gegen eine angelsächsische Hegemonie im westlichen Bündnis, fokussiert in seiner Abwehr eines britischen Beitrittes zur EWG. Ein unter französischer Führung stehendes Kontinentaleuropa sollte sich im globalen Maßstab behaupten können. Zugleich stand er, in der Tradition des französischen ­ Staats­ interventionismus, einem ordnungspolitisch liberalen Denken ablehnend gegenüber – und damit wurde der Spaltpilz in die innerdeutsche Politik hineingetragen. Für Adenauer, aber auch für Franz Josef Strauß, lagen hier keine allzu großen Probleme. Beide waren selbst nie liberale Ordnungspolitiker, beide sahen Großbritannien gleichfalls kritisch und waren insgesamt einem Primat der Politik über die Ökonomie verhaftet. Adenauer selbst scheint unter dem Druck der zweiten Berlin-Krise wenig wahrgenommen zu haben, dass die der Präsidentschaft Charles de Gaulles vorausgegangene vierte französische Republik in mancherlei Hinsicht für die Bundesrepublik 24  Siehe grundsätzlich Ulrich Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949 bis 1963. Von der „Erbfeindschaft“ zur „Entente élémentaire“, München 2001, S.  1201 ff.



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der adäquatere Partner gewesen war. Mit der Vierten Republik hatte Adenauer die ersten Integrationsschritte unternehmen können, von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis zu Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft des Jahres 1957, und die Vierte Republik hatte der Bundesrepublik wie auch Italien das Angebot eines gemeinsamen Kernwaffenprojekts gemacht. De Gaulle hingegen bereitete diesen Ambitionen sofort nach seinem Amtsantritt ein Ende; auf der kontinental-europäischen Ebene lockte er die Bundesrepublik, zugleich strebte er in der NATO ein Dreierdirektorium mit den USA und Großbritannien an. In dieser Liga sollten die Bundesrepublik wie auch Italien dauerhaft nicht mitspielen können. Der Spaltpilz, den die Präferenz für Charles de Gaulle in die deutsche Innenpolitik hineintrug, war ein doppelter, ein sicherheitspolitischer wie ein ordnungs- bzw. wirtschaftspolitischer: Für die Atlantiker in den Unionsparteien wie auch für FDP und SPD blieben auch während der zweiten Berlin-Krise US-Amerikaner und Briten die Verbündeten, auf die es ankam. Die zweite Konfliktlinie, insbesondere für Ludwig Erhard von vorrangiger Bedeutung, kam im Gegensatz zwischen einem sich nach außen abschottenden, an erster Stelle in der Agrarpolitik staatsinterventionistischen kontinentaleuropäischen Wirtschaftsraum und dem Leitbild von global offenen Märkten zum Ausdruck. Im Grunde ist diese Konfliktlinie, bezogen auf eine optimale außenhandelspolitische Positionierung des Industriestaates Bundesrepublik, bis in unsere Gegenwart von Bedeutung. Adenauer vermochte Ludwig Erhard außenhandelspolitisch nie wirklich „an die Kette“ zu legen. Dazu waren die bei dieser Fragestellung hinter Erhard stehenden Kräfte viel zu stark: Einmal ging es um die ideologischen Kronjuwelen des Erfolgsmodells Soziale Marktwirtschaft, zum anderen um die Interessen der exportstarken deutschen Industrie und zum Dritten um die größere kulturelle Modernität, die insbesondere von den USA auszugehen schien. So beantwortete Erhard im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 15. Februar 1963 die Frage, ob er seine „klare Linie zugunsten der Atlantischen Gemeinschaft und gegen eine europäische Sonderbündelei“ aufrechterhalten werde, „mit einem glatten Ja“.25 Adenauer hatte noch einen zweiten Joker, um ein Unterliegen in der Berlin-Krise an der Seite der Amerikaner und Briten, so wie er es nun einmal kommen sah, zu verhindern, nämlich einen radikalen eigenen Schwenk in der Deutschland- und Ostpolitik. Die Rede ist vom sogenannten Globke-Plan, den der Kanzler Anfang 1959 von seinem Amtschef erarbeiten ließ und der dann vielfach variiert wurde. Die Grundidee war gar nicht so sehr verschieden von den Ausgangsüberlegungen der späteren Ostpolitik 25  Zitat nach Archiv der Gegenwart, Deutschland 1949 bis 1969, Bd. 4, Mai 1962 bis Oktober 1966, Nachdruck St. Augustin 2000, S. 3257. Ferner grundsätzlich Tim Geiger, Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU / CSU 1958 bis 1969, München 2000.

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Willy Brandts und Egon Bahrs: Es ging darum, die machtpolitische Statik im Zentrum Europas weitestgehend zu erhalten, sodass die Sowjetunion weder Gesichts- noch Gewichtsverlust fürchten müsse. Im Gegenzug sollte sie so etwas wie eine Österreich- bzw. im ursprünglichen Sinne SaarlandLösung (Autonomiestatut) für die DDR konzedieren, vor allem ein relativ hohes Maß an Freiheit und einen angemessenen Rechtsstatus.26 Adenauer hat diese Überlegungen vertraulich gegenüber der sowjetischen Seite, in Person von Botschafter Smirnow, übermittelt, aber kein positives Echo erhalten. Sie blieben ein Denkmodell, das nie materialisiert wurde; für die westdeutsche Seite wäre es, auf den offenen Markt gelangt, gefährlich kühn gewesen, auch psychologisch ohne jede Vorbereitung im westdeutschen Publikum; der UdSSR hätte es, nach deren Interessenlage, im Saldo wohl wenig gebracht. In der letzten Sitzung des CDU-Bundesvorstandes vor der Bundestagswahl 1961, am 11. Juli 1961, referierte der Kanzler und Parteivorsitzende Konrad Adenauer persönlich die jüngsten Umfragedaten von Emnid. Für die Unionsparteien wurden im Ergebnis 49,3 Prozent der Stimmen prognostiziert, für die SPD 35,4 Prozent, für die FDP 8,8 Prozent.27 Das hätte bei einer Einbuße von nur rund einem Prozentpunkt − sofern sich diese marginale Größe überhaupt prognostizieren ließ − gegenüber der Bundestagswahl 1957 den Fortbestand der absoluten Mehrheit an Mandaten für die Unionsparteien bedeutet. Die SPD wäre etwa auf den Stand des tatsächlichen Wahlergebnisses gekommen, eigentlicher Verlierer wäre die FDP gewesen. Und Adenauer selbst hätte, gegen alle Modernisierungsbeschwörer, als 85-jähriger Patriarch noch einmal triumphieren können. Aber auch ohne Mauerbau und Verlust der absoluten Mehrheit zeichnete sich das Ende seiner Ära jetzt schon ab; bereits im Vorfeld der Wahl wurde daran gearbeitet, zumindest hinter den Kulissen. Der FDP-Vorsitzende Erich Mende berichtet in seinen Erinnerungen: „Bereits am 10. Juni des gleichen Jahres […] war ich im Hause des Kaufmanns Helmut Horten in Düsseldorf zusammen mit Willi Weyer und Wolfgang Döring [führende FDP-„Jungtürken“ von 1956 gegen Adenauer] mit dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß und seinem Generalsekretär Friedrich Zimmermann übereingekommen, die Nachfolgefrage für Konrad Adenauer im Herbst zusammen mit der CSU zu lösen.28 Adenauers unglückliches Agieren unmittelbar nach dem Bau der Mauer ist oft beschrieben worden. Vieles kam binnen weniger Tage zusammen: 26  Vgl.

Hans-Peter Schwarz (FN 14), S. 480 ff. Adenauer, „… um den Frieden zu gewinnen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957 bis 1961, bearbeitet von Günter Buchstab, Sitzung vom 11. Juli 1961, Düsseldorf 1994, S. 939. 28  Erich Mende, Die neue Freiheit 1945 bis 1961, München 1994, S. 477. 27  Konrad



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Die Parallelität der Berliner Ereignisse mit Adenauers Regensburger Wahlkampfrede am 14. August und ihren Verunglimpfungen Willy Brandts als „Herbert Frahm“; ein verunglückter, hilf- und ratlos wirkender Fernsehauftritt des Kanzlers mit Außenminister von Brentano, die mangelnde Unterstützung der Verantwortlichen in Bonn und Berlin durch die „abgetauchten“ Führungen der westlichen Alliierten, eine sehr defensive Gesprächsführung Adenauers gegenüber dem sowjetischen Botschafter am 16. August: „Es handele sich seiner Ansicht nach hierbei um eine lästige und unangenehme Sache, die über das Nötige hinaus hochgespielt worden sei …“,29 und dies zeitgleich, als umgekehrt Brandts offensiver Brief in Washington eintraf, der westliche Passivität beklagte. Und medial orchestrierte die damals Brandt ohnehin weit näher als Adenauer stehende Bild-Zeitung den Gesamteindruck von Passivität und Defensive an Rhein, Themse und Potomac.30 Für das Kanzleramt verschärfend kam schließlich die von den Amerikanern zu verantwortende Nichtteilnahme Adenauers beim Besuch von Vizepräsident Johnson am 19. August 1961 in West-Berlin hinzu, der dort eine zusätzliche US-Kampfgruppe von 1.500 Mann begrüßte. Kennedy hatte öffentlichkeitswirksam u. a. auf Brandt, aber auch auf die Vorstellungen der amerikanischen Beobachter in West-Berlin, reagiert. Eine Million Berliner war auf den Beinen, umjubelte die GIs und bot in Wahlkampfzeiten eine perfekte Show für die Kameras. Andererseits argumentierte Adenauer in diesen Augusttagen wie später auch, er habe die Stimmung in Berlin nicht zusätzlich und gefährlich aufheizen wollen. Zum anderen aber gewann nun unter den Gaullisten in den Unionsparteien die Auffassung zunehmende Verbreitung, die Kennedy-Administration habe während des Wahlkampfes falsch gespielt und Willy Brandt und die SPD unterstützt. In der ersten CDU-Vorstandssitzung nach dem 13. August erklärte der als Gast anwesende Franz Josef Strauß am 25. August 1961: „In diesem Zusammenhang muss ich jedoch einmal folgendes sagen: Ich habe das ungute Gefühl, dass zwischen der Umgebung von Herrn Brandt und der Umgebung von Herrn Kennedy irgendein Faden läuft (Zuruf: Sehr richtig!), dass da eine Verbindung besteht – man kann sich die Namen ungefähr vorstellen – und dass diese ganze Johnson-Geschichte einschließlich 29  Zitat

nach Hans-Peter Schwarz (FN 14), S. 664. Hans-Peter Schwarz, Axel Springer. Die Biografie, Berlin 2008, S. 348 ff. Springer formulierte die berühmten Schlagzeilen in der Ausgabe der Bild-Zeitung vom 16. August 1961 selbst mit: „Der Westen tut NICHTS! […] und Adenauer schimpft auf Willy Brandt.“ Springer kam nach einer heftigen Auseinandersetzung darüber in Fernschreiben am folgenden Tag von Berlin ins Bonner Kanzleramt, führte dort mit Adenauer ein frostig-konfrontatives Gespräch und verließ den Raum gruß- und formlos mit seiner Begleitung. Beide, Springer und Adenauer, hatten ­einander über viele Monate nichts mehr zu sagen. 30  Vgl.

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der 1.500 Mann als Wahlhilfe für Herrn Brandt in irgendeiner Form eingefädelt war.“31 Das Fiasko des Mauerbaus wurde gleichwohl keineswegs zum großen Fiasko der Unionsparteien bei der Bundestagswahl: Die CDU / CSU erreichte 45,3 Prozent, der eigentliche Gewinner des Geschehens in Berlin war, insbesondere gegenüber den Prognosen von vor der Wahl, eben nicht die SPD, sondern die FDP. Bei den Unionsverlusten handelte es sich somit weitestgehend um „bürgerliche“ Wähler, die eine prononcierte Wiedervereinigungspolitik auf der Linie der nationalliberalen Führung der FDP unter Erich Mende wünschten, wie realistisch eine derartige Option zu Beginn der sechziger Jahre auch immer sein mochte, Wähler zugleich aber, denen die SPD vor allem gesellschafts- und wirtschaftspolitisch immer noch sehr fernstand. Die CDU / CSU behielt das Heft noch in der Hand. Adenauer selbst lief noch einmal zu großer Form auf: Die Wahlniederlage – immerhin hatten die Unionsparteien gegen über den für sie schlimmsten Umfragen unmittelbar nach dem Mauerbau wieder an die zehn Prozentpunkte aufholen können – instrumentalisierte er für sich, um seine Kanzlerschaft nochmals zu verlängern. Aus den vertraulichen Schwüren einer AntiAdenauer-Fronde unter Einschluss der FDP wurde nichts. „Was den Kanzler – wahrscheinlich – die absolute Mehrheit gekostet hatte, nämlich der Bau der Mauer durch Berlin, verbesserte nun seine Position: Denn angesichts des in diesen Wochen vielfach beschworenen nationalen Notstandes hatte naturgemäß jener Akteur gute Argumente auf seiner Seite, der für sich außenpolitische Erfahrungen und Kontinuität geltend machen konnte.“32 Erich Mendes Schwüre, die ihn bei der Bundestagswahl so weit nach oben getragen hatten, mit den Unionsparteien, aber ohne Adenauer als Kanzler regieren zu wollen, wurden nun sehr bald brüchig: Der Mauerbau hatte zwar im deutschen Publikum Tendenzen verstärkt, eine Art Allparteienkabinett der nationalen Einheit wie in Kriegszeiten zu installieren, gewissermaßen in Analogie zum Burgfrieden des 4. August 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die SPD, Willy Brandt wie Herbert Wehner, war durchaus für ein solches Szenario zu haben, hätte es für sie doch erstmals die Perspektive einer Regierungsbeteiligung auf Gesamtstaatsebene seit dem Ende der Regierung Hermann Müller im Frühjahr 1930 gebracht. Und Bundespräsident Heinrich Lübke, im Herzen Pro-Berliner, war ohnehin für eine solche Kombination und zog hinter den Kulissen entsprechend die Fäden. Schon jetzt waren die führenden Sozialdemokraten bereit, den Preis einer Verlängerung der Kanzlerschaft Adenauers zu leisten. Gewiss: Der Kanzler selbst sondierte nur in solche Richtungen, um mit Erfolg Druck auf die FDP 31  Konrad 32  Vgl.

Adenauer (FN 27), Sitzung vom 25. August 1961, S. 1017. Peter März (FN 18), S. 45.



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auszuüben. Er konferierte am 25. September 1961 über zwei Stunden mit dem SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer, sowie mit Fritz Erler und Herbert Wehner. Zur Großen Koalition bzw. zur Allparteienregierung kam es allerdings im Schatten des Mauerbaues nicht. Adenauer wollte zunächst einmal nur, und dies mit Erfolg, die FDP weichkochen, die schließlich in das Bündnis mit ihm einwilligte. Der Kanzler musste nur zweierlei Zugeständnisse machen, einmal – schriftlich gegenüber dem noch amtierenden Fraktionsvorsitzenden Heinrich Krone –, dass er rechtzeitig vor der Bundestagswahl 1965 zurücktreten werde, was immer das heißen sollte, und zum anderen, dass er ein ihn persönlich schmerzendes und seine Stellung weiter schwächendes Bauernopfer brachte. An die Stelle des den Traditionslinien seiner Außenpolitik nahestehenden „gaullistischen“ Außenministers Heinrich von Brentano trat der im evangelischen Milieu verankerte, nationalliberal orientierte bisherige Innenminister Gerhard Schröder. Und um Schröder entzündete sich ein letzter Konflikt: Er galt als Pragmatiker, in der Berlin-Krise zu einer Frontbegradigung gewillt, ja, so wurde vom Berliner CDU-Vorsitzenden und Koalitionspartner Willy Brandts Franz Amrehn kolportiert, sogar bereit, die Dreisektorenhalbstadt ganz aufzugeben. Daraufhin weigerte sich der Bundespräsident, die Bestallungsurkunde für Gerhard Schröder zu unterzeichnen und musste mit sanfter Gewalt daran erinnert werden, dass er nach dem Grundgesetz eben kein materielles Prüfungsrecht besaß, das ein solches Veto zuließ.33 In Wirklichkeit war es Schröder, Realpolitiker, der er in der Außenpolitik gerne sein wollte, darum zu tun gewesen, die Bundesrepublik nicht durch ein Übermaß an Dogmatik in der Berlin-Frage um reale Gestaltungsmöglichkeiten in der Wiedervereinigungsfrage selbst zu bringen. 4. „Ausläufer“ der Krise und Schlussfolgerungen Der Bau der Mauer durch Berlin am 13. August 1961 beendete weder die zweite Berlin-Krise, noch gab das Ergebnis der fünf Wochen darauf durchgeführten vierten Bundestagswahl gültige und abschließende Antworten auf die Fragen nach der Justierung in der bundesdeutschen Innenpolitik. Hier wie da blieb somit vieles offen und wurde um vieles weiter gekämpft. Die Sondierungen über eine Große Koalition im Bund hatten zu neuen, kulturell wie soziologisch überraschenden, parteiübergreifenden Beziehungsmustern geführt. Darunter an erster Stelle das sich für einige Zeit zur Freundschaft entwickelnde Verhältnis zwischen dem Exanarchisten und Exkommunisten mit Moskauerfahrung Herbert Wehner und dem aus der katholischen Welt 33  Vgl. Torsten Oppelland, Gerhard Schröder (1910−1989). Politik zwischen Staat, Partei und Konfession, Düsseldorf 2002, S. 431 ff.

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des „Zweiten Reiches“ stammenden Freiherrn von und zu Guttenberg, einem gaullistischen Hardliner des Kanzlers par excellence. Die hier geknüpften Verbindungen sollten weitertragen, am Ende in die Bildung der Großen Koalition von Ende 1966 und damit schließlich in eine grundlegend gewandelte Regierungstektonik münden. Der Mauerbau als zumindest Imagination eines nationalen Notstandes hat dabei gewiss forcierend gewirkt. Auf der außenpolitischen Ebene war deutlich, dass mit ihm sowohl die Berlin-Krise als auch der Konflikt zwischen Gaullisten und Atlantikern keineswegs ausgestanden war. Der deutsch-französische Vertrag vom 22. Januar 1963 schien den konzeptionellen Sieg der Gaullisten festzuschreiben und eben dieser Triumph mutierte kurz darauf zum Pyrrhussieg, durch die vorgeschaltete proatlantische Präambel, ohne die es im Bundestag am 16. Mai 1963 keine Mehrheit für seine Ratifizierung gegeben hätte. Die ursprünglichen Ambitionen der Ostberliner wie auch der Moskauer Führung, nicht nur den Zugang nach West-Berlin aus ihrem Machtbereich – nahezu – vollständig zu unterbinden, sondern ihre Hand auf die Westsektoren der Stadt selbst zu legen, hatten sich mit dem Mauerbau keineswegs erledigt. Walter Ulbricht wollte weiter einen Friedensvertrag zwischen DDR und UdSSR, der Ostberlin aufwertete, den Westen der deutschen Hauptstadt in den Schatten der DDR geraten und vielleicht sogar die Mauer durch die Stadt überflüssig werden ließ – wenn die Westsektoren nämlich zum Mauseloch würden. Und weiterhin gab es in Washington Tendenzen, solchen Ambitionen irgendwie pragmatisch entgegenzukommen. „Am 12. April 1962 wurde Adenauer ein neues amerikanisches Berlin-Papier vorgelegt [das die westlichen Botschafter in Washington schon am 9. April erhalten hatten], das den Vorstellungen Chruschtschows weit entgegenkam. Nach dem, was seither darüber bekannt wurde, enthielt es: den Plan einer internationalen Zugangsbehörde für die Landwege und die Luftkorridore unter Einbeziehung der DDR; den Vorschlag eines Austauschs von Nichtangriffserklärungen zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts mit der Versicherung, die bestehenden Grenzen und Demarkations­ linien nicht zu verletzen; die Offerte eines amerikanisch-sowjetischen Abkommens über die Nichtweitergabe von Kernwaffen an Drittstaaten und auch die Zustimmung zur Einsetzung von drei gemischten Kommissionen aus Vertretern der Bundesrepublik und der DDR.“34 Aus der unmittelbaren Perspektive des Kanzleramtes schienen damit zentrale Essentials der bisherigen westlichen Berlin-Politik preisgegeben. Für die vorzeitige Veröffentlichung und damit Sabotierung des Papiers machten die Amerikaner den deutschen Botschafter in Washington, Wilhelm Grewe, 34  Hans-Peter

Schwarz (FN 4), S. 245; vgl. auch Peter Steininger (FN 19), S. 326 ff.



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verantwortlich, einen alten außenpolitischen Wegbegleiter Adenauers. Grewe musste schließlich als Bauernopfer gehen. In Wirklichkeit gingen Widerstand und Indiskretion in Bonn wohl von den Gaullisten Adenauer und Heinrich von Brentano aus, letzterer jetzt CDU / CSU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Sie sahen sich von den Amerikanern verraten und düpiert. Das Ausmaß der seinerzeitigen Entfremdung zwischen den Führungen in Washington und Bonn enthüllen die soeben erschienenen Akten zur deutschen Außenpolitik für das Jahr 1962. Botschafter Grewe hatte in seinem Bericht über die Übergabe der neuen amerikanischen Vorschläge durch den Abteilungsleiter im amerikanischen Außenministerium Foy Kohler unmissverständlich mitgeteilt, welchen Wert die amerikanische Seite auf absolute Diskretion in Bonn legte und dass der deutschen Seite ganze zwei (!) Tage zu einer Stellungnahme gewährt wurden.35 Nicht verwunderlich war somit, dass der Bruch der Geheimhaltung in Washington, die ultimative Befristung in Bonn provozierend wirken musste. Inhaltlich wie prozedural übte der deutsche Botschafter schon am 10. April harte Kritik an den amerikanischen Vorstellungen – sie lag ganz auf der Linie der Adenauerschen Politik: „Die […] Dokumente leiten nach meiner Ansicht nicht nur prozedural, sondern auch in der Substanz einen neuen Abschnitt der Berlin-Krise ein. Alle Begleitumstände […] deuten darauf hin, dass die amerikanische Regierung entschlossen ist, […] über mögliche Einwendungen der Verbündeten rasch hinwegzugehen.“ Es werde „ein erheblicher Schritt in Richtung auf die Gleichstellung der beiden deutschen Regierungen getan“ und „das Konzept der europäischen Sicherheit ohne Verbindung mit der deutschen Wiedervereinigung taucht wieder auf.“36 Letztere Formulierung deutete zugleich bereits auf zentrale konzeptionelle Grundlagen der späteren Entspannungspolitik zwischen den Weltmächten wie in der Mitte Europas hin – die freilich, zweifellos ein Erfolg der deutschen Politik, das Überleben des freien WestBerlins auch künftig nicht in Frage stellen sollte. Zunächst aber machte Adenauer in Bonn gegen die Vorstellungen der Kennedy-Administration mobil. Er versammelte in heller Aufregung die Fraktionsvorsitzenden in Brentanos Dienstzimmer, um sie emotionalisiert auf seine Linie gegen die Administration in Washington zu bringen. Dagegen formierte sich eine um Beruhigung bemühte Allianz aus dem seit einem halben Jahr amtierenden „atlantischen“ Außenminister Schröder, seinem Staatssekretär Karl Carstens und den weiteren beiden Fraktionsvorsitzenden aus Regierungslager wie Opposition, Erich Mende und Erich Ollenhauer. Auch diese Szene zeigt, 35  Vgl. Botschafter Grewe an das Auswärtige Amt, 9. April 1962, 23.40 Uhr, Dokument Nr. 154, in: Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) 1962, Bd. II, München 2010, S. 737–743, hier S. 738 f. 36  Ebd., Botschafter Grewe an das Auswärtige Amt, 10. April 1962, 23.45 Uhr, Dokument Nr. 157, S. 750.

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wie sehr innen- und außenpolitisch in diesen letzten Kanzlerjahren Adenauers parteiübergreifend die Fronten in Bonn in Bewegung gerieten. Während nun Bundesaußenminister Schröder in der Folge um eine Beruhigung der Situation in seiner Korrespondenz mit dem amerikanischen Außenminister Dean Rusk bemüht war bzw. bemüht sein wollte, zwang ihn der Bundeskanzler förmlich am 19. April 1962 von seinem Urlaubsort Cadenabbia aus, den er inzwischen zum Osterurlaub aufgesucht hatte, die amerikanische Seite mit einem hochemotionalen Protest zu konfrontieren. So musste der zweifellos widerstrebende Schröder schreiben: „Sehr geehrter Mr. Rusk, im Nachgang zu meinem Schreiben vom 16.4.1962 hat mich der Herr Bundeskanzler gebeten, Ihnen folgendes mitzuteilen: Nach zehnjähriger einträchtiger Zusammenarbeit zwischen den Regierungen der Vereinigten Staaten und der deutschen Bundesregierung empfinde er den Vorwurf eines ‚ernsten Vertrauensbruches‘, der zudem noch bei völlig ungeklärtem Tatbestand erhoben wird, als sehr verletzend. Er weise ihn entschieden zurück.“37 Text wie dahinter stehende Frontlinien bringen nicht nur die Konfrontation zwischen Gaullisten und Atlantikern auf der Bonner Bühne zum Ausdruck. Sie zeigen auch, wie hartnäckig, vielfach enervierend, unflexibel anmutend und dabei doch mit Erfolg Adenauer zumindest den Status quo in Berlin und Deutschland selbst noch in dieser Spätphase seiner Regierungszeit verteidigte. Gewiss, er „nervte“ die Amerikaner. Aber obwohl er nicht mehr die Autorität der späten fünfziger Jahre besaß, als John Foster Dulles sein Partner auf der anderen Seite des Atlantiks gewesen war, gingen sie doch nicht einfach über ihn hinweg – wohl auch, weil sie ihn nicht vollständig an die Seite Charles de Gaulles treiben wollten. Die zweite Berlin-Krise versandete schließlich doch vor Ort, weil die Mauer unbestreitbar die DDR und damit auch für das SED-Regime die Situation in der deutschen Hauptstadt stabilisierte, weil zu den darüber hinausweisenden Ambitionen der Sowjetunion wie der DDR die Westmächte zwar, wie gezeigt, vieles erwogen, am Ende aber, vor allem dank der hartnäckig ablehnenden bzw. sabotierenden Bonner Politik, doch wenig anboten und weil die Sowjetunion selbst spätestens mit dem Aufflammen der KubaKrise vom Herbst 1962 ihre Prioritäten änderte. Westdeutschland erfuhr durch den Bau der Mauer keine Traumatisierung wie der westliche Teil der deutschen Hauptstadt. Die einzige im Bundesgebiet wirklich spürbare Änderung war das Versiegen des Zuwandererstroms aus der DDR, der nun durch mehr Gastarbeiter, wie man damals sagte, aus anderen Ländern kompensiert werden musste, um das Wirtschaftswunder vorderhand auf Volldampf laufen zu lassen. Aber zugleich kann es keinen Zweifel daran geben, 37  Ebd., Bundeskanzler Adenauer, z. Z. Cadenabbia, an Bundesminister Schröder, 18. April 1962, 8.25 Uhr, Dok. Nr. 178, S. 818 f., hier S. 819, Fußnote 8.



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dass die zweite Berlin-Krise mit dem optischen wie sensitiven Höhepunkt des Mauerbaus die Statik der alten Bundesrepublik deutlich veränderte und wichtige Voraussetzungen für die Neujustierungen schuf, die ab Mitte der sechziger Jahre Gestalt gewannen. Dabei ergibt sich eine Paradoxie: Ohne den Mauerbau und ohne die darauf gegründete, vor allem mittelbare Stärkung der sozialdemokratischen Position wäre Willy Brandt, der Berliner Held der Augusttage, möglicherweise nie zur nationalen Figur in Deutschland geworden. Aber das eine fügte sich eben zum anderen. Hans-Peter Schwarz resümiert die zweite Berlin-Krise: „Ohne die Entschlossenheit der Berliner Bevölkerung und ohne das Geschick des Senats hätte sich die westliche Berlin-Position gewiss nicht halten lassen. Doch angesichts der nachgiebigen Tendenzen in Washington und London wäre alle Tapferkeit der Berliner vergebens gewesen, wenn die Bundesregierung nicht die Sache des freien Berlins zu ihrer eigenen gemacht hätte. Hier aber war Adenauer die schlechthin entscheidende Figur. Er hatte sich zwar von Anfang an gegen den Vorwurf der Berlinfeindlichkeit zu wehren und ist diesen weder zeitlebens noch nach seinem Tode richtig losgeworden. Deshalb wurde seine letzte, große Leistung nie richtig erkannt. In Wirklichkeit war er der Retter des freien Berlin.“38 Ob überpointiert oder nicht: An Adenauers Abwehrkampf gegen die Erosion des Berlin-Status und vor allem gegen die Gefährdung der Integrität West-Berlins seit Ende der fünfziger Jahre kann kein Zweifel bestehen. Zu fragen ist allenfalls, ob es ihm auch emotional um die Stadt Berlin ging oder mit ihr vor allem um den für die Statik des Kalten Krieges geostrategisch und psychologisch entscheidenden Punkt. Wenn Adenauer aber wie Brandt darin übereinstimmten, dass ein Nachgeben an der Spree, mehr oder weniger in Appeasement-Manier, zur ausschlaggebenden Niederlage im Kalten Krieg führen werde, dann analysierten sie beide wohl zutreffend. Gleichwohl gilt zugleich der Eingangsbefund, dass die Berlinkonstellation die alte Bundesrepublik eben auch dem Druck ihrer Gegner wie Partner auslieferte und damit für ihre Entwicklung auf der europäischen Bühne zum Problem wurde, wenn nicht zur Hypothek. Die Berlinkonstellation hat aber zugleich die alte Bundesrepublik an die ungelöste nationale Frage geradezu gekettet. Sie war damit wesentliche Voraussetzung dafür, dass es, bei allen Versuchungen in diese Richtung, gerade in den siebziger und achtziger Jahren, einen Nationalstaat Westdeutschland schließlich doch nie gab.

38  Vgl.

Hans-Peter Schwarz (FN 4), S. 254.

Die studentischen Proteste nach dem Mauerbau an den ost- und westdeutschen Universitäten Von Anita Krätzner 1. Zorn gegen die Grenzbefestigung „Protestmarsch der Berliner Studenten gegen die sowjetzonale Mauer vom Wittenbergplatz zum Reichskanzlerplatz: Es ist jetzt wenige Minuten vor 19 Uhr und ich muss schon sagen […] uns bietet sich hier ein sehr eindrucksvolles Bild. Man kann gar nicht schätzen, wie viele Studenten sich hier eingefunden haben und viele Passanten sich noch anschließen werden. […] Alles schwarz voll Menschen.“1 So kommentierten zwei sichtlich überraschte Reporter des RIAS die beeindruckende Teilnahme am Schweigemarsch vom 20. November 1961 – organisiert durch Westberliner Studenten anlässlich des 100. Tages des Baus der Berliner Mauer. Sie beschrieben den Zug als zwei bis drei Kilometer lang. Es schlossen sich Menschen aller Altersgruppen an, die gegen die Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961, mit denen das Ulbricht-Regime die Spaltung Deutschlands zementierte, demonstrieren wollten. Am Abend eskalierte die Situation. Der Zorn entlud sich gegen die Grenzbefestigungen und einige junge Menschen versuchten, gegen die Mauer anzurennen. Die Westberliner Polizei ging außergewöhnlich hart gegen die Randalierer vor und nahm einige von ihnen fest.2 In diesem Beitrag werde ich die studentischen Reaktionen an ost- und westdeutschen Universitäten unmittelbar nach dem Mauerbau untersuchen. Zuvor muss die Frage nach den staatlichen Programmen, denen sich die ostdeutschen Universitäten ausgesetzt sahen und den Konsequenzen, die diese für Lehrende und Studierende nach sich zogen, beantwortet werden. Danach sollen die Reaktionen der westdeutschen Studenten dargestellt werden. Welche Aktionen wurden durch sie in Angriff genommen und wie war das Echo, das sie in den ostdeutschen Universitäts- und Staatsführungen erhielten? 1  Beitrag des RIAS vom 20. November 1961, Archiv Deutschlandradio, Archivnummer: Z353278, Dauer: 5,21 Minuten. 2  Vgl. Tagesspiegel vom 21. November 1961.

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Anita Krätzner

Die Reaktionen auf den Bau der Berliner Mauer wurden bislang nicht umfassend untersucht. Im Fokus der Betrachtungen stehen die politischen Entscheidungen, die zur Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik führten.3 Die Reaktionen der Bevölkerung, die vor allem durch die SED genau beobachtet wurde, sind vielfach dokumentiert, dennoch wurden sie nicht umfangreich ausgewertet.4 Für den speziellen Raum der ostdeutschen Universitäten gilt Ähnliches: Studien thematisieren die besonderen Reaktionen nach dem 13. August 1961 mehrfach, aber sie werten zum einen meist nur einen oder wenige Standorte aus, zum anderen analysieren sie größere Zeiträume. Der Fokus wurde in den bisherigen Darstellungen meist nicht auf die Zeit unmittelbar nach dem Mauerbau gelegt.5 Zu den Reaktionen an den westdeutschen Universitäten existiert keine Studie, die diese Fragen klären kann.6 3  Beispielsweise: Hans-Hermann Hertle, Mauerbau und Mauerfall. Ursachen, Verlauf, Auswirkungen, Berlin 2002; Rolf Steininger, Berlinkrise und Mauerbau 1958 bis 1963. Mit einem Kapitel zum Mauerfall 1989, München 2009; Frederick Taylor, Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989, München 2009; Edgar Wolfrum, Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009; Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011; Jens Schöne, Ende einer Utopie. Der Mauerbau in Berlin 1961, Berlin 2011; Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte, Berlin 2011. 4  Ausnahmen bilden: Patrick Major, Vor und nach dem 13. August 1961. Reak­ tionen der DDR-Bevölkerung auf den Bau der Berliner Mauer, in: Archiv für So­ zialgeschichte 39 (1999), S. 325–354. Ausführlich zu den Reaktionen in der Bevölkerung jüngst: Daniela Münkel (Hrsg.), Die DDR im Blick der Stasi 1961. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen 2011. 5  Vgl. Thomas Ammer, Universität zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Universität Rostock, Köln 1994; Friedemann Stengel, Die Theologischen Fakultäten in der DDR als Problem der Kirchen- und Hochschulpolitik des SED-Staates bis zu ihrer Umwandlung in Sektionen 1970 / 71, Leipzig 1998; Gerhard Kluge, Der „Nato-Professor“ Walter Brödel. Eine Dokumentation. Mit einem Vorwort von Oliver Schmidt, Erfurt 1999; Ulrike Schuster, Mut zum eigenen Denken? DDR-Studenten und Freie Deutsche Jugend 1961–1965, Berlin 1999; Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.), „Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg.“ August 1961 an der Martin-Luther-Universität Halle / Wittenberg, Halle 2002; Ilko-Sascha Kowalczuk, Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ / DDR 1945 bis 1961, Berlin 2003; Franziska Preuß, Die Friedrich-SchillerUniversität Jena und der Mauerbau 1961. Reaktionen und Auswirkungen, in: Uwe Hoßfeld / Tobias Kaiser / Heinz Mestrup (Hrsg.), Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), Bd. 1, Köln u. a. 2007, S. 239–266; Anita Krätzner, Mauerbau und Wehrpflicht. Die politischen Diskussionen am Rostocker Germanistischen Institut in den Jahren 1961 und 1962, Rostock 2009; Ulrich von Hehl / Günther Heydemann / Klaus Fitschen / Fritz König, Geschichte der Universität Leipzig 1409–2009, Bd. 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1909–2009, Leipzig 2010. 6  Abhilfe wird in diesem Bereich die in Kürze erscheinende Dissertation von Uwe Rohwedder zum Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) schaffen.



Die studentischen Proteste nach dem Mauerbau115

Für die Untersuchung, die auf meiner im Entstehen begriffenen Dissertation „Der Mauerbau und die Universitäten der DDR“ beruht, konnten bisher systematisch das Archivmaterial der jeweiligen Universitätsarchive, die Akten der Universitätsparteileitungen der SED und der – soweit vorhanden – Hochschulgruppenleitungen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie des Bundesarchivs (BArch) und der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch) (hier vor allem die Bestände Abteilung Wissenschaften des Zentralkomitees (ZK), des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen und des Zentralrats der FDJ) ausgewertet und zahlreiche Zeitzeugeninterviews geführt werden.7 Akten des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) wurden in Einzelfällen bereits ebenfalls hinzugezogen. Der fast ausschließliche Bezug auf Herrschaftsakten ist immer problematisch; deswegen müssen die Quellen in der Analyse immer auf ihren Aussagewert hin befragt werden. 2. Der „Kampfauftrag der FDJ“ Viel junge Menschen flohen vor dem Bau der Berliner Mauer aus den unterschiedlichsten Gründen Richtung Westen: Aus politischen Gründen, aus familiären, aber auch aus wirtschaftlichen. An den Hochschulen und Universitäten – Zentren der Abwanderung – ergab sich nach dem 13. August 1961 ein zwiespältiges Bild: Zum einen waren sich die Akademiker darüber bewusst, dass der Bau der Mauer die Fluchtbewegung eindämmen sollte, zum anderen waren sie zum positiven Bekenntnis gezwungen. Am 18. August 1961 – dem 17. Todestag Ernst Thälmanns – beschloss der Zentralrat der FDJ gleichermaßen einen „Kampfauftrag“, der für alle Studenten der DDR gelten sollte. Integriert war das Aufgebot „Das Vaterland ruft. Schützt die sozialistische Republik!“8, das die Verteidigungsbereitschaft aller Männer zwischen 18 und 23 Jahren einforderte. Bis dahin bestand in der DDR keine Wehrpflicht; sie wurde im Januar 1962 eingeführt. Die Jugendlichen sollten sich im „Kampfauftrag der FDJ“ neben der Bereitschaft zum freiwilligen Eintritt in die Nationale Volksarmee (NVA) 7  Bisher ist als Vorstudie erschienen: Anita Krätzner, Zwischen „Kampfauftrag“ und „Störfreimachung“. Zur Situation der Universitäten der DDR im Jahr 1961, in: Benjamin Schröder / Jochen Staadt (Hrsg.), Unter Hammer und Zirkel. Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ / DDR, Frankfurt u. a. 2011, S. 191–203. 8  Vgl. Kampfauftrag an alle FDJ-Mitglieder, in: junge welt vom 18. August 1961.

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zur Erntehilfe, zur Gewährleistung der Planerfüllung der Produktion und zum Verzicht auf das Hören westlicher Sender verpflichten. Außerdem sollten sie ihre Unterstützung bei der sogenannten „Störfreimachung“, bei der versucht werden sollte, die DDR von westlichen Importen unabhängig zu machen, zusichern und bestätigen, dass sie bei der Volkswahl am 17. September 1961 die Kandidaten der Nationalen Front wählen würden.9 Der „Kampfauftrag der FDJ“ entfaltete an den Universitäten nicht die gewünschte Wirkung, auch weil die Studenten in den Sommerferien, in Sommerlagern oder auf Reservistenlehrgängen waren. Vor dem Ernteeinsatz wurden sie zumeist auf einer FDJ-Aktivtagung mit dem „Kampfauftrag“ konfrontiert und sollten diesen dann (so jedenfalls der Wunsch der Funk­ tionäre) sofort unterschreiben. In welcher Form das Bekenntnis zu erfolgen hatte, blieb der Hochschulgruppenleitung überlassen. Einige forderten nur die Unterschrift der männlichen Studenten; andere verlangten, dass sich die Studentinnen zur Rot-Kreuz- oder Luftschutzausbildung verpflichten. In Rostock verfasste die FDJ-Leitung einen Brief an Walter Ulbricht, der allen Studierenden zum Unterschreiben vorgelegt wurde.10 An anderen Universitäten sollte dieses Bekenntnis in freier Form erfolgen; daraus entstanden Sammel- oder Einzelverpflichtungen.11 Aber weder das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen noch die Universitäten konnten sich bis zur Einführung der Wehrpflicht einigen, ob der „Kampfauftrag“ auch für die Theologiestudenten gelten sollte.12 Das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen schuf die Vorgaben und sandte sogleich nach dem Mauerbau Instrukteure an die Universitäten, die häufig an den ersten Senatssitzungen teilnahmen oder zumindest lange Aussprachen mit den verantwortlichen Wissenschaftlern, Funktionären und zum Teil mit den Studenten führten. Vereinzelt wurden die Universitätsgremien ihrer Zustimmungserklärungen für den Mauerbau angemahnt. Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen war 1961 Wilhelm Girnus. Überwacht wurden die Diskussionen zudem vom ZK der SED, Abteilung Wissenschaften. Leiter dieser Abteilung war 1961 Johannes Hörnig – die 9  Vgl.

Anita Krätzner (FN 7), S. 193. Anita Krätzner (FN 5), S. 33 ff.; Universitätsarchiv Rostock (UAR), R 132,

10  Vgl.

unpag. 11  Zum Beispiel: Universitätsarchiv Leipzig (UAL), FDJ 212, unpag. 12  Zunächst bestand man nicht darauf, dass die Theologiestudenten sich zum Dienst an der Waffe bereit erklären. In keiner Universität konnte man die Mehrheit an diesen Fakultäten zu einem Bekenntnis für den „Kampfauftrag“ bewegen. Vgl. Sitzung des wissenschaftlichen Beirats für das Fach Theologie im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen vom 20. Oktober 1961, Universitätsarchiv Jena (UAJ), J 312, Bl. 49; Friedemann Stengel (FN 5), S. 532.



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Wissenschaftspolitik wurde aber immer noch stark von seinem Vorgänger und Chefideologen Kurt Hager beeinflusst.13 Doch längst nicht alle Studenten waren bereit, „das Buch mit der Waffe zu vertauschen“, wie es die SED-Führung propagierte: Sie unterschrieben den „Kampfauftrag“ nur sehr zögerlich und häufig unter starken Diskussionen. Deshalb versuchten Funktionäre, die Studenten durch eine „Vorbildaktion“ zu motivieren. Der Zentralrat der FDJ hatte dafür die Gruppe Chemie III / 3 der Humboldt-Universität Berlin ausgewählt. Ein Programm, das diese Seminargruppe unter Anleitung des Zentralrats erarbeitete und an Walter Ulbricht adressierte, übererfüllte alle Forderungen des „Kampfauftrags“.14 Dieses Programm wurde dann nicht nur im „Forum“15 und in der „jungen welt“16 veröffentlicht, sondern auch vom Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen vervielfältigt und an die Rektoren mit der Bitte um ausführlichste Diskussion in der Studentenschaft gesandt.17 Tatsächlich setzte dieses Vorbild die Studentengruppen an den Universitäten unter Druck, ebenfalls über die Forderungen des „Kampfauftrages“ hinauszugehen; die zuständigen Betreuer forderten sie auf, ähnliche Programme zu entwerfen.18 3. Reaktionen von Studenten an den Universitäten der DDR In der DDR und der Bundesrepublik regte sich aufgrund des „Kampfauftrags“ Unmut, da dieser als oberstes Ziel – wie erwähnt – die Verteidigungsbereitschaft der ostdeutschen Studenten hatte und somit einer schleichenden Einführung der Wehrpflicht gleichkam. Es ist bekannt, dass die DDR-Regierung vor dem Mauerbau den obligatorischen Waffendienst nicht beschließen konnte, da sie sonst mit einem noch größeren Flüchtlingsstrom als dem ohnehin schon vorhandenen hätte rechnen müssen. Nach dem Bau der Mauer schien diese Gefahr gebannt und die DDR propagierte in Anlehnung auf die angebliche Abwendung eines Krieges ihren Militarismus ganz öffentlich. Die Aufrüstung beider deutscher Staaten im Kalten Krieg hatte 13  Zur Organisation des Wissenschaftssystems: Hubert Laitko, Wissenschafts­ politik, in: Andreas Herbst / Gerd-Rüdiger Stephan / Jürgen Winkler (Hrsg.), Die SED. Geschichte – Organisation – Politik, Berlin 1997, S. 405–420. 14  Vgl. Interview mit der ehemaligen Seminargruppe Chemie III / 3 vom 30. September 2009. Manuskript im Besitz der Verfasserin. 15  Forum vom 28. September 1961. 16  junge welt vom 28. September 1961. 17  Vgl. Schreiben an die Rektoren vom 9. Oktober 1961, Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin (UAB), R 366, Bl. 133. 18  Zum Beispiel in Leipzig: Einschätzung der politischen Arbeit unter den Studenten vom 26. September 1961, Staatsarchiv Leipzig (StAL), SED-KL KMU, IV / 4 / 14 / 067, unpag.

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schon in den Jahren zuvor häufig zu Unmut in der Bevölkerung geführt. Als die Bundesrepublik 1956 die Wehrpflicht einführte, erntete sie in beiden deutschen Staaten Protest. Um sich dessen zu entziehen, nutzten viele Jugendliche der Bundesrepublik den Wohnortwechsel nach Westberlin; dort mussten sie keinen Dienst an der Waffe leisten.19 Den Studenten im Osten war bewusst, dass der „Kampfauftrag“ in eine Wehrpflicht münden würde. Im September 1961 erreichte folgender Hilferuf von Studenten der Humboldt-Universität ihre Kommilitonen in Westdeutschland:20 „Berlin, den 9. September 1961 Aufruf an alle Kommilitonen in der Bundesrepublik Zur Zeit werden alle Studenten der DDR gezwungen, folgende Bereitschaftserklärung zu unterschreiben: In der Erkenntnis, daß es notwendig ist, die Deutsche Demokratische Republik zu verteidigen, verpflichte ich mich, in die bewaffneten Kräfte der DDR einzutreten. Die SED-Funktionäre haben uns erklärt: Wer nicht unterschreibt, ist ein Feind des Friedens! Wer nicht unterschreibt, will den Atomkrieg! Wir sind weder das eine, noch wollen wir das andere. Man versucht, uns zu überzeugen. Aber, so sagt man uns drohend, unsere Geduld ist nicht endlos. Feinde des Staates haben an den Universitäten nichts zu suchen! Sie drohen uns offen mit der Exmatrikulation, falls wir die Bereitschaftserklärung zum Eintritt in die Armee nicht unterschreiben. Kommilitonen! Zeigt Solidarität mit uns! Helft uns! Wir sind Söhne und Töchter eines Volkes! Erhebt Eure Stimme und protestiert gegen diesen Willkürakt! Schickt Protestnoten an unsere Universitäten! Wir wollen nicht auf euch schießen! Studenten der Berliner Humboldt-Universität“21

In allen Archiven sind ähnliche Reaktionen überliefert, da unter den Studenten häufig aufgrund des „Kampfauftrags“ Angst und Ablehnung herrschte. Auch wenn sie aufgrund der angedrohten Druckmittel unterschrieben, verwies dies nicht zwingend auf loyales Verhalten. In zusammengerufenen FDJ-Versammlungen, während der Ernteeinsätze oder bei Seminargruppenveranstaltungen weigerten sich Studenten immer wieder, den „Kampfauftrag“ zu signieren oder ihre Zustimmung zum Mauerbau zu erklären. Die Funktionsträger von SED und FDJ strengten in einigen Fällen Exmatrikula19  Zur Wehrpflicht: Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 339 ff. Zum Feindbild der Bundes­ republik in der DDR: Monika Gibas, „Bonner Ultras“, „Kriegstreiber“ und „Schlot­ barone“. Die Bundesrepublik als Feindbild der DDR in den fünfziger Jahren, in: Rainer Gries / Silke Satjukow (Hrsg.), Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, S. 75–106. 20  So äußert es jedenfalls ein Abdruck auf einem Heidelberger Protestschreiben. Vgl. BArch, DR 3, 1. Schicht, 1288, unpag. 21  Abschrift des Briefes der Studenten der Humboldt-Universität vom 9. September 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 165, unpag.



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tionen an oder drohten ihnen mit Konsequenzen, dennoch wurden sie der Lage nicht Herr. In allen Universitäten der DDR gab es einzelne Protestaktionen von Studierenden gegen die staatlichen Maßnahmen. Nicht nur die Verweigerung zum „Kampfauftrag“, sondern auch öffentliche Unmutsbekundungen wurden registriert: In Leipzig störten Studenten offenbar Versammlungen der FDJ und wurden dafür auf das Härteste bestraft. Zugleich ließ man Mitglieder der Kabarettgruppen „Rat der Spötter“22 und „Die Staubsauger“ verhaften, da sie angeblich „konterrevolutionäre“ Programme aufführen wollten. An der KarlMarx-Universität waren im Vergleich zu den anderen Universitäten die meisten Verhaftungen und Exmatrikulationen zu verzeichnen.23 In Greifswald verlas ein Seminargruppensekretär während einer FDJ-Aktivtagung eine Protestresolution, die sich gegen die „Ochsenkopfaktion“24 wandte. Die Staatssicherheit verhaftete ihn umgehend. Kommilitonen, die sich bestürzt über dessen Behandlung äußerten, mussten mit einer Exmatrikulation rechnen. Auch andere Studenten, die sich gegen die Verpflichtungen zur NVA oder die politische Situation aussprachen, wurden durch Verhaftungen und Disziplinarverfahren mundtot gemacht.25 In Rostock verbrannte eine Seminargruppe den „Kampfauftrag“, nachdem sie diesen zuvor offiziell einheitlich unterschrieben hatten. Da sich die Urheber dieser Aktion nicht finden ließen, folgten ungewöhnlicherweise (obwohl die Staatssicherheit davon Kenntnis hatte) keine Konsequenzen für die Beteiligten.26 In Dresden statuierte die Parteileitung ein Exempel an einem Studenten der Werkstoffkunde, der den Verlust der Freiheit durch Mauerbau und „Kampfauftrag“ bemängelt hatte. Auch er wurde umgehend in Haft genommen.27 Aus der Universität 22  Ernst Röhl, Rat der Spötter. Das Kabarett des Peter Sodann, Leipzig 2002; Ulrike Schuster (FN 5), S. 91 f.; Sylvia Klötzer, Satire und Macht. Film, Zeitung, Kabarett in der DDR, Köln u. a. 2006, S. 121 ff.; Ulrich von Hehl u. a. (FN 5), S. 574 ff. 23  Vgl. Günther Heydemann  /  Heidi Roth, Systembedingte Konfliktpotentiale in der DDR der fünfziger Jahre. Die Leipziger Universität in den Jahren 1953, 1956 und 1961, in: Dierk Hoffmann (Hrsg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, München 2003, S. 205–234, hier: S. 231. 24  In der „Ochsenkopfaktion“ im Jahr 1961 sollten westlich ausgerichtete Antennen durch FDJ-Ordnungsgruppen entfernt werden. Vgl. Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest, Eigensinn (DDR 1961–1974), Berlin 2003, S. 31 f.; Ann-Marie Göbel, Krisen-PR im „Schatten der Mauer“. Der 13. August 1961 in den DDR-Zentralorganen, in: Anke Fiedler / Michael Meyen (Hrsg.), Fiktionen für das Volk. DDR-Zeitungen als PR-Instrument, Berlin 2011, S. 165–193. 25  Vgl. Informationen über positive und negative Beispiele in der politischideologischen Auseinandersetzung mit den Studenten nach dem 13. August 1961 (15. September 1961), BArch, DR 3, 1. Schicht, 5622a, unpag. 26  Vgl. BStU Rostock, AIM 2711 / 62, Bd. 1, Bl. 43. 27  Vgl. Protokoll der zweiten Gesamtmitgliederversammlung vom 6. September 1961, Sächsisches Staatsarchiv Dresden (SStaD), IV / 4.15 / 020, Bl. 29.

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Halle konnten bisher keine Verhaftungen nachgewiesen werden; aber mehrere Studenten wurden aufgrund ihrer öffentlichen Ablehnung zum Passus der Verteidigungsbereitschaft mit der zeitweisen Exmatrikulation bestraft.28 In Berlin war die Bestürzung unter den Studenten aufgrund des Mauerbaus durch die räumliche Nähe am größten. An der Humboldt-Universität wurden u. a. mehrere Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde in Haft genommen und später verurteilt. Auch sie hatten ihrer Abneigung vor allem zur Verteidigungsbereitschaft ganz öffentlich Ausdruck verliehen.29 Andere Studenten wurden teilweise wegen versuchter „Republikflucht“ verhaftet.30 In Jena unterstützen Studierende des Max-Reimann-Ensembles eine Flugblattaktion gegen die staatlichen Maßnahmen und stellten Plakate beim Physikerball aus, die sich eindeutig gegen die Grenzschließungen am 13. August 1961 wandten.31 An der Friedrich-Schiller-Universität wurden eine Reihe von Studenten exmatrikuliert und verhaftet; nicht zuletzt deswegen, weil die Parteileitung der Universität Jena die Statistik zur Erfüllung des „Kampfauftrags“ (die sie mit 100 Prozent Zustimmung angegeben hatte) schönen wollte.32 Gegen den „Kampfauftrag“ wandten sich grundsätzlich Studenten aller Fächer, aber nur sehr wenige aus den ideologisch stärker geprägten Studiengängen wie Jura, Philosophie, Geschichte oder Ökonomie. Die auffälligsten Studentengruppen in Bezug auf eine ablehnende Haltung zum „Kampfauftrag“ lassen sich in den Bereichen Theologie33, Medizin34 und Physik35 28  Vgl. Protokoll der Sekretariatssitzung vom 21. Oktober 1961, Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Merseburg (LHASA MER), IV / 7 / 501 / 37, Bl. 52; Hans-Dieter Nover, Tagebuch 1959–1963, in: Hallesche Beiträge zur Zeitgeschichte 11 (2002), S. 98–109. 29  Vgl. BStU Zentralarchiv, AU 14978 / 62. 30  Vgl. Mitteilung an den Genossen Förster vom 11. September 1961, in: Landesarchiv Berlin (LaAB), C-Rep 903-01-12, Nr. 53, unpag. 31  Vgl. Franziska Preuß (FN 5), S. 244 ff. 32  Ausführliche Statistiken zur Umsetzung des Kampfauftrags: Vgl. Anita Krätzner (FN 7), S. 199. 33  Zu den Theologen: Friedemann Stengel (FN 5). 34  In den Parteiberichten wird die Medizin als stark bürgerlich geprägtes Fach ausgewiesen. Dazu mehr: Heinz-Peter Schmiedebach / Karl-Heinz Spieß (Hrsg.), Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR. Der Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder Medizinischen Fakultät in eine militärmedizinische Ausbildungsstätte im Jahr 1955, Stuttgart 2001; Anna-Sabine Ernst, „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“. Ärzte und medizinische Hochschullehrer in der SBZ / DDR 1945– 1961, Münster 1997. 35  Die Physiker fielen z. B. an der Universität Jena nicht nur 1961 mit provokantem Programm beim Physikerball auf, sondern auch 1956 und 1958, als dort Mitglieder des Eisenberger Kreises festgenommen wurden. Vgl. Studenten der Physik (undatiert, ca. November 1962), Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt (ThStAR),



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feststellen. Aus diesen Gruppen rekrutierten sich auch große Teile der Evangelischen Studentengemeinden. An den Theologischen Fakultäten existierten zu dieser Zeit nur wenige FDJ-Gruppen und es gelang den Universitätsleitungen nicht, die dortigen Studenten zu beeinflussen.36 Auch war – wie erwähnt – noch nicht beschlossen worden, ob der „Kampfauftrag“ ebenso für sie gelten sollte. Aus diesen Fakultäten wurden nach Einführung der Wehrpflicht viele Studenten aufgrund von Wehrdienstverweigerung aus den Universitäten ausgeschlossen.37 Die Evangelische Studentengemeinde wird in den offiziellen Berichten der Parteileitungen immer als Triebkraft des Widerstands ausgemacht. Inwiefern das wirklich zutrifft, bleibt zu prüfen – es treten aber häufig christliche Argumente der Studenten gegen den Kampfauftrag auf wie „Als Christ kann ich keine Waffe tragen!“38 oder Argumente eines gemeinsamen Nationalgefühls wie „Deutsche sollten nicht gegen Deutsche schießen.“ Generell muss dabei aber auch die Vorprägung der Studenten durch den Zweiten Weltkrieg bedacht werden. Die SED-Leitung konstruierte ein Feindbild gegen die Christen; der Argwohn gegen die relativ unabhängig agierende Kirche verstärkte sich wieder.39 Ferner wurde der Lehrkörper der Universitäten in der DDR angemahnt, Zustimmungserklärungen zu verfassen. Trat dort Ablehnung auf, hatte dies Signalwirkungen für die Studentenschaft. In allen Universitäten außer in Berlin verweigerten die Dekane der Theologischen Fakultäten die Unterschrift zur Senatserklärung, weil sie der dort begrüßten Wiederaufnahme der Kernwaffenversuche in der Sowjetunion nicht zustimmen wollten.40 Zugleich lehnten einige Wissenschaftler öffentlich die Grenzschließungen und die damit verbundenen staatlichen Maßnahmen wie die „Störfreimachung“ und das Verbot westlicher Kongressreisen ab. Teilweise initiierten die SEDParteileitungen breit angelegte Verleumdungskampagnen, um sich des unerwünschten Lehrpersonals zu entledigen. Die Studenten nahmen diese wiederum wahr; somit dienten sie entweder als Abschreckung oder als InitialSED-UPL Jena, 2590, Bl. 19 f.; Patrik von zur Mühlen, Der „Eisenberger Kreis“. Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR 1953–1958, Bonn 2007, S. 100 ff. 36  Vgl. Friedemann Stengel (FN 5), S. 203 ff. 37  Vgl. ebd., S. 563 ff. 38  Informationsbericht 13. September 1961, StAL, SED-GO KMU, IV / 7 / 130 / 09, unpag. 39  Vgl. Cornelia Schnapka-Bartmuß, Die Evangelischen Studentengemeinden Leipzig und Halle / Saale in den Jahren 1945 bis 1971, Leipzig 2008. Walter Ulbricht hatte auf einer Sitzung des Politbüros die Junge Gemeinde erneut (nach 1952) zum Feindbild erklärt. Vgl. Rede des Genossen Walter Ulbrichts vor dem Politbüro am 22. August 1961, SAMPO-BArch, DY 24, 358, unpag. 40  Vgl. Anita Krätzner (FN 7), S. 194.

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feder für Proteste.41 In den Parteigruppen der Universitäten führten die Auseinandersetzungen nach dem Mauerbau auch zu Umstrukturierungsprozessen, weil die SED ihre Mitglieder für die Ergebnisse der Zustimmungskampagnen verantwortlich machte. Zahlreiche Parteiverfahren und Absetzungen von Sekretären folgten.42 4. Wahrnehmung durch Studenten aus Westberlin und der Bundesrepublik An den westdeutschen Universitäten blieben der Bau der Berliner Mauer, der „Kampfauftrag“ und die Beeinträchtigung durch die Schließung der Grenzen (verbunden mit dem Abbruch der deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen) ebenfalls nicht ohne Folgen. Vor allem die Aufrüstung beider deutscher Staaten wurde von der jeweiligen anderen Führungsebene immer argwöhnisch begutachtet und entsprechend in der Öffentlichkeit angeprangert. Die DDR-Regierung hatte in den Jahren vor 1961 versucht, ihr Image vom „deutschen Friedensstaat“ aufrechtzuerhalten und die fortschreitende Militarisierung als Reaktion auf die westdeutsche „Aggression“ gerechtfertigt. Die Bundesrepublik praktizierte eine ähnliche Rechtfertigungspolitik, indem sie sich auf die Bedrohung durch den Osten berief.43 Nicht nur Studenten an ostdeutschen Universitäten äußerten in Diskus­ sionen Befürchtungen, dass es zu einem deutsch-deutschen Krieg kommen könnte, sondern natürlich auch westdeutsche. Eine Vielzahl von Allgemeinen Studierendenausschüssen aus der Bundesrepublik versandte Protestschreiben gegen den „Kampfauftrag“ an die Rektoren der Hochschulen und Universitäten in der DDR. Zunächst wurden unmittelbar vor und nach dem Mauerbau in Zeitungen öffentliche Erklärungen abgedruckt, die die Grenzmaßnahmen verurteilten oder ein einheitliches Deutschland forderten. Noch im Juli 1961 hatte die Heidelberger Studentenschaft eine Resolution mit 4000 Unterschriften an die Bundesregierung versandt und sie darin zur Stellungnahme in Bezug auf eine mögliche Wiedervereinigung aufgefordert. Von Leipziger Chemiestudenten erhielt sie – im Auftrag der FDJ-Hochschulgruppenleitung – in diesen Bestrebungen Zustimmung.44 Nachdem die 41  Vgl.

ebd., S. 195. ersten Sekretäre der Universitätsparteileitungen wurden in Halle, Jena und Rostock abgesetzt. Vgl. ebd., S. 202 f. 43  Vgl. Reinhard Brühl, Zur Militärpolitik der SED – Zwischen Friedensideal und Kriegsapologie, in: Detlef Bald (Hrsg.), Nationale Volksarmee – Armee für den Frieden. Beiträge zu Selbstverständnis und Geschichte des deutschen Militärs 1945– 1990, Baden-Baden 1995, S. 31–49, hier: S. 34. 44  In der Leipziger Universitätszeitung wurden die Bemühungen der Heidelberger eher als Bestrebungen hinsichtlich des Abschlusses eines Friedensvertrages 42  Die



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Heidelberger Studenten aber ein Protestschreiben gegen den Mauerbau veröffentlicht hatten, änderte sich auch die Reaktion der Leipziger Kommilitonen, die unter Anleitung ihres Jugendverbandes stand. Am 28. August 1961 erhielten die Heidelberger einen Brief, unterschrieben mit „FDJFachschaft Chemie der Karl-Marx-Universität Leipzig“, in dem die Grenzschließungen und der „Kampfauftrag“ befürwortet wurden.45 Als Verfasser des Briefes war in der Abschrift des Heidelberger Flugblattes ein Chemiker angegeben, der aber zu diesem Zeitpunkt keineswegs Student war, sondern Assistent am Institut für Organische Chemie und Mitglied der SED.46 Durch die vorgefertigte Antwort auf die Proteste der westdeutschen Kommilitonen bezüglich des Mauerbaus versuchte man nach außen hin, die Zustimmung der DDR-Studenten zu konstruieren und gleichzeitig die Ablehnung der Heidelberger Resolution nach dem 13. August 1961 als „hasserfülltes Machwerk“ und „eine zur Hysterie gesteigerten Hetze“47 zu stilisieren – ein typischer Fall einer Erklärung, die nicht aus der Studentenschaft der Universität Leipzig selbst stammte, sondern aufoktroyiert worden war. Zugleich wurde vom 1. Sekretär der FDJ-Hochschulgruppenleitung der FDJ ebenfalls ein Schreiben versandt, das die vorherige Thematik aufgriff und wieder an die Bemühungen um den Friedensvertrag anschloss – allerdings ablehnend gegenüber der Bundesregierung und voll des Lobes für die Maßnahmen zur Grenzschließung.48 Danach, so liest es sich aus den Quellen, brach der Kontakt zunächst ab, obwohl sich die SED-Leitung der Universität Leipzig und das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen weiterhin um eine wirksame Propaganda in Richtung Westdeutschland bemühten.49 Nicht nur in Heidelberg sondern auch an anderen Hochschulorten in der Bundesrepublik war die Empörung über den Bau der Berliner Mauer groß. Die Studenten verfassten – vor allem im Hinblick auf den „Kampfauftrag“ – Protestschreiben, die sie an die Rektoren der Hochschulen und Universitäten in der DDR sowie an das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen dargestellt. Die Propaganda von 1961 versuchte, der Bundesrepublik dadurch Kriegs­ absichten zu unterstellen, da diese am Abschluss eines Friedensvertrags angeblich nicht interessiert sei. Deswegen wollte die DDR ihn gegebenenfalls allein mit der Sowjetunion schließen. Vgl. Gerhard Wettig, Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis f.; Universitätszeitung 1963. Drohpolitik und Mauerbau, München 2006, S. 205  Leipzig vom 1. August 1961. 45  Vgl. Brief der FDJ-Fachschaft Chemie vom 28. August 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 1288, unpag. 46  Vgl. Universitätszeitung Leipzig vom 30. November 1960. 47  Brief der FDJ-Fachschaft Chemie vom 28. August 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 1288, unpag. 48  Vgl. Universitätszeitung Leipzig vom 22. August 1961. 49  Vgl. Brief der FDJ-Fachschaft Chemie vom 28. August 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 1288, unpag.

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sandten.50 In diesen Schreiben wandten sich die Studentenräte / Studentenparlamente und die Allgemeinen Studierendenausschüsse gegen die Grenzschließungen am 13. August 1961, den „Kampfauftrag der FDJ“ und die damit verbundene Propaganda. Getragen von Einheitsbestrebungen warnten sie vor der Möglichkeit eines Krieges der DDR gegen die Bundesrepublik.51 Überliefert sind diese Art Briefe und Resolutionen von den Studierendenschaften der Universitäten Hamburg, Kiel, Marburg, Darmstadt und Karlsruhe.52 Im Schreiben der Universität Heidelberg wurde auch der bereits beschriebene Hilferuf von Studierenden der Humboldt-Universität Berlin reproduziert.53 Unter dem Abdruck des Briefes vermerkten die Verfasser, dass den Studierendenschaften der Bundesrepublik täglich ähnliche Äußerungen zugehen würden.54 Offizielle Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Studenten bestanden vor dem Mauerbau noch häufig. Davon zeugen zum Beispiel die „Westreisen“ von Gruppen der Karl-Marx-Universität Leipzig oder der Universität Rostock im Rahmen von Kulturgruppenaustauschen. Diese Kontakte waren 1961 jäh unterbrochen worden bzw. sollten staatlich überwacht werden. Wie die Kommunikation zwischen west- und ostdeutschen Studierenden direkt nach dem Mauerbau stattfand, lässt sich bis dato nicht genau rekonstruieren. Nach dem 13. August 1961 fanden Sondersitzungen der Studierendenparlamente und des Verbandes der Studierendenschaft (VDS) statt, um die Situation des getrennten Deutschlands und weitere Protestnoten, auch für die Weltöffentlichkeit, zu beraten. Gleichzeitig wurden Publikationen vorbereitet, die auf die Willkür der SED hinwiesen und dafür Beispiele aus den 1950er Jahren heranzogen. Diese Beispiele resultierten wahrscheinlich aus Schilderungen von schon zuvor geflüchteten Studenten. Wesentliches Ergeb50  Allerdings kamen offenbar nicht alle Schreiben an, sonst wäre dies aus der Berichterstattung des Staatssekretariats und der Universitäten erkenntlich. Warum nicht alle Schreiben ihre Adressaten erreichten, konnte nicht eruiert werden. Allerdings fanden sich Originalschreiben in den Akten des BStU, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie möglicherweise abgefangen oder abgegeben wurden. Vgl. BStU Rostock, AOP 3416 / 62, Bl. 260. 51  Vgl. Brief der Studentenschaft Heidelberg vom Oktober 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 1288, unpag. 52  Vgl. Kollegiumsvorlage vom 26. Oktober 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 185, Bl. 109. 53  Da hier ausschließlich auf die Überlieferung der DDR zurückgegriffen werden konnte, liegt dieser Brief nicht im Original vor. Die ursprünglichen Urheber konnten nicht ausgemacht werden, ebenso wenig wie der Weg, über den der Brief an die Heidelberger Studierendenschaft gelangte. 54  Vgl. Kollegiumsvorlage vom 26. Oktober 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 185, Bl. 109.



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nis waren die Studien über verhaftete Studenten und Hochschulangehörige in der DDR, die vom VDS herausgegeben wurden.55 Das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen warnte die Rektoren der Hochschulen und Universitäten vor den Protestresolutionen der westdeutschen Studenten und unterstellte eine „gelenkte Provokation mit dem Ziel, Unruhe und Verwirrung insbesondere unter den Wissenschaftlern zu stiften.“56 Deshalb forderte es im Oktober 1961 alle Rektoren auf, sämt­liche Schreiben dieser Art unverzüglich weiterzuleiten. Gleiches galt für Dekane und Professoren, die solche Briefe erhielten. Die Reaktion auf diese Schriftstücke sollte ausschließlich dem Staatssekretariat obliegen und nicht den Adressaten. Gleichzeitig mit den Protestschreiben der westdeutschen Studierenden strahlten der Norddeutsche Rundfunk (NDR) am 5. Oktober 1961 und die British Broadcasting Corporation (BBC) Germany57 am 14. Oktober 1961 Radiosendungen aus, deren Inhalt die DDR-Führung auf das schärfste verurteilte.58 Bei diesen Sendungen verlas man auch den besagten Hilferuf der Berliner Humboldt-Studenten. Da der NDR in der DDR empfangen werden konnte, musste das Staatssekretariat damit rechnen, dass die Beiträge im Osten gehört wurden.59 Es folgte eine Gegenaktion. Zunächst wurden die Rektoren, wie schon erwähnt, aufgefordert, auf die Protestschreiben nicht zu antworten und die Schreiben an das Staatssekretariat weiterzuleiten. Damit sollte ein Überblick über die Schreiben geschaffen werden. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) beschäftigte sich ebenso mit dieser „Provokation“, allerdings ließen sich keine Hinweise finden, dass die Untersuchungen im Sinne der Auftraggeber erfolgreich waren.60 Zudem informierte das Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen die Rektoren über die Einschätzung der Protest55  In der demnächst erscheinenden Dissertation von Uwe Rohwedder zum VDS wird auch der Kontakt zu den ostdeutschen Studenten untersucht werden. Vgl. Verband deutscher Studentenschaften (Hrsg.), Dokumentation des Terrors. Namen und Schicksale der seit 1945 in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands verhafteten und verschleppten Professoren und Studenten, Berlin 1962. 56  Kollegiumsvorlage vom 26. Oktober 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 185, Bl. 109. 57  Vgl. ebd. 58  Diese Radiosendungen waren bisher nicht zugänglich. Möglicherweise wurden sie, da sie im Rahmen von Nachrichtensendungen ausgestrahlt wurden, nicht archiviert. Vgl. Auskunft des Schallarchivs des NDR vom 14. Februar 2011; Auskunft des Deutschen Rundfunkarchivs vom 19. Februar 2011; Auskunft des Archivs des Deutschlandradios vom 19. Mai 2011; Auskunft des Sound-Archivs London vom 27. Mai 2011. 59  Vgl. Kollegiumsvorlage vom 26. Oktober 1961, BArch, DR 3, 1. Schicht, 185, Bl. 109. 60  Zum Beispiel: BStU Rostock, AOP 3416 / 62, Bl. 260.

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schreiben und plante ein offizielles Antwortschreiben von Studenten der Seminargruppe Chemie III / 3 der Humboldt-Universität, die sich bereits in ihrer Vorbildaktion zum „Kampfauftrag“ „bewährt“ hatte, verfassen zu lassen. Dort sollten die Anschuldigungen als haltlos zurückgewiesen, mit Nachdruck die Bereitschaft aller Studenten zur Verteidigung der DDR erklärt sowie ein angeblicher Missbrauch der westdeutschen Studentenvertretungen „für die Politik des Militarismus“ aufgedeckt werden. Inwiefern letzteres geschehen sollte, ist aus den Plänen des Staatssekretariats nicht vollkommen ersichtlich, da sich die Schreiben aus der Bundesrepublik vor allem durch „pazifistische“ Thesen auszeichneten. Zu einem offenen Schreiben der Berliner Chemiestudenten kam es dann aber nicht.61 5. Studenten 1961 und 1989 – ein Wandel Selten äußerte sich der Zorn so offensichtlich wie nach dem Schweigemarsch am 20. November 1961.62 In den Folgejahren kam es dennoch immer wieder zu Protesten gegen die Teilung Deutschlands – auch von Studenten. Der VDS und andere Studentenorganisationen wie der Verband ehemaliger Rostocker Studenten machten darauf aufmerksam, dass die Kommilitonen in der DDR unterdrückt werden und setzten sich für ein vereinigtes Deutschland und eine gesamtdeutsche Wissenschaft ein. Ein Höhepunkt war u. a. die 550-Jahr-Feier der Universität Rostock in Kiel – als Gegenveranstaltung zur Rostocker Feier inszeniert.63 Solidarität mit den ostdeutschen Kommilitonen zeigte sich auch in den Fluchthilfeaktionen, die vom Territorium der Bundesrepublik aus gestartet wurden. Hauptsächliche Initiatoren waren Studenten der Technischen und der Freien Universität Berlin; sie gruben Fluchttunnel und versuchten mit fremden Ausweisen Freunde, Bekannte und Familienangehörige aus der DDR zu holen.64 Viele Studenten im Osten wie im Westen nahmen die Rede Adenauers am 13. August 1961 sehr ernst. Dort sagte er am Schluss einer Erklärung zum Mauerbau: „Mit den Deutschen in der Sowjetzone und in Ost-Berlin fühlen wir uns nach wie vor aufs engste verbunden; sie sind 61  Vgl. Interview mit der ehemaligen Seminargruppe Chemie III / 3 der HumboldtUniversität (FN 14). 62  Vgl. Tagesspiegel vom 21. November 1961; Beitrag des RIAS vom 20. November 1961, Archiv Deutschlandradio, Archivnummer: Z353278, Dauer: 5,21 Minuten. 63  Vgl. Walter Hallstein, Festansprache auf der Erinnerungsfeier zum 550-jährigen Bestehen der Universität Rostock, in: Carolinum 35 (1969), S. 24–33. 64  Ausführlich zu diesen Aktionen: Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005, S.  81 ff.



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und bleiben unsere deutschen Brüder und Schwestern. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der deutschen Einheit in Freiheit unverrückbar fest.“65 Die Studenten in Ostdeutschland hatten nur wenig Spielraum zu reagieren. Sie äußerten teilweise Protest und Abneigung gegen den Mauerbau und den damit verbundenen „Kampfauftrag“. So zeigten sie, dass sie vor allem Angst hatten, von ihren Familien und Freunden in Westdeutschland auf Dauer getrennt zu sein oder gar in einem Krieg gegen sie kämpfen zu müssen. Anders als ihre westdeutschen Kommilitonen hatten sie nicht die Möglichkeit, ihren Unmut ungestraft offen zu äußern, wie es in einem freiheitlichen System möglich gewesen wäre. Studenten in der Bundesrepublik nutzen die Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Sie verschickten Protestnoten, demonstrierten oder halfen bei der Fluchthilfe. Trotz allem mussten sie 28 Jahre bis zum Mauerfall warten. 1989 war die Stimmung an den ostdeutschen Universitäten auffallend ruhig; die Studenten waren keine Initiatoren der Friedlichen Revolution.

65  Dokumente

zur Deutschlandpolitik IV / 7 (1961), S. 11.

Individuelle Schicksale und erlittene Repression im Schatten der Grenze Das Beispiel des Bezirks Magdeburg Von Kerstin Dietzel und Sascha Möbius 1. Konsequenzen der Grenzsicherung der DDR Die Grenzsicherung durchzog die gesamte Gesellschaft der DDR.1 Von den Todesschüssen an der Grenze über das Sperrgebiet und die Zwangsaussiedlungen2 bis hin zu Rede- und Denkverboten3 verfügte die Führung der SED über ein breit angelegtes Instrumentarium, um ihre Bürger am Verlassen des eigenen Landes zu hindern. Viele Menschen, die versucht hatten, die Grenze zu überwinden und in den Westen zu fliehen, sehen sich heute mit dem Vorwurf konfrontiert, sie hätten gewusst, was sie erwartet und seien damit wissentlich ein unvertretbares Risiko eingegangen.4 Auf der moralischen und politischen Ebene ist diese Argumentation absurd, weil sie einer Diktatur zugesteht, willkürlich Grenzen zu setzen und Strafen für jede Form der Opposition oder auch nur Unangepasstheit festzulegen. Aber auch die auf den ersten Blick einleuchtende Behauptung, dass die Flüchtlinge „gewusst hätten, was passiert“, bleibt zu hinterfragen. Dies gilt vor allem für zwei Bereiche: Erstens lässt der genannte Vorwurf vollkommen außer Acht, welche Motive einer „Republikflucht“ oder einem Ausreiseantrag zu Grunde lagen. Hier kann es nicht um eine – ohnehin schwierige – statistische Erfassung der Motive gehen.5 Vielmehr ist zu fra1  Vgl. dazu Hans-Hermann Hertle, Die Berliner Mauer. Biografie eines Bauwerks, Berlin 2011. 2  Vgl. dazu Inge Bennewitz  / Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Analysen und Dokumente, Berlin 1997. 3  Siehe z.  B. die verschärfte Repression direkt nach dem Mauerbau, in: Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1997. 4  „Tatsächlich haben die Grenzverletzer ihren Tod selbst verschuldet.“ Erich Buchholz, Zur Strafverfolgung von ehemaligen Angehörigen der Grenztruppen der DDR durch die bundesdeutsche Strafjustiz, in: Klaus-Dieter Baumgarten / Peter Freitag (Hrsg.), Die Grenzen der DDR. Geschichte. Fakten. Hintergründe, Berlin 2004, S. 357–389, hier: S. 363.

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gen, welche Rolle das Grenzregime und seine Auswirkungen im Leben der Flüchtlinge spielten und wie sie den Entschluss beeinflussten, die DDR zu verlassen. Zweitens soll hinterfragt werden, ob die „Grenzsicherung“ und die Maßnahmen des Staatssicherheitsdienstes den Betroffenen wirklich bekannt waren. Der Beitrag nähert sich diesen Fragen auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten ehemaliger politischer Gefangener an, die in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) MagdeburgNeustadt inhaftiert waren. 5

2. Zeitzeugenprojekt und methodisches Vorgehen In Vorbereitung der neuen Dauerausstellung der heute an diesem Ort angesiedelten Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg wurden zwischen 2009 und 2011 vierzig autobiographisch-narrative Interviews6 mit ehemals politisch Inhaftierten der Untersuchungshaftanstalt (UHA) Magdeburg-Neustadt geführt, die sich schwerpunktmäßig der Aufarbeitung der individuellen Schicksale vor, während und nach der Haft zuwandten. Befragt wurden 30 Männer und zehn Frauen, die zwischen 1951 und 1989 in der UHA Magdeburg-Neustadt überwiegend wegen „staatsfeindlicher Hetze und Propaganda“ sowie „Republikflucht“ inhaftiert waren. Grundsätzlich orientierten sich die Fragestellungen des Projektes an den verschiedenen Lebensabschnitten in der Biographie ehemaliger politischer Gefangener. Dabei können grob vier biographisch prägende unterschieden werden: (1) die Zeit vor der Verhaftung, (2) die Zeit der Untersuchungs- und Strafhaft, (3) die Zeit nach der Haft in der DDR (bzw. nach einem „Freikauf“ in der Bundesrepublik) und (4) die Zeit nach dem Mauerfall. Innerhalb dieses chronologischen Rasters sind zwei Stränge zu unterscheiden: die Rekonstruktion des subjektiven Erlebens der Haft und die Untersuchung der Auswirkungen der Haft auf das weitere Leben der Betroffenen. Die Analyse orientiert sich grundsätzlich an der historisch-anthropologischen Methode. Dabei wird sowohl auf Ansätze aus der Forschung zu 5  Zur Bedeutung von zentralen historischen Ereignissen für die Wahrnehmung der eigenen Biographie siehe Volker Depkat, Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft, in: BIOS 2 / 2010, S. 170– 187, hier: S. 180. 6  Die Interviews dienten sowohl als Quellen zur Erforschung der Repression in der UHA Magdeburg-Neustadt als auch in Form von Videointerviews zur Präsentation individueller Haftschicksale in der Ausstellung. Vgl. dazu Alexander von Plato, Medialität und Erinnerung. Darstellung und „Verwendung“ von Zeitzeugen in Ton, Bild und Film, in: BIOS 1 / 2008, S. 79–92, hier: S. 82.



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Soldatenbriefen als auch das biographisch-narrative Interview (Fritz Schütze) und Ansätze aus der Traumapsychologie (Jörg Frommer) zurückgegriffen. Die praxeologische Methode der historischen Anthropologie ist für die Fragestellung besonders angemessen. Sie geht davon aus, dass es bestimmte menschliche Elementarerfahrungen wie Geburt, Sexualität und Tod gibt, die mit entsprechenden Gefühlen wie Angst oder Freude verbunden sind. In unserem Fall handelt es sich um physische und psychische Gewalteinwirkung, Isolation von anderen Menschen oder (die zumindest subjektiv empfundene) Bedrohung des eigenen Lebens.7 Sie geht weiterhin davon aus, dass dem menschlichen Fühlen, Denken und Handeln durch gesellschaft­ liche Strukturen ein Rahmen gesetzt wird. Innerhalb dessen sind die Menschen allerdings Akteure, die ihre Geschichte selbst machen. Dieser Ansatz ist für die Untersuchung und Darstellung der Repression geeignet, weil er die didaktisch notwendige Personalisierung in einen strukturgeschichtlichen Zusammenhang stellt und nach Handlungsmöglichkeiten von Menschen in der Diktatur fragt. Die von Fritz Schütze entwickelten Methoden eignen sich, weil sie wie auch die historisch-anthropologische Methode den Prozesscharakter des Lebensweges sichtbar machen.8 Genauso wie die Repression und ihre Logik(en!) nicht statisch zu betrachten sind, müssen die Auswirkungen von Repression und Haft auf den einzelnen Menschen als Prozess verstanden werden. Die Methode ermöglicht, die mitgeteilten Lebenserinnerungen umfassend und multiperspektivisch auszuwerten. Deutungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen der InterviewpartnerInnen lassen sich durch eine Textanalyse gewinnen.9 Vor allem aber gestattet Schützes Methode eine Annäherung an das Ereignis (und in diesem Fall das subjektive Erleben der Häftlinge zur Zeit der Haft) im Rahmen einer sorgfältigen Analyse der verschiedenen Schichten und Strukturen des Interviews.10 7  Vgl. Gerd Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien 1996, S. 77. 8  Vgl. Theodor Schulze, Biographisch orientierte Pädagogik, in: Dieter Baacke  /  ders. (Hrsg.), Aus Geschichten lernen: Zur Einübung pädagogischen Verstehens, Weinheim / München 1993, S. 13–40, hier: S. 16. 9  Bei Schütze der letzte Schritt der Analyse, die „Wissensanalyse“ nach dem Prinzip der „pragmatischen Brechung“. Vgl. Fritz Schütze, Ethnographie und sozial­ wissenschaftliche Methoden der Feldforschung. Eine mögliche methodische Orientierung in der Sozialen Arbeit?, in: Michael Groddeck / Michael Schuhmann (Hrsg.), Modernisierung sozialer Arbeit durch Methodenentwicklung und -reflexion, Freiburg / Br. 1994, S. 189–297, hier: S. 206. 10  Vgl. Fritz Schütze, Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien: erzähltheoretische Grundlagen. Teil 1: Merkmale von Alltagserzählungen und was wir mit ihrer Hilfe erkennen können, Hagen 1987, S. 49.

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Dieser Ansatz soll mit Methoden verbunden werden, die die moderne Forschung zu Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten entwickelt hat.11 „Erstens sollten ihre Ergebnisse, auch und gerade wenn das zugrunde liegende Quellenmaterial keine statistisch abgesicherten Verallgemeinerungen erlaubt, wenigstens für die benutzte Quellenauswahl auf nachvollziehbarem Wege repräsentativ sein. […] [Zweitens] sollte von den verschiedenen Möglichkeiten des Vergleichs Gebrauch gemacht werden, denn dabei gewinnen die Aussagen […] entscheidend an Aussagekraft.“12 Um sich dem Erleben der Zeitzeugen in der Haft zu nähern, kann an Überlegungen von Klaus Latzel13 zu Soldatenbriefen und von Jan Peters zur Untersuchung von Selbstzeugnissen aus der frühen Neuzeit14 angeknüpft werden. In Anlehnung an Latzel gliedert sich der Entstehungsprozess von Aussagen in lebensgeschichtlichen Interviews in vier Phasen: (1) Erlebnisse: Aus der Vielzahl der Sinneseindrücke bleiben bestimmte Erlebnisse im Gedächtnis des Interviewpartners haften. (2) Sinnstiftung: Bewusst und unbewusst versucht der Interviewte, diesen Erlebnissen einen Sinn zu geben. (3) Hafterfahrung: Das Ergebnis dieser Sinnstiftung resultiert in den Hafterfahrungen. (4) Mitteilung: Von seinen Erfahrungen teilt der ehemalige politische Häftling bewusst oder unbewusst nur einen Teil den Adressatinnen und Adressaten mit. Welche Phasen es sind und in welcher Form der Befragte sie mitteilt, hängt sowohl von ihm selbst als auch von seinen Absichten gegenüber dem Interviewer ab.15 In diesem Rekonstruktionsprozess sind jedoch verschiedene Faktoren zu beachten, die Jan Peters als „Verfremdungsformen“16 bezeichnet und die den Blick auf das Innenleben der Zeitzeugen sowie die tatsächlichen Vorgänge in der Haft verschleiern können. Vor allem die individuelle Wahrnehmung und Verarbeitung der Gewalterfahrung kann Einfluss 11  Vgl. Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke, Nr.  1 (2002), unter: http: /  / www.zeitenblicke.historicum.net / 2002 / 02 /  rutz / index.html (3. März 2008); Eva Kormann, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert, Köln u. a. 2004. 12  Klaus Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1–30, hier: S. 25. 13  Vgl. ebd., S. 1–30. 14  Vgl. Jan Peters, Zur Auskunftsfähigkeit von Selbstsichtzeugnissen schreibender Bauern, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 175–190. 15  Vgl. Klaus Latzel (FN 12), S. 20–25. 16  Jan Peters (FN 14), S. 175.



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auf den Bericht haben: Während eines Verhörs ist der Häftling unter extremem Stress und registriert viele einzelne Sinneswahrnehmungen nur als tendenziell chaotischen Gesamteindruck. Er kann nach der Haft oder einzelnen Erlebnissen im Gefängnis verwirrt oder traumatisiert sein. Treten akute oder posttraumatische Belastungsstörungen ein, können Erinnerungen sowohl gelöscht werden17 als auch plötzlich wieder eintreten (Flashbacks)18. Der Zeitzeuge begegnet einer Situation, die fundamentale Kommunikationsprobleme aufwirft. Die Erfahrung von psychischer und physischer Gewalteinwirkung in der Haft entzieht sich zu einem guten Teil der Vermittelbarkeit durch Sprache. Paul Fussells Analysen der literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege zeigen, dass es selbst für professionelle Autoren unmöglich ist, den Leser in das Kriegserlebnis zu integrieren.19 Oft sind ehemalige Häftlinge psychisch nicht in der Lage, über bestimmte als besonders verletzend und demütigend wahrgenommene Ereignisse zu berichten und möchten nicht, dass alte Wunden wieder aufreißen.20 Hinzu kommen jene „Verfremdungsformen“, die aus der Kommunikation mit dem Interviewer oder den vorgestellten Rezipienten21 in der Ausstellung resultieren. So können bewusste und unbewusste gesellschaftliche Tabus dazu führen, dass bestimmte Emotionen und Reaktionen nicht mitgeteilt werden.22 Ebenso kann der Interviewpartner gewisse Absichten gegenüber dem Interviewer verfolgen, die ihm das Verschweigen, aber auch die Darstellung eigener Gefühle und Verhaltensweisen opportun erscheinen lassen.23 In diesem Kontext kann dies z. B. bedeuten, dass aus Rücksicht auf Verwandte oder Haftkameraden zentrale Erlebnisse nicht thematisiert werden 17  Vgl. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, Göttingen 2003, S. 488. 18  Vgl. ebd., S. 487. 19  Vgl. Paul Fussel, Wartime. Understanding and Behavior in the Second World War, New York / Oxford 1989, S. 268. 20  Vgl. Andreas Maercker, Psychotherapie bei Opfern politischer Verfolgung in der DDR, in: Klaus-Dieter Müller  /  Annegret Stephan (Hrsg.), Die Vergangenheit lässt uns nicht los. Haftbedingungen politischer Gefangener in der SBZ / DDR und deren gesundheitliche Folgen, Berlin 1998, S. 227–250, hier: S. 235. 21  Siehe die Zusammenfassung mit weiterführender Literatur zu der entsprechenden Theorie Umberto Ecos bei Sabine Todt, Äußeres und inneres Wort in den frühen Flugschriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt – Das Bild vom Laien, in: Ulrich Bubenheimer / Stefan Oehmig (Hrsg.), Querdenker der Reformation – Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001, S. 111–134, hier: S. 112–119. 22  Vgl. Friedhelm Boll, Beobachtungen aus lebensgeschichtlichen Interviews mit Verfolgten des Nationalsozialismus und mit Verfolgten der SBZ / frühen DDR, in: Klaus-Dieter Müller / Annegret Stephan (FN 20), S. 153–172, hier: S. 162–168. 23  Vgl. Klaus Latzel (FN 12), S. 22.

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oder dass ehemalige Häftlinge davon ausgehen, dass manche Verhaltensweisen (z. B. „Diebstahl“ von Essen in der Haft oder der Extremfall der Sexua­ lität in der Haft) bei einem Publikum ohne Hafterfahrung (insbesondere jüngeren Menschen) entweder auf Unverständnis stoßen oder sogar zu moralischer Ablehnung führen werden.24 In den lebensgeschichtlichen Interviews thematisierten fast alle ehemalige politische Gefangene die folgenden fünf Phasen, die eng mit den Brüchen25 in ihrem Leben verbunden waren: (1) die Zeit vor der Haft (Erziehung im Elternhaus, Schulbildung bzw. Ausbildung / Studium), (2) der Inhaftierungsgrund und die Verhaftung durch die Stasi, (3) die Verhöre und Haftbedingungen (in der UHA und Strafhaft), (4) das Leben nach der Haft (Freikauf, Ausreise in die BRD vs. gesellschaft­ liche Wiedereingliederung in die DDR) sowie (5) das Wendeerleben und das Leben nach der Wende. Bezog sich die Auswertung der Interviews zu diesem Projekt generell auf die Logik der Repression, soll hier nun dezidierter auf die Repressionen im Schatten der Grenze im Bezirk Magdeburg eingegangen werden. Immer wieder traten im Leben der Betroffenen Brüche auf, die mit der Mauer und dem Grenzregime eng verbunden waren. 3. Repression im Schatten der Grenze im Bezirk Magdeburg 3.1. Konsequenzen des Mauerbaus Die große Mehrheit der in der UHA Magdeburg-Neustadt inhaftierten politischen Gefangenen wurde auf Grund von echten oder vermeintlichen Delikten im Zusammenhang mit dem Grenzregime den Repressalien des MfS ausgesetzt.26 Staatssicherheit und Deutsche Volkspolizei (DVP) unterdrückten die „Republikflüchtlinge“ von 1954 bis 1968 auf der Grundlage des § 8 des Passgesetzes. Mit dem Strafgesetzbuch (StGB) von 1968 führte die SED dann den § 213 („ungesetzlicher Grenzübertritt“) ein. Da das Stel24  Vgl. Werner Seifert, Über das Weiterleben nach den Toden. Zur Psychologie der Opfer totalitärer Systeme, in: Klaus-Dieter Müller / Annegret Stephan (FN 20), S. 251–264, hier: S. 259 f. 25  Zur Bedeutung von historischen Zäsuren für individuelle Biographien und ihre Schilderung Christiane Lahusen, Umbrucherzählungen in Nachwendeautobiographien, in: BIOS 2 / 2010, S. 256–266, hier: S. 266. 26  Die Dauerausstellung wurde mit Mitteln des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Landes Sachsen-Anhalt erstellt. Das Zeitzeugenprojekt wurde von der Landeshauptstadt Magdeburg gefördert. Die folgenden Zahlen wurden von den Historikern Alexander Sperk, Daniel Bohse und Matthias Ohms im Rahmen der Einrichtung der neuen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg erhoben. Für die Möglichkeit, die Daten in diesem Aufsatz zu verwenden, sei ihnen an dieser Stelle herzlich gedankt.



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len eines Ausreiseantrages in der DDR legal war, nutzte das MfS verschiedene andere Vorwürfe, um sie zu verfolgen: „Staatsfeindliche Hetze“ (§ 106 StGB), „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ (§ 214 StGB) sowie „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ (§ 219 StGB). Die Untersuchung der Repression von Flüchtlingen und Ausreiseantragstellern bleibt unvollständig, wenn nur das MfS analysiert wird. Die meisten Republikflüchtlinge wurden von der DVP verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. In den späteren 1970er und den 1980er Jahren wurden ca. 80 Prozent der „Grenzverletzer“ von der DVP festgenommen. Dennoch bildete die Verfolgung von Flüchtlingen ab den 1970er Jahren den Schwerpunkt der Arbeit der Abt. IX (Untersuchungsorgan, dem auch die Vernehmer in der Untersuchungshaftanstalt angehörten). Rund 65 Prozent aller zwischen 1975 und 1989 bearbeiteten Fälle der Abt. IX der BVfS Magdeburg sind dieser Deliktkategorie zuzurechnen. In den ersten neun Monaten des Jahres 1989 betrug dieser Anteil sogar 91 Prozent. Etwa 12 Prozent dieser Fälle gingen auf die §§ 106, 214 und 219 StGB zurück, wobei es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Ausreiseantragsteller gehandelt hat. Der regio­ nale Bezug zum Bezirk Magdeburg wird dadurch deutlich, dass „Grenzverletzungen“  /  „Republikfluchten“ vorwiegend an der innerdeutschen Grenze im Bezirk Magdeburg stattfanden,27 Schicksale von ehemaligen politischen Häftlingen geschildert werden, die meist aus dem Bezirk Magdeburg stammen, und diese in der UHA Magdeburg-Neustadt im Bezirk Magdeburg inhaftiert waren. Das Bewusstsein im Schatten der Grenze zu leben, war vor allem seit dem Bau des so genannten „antifaschistischen Schutzwalls“ am 13. August 1961 sehr ausgeprägt. Dieser stellt buchstäblich eine Zementierung der Teilung der beiden deutschen Staaten dar, die unüberwindlich und undurchlässig schien. In den Interviews wird der Mauerbau als ein plötzliches und nicht erwartetes Ereignis dargestellt, welches von heute auf morgen geschah. „Und meine Frau, damals warn wir noch verlobt, wir waren an der Ostsee und hörten dann aufm Zeltplatz morgens um sechs, „antifaschistischer Schutzwall errichtet in Berlin“. Also wir haben unsere Sachen gepackt, sind nach Berlin zurück, denn Borsigstraße ist ja ganz dicht an der Mauer! Und es war – schrecklich. Hm, es waren ja Semesterferien eigentlich, ein paar waren gekommen und, weil keiner wusste, was passiert jetzt. Die Menschenmassen links und rechts der Mauer, Ost und West, und dann immer mal ein LKW die Massen abgefahren, ja? auf Ostseite, und dann haben sie so Sichttücher gespannt, damit die sich nicht sehen sollten, und nachts immer dieses Geratter aus der MPi, wenn da Leute abhauen wollten. 27  Mehr als ein Drittel der in der UHA Magdeburg-Neustadt inhaftierten Untersuchungshäftlinge, denen Republikflucht vorgeworfen wurde, hatten versucht über einen anderen Staat des Warschauer Vertrages zu fliehen.

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[…] Und ich hatte in diesen Tagen angefangen, Tagebuch zu schreiben. Äh, hatte auch was gemalt, das Bild steht immer noch auf dem Boden, äh es war also – beklemmend.“ (Herr K.)

Der Bau der Mauer führte zur Trennung von Familien und Angehörigen, Freunden, Kommilitonen, zur enormen Einschränkung der eigenen Freiheit der Menschen in der DDR sowie zur Ohnmacht bei einer Vielzahl der DDR-Bürgern und dem Gefühl dem Staat ausgeliefert und in ihm eingesperrt zu sein. Im Folgenden möchten wir der Frage nachgehen, welche Bedeutung die Grenze im Rahmen individuellen Erlebens politischer Verfolgung und Repression in der Region und im Bezirk Magdeburg hatte und wie diese biographisch rückgebunden werden. Dabei gehen wir chronologisch vor, indem wir uns auf die eben erwähnten Lebensabschnitte der Interviews beziehen und sie mit den „Grenzerfahrungen“ sowie Repressionen gegenüber den Zeitzeugen in Beziehung setzen. 3.2. Elternhaus und Erziehung im Elternhaus Wie bereits erwähnt war eine wesentliche Grenzerfahrung mit dem Bau der Mauer die Trennung von Familien. Damit wird der Mauerbau zu einer Zäsur, nicht nur im kollektiven Gedächtnis, sondern auch in dem der Familien. Besuche von Verwandten in Westdeutschland waren vor dem 13. August 1961 mit Genehmigung noch ungehindert möglich. „Man lebte ja hier äh praktisch immer in der Hoffnung, dass sich die Zeiten mal ändern. Man konnte ja bis 1961 noch in den Westen fahren, was wir auch immer taten. Wir haben unsere ganzen Sommerferien immer im Westen verbracht. Meine Mutter hatte dort noch n Haus an der Mosel, wo ihre Eltern herstammten. […] Es war ja auch so bis zum Mauerbau 1961 noch relativ freizügig.“ (Herr E.)

Diese Normalität, z. B. als DDR-Bürger in Ostberlin mit Westberlinern noch 1961 zusammen studieren zu können, war praktisch über Nacht nicht mehr existent. Nun waren viele Familien in der DDR damit konfrontiert, dass es – mit Ausnahme von einer gefährlichen Flucht oder einem mit hohen Risiken verbundenen Ausreiseantrag – keine Alternative mehr zu einem Leben in der DDR gab. Viele Zeitzeugen konnten sich, auch aufgrund ihrer Erziehung im Elternhaus, nie mit dem Staat identifizieren und gingen zunächst in eine mehr oder weniger offene Distanz, die später u. a. zur Republikflucht führte. „Für uns war Deutschland immer eins gewesen. Ich hab mich nie als DDR-Bürger gefühlt. Das kam für uns überhaupt nicht in Frage, ja. Und mit Sozialismus hatten wir ohnehin nichts am Hut. […] Man konnte nach Westberlin rüber. Man wusste, wenn es hier zu arg wird, dann geht man. Für immer. Die Möglichkeit hatte man,



Individuelle Schicksale und erlittene Repression137 die Tür war offen. Das war überhaupt auch der Grund, weshalb meine Eltern hier blieben, obwohl wir jedes Jahr, wie gesagt in den Osterferien, Sommerferien, im Westen waren und jedes Jahr mein Vater den innerlichen Kampf vollzog: bleiben wir oder gehen wir?“ (Herr E.) „Diese zweigleisige Erziehung der Kinder. Das war eigentlich auch schlimm in dieser Zeit. Das war unser total westlich geprägter Haushalt. Wir waren ja für diesen Staat völlig falsch erzogen. Wir mussten zwar hier leben, aber das, was bei uns die Lebensart zu Hause war und die ganze Einstellung, die war natürlich völlig falsch.“ (Herr K.)

Immer wieder sprechen die Zeitzeugen das Leben in „zwei Welten“ an: zum einen die Familie, in der man seine Einstellungen zum Staat offen äußerte, und zum anderen der öffentliche Bereich außerhalb der Familie, in dem man vorsichtig agierte und eigene Meinungen zurückhielt. „Was uns begleitet hat ist diese Differenzierung anzustellen bei Leuten, die man kennenlernte oder die man schon kannte in Staatsfreunde, Staatsfeinde, Gesinnungsleute. Das musste man ganz klar wissen, weil der Gefahren waren wir uns ja schon als Kinder bewusst, was passieren kann, wenn man was Falsches sagt.“ (Herr E.)

3.3. Schule und Ausbildung Diese lebensweltliche Trennung hatte weitreichende Konsequenzen für Kinder, die in ihren Familien nicht gemäß dem Bildungsideal der „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ staatskonform erzogen wurden. „Ich war, also ich wurde auch sehr aufsässig, fiel dann auch durch Äußerungen in der Schule auf, die so gar nicht zu dem Bild der Familie, das meine Eltern darstellen wollten, passte und fiel dadurch auf. Dazu kam, dass ich dann Mitte der 60er Jahre anfing mich für Beatmusik zu interessieren, was der SED ein sehr großes Dorn im Auge war, vor allen Dingen als dann Ende der 60er Jahre die ersten Jugendlichen anfingen sich lange Haare wachsen zu lassen. Das war ein sehr großes Politikum.“ (Herr Kl.)

So berichten in Schulen „auffällig“ gewordene Kinder, konfessionell erzogene Kinder, „Kapitalistenkinder“ und „Intelligenzlerkinder“ von frühzeitigen „Grenzerfahrungen“ in der DDR. Als Nicht-Arbeiter- und Bauernkinder wurden sie von weiterführenden Bildungsgängen, z. B. Abitur, Studium oder Promotion ausgeschlossen. Die eigene Zukunftsfähigkeit geriet zunehmend in Gefahr, es kam zu staatlich auferlegten Einschränkungen der Selbstverwirklichung in der DDR und schließlich zum Wunsch, die DDR – per Flucht oder Ausreiseantrag – verlassen zu wollen.

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3.4. Inhaftierungsgrund: Republikflucht Von den befragten 40 Zeitzeugen wurden insgesamt 16 wegen des Versuchs der Republikflucht, dem Kontakt zu Fluchthelfern oder der Beihilfe zur Flucht zu Haftstrafen verurteilt.28 Häufig versuchten alleinstehende Männer ohne Kinder und Jugendliche (ab 13 Jahren!) zu flüchten. „Ich wollte nach Westdeutschland abhauen um dann nach Österreich zu gelangen. Ja das erste Mal war 1962 / 63, da haben sie mich dann zu einem Jahr Jugendwerkhof verurteilt und haben mich dann aber über ein Jahr warten lassen, ehe ich die Strafe antreten sollte. […] So und naja, wie ich dann morgens da antreten sollte in Eilenburg, da waren wir schon wieder auf Achse Richtung Grenze. Und dann haben sie mich da gegriffen und da war ich dann der Rädelsführer und da habe ich dann ein Jahr und acht Monate bekommen, und naja schuld haben natürlich wieder die Eltern gekriegt.“ (Herr R.)

Das Risiko, dass ganze Familien über die Grenze flüchten, wurde aufgrund der Angst um Frau und Kinder als zu hoch eingeschätzt. Dies führte dazu, dass Familien vorwiegend Ausreiseanträge stellten. Die Befragten versuchten meistens über Marienborn29, aber auch über Halberstadt, Walbeck oder Ilsenburg über die Grenze in die Bundesrepublik zu flüchten. Ein Zeitzeuge wurde auf der Fahrt an die Ostsee bei Grevesmühlen gestoppt und inhaftiert; ein anderer schildert sehr eindringlich die Fluchtsituation und Gewalt seitens der Grenzsoldaten, die auf ihn schossen: „Ich kannte das ja alles überhaupt nicht, das Grenzgebiet war ja Sperrgebiet! Wo da das erste Häuschen steht, da ist dann schon der erste Posten drin, so drei, vier, fünf Kilometer davor und wenn dem irgendwas spanisch vorkommt, dann gibt der schon ein Signal nach hinten. Ich weiß nicht, ob der ein Signal gegeben hatte. Jedenfalls habe ich den Gert dann ins Bett geschickt, nach hinten, muss ja nicht sein, dass wir da alle beide als Zielscheibe sitzen! Es ging einen Berg runter, da hast du das Objekt so vor dir gesehen. Da war dann eine Militärspur, also da stand Military drauf, und dann habe ich mir gesagt, ‚die Militärspur wird frei sein, da werden keine Panzer im Gegenverkehr sein, fahren wir da mal durch!‘ Das hat auch einigermaßen geklappt, aber dann habe ich gesehen, wie alle Ampeln auf rot sprangen und alle Schlagbäume gingen runter. […] Ich habe die Fahrertür aufgemacht und bin ausgestiegen! […] Leuchtspurmunitionsspuren gesehen und dann habe ich zu ihm gerufen ‚G., bleib’ stehen, die schießen uns ab wie ein paar Hasen!‘ und er hat das dann auch gemacht, und ist auch stehen geblieben. Ich hatte inzwischen einen Unterschenkeldurchschuss, da kriegst du den Fuß nicht mehr hoch. Und das war ein Durchschuss, einen Zentimeter am Knochen vorbei. 28  Damit entspricht ihr Anteil ungefähr dem Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtzahl der in der UHA Inhaftierten. 29  Die Forschungen von Alexander Sperk und Daniel Bohse haben ergeben, dass es mehr Personen gelang, in PKW oder LKW die DDR über die GÜSt Marienborn zu verlassen als bisher angenommen.



Individuelle Schicksale und erlittene Repression139 G. hatte einen Streifschuss am Rücken! Das habe ich aber vor zwei / drei Jahren erst erfahren. Dann haben sie uns an Ort und Stelle verhaftet.“ (Herr F.)

Einige der hier befragten Zeitzeugen wollten über Ungarn nach Österreich, über die ČSSR in die BRD und über Bulgarien nach Jugoslawien flüchten. Der Grund lag in der Einschätzung der innerdeutschen Grenze als „gefährliche Grenze“: „Ungarn, (die Grenze) ist ja nicht so zugenagelt gewesen wie hier im Harz und so, ne“ (Frau B.). 3.5. Die Untersuchungshaft beim MfS „Ich hieß plötzlich nicht mehr S. oder K-G S., ich hieß plötzlich 1. Die Zelle 1. 17 / 1“ (Herr W.). In der Haft waren die Häftlinge einer permanenten Depersonalisierung seitens der Staatssicherheit ausgesetzt, die zur Veränderung und zum Verlust der eigenen Persönlichkeit führte, bis zur Entfremdung. „Diese Welt da draußen die wurde immer weniger. Man wusste gar nicht wie sieht eine Straße aus, da fährt ne Straßenbahn, die Kinder hörten wir von der Schule“ (Frau K.). Die „neue Welt“ in der Haft war demnach für die Häftlinge nicht nur eine andere als zuvor, vielmehr eine vorher nicht gekannte, nicht für möglich gehaltene. „Dieses große Tor und ich hab irgendwie gedacht: Jetzt ist irgendwie alles, alles vorbei“ (Herr H.). Die ­ Häftlinge wurden in der UHA Magdeburg-Neustadt, wie auch in anderen, nicht wie soziale Wesen behandelt, sondern bewusst entsozialisiert. „Man hat halt versucht, die Menschen physisch zu brechen“ (Herr S.) und „meine Persönlichkeit zerstören [zu] wollen. Man hat also ganz besonderen Wert darauf gelegt, mir das Leben ganz böse, schwer zu machen und zu zeigen, wer hier der Mächtigere ist“ (Herr F.). „Sie waren richtig Staatsfeinde, ja Staatsfeinde waren wir ja nun mal, gegenüber dem System jetzt da, und haben mit Verachtung, haben die uns richtig wir wurden richtig verachtet wurden wir von denen. Menschen vielleicht dritter oder vierter Klasse, oder nicht mehr Menschen. Da waren Hunde vielleicht besser dran. Wie sie uns in die Enge getrieben haben oder gedrückt haben, so seelisch.“ (Herr B.)

3.6. Das Leben nach der Haft Die Grenze stellt im Gedächtnis vieler Zeitzeugen eine unüberwindbare Mauer dar, die aus politischen Gründen persönliche Schicksale nachhaltig prägte. Sie wurde für einige Zeitzeugen aber auch zum Synonym für Freiheit. Dies betraf noch vor dem Fall der Mauer 1989 ehemalige politische Häftlinge, die durch Freikauf der Bundesrepublik über die Grenze nach Westdeutschland ausreisten. „Wir sind in Richtung Grenze zur Bundesrepublik gefahren und mussten da umsteigen. Und kurz vor der Grenze ist dann der Dr. Vogel auch ausgestiegen, der

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ist nicht bis zur Grenze mitgekommen, ja und da an der Grenze an so einem Feldweg, da stand dann schon ein erleuchteter, hell erleuchteter West-Bus, da sind wir umgestiegen mitten in der Nacht und sind dann mit diesem West-Bus auf die Grenze zu. Und da hab ich gedacht, kann ja jetzt nicht sein, du fährst hier jetzt einfach über die Grenze und es war tatsächlich so. Wir sind auf den Grenzübergang zu gefahren, der Busfahrer hat nur kurz dem DDR-Grenzbeamten zu gewunken und denn, wir haben nicht mal angehalten. Da habe ich gedacht, kann doch jetzt nicht wahr sein, ne. Also das war unvorstellbar und jetzt waren wir im Westen.“ (Frau K.)

Anderseits wurden von Familien, die inhaftiert waren, nach der Haft und der gescheiterten sozialistischen „Wiedereingliederung“ Ausreiseanträge gestellt. „Bis wir uns dann entschlossen haben, aufgrund vieler Querelen, die vor allem mein Mann im Betrieb hatte, und die Kinder, M. mit seinem Fortkommen in der Schule, und wir haben dann gesagt, also das ist keine Zukunft für unsere Kinder, das ist auch für uns nicht das, wir gehen. Wir stellen einen Ausreiseantrag und gehen. Und das haben wir dann auch getan. […] Als dann [bei der Ausreise] die Kontrollen [an der Grenze im Zug] losgingen, das war also ein innerliches Erdbeben. Man wusste ja nie, klappte das jetzt, man hatte so das Gefühl – hoffentlich – man hat alles versucht richtig zu machen, aber wenn die was finden wollen dann haben sie was gefunden. Und wir waren also heilfroh und erleichtert als die wieder rausgingen und noch mehr erleichtert als der Zug wegfuhr. […] Also das war, ein Geschenk, das man weiterfahren durfte. Ja und wir waren dann auf westdeutschen Grund.“ (Frau V.)

3.7. Mauerfall und Grenzöffnung in Ost und West Interessant ist auch die Wahrnehmung der Grenze zum Zeitpunkt des Mauerfalls am 9. November 1989. So erinnert sich ein Zeitzeuge, der wegen Kontakten zu Fluchthelfern zu 3 ½ Jahren Haft verurteilt, und durch die Bundesrepublik freigekauft wurde: „Ich muss sagen, es war für mich ein dermaßen großer Freudentag der 9. November. Ich bin sofort nach Berlin gefahren ’n paar Tage später, äh, es ging nicht sofort am 10. Ich bin durchs Brandenburger Tor. Damals waren noch Einreise, Ausreise getrennt. Ich hatte ja eine Einreissperre. Ich hatte meinen Pass vorgelegt und bin rüber gelaufen. So, und da stand die Vopos noch da und die Grenzer. Und ich muss sagen, alleine für diesen Moment hatte es sich gelohnt, zu leben. So, das hat mich unheimlich berührt.“ (Herr E.)

Nach der Öffnung der Grenze begegneten sich Familien, deren Angehörige aus der DDR ausgewiesen und durch die BRD freigekauft wurden oder per Ausreise die DDR verließen, nach mehreren Jahren oder Jahrzehnten das erste Mal. Viele Zeitzeugen, die vor 1989 der DDR den Rücken kehrten, kamen Jahre nach der Grenzöffnung in ihre Heimat zurück.



Individuelle Schicksale und erlittene Repression141

4. Grenzerfahrungen Mauerbau, Grenzregime und Grenzsicherung sind für alle hier interviewten Zeitzeugen zentral für ihr Leben gewesen. Die Abschottung der DDR zeigte ihnen, dass sie ihr Leben in der DDR nicht freiheitlich und selbstbestimmt leben durften. Sie beschreiben die innerdeutsche Grenze als unüberwindbar und gefährlich. Dieser Gefahr stellte sich eine Vielzahl von Befragten durch Fluchtversuche bzw. das Beantragen der Ausreise. Dies hatte staatliche Repressalien – von der Zersetzung bis zur Haft – sowohl gegen den Einzelnen als auch gegen seine gesamte Familie zur Folge. Die Republikflucht bzw. Ausreiseanträge aus der DDR wurde vor allem von jenen Bürgern versucht bzw. gestellt, bei denen der Aspekt der Zukunftsfähigkeit in der DDR biographisch durch die Verwehrung von Grundrechten, systematische Verfolgung und Repressionen eingeschränkt oder gar nicht mehr gegeben war. Folglich ist die Grenzerfahrung in Verbindung mit den Repressionen des Staates (entsprechend des Lebensalters des Befragten) im Bewusstsein der Zeitzeugen bereits seit der Kindheit präsent und prägt deren gesamte Biographie in Ost wie West. Es ist also nicht der Flüchtling oder Ausreiseantragsteller, der mutwillig ein hohes Risiko in Kauf nimmt, sondern die Abschottung der DDR und das willkürliche, alle Bereiche der Gesellschaft durchziehende Grenzregime, welches den weiteren Verbleib in der DDR unerträglich erscheinen ließ. Deutlich wird auch, die Interviewten wussten zwar, dass das „illegale Verlassen der DDR“ gefährlich war und dass das MfS nicht nach rechtsstaatlichen Prinzipien handelte. Die konkreten Gefahren an der Grenze waren aber vielen auf Grund der umfangreichen Sicherungsmaßnahmen nicht bekannt. Vor allem konnten die meisten politischen Gefangenen nicht ahnen, welche verheerenden psychischen Auswirkungen die Untersuchungshaft des MfS haben konnte.

Die Gedenkstätte Berliner Mauer – die doppelte ­Erinnerung an Teilung und Einheit Von Manfred Wilke 1. Die Symbolik der Berliner Mauer Anlässlich eines Staatsaktes in Erinnerung an den 50. Jahrestag des Mauerbaus wurde der zweite Bauabschnitt der Gedenkstätte „Berliner Mauer“ in der Bernauer Straße durch den Bundespräsidenten Christian Wulff feierlich der Öffentlichkeit übergeben. Die Berliner Mauer ist – weltweit wahrgenommen – das zentrale Symbol der deutschen Teilung und ihrer Überwindung in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989. Mit dieser Mauer verbinden die Deutschen sehr gegensätzliche Gefühle: die Ohnmacht, diesen Gewaltakt des SED-Regimes gegen das eigene Volk hinnehmen zu müssen, den Zorn über das persönliche Leid getrennter Familien in Berlin, die Trauer über die Toten, die an ihr gestorben sind, den Schmerz über die Teilung Deutschlands und an ihrem Ende 1989 die Freude über ihren Fall. 28 Jahre lang seit dem 13. August 1961 war diese „Grenzbefestigung“ das augenfällige Zeugnis für die Realität der Teilung der Stadt, des Landes und Kontinents. Die Mauer war nicht nur eine innerdeutsche Grenze, sondern auch eine Außengrenze des sowjetischen Imperiums, und ihr Fall sollte sein Ende und das der Sowjetunion beschleunigen. Die Nacht vom 9. zum 10. November war ein Moment der Befreiung und veränderte die symbolische Bedeutung des nun zerfallenden Bauwerks: Es stand jetzt für das Ende des Kalten Krieges und den Untergang des sowjetischen Kommunismus. Ihr Fall leitete das Ende des SED-Staates und der 44-jährigen deutschen Teilungsgeschichte ein. Damit verkehrte sich ihre Symbolik für die Deutschen grundlegend. Ihr Fall überstrahlte die dunkle Seite ihrer Geschichte, ihr Fall symbolisierte die Wiedervereinigung Berlins, Deutschlands und Europas. Die nationale Bedeutung der Gedenkstätte steht deshalb ebenso außer Frage, wie ihre internationale Bedeutung als Symbol des Kalten Krieges und seines Endes. Die weltweit verbreiteten Bilder des Volksfestes im November 1989, als Menschen auf der Mauer tanzten, wurde zur Metapher für die Befreiung von diktatorischer Zwangsherrschaft. Die Bilder der Freude von 1989 standen im krassen Kontrast zu den erschütternden Szenen, deren Bilder eben-

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falls um die Welt gegangen waren. Unvergessen sind die Fotos vom öffentlichen Sterben Peter Fechters 1962 an dieser tödlichen Grenze. Die Toten an der Mauer erinnern an die dunkle Seite ihrer Geschichte und bezeugen bis heute die Entschlossenheit der SED-Diktatur, ihre Macht auch mit Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu behaupten. Der SEDStaat hatte den „ungesetzlichen Grenzübertritt“ als „Republikflucht“ unter Strafe gestellt. „Republikfluchten“ zu verhindern war die Zwecksetzung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. Die Grenztruppen hatten Befehl auf Flüchtlinge zu schießen, um deren „Grenzdurchbruch“ zu unterbinden. Damit unterschieden sie sich von Mauern und Grenzen in der Welt, die sich gegen Bedrohungen von außen zu richten pflegen. Die 44 Kilometer lange innerstädtische Mauer, der 111 km lange Außenring um West-Berlin und der ca. 1400 km lange Zaun an der innerdeutschen Grenze richteten sich explizit gegen die Bevölkerung der DDR. Die symbolische Bedeutung der Mauer bleibt historisch ambivalent und untrennbar verbunden mit zwei Zäsuren in der deutschen und europäischen Politik: 1961 befestigte ihr Bau weltpolitisch den Status Quo der deutschen Zweistaatlichkeit und trug so zur „Entspannungspolitik“ zwischen Ost und West bei. 1989 dagegen bedeutete ihr Fall das Ende der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands. Sieht man auf das Ende der Mauer, überstrahlt heute die Symbolik der Befreiung jene der Repression und des Schreckens, die die Wahrnehmung einer ganzen Generation beherrscht hatte. 2. Vom Berliner „Mauervergessen“ zur Gedenkstätte von nationaler Bedeutung 2.1. Das „Mauervergessen“ Das wiedervereinigte Berlin hat die Mauer, die von 1961 an die Stadt geteilt hatte, nach 1990 rasch aus dem Stadtbild getilgt. Ein vergleichbarer Vorgang fand 200 Jahre zuvor in Frankreich statt, als die Bastille abgetragen wurde. „Auch im Fall der Bastille symbolisierte die Überwindung des Bauwerks, dass ein ganzes Herrschaftssystem in die Brüche gegangen war.“1 Leo Schmidt sieht eine weitere Parallele, sowohl in Paris 1789 als 1  Leo Schmidt, Vom Symbol der Unterdrückung zur Ikone der Befreiung. Auseinandersetzung, Verdrängung, Memorialisierung, in: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hrsg.), Die Berliner Mauer. Vom Sperrwall zum Denkmal, Bonn 2009, S. 169–186, hier: S. 176.



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auch in Berlin 1989 / 90 „wollte jeder ein Stück des vorher so verhassten Bauwerks besitzen“2. Der Abriss beider „Zwingburgen“ sollte auch den revolutionären Sieg über Absolutismus und Diktatur besiegeln. Schmidt misst diesem Vorgang in Berlin noch eine andere Bedeutung zu: für ihn war es der Versuch, „das Trauma der Mauer durch die Vernichtung des Instruments zu heilen, mit dem das Trauma zugefügt worden war“. Das konnte nicht funktionieren: „Heute verspüren gerade diejenigen, die unter der Mauer gelitten haben, das Dilemma, dass sie der inzwischen herangewachsenen neuen Generation und auch den auswärtigen Besuchern das Unterdrückungsbauwerk der ‚Mauer‘ zeigen möchten, dass aber die erhaltenen Fragmente aus sich heraus nicht genügen, die repressive Macht der Mauer zu vermitteln.“ In Berlin standen die Jahre nach 1990 im Zeichen des „Mauervergessens“ durch die Politik; zugleich wuchsen die Bedingungen für den Aufbau der Gedenkstätte „Berliner Mauer“. Eine weichenstellende Entscheidung fiel in Bonn. Der 13. Deutsche Bundestag beauftragte 1995 seine Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit“ damit, Gedenkstätten von nationaler Bedeutung zu bestimmen, die der Bund künftig in den Bundesländern dauerhaft mitfinanzieren sollte. Der Bundestag verabschiedete diese Empfehlung der Kommission für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Damit war die finanzielle Voraussetzung für den Aufbau der Gedenkstätte Berliner Mauer geschaffen, und in ihren Empfehlungen hatte die Kommission auch die Erinnerungsorte für die innerdeutsche Grenze und die Berliner Mauer berücksichtigt. 2.2. Das Ringen um eine Gedenkstätte Die Frage an die Stadt und ihre Politiker, wie viel Mauer zur Erinnerung für die Nachgeborenen bewahrt werden solle, fand in der Euphorie über das wieder vereinigte Berlin in den ersten Jahren nach 1990 kein Gehör. Die Denkmalschützer als Anwälte dieser Erinnerung erlitten in der allgemeinen Abrissfreude eine Niederlage. Sie konnten zwar die Grenzbefestigung in der Bernauer Straße als nationales Monument unter Schutz stellen, aber sie scheiterten mit der konsequenten Durchsetzung dieser Entscheidung. Das zähe Ringen um eine Gedenkstätte als Kristallisationspunkt für die Erinnerung an die Teilung der Stadt begann nach dem Abriss der Mauer. 1991 im zweiten Jahre der wiedervereinigten Stadt und 30 Jahre nach dem Mauerbau, fasste der Berliner Senat der Großen Koalition zwischen CDU und SPD den Beschluss, in der weitgehend geschleiften Bernauer Straße 2  Ebd.

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eine „Erinnerungs- und Gedenkstätte Berliner Mauer“ zu errichten.3 Bund und Land einigten sich, die Bernauer Straße zum zentralen Ort „des Gedenkens an die Berliner Mauer zu machen“4. Es vergingen dann aber noch acht Jahre, bis das Dokumentationszentrum zur Gedenkstätte 1999 eröffnet werden konnte. Allen Bemühungen der Berliner Politik, der Erinnerung an die Mauer einen Ort zu geben, haftete in diesem ersten Jahrzehnt nach 1989 etwas Halbherziges an. Ein Hauptgrund hierfür lag sicher in den zwischen Ost und West gespaltenen Erinnerungen an die Teilung Berlins und dem politischen Gewicht, das die SED-Fortsetzungspartei in der Stadt und ihren Bezirken hatte. Aber auch der Streit zweier Kirchengemeinden blockierte den Aufbau einer Gedenkstätte. Die Versöhnungsgemeinde auf der west­ lichen Seite der Bernauer Straße, deren Kirche 1985 im Grenzstreifen gesprengt wurde, ihr Pfarrer Manfred Fischer unterstützte das Gedenkstättenprojekt von Anfang an. Die angrenzende östliche Sophiengemeinde suchte dagegen „das Projekt grundsätzlich zu verhindern“5. Ausgerechnet die Koalition zwischen SPD und PDS 2001 brachte Bewegung in diese Sache. Die Koalition mit den Postkommunisten war für die SPD mit zwei großen historischen Hypotheken belastet. Die eine betraf die Zwangsvereinigung der SPD in der sowjetischen Besatzungszone mit der KPD zur SED 1946. Die andere war die Verantwortung der SED für die Mauer. Erstmals nach dem Fall der Mauer fand das Thema auch Eingang in eine Koalitionsvereinbarung und in ein Regierungsprogramm. Der erste rot-rote Senat setzte sich 2001 ausdrücklich zum Ziel: „Die gesamte Konzeption zum Umgang mit den Mauerresten und ehemaligen Grenzanlagen ist weiter zu entwickeln und umzusetzen. Die Arbeitsfähigkeit des Dokumentationszentrums Berliner Mauer der Bernauer Straße ist dauerhaft zu sichern.“6 Den Worten folgten Taten. Um eine planerische Grundlage für das Gesamtkonzept Berliner Mauer zu bekommen, beauftragte der Berliner Senat Leo Schmidt von der BTU Cottbus mit der Erfassung und Dokumentation der noch vorhandenen Mauerreste.7 Das Dokumentationszentrum wurde ausgebaut. „Zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 konnte der Ausbau des Dokumentations3  Thomas Flierl, Gedenkkonzept Berliner Mauer, Manuskript, vorgelegt am 18. April 2005, S. 7. 4  Ebd., S. 9. 5  Helmut Trotnow, Auch die Mauer an der Bernauer Straße wäre fast abgerissen worden, in: Der Tagesspiegel vom 3. August 2011. 6  Rainer Klemke, Das Gesamtkonzept Berliner Mauer, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 377– 393, hier: S. 378. 7  Vgl. Axel Klausmeier / Leo Schmidt, Mauerreste-Mauerspuren, 3. Aufl., Berlin /  Bonn 2004.



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zentrums abgeschlossen und eine neue Aussichtsplattform eröffnet werden.“8 Das Regierungsprogramm von 2001 war ein deutlicher Bruch mit der Politik der von Eberhard Diepgen (CDU) geführten Großen Koalition mit der SPD in Berlin. Als der rot-rote Senat sein Gedenkstättenkonzept 2005 vorlegte, war die Schuldzuweisung für das „erinnerungspolitische Versagen“ der Vorgängerregierung eindeutig. Für den „nahezu vollständigen Abriss der Berliner Mauer“ sowie den desolaten Zustand des Dokumentationszentrums in der Bernauer Straße war nun allein die CDU verantwortlich. Er war das „Ergebnis einer Politik, die mehr als ein Jahrzehnt auf Landes-Bundesebene von der CDU dominiert wurde“9. 2.3. Das Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer Weitere Jahre vergingen, bis Öffentlichkeit und Politik in Berlin durch eine gelungene Provokation 2004 die Lücke vorgeführt wurde: in der Stadt gab es keinen Ort, der an die schmerzhafte Teilung erinnerte. Das Museum „Haus am Checkpoint Charlie“ errichtete an der Berliner Friedrichstraße ein Mahnmal für die Toten an der innerdeutschen Grenze. Es bestand aus einem 144 m langen Stück rekonstruierter Grenzmauer und 1065 Holzkreuzen für namentlich bekannte Tote der innerdeutschen Grenze. Der von Klaus Wowereit (SPD) geführte Senat und die SPD-PDS Koalition verurteilten diese „Aktionskunst“ scharf. Besucher und Vertreter der Opferverbände begrüßten sie und brachten ihre Erleichterung zum Ausdruck, dass endlich mitten im Zentrum demonstrativ der Mauertoten gedacht wurde. Die Provokation fand in den Medien ein großes Echo und sie wirkte: Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus allen Parteien außer der PDS forderten in einer Resolution, die Gedenkstätte Bernauer Straße auszubauen. Die Bundesregierung und das Land Berlin wurden aufgefordert, bis zum 13. August 2005 ein Rahmenkonzept vorzulegen. Der Bundestag beschloss den Antrag am 30. Juni 2005. „Die Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, und des Forschungsverbundes SED-Staat, Manfred Wilke, hatten bereits Ende November 2004 Vorschläge für einen Gedenkstättenkonzept der Öffentlichkeit übergeben und auch dem Senat zugeschickt. Darin forderten sie eine Bestandsaufnahme, unterbreiteten einige Vorschläge und verlangten von Senat und Kulturverwaltung, alle Beteiligten an einen Tisch bringen.“10 8  Gabriele Camphausen / Manfred Fischer, Die bürgerschaftliche Durchsetzung der Gedenkstätte an der Bernauer Straße, in: Klaus-Dietmar Henke (FN 6), S. 355–376, hier: S. 374. 9  Zitiert nach: Carola S. Rudnick, Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S. 640. 10  Rainer Klemke (FN 6), S. 381.

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Die öffentliche Diskussion und der Druck des Bundestages hatten in Berlin Folgen, unter Leitung des Referatsleiters Rainer Klemke arbeitete in der Kulturverwaltung eine Arbeitsgruppe „Mauergedenken“ ein Konzept aus. Im April 2005 legte der Senator für Kultur und Wissenschaft, Thomas Flierl (PDS), den ersten Entwurf für das „Gedenkkonzept Berliner Mauer“ der Öffentlichkeit vor. Der Entwurf hatte auffällige Lücken; ausgeblendet wurden die politische Verantwortung der SED für den Mauerbau sowie der Auftrag der Staatspartei an die Grenztruppen, zu schießen, um Fluchtversuche zu verhindern. Der Entwurf war gleichwohl ein entscheidender Schritt nach vorn. Der Senat beabsichtigte, den „Schnitt durch eine ganze Stadt“11 wieder sichtbar werden zu lassen. In der anschließenden öffentlichen Diskussion um den Entwurf, wurden die Lücken geschlossen und der Entwurf in der Senatsverwaltung weiterentwickelt.12 Im September 2005 korrigierte die Berliner CDU in einem eigenen Eckpunktepapier zum Mauergedenken ihre bisherige Haltung. Kritisch merkte der Landesverband an, anders als beim Nationalsozialismus, „bei dem die Abgrenzung von den Tätern sowie die Würdigung der Opfer und des Widerstandes zu Säulen unserer politischen Kultur geworden sind, fehlt es für die Zeit der SED-Diktatur bis heute an einem in der Gesellschaft breit verankerten, demokratischem Geschichtsbild. Hier ist die Selbstverständigung der Öffentlichkeit noch nicht abgeschlossen und die teilungsbedingte Spaltung der Erinnerungen von den Erlebnisgenerationen noch nicht überwunden.“ Das Eckpunktepapier verstand sich als Beitrag „zur Entwicklung eines demokratischen Geschichtsbildes über die Teilung der Stadt“. Die Herausforderung für ein Konzept des Mauergedenkens in Berlin liegt in der „Verknüpfung der Stadtgeschichte mit der Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. An authentischen Orten sollten die Themen „Diktatur und Verfolgung, Flucht, Opposition und Widerstand, die die Auswirkungen auf den Alltag der gespaltenen Stadt, die Selbstbehauptung WestBerlins, der Berlin Politik der vier Mächte und der beiden Teilstaaten in Deutschland“ thematisiert werden und schließlich „der Fall des Schutzwalls der SED-Diktatur gegen das eigene Volk“13 dargestellt und gewürdigt werden. Das Eckpunktepapier der CDU war in der Sache eine nicht ausgesprochene Selbstkritik der Partei und ein Beitrag zum politischen Konsens zwischen der Opposition und den Plänen des Senats, der Erinnerung an die Teilung der Stadt eine Gedenkstätte zu errichten.

11  Thomas

Flierl (FN 3), S. 18. Rainer Klemke (FN 6), S. 386–390. 13  Landesverband der CDU Berlin, An Mauer und Teilung erinnern – der Toten gedenken, Manuskript, Berlin, 5. September 2005. 12  Vgl.



Die Gedenkstätte Berliner Mauer149

Am 20. Juni 2006 wurde die von Rainer Klemke erarbeitete Vorlage für das Gesamtkonzept „Berliner Mauer“ vom Senat beschlossen. Der Autor der Vorlage schreibt zutreffend: „Insgesamt muss es als eine seltene Gemeinschaftsleistung der beteiligten Gedenkstätten, Verwaltungen, Institutionen und der Fachwissenschaft gelten.“14 In seiner Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts hat der Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung im Juni 2008 zugesagt, auf Basis dieses Berliner Mauergedenkkonzepts vom 20. Juni 2006 sich am „Ausbau des Gedenkareals zur Teilungsgeschichte der Hauptstadt Berlin“ finanziell zu beteiligen. „Mit den finanziellen Vorkehrungen zum Erwerb von Grundstücken an der Bernauer Straße hat die Bundesregierung bereits große Anstrengungen unternommen, die Gedenkstätte zu einem Gedenkareal auszubauen, das den Schrecken des Grenzregimes deutlich macht.“15 Nach dieser Entscheidung des Bundes konnte der Ausbau der Gedenkstätte in der Bernauer Straße in Angriff genommen werden und „zum 50. Jahrestag des Mauerbau 2011 weitgehend termin- und kostengerecht“ umgesetzt werden. „In dem Gesamtkonzept“, schreibt Klemke, „manifestiert sich vieles zugleich: ein strukturierter Prozess der Selbstverständigung auf Landes- und Bundesebene darüber, wie im zweiten Jahrzehnts nach dem Fall der Berliner Mauer diese in den Erinnerungen wachgehalten werden soll; ein Abwägungsprozess des Wünschbaren und Machbaren; […] eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme an der einstigen Schnittstelle zwischen Ost und West; eine nachhaltige Erinnerungsstruktur an eines der einschneidenden Ereignisse der Stadtgeschichte, verknüpft mit anderen Gedenkstätten Berlins, eine angemessene Würdigung der Opfer der Berliner Mauer; eine analoge und virtuelle Vernetzung der Ereignisorte der Mauergeschichte, eine touristische Infrastrukturmaßnahmen, die der Erwartungshaltung der Gäste der Stadt Rechnung trägt, die in sehr hohem Maße aus zeitgeschichtlichem Interesse in die deutsche Hauptstadt kommen.“16 3. Gedenkstätten – Kristallisationskerne staatlicher Erinnerungskultur In Deutschland sind Gedenkstätten an die nationalsozialistischen Konzentrationslager und die Haftorte der SED-Diktatur Kristallisationskerne staatlich geförderter demokratischer Erinnerungskultur. Sie sollen dauerhaft an 14  Rainer

Klemke (FN 6), S. 391. durch den Beauftragten für Kultur und Medien, Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen, Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16 / 9875 vom 19. Juni 2008, S. 8. 16  Rainer Klemke (FN 6), S. 391. 15  Unterrichtung

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die beiden Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre Verbrechen erinnern und die Lehre unserer Geschichte an die Nachgeborenen weitergeben und wachhalten. Bedingt durch den Generationenwechsel entwickeln sie sich immer mehr zu Lernorten für Schüler und Studenten; ihre Ausstellungen haben auch museale Aufgaben für die historische Bildung des heutigen Publikums. Die Berliner Mauer hatte vor ihrem Fall als Symbol des Unrechts und der Unfreiheit eine eminente politische Bedeutung für die öffentliche Wahrnehmung der Teilung Deutschlands. Der amerikanische Politikwissenschaftler Gerald Kleinfeld17 hat ihren Stellenwert am Beispiel der amerikanischen Deutschlandpolitik im Mai 1989 deutlich hervorgehoben: „Für die Amerikaner ist die Mauer ein Symbol des Unrechts, der Menschenverachtung, der fortgesetzten Verletzung der Menschenrechte, vielleicht wichtiger als für manchen Westdeutschen und West-Berliner. Die USA sind hier aus nationalen Interessen, aber auch, weil es um politische Ideale geht. Dies ist genau der Punkt. Jede amerikanische Regierung tritt für das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes ein. Und die öffentliche Unterstützung dafür ist breit und tief. Als die Mauer 25 Jahre alt wurde, berichteten in den USA selbst Provinzzeitungen umfassend über Geschichte und Bedeutung dieses Monumentes.“18 Kleinfeld verknüpfte diese Feststellung über die öffentliche Bedeutung der Berliner Mauer in der amerikanischen Öffentlichkeit mit dem Bündnischarakter der amerikanischen Deutschlandpolitik. So seien ihre Beziehungen zur DDR von ihrem Bündnis mit der Bundesrepublik abgeleitet und würden nicht unabhängig davon behandelt. Seine Einschätzung der symbolischen Bedeutung der Mauer in der amerikanischen Öffentlichkeit erwies sich schon ein halbes Jahr später als zutreffend. Als die Mauer fiel, war ihre damalige politische Symbolik der Unfreiheit ein aktiver Faktor für die internationale mediale Rezeption der friedlichen Revolution in der DDR. Die fröhlichen Bilder vom Mauerfall erleichterten der Regierung von Helmut Kohl die internationale Durchsetzung der deutschen Einheit. Präsident George W. Bush und seine Administration haben sie nachhaltig im west­ lichen Bündnis und gegenüber der Sowjetunion unterstützt. Als die Berliner am 9. November 1989 die Mauer selbst öffneten, verwandelte sich auch ihre Symbolik schlagartig; ihr Fall war ein Sieg der Freiheit und des deutsche Einheitsstrebens. Aus dem Stadtbild ist die Berliner Mauer fast gänzlich verschwunden, trotzdem ist sie bis heute das weltweit berühmteste Bauwerk der DDR und 17  Er

war lange Jahre Direktor der German Studies Association. R. Kleinfeld, Beitrag zur Diskussion um „Die Zukunft Deutschland in einer sich wandelnden Welt“, in: Ilse Spittmann (Hrsg.), Von Weimar nach Bonn. Freiheit und Einheit als Aufgabe. Berliner Kongress, Mai 1989, Köln 1989, S. 92. 18  Gerald



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sehr wahrscheinlich auch der Stadt. 20 Jahre nach ihrem Fall „kommt alle Welt nach Berlin, um das Monstrum der Berliner Mauer wie einen erlegten Drachen zu inspizieren“19. Um im Bild zu bleiben: Ihre Panzerteile aus Beton sind als Monumente über die ganze Welt verstreut, in den Vereinigten Staaten von Amerika stehen sie u. a. in New York und Los Angeles. Dank der NASA trägt ein Gebirgszug auf dem Mars ihren Namen.20 Die weltweit verbreiteten Mauersegmente vermitteln darüber hinaus eine eindeutige Botschaft über ihre heutige Bedeutung. „Die Mauer als Symbol des Kalten Krieges, den der Westen gewonnen hat, sodass in einem Augenblick der Befreiung und Freude die Mauer überwunden wurde.“21 4. Der Auftrag der Gedenkstätte „Berliner Mauer“ – Teilungsgeschichte und das Gedenken an die „Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft“ Das Berliner Mauerstiftungsgesetz von 2008 mit der die „Stiftung Berliner Mauer“ konstituiert wurde, führte die „Gedenkstätte Berliner Mauer“ und die „Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde“ und ihre jeweiligen Fördervereine in einer gemeinsamen Gedenkstätte zusammen.22 Paragraph 2, Absatz 1 des Gesetzes bestimmt den Zweck der Gedenkstätte: sie soll „die Geschichte der Berliner Mauer und der Fluchtbewegungen aus der Deutschen Demokratischen Republik als Teil der Auswirkungen der deutschen Teilung und des Ost-West-Konflikts im 20. Jahrhundert“ dokumentieren und vermitteln. Sie soll die historischen Orte und authentischen Spuren bewahren und „und ein würdiges Gedenken der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft“23 ermöglichen. Diese Aufgabenstellung verknüpft die Geschichte der Mauer mit der der deutschen Teilung und des Ost-West-Konflikts. Das Gesetz erweitert damit das Paradigma des Diktaturenvergleichs in Deutschland, das die Gedenkstättenkonzeption des Bundes immer noch prägt. Das Mauerstiftungsgesetz führt eine neue Perspektive in die Erinnerungskultur ein: die Teilungsgeschichte mit ihren asymmetrischen innerdeutschen Beziehungen. Sie hebt 19  Axel Klausmeier, Ein Memorialort neuer Prägung, in: Deutschland Archiv 42 (2009), S. 892–900, hier: S. 893. 20  Vgl. Anna Kaminsky, Die Berliner Mauer in der Welt, Berlin 2009. 21  Leo Schmidt (FN 1), S. 184. 22  Gesetz über die Errichtung der Stiftung Berliner Mauer-Gedenkstätte Berliner Mauer vom 17. September 2008, in: Gesetz-und Verordnungsblatt für Berlin 64 (2008) 24, S. 250–252. 23  Ebd.

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das Paradigma des Diktaturenvergleichs nicht auf, die Erinnerung an die Opfer „kommunistischer Gewaltherrschaft“ bleibt eine Aufgabe der Gedenkstätte, erweitert es aber um die Dimension des Ost-West-Konflikts und der deutschen Teilung, ohne die die Vorgeschichte der Entstehung der SEDDiktatur in der DDR nach 1945 nicht zu erklären ist. Der Ambivalenz der Symbolik der Mauer, sowie ihrer nationalen und internationalen Bedeutung will Axel Klausmeier in der geplanten Ausstellung bewusst Rechnung tragen. Der Direktor der Gedenkstätte will die unverzichtbare Erinnerung an die Opfer der Mauer mit den anderen Dimen­ sionen ihrer Bedeutung verbinden. „Das Gedenkensemble thematisiert lokale, nationale und internationale Dimensionen der Berliner Mauer gleichermaßen.“ Wesentliche Aspekte sind für ihn die Schrecken des an der Mauer herrschenden Grenzregimes mit seinem Todesstreifen; die Versuche von Menschen, der Diktatur zu entkommen und in die Freiheit zu gelangen; der Ort, „der den Opfern Raum gibt und an dem das individuelle und nationale Gedenken an die Opfer von Mauer und Teilung seine würdige Form finden“; die Gedenkstätte, in der „auch die sehr stark divergierenden Ost- und West-Erfahrungen der Mauer gerade in Bezug auf den Alltag der Stadtbewohner sichtbar gemacht und zueinander in Beziehung gesetzt werden“; „die Freude über den Fall der Mauer und die friedliche Überwindung des SED-Regimes wie auch der deutschen Teilung“24. In der Erinnerung an die Opfer der Berliner Mauer in der Versöhnungskapelle, die auf dem Fundament der 1985 von der DDR gesprengten Versöhnungskirche steht, wird die Ambivalenz der Symbolik der Mauer seit Jahren zum Ausdruck gebracht. Es ist der Ort, an dem der Toten der Mauer gedacht wird. Die Andacht endet mit Psalm 126, in dem es heißt: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Nach Klausmeiers Vorstellung muss in der Ausstellung der Gedenkstätte auch die Freude über den Fall der Mauer und die friedliche Überwindung des SED-Regimes wie auch der deutschen Teilung ihren Platz haben. Der Mauerfall bleibt das Symbol deutscher Wiedervereinigung und einer weltpolitischen Zäsur: des Endes des sowjetischen Imperiums und damit des Kalten Krieges. 5. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes und das Paradigma des Diktaturenvergleichs Die Kulturhoheit liegt in der Bundesrepublik bei den Ländern. Bis 1990 war die Errichtung und Unterhaltung von Gedenkstätten an die nationalsozialistische Diktatur bis auf Ausnahmen keine Aufgabe des Bundes. Der 24  Axel

Klausmeier (FN 19), S. 897 f.



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SED-Staat existierte noch und so gab es das Problem des Diktaturenvergleichs in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik noch nicht, sie beschränkte sich auf die Zeit von 1933 bis 1945. Dieses Problem trat erst nach dem Ende der DDR als politische Fragestellung auf. Eine gemeinsame Experten-Anhörung des Innenausschusses des Bundestages und der EnqueteKommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ im März 1994 in der Gedenkstätte Sachsenhausen befasste sich mit der Frage: Soll sich der Bund an der Förderung von Gedenkstätten beteiligen? Es war der konzeptionelle Einstieg des Bundes in die Förderung von Gedenkstätten von nationaler Bedeutung. Der Fragenkatalog der Anhörung begann mit den Grundsatzfragen: „Welche politische, kulturelle und bildungspolitische Bedeutung haben Gedenkstätten im heutigen Deutschland? Welche Rolle sollen öffentliches Bewusstsein und politische Bildungsarbeit für das Gedenken an Opfer des nationalsozialistischen Terrors sowie der stalinistischen und der SED-Gewalttaten spielen?“ Eine weitere Frage war dem Umgang mit der vom „DDR-Antifaschismus geprägten Gestaltung der Gedenkstätten in den neuen Ländern“ gewidmet. Der Fragenkatalog endete: „Welche Gedenkstätten sollen wegen ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung vom Bund gefördert werden?“25 Der Bericht der Enquete-Kommission empfahl die Nutzung der früheren „Untersuchungshaftanstalt der sowjetischen und der DDR-Geheimpolizei in Berlin-Hohenschönhausen“ als „Stätte des Gedenkens an die Opfer politischer Verfolgung von 1945 bis 1989“26. Die Frage, ob der Bund „Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung“ in den Ländern fördern soll, beantwortete die Kommission mit einem klaren Ja. Die Hervorhebungen der zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen als Ort des Gedenkens für die politische Repression in SBZ und DDR verweist bereits auf die Prägekraft des Gedenkens an die nationalsozialistische Diktatur für das Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft. Der Einstieg in die Förderung der Gedenkstätten die von den Bundesländern unterhalten wurden, war somit eine direkte Folge der deutschen Vereinigung. Aktueller Anlass war die Umgestaltung der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR“ in den ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen. Sie war unverzichtbar, hatten 25  Beteiligung des Bundes an Mahn-und Gedenkstätten, Protokoll vom 4. März 1994, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, hrsg. v. Deutscher Bundestag, BadenBaden 1995. 26  Bericht der Enquete-Kommission, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. v. Deutscher Bundestag BadenBaden 1995, Bd. I, S. 647.

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doch diese DDR-Gedenkstätten nicht nur an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors an diesen Schreckensorten erinnert, sie dienten vor allem auch der antifaschistischen Legitimation der SED-Diktatur. Im Mittelpunkt des selektiven Gedenkens standen die kommunistischen Häftlinge und Ermordeten in diesen Lagern. Das Leid der Opfer der sowjetischen Speziallager von 1945 bis 1950 fand in Buchenwald und Sachsenhausen in der Zeit der DDR ohnehin keine Erwähnung. Die „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten“ der DDR wurden mit finanzieller Hilfe des Bundes umgestaltet. Die heutigen Gedenkstätten in diesen ehemaligen Konzentrationslagern verstehen sich als wissenschaftlich fundierte Lernorte. Im Unterschied zu den klassischen Geschichtsmuseen sind sie „Denkmale aus der Zeit, sowohl Tat- und Leidorte wie auch – konkret und symbolisch – Grabfelder und Friedhöfe“27. Die finanzielle Hilfe des Bundes bei der Umgestaltung der Gedenkstätten in diese beiden nationalsozialistischen Konzentrationslager, von internationaler Bedeutung, wurde zunächst auf zehn Jahre begrenzt. Die Geschichte dieser Lager endete nicht 1945, sie wurden als sowjetische Speziallager weiter genutzt und warfen die Frage nach dem Verhältnis und der Gewichtung von NS- und SED-Diktatur in der deutschen Erinnerungskultur auf. Das Paradigma des Diktaturenvergleichs wurde zur Achse in der Debatte um die Erinnerungskultur im vereinigten Deutschland. Ohne eine dauerhafte Beteiligung des Bundes an der Finanzierung von Gedenkstätten als den Kristallisationskernen einer Erinnerungskultur an die beiden Diktaturen in Deutschland war diese in den neuen Bundesländern nicht zu etablieren; dies wurde schnell klar. Welche Gedenkstätten dauerhaft vom Bund gefördert werden sollten, diese Aufgabe stellte der 13. Deutsche Bundestag 1995 seiner Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit“. Sie sollte einen Vorschlag für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes erarbeiten und die Frage nach den Gedenkstätten an beide Diktaturen von gesamtstaatlicher Bedeutung beantworten. Die historischen Unterschiede zwischen beiden Diktaturen waren allen Mitgliedern der Berichterstattungsgruppe „Gedenkstätten“28 bewusst, die für die Kommission diese Aufgabe bearbeitetet hat: Die nationalsozialistische Diktatur erfasste das ganze Land, ihr Terror und ihre Verbrechen in ihrem rassistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg 27  Volkhard Knigge, Zur Zukunft der Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 25–26 / 2010, S. 10–16, hier: S. 12. 28  Mitglieder waren die Abgeordneten: Siegfried Vergin (SPD), Hartmut K ­ oschnyk (CSU), Prof. Dr. Rainer Ortleb (FDP), Dr. Ludwig Elm (PDS) und die Sachver­ ständigen: Prof. Dr. Bernd Faulenbach, Ilko-Sascha Kowalczuk, Prof. Dr. Manfred Wilke, Schlussbericht, in: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, hrsg. v. Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1999, S. 162.



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richteten sich zunächst gegen ihre deutschen politischen Gegner, aber während des Krieges vornehmlich gegen Slawen und Juden. Die Gedenkstätten an sie waren folglich über ganz Deutschland verteilt, sie sind auch in Polen, Israel und anderen europäischen Ländern zu finden. Die Gedenkstätten an die kommunistische Diktatur, deren Entstehung auf eine Entscheidung der Siegermacht Sowjetunion zurückging, waren eine direkte Folge der vollständigen Niederlage des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg, beschränkten sich auf Haftorte oder Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit in der ehemaligen DDR. Berlin kristallisierte sich in diesem Gedenkstättenkonzept der Kommis­ sion als Zentrum der gesamtstaatlichen Erinnerungskultur heraus. „Berlin besitzt in der Erinnerung an die beiden Diktaturen in Deutschland und deren Opfer eine besondere Bedeutung. Dies ist in der zentralen historischen Rolle Berlins in der NS- wie SED-Diktatur begründet, ergibt sich aber auch aus der Rolle als Hauptstadt des vereinigten demokratischen Deutschland. Heute erinnern in Berlin und Brandenburg eine Vielfalt an Gedenkstätten, Gedenktafeln, Denkmalen und historischen Stadtführern an die beiden Diktaturen, Krieg, Befreiung und Besetzung, Teilung und Einheit. Die Gedenkstättenlandschaft im Raum Berlin hat insgesamt eine überregionale, gesamtstaatliche Bedeutung.“29 Die Kommission sprach von einem „Lehr- und Lernpfad für die Geschichte der beiden Diktaturen in Deutschland“30. Mit Blick auf das Paradigma des Diktaturenvergleichs löste die Kommission eine geschichtspolitisch zuvor heiß umstrittene Frage. Es ging um die Vergleichbarkeit der beiden Diktaturen. Die Kommission forderte, im Vergleich der beiden Diktaturen sollten die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur nicht „relativiert“ und die der SED nicht „bagatellisiert“ werden. Diese Formel war eine wesentliche Voraussetzung für einen politischen Konsens zur Etablierung einer bundesstaatlichen Gedenkstättenkonzeption für beide Diktaturen. Der SED-Staat konnte ohne die befestigten Grenzen zur Bundesrepublik und zu West-Berlin nicht dauerhaft existieren. Diese für die Bevölkerung der DDR weitgehend geschlossenen Grenzen waren ein konstitutives Merkmal der Herrschaftsordnung der SED-Diktatur. Obwohl die innerdeutsche Grenze und die Mauer die beiden deutschen Staaten trennten, erwiesen sie sich auch als Klammern im geteilten Land. An diese getrennte Gemeinsamkeit erinnern die Grenzlandmuseen an der ehemaligen Zonengrenze und die Gedenkstätte Berliner Mauer. Deren gesamtnationale Bedeutung hob schon die Enquete-Kommission hervor: „Die Erinnerung an Teilung und Grenzre29  Schlussbericht, in: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (FN 28), S. 623. 30  Ebd.

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gime ist in der ehemals geteilten Stadt Berlin von besonderer Bedeutung.“31 Das Wesentliche dieser Gedenkorte an die Spaltung ist ihre Ambivalenz in Bezug auf die Geschichte der Teilung, die sich zwischen den Polen staat­ licher Abgrenzung seitens der DDR und menschlichem Zusammenhalt über die Zonengrenzen hinweg abspielte. Obwohl im Vordergrund der historischen Dokumentation die politischen Entscheidungen zur Teilung stehen; dürfen jene gesellschaftlichen Prozesse in beiden deutschen Staaten nicht übersehen werden, die dem Ziel, die Deutschen dauerhaft zu spalten, entgegenwirkten. Die Teilungsgeschichte ist auch eine Geschichte der Verteidigung verbliebener kultureller und nationaler Gemeinsamkeiten, eine des Nicht-Loslassens auf beiden Seiten der Zonengrenze oder der Berliner Mauer. Ein zentrales Ziel der westdeutschen Deutschlandpolitik war es, die Mauer und die innerdeutsche Grenze für die Begegnung der Menschen aus der DDR und der Bundesrepublik durchlässiger zu machen. Es war angesichts der weltpolitischen Realitäten eine Politik der Stärkung der Bindekräfte der geteilten Nation. Diese Gedanken formulierte der Entwurf der Gedenkstättenkonzeption der Enquete-Kommission nicht aus. Im Mittelpunkt ihres Entwurfs stand das Paradigma des Diktaturenvergleichs. Der Bundestag verabschiedete den Entwurf, damit hatte der Bund ein Gedenkstättenkonzept, das zur Grundlage für die Förderung der Gedenkstätten von nationaler Bedeutung wurde. Bundeskanzler Gerhard Schröder zog aus der aktiven Beteiligung des Bundes an der Finanzierung dieser politischen Erinnerungskultur organisatorische Konsequenzen innerhalb der Regierung. Im Bundeskanzleramt wurde ein Staatsminister für Kultur berufen (BKM), der nicht nur die Kulturförderung des Bundes koordinierte, sondern auch für die Geschichtspolitik der jeweiligen Bundesregierung zuständig war. Der BKM war für die Förderung der Gedenkstätten von nationaler Bedeutung ebenso zuständig wie für die BStU und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Beide Regierungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel hielten an dieser Struktur fest. Angesichts der Bedeutung der Geschichte der beiden Diktaturen in Deutschland im 20. Jahrhundert, unterscheidet sich die auf die Gedenkstätten an die beiden Diktaturen gegründete Erinnerungskultur von der anderer Staaten. Diese tradieren zur Identifikation mit der eigenen Nation eine positive Erinnerungskultur, in der die bestandenen Prüfungen und die Leistungen der eigenen Nation gewürdigt werden. In der Bundesrepublik dagegen wurde ein „negatives Gedächtnis als staatlich geförderte, öffentliche Aufgabe“ etabliert, um es „zu einer Ressource für demokratische Kultur und diese fundierende Bildungsprozesse zu machen“32. Dieser Gedanke der Er31  Ebd.,

S. 613. Knigge (FN 26), S. 11 f.

32  Volkhard



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ziehung zur Demokratie durch Erinnern an die dunkle Seite der doppelten Diktaturgeschichte unseres Landes findet sich als Leitmotiv auch in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2008: „Jeder Generation müssen die Lehren aus diesen Kapiteln unserer Geschichte immer wieder neu vermittelt werden.“33 6. Die Lücke im Konzept: Teilung und Grenze Das gültige Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung ordnet die Gedenkstätte Berliner Mauer der Geschichte der SED-Diktatur zu. Unzweifelhaft hat die SED im Einverständnis mit der Sowjetunion die Grenzbefestigung gegen die eigene Bevölkerung errichtet. Es hat, wie dargelegt, historisch nachvollziehbare Gründe, warum die letzte Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts des Bundes durch die Systematik des Diktaturenvergleichs strukturiert wird. Ein eigenständiges Kapitel „Teilung und Grenze“ für die Gedenkstätten, die an der Grenze durch Deutschland an die Teilung erinnern, gab es schon in den vorangegangenen Gedenkstättenkonzeptionen des Bundes nicht. Alle folgten dem Paradigma des Diktaturenvergleichs und wurden unter die Erinnerungsorte und Museen zur SED-Diktatur subsumiert. Der Rang der Gedenkstätte „Berliner Mauer“ unter ihnen wird aber 2008 bereits hervorgehoben: „Die neue Landesstiftung ‚Berliner Mauer‘ wird ein kompetenter Kooperationspartner für andere Institutionen sein, die das Thema ‚Teilung und Grenze‘ darstellen. Da nicht nur Berlin, sondern ganz Deutschland gespalten war, bietet sich eine vertiefte Zusammenarbeit auch mit Einrichtungen entlang der früheren, fast 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze an.“34 Unter dem Gesichtspunkt der von der Diktatur ausgehenden Gewalt an ihrer Grenze gegen die Bevölkerung der DDR ist diese systematische Zuordnung auf den ersten Blick schlüssig. Bezogen auf die Spaltung Deutschlands ist sie doppelt falsch: 1. Die SED hat die Grenzen ihres Staates nicht bestimmt, sondern sie beruhten wie die der westlichen Besatzungszonen auf den Entscheidungen der alliierten Siegermächte von 1944 / 45. 2. Diese Systematik bleibt weiterhin der deutschen Zweistaatlichkeit verhaftet und wird somit der asymmetrischen Teilungsgeschichte nicht gerecht. Die innerdeutschen Grenzen trennten die beiden Teilstaaten, erwiesen sich aber auch als Klammern im geteilten Land. An diese getrennte Gemeinsamkeit sollen die Grenzlandmuseen an der ehemaligen Zonengrenze und die Gedenkorte in Berlin ebenfalls erinnern. „Die Erinnerung an Teilung und Grenzregime ist in der ehemals geteilten Stadt Berlin von beson33  Unterrichtung 34  Ebd.,

S. 8.

durch den Beauftragten für Kultur und Medien (FN 15), S. 1.

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derer Bedeutung.“35 Im Vordergrund der historischen Erinnerung stehen die politischen Entscheidungen zur Teilung; bislang werden jene gesellschaft­ lichen Prozesse in beiden deutschen Staaten weniger beachtet, die dem Ziel des SED-Staates, die Deutschen dauerhaft zu spalten, entgegenwirkten. Die Teilungsgeschichte ist auch eine Geschichte der Verteidigung verbliebener kultureller und nationaler Gemeinsamkeiten, eine des Nicht-Loslassens. Ausgangspunkt der Dokumentationen in diesen Gedenkstätten muss die Erinnerung an die Teilung Berlins und der Regionen an der innerdeutschen Grenze und das damit verbundene DDR-Grenzregime sein. Das DDRGrenzregime gehört zweifellos in den Komplex diktatorischer Gewalt, aber der Bau der Grenzbefestigungen lässt sich nicht allein auf den Machtwillen der SED zurückführen: die Entscheidung zu deren Bau fiel in Moskau. Der Mauerfall 1989 geschah in einer grundlegend anderen weltpolitischen Konstellation, der die SED unterworfen war, als der von 1961. Besonders die Gedenkstätte „Berliner Mauer“ lässt sich angesichts des Endes der Mauer auch nicht pauschal dem „negativen Gedächtnis“ der Bundesrepublik zuordnen. Ebenso erfasst das Täter-Opfer-Schema, das für die Tat- und Leidens­ orte der Diktaturen, für ihre Vernichtungs- und Konzentrationslager und Gefängnisse gültig bleibt, nicht alle Aspekte der Mauergeschichte. Die Geschichte der Berliner Mauer als Repressionsinstrument des SED-Staates ist primär die ihrer Opfer. Für viele Berliner und die Bewohner der Grenzregion! Und in mancher Beziehung auch der Zonenrandgebiete auf west­ licher Seite bedeutete ihre Existenz eine persönliche Leidensgeschichte. Das ist eine zentrale Dimension ihrer Geschichte. Die Systemauseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie manifestierte sich in den beiden deutschen Staaten. Die Mauer diente der SED als Schutz ihres Staates und richtete sich gegen die eingemauerte Bevölkerung und die deutsche Einheit auf demokratischer Grundlage. Kontrastiert wird die repressive Funktion der Grenzbefestigung durch den Mut zum Widerstand gegen das Grenzregime, mit dem die SED ihr Machtmonopol in ihrem Staat dauerhaft sichern wollte. Der Widerstand hatte individuelle und politische Gründe. Der Protest gegen das Bauwerk innerhalb und außerhalb der DDR verstummte nie. Zu denen, die diese Grenze nicht hinnahmen, zählten die Fluchthelfer der ersten Stunde aus West-Berlin;36 sie gruben Tunnel, um Flüchtlinge auszuschleusen. Solange die Bundesrepublik das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nicht aufgab und die Bevölkerung der DDR nicht abstimmen konnte, blieb die Deutsche Frage offen. 35  Schlussbericht

(FN 28), S. 613. Burkhart Veigelauf, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, Berlin 2011. 36  Vgl.



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Durch die Lücke im Gedenkstättenkonzept von 2008 sind aber systematisch die Bundesrepublik, ihre Deutschlandpolitik, ihre öffentliche Meinung und ihre Rechtsprechung zum Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes ausgeblendet. Die Mauer wird ausschließlich als DDR-Geschichte behandelt, und damit wird die deutsche Teilung in der Historiografie fortgeschrieben. Die Bedeutung der Existenz der Bundesrepublik für das Ende der Mauer zeigte sich schon, als sie am 13. August 1961 gebaut wurde. Noch am selben Tag stellte Bundeskanzler Konrad Adenauer zur eigentlichen Ursache für diesen Gewaltakt fest: „Diese Maßnahme ist getroffen worden, weil das der mitteldeutschen Bevölkerung von einer auswärtigen Macht aufgezwungene Regime der inneren Schwierigkeiten in seinem Machtbereich nicht mehr Herr wurde.“ Diese Machtdemonstration ändere aber nichts an dem Verfassungsauftrag der Bundesrepublik, die deutsche Einheit mit friedlichen Mitteln herbeizuführen. „Mit den Deutschen in der Sowjetzone und in OstBerlin fühlen wir uns nach wie vor aufs engste verbunden; sie sind und bleiben unsere deutschen Brüder und Schwestern. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der deutschen Einheit in Freiheit unverrückbar fest. Bei der Bedeutung des Vorgangs habe ich den Außenminister gebeten, die ausländischen Regierungen durch die deutschen Vertretungen unterrichten zu lassen.“37 Die Erklärung war ein Versprechen vor allem gegenüber der Bevölkerung der DDR. Sie stellte noch am Tag des Mauerbaus klar, dass durch diesen einseitigen Gewaltakt, den die Bundesrepublik nicht verhindern konnte, die deutsche Frage nicht gelöst werden könne. Trotz des Stacheldrahts, aus dem dann die Mauer durch Berlin wurde, blieb West-Berlin ein erratischer Block in der deutschen Zweistaatlichkeit. Willy Brandt, der Regierende Bürgermeister von Berlin, trat in die Fußstapfen von Ernst Reuter. Wie dieser 1948 angesichts der sowjetischen Blockade der Zugangswege wurde Brandt nun zum Wortführer der Stadt. 1961 war es nicht der Reichstag, sondern das Schöneberger Rathaus, vor dem sich 250.000 Berliner versammelten. Brandt wandelte mit seiner Rede die ohnmächtige Empörung der West-Berliner über die gewaltsame Teilung ihrer Stadt zu einer entschlossenen Haltung der Selbstbehauptung um. Er erinnerte daran, dass „unsere Mitbürger im Sektor und in der Zone“ die schwerste Last tragen, die man ihnen in diesen Tagen nicht abnehmen könne, „und das ist heute das Bitterste für uns! Wir können sie ihnen nur mittragen helfen, in dem wir ihnen zeigen, dass wir uns der Stunde gewachsen zeigen! Sie fragen, ob wir sie jetzt abschreiben. Darauf gibt es nur die Antwort: Nein, niemals! Sie fragen uns, ob wir sie jetzt verraten werden, und auch darauf 37  Konrad Adenauer zitiert nach: Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte, Berlin 2011, S. 351.

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gibt es nur die Antwort: Nein, niemals!“38 Am Tag der Kundgebung wurde gemeldet, dass am 15. August der Unteroffizier der Grenzpolizei Conrad Schumann in der Bernauer Straße in den Westen geflohen war.39 Das Foto von Schumanns Sprung über den Stacheldraht zählt zu den bekanntesten Mauerbildern. Jahrzehntelang galten diese Erklärungen von Adenauer und Brandt als politische Lippenbekenntnisse angesichts westdeutscher Ohnmacht, die deutsche Einheit herbeizuführen. Erst im Kontext des Mauerfalls zeigte es sich, dass damals der Bundeskanzler und der Regierende Bürgermeister Grundsatzpositionen zur deutschen Einheit formulierten, die keine Bundesregierung aufgegeben hatte. 7. Von der Stasidebatte zur Teilungsgeschichte Durch den Weg zur deutschen Einheit verlief der Zyklus der zeithistorischen Debatten und der ihr folgenden Entscheidungen für die Gedenkstättenstruktur in der Erinnerungskultur in Deutschland in gegenläufiger Richtung zum Einigungsprozess. Dieser konzentrierte sich auf die Überwindung der deutschen Teilung und die Integration der neuen Länder, die aus der DDR entstanden waren, in die vereinigte Bundesrepublik, deren westlicher Teil von dem Transformationsprozess im Osten nicht existenziell berührt war. Der zweiten Nationalstaatsgründung der Deutschen ging keine Nationalbewegung wie im 19. Jahrhundert voraus. Ganz im Gegenteil: die poli­ tische Klasse der Bundesrepublik und ihre intellektuellen Eliten hielten den Verfassungsauftrag zur Wiedergewinnung der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit mehrheitlich für überholt – für einen verständlichen Irrtum der Gründungsväter der Bundesrepublik von 1949. Die Teilung des Landes veränderte auch für die Generation Mauer im Westen die Wahrnehmung der deutschen Geschichte insgesamt; im Bewusstsein dieser Generation löste sich die Bundesrepublik aus der Kontinuität deutscher Geschichte und die Teilung und gleichzeitige Integration in den westeuropäischen Einigungsprozess war für sie das Ende der deutschen Nationalgeschichte. Angesichts dieser weit verbreiteten öffentlichen Meinung in der alten Bundesrepublik konnte der deutsche Vereinigungsprozess 1989 nur durch die friedliche Revolution in der DDR und den Mauerfall in Berlin ausgelöst werden. 38  Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin 16. August 1961, zitiert nach: Jürgen Rühle / Günter Holzweißig, 13. August 1961: Die Mauer von Berlin, Köln 1981, S. 101. 39  Rainer Hildebrandt, Es geschah an der Mauer. Eine Bilddokumentation, Berlin 2000, S.  88 f.



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Eine der Voraussetzungen für den Sieg der Bürgerrechtsbewegung über die SED-Diktatur war die Entmachtung der Staatssicherheit im Herbst 1989 in der DDR. Die Sicherung der Akten des MfS vor ihrer Zerstörung durch Bürgerrechtler und die Auflösung der Struktur der Staatssicherheit nach dem 15. Januar 1990 symbolisierten für die Akteure in der DDR den Sieg der friedlichen Revolution. Die zentrale Frage der Konzeption des SED-Überwachungsstaats, der das MFS nachzugehen hatte, war: „Wer ist wer?“ Mit dem Ende der MfS-Struktur wurde dieses Instrument der Diktatur zerstört. Die Auflösung löschte aber nicht die Erfahrungen aus den Köpfen der Bespitzelten. Die Opfer des SED-Überwachungsstaates drehten 1990 die Frage „Wer ist wer?“ gegen die Offiziere und inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit um. Nun wollten sie die Frage nach den Tätern beantwortet wissen. Der Schlüssel hierzu war die Forderung nach Akteneinsicht. Wie DDR-zentriert die damaligen Akteure dachten, zeigte sich im Umgang mit den Akten der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS; mit Zustimmung des Runden Tisches wurde den Mitarbeitern der Spionagezentrale des MfS erlaubt, ihre Akten selbst zu vernichten. Gegen die Pläne der beiden deutschen Regierungen, die aus sehr unterschiedlichen Gründen gegen eine Öffnung der MfS-Akten waren, setzte die Mehrheit der Volkskammer ihre Öffnung für die Opfer, die Justiz und die Öffentlichkeit mit einem ihrer letzten Gesetze durch. Zugleich wurde ein Junktim formuliert, das die Zustimmung zum Einigungsvertrag mit der Öffnung der Stasi-Akten nach der Vereinigung verband. Am 2. Januar 1992 öffnete die Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ ihre Pforten für die Benutzer. Erstmals in der Geschichte wurden die Akten einer Geheimpolizei und eines Geheimdienstes der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ziemlich schnell wurde in der Öffentlichkeit klar: Die Geschichte der DDR, geprägt von der allmächtigen kommunistischen Staatspartei, ließ sich nicht auf das Repressionsinstrument der SED reduzieren. Erstmalig setzte der Deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission zur Vergangenheitsbewältigung ein: „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Ihre Aufgabe bestand darin, scharf zwischen dem SED-Regime und der ihr unterworfenen Bevölkerung in der 40-jährigen Existenz der DDR zu unterscheiden. Mit Blick auf die Etablierung einer auf Gedenkstätten beruhenden Erinnerungskultur an die beiden Diktaturen in Deutschland geriet die Kommission in den Paradigmenstreit des Diktaturenvergleichs, dem sie sich stellte.40 Erst die Nachfolgekommission der 13. Wahlperiode 40  Vgl. Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland, in: Materialen der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte

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sollte diesen Streit auflösen. Das Gedenkstättenkonzept des Bundes förderte Erinnerungsorte und Gedenkstätten an beide Diktaturen und ebnete damit konzeptionell und finanziell den Weg für den Aufbau der Gedenkstätten an die SED-Diktatur. 2008 erweiterte das Land Berlin mit seinem Mauergesetz zur Errichtung der Gedenkstätte „Berliner Mauer“ den Kanon der deutschen Erinnerungskultur um die Teilungsgeschichte. Es war Zufall, aber als das Berliner Abgeordnetenhaus das Gesetz verabschiedete, wurde der erste Jahrgang volljährig, der im vereinigten Deutschland geboren wurde.

und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, hrsg. v. Deutscher Bundestag, BadenBaden 1995.

SED-Kaderpolitik nach dem Mauerbau Von Mario Niemann 1. Grundlagen In der DDR wurde „keine einigermaßen einflußreiche Position […] ohne Zustimmung des Politbüros oder des Sekretariats des ZK der SED besetzt. Damit sicherte die SED-Führung ihre Macht und ihren Einfluß in allen gesellschaftlichen Bereichen des Landes.“1 Dies geschah in enger Anlehnung an die Worte Stalins: „Die Kader entscheiden alles.“2 Die besondere Bedeutung der Kaderpolitik hob Horst Dohlus3, als Leiter der Abteilung Parteiorgane des ZK direkt mit kaderpolitischen Fragen betraut, 1974 in einem Aufsatz in der „Einheit“ mit folgenden Worten hervor: „Kaderarbeit darf nicht nur beschränkt sein auf die Aus- und Weiterbildung, auf Kaderakten oder Statistiken. Und sie ist auch keine Ressortarbeit! Die Kaderarbeit der Partei ist in erster Linie Arbeit mit den Menschen. Sie muß immer der Grunderkenntnis des Marxismus-Leninismus entsprechen, daß der Mensch Schöpfer und Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung ist.“ Zu ihren Aufgaben führte Dohlus weiter aus: „Die systematische Auswahl, Förderung, Bildung und Erziehung der Parteikader ist als fester Bestandteil der Führungstätigkeit überall so zu gestalten, daß zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Kader mit den notwendigen Kenntnissen, Fähigkeiten, Eigenschaften und Erfahrungen zur Verfügung stehen. Es geht um Parteiarbeiter, bei denen sich hohes politisches Bewußtsein mit guter fachlicher Bildung verbindet, die fähig sind, politisch richtig und mit Sachkenntnis Fragen der Entwicklung der Gesellschaft, der Wirtschaft und Kultur zu entscheiden und 1  Otfrid Arnold  / Hans Modrow, Das Große Haus. Struktur und Funktionsweise des Zentralkomitees der SED, in: Hans Modrow (Hrsg.), Das Große Haus. Insider berichten aus dem ZK der SED, Berlin 1994, S. 11–70, hier S. 63. 2  So Stalin in seiner Rede im Kremlpalast vor den Absolventen der Akademien der Roten Armee am 4. Mai 1935, in: Josef Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin (Ost) 1951, S. 590–596, hier S. 594. 3  Die Kurzbiographien der hier namentlich genannten SED-Funktionäre der regionalen Ebene finden sich in: Mario Niemann  /  Andreas Herbst (Hrsg.), SEDKader: Die mittlere Ebene. Biographisches Lexikon der Sekretäre der Landes- und Bezirksleitungen, der Ministerpräsidenten und der Vorsitzenden der Räte der Bezirke 1946 bis 1989, Paderborn u. a. 2010.

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die dem Wohl des Volkes dienende Politik der Partei gemeinsam mit den Menschen zu verwirklichen.“4 Kaderfragen waren in der SED, wie es in einer 1981 erschienenen Publikation heißt, „immer Machtfragen. Sie stehen deshalb stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Partei.“5 Die Kaderarbeit als Kernstück der politischen Arbeit der SED sollte sich dabei durch „eine planmäßige Auswahl und den richtigen Einsatz“6 der Kader auszeichnen. Dies war gleichsam unabdinglich für die politische Arbeit der SED. „Ohne die verantwortungsbewußte Auswahl, die erfolgreiche Entwicklung, Befähigung und kommunistische Erziehung der Kader, ohne ihren effektiven und planmäßigen Einsatz kann die Partei ihre Politik nicht verwirklichen.“7 Das „Herzstück“ der Kaderpolitik der SED war das Nomenklatursystem, das die „gezielte Besetzung aller ‚Kommandohöhen‘ der Gesellschaft mit hundertprozentig der SED-Spitze ergebenen Führungspersönlichkeiten“8 gewährleistete. Als Nomenklatur wurde dabei im August 1952 bündig „der Personenkreis bezeichnet, dessen Einstellung, Umgruppierung, Versetzung und Entlassung der vorherigen Einwilligung der übergeordneten Dienststellen (Nomenklaturstelle) bedarf“9. Zwischen 1950 und 1960 war das Kadernomenklatursystem „in seinen Grundzügen errichtet“10. Den Zweck des Nomenklatursystems verdeutlichen die „Richtlinien für die Arbeit mit der Kadernomenklatur des Zentralkomitees der SED“ vom September 1960. Hiernach sollte es mittels der Nomenklatur möglich sein, „die gesamte Kaderarbeit auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus – trotz ihrer großen Differenziertheit – von einem Zentrum aus, dem Zentralkomitee, zu leiten […]. Die Anwendung der Kadernomenklatur trägt dazu bei, in personeller Hinsicht die führende Rolle der Arbeiterklasse in der DDR entsprechend den Prinzipien des Marxismus-Leninismus zu sichern.“11 Vor allem die „zweckmäßigste Auswahl und Verteilung der politisch zuverlässigsten 4  Horst Dohlus, Demokratischer Zentralismus im Zeichen wachsender Anforderungen an die Partei, in: Einheit 28 (1974), S. 1232–1240, hier S. 1240. 5  Anneliese Bräuer / Horst Conrad, Kaderpolitik der SED – fester Bestandteil der Leitungstätigkeit, Berlin (Ost) 1981, S. 9. 6  Rudi Rost, Die Kaderarbeit als Führungsaufgabe, in: Staat und Recht 16 (1967), S. 4–18, hier S. 5. 7  Anneliese Bräuer / Horst Conrad (FN 5), S. 8. 8  Matthias Wagner, Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR, Berlin 1998, S. 10 und S. 11. 9  Zit. in: Ebd., S. 37. 10  Vgl. Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn u. a. 2000, S. 448. 11  Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), DY 30 / J IV 2 / 3 / 704, Bl.  227.



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partei- und prinzipienfesten Genossen nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechend den Gesamtinteressen der Partei“12 konnte so gewährleistet werden. 1986 wurden mehr als 5.000 Nomenklaturfunktionen des ZK der SED aufgelistet.13 Die Kaderabteilung des ZK kontrollierte die Besetzung der entsprechenden Positionen. Auf der regionalen Ebene besaßen die Parteileitungen der SED jeweils eigene Nomenklaturen. Die Spitzenfunktionäre der Bezirks- und Kreisleitungen wurden häufig von der Parteiführung ausgewählt, in jedem Fall aber von ihr bestätigt und erst dann in den Bezirken und Kreisen gewählt. So war sichergestellt, dass ausschließlich der Kandidat, der das Vertrauen und Wohlwollen der übergeordneten Leitung besaß, diese Funktionen besetzen konnte. Daher erreichte die Parteiführung das ihrem zentralistischen Politikverständnis entsprechende Ziel, in den Parteileitungen auf Bezirks- und Kreisebene eine loyale Basis zu installieren. Der dominierende Einfluss der Parteiführung auf die Besetzung der regionalen Führungspositionen blieb bis zum Herbst 1989 gewährleistet. 2. Fluktuationen Die fünfziger und beginnenden sechziger Jahre waren durch eine hohe personelle Fluktuation auf den Leitungsebenen der SED geprägt.14 In einer auf der 7. Tagung des ZK 1951 verabschiedeten Entschließung hieß es, es könne „keine Parteileitung richtig arbeiten, wenn die Landesleitung nicht energisch Schluß macht mit der Fluktuation in verantwortlichen Positionen. Der größte Teil der 1. und 2. Kreissekretäre wurde in Brandenburg seit den Parteiwahlen gewechselt. In der Kreisleitung Ostprignitz wurde innerhalb von zwei Jahren der Leiter der Propagandaabteilung achtmal, der Leiter der Organisations-Instrukteurabteilung sechsmal, der Leiter der Abteilung staatliche und wirtschaftliche Verwaltung dreimal, der Leiter der Kaderabteilung viermal gewechselt.“15 Auch für andere Regionen lassen sich solche Fälle finden. Zwischen 1945 und Ende 1953 hat es beispielsweise zehn Wechsel an der Spitze der Kreisleitung Dessau gegeben. Zwischen 1949 und Oktober 12  Ebd.,

Bl. 228. Mathias Wagner (FN 8), S. 78 und S. 141. 14  Vgl. zur Kaderpolitik der SED auf der Bezirksebene Mario Niemann, Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989, Paderborn u. a. 2007. Die in diesem Beitrag nicht gesondert nachgewiesenen Fakten sind hieraus entnommen. 15  „Zur Arbeit der Landesleitung des Landes Brandenburg“, Entschließung des Zentralkomitees vom 20. Oktober 1951, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, hrsg. vom Zentralkomitee der SED, Bd. III, Berlin (Ost) 1952, S. 602–617, hier S. 609 und S. 610. 13  Vgl.

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1951 wurden in 29 Kreisen Sachsens 58,6 Prozent der 1. und 76,0 Prozent der 2. Kreissekretäre ausgetauscht.16 Im Bezirk Rostock wechselten zwischen August 1952 und Anfang 1954 neun von 14 1. Sekretären der Kreisleitungen.17 Ein rasches Absenken der hohen Fluktuationsrate konnte bis Anfang der sechziger Jahre nicht erreicht werden. Das zeigte sich auch auf der Bezirks­ ebene. In der Bezirksleitung Halle wurden 1958 die Positionen des 1. und 2. Sekretärs sowie des Sekretärs für Agitation und Propaganda von 1952 an zum vierten Mal neu besetzt. Im Landwirtschaftsressort dieser Bezirksleitung war im April 1958 gar der mittlerweile fünfte Sekretär zu verzeichnen. Seine vier Vorgänger hatten es auf eine durchschnittliche Funktionsdauer von weniger als eineinhalb Jahren gebracht. Zum Jahresende 1959 arbeiteten republikweit nur elf von 90 Sekretären, die im Zuge der Bildung der Bezirke im August 1952 ihre Funktionen übernommen hatten, nach wie vor als Sekretär einer Bezirksleitung. Zu dieser starken Fluktuation trug die Parteiführung durch ihre bis Anfang der fünfziger Jahre umfangreichen Parteisäuberungen und die rigiden politischen Auswahlkriterien, die etwa Kriegsgefangenschaft oder Verwandtschaft im Westen als Manko stigmatisierten, selbst erheblich bei. Zudem zeigte sich, dass sie, auch wegen der vielen Säuberungen, auf zum Teil sehr junge, unerfahrene, politisch und fachlich nicht oder ungenügend qualifizierte Genossen zurückgreifen musste. Diese fachliche Ausbildung wurde in den folgenden Jahren nachgeholt – allerdings mit den Folgen einer starken Fluktuation. Im Jahr des Mauerbaus sind 18 Sekretäre der Bezirksleitungen ihres Amtes enthoben worden. Soweit sichtbar, steht keine dieser Auswechslungen in direktem Zusammenhang mit den Maßnahmen der Grenzsicherung. Der Mauerbau selbst war hauptsächlich eine Reaktion auf die innenpolitischen Schwierigkeiten in der DDR, stellte kaderpolitisch jedoch keine Zäsur dar. Es ist kein Fall bekannt, in dem höhere SED-Funktionäre auf der Bezirksebene wegen Zweifeln oder gar Kritik an den Maßnahmen des 13. August 1961 ihren Hut nehmen mussten. Die sich bis 1961 verschärfenden innenpolitischen Probleme allerdings konnten auch zur Ablösung von Funktionären führen. Ein besonders anschaulicher Fall vom Juli 1961 ist aus dem Bezirk Potsdam überliefert. Zu dieser Zeit waren in den Bezirken einige Lebensmittel nur noch beschränkt verfügbar. Der Stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, musste öffentlich einräumen, „das es zur Zeit bei der Ver16  Vgl. Joachim Schultz, Der Funktionär in der Einheitspartei. Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED, Stuttgart / Düsseldorf 1956, S. 260. 17  Vgl. Zeittafel zur Geschichte der Bezirksparteiorganisation Rostock der SED 1952–1961, Rostock 1983, passim.



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sorgung mit Fleisch, Milch und Butter eine Reihe Schwierigkeiten gibt“18. Daraufhin wurden im Lokomotivbau-Werk in Henningsdorf Unterschriften für einen Brief an Walter Ulbricht gesammelt, der sich gegen die neuen Kundenlisten für Butter richtete und die schlechte Stimmung in der Bevölkerung zum Ausdruck brachte. Margarete Langner, seit 1952 2. Sekretär der Bezirksleitung Potsdam und gerade im Betrieb anwesend, führte eine Aussprache mit der Belegschaft, „erreichte aber nicht, daß die Unterzeichner von dem Brief abrückten und ihr der Brief ausgehändigt wurde.“ Dies kam auf der 13. Tagung des ZK Anfang Juli 1961 kritisch zur Sprache. Langner erhielt „wegen mangelnder Wachsamkeit und wegen Zurückweichens vor dem Klassengegner“ eine „strenge Rüge“ und verlor ihre Funktion.19 1963 fand die starke Fluktuation unter den SED-Kadern auf der mittleren Ebene mit der Ablösung von fast der Hälfte der Sekretäre der Bezirksleitungen ihren Höhepunkt. Das hatte jedoch ebenfalls nichts mit den Auswirkungen des Mauerbaus zu tun, sondern ist auf Strukturveränderungen in der SED zurückzuführen. Mit der Einführung der „Leitung der Parteiarbeit nach dem Produktionsprinzip“ (NÖSPL) wurde für drei Jahre die Funktion des Sekretärs für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur abgeschafft, was zu einem Revirement größeren Ausmaßes Anlass bot. Mit Ablauf des Jahres 1963 hielt dann eine personelle Kontinuität in den Bezirksleitungen Einzug, die bis zum Herbst 1989 andauerte. Das Jahr 1963 ist insofern ein kaderpolitischer Einschnitt, der quer zu den häufig genannten Zäsuren in der Geschichte der DDR, dem Mauerbau 1961 und der Ablösung Ulbrichts 1971, liegt und den Übergang von Fluktuation zur späteren Stagnation einleitet. 3. Ausbildung Die SED-Führung stellte umfassende Ansprüche an ihre Funktionäre. Sie verlangte nicht nur „unbedingte Treue zur Arbeiterklasse, ihrer Partei und zum Marxismus-Leninismus“, sondern auch „hohe politische und fachliche Kenntnisse“.20 Dies galt bis zum Ende der SED.21 Daher wurde von einem Kader „Doppeltes verlangt: Seine allgemeine Funktion ist es, die jeweilige 18  Neues

Deutschland, 15. Juni 1961, S. 3. DY 30 / J IV 2 / 3A / 797, Bl.  78. 20  „Beschluß des Sekretariats des ZK der SED über die Arbeit mit den Kadern“ v. 7. Juni 1977, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. ­Beschlüsse und Erklärungen des Zentralkomitees sowie seines Politbüros und seines Sekretariats, hrsg. vom Zentralkomitee der SED, Bd. XVI, Berlin (Ost) 1980, S. 481–488, hier S. 482 und S. 483. 21  Vgl. Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 1989, S. 467 (Stichwort: Kader). 19  SAPMO-BArch,

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aktuelle politische Linie der Partei in seinem Arbeitsbereich zur Geltung zu bringen. Seine spezifische Funktion besteht darin, in einem durch fachliche Kriterien bestimmten Bereich tätig zu sein und dafür die erforderlichen Qualifikationen und das notwendige Fachwissen zu besitzen.“22 In den fünfziger Jahren waren Funktionäre häufig aufgrund einer Delegierung zum Studium oder anderweitiger Qualifizierung von ihren Funktionen entbunden worden. Allein zwischen 1953 und 1956 hatten 109 spätere Bezirkssekretäre ein Studium an einer Parteihochschule aufgenommen. Mitte der 1960er Jahre standen nun ausreichend Funktionäre zur Verfügung, die in den vergangenen Jahren ein marxistisch-leninistisches Studium an einer Parteischule bzw. einer Parteihochschule und ein Fachstudium an Hoch- und Fachschulen der DDR, der Sowjetunion oder anderer sozialistischer Staaten absolviert hatten und Leitungserfahrungen in Partei- und FDJFunktionen oder auch im Staatsapparat aufweisen konnten. Die erhebliche Mühe, die die Parteiführung auf die politische Qualifizierung ihrer Funk­ tionäre verwendet hatte und die in dem Auf- und Ausbau der Bildungseinrichtungen sichtbar wurde, zahlte sich nun aus. Nach einer Analyse vom November 1961 hatten 71,4 Prozent der 1. Kreissekretäre eine Parteihochschule besucht, 41,9 Prozent den Grad Diplom-Gesellschaftswissenschaftler erworben.23 Vor allem die Parteihochschule „Karl Marx“ diente als Kaderschmiede. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Ausbildungsstand weiter systematisch erhöht. 1984 hatten 83,7 Prozent aller Kreissekretäre eine Parteihochschule für mindestens ein Jahr besucht, 60,9 Prozent der Kreissekretäre konnten sich mit dem Titel Diplom-Gesellschaftswissenschaftler schmücken.24 1986 waren diese Werte auf 85 Prozent und 61,1 Prozent gestiegen.25 Auf der Bezirksebene fiel die Quote noch höher aus. Zu den Wahlen im Februar 1986 hatten 90,9 Prozent aller Bezirkssekretäre eine Parteihochschule besucht.26 Gegen Ende der achtziger Jahre konnten damit die allermeisten der regionalen Spitzenfunktionäre die von der Parteiführung angestrebte parteipolitische Ausbildung aufweisen. Wird allgemein eine gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung von mindestens einem Jahr Dauer als Kriterium herangezogen, so war diese für 99,3 Prozent aller Kreissekretäre im Jahr 1986 gegeben.27 22  Gero Neugebauer, Die führende Rolle der SED. Prinzipien, Strukturen und Mechanismen der Machtausübung in Staat und Gesellschaft, in: Ilse Spittmann (Hrsg.), Die SED in Geschichte und Gegenwart, Köln 1987, S. 65–77, hier S. 70. 23  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 11 / 135. 24  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 11. 25  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 30. 26  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 28. 27  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 20.



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Parallel dazu forcierte die SED-Führung die fachliche Qualifikation ihrer Kader. Auch wenn sie im Mai 1960 in den „Thesen zur Aufstellung eines Kaderentwicklungsplanes“ festgelegt hatte, „daß hervorragende Partei- und Lebenserfahrung und hervorragende Erfolge in der Leitungs- und Führungstätigkeit bei älteren Kadern einer Hoch- und Fachschulausbildung ­gegenüber als gleichwertig anerkannt werden“, setzte sie in den folgenden Jahren auf eine verstärkte fachliche Ausbildung. Aus einem „Bericht über den Stand der Arbeit mit den Kadern der Hauptnomenklatur“ vom November 1961 geht hervor, dass es in den Kreisen des Chemiebezirks Halle „keinen 1. oder 2. Kreissekretär, der eine entsprechende fachliche Ausbildung auf diesem Gebiet besitzt“, gibt. Dies sollte sich ändern. Notwendig sei, „daß fachlich ausgebildete Genossen mit hohem Organisationstalent eine politische Ausbildung und umgekehrt Genossen mit politischer Ausbildung einen fachlichen Abschluß erhalten. Wobei das Schwergewicht auf einen Abschluß auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet zu legen ist.“28 Gerade für die technischen Fachrichtungen ist eine „Bildungsexpansion“ in den sechziger Jahren festzustellen. Hier stieg die Zahl der Studierenden von 1961 bis 1970 von 18.670 auf 45.967.29 Nach dem Bau der Mauer, in einer Phase wirtschaftlicher Reformbemühungen, erreichte eine „Verjüngungs- und Akademisierungswelle“ auch die Parteileitungen.30 Nun gewannen „fachliche Qualifikation und Eignung für die Kaderrekrutierung zunehmend an Gewicht“31. Die Bemühungen um eine fachliche Qualifizierung der leitenden Kader zeigten bald Erfolg. Nach einer Information vom Dezember 1962 hatte sich deren Anteil mit abgeschlossener Hoch- oder Fachschulausbildung in den Apparaten des Zentralkomitees und der Bezirks- und Kreisleitungen von 25,5 Prozent im Vorjahr auf 32 Prozent erhöht. „Immer mehr“, so konnte bilanziert werden, „geht die Entwicklung dahin, daß die Genossen mit einem Diplom auf dem gesellschaftswissenschaftlichen Gebiet gleichzeitig einen fachlichen Hochschulabschluß anstreben.“ Bislang waren es erst 104 Genossen des gesamten Parteiapparates, die zwei Diplome erworben hatten. Über die Hälfte der Bezirkssekretäre konnte bereits auf eine Hochschulaus28  SAPMO-BArch,

DY 30 / IV 2 / 11 / 135. L. Augustine, Frustrierte Technokraten. Zur Sozialgeschichte des Ingenieurberufs in der Ulbricht-Ära, in: Richard Bessel  /  Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 49–75, hier S. 55. 30  Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 54. 31  Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 144. 29  Dolores

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bildung zurückblicken, 52,5 Prozent der 1. und 2. Kreissekretäre verfügten über einen Hochschulabschluss.32 Auch auf der staatlichen Ebene gab es in dieser Zeit eine starke Tendenz der Heranziehung fachlich versierter Funktionäre. So hatte sich allein zwischen Februar 1961 und Juli 1962 der Anteil der Experten im gesamten Ministerrat von 30 Prozent auf 52 Prozent erhöht. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich deren Anteil unter den Leitern der Fachressorts von 30 Prozent auf 64 Prozent. Hatten 1961 noch acht von 26 Mitgliedern des Ministerrates, knapp ein Drittel, eine Fachausbildung aufweisen können, so waren es 1962 bereits 17 von 33 und damit rund die Hälfte der Mitglieder. Diese Entwicklung setzte sich in den nächsten Jahren fort. Am Ende des Jahrzehnts konnten 79 Prozent der Leiter der Fachressorts im Ministerrat als Experten eingestuft werden.33 In einem Beschluss des Sekretariats des ZK über die „politische und fachliche Qualifizierung erfahrener Parteiarbeiter und die Veränderung des Unterrichts an den Parteischulen und Instituten der Partei“ erweiterte die Parteiführung im Dezember 1962 den Umfang der fachlichen Qualifizierungsmöglichkeiten.34 So sollten Parteifunktionäre die Möglichkeit erhalten, an der Bergakademie Freiberg, der Technischen Hochschule Leuna, der Technischen Universität Dresden, der Hochschule Ilmenau, der Universität Rostock, der Verkehrshochschule Dresden oder der Hochschule für Binnenhandel Leipzig zu studieren und den Abschluss als „Diplom-IngenieurÖkonom“ zu erreichen. Parallel dazu gab es an Fach- und Ingenieurschulen in Sonderklassen eine Ausbildung als Meister, Techniker, Ingenieur oder Handelswirtschaftler sowie Kurzlehrgänge zur Weiterbildung. Die Hochschulen hatten zusätzlich kurz- und langfristige Lehrgänge zur Weiterbildung von Parteifunktionären anzubieten. Für die 1. und 2. Kreissekretäre wurden an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst einjährige Sonderklassen eingerichtet, „um sie mit umfassenderen Kenntnissen der ökonomischen Gesetze des Sozialismus und der Planung und Leitung der Industrie auszurüsten sowie über den wissenschaftlich-technischen Höchststand in den führenden Zweigen der Industrie“. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurden u. a. in den Instituten des ZK in Schwerin und Pillnitz 32  SAPMO-BArch,

DY 30 / J IV 2 / 2J / 911. Ursula Hoffmann, Die Veränderungen in der Sozialstruktur des Ministerrates der DDR 1949–1969, Düsseldorf 1971, S. 65; S. 65, Fußnote 108; S. 66, Fußnote 109; S. 107 f., Tabelle IV. Indikator für den Status des Experten ist für Hoffmann eine „technisch-wirtschaftlich-naturwissenschaftliche Fachausbildung“; unter den Fachressorts werden „diejenigen Ministerien und Organe des Ministerrates verstanden, die mit wirtschaftlich-technischen Aufgaben betraut sind“. Ebd., S. 28 und S. 29. 34  Das Folgende nach: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 3 / 856, Bl. 108–111. 33  Vgl.



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Genossen in Zweijahreskursen zum „Staatlich geprüften Landwirt“ ausgebildet. An der Hochschule für Landwirtschaft in Bernburg und der Hochschule für LPG Meißen konnte in neu eingerichteten Sonderklassen das Diplom als Agrarökonom erworben werden. Auch hier wurden Lehrgänge zur Weiterbildung geschaffen. Fachschulen für Landwirtschaft hatten ebenfalls Sonderklassen für Parteifunktionäre zu eröffnen. Die vom Sekretariat des ZK beschlossenen Maßnahmen wurden in den folgenden Jahren umgesetzt. Im Februar 1964 startete der von einem Jahr auf zwei Jahre verlängerte Sonderlehrgang an der Hochschule für Ökonomie mit einer Jahreskapazität von 30 Genossen.35 Bereits am ersten Lehrgang nahmen ein Bezirks- und 22 Kreissekretäre teil. Das Studium, das „eine zielgerichtete ökonomische Ausbildung vermittelt“, wurde mit dem Grad eines Diplom-Wirtschaftlers abgeschlossen.36 Die Erfolge stellten sich umgehend ein. Zwischen 1962 und 1965 stieg der Anteil der Genossen mit einem Hoch- und Fachschulstudium in den Apparaten der Bezirksleitungen von 30,7 Prozent auf 47,9 Prozent, der Anteil der Mitarbeiter in den Apparaten der Bezirks- und Kreisleitungen, die über einen Hoch- bzw. Fachschulabschluss verfügten, im gleichen Zeitraum von 24,7 Prozent auf 45,7 Prozent.37 Auch in der Parteiführung selbst, im Politbüro, im Sekretariat und im Zentralkomitee, waren nun Funktionäre mit wissenschaftlichem und ökonomisch-technischem Hintergrund zu finden.38 Die frühen sechziger Jahre waren auch eine Zeit der verstärkten Einbindung von Experten in die Parteileitungen. Als typische Beispiele für die regionale Ebene können Hans Barthel, Hans Schlicht und Dr. Egon Seidel genannt werden. Hans Barthel hatte als Werkdirektor des VEB Flugzeugwerft Dresden gearbeitet, bevor er ab März 1963 zum Sekretär für Wirtschaft der Bezirksleitung Dresden avancierte. Hans Schlicht wechselte von der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften in Müncheberg, an der er als Arbeitsgruppenleiter am Institut für Acker- und Pflanzenbau tätig war, Ende 1961 als Sekretär für Landwirtschaft zur Bezirksleitung Schwerin. Dr. Egon Seidel, Professor mit Lehrstuhl, Institutsdirektor und Prorektor an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Bernburg, war von 1962 bis 1965 Sekretär für Landwirtschaft in Frankfurt (Oder). Alle drei hatten zuvor keine hauptamtliche Parteitätigkeit geleistet. 35  Vgl.

SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 3A / 932, Bl.  27. für die ökonomische Weiterqualifizierung leitender Partei­ kader der SED (2-jähriges Direktstudium)“ v. 13. Mai 1964, in: SAPMO-BArch, DY  30 / IV A 2 / 5 / 61. 37  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / IV A 2 / 5 / 60. 38  Vgl. Andreas Malycha  / Peter Jochen Winters, Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei, Bonn 2009, S. 170–172. 36  „Lehrprogramm

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In den siebziger und achtziger Jahren erreichte die Parteiführung, der in der Tat ein „unerschütterlicher und geradezu absoluter Glaube an die Wirkung von politischer und fachlicher Weiterbildung“39 zu attestieren ist, das über Jahrzehnte erstrebte Ziel, die leitenden Parteikader fachlich und politisch auszubilden. Aus einer entsprechenden Analyse vom März 1978 geht hervor, dass mittlerweile alle Bezirks- und Kreissekretäre über einen Hochbzw. Fachschulabschluss verfügten.40 Dies blieb in den achtziger Jahren unverändert.41 Von den 1960er Jahren an hatte sich der politisch und fachlich ausgebildete Parteifunktionär durchgesetzt. Ein Paradebeispiel für das von der Parteiführung angestrebte Idealbild des höheren Funktionärs, der längere Zeit im Parteiapparat gearbeitet und eine Parteihochschule besucht sowie außerdem an einer Hochschule einen fachlichen Abschluss erworben haben sollte, ist Dr. Hans Modrow. Er hatte in den fünfziger Jahren an der KomsomolHochschule in Moskau studiert und ein Fernstudium an der Parteihochschule „Karl Marx“ als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler absolviert. Anfang der sechziger Jahre erwarb er als externer Student an der Hochschule für Ökonomie Berlin-Karlshorst den Grad des Diplom-Wirtschaftlers, 1966 promovierte er über die „Auswahl und Entwicklung von Führungskadern“. Gemessen an den Kaderprinzipien der SED war er, auch wegen seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse, ein idealer Kandidat für höhere Leitungsfunktionen. Er wechselte folgerichtig 1967 von der Kreis- auf die Bezirksebene und später kurzzeitig als Abteilungsleiter in den Apparat des ZK.42 Wie schon der Mauerbau 1961, so stellte auch der Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honecker zehn Jahre später keine grundlegende kaderpolitische Zäsur dar, da in den Jahren zuvor wesentliche Aufgaben des Parteiapparates in die Hände Honeckers übergegangen waren und er bereits in den sechziger Jahren seine Hausmacht im Parteiapparat ausgebaut und die Kaderpolitik mitgestaltet hatte. Honecker sah deshalb wenig Grund, nach seiner Amtsübernahme Funktionäre in größerem Maßstab auszuwechseln. Die kaderpolitischen Grundprinzipien blieben unter Honecker in Geltung. Einige verloren jedoch mit der Zeit an Bedeutung. So waren etwa Dr. Günther Jahn und Siegfried Lorenz, beide Jahrgang 1930 und ab 1976 1. Sekretär der Be39  Helga A. Welsh, Kaderpolitik auf dem Prüfstand. Die Bezirke und ihre Sekretäre 1952–1989, in: Peter Hübner (Hrsg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozial­geschichte der DDR, Köln u. a. 1999, S. 107–129, hier S. 115. 40  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 3 / 2720, Bl.  42 ff. 41  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 11, 20 und 28. 42  Zu seiner Person vgl. etwa Hans Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, Berlin 1998; ders., Von Schwerin bis Strasbourg. Erinnerungen an ein halbes Jahrhundert Parlamentsarbeit, Berlin 2001.



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zirksleitung Potsdam bzw. Karl-Marx-Stadt, zu jung, um als Westemigrant, westlicher Kriegsgefangener oder Angehöriger kommunistischer und sozialistischer Splitterparteien kaderpolitisches Stirnrunzeln oder Kopfschütteln auszulösen. Die Relevanz solcher Kriterien verblasste zusehends. 4. Frauen Ein – schon sehr früh propagiertes – Ziel hat die SED bis 1989 nicht erreichen können: Der Frauenanteil in den Parteileitungen blieb unter den Erwartungen, eine angemessene Berücksichtigung von Frauen auf allen Leitungsebenen trat nicht ein. Dabei hatte die SED es bereits in der Entschließung des II. Parteitages zur politischen Lage im September 1947 als „eine vordringliche Aufgabe der Partei“ bezeichnet, „in wachsendem Maße Frauen mit politischen Funktionen zu betrauen und dafür einzutreten, daß die Frauen im gesamten öffentlichen Leben zu verantwortlicher Arbeit herangezogen werden. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands wird alles tun, um diese Entwicklung zu fördern und die Frauen für ihre Aufgaben zu schulen.“43 Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Der Frauenanteil unter den Sekretären der SED-Bezirksleitungen lag in den sechziger und siebziger Jahren unter fünf Prozent, in den letzten beiden Jahren der SED bei 12,3 Prozent. Er befand sich damit weit unter dem Anteil der weiblichen SED-Mitglieder (Ende 1988: 36,5 Prozent).44 Mit Christa Zellmer in Frankfurt (Oder) hat es erst ab Ende 1988 einen weiblichen 1. Bezirkssekretär gegeben. Nur vier Frauen bekleideten die Funktion eines 2. Sekretärs der Bezirksleitung. Auf der Ebene der Kreisleitungen sah es ähnlich aus. Der Anteil der Frauen unter den Sekretären der Kreisleitungen stieg von 6,8 Prozent im Jahr 1971 auf 11,3 Prozent Anfang 1987.45 In den 1980er Jahren ist eine Aufwärtsentwicklung festzustellen. Die Anzahl der in den Bezirks- und Kreisleitungen als Sekretär tätigen Frauen erhöhte sich von 102 im Jahr 1979 auf 146 im Jahr 1986 und damit um fast die Hälfte.46 Allerdings wurden die wichtigen Positionen des 1. und 2. Kreissekretärs weiterhin nur sehr selten mit Frauen besetzt. Im November 1985 waren in 261 Kreisleitungen nur 13 1. und 24 43  Entschließung des II. Parteitages zur politischen Lage, in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen des Zentralsekretariats und des Parteivorstandes, hrsg. vom Parteivorstand der SED, Bd. I, Berlin (Ost) 1952, S. 210–230, hier S. 227. 44  Gerhard Schulze, Entwicklung der Verwaltungsstruktur der DDR, in: Klaus König (Hrsg.), Verwaltungsstrukturen der DDR, Baden-Baden 1991, S. 45–70, hier S. 57. 45  SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 30. 46  SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 11.

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2. Kreissekretäre weiblich. Immerhin stieg diese Zahl bis 1988 auf 23 1. und 30 2. Kreissekretäre. Bis zum Ende der DDR wurde nicht einmal jede zehnte der 261 Kreisleitungen von einer Frau geführt. In der Parteiund Staatsführung war es nicht besser: Ein weibliches Mitglied des Polit­ büros hat es nie gegeben, im Sekretariat des ZK war lediglich eine Frau vertreten. Unter 139 Personen, die zwischen 1949 und 1969 Mitglied des Ministerrates waren, befanden sich nur sechs Frauen.47 Bis zum Herbst 1989 kam keine weitere Frau im Ministerrang mehr hinzu.48 Die von der Parteiführung propagierte Gleichberechtigung der Frau im Sozialismus ist im Hinblick auf die Präsenz in Parteileitungen völlig ungenügend umgesetzt worden. Auf keiner Ebene erreichte der Frauenanteil auch nur annähernd den unter den Mitgliedern in der SED. Dabei hatte es die Parteiführung an propagandistischen Appellen nicht fehlen lassen. Erinnert sei etwa an das Kommuniqué des Politbüros „Die Frau – der Frieden und der Sozialismus“ vom Dezember 1961, das wiederholt die „Gleichberechtigung der Frau“ als „unabdingbares Prinzip des Marxismus-Leninismus“ betonte, zugleich aber bemängelte, „daß ein völlig ungenügender Prozentsatz der Frauen und Mädchen mittlere und leitende Funktionen ausübt“.49 Im Juni 1968 fasste das Sekretariat des ZK einen Beschluss über „Auswahl, Ausbildung und Einsatz von Genossinnen in leitende Parteifunktionen“, der die Sekretariate der Bezirks- und Kreisleitungen beauftragte, „den derzeitigen Stand der Auswahl, Ausbildung und des Einsatzes von Genossinnen für leitende Parteifunktionen einzuschätzen und entsprechende Maßnahmen festzulegen.“ Dazu zählten eine planmäßige Auswahl von Genossinnen für höhere Parteifunktionen und ihre systematische Qualifizierung sowie die Schaffung einer Kaderreserve.50 Bis zum Ende der achtziger Jahre thematisierte die Parteiführung dieses Problem. Auf seiner turnusmäßigen Beratung mit den 1. Kreissekretären im Februar 1987 in Berlin wies der Generalsekretär Erich Honecker die anwe47  Vgl.

Ursula Hoffmann (FN. 33), S. 73–80, Tabelle 1. Gisela Helwig, Frauen im SED-Staat, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. III / 2, Baden-Baden / Frankfurt a. M. 1995, S. 1223–1274, hier S. 1258. 49  Die Frau – der Frieden und der Sozialismus. Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 23. Dezember 1961, in: Die Frau – der Frieden und der Sozialismus. Konferenz des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands mit Mitarbeiterinnen der Frauenausschüsse, Funktionären der Partei, der Gewerkschaften, der staatlichen Organe und der Wirtschaft anläßlich des zehnjährigen Bestehens der Frauenausschüsse in der Deutschen Demokratischen Republik in Berlin am 5. und 6. Januar 1962, Berlin (Ost) 1962, S. 3–9, hier S. 5. 50  SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 3 / 1423, Bl.  50–52. 48  Vgl.



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senden Parteikader darauf hin, „daß sich der hohe Anteil der Genossinnen an den Mitgliedern unserer Partei auch deutlicher in der Ausübung leitender Wahlfunktionen widerspiegelt“. Die bisherigen Ergebnisse seien „mehr als bescheiden.“ Es gelte, „in allen gesellschaftlichen Bereichen“ Frauen „bis in Spitzenfunktionen einzusetzen“51. Obwohl es in der Kompetenz der ­Parteiführung gelegen hätte, Frauen direkt in die Sekretariate der Bezirksund Kreisleitungen zu berufen, beließ sie es im Wesentlichen bei Appellen und Mahnungen – mit dem bereits ausgeführten Ergebnis. 5. Stagnation Nicht nur Frauen fehlten in den Parteileitungen aller Ebenen, sondern zunehmend auch neue, frische Funktionäre. Spätestens in den achtziger Jahren schlug die von Mitte der 1960er Jahre an erreichte kaderpolitische Kontinuität in Stagnation um. Anfang 1987 hatten 50,1 Prozent der politischen Mitarbeiter in den Bezirks- und Kreisleitungen ein Parteialter von über 20 Jahren aufzuweisen. 31,4 Prozent dieser Mitarbeiter waren über 15 Jahre im Parteiapparat tätig. Der Anteil der Genossen bis 30 Jahre betrug hier nur 7,3 Prozent.52 Allein 24 Sekretäre der Bezirksleitungen und damit rund jeder vierte Sekretär (ohne die erst Mitte der 1980er Jahre installierten Kultursekretäre) befanden sich im Herbst 1989 über 20 Jahre im Amt. Dem Sekretariat der Bezirksleitung Leipzig etwa gehörten 1989 zwei Sekretäre mehr als 28 Jahre und je einer 18, 19 bzw. 20 Jahre an. Ein ähnlich hohes Dienstalter wiesen mehrere Sekretäre der Bezirksleitungen Gera und Magdeburg auf. Der Cottbuser Wirtschaftssekretär saß von Juni 1958 an ununterbrochen auf seinem Stuhl. Die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen waren im Herbst 1989 durchschnittlich 63 Jahre alt. Auf der Kreisebene lassen sich ebenfalls einschlägige Beispiele finden. Im Herbst 1989 war beispielsweise der 1. Sekretär der Kreisleitung Bad Doberan, Ernst Jahnel, 29 Jahre in dieser Funktion.53 Stagnation zeigte sich auch auf der zentralen Parteiebene. 14 Abteilungsleiter des ZK hatten ein Dienstalter von mindestens 20 Jahren erreicht, allein vier waren mindestens 51  Erich Honecker, Die Aufgaben der Parteiorganisationen bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED. Aus dem Referat des Generalsekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker, auf der Beratung des Sekretariats des Zentralkomitees der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen am 6. Februar 1987 in Berlin, Berlin (Ost) 1987, S. 94 und S. 95. 52  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 50 / 11, 20, 28, 30. 53  Vgl. Michael Heinz, „Der Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen tobt …“ Friedliche Revolution und demokratischer Übergang in den Kreisen Bad Doberan und Rostock-Land, Bad Doberan 2009, S. 39.

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30 Jahre im Amt.54 Deutlicher lässt sich die unter Honecker in Kaderfragen erreichte Erstarrung nicht illustrieren. Hierzu passt der Befund, dass die vertikale Mobilität im Laufe der Jahre kontinuierlich abnahm. Hatten sich die Karrierewege in den ersten Jahren der DDR noch relativ offen gezeigt und Aufstiegsmöglichkeiten für regionale Parteifunktionäre geboten, so wurden die Amtszeiten der Parteifunk­ tionäre aller Ebenen zunehmend länger und Wechsel auf eine höhere Hierarchieebene immer seltener. Während in den fünfziger und sechziger Jahren einige Bezirkssekretäre und Ratsvorsitzende in den zentralen Partei- oder Staatsapparat aufsteigen konnten, geschah dies unter Honecker nur in Ausnahmefällen. Dies gelang am ehesten den 1. Bezirkssekretären. Ein Wechsel von der Kreis- auf die Bezirksebene kam häufiger vor, aber für die große Mehrzahl der Funktionäre in den Bezirksleitungen war auf dieser Ebene das Ende der kaderpolitischen Fahnenstange erreicht. Die Gründe für die Stagnation und Immobilität sind zu einem großen Teil beim Generalsekretär Erich Honecker zu sehen, der die Kaderauswahl direkt beeinflusste und dazu neigte, sich im Wesentlichen nur auf ihm seit langem bekannte Funktionäre zu stützen. „Überschaubar und durchschaubar wie sein begrenztes Weltbild“, so das Politbüromitglied Günter Schabowski, „mußte auch seine unmittelbare Umgebung sein. Neue Gesichter, das war nicht sein Fall. Wer einmal etabliert war, der blieb.“55 Selbst in Fällen, in denen einzelne Funktionäre aus eigenem Antrieb um eine Entlastung eingekommen waren, zeigte sich Honecker nicht geneigt, dies zu akzeptieren. Wie der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch überliefert, war der Generalsekretär „ständig dagegen, wenn einer ausschied, der jünger war als er, dann hat er schon Krach gemacht.“56 Eine „tragische Figur“ war in diesem Zusammenhang Horst Schumann, der 1. Sekretär der Bezirksleitung Leipzig. Schumann „war sehr krank“, hatte „um seine Demission selbst gebeten“ und „wurde nicht abgelöst. Er hatte Leipzig schon etliche Jahre nicht mehr geleitet, aber er durfte nicht gehen. De facto war immer 54  Die Spitzenreiter unter den ZK-Abteilungsleitern waren Klaus Sorgenicht, 1954–1989 Leiter der Abteilung Staat und Recht, und Johannes Hörnig, 1955–1989 Leiter der Abteilung Wissenschaft. Vgl. die Aufstellung der „Leiter der Abteilungen / Arbeitsgruppen des Parteivorstandes bzw. des Zentralkomitees der SED 1946– 1989“, in: Andreas Herbst / Gerd-Rüdiger Stephan / Jürgen Winkler (Hrsg.), Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 878–884. 55  Günter Schabowski, Der Absturz, Berlin 1991, S. 116 f. 56  „Wir waren überzeugt, daß unser System richtig ist.“ Gespräch mit Harry Tisch, Berlin v. 9. Dezember 1993, in: Theo Pirker u. a., Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen, Opladen 1995, S. 121–142, hier S. 132.



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Hackenberg der Chef.“57 Ende Oktober 1989 baten binnen einer Woche allein sieben Abteilungsleiter des ZK den neuen Generalsekretär Egon Krenz um Entbindung von ihrer Funktion. „Einige hatten ihre Entlastungswünsche schon vor Jahren vorgebracht. Doch niemand, der jünger als Honecker war, wagte, seine Entlastung zu beantragen. So war in Schlüsselstellungen auch die zweite Reihe im Zentralkomitee schon überaltert.“58 Eine Auswechslung lang gedienter Funktionäre hätte die Frage nach Honeckers eigenem Verbleiben aufwerfen können. Wie sehr der Generalsekretär den alten Bahnen seiner Kaderpolitik verhaftet war, kann an zwei Beispielen demonstriert werden. Als 1983 der 1. Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg Kurt Tiedke als Direktor an die Parteihochschule „Karl Marx“ wechselte, wurde nicht etwa ein jüngerer Kader nach Magdeburg geschickt, sondern mit Werner Eberlein ein Genosse, der bereits 63 Jahre alt war. Eberlein war nicht nur viereinhalb Jahre älter als sein Vorgänger, sondern auch das mit Abstand älteste Sekretariatsmitglied und nach eigenem Bekunden „zu alt“ für die neue Aufgabe.59 Das zweite Beispiel betrifft die Ersetzung des verstorbenen Frankfurter 1. Bezirkssekretärs Hans-Joachim Hertwig im Jahre 1988. Honecker entschied sich mit Christa Zellmer zwar erstmals für eine Frau, aber doch für eine Genossin, die mit fast 58 Jahren nur zwei Jahre vor dem Eintritt in das gesetzliche Rentenalter stand und dem Sekretariat der Bezirksleitung 22 Jahre angehört hatte. Auch hier griff Honecker auf altbewährte Kader statt auf unverbrauchte Genossen zurück. Weitere Ursachen für die in den 1980er Jahren erreichte Stagnation sind in fehlenden Festlegungen für die Begrenzung von Amtszeiten im Statut der SED und im Nomenklatursystem selbst zu sehen, das den Kreis- und Bezirksleitungen nur eine geringe Mitwirkung bei der Auswahl und Berufung regionaler Spitzenkader einräumte. An im Sinne der SED fachlich und politisch gut ausgebildeten Kadern mangelte es in den achtziger Jahren jedenfalls nicht. Die Partei(hoch)schulen bildeten bis 1989 tausende junge Genossen aus, an den Universitäten und Hochschulen wurde fachliches Wissen vermittelt. Die Absolventen, häufig mit einem Doktorgrad ausgestattet, arbeiteten in den Apparaten der Kreis- und Bezirksleitungen, etwa als Instrukteur, Sektoren- und Abteilungsleiter, rückten jedoch selten in die Sekretariate auf. Dazu äußerte sich der frühere 2. Sekretär der Bezirksleitung Berlin Helmut Müller wie folgt: „Die kamen zurück, und wir hatten für die keine Plätze frei. Unsere Ersten Kreis57  Protokoll des Gespräches mit Helmut Müller, Berlin, vom 21. Februar 2003, S. 29 (im Privatarchiv des Verfassers). Helmut Hackenberg war von 1971 bis 1989 2. Sekretär der Bezirksleitung Leipzig. 58  Egon Krenz, Herbst ’89, Berlin 1999, S. 170. 59  Werner Eberlein, Geboren am 9. November. Erinnerungen, Berlin 2000, S. 410.

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sekretäre waren so stabil, und wenn die Fachkader wiederkamen, haben wir gesagt: ‚Dann mache Instrukteur bei uns in der Bezirksleitung.‘ Als sie dann als Instrukteure bei uns im Apparat eingesetzt wurden, haben wir zwar alles begründet und gerechtfertigt, daß sie dadurch die Parteiarbeit kennenlernen, aber in Wirklichkeit war das eine Notlösung, weil alles durch alte Kader blockiert war.“60 An anderer Stelle spricht Müller vom „Festhalten[…] an den Stammformationen“, dessen Folgen „die Kaderarbeit in der ganzen Partei und in der Gesellschaft“ betrafen. „In den achtziger Jahren waren fähige junge Kader herangewachsen, aber die Stühle, die sie besetzen konnten, blieben besetzt. Um Erfahrungen und Kontinuität zu erhalten, drückte auch ich den Sessel, auf den ich 1971 gesetzt wurde, 18 Jahre. Die Funktion war von einer Berufung zum Beruf geworden.“61 6. Scheitern Erst im Herbst 1989 wurde das beinahe eingerostete Kaderkarussell wieder in Gang gesetzt. Anfang November trat das Politbüro geschlossen zurück, bis Mitte des Monats schieden sämtliche 1. Sekretäre der Bezirksleitungen aus ihren Funktionen aus. Bis zum 20. November hatten über die Hälfte der 1. und über ein Drittel der 2. Sekretäre aller Kreisleitungen ihren Stuhl räumen müssen.62 Die Sekretariate der Bezirks- und Kreisleitungen wurden umstrukturiert, ihre Mitglieder neu gewählt. Die Parteiführung hatte unterdessen allen Einfluss auf die kaderpolitischen Entscheidungen in den Bezirken verloren. „Jeden Tag erfahren wir aus der Zeitung“, so Egon Krenz, „daß neue 1. Sekretäre von Bezirksleitungen gewählt werden. Die ursprüngliche Festlegung, daß die Wahl von 1. Bezirkssekretären vorher im Politbüro bestätigt wird, ist nicht mehr einzuhalten.“63 Diese Kaderveränderungen waren vielfach nicht von langer Dauer. So räumten etwa die im November 1989 neu gewählten 1. Sekretäre der Bezirksleitungen Erfurt, Gera, Neubrandenburg und Schwerin noch vor Jahresende ihre Positionen wieder.64 Ohnehin war die Geschichte der SED mit ihrem außerordentlichen Parteitag vom 8. / 9. und 16. / 17. Dezember 1989 60  Gesprächsprotokoll

Helmut Müller (FN 57), S. 12 f. Müller, Wendejahre 1949–1989, Berlin 1999, S. 305. 62  Vgl. SAPMO-BArch, DY 30  / IV 2 / 2.039 / 315, Bl. 26–61 und Heinz Mestrup, Die SED im Bezirk Erfurt vor und während der politischen Wende im Herbst 1989, in: Günther Heydemann / Gunther Mai / Werner Müller (Hrsg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989 / 90, Berlin 1999, S. 429–445, hier S. 442 f. 63  Egon Krenz, Wenn Mauern fallen. Die friedliche Revolution: Vorgeschichte, Ablauf, Auswirkungen, Wien 1990, S. 232. 64  Vgl. Mario Niemann / Andreas Herbst (FN 3), S. 289, S. 395, S. 237 und S. 92. 61  Helmut



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beendet. Deren Niedergang hatten auch die neuen Genossen in zentralen und regionalen Parteileitungen nicht aufhalten können. Die SED-Führung verwendete erhebliche Ressourcen auf die Ausgestaltung der Kaderpolitik. Es gab eine Kaderstatistik, regelmäßige Kaderberichterstattungen, ausgefeilte Kaderprogramme und Kaderentwicklungspläne, Kaderreserven, ein differenziertes Nomenklatursystem und umfangreiche Kaderkriterien, die bis in den privaten Bereich hineinreichten. Von den siebziger Jahren an, so Helga Welsh, erreichte die Kaderpolitik, „gemessen an rein formalen Kriterien, von der Rekrutierung, Ausbildung bis zum Einsatz eine gewisse Perfektion“65. Dennoch wurde ein ausgewogener Anteil von personellen Wechseln einerseits und „erfahrungskumulierender Amtsverhaftung“66 andererseits nie erreicht. „Mangels institutionalisierter Ablösungsmechanismen und eines Führungsgebarens, das personelle Kontinuität und politisch-ideologische Einigkeit zu obersten Maximen beförderte, gingen Beharrungs- und autokratische Tendenzen sowie Perfektionierung und Routinisierung eine Symbiose ein, die sich letztlich als krisenhaft herausstellte.“67 Die Parteiführung ging bis zuletzt davon aus, sich abzeichnende politische und ökonomische Probleme auf personellem Weg, durch den optimalen Einsatz ihrer Kader, lösen zu können. Die Erwartung erfüllte sich nicht. Die jahrzehntelang mit großem Aufwand, aber häufig sehr formal betriebene Kaderpolitik der SED-Führung ist gescheitert. Sie konnte das Ende der DDR und der SED nicht nur nicht verhindern, sondern muss auch als eine der Ursachen für den Zerfall der Partei gelten.

65  Helga

A. Welsh (FN 39), S. 109. Best / Heinz Mestrup, Die Ersten und Zweiten Sekretäre der SED. Machtstrukturen und Herrschaftspraxis in den thüringischen Bezirken der DDR, Weimar 2003, S. 491. 67  Helga A. Welsh (FN 39), S. 110. 66  Heinrich

Die Deutschlandpolitik vom Mauerbau bis zum Mauerfall Von Hans-Georg Wieck 1. Wirkfaktoren – Wirkkräfte: Die Vier Mächte und die Zukunft Deutschlands Nach dem mit großen Opfern errungenen militärischen Sieg über HitlerDeutschland und der Beseitigung der verbliebenen Partei- und Wehrmachtstrukturen sowie der vorläufigen Regelung von Territorialfragen und der Vereinbarung von Reparationsansprüchen im Sommer 1945 traten sehr bald die unterschiedlichen Interessen und Ziele der Kriegsalliierten über die Zukunft Europas und Deutschlands deutlich zu Tage. Entscheidungen über Deutschland als Ganzes und über Berlin sowie die Fragen der Lufthoheit blieben den vier Siegermächten zur gemeinsamen Beschlussfassung vorbehalten. Im Übrigen aber hatten sich die drei (vier) Mächte im Abschlusskommuniqué der Potsdamer Konferenz vom August 1945 grundsätzlich uneingeschränkte Handlungsfreiheit in ihren jeweiligen Besatzungszonen bestätigt. Die in Aussicht genommenen zentralen deutschen Verwaltungseinrichtungen blieben auf dem Papier. Die Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen würden zu gegebener Zeit, um mit den Worten mancher Beobachter zu sprechen, in einem historischen Prozess gelöst werden können, und damit auch die Grenzfragen und der Status von Berlin. Die Bemühungen, die Dinge in Deutschland und Europa im Sinne der weltpolitischen und ideologischen Interessen und Ziele der Sowjetunion zu gestalten, scheiterten spätestens mit dem Mauerbau 1961. Der Mauerbau dokumentierte, wie es die Niederwerfung von Aufständen in Ost-Berlin, Ungarn und der Tschechoslowakei tat, dass die Sowjetunion primär im Interesse der ideologischen und militärischen Sicherung des Vorfelds handelte. Entgegen der kommunistischen Lehre handelte es sich bei den Gegenbewegungen in Ost-Mitteleuropa nicht um die Rückzugsgefechte der bürgerlichen Klasse, sondern um national motivierte und zum Teil demokratisch orientierte Aufstände gegen die imperiale Sowjetunion. Darüber hinaus mangelte es der Sowjetunion an den Mitteln zur nachhaltigen Schwächung des Nordatlantischen Bündnisses und der politisch-sozialen Strukturen in West-, Nord- und Südeuropa, um das sich politisch stabilisierende und wirtschaft-

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lich erfolgreiche Westeuropa politisch unter die eigene Kontrolle zu bringen. Mit der Gründung des Nordatlantischen Bündnisses und der dauerhaften Stationierung US-amerikanischer Streitkräfte in Europa war eine sowjetische militärische Offensive in Europa, ohne einen amerikanischen Gegenschlag auszulösen, nicht mehr möglich. Geleitet von der subjektiven Überzeugung innerer Schwäche der Vereinigten Staaten und des westlichen Bündnisses und gestützt auf die (vermeintlich) großartigen Leistungen der eigenen Wirtschaft, Rüstung und Weltraumtechnologie – dazu gehörten auch die Bildung einer vierten Teilstreitkraft, die der Raketentruppen und Testexplosionen von schweren Nuklearwaffen im Nordmeer (Nowaja Semlja) – forderte Nikita Chruschtschow mit dem Ultimatum vom November 1958 die westlichen Berlin-Mächte mit der Forderung nach Beendigung des Besatzungsstatuts von Berlin und dem Abschluss eines Friedensvertrages der Sowjetunion mit der DDR heraus, die auch die Funktionen, wenn nicht die Rechte der Sowjetunion in Berlin übernehmen sollte. Chruschtschow spielte an der sensibelsten Stelle der Ost-West-Konfrontation – dem territorial isolierten Berlin-West – mit dem Feuer. War eine Blockade der alliierten und der deutschen Zugänge zu erwarten? Wie würde der Westen reagieren? Gab es Kompromissmöglichkeiten? Ungeachtet der Außenministerkonferenz in Genf (Mai-August 1959) und des wegen der US-Spionageflüge geplatzten Gipfels Eisenhower-Chruschtschow in Paris (Juni 1960) stand weiterhin die Möglichkeit einseitiger Schritte der Sowjet­ union im Raume. Dieser virulente Gefahrenherd gehörte für den neuen demokratischen Präsidenten John F. Kennedy zum internationalen Erbe der Eisenhower-Regierung. Sein Aufbruch zu neuen Grenzen – New Frontier – sollte nicht an den Überresten des Zweiten Weltkrieges demonstriert werden, sondern an den Umwälzungen in der Dritten Welt, um die Folgen des Kolonialzeitalters zu beseitigen. Mit großer Zurückhaltung ging der junge Präsident an die „Rest-Probleme des zweiten Weltkrieges – die Berlin-Frage und Sicherheit in Europa“ – heran. Er suchte auch hier nach neuen Wegen zur Verständigung mit Moskau, nach Kompromissen, beispielsweise einem UNO-Status für Berlin, der Stationierung von VN-Truppen in Berlin und der Bildung einer Internationalen Luftkontrolleeinheit für Berlin – mit DDR-Beteiligung, um auf diesem Wege einer neuen riskanten Konfronta­ tion, möglicherweise einem militärischen Konflikt wegen der Berlin-Frage zu begegnen. Waren die Delegationen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bei der Konferenz der Außenminister der vier Deutschlandmächte in Genf im Jahre 1959 noch an Katzentischen platziert worden, vollzog sich 1960 ein fundamentaler Wandel: In ihren Erklärungen zur zukünftigen Lage in



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und um Berlin kündigte die Sowjetunion die Übertragung von Funktionen oder gar Rechten der Sowjetunion an die DDR und den Abschluss eines zweiseitigen Friedensvertrages an. Damit sollte die DDR international aufgewertet werden – zu einem Zeitpunkt allerdings, an dem täglich Tausende von Deutschen der DDR den Rücken kehrten, um in der Bundesrepublik ihre Zukunft zu gestalten. Die DDR schlitterte in eine politische, wirtschaftliche und soziale, ja in eine Existenzkrise. Hatten die Drei westlichen Berlin-Mächte in der Vergangenheit nach internen Beratungen Konsultationen mit der Bundesregierung mit dem Ziel geführt, soviel Einvernehmen wie möglich zu erreichen, traten die Drei Mächte im Laufe des Jahres 1961, also nach dem Beginn der KennedyPräsidentschaft in den USA, an die Bundesregierung mit dem Vorschlag heran, zusammen die Planungen für den Berlin-Fall, was auch immer infolge einseitiger sowjetischer Maßnahmen geschehen konnte, auszuarbeiten und politisch gemeinschaftlich zu vertreten. Die Beratungen sollten in der dazu gegründeten westlichen Viermächte-Botschaftergruppe in Washington stattfinden, Untergruppen für politische, militärische und wirtschaftliche Fragen gebildet werden – und eine Gruppe für die Bearbeitung von Eventualfällen. Washington war der Sitz des NATO-Militärausschusses mit einer Sonderrolle der Drei Mächte in der NATO Standing Group. Die neue Viermächte-Konstellation auf der westlichen Seite stellte eine substantielle Veränderung in der politischen „Schlachtordnung“ des Nordatlantischen Bündnisses und der politischen Verantwortung für die Wahrnehmung der Deutschland als Ganzes und Berlin im Besonderen betreffenden Fragen dar. Im Konflikt und der Konfrontation mit der Sowjetunion war die Bundesrepublik zum unverzichtbaren Verbündeten der Drei Berlin / Deutschland-Mächte geworden. In der militärischen Berlin-Planung würde ein Einsatz deutscher Kräfte in der Folge von Drei-Mächte-Sondierungsoperationen im Falle blockierter alliierter Zugänge nach Berlin mit dem Übergang der Operationsführung von den Drei Mächten auf die NATO zusammenfallen. Ohne diese Rückendeckung, die in Artikel 6 in Verbindung mit Artikel 5 des NATO-Vertrages verankert war, könnten die drei Berlin-Mächte keine einzige militärische Sondierungsaktion auf den Zugangsrouten nach Berlin durchführen. Nun war eine Präzisierung erfolgt – nämlich für den Fall einer Zugangsblockade für die Alliierten nach Berlin. Von nun an begannen alle NATO-Ministertreffen mit einer Viermächte-Runde (Washington, London, Paris, Bonn). Bonn war zum Ärger von Washington und London ein schwieriger Partner am Tisch der neuen Viermächte-Konstellation: Grundsätzlich forderte Bonn im Fall der Berlin-Blockade neben den militärischen Sondierungsoperationen auf den gesperrten Zugangsstrecken und angemessenen politischen

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Reaktionen vor allem Gegenmaßnahmen auf Feldern, die sowjetische Politik- und Wirtschaftsinteressen treffen würde. Meerengen und Kanäle wie der Panama- und der Nordostsee-Kanal sollten im Falle der Blockade der Zugangswege von und nach Berlin für die sowjetische Handelsschifffahrt gesperrt werden. Diese Planungen, denen die Alliierten zunächst sehr zurückhaltend gegenüberstanden, wurden bei der Kubakrise 1962 in Form der Quarantänemaßnahmen gegen die sowjetische-kubanische Atlantik-Handelsschifffahrt angewendet und waren schließlich erfolgreich. Beruhten die westlichen Planungen auf Annahmen über eine neue BerlinBlockade, die von der Sowjetunion mit dem Ziel unternommen werden würde, den internationalen Status der DDR anzuheben, die Drei Mächte aus Berlin herauszudrängen und damit ein Zeichen für den Sieg des sowjetischen Systems in Europa zu setzen, trat die tatsächliche Krise – der Bau der Mauer am 13. August 1961 in Umsetzung einer Chrutschtschow-Entscheidung – als eine Maßnahme in Kraft, die in erster Linie die Substanz der DDR gegen die sich seit einiger Zeit vollziehende personelle Auszehrung sichern und schützen sollte. Sie war nur sekundär von dem Ziel geprägt, die westlichen Rechte in Berlin zu beeinträchtigen, die westlichen Berlin-Mächte bloßzustellen und den internationalen Status der DDR anzuheben sowie Berlin-West politisch und wirtschaftlich auszutrocknen, wie es mit einer Blockade angestrebt worden wäre. Gleichwohl löste der Mauerbau eine schwere politische und psychologische Krise in den Beziehungen zwischen Bonn und den drei Berlin-Mächten aus, der man mit mehr oder weniger erfolgreichen Maßnahmen begegnete. Eine US-Brigade wurde auf dem Landweg nach Berlin verlegt. US-Vizepräsident Johnson besuchte Berlin und sprach zu den Berlinern. Er versicherte sie der US-Unterstützung in ihrer erneut verschärften Insellage. Der sagenumwobene General Lucius Clay, der den Beschluss zur Luftbrücke im Jahre 1948 durchgesetzt hatte, wurde als Sonderbeauftragter des US-Präsidenten in Berlin installiert. Es war politisch geboten, die Bindungen zwischen Berlin-West und Bonn gegen den sowjetischen Widerstand zu betonen, wiewohl eine Ausweitung der administrativen Präsenz der Bundesrepublik Deutschland in Berlin – zum Beispiel durch die Errichtung des Bundesumweltamtes in Berlin – nur gegen hartnäckigen Widerstand der Alliierten erreicht werden konnte. Die Wahl des Bundespräsidenten fand in der Zeit der deutschen Teilung zum letzten Mal 1969 in der Ostpreußenhalle des Messegeländes am Funkturm in Berlin statt. Die Lebensfähigkeit der Stadt (Berlin-West) war zu einem der Grundpfeiler der westlichen Berlin-Politik geworden und wurde durch mancherlei Investitionen gestärkt und durch Unterbindung westdeutscher Aktivitäten in der Stadt geschwächt. Die DDR konnte ihre Rolle in verschiedenen Positionen verstärken, u. a. mit der Einführung des Visumszwangs für nicht alliiertes Personal auf den Zugangswe-



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gen nach Berlin und im Reiseverkehr zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Die DDR fertigte auch technisch den alliierten Verkehr von und nach Berlin ab. Allerdings wurde DDR-Personal nicht in das Luftkontrollzentrum für Berlin (Berlin Air Safety Center) eingeführt. Nach alliiertem Verständnis hob die technische Rolle von DDR-Personal in den Zugangsprozessen nicht die sowjetischen Funktionen und Rechte als vierte Berlin-Macht auf – so sah es auch die sowjetische Regierung, wie das Berlin-Abkommen der Vier Berlin-Mächte von 1971 zeigt. Die Mauer trennte Familien und beendete Arbeitsverhältnisse. Der Senat von Berlin drängte auf Verhandlungen mit DDR Beauftragten, um die Besuche von West-Berlinern in Ostberlin möglich zu machen. Bonn tat sich wegen des politischen Aufwertungseffektes zugunsten der DDR als Vertragspartner schwer, musste aber schließlich den Weg freimachen. Aber die DDR-Führung zahlte auf Dauer einen hohen politischen Preis für die Mauer quer durch Berlin, der schließlich ihren Sturz mit verursachte: Die DDRBevölkerung betrachtete sich in einem Gefängnis. Die Mauer wurde – zusammen mit dem Ministerium für Staatssicherheit – zur Inkarnation des DDR-Systems der Unfreiheit. 2. Konfrontation und Modus Vivendi in Berlin und Deutschland – zur Vermeidung eines Krieges Schließlich konnten sich die Vier Berlin-Mächte in dem Abkommen vom 3. September 1971 (in Kraft getreten am 3. Juni 1972) unter Wahrung der Rechtspositionen über die Modalitäten des alliierten Zugangs nach Berlin verständigen, sowie über die Sicherung von Berlin-West und den Zugang von Bewohnern von West-Berlin in den Ostsektor. Im Rahmen dieses Abkommens übernahmen auch DDR-Beamte technische Abwicklungsverfahren. Parallel dazu konnten die Bundesregierung und die DDR-Regierung im Jahre 1972 im Grundlagenvertrag einige Aspekte des geregelten Neben- und Miteinanders vereinbaren. Im Jahre 1973 wurden beide Staaten in Deutschland in die Vereinten Nationen aufgenommen. In der westdeutschen Politik gegenüber der DDR stand als ein unpolitisches, nicht auf die Unterminierung des DDR-Machtapparates gerichtetes Anliegen im Mittelpunkt allen Wirkens – die Durchsetzung „menschlicher Erleichterungen“. Dazu gehörten das Bemühen um Reiseerleichterungen für DDR-Bewohner in die Bundesrepublik und nach Berlin-West sowie der Freikauf politischer Gefangener des Regimes und wirtschaftspolitische bzw. finanzielle Vergünstigungen. Es mangelte nicht an Stimmen in der Bundesrepublik, die sich dafür aussprachen, die gesonderte Staatsangehörigkeit der Bürger der DDR anzuerkennen, und damit ihren, wenn auch schwierig zustande zu bringenden Besuch in

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der Bundesrepublik und Westeuropa politisch zu entwerten. Gemäß Grundgesetz hatte jeder Bewohner der DDR Anspruch auf die Ausstellung eines Reisepasses der Bundesrepublik Deutschland, mit dem er visumsfrei in viele andere Länder der EU reisen konnte. Die Forderung nach Anerkennung der DDR-Staatsangehörigkeit konnte nur als Einladung zur Anerkennung der staatlichen Teilung der Nation interpretiert werden. Die Akzeptanz ostdeutscher Staatsangehörigkeit bei Reisen in die Bundesrepublik schien die Position der „Realos“ im deutschen politischen Setup zu repräsentieren. Nein, es waren auch die „Fundis“, die dies wünschten, weil sie eine deutsche politische Einheit – mit achtzig Millionen Bewohnern – als abträglich für den Frieden und die Sicherheit in Europa ansahen. In der Formel „Offenhalten der deutschen Frage“ fand demgegenüber das Festhalten an der deutschen Einheit als politischem Ziel der Bundesrepublik Deutschland einen dem „korrekten politischen Verhalten der damaligen Zeit“ angemessenen Ausdruck. Es war eine minimalistische Forderung, und selbst diese Formel war in weiten Teilen des Landes umstritten. Für manche stellte die Vereinbarung von Modus Vivendi-Regelungen in Deutschland (Berlin-Abkommen, Grundlagenvertrag), die die Zeichnung der Schlussakte von Helsinki am 1. August 1975 ermöglichten und von den Vereinbarungen über Gewaltverzicht der Bundesrepublik mit Moskau und Warschau im Jahre 1970 flankiert waren, die Grundlage für den dauerhaften Frieden in Europa dar, weil die sowjetische Position des Interventionsanspruchs in Ländern des Warschauer Paktes als permanenter Bestandteil der Lage und Ordnung in Europa, Deutschland und Berlin angesehen wurde. Die unterschwellige Unruhe in den Nationalstaaten im Vorfeld der Sowjetunion wurde negiert oder verdrängt. Diese unterschwellige Unruhe manifestierte sich indessen schon in dem Beschluss der regierenden kommunistischen Parteien vom Jahre 1976 in Ost-Berlin, in dem die kommunistischen Parteien im sowjetischen Vorfeld den Anspruch auf den eigenen Weg zum Kommunismus verankerten. Breschnew konnte nur nach Rückkehr in die sowjetische Hauptstadt den sowjetischen ideologischen und politischen Führungsanspruch proklamieren und damit die Breschnew-Interventionsformel als Manifestation des sowjetischen Herrschaftswillens – unabhängig von den Wünschen der Nationen im sowjetischen Vorfeld – verankern. In der Tat fürchtete Warschau im Jahre 1981 angesichts des nationalen Aufbruchs der Solidarność-Bewegung eine sowjetische militärische Intervention und verhängte selbst das Kriegsrecht zur Unterbindung der nationalen Aufstandsbewegung. In der Bundesrepublik verblassten im politischen Bewusstsein der Bevölkerung und weiter Teile der Führungsstrukturen das Ziel und der Anspruch auf die Vollendung der deutschen politischen Einheit, wie ihn das Grundgesetz konstituierte. Die Sicherheitslage in Europa stehe der Vollendung der



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Einheit entgegen, hieß es – wie die Interessenlage der Nachbarn Deutschlands, von der Sowjetunion ganz zu schweigen. Gleichwohl bleibt es für die Charakterisierung der Periode zwischen dem Mauerbau bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre bei der Formel „Konfrontation und Modus Vivendi zur Vermeidung des Krieges in Europa“. Hätte der Mauer-Bau verhindert oder in den ersten Tagen rückgängig gemacht werden können bzw. müssen? Der BND hatte Vorbereitungen und vor allem Bereitstellungsoperationen der sowjetischen Streitkräfte um Berlin herum gemeldet1, die auf Sperrmaßnahmen zur Eindämmung des nicht abreißenden Flüchtlingsstromes aus der DDR in das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland hinausliefen. Die politischen Ebenen in den westlichen Hauptstädten und in Bonn hatten diese Berichte nicht zu Maßnahmen veranlasst, die auf die Verhinderung von DDR-Sperrmaßnahmen hinauslaufen würden, Präsident Kennedy und vor allem Senator Mansfield, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des US-Senats, hatten die Hinnahme von „Schutzmaßnahmen“ zugunsten der DDR signalisiert – vorausgesetzt, sie berührten nicht die Rechte der Drei westlichen BerlinMächte, die Zugänge nach Berlin und die Lebensfähigkeit der Bevölkerung von West-Berlin (in der Originalfassung in die Worte „Freiheit und Sicherheit West-Berlins“ gefasst). Dies waren die drei von John F. Kennedy in seiner Ansprache vom 25. Juli 1961 identifizierten „essentials“. Unter die geforderte „Lebensfähigkeit“ wurden die lebensnotwendige Bindung zwischen Berlin-West und der Bundesrepublik Deutschland wie die Währungseinheit subsumiert. Vieles wurde indessen preisgegeben: Die freie Bewegung der Bewohner von Ost- und West-Berlin und die freie Beschäftigung beiderseits der Sektorengrenze; eine offene Grenze für die Bewohner der DDR zum Westen. Weitere DDR-Funktionen in Berlin-Angelegenheiten wurden hingenommen, wie schon vorher Berlin-Ost als Sitz der Regierung der DDR mit dem Vier-Mächtestatus der Stadt als unvereinbar angesehen werden musste. Die Menschen in Berlin fühlten sich ein Stück weiter eingeschnürt – das Frontstadt-Syndrom gewann erneut Prominenz. Was würde der nächste Schritt zur sowjetischen Einschnürung von Berlin-West sein? War BerlinWest ein Sozialwesen ohne Zukunft geworden? Konnte es im Interesse der Entspannung und Verständigung mit Moskau preisgegeben werden? Wer hatte daran gedacht, den Regierenden Bürgermeister in Schlüsselfragen der Existenz von Berlin-West vor der Krise zu konsultieren? Bundeskanzler Adenauer unterließ eine sofortige Berlin-Reise und führte ein versöhnliches Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Bonn. Hatte Berlin in den 1  Vgl. Matthias Uhl  / Armin Wagner, BND gegen Sowjetarmee. Die BND-Aufklärung und der Mauerbau, Berlin 2007, S. 112–120.

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Augen der Bundesregierung an Relevanz für die Ost-West-Beziehungen und für die Wiederherstellung der deutschen Einheit verloren? Von der Furcht geleitet, dass Chruschtschow bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen über den zukünftigen Status von Berlin und die Rolle der DDR in diesem Zusammenhang auch eine militärische Konfrontation über Berlin in Kauf nehmen könnte, suchten die drei westlichen Berlin-Mächte zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland nicht nur eine glaubwürdige Eventualfallplanung zustande zu bringen (Live Oak), sondern leiteten auch Sondierungsgespräche mit Moskau über mögliche Verhandlungen zur Entschärfung der Spannungen in Berlin und in Europäischen Sicherheitsfragen ein, denen Bonn und Paris nur zögernd grünes Licht geben. Am Ende blieb der Stuhl Frankreichs in den Vier-Mächte-Vorgesprächen für Sondierungen mit Moskau über ein Verhandlungspaket sogar leer. Die Sondierungen führten in die Leere, schufen aber ein politisches Reizklima zwischen Washington und Bonn, das auch zu einem Wechsel in der Leitung der deutschen Botschaft führte (September 1962: Knappstein anstelle von Grewe). Moskau setzte indessen den Provokationskurs gegenüber Washington fort: Die Kuba-Krise vom Herbst 1962 brachte die machtpolitischen Rivalen USA und Sowjetunion an den Rand des Krieges. Der BND hatte die USA über den Schiffstransport von Raketen nach Kuba unterrichtet. Die Solidarität der Bündnispartner mit den USA stand in der Kuba-Krise außer Frage – auch und vor allem Seiten Frankreichs. Unter der Wirkung der unmittelbaren Gefahr eines Nuklearkrieges zwischen den Weltmächten in der Kubakrise vom Oktober 1962 leitete Präsident Kennedy mit seiner Rede an der Washington Universität am 10. Juni 1963 eine neue diplomatische Initiative gegenüber Moskau mit dem Vorschlag eines Abkommens über einen begrenzten Atomtestvertrag ein, mit dem der Weg zur weitergehenden Abrüstung und Rüstungskontrolle in einer vom Grunde her brisanten sicherheitspolitischen Lage eingeleitet werden sollte. Wenige Wochen später, am 25. Juli 1963, einigten sich die USA und die Sowjetunion auf den Verzicht von Nukleartests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser – ausgespart blieben unterirdische Versuche, da diese zu verifizieren zu schwierig war. Das Abkommen diente als Öffnung eines Weges zur Kontrolle der internationalen Spannungen und öffnete den Weg zu einem weiteren, weltweit zur Geltung kommenden Abkommen, dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen über den Kreis der bestehenden NuklearMächte hinaus. Der Vertrag, der die Sonderstellung der fünf Veto-Mächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und der fünf Nuklearmächte zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens im Jahre 1968 zementierte – also auch den des kommunistischen China, das zu dem Zeitpunkt noch nicht den chinesischen Sitz im VN-Sicherheitsrat wahrnehmen konnte, – wurde ebenso von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR unterzeichnet. Zum ersten



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Mal war ein ­bedeutendes internationales Abkommen entgegen dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland auch von der DDR unterzeichnet worden. Im Ringen um den Vertragsinhalt konzentrierte sich Bonn – ungeachtet anfänglicher Vorhaltungen gegenüber den USA wegen der Unterminierung des westdeutschen Alleinvertretungsanspruchs – auf die rechtlich gesicherte Freistellung nuklearer Forschung, Entwicklung und Anwendung im nichtmilitärischen Bereich und deren Öffnung für internationale Kontrollen durch die VN-Sonderorganisation für Nuklearenergie (IAEO). Diesen von anderen hoch industrialisierten Ländern unterstützten Bemühungen war Erfolg beschieden. Nach dem Sturz von Chruschtschow im Jahre 1964 verlor die sowjetische Drohung eines militärisch unterstützten Alleingangs in Berlin zunehmend an Relevanz. Das Management der täglichen Reibereien zwischen den drei Mächten und der Bundesregierung in Berlin-Angelegenheiten und mit der sowjetischen Berlin-Macht wurde der Bonner Vierer-Gruppe überlassen. Die Washington-Botschaftergruppe blieb auf dem Papier bestehen; ebenso wurden die Live Oak- und die anderen Komponenten der Berlin EventualfallPlanungen in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Im Wechsel von konfrontativen und kooperativen Schritten perpetuierte sich der Kalte Krieg – die NATO Formel „Verteidigung und Entspannung“ bringt diesen Dualismus treffend zum Ausdruck – mit einem hinreichenden Krisenmanagement bei ungeplanten Zusammenstößen, einigen Hoffnungsträgern wie dem Helsinki-KSZE-Prozess, den Abrüstungsabkommen für Strategische Waffen und der Begrenzung von Raketen Abwehrsystemen, aber ebenso mit dem Beginn von Rüstungskontrollverhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa. Vieles sprach für die Formel „Stabilität durch Teilung (Europa, Deutschland, Berlin) und militärische Abschreckung“ als Basis des dauerhaften Friedens in Europa. Aber es kam anders – mit Gorbatschow. Er wurde im März 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU berufen. Von der Notwendigkeit von Reformen des Sowjetsystems war schon lange die Rede gewesen. In den siebziger Jahren sprach man von der „großen Stagnation der Sowjetunion“ und dem Ende der Breschnew-Ära. Fünf Jahre später wurden die Abkommen zur Beendigung des Kalten Krieges, der militärischen Konfrontation in Europa, der Teilung Europas und der Teilung von Deutschland und Berlin zur Unterzeichnung vorbereitet. Wie war dieser Quantensprung zu erklären und zu verstehen? Vergeblich suchen wir in den Komponenten, die die Lage Ost-West, die Lage in den sowjetisch beherrschten Teilen des Warschauer Paktes, die Lage der Sowjetunion, den verlustreichen und aussichtslosen Krieg in Afghanistan selbst ausmachten, Wirkkräfte, die suggerierten, dass es unabweisbaren und unter Zeitdruck stehenden Handlungszwang zur

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Aufhebung des Kalten Krieges und zur Überwindung der Teilung Europas gab. Was war geschehen? Wir müssen einen Blick auf Veränderungen in der Weltlage richten, die sich in den siebziger und achtziger Jahren vollzogen hatten und die die Entwicklung in den einzelnen Krisengebieten Ost-Mitteleuropas in einem anderen Licht erscheinen lassen. 3. Tektonische Verschiebungen in der Weltlage Wer von der internationalen Weltlage vor der Wende spricht, muss an den Ost-West-Konflikt und die inneren Prozesse in der sozialistischen Welt denken, zu der per definitionem auch China gehörte – wenn es auch kein Mitglied des Warschauer Paktes war und in gespannten Verhältnissen zur Sowjetunion lebte. Von beiden Bereichen ist zu sprechen, um den Hintergrund dessen auszuleuchten, was viele als das Wunder von der Spree erlebten und auch heute noch so werten, nämlich die friedliche, die einvernehmliche Beendigung des seit dem Ende der vierziger Jahre die Szene in Europa beherrschenden Kalten Krieges. Das bedeutete die Herstellung der politischen Einheit Deutschlands und ein Zwei-plus-Vier-Abkommen über die Aufhebung der Vier-Mächte Rechte in Deutschland, das Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Ost-Mitteleuropa, die Öffnung des Weges zum KSEAbrüstungsabkommen sowie das politische Manifest – die Charta von Paris – zur Transformation auch Osteuropas – inklusive der Sowjetunion – zu Demokratien und Marktwirtschaften westlichen Vorbilds mit der dritten unverzichtbaren Gewalt einer unabhängigen Justiz. Eine solche Wende der geostrategischen Lage in Europa kann man nicht kaufen, nicht im Wege der Männerfreundschaft herbeizaubern, bei aller berechtigten Anerkennung der Rolle von einzelnen Persönlichkeiten in diesem Prozess. Es bedarf dazu anderer Triebkräfte, vielleicht eines schon längere Zeit wirkenden Gärungsprozesses. Und das ist nach meinem Urteil der Fall gewesen. Vieles spricht dafür, dass in den siebziger Jahren weltpolitische Veränderungen tektonischen Ausmaßes in China ihren Anfang nahmen und das Land auf den Weg wirtschaftlicher Reformen und einer strategischen Annäherung an die USA, ja auf den Weg zu einer Konfrontation mit der Sowjetunion brachten. Parallel dazu machten die sowjetischen Herrscher die Erfahrung, dass ihr eigenes Planungssystem den Forderungen der Zeit nicht angemessen entsprechen konnte. Man sprach von der großen Stagnation, in der sich die Sowjetunion befand. Lange, bevor die sowjetische Führung unter Gorbatschow eine Verständigung mit den USA über bedeutende Abrüstungsschritte im nuklearen und konventionellen Bereich anstrebte und dabei die Abkehr von einer OffensivDoktrin und die Hinwendung zu einer Vereidigungsstrategie öffentlich for-



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derte und schließlich auch im eigenen Land durchsetzte, gab es in Moskau und Beijing Anzeichen für die Revision des sozialistischen Weltbildes, das von Marx und Engels geprägt worden war und den Untergang des kapitalistischen Systems auf der Grundlage seiner eigenen Widersprüche deterministisch prognostizierte. Dies musste zu einer Revision der Grundzüge des historischen Determinismus mit weitreichenden strategischen Folgen führen. Was lehrt uns dieser Rückblick auf die Entwicklungen in China und der Sowjetunion in den siebziger Jahren? Unsere Erinnerung an die Rolle Chinas im Reformprozess der kommunistischen Länder ist primär mit der gewaltsamen Unterwerfung des Aufstandes der Studenten auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Beijing im Jahre 1989 verbunden. Und mancher Scharfmacher in Ost-Berlin hatte gehofft, dass die Sowjetunion und die DDR nicht zögern würden, eine aus dem Ruder laufende Protestwelle im eigenen Lande oder in anderen mittelosteuropäischen Ländern auf gleichermaßen gewaltsame Weise zu unterdrücken, wie es in Beijing geschah. Deng Xiaoping, der Reformer Chinas, stoppte mit dem Gewaltakt den Weg zu demokratischen Reformen – aber nicht, um das kommunistische Wirtschaftssystem am Leben zu erhalten, sondern um die kapitalistische Wirtschaftsreform unter der Kontrolle der autoritären Staatspartei rascher und intensiver voranzubringen. Mit seinen Wirtschaftsreformen hatte er nach dem Tode von Mao Tsetung im Jahre 1976 die „Viererbande“, also die Promotoren der Kulturrevolution und der Inkarnation der sozialistischen Gesellschaft auf der Basis der Gleichheit und Primitivwirtschaft ausmanövriert. Unter Nutzung kapitalistischer Wirtschaftsgesetze und staatlicher Direktiven leitete er die Rückkehr Chinas in die Weltwirtschaft ein. Ohne ein Zitat aus Deng Xiaopings Feder zur Hand zu haben, kann man sagen, dass Deng mit der Gewissheit gehandelt hat, dass das kapitalistische System nicht an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen werde, folglich die im übrigen gespaltene sozialistische Welt nicht die Nachfolge dieses Systems antreten könne. Unter solchen Umständen mussten die sozialistisch geführten Volkswirtschaften mit kapitalistischen Methoden in wirtschaftliche und soziale Konkurrenz mit den kapitalistischen Mächten treten. Jahre später begründete Michael Gorbatschow mit diesen Argumenten den Wechsel des außenpolitischen Kurses auf der Parteikonferenz 1986. Möglicherweise hatten sich auch in China als Reaktion auf die mörderische Kulturrevolution die Traditionen chinesischer Staats- und Wirtschaftssowie Soziallehren gegen das kommunistische Wirtschaftsprinzip durchgesetzt. Die Auslandschinesen spielten in diesem Prozess eine bedeutende Rolle. In seiner Analyse der Reformpolitik Deng Xiaopings kommt Carsten Kaven – wie andere vor ihm – zu dem Ergebnis, dass die zerstörerische

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Wirkung der Kulturrevolution als kognitiver Bruch die Reformen und die allgemeine Bereitschaft zum Wandel beeinflusst hat – ergänzt um die positiven Wirkungen der außenpolitischen Öffnung mit der Übernahme des VN-Sitzes Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Jahr 1971.2 Gesellschaftliche Spannungen, die internationalen Bedingungen des Wettbewerbs und die Zwänge der Versorgung einer Bevölkerung von annähernd einer Milliarde Menschen lösten den politischen Wandel aus, ohne dass darüber im Lichte des Desasters der kommunistisch motivierten Kulturrevolution eine ideologische Grundsatzdebatte geführt wurde, zumal Mao Tsetung schon im Jahre 1976 gestorben war. Zwischen 1981 und 2010 gelang es der reformierten chinesischen Wirtschaft, den Anteil der unter dem Existenzminimum lebenden Menschen in China von 53 auf 8 Prozent der Gesamtbevölkerung zu reduzieren. Erst die nun in Gang kommende wirtschaftlich-industrielle Erschließung Zentralchinas wird allerdings die Voraussetzungen für die signifikante Steigerung des Lebensstandards im chinesischen Hinterland schaffen können. In die Zeit der Dengschen Reformpolitik fällt die strategische Allianz zwischen den USA und der Volksrepublik China gegen den sowjetischen Anspruch auf Weltherrschaft. Im Jahre 1972 unternahm US Präsident Richard Nixon seine berühmte Chinareise. Mit dem so genannten Shanghaier Kommunique von 1972 zogen beide Seiten den Schlussstrich unter eine zwanzigjährige Eiszeit. Im Dezember 1978 vereinbarten Washington und Beijing die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Kontakte auf hoher und höchster Ebene wurden in diesen Jahren intensiv gepflegt. „Auf diesem Wege entstand ein stillschweigendes Bündnis, um dem sowjetischen Expansionsdrang in Asien entgegenzutreten.“3 Die Bedeutung dieses amerikanisch-chinesischen Bündnisses für die Entwicklungen in Moskau ist nicht zu übersehen. China forderte vom ehemaligen kommunistischen Brudervolk den Rückzug aus Afghanistan, die Preisgabe des sowjetischen Stützpunktes DaNang in Vietnam, die Rücknahme der sowjetischen Truppen von der chinesisch-sowjetischen Grenze, die seit Mitte der sechziger Jahre systematisch ausgebaut worden waren, und die Revision der Grenze, die nach chinesischer Sicht aus ungleichen Verträgen im 19. Jahrhundert zustande gekommen war. Auch die Bundesrepublik Deutschland arbeitete in der Zeit mit entsprechenden Institutionen Chinas strategisch zusammen – bei der Beobachtung des Militärpotenzials und der politischen Absichten der Sowjetunion. Eine aufstrebende Wirtschaftsmacht China, die auf der Basis der weiteren Akzeptanz der Ein-China-Doktrin mit 2  Vgl.

Carsten Kaven, Die Durchsetzung der Reformpolitik in China, Berlin 2008. Kissinger, Die Vernunft der Nationen – Über das Wesen der Außen­ politik, Berlin 1994, S. 194. 3  Henry



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Blick auf Formosa / Taipeh in ein strategisches Bündnis mit den USA tritt, konnte nicht ohne Relevanz für die Sowjetunion bleiben. Was für China die Kulturrevolution des alternden Mao Tse-tung war, manifestierte sich für die Sowjetunion in den Amtsjahren des alternden Breschnew in den siebziger und ersten achtziger Jahren und seiner beiden Nachfolger im Amt – Jury Andropow und Konstantin U. Tschernenko, von denen der vom Tode gezeichnete Andropow immerhin den Pfad der Reformen einzuschlagen versuchte. In diesen Jahren sprach man in Moskau ganz offen von den „Jahren der großen Stagnation“. Andropow, dem bisherigen KGB-Chef, hatten Soziologen, z. B. Tatiana Saslawskaia den Niedergang der sowjetischen Wirtschaft und die Unterlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber dem amerikanischen kapitalistischen System an Hand der Produktivitätsunterschiede des Faktors Arbeit deutlich vor Augen geführt. Zugleich nahmen die Unruhen im sowjetischen Vorfeld, vor allem in Polen wieder zu. Im Anschluss an die Kuba-Krise im Jahre 1962 hatte die Sowjetunion massiv über ein Jahrzehnt hindurch aufgerüstet, um auf einen Krieg an der chinesischen Grenze und in Europa vorbereitet zu sein. In den achtziger Jahren stellten die Planer fest, dass ein gleichzeitiges, wenn auch bescheidenes Wachstum des Lebensstandards der Bevölkerung – das war eine der Errungenschaften Breschnews in seinen besten Zeiten – und der Militäraufwendungen ab 1996 nicht mehr als gesichert angesehen werden dürfe. Die Politik und die Aspirationen der Sowjetunion waren an die Grenzen der Planwirtschaft und der Ressourcen geraten. Die politische und die militärische Führung waren in Moskau zu der Auffassung gelangt, dass selbst die im Prinzip unbesiegbare Sowjetunion einen Nuklearkrieg nicht gewinnen könne. Die sowjetischen Geheimdienste und die sowjetische Militärindustrie stellten die wachsende Diskrepanz zwischen der Militärtechnologie der NATO und dem Warschauer Pakt fest. Wir kennen die Orderbücher an die sowjetischen Geheimdienste zur Beschaffung westlicher Technologie für die sowjetische Rüstungsindustrie in verschiedenen Bereichen, vor allem auf dem Felde der Informatik. China und die Sowjetunion wurden zu „Kopierern“ und hatten kaum die Kraft zur eigenen Entwicklung neuer technologisch überlegener Waffensysteme, vor allem von Führungssystemen. Frankreich hatte diese Unterlagen beschafft und teilte die Erkenntnisse mit einigen NATO-Partnern. Im Zivilbereich ist die Kopie der Concorde ein schlagendes Beweisstück für den Technologie-Rückstand der Sowjetunion. Die Afghanistan-Invasion 1979 wurde zum Lehrstück für die Sowjet­ union: Auch mit militärischer Gewalt ließ sich ein kommunistisches Satellitenregime nicht durchsetzen, und selbst der militärische Sieg konnte nicht

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errungen werden. Die Moral der sowjetischen Streitkräfte und die taktisch sowie operative Führung der Sowjetarmee entsprachen nicht den geforderten und erforderlichen Standards. Der Krieg war unpopulär in der Sowjetunion. Das zeigten der offene Brief des Regimekritikers Andreij Sacharow vom Juli 1980 an das Politbüro und Kommentare des „Iswestja“-Leitartiklers Alexander Bovin im Gespräch mit mir im Laufe des Jahres 1980. Später wurde er russischer Botschafter in Tel Aviv. Trotzig hatte Breschnew nach Rückkehr von der Berlin-Konferenz der Führer regierender kommunistischer Parteien im Jahre 1976, auf der die Führer der Satellitenparteien auf dem eigenen, nicht von Moskau vorgegebenen Weg zum kommunistischen Gesellschaft insistierten und dies auch in die gemeinsame Erklärung einbrachten, erklärt, dass es bei der führenden Rolle der sowjetischen kommunistischen Partei bleiben werde. Die Weltfremdheit der Kreml-Führung gegenüber der politischen Wirklichkeit im sowjetischen Vorfeld war frappierend. Aber der Direktor des Moskauer Instituts Amerika-Kanada, der vor wenigen Monten in Moskau verstorbene Georgij Arbatow sen. stellte in Verbindung mit der aufkommenden Krise in Polen Ende der siebziger Jahre im Gespräch lakonisch fest: „Wir haben den ideologischen Kampf um die Vorfeldländer verloren.“ Ich meinte nicht weniger lakonisch: „Dann werden die sowjetischen Panzer nicht mehr lange bleiben können.“ „Sie mögen Recht haben“, erwiderte er und wir trennten uns. Gleichwohl, Ende 1980 bestand für die Öffentlichkeit im Westen durchaus die reale Gefahr eines sowjetischen Einmarsches in Polen, um die Solidarność-Bewegung zu brechen. Als ich über meine fast vierjährige Tätigkeit in Moskau Ende 1980 in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Bonn in einer öffentlichen Veranstaltung berichtete, wies ich abschließend auf das hohe Ansehen hin, dass die Bundesrepublik vor allem wegen ihrer enormen Wirtschaftskraft, aber auch das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in der Sowjetunion genieße, von dem man noch große Leistungen erwarte, und dass Moskau die Vereinigung Deutschlands in angemessenen strategischen und politischen Zusammenhängen nicht ausschließe. Gewiss wird mancher Zuhörer, wird die Mehrzahl der Anwesenden Zweifel an der Relevanz dieser Aussage gehegt haben. Öffentlich geäußert wurden diese Zweifel aber nicht. Vier Jahre später berichtete ich als NATO-Botschafter im „NATO-Brief“ (März 1984), dass Moskau unter gleichzeitiger Erweiterung des politischen Spielraums seiner Vorfeldländer ein neues Sicherheitsabkommen mit den USA und dem Westen suche. Man musste sich folglich fragen: Geht Moskau aus eigenen Gründen, oder auch wegen der Eröffnung einer strategischen Kooperation zwischen China und den USA den Weg zu einschneiden-



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den Reformen des erstarrten Systems und den Weg zur strategischen Verständigung mit den USA und mit China? Wir registrieren, dass in Moskau tatsächlich ein paralleler Weg eingeschlagen wurde – die Veränderung des Verhältnisses zu China und zu den USA / Westen. In wirtschaftspolitischer Hinsicht ging Moskau jedoch einen anderen Weg als die Kommunisten in Beijing ein. Es hob die Monopolstellung der KPdSU auf – mit fatalen Folgen für die Machtstellung von Gorbatschow. Vor dem Hintergrund einer Vielzahl in der Sowjetunion generierter oder sich auf der strategischen Ebene abzeichnender Indikationen, die wir bei unserem strategischen Gegner in Moskau bemerken konnten, kam der BND – mehrheitlich – schon 1986 zu dem Schluss, dass es der Sowjetunion, dass es Gorbatschow um eine reale Verbesserung der Beziehungen mit den USA und dem Westen gehe und nicht nur um eine Pause zum Luftholen, wie es die USA, Frankreich und Großbritannien annahmen. Erst die Ankündigung einseitiger Reduzierungen des Umfangs der sowjetischen Streitkräfte in seiner Rede vor den Vereinten Nationen (1988) und die Vereinbarung über die Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen überzeugten auch den Westen von der Ernsthaftigkeit des Reformkurses von Gorbatschow auf außen- und verteidigungspolitischem Gebiet. Dazu gehörte selbstverständlich die Preisgabe der Breschnew-Doktrin zur Intervention in Vorfeldländern, die vom Warschauer Pakt und der Sowjetunion abfallen. Zweifel blieben aber hinsichtlich der Durchsetzbarkeit dieses Kurses innerhalb der kommunistischen und der militärischen Führung der Sowjetunion. Es stellte sich entgegen den Annahmen von Premierministerin Thatcher und Präsident François Mitterrand heraus, dass sich die Opposition zu Gorbatschow nicht wegen der Reform-Außenpolitik, schon gar nicht wegen der Deutschlandfrage entwickelte, sondern wegen seiner Reformschritte im Inneren. Die geplante Auflösung des Zentralstaats und Umwandlung in eine Union, die Preisgabe des Monopols der Kommunistischen Partei, sowie die Verschlechterung der Wirtschaftslage, die nicht mehr nach den Vorgaben des Zentralstaates funktionierte, stießen auf breite Ablehnung in der Führungsschicht des Landes und unter der Bevölkerung. Tatiana Timofeeva, Historikerin an der Moskauer Staatsuniversität, berichtete kürzlich, dass heute 68,1 Prozent der russischen Bevölkerung positive und 14,9 Prozent negative Gefühle mit Blick auf Deutschland haben. Schon im Jahre 1990 sahen 35,9 Prozent der Bevölkerung die Vereinigung als „rechtmäßig und gerecht“ an und weitere 23,1 Prozent als rechtmäßig, aber als zu zügig realisiert. Nur 12 Prozent sahen sie als „Rechenfehler“ Gorbatschows und 11 Prozent als die größte Niederlage der Sowjetunion an.

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Der Vertreter des sowjetischen Botschafters Kotschemasow in Berlin-Ost berichtete auf einer Konferenz in Moskau im Jahre 2008, auf der ich über die Beurteilung der Sowjetunion und der DDR durch den BND in den Jahren 1985–1990 referieren konnte, dass die sowjetische Botschaft in OstBerlin und das KGB Hilferufe nach Moskau richteten, was denn aus den Freunden in der DDR werden solle. Es gab keine Antwort. 4. Kein Wunder an der Spree Die kommunistischen Führungen in Beijing und Moskau haben in den siebziger und achtziger Jahren bewusst oder unbewusst mit der deterministischen Geschichtsauffassung des Marxismus / Leninismus gebrochen und die Lebensfähigkeit eines fortlaufenden Reformen unterworfenen kapitalistischen Systems anerkannt. Mehrere klassisch-kapitalistische Staaten hatten erfolgreich das soziale Prinzip integriert, ohne ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen (Deutschland, Schweden). Kulturrevolution in China und Planwirtschaft in der Sowjetunion hatten wirtschaftliche und finanzielle Krisen ausgelöst und die Perspektiven für die Zukunft der Volkswirtschaften in China und der Sowjetunion verdunkelt. Das kommunistische Wirtschaftssystem ist dem kapitalistischen Wirtschaftssystem in seiner Produktivität und Dynamik unterlegen und musste daher mit dem Ziel reformiert werden, mit dem kapitalistischen System wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich wettbewerbsfähig zu werden. Das ist ohne Reformen nicht möglich. Der Reformbedarf ergibt sich auch aus dem zunehmenden technologischen Rückstand der kommunistischen Volkswirtschaften. Die Führung in Moskau hatte erkannt, dass auch das kommunistische System einen Nuklearkrieg nicht gewinnen kann und suchte mit dem Ziel, neue Sicherheitsvereinbarungen zu erreichen sowie finanziell und technologisch die Wirtschaftsreformen voranzubringen, weit reichende Abrüstungsabkommen mit den USA und mit der NATO (z. B. Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen). Schon in den Gesprächen mit den Führern der kommunistischen Vorfeldländer im Jahre 1985 – anlässlich der Trauerfeiern für Konstantin U. Tschernenko und der Amtseinführung von Michael Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU – hatte dieser – nach Daschitschew – gegenüber den Führern der Vorfeldländer, auch gegenüber Honecker, Reformen in diesen Ländern angemahnt bzw. ermuntert.4 In der neuen internationalen Konstellation, die 4  Vgl. Wjatscheslaw Iwanowitsch Daschitschew, Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik, Hamburg u. a. 2002.



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Moskau im Verhältnis zum Westen (USA, Europa) anstrebte, hatte die Vorherrschaft in Mitteleuropa ihre strategische Bedeutung für die Sowjetunion verloren und war zu einer politischen, wirtschaftlichen sowie finanziellen Hypothek geworden. Als die Honecker-DDR demokratische Reformen als Voraussetzung für die DDR-Beteiligung an Verhandlungen über Deutschland verweigerte, ließ Gorbatchow die DDR im Herbst 1989 fallen. Moskau war nicht mehr zur Stundung von ausstehenden Zahlungen bereit. Die finanzielle Lage der Sowjetunion verschlechterte sich im Verlauf der Reformaktivitäten, so dass finanzielle Hilfe vom Westen erforderlich wurde. Sie konnte der Natur der Dinge nach nur von der Bundesrepublik Deutschland kommen. Vom strategischen Interesse her abgeleitet, war es, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, für Moskau, Washington und Bonn nach dem plötzlichen Fall der Mauer am 9. November 1989 von höchster Bedeutung, gewaltsame Zusammenstöße mit den sowjetischen Truppen in der DDR zu verhindern und die deutsche Frage und den Jahrzehnte währenden Ost-West-Gegensatz so schnell wie möglich im Verhandlungswege und mit der stabilisierenden wirtschaftlichen und finanziellen Kraft der Bundesrepublik Deutschland zu lösen. Integraler Bestandteil dieser Regelung musste im Interesse von Moskau, Washington und Bonn sowie aller Nachbarstaaten Deutschlands die Herstellung europäischer Stabilität auf der Basis eines weit reichenden Abrüstungsund Rüstungskontrollabkommens (KSE) sowie die Verabschiedung eines europäischen politischen Werte-Kodexes für das Gemeinsame Haus Europa (Charter von Paris, November 1990) sein, das Gorbatschow als Zielvorstellung eingebracht hatte. Beides war neben der Stärkung der Europäischen Union auch notwendig, um das vereinigte Deutschland mit seinem Poten­zial in Europa einzubinden. Die Sowjetunion unter Gorbatschow suchte stabile kooperative, nicht antagonistische Beziehungen zu den USA, so wie das kommunistische China sie erreicht hatte. Die antisowjetische Allianz zwischen China und den USA musste aufgebrochen und mit beiden Ländern ein kooperatives Verhältnis entwickelt werden. Der Grundstein für diese Verständigung dazu wurde in beiden Richtungen von Gorbatschow gelegt. Damit war das antisowjetische Bündnis Chinas und der USA aufgebrochen worden und der Weg zu einem „Gemeinsamen Haus Europa“ auf der Basis eines gemeinsamen Wertekodex eingeschlagen. Mit dem vereinigten Deutschland suchte die Sowjetunion, sucht die Russische Föderation eine „special relationship“ – vor allem in der Kooperation bei der Entwicklung einer modernen russischen Industrie. Dazu hatte die Bundesrepublik Deutschland schon während des Kalten Krieges beigetragen

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und sie ist auch heute bereit und in der Lage, die notwendige Modernisierung Russlands aktiv zu fördern. So haben wir es nicht mit einem „Wunder an der Spree“ zu tun, sondern mit den logischen, wiewohl politisch nicht vorbestimmten, sondern erarbeiteten Folgen des strategischen „Re-Alignments“ USA – China – Sowjetunion (Russland) zu tun, das sich zunächst als antisowjetische Allianz USAChina präsentierte und in Moskau die Alarmglocken schrill hatte erschallen lassen. China und die Sowjetunion mussten Abschied vom historischen Determinismus der kommunistischen Lehre nehmen und sich auf den Weg einer zwar staatlich gelenkten, aber im ganzen privaten kapitalistischen Wirtschaft begeben, um mit den verschiedenen Formen der kapitalistischen Wirtschaften in wirtschaftliche Konkurrenz treten zu können. Moskau hat in diesem Zusammenhang Abschied von seiner ideologischen und militärischen Vorherrschaft im euro­päischen Vorfeld nehmen müssen.

Der Fall der Mauer als mediales Ereignis Von Hans-Hermann Hertle Prolog „Heute sind die beiden deutschen Staaten eine Realität, und davon müssen wir ausgehen. […] Die Geschichte wird zum gegebenen Zeitpunkt ihr Urteil sprechen.“ (KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow über sein Gespräch mit Richard von Weizsäcker am 7. Juli 1987 in Moskau)1 „Als ich von der offenen deutschen Frage anfing, leugnete er rundheraus ihre Existenz. Ich nahm einen zweiten Anlauf, worauf er erwiderte, wir sollten doch die Lösung der Geschichte überlassen; niemand wisse, was in hundert Jahren sei.“ (Bundespräsident Richard von Weizsäcker über sein Gespräch mit Michail Gorbatschow am 7. Juli 1987 in Moskau)2

1. Krisenfaktoren in den 1980er Jahren Im Januar 1989 erklärte Erich Honecker, SED-Generalsekretär und Staatschef der DDR in Ost-Berlin: „Die Mauer wird […] solange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben“. Sie werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.“3 Selbst Zbigniew Brzezinski, der als einer der wenigen den Untergang des sowjetischen Imperiums vorhersagte, war sich noch zu dieser Zeit sicher, dass sich im Sowjetblock allein die DDR und Bulgarien nicht in einer Kri1  Michail

Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 701. von Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 346. 3  Erich Honecker, in: Neues Deutschland, v. 20. Januar 1989. – Dem Beitrag liegen folgende Studien des Verfassers zugrunde: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, 12. Aufl., Berlin 2009; ders., Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, 2. Aufl., Opladen 1999; Hans-Hermann Hertle / Kathrin Elsner (Hrsg.), Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel, 2. Aufl., Berlin 2009. Sofern im Folgenden nicht anders ausgewiesen, finden sich in diesen Publikationen alle Zitatnachweise. 2  Richard

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sensituation befänden.4 Die DDR, so seine Prognose, werde für geraume Zeit ein „kommunistisches Preußen“ bleiben, besonders wenn „Westdeutschland weiterhin die ostdeutsche Wirtschaft so großzügig“ unterstütze.5 Weder Erich Honecker noch Zbigniew Brzezinski vermochte sich offenbar vorzustellen, wie radikal sich in kürzester Zeit die außenpolitischen Existenzbedingungen und als deren Folge die innenpolitischen Rahmenbedingungen in der DDR verändern würden – genauso wenig wie KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow6, US-Präsident George Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl, geschweige denn die britische Premierministerin Margaret Thatcher oder der französische Staatspräsident François Mitterrand. Nicht nur den Spitzenpolitikern, sondern nahezu auch allen in- und ausländischen Experten und Beobachtern in Politik und in der Wissenschaft galt die DDR noch wenige Monate vor ihrem Untergang als eine Insel der Stabilität. Erst nach der Öffnung der Archive haben die Forschungsarbeiten der zurückliegenden zwanzig Jahre diese Bewertung als Fehleinschätzung korrigiert.7 Sie förderten zu Tage, dass innere strukturelle Krisenerscheinungen die Existenzgrundlagen der DDR bereits in den 1980er Jahren unter­ graben hatten und diese die Handlungsmöglichkeiten der SED-Führung in der Finalitätskrise des Herbstes 1989 wesentlich beeinflussten und einschränkten. Insofern unterschied sich die Lage der DDR nur graduell von der ihrer „Bruderländer“, den Staaten des sowjetischen Machtblocks. Die wirtschaftliche Situation in all diesen Ländern war desaströs. Ihr technologischer Rückstand war erheblich, die Arbeitsproduktivität nicht einmal halb so hoch wie im Westen. Viele Produktionsanlagen waren verschlissen, die 4  Zbigniew Brzezinski, Das gescheiterte Experiment. Der Untergang des kommunistischen Systems, Wien 1989, S. 265. 5  Ebd., S. 283. 6  „Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte die Entwicklung und die Herausforderungen, die sich daraus für uns ergaben, vorausgesehen. Und ich bezweifle sehr, dass irgendein Politiker im Osten oder im Westen ein, zwei Jahre vorher eine derartige Entwicklung hätte prophezeien können.“ So Michail Gorbatschow, (FN 1), S. 700. 7  Zum aktuellen Forschungsstand siehe: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989 / 90, München 2009; Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009; Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989 / 90, München 2008; Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, 3. Aufl., Berlin 2010; Andreas Rödder, Deutschland, einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009; Mary E. Sarotte, 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton / Woodstock 2009; Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009; Vladislav Zubok, A Failed Empire: The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007. – Eine Literaturdatenbank mit mehr als 53.000 Einträgen zur deutschen Einheit (Stand: Dezember 2007) ist im Internet unter der URL http: /  / www.wiedervereinigung.de zu finden.



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Arbeits-, Gesundheits- und Umweltbedingungen in vielen Bereichen katastrophal. Die Infrastruktur war verrottet, der bauliche Verfall der Städte fortgeschritten. Die Verschuldung im Westen hatte – besonders in Polen, Ungarn und der DDR – eine dramatische Höhe erreicht. Die Ausgaben für den militärisch-(geheim)polizeilichen Apparat verschlangen einen enormen Teil des Staatshaushaltes aller kommunistischen Staaten – allein in der Sowjetunion 40 Prozent.8 Die Erosion der Ideologie war unübersehbar: Das Versprechen einer kommunistischen Gesellschaft, die, wie es noch der XXII. KPdSU-Parteitag im Oktober 1961 unter Parteichef Nikita Chruschtschow angekündigt hatte, bis zum Jahr 1981 einen Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern und den höchsten Lebensstandard auf der Welt erreichen sollte9, war stillschweigend zurückgezogen worden. Im April 1971 hatte der XXIV. KPdSUParteitag unter Chruschtschow-Nachfolger Leonid Breschnew – und in seiner Folge die Parteitage aller „Bruderparteien“ – als neue „Hauptaufgabe“ die „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes“ beschlossen.10 In der DDR entstand für dieses Wohlfahrtspostulat die Formel von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Die menschheitsbeglückende Utopie der kommunistischen Gesellschaft schrumpfte damit auf einen profanen Konsumsozialismus als Tagesaufgabe zusammen. Sozialismus als Zielvorstellung und die Erfüllung des Wohlfahrtsversprechens waren damit gleichsam eins geworden – mit der zwingenden Folge, dass das Nichteinhalten des Konsumversprechens den kommunistischen Führungen als Scheitern des Sozialismus insgesamt vorgehalten werden konnte – und zunehmend auch wurde. Die – angeblich – „führende Kraft“ der kommunistischen Parteien war bereits von Beginn der 1980er Jahre an erschöpft, der Glaube an die historisch-gesetzmäßige Sieghaftigkeit des Sozialismus über den Kapitalismus erschüttert, die Parteiführung von jahrelangem Krisenmanagement zermürbt, die Vielzahl der Parteikader verschlissen, die Parteibasis, einschließlich der „bewaffneten Organe“, in weiten Teilen demoralisiert und desorientiert. 8  Manfred Hildermaier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 1031; zur Analyse des Niedergangs der Sowjetunion vgl. auch Hannes Adomeit, Imperial Overstretch. Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev, Baden-Baden 1998. 9  Siehe „Der Kommunismus ist die Hoffnung der Völker, die Garantie ihrer strahlenden Zukunft“. „Rede von N. S. Chruschtschow über das neue Programm der KPdSU“ sowie „Das Kommunistische Manifest der gegenwärtigen Epoche“, in: Neues Deutschland v. 20. Oktober 1961. 10  „Die Direktiven des XXIV. Parteitages der KPdSU zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1971–1975“, in: Neues Deutschland v. 7. April 1971.

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2. Fundamentalkrisen politischer Systeme – ein Untersuchungskonzept Im Hinblick auf den revolutionären Umbruch im Herbst 1989 ist zu fragen, unter welchen Bedingungen sich aus latenten Krisenfaktoren politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und kultureller Natur eine Krise des Regimes entwickelt. Und zu fragen ist weiterhin, wie es dazu kommt, dass strukturelle Krisenerscheinungen in Handlungsbereitschaft und einen Mobilisierungsprozess umschlagen, der Menschenmassen gegen ein Regime in Bewegung bringt und in revolutionären Umwälzungen mündet. Fundamentalkrisen politischer Systeme entstehen, so ein Erklärungsansatz von Pierre Bourdieu, durch eine „Konjunktion unabhängiger Kausalreihen“, die sich parallel entwickeln und in einem bestimmten Moment miteinander in Interaktion treten.11 Den Moment, in dem die Synchronisation der Wahrnehmung von Akteuren lokale Krisen in eine allgemeine Krise bzw. Revolution überführt bzw. umschlagen lässt, bezeichnet Bourdieu als „kritischen Moment“.12 Der Synchronisierungseffekt wiederum wird durch „kritische Ereignisse“ erzeugt, die eine Vielzahl latenter Krisen in verschiedenen Feldern vermitteln und den Umschlag latenter Spannungen in manifeste Handlungsorientierungen bewirken. Was genau sind die Voraussetzungen und Bedingungen für Synchronisierungseffekte dieser Art? Bourdieu betrachtet sie maßgeblich als sozialstrukturell determiniert: Gleiche soziale Lebensbedingungen, etwa soziale Deklassierung, erzeugen kollektive Dispositionen, die Akteure in die Revolte treiben. Mit diesen Überlegungen hat Bourdieu ein Analysekonzept vorgelegt, das beanspruchen kann, Struktur- und Ereignisgeschichte, Makro- und Mikro­ ebene miteinander zu verbinden. Doch hat die Bielefelder Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey auf zwei entscheidende Schwächen dieses Konzepts hingewiesen: Erstens stelle eine Synchronisierung der Wahrnehmung allein nicht auch zwangsläufig kollektive Handlungsbereitschaft her, und zweitens reichten sozialstrukturelle Ursachen allein nicht aus, um diesen Umschlag zu erklären, vor allem dann nicht, wenn sich verschiedene soziale Akteursgruppen zu einer Massenbewegung vereinigten. Am Beispiel des Mai 1968 in Frankreich hat Gilcher-Holtey Bourdieus Überlegungen zur Erklärung von Krisen und Revolutionen so weiter entwickelt, dass sie als Modell auch für die friedliche Revolution des Jahres 1989 in der DDR Erklärungskraft besitzen.13 Der Prozess des Übergangs vom 11  Pierre

Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1992, S. 254 ff. S.  274 ff. 13  Ingrid Gilcher-Holtey, Die Nacht der Barrikaden. Eine Fallstudie zur Dynamik sozialen Protests, in: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Mei12  Ebd.,



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„kritischen Ereignis“ zum „kritischen Moment“ wird danach nicht durch strukturelle Spannungen herbeigeführt, sondern vielmehr „durch soziale Trägergruppen und deren kognitive Zielorientierungen vermittelt, durch kontingente Einzelentscheidungen von konträren Akteuren, die den Mobilisierungsprozess strukturieren sowie durch Entscheidungen der staatlichen Kontrollinstanzen, welche die Gegenmobilisierung organisieren. Er unterliegt mithin der Interaktion einer Vielzahl von Faktoren, deren Wechselwirkung jeweils geprüft und historisch-empirisch entfaltet werden muss.“14 Damit ist ein empirisches Untersuchungskonzept formuliert, das den „Handlungen und Geschehnissen auf der Mikro-Ebene“ die Schlüsselrolle für den Umschlag latenter struktureller Krisen in eine allgemeine Krisensituation zuweist. Besondere Aufmerksamkeit ist demnach auf die Bedeutung der kognitiven Zielorientierungen sozialer Gruppen, ihrer Werte, Ideen und Interessen zu richten – sowie auf deren Anschlussfähigkeit und Verallgemeinerbarkeit für weitere Akteure und Gruppen. Zugleich rücken Kontingenzen im Entscheidungsprozess und in den Handlungsabläufen in den Mittelpunkt der Analyse historischer Umbruchsituationen. Die Medien, denen Bourdieu keinerlei Aufmerksamkeit schenkt, können Gilcher-Holtey zufolge in dem Synchronisierungsprozess, der Umbrüche und Revolutionen hervorbringt, von großer Bedeutung sein, indem sie vermitteln, was geschehen ist, und auf diese Weise eine Wahrnehmung erzeugende Rolle spielen und Rückkoppelungs- und Verstärkungseffekte bewirken – erst recht dann, wenn sie unmittelbar in die Ereignisse eingreifen und selbst zu Akteuren werden. Die Rolle der Medien im Umbruchprozess der DDR und insbesondere beim Mauerfall wird in diesem Beitrag in den Mittelpunkt rücken. 3. Entstehung und Verlauf der Herbstrevolution in der DDR Die latenten inneren Krisenfaktoren mussten per se in keinem der mittelosteuropäischen Staaten zwangsläufig in die Umbrüche und Revolutionen des Jahres 1989 führen; dazu bedurfte es kollektiver Krisenwahrnehmung und vor allem kollektiver Handlungsbereitschaft. Für die DDR kamen die entscheidenden Anstöße zunächst von außen: von den Veränderungen in der Sowjetunion, deren militärischen, politischen und ökonomischen Auswirnung, Soziale Bewegungen. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie Sozialpsychologie, Opladen 1994, S. 375–392; dies., „Kritische Ereignisse“ „kritischer Moment“. Pierre Bourdieus Modell der Vermittlung von Ereignis Struktur, in: Andreas Suter / Manfred Hettling (Hrsg.), Struktur und Ereignis, schichte und Gesellschaft, Sonderheft 19, Göttingen 2001, S. 120–137. 14  Ingrid Gilcher-Holtey, Die Nacht der Barrikaden (FN 13), S. 388.

und und und Ge-

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kungen und den dann einsetzenden Reformprozessen in Polen und Ungarn. Die Dynamik für die weitere Entwicklung bis zum Herbst 1989 ging in der DDR neben diesen außenpolitischen Faktoren zunächst weniger von den Aktivisten der Bürgerbewegung aus, sondern wurde mehr von der Ausreisebewegung – und der Fernsehberichterstattung darüber – ausgelöst: den mehr als 100.000 Antragstellern auf eine Ausreise aus der DDR und ihren Ak­ tionen, vor allem den im Sommer 1989 ihre Ausreise fordernden Besetzern der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin und der bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest.15 Zwar hatte die Anzahl von systemkritischen und oppositionellen Gruppierungen in der DDR vor allem von Mitte der 1980er Jahre an zugenommen.16 Frieden und Umwelt, Demokratie, Menschenrechte und insbesondere auch Freizügigkeit waren ihre Themen. Nicht wenige Pfarrer waren engagiert; die evangelische Kirche diente vielen Gruppen als Schutzraum. Gelegentlich wird jedoch der Eindruck erweckt, als sei der von diesen unabhängigen und Bürgerrechts-Gruppen organisierte Protest während des Jahres 1989 stetig angeschwollen: von den Protesten gegen die Fälschung der Kommunalwahl­ ergebnisse im Mai über Aktionen gegen die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Studentenunruhen im Juni, der Gründung der Oppositionsbewegung Neues Forum am 9. / 10. September, weiterer Gruppen danach und schließlich der Sozialdemokratischen Partei (SDP) bis hin zu den Demonstrationen in Leipzig, Dresden, Plauen und Berlin im September und Anfang Oktober 1989. Aber dieser Eindruck trügt. Die oppositionellen Gruppen blieben bis weit in den Sommer 1989 hinein auf sich selbst bezogen und vermochten breitere Teile der Bevölkerung kaum zu erreichen.17 Bei öffentlichen Protestaktionen waren bis dahin selten mehr als einige Hundert Menschen zusammengekommen – und dies auch nur an wenigen Orten. Erst nach der Gründung des „Neuen Forum“ am 9.  /  10. September 1989 und weiterer Gruppen wie dem „Demokratischen Aufbruch“ und „Demokratie Jetzt“ trat ein sprunghafter Zulauf ein, den nicht nur der DDR-Staatssicherheitsdienst 15  Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk (FN  7), insbes. S. 192  ff.; Ehrhart Neubert (FN 7); Wolfgang Schuller (FN 7); grundlegend ebenfalls: Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999; Stefan Wolle, Flucht als Widerstand?, in: Klaus-Dietmar Henke / Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand und Opposition in der DDR, Köln u. a. 1999, S. 309–326. 16  Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk (FN 7), insbes. S. 232 ff.; Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR, 1949–1989, 2. Aufl., Berlin 1998. 17  Siehe Detlef Pollack, „Wir sind das Volk!“ Sozialstrukturelle und ereignisgeschichtliche Bedingungen des friedlichen Massenprotests, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.) (FN 7), S. 178–197.



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und westdeutsche Beobachter, sondern auch die Oppositionellen selbst nicht vorhersahen. Im Gegenteil: Die Gründungsmitglieder des Neuen Forum waren trotz der massiven Ausreisebewegung vom Stillstand der Verhältnisse in der DDR so überzeugt, dass sie ihr Folgetreffen erst auf den 2. Dezember 1989 festlegten. Auch die Bürgerrechts-Aktivisten rechneten demnach nicht mit den schon wenige Wochen später einsetzenden revolutionären Ereignissen. Dementsprechend wurden sie von dem Ausbruch der Demonstrationen nicht nur überrascht, sondern von deren Dynamik auch bald überrollt. Als Organisationen hatten die Bürgerrechts-Gruppen an der Auslösung der Protestbewegung wenig Anteil; diese entwickelte sich in der Anfangsphase vielmehr spontan und unorganisiert. Erstmals am 18. September beteiligten sich mehr als 1.000 Menschen an der Leipziger Montagsdemonstration, am 25. September waren es 5.000, am 2. Oktober 15.000 und am 9. Oktober schließlich 70.000 – stets im Anschluss an kirchliche Veranstaltungen. Der Anfang Oktober schnell anschwellende und auf zahlreiche Städte überspringende, Protest folgte auf die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Bürger am 10. / 11. September 198918 und die danach einsetzende Massenausreise. Es war die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ in Ungarn, die auf entscheidende Weise das Machtverhältnis zwischen Regime und Bevölkerung in Ostdeutschland verschob.19 Erst die Ausreisebewegung erzeugte eine breiter werdende Gegenbewegung derjenigen, die in der DDR bleiben wollten und zum ersten Mal seit dem Volksaufstand von 1953 die Chance sahen, dafür dem Regime Bedingungen zu stellen: „Wir bleiben hier, aber nur, wenn es nicht so bleibt, wie es ist“, lautete eine frühe Leipziger Demonstrations-Losung. Die neu eröffnete Möglichkeit der Ausreise über Ungarn ließ sich als Druck- und Drohmittel einsetzen, um für das Dableiben in der DDR einen politischen Preis zu verlangen. Die Flucht- und Ausreisebewegung schwächte das politische Widerstandspotential nicht länger, sondern gab ihm eine gesellschaftliche Berechtigung. Die Massenausreise über Ungarn unterminierte in nie dagewesener Weise die Staatsautorität und wurde zur Voraussetzung und Bedingung des sich entfaltenden Massenprotests.20 18  Siehe zur Vorgeschichte und den Hintergründen der ungarischen Grenzöffnung Andreas Oplatka, Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009. 19  Siehe Detlef Pollack, Das Ende einer Organisationsgesellschaft. Systemtheoretische Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 300 f. 20  Diesen Kausalitätszusammenhang hebt auch Norman Naimark hervor: „It is worth reiterating that those who left the country started the revolution, while those, who demonstrated maintained it“. Siehe Norman Naimark, „Ich will hier raus“.

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Die SED-Führung empfand den „Verrat der Ungarn“, und mehr noch: die Zuschauerhaltung der Sowjetunion, als schlimme Demütigung. Auf die eigene Kraft verwiesen, stand in der Politbüro-Sitzung vom 12. September 1989 als erste zu behandelnde Frage, wie „das Loch Ungarn zuzumachen“21 sei, denn die Beantragung von Reisen nach Ungarn war überall in der DDR sprunghaft angestiegen. Um „schwere Einbußen“ an Bürgern zu vermeiden, schlug ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittag, der den erkrankten SED-Generalsekretär Erich Honecker vertrat, vor, „die Ausreisen nicht mehr so global durchzuführen wie bisher. Wieso müssen die wackligen Kandidaten fahren? Diese interne Regelung darf allerdings nicht unsere Partei und die Masse der Bevölkerung betreffen. Wir würden sie verärgern. MfS und MdI sollen diese Maßnahmen durchführen.“22 Auf diese Weise halste die SEDFührung die Lösung ihres politischen Dilemmas den Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden auf. Noch fand die SED-Spitze Unterstützung in Prag. Die tschechoslowakische Regierung verschärfte die Kontrollen für DDRBürger an ihrer Grenze zu Ungarn. In der Folge hielten sich Ende September mehr als 10.000 DDR-Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag auf, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Am 30. September 1989 gab Honecker nach und ließ die Botschaftsflüchtlinge in verriegelten Zügen über das Gebiet der DDR in den Westen ziehen. „Man sollte ihnen keine Träne nachweinen“, schleuderte ihnen das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ am 2. Oktober in einem von Honecker redigierten Kommentar nach23 – ein Satz, der bei den Familienangehörigen der Geflüchteten Empörung und Wut auslöste und selbst in der Mitgliederschaft der kommunistischen Partei auf Protest stieß. „Mit ihrer zynischen Unnachgiebigkeit“, so Pollack, „trug die Führungsriege der SED selbst zur Formierung des Protests auf den Straßen bei.“24 Der Handlungsspielraum der SED-Spitze schrumpfte nach dem ersten Loch in der Mauer immer mehr auf die Alternative, entweder politische Reformen – mit ungewissem Ausgang – einzuleiten oder eine „zweite Mauer“ an den Grenzen zur CSSR und zu Polen zu errichten und Demonstra­ tionen gegebenenfalls gewaltsam niederzuschlagen. Die Schließung der DDR-Grenze zur CSSR am 3. Oktober 1989 und teilweise brutale Gewalteinsätze gegen Demonstranten während der Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR rund um den 7. Oktober wiesen in die zweite Richtung Emigration and the Collapse of the German Democratic Republic, in: Ivo Banac (Hrsg.), Eastern Europe in Revolution, New York 1992, S. 93. 21  SED-Politbürositzung vom 12. September 1989 (BA, DY 30  / IV 2 / 2.039 / 77, Bl. 27). 22  Ebd. 23  Vgl. Neues Deutschland v. 2. Oktober 1989. 24  Detlef Pollack (FN 17), S. 189.



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– der Anwendung von Gewalt. Mehr als 3.000 Demonstranten wurden DDR-weit vorläufig festgenommen, über 700 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Am Abend des 9. Oktober 1989 drohte in Leipzig eine „chinesische Lösung“. Honecker und Stasi-Minister Mielke hatten den Befehl erteilt, „Zusammenrottungen“ und „Krawalle“ zu unterbinden. Doch zu viele Menschen gingen auf die Straße. Am Ende kapitulierte die Staatsmacht vor 70.000 friedlichen Demonstranten.25 In den Westen geschmuggelte und an den folgenden Tagen in den Fernsehnachrichten gesendete Aufnahmen von der Demonstration wirkten als Fanal für die Ausweitung der Proteste: „Vom 9. Oktober an waren es die demonstrierenden Menschen auf der Straße, die den Rhythmus und die Richtung der politischen Entwicklung in der DDR bestimmen sollten.“26 Am 16. Oktober waren es in Leipzig bereits 120.000 Menschen, die „Wir sind das Volk!“ skandierten und freie Wahlen sowie Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit forderten. Zehntausende beteiligten sich am gleichen Abend an Demonstrationen unter anderem in Dresden, Magdeburg, Halle und Berlin. Die Proteste auf der Straße trieben die SED-Spitze in hektische Aktionen. Am 17. Oktober 1989 wurde SED-Generalsekretär Erich Honecker im Politbüro von einer Koalition reformorientierter und erzkonservativer Kräfte gestürzt.27 Doch statt der erhofften Stabilisierung der Macht unter seinem Nachfolger Egon Krenz, der eine „Wende“ der Politik ankündigte, begann der rapide Zerfall der SED-Diktatur. Hauptproblem der SED-Führung wurde immer mehr die wirtschaftliche Situation in der DDR. Am 31. Oktober 1989 lag dem SED-Politbüro eine Analyse zur ökonomischen Lage der DDR vor. Ihr Ergebnis: Das Produktionspotential war weitgehend verschlissen, die Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem Westen drohte, der Bankrott stand kurz bevor. Eine sofortige Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent wäre erforderlich, so hieß es; sie wurde jedoch aus Furcht vor einem Aufstand als politisch nicht durchführbar betrachtet. Der Lösungsvorschlag, um die DDR vor dem Bankrott zu bewahren, lautete: Der Bundesregierung solle für die Gewährung neuer Kredite in einer Höhe von 12 bis 13 Milliarden D-Mark und eine erweiterte wirtschaftliche Kooperation die Durchlässigkeit der Mauer – im Klartext: erleichterte Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger – als letztes Tauschmittel 25  Zur Protestentwicklung in Leipzig siehe: Tobias Hollitzer  /  Reinhard Bohse (Hrsg.), Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution, Fribourg 2000. 26  Detlef Pollack (FN 17), S. 194. 27  Siehe Hans-Hermann Hertle, Der Sturz Erich Honeckers. Zur Rekonstruktion eines innerparteilichen Machtkampfes, in: Klaus-Dietmar Henke  /  Peter Steinbach  /  Johannes Tuchel (FN 3), S. 327–346. – Zu den Nachweisen für die folgenden Abschnitte siehe: Hans-Hermann Hertle (FN 3), S. 92 ff.

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angeboten werden. Wirtschaftliche Hilfe von der Sowjetunion, erfuhr Egon Krenz am 1. November 1989 wenig überraschend von Michail Gorbatschow, war von Moskau nicht mehr zu erwarten. Im Auftrag des SEDGeneralsekretärs nahm Alexander Schalck-Golodkowski als DDR-Unterhändler am 6. November geheime Verhandlungen über Westkredite mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in Bonn auf. Unbeeindruckt von dem Führungswechsel an der Spitze der SED setzte sich die Ausreisewelle aus der DDR fort; bis zu zweitausend DDR-Bürger passierten nach dem 18. Oktober täglich die ungarisch-österreichische Grenze. Die permanente Berichterstattung der Westmedien über die Ankunft jubelnder DDR-Flüchtlinge im Westen legte das Legitimitätsdefizit der SEDHerrschaft vor der Weltöffentlichkeit bloß. Gleichzeitig nahm die Zahl der Ausreiseanträge Tag für Tag um rund eintausend zu; die Gesamtzahl war am 29. Oktober auf 188.180 angewachsen.28 Auch die Zahl der Demonstrationen flaute nicht ab. Die Protestbewegung rechnete die Ablösung Honeckers nicht der Reformbereitschaft der Parteiführung zu, sondern betrachtete sie als Zurückweichen des Regimes vor dem Druck der Straße, der durch seinen Erfolg eine nachträgliche Berechtigung und weiteren Ansporn erfuhr. Konsequenterweise wurde dieser Druck verschärft, um weitergehende Forderungen durchzusetzen. In der zweiten Oktoberhälfte wurde die Lage in der DDR explosiv. Die Demonstrationen gegen die SED breiteten sich über das ganze Land aus und erreichten auch die Klein- und Mittelstädte. Hatte das MfS in der Woche vom 16. bis 22. Oktober insgesamt 140.000 Teilnehmer auf 24 Demonstrationen registriert, so beteiligten sich in der Woche darauf 540.000 Menschen an 145 Demonstrationen und vom 30. Oktober bis 5. November 1,4 Millionen Teilnehmer an 210 Demonstrationen.29 Mit wachsendem Nachdruck wurden freie Wahlen, die Zulassung von Oppositionsgruppen und immer wieder und überall Reisefreiheit gefordert. Die Parteibasis ließ sich für den neuen Generalsekretär und seine vagen Reformversprechen nicht mehr auf Knopfdruck von oben mobilisieren. Versuche, die oppositionellen Demonstrationen in regimefreundliche Großkundgebungen umzuwandeln, schlugen zum Teil schon im Vorbereitungsstadium fehl. Das Vertrauen der SED-Mitglieder in die Fähigkeit der Parteiführung, die Lage zu bewältigen, schwand. Zu dem Machtverfall des SED-Regimes 28  Vgl. [MfS-]ZAIG, Wochenübersicht Nr. 44  /  89 v. 30. Oktober 1989 (BStU, MfS, ZAIG Nr. 4599, Bl. 142). 29  Siehe Walter Süß, Entmachtung und Verfall der Staatssicherheit, BF informiert 5 / 1994, Berlin 1994, S. 10.



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gegenüber der Bevölkerung trat nun auch der Autoritäts- und Machtverlust der SED-Führung gegenüber der eigenen Parteibasis hinzu. Zum 1. November hob die SED-Führung die Reisesperre in die CSSR wieder auf – Streikdrohungen in den südlichen DDR-Bezirken veranlassten sie dazu. Umgehend glich Prag einem Durchgangslager für ausreisewillige Ostdeutsche. Die CSSR-Regierung legte dagegen Protest in Ost-Berlin ein. Das SED-Politbüro gab nach und gestattete DDR-Bürgern vom 4. November an die Ausreise in die Bundesrepublik über die CSSR: Die Mauer hatte nach Ungarn ein zweites Loch. Innerhalb weniger Tage gingen 50.000 DDR-Bürger diesen neuen Weg. Die CSSR-Regierung befürchtete ein Übergreifen der Instabilität auf ihr Land und erhob in Ost-Berlin schärfsten Protest gegen die Völkerwanderung. Sie ersuchte die SED förmlich, die Ausreise von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik „direkt und nicht über das Territorium der CSSR“ abzuwickeln. Anderenfalls werde sie die Grenze zur DDR schließen müssen.30 Am 8. November machte sich Bundeskanzler Helmut Kohl die Forderungen der ostdeutschen Demonstranten zu eigen: Wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichte, unabhängige Parteien zulasse und freie Wahlen verbindlich zusichere, wäre er bereit, teilte er Krenz als Bedingungen für die erbetenen Kredite unverblümt mit, „über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen“31. Nach freien Wahlen, konnte sich der Kanzler sicher sein, würde er diese Gespräche nicht mehr mit der SED-Spitze führen müssen. 4. „Schabowskis Zettel“ In der ersten November-Woche, so resümierte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski im Nachhinein, hatte sich in der DDR nach 28-jähriger Einmauerung der Bevölkerung „die Erfahrung des Individuums, geachtet oder verachtet zu werden“, auf die Frage zugespitzt, endlich reisen zu dürfen.32 Unter dem Druck der Massendemonstrationen und aufgeschreckt durch die Proteste der CSSR erteilte das SED-Politbüro dem Ministerrat am 7. November den Auftrag, kurzfristig eine Reiseverordnung vorzulegen. Am 30  Vgl. Telegramm von Ziebart an Fischer  / Ott / Schwiesau v. 8. November 1989 (BStU, MfS, Sekretariat Neiber Nr. 553, Bl. 2.) 31  Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 173. Sitzung v. 8. November 1989, Stenographischer Bericht, S. 13017. 32  Vgl. Hans-Hermann Hertle / Theo Pirker / Rainer Weinert, „Der Honecker muss weg!“ Protokoll eines Gesprächs mit Günter Schabowski am 24. April 1990 in Berlin-West, Berliner Arbeitshefte und Berichte zur sozialwissenschaftlichen Forschung Nr.  35 / 1990, S.  39.

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Morgen des 9. November erarbeitete eine interministerielle Arbeitsgruppe in Abstimmung mit der zuständigen Abteilung des SED-Zentralkomitees einen entsprechenden Entwurf.33 Beabsichtigt war, ständige Ausreisen – also die Übersiedlung in die Bundesrepublik – über Grenzübergänge der DDR zu genehmigen, allerdings erst nach einer entsprechenden Antragstellung. Besuchsreisen sollten – ebenfalls auf Antrag – bis zu dreißig Tagen pro Jahr genehmigt werden, jedoch an die Erteilung eines Visums und den Besitz eines Reisepasses gekoppelt werden. Einen Reisepass aber besaßen nur etwa vier Millionen DDR-Bürger, der Großteil von ihnen war Rentner. Alle anderen, so das Kalkül, mussten zunächst einen Pass beantragen und sich dann noch einmal mindestens vier Wochen gedulden. Einem sofortigen Aufbruch aller Bürger, so meinte man, war damit ein Riegel vorgeschoben. Die neue Reiseverordnung sollte erst am 10. November ab vier Uhr früh bekannt gegeben werden, um die Mitarbeiter der Genehmigungsbehörden über Nacht auf den erwarteten Massenansturm von Ausreisewilligen vorzubereiten. Mit dem Beginn der Reisewelle in den Westen wurde auf Grund des vorgeschalteteten Genehmigungsverfahrens und der Passpflicht erst ab Mitte Dezember 1989 gerechnet. Der Regierungs-Entwurf wurde einschließlich der vorbereiteten Presseerklärung am Mittag des 9. November abgestimmt mit der Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees und den beteiligten Ministerien – dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Innen- und dem Außenministerium. Während der ZK-Tagung, die bereits am Vortag begonnen hatte, genauer: in einer „Raucherpause“ dieses höchsten Beschlussgremiums der SED zwischen den Parteitagen, bestätigten einige Mitglieder des Politbüros den Entwurf.34 Am Nachmittag wurde er im Ministerrat ins Umlaufverfahren gegeben. Damit sollte eine schnelle Beschlussfassung – nämlich bis 18.00 Uhr – gewährleistet werden. Ein Exemplar des Entwurfs erhielt Egon Krenz. Gegen 16.00 Uhr las er die vorgesehene Regelung den 216 ZK-Mitgliedern vor und begründete ihre Dringlichkeit mit dem Druck der CSSR. Die Ausweglosigkeit, in die sich die DDR dadurch gedrängt sah, verdeutlichte Krenz mit der Bemerkung: „Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt!“ Das Zentralkomitee gab nach kurzer Diskussion sein Einverständnis. Die Reiseverordnung war zu diesem Zeitpunkt – wie Krenz betonte – nicht mehr als ein „Vorschlag“, ein Ent33  Zu den Details und Nachweisen für die folgenden Abschnitte siehe: HansHermann Hertle, Chronik des Mauerfalls (FN 3), S. 119 ff. 34  Die Beschlussvorlage ist in den Unterlagen des SED-Politbüros überliefert (Willi Stoph, Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED, Betreff: Zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR, 9. November 1989, in: BA, DY 30 / J IV 2 / 2A / 3256, Bl. 9–10, VS und RS).



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wurf. Ein Beschluss des Ministerrates lag noch nicht vor. Dennoch beauftragte Krenz den Regierungssprecher spontan, die Veröffentlichung „gleich“ zu machen und hob damit, gleichsam beiläufig, die Sperrfrist auf. Diese Entscheidung wäre noch korrigierbar gewesen, denn Regierungssprecher Wolfgang Meyer war über die Sperrfrist und ihren Hintergrund unterrichtet. Doch bereits die nächste Entscheidung von Krenz war unumkehrbar: Er händigte den Beschluss samt Pressemitteilung Politbüro-Mitglied Günter Schabowski aus, der in diesen Tagen als Sprecher der Partei fungierte, und gab ihm den Auftrag, darüber bereits auf einer für 18.00 Uhr angesetzten internationalen Pressekonferenz zu informieren. Diese Einmischung der Partei in die Umsetzungsarbeit der Regierung führte zum Zusammenbruch der gesamten Vorbereitungsarbeiten des MfS und des Innenministe­ riums für die neue Reiseregelung. Schabowski war nicht dabei, als das Politbüro die Reiseverordnung in den Mittagsstunden bestätigte. Auch als Krenz die Reiseregelung dem Zentralkomitee vorlas, war er nicht im Saal. Er kannte deshalb weder den Wortlaut des Papiers noch wusste er etwas von einer Sperrfrist. Am Ende seiner Pressekonferenz, die vom DDR-Fernsehen live übertragen wurde, las er die Reiseregelung von dem Zettel ab, den Krenz ihm übergeben hatte. Danach sollten DDR-Bürger nicht nur ständige Ausreisen, sondern auch Privatreisen ohne Vorliegen der bis dahin geforderten Voraussetzungen beantragen können, die Genehmigungen kurzfristig erteilt werden. Ständige Ausreisen sollten über alle Grenzübergänge der DDR zur Bundesrepublik bzw. Berlin-West erfolgen können. „Wann tritt das in Kraft?“, fragten Journalisten.35 Schabowski wirkte hilflos, denn „diese Frage“, so das Politbüro-Mitglied später, „war mit mir zuvor nie besprochen worden“.36 Er kratzte sich am Kopf und überflog das Papier. Den Schlusssatz des Ministerrat-Beschlusses, wonach die Pressemitteilung erst am 10. November bekannt gegeben werden sollte, übersah er – oder maß ihm keine Bedeutung zu. Seine Augen blieben gleich am Anfang an den Worten „sofort“ und „unverzüglich“ hängen. So formulierte er als knappe Antwort: „Sofort, unverzüglich!“ Wenige Minuten später, um 19.01 Uhr, war die Pressekonferenz beendet. Gemessen an den mit der Reiseregelung verbundenen Absichten gerieten Schabowskis Mitteilungen zum „Super-GAU“ in der Weltgeschichte der Pressekonferenzen. 35  Vgl. die Niederschrift des Textes der Pressekonferenz in: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls (FN 3), S. 141–146; vgl. zum Ablauf der Pressekonferenz auch: Hans Henning Kaysers, Die letzten Stunden. Wie Günter Schabowski die Berliner Mauer hergab, in: Deutschland Archiv 43 (2010), S. 613–625. 36  Hans Hermann Hertle / Theo Pirker / Rainer Weinert (FN 32), S. 40.

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5. Der Sturm auf die Grenzübergänge am 9. November 1989 Bis zum 9. November 1989 hatten die West-Medien über die Ereignisse in der DDR umfassend informiert und diese kommentiert. Durch ihre immer dichter und intensiver werdende Berichterstattung hatten sie oppositionelle Akteure geschützt, Zulauf für die Ausreise- wie die Protestbewegung mobilisiert und dadurch die Ereignisse verstärkt und beschleunigt. In diesem Sinne fungierten sie als Transmissionsriemen der Revolution, aber nicht als ihr Motor.37 Anders lagen die Dinge jedoch beim „Fall der Mauer“ in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, den die Medien als Motor maßgeblich mit beförderten, ja sogar mit herbeiführten. Denn der Sturm auf die Grenzübergänge setzte nicht – wie immer noch fälschlich kolportiert38 – als unmittelbare Reaktion auf Schabowskis Bekanntgabe der neuen Reiseregelung auf der live im DDR-Fernsehen übertragenen Pressekonferenz um 18.57 Uhr ein, sondern erst mit deutlichem zeitlichen Abstand als Folge der anschließenden Berichterstattung vor allem der West-Medien. Unmittelbar an das Ende der Pressekonferenz schloss die Hauptnachrichtenzeit des Fernsehens und Hörfunks an. Der Zeitdruck, unter dem die Folge-Berichterstattung stand, konnte somit größer nicht sein. Am stärksten lastete dieser Druck auf den westlichen Agenturjournalisten, deren Augenmerk vor allem auf den Redaktionsschluss der regionalen, mittelständischen Zeitungen, den Hauptkunden der Agenturen, um 19.00 Uhr gerichtet war. Hatten sich die „Heute“-Sendung des ZDF (Beginn: 19.00 Uhr) – aus zeitlichen Gründen – und die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens (Beginn: 19.30 Uhr) – aus politischen Gründen („Trompeten der Partei“) – damit begnügen müssen, Ausschnitte aus der Pressekonferenz ohne erläuternde Hinweise zu übermitteln und damit deren Widersprüchlichkeit zu reproduzieren, begannen vor allem die Journalisten der Nachrichtenagenturen in Ermangelung präziser Informationen sehr schnell, den von Schabowski eröffneten Interpretationsspielraum zu füllen, die Information zu verdichten und einen eigenen Bedeutungszusammenhang zu konstruieren. 37  Frei nach Klaus Bresser, dem damaligen ZDF-Chefredakteur, der das Bild der Medien als eines „Keilriemens der Revolution“ benutzt. Vgl. Klaus Bresser, Das Fernsehen als Medium und Faktor der revolutionären Prozesse in Osteuropa und der DDR, in: Peter Christian Hall (Hrsg.), Fernseh-Kritik. Revolutionäre Öffentlichkeit. Das Fernsehen und die Demokratisierung im Osten, Mainz 1990, S. 36. 38  Vgl. z. B. Ilko-Sascha Kowalczuk (FN 7), S. 457. Kowalczuk behauptet ohne Beweis, dass gegen 20.30 Uhr bereits Tausende von Menschen vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße gestanden hätten. Demgegenüber belegen Fernsehaufnahmen, dass sich zu diesem Zeitpunkt nur einige wenige Ost-Berliner dort eingefunden hatten.



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Noch während Schabowski sprach, formulierten sie ihre ersten Schlagzeilen und Kurz-Meldungen. Sie wurden als Eil-Informationen verbreitet, was bedeutete, dass die Drucker in den Redaktionsstuben akustisch – nämlich mit Klingelzeichen – auf den Eingang einer bedeutenden Information aufmerksam machten. „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich“, übermittelte Reuters bereits um 19.02 Uhr und die Deutsche Presseagentur (DPA) fast gleichlautend um 19.04 Uhr; beide hoben damit allein den Ausreiseaspekt hervor.39 Während viele Journalisten zu dieser Zeit noch im Pressezentrum rätselten, wie das mit den Privatreisen gemeint war, preschte die amerikanische Agentur Associated Press (AP) um 19.05 Uhr vor, ließ alle einschränkenden bürokratischen Details beiseite und interpretierte die Reiseregelung als „Grenzöffnung“: „DDR öffnet Grenzen. – Ost-Berlin (AP). Die DDR öffnet nach Angaben von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski ihre Grenzen. Dies sei eine Übergangsregelung bis zum Erlass eines Reisegesetzes, sagte Schabowski. / Mehr.“40 Das abschließende „Mehr“ kündigte eine erläuternde Folgemeldung an. Um 19.35 Uhr äußerte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, in der SFB-„Abendschau“ mit sorgenvoller Miene: „Nun, Privatreisen werden für Bürger der DDR nun auch ohne weiteres genehmigt. Ich glaube, man darf für alle Berlinerinnen und Berliner sagen, es ist ein Tag, den wir uns lange ersehnt haben, seit achtundzwanzig Jahren. Die Grenze wird uns nicht mehr trennen.“ Allerdings fügte Momper noch hinzu: „Praktisch ab morgen geht es los!“41 Kurz vor Beginn der ARD-„Tagesschau“ übertrumpfte DPA die AP-Meldung und stellte die Ankündigung Schabowskis als bereits vollzogene Tatsache dar. Um 19.41 Uhr berichtete die Agentur „Sensationelles“: „Auszüge aus der Pressekonferenz mit SED-Funktionär Schabowski. – Berlin (dpa). Völlig überraschend machte SED-Politbüromitglied – mitten in einer internationalen Pressekonferenz am Donnerstag abend in Ost-Berlin – die sensationelle Mitteilung: Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach WestBerlin ist offen.“42 Und nur 15 Minuten später, um 19.56 Uhr lautete die DPA-Meldung: „DDR öffnet Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin – Kurzfristige 39  Reuters v. 9. November 1989, 19.03 Uhr: „Ausreisewillige DDR-Bürger können ab sofort über alle Grenzübergänge der DDR in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen.“ – DPA v. 9. November 1989, 19.04 Uhr: „Von sofort an können DDRBürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen.“ 40  AP v. 9. November 1989, 19.05 Uhr. 41  SFB-„Abendschau“ v. 9. November 1989. 42  DPA v. 9. November 1989, 19.41 Uhr.

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Genehmigungen von Ausreisen und Privatbesuchen – Volkskammersitzung mit Präsidentenwahl – Parteikonferenz. – Berlin (dpa). Die DDR hat am Donnerstag ihre Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin geöffnet. So können DDR-Bürger künftig kurzfristig und ohne große Formalitäten ausreisen und Privatreisen unternehmen.“43 Die „Tagesschau“ um 20.00 Uhr platzierte die Interpretation der Reise­ regelung als – vermeintliche – Grenzöffnung als Top-Meldung. „DDR öffnet Grenze“, so lautete die eingeblendete Schrift, zu der der Nachrichtensprecher dann die Kernsätze des Verordnungstextes verlas: „Ausreisewillige DDR-Bürger müssen nach den Worten von SED-Politbüromitglied Schabowski nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei nehmen. Dies kündigte er am Abend vor der Presse in Ost-Berlin an. Über einen entsprechenden Regierungsbeschluss wurde in der Fernsehsendung ‚Aktuelle ­Kamera‘ informiert. Visa zur ständigen Ausreise, so heißt es, würden unverzüglich erteilt, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssten. Auch Privatreisen ins Ausland könnten ohne Vorliegen von Reiseanlässen beantragt werden. Auch hierfür würden die Genehmigungen kurzfristig erteilt.“44 Den anschließenden Einspielfilm über Schabowskis Pressekonferenz krönte der Ost-Berliner Korrespondent mit dem Kommentar: „Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.“ Im Bezirk Potsdam standen danach die Telefone der Bezirksbehörde der Volkspolizei und der Volkspolizeikreisämter nicht mehr still: Zwischen 20.00 Uhr und 1.00 Uhr wurden 1.100 Anrufer gezählt, die Auskunft verlangten, wie die neuen Reiseregelungen zu verstehen seien.45 Weitaus weniger Menschen hatte es zu diesem Zeitpunkt direkt an die Grenze getrieben: Um 20.15 Uhr, 75 Minuten nach der Pressekonferenz Schabowskis und unmittelbar nach dem Ende der „Tagesschau“, hatten sich gerade einmal achtzig Ost-Berliner an den Grenzübergängen Sonnenallee (acht bis zehn), Invalidenstraße (zwanzig) und Bornholmer Straße (fünfzig) zur „Ausreise“ eingefunden, wie der Lagebericht der Ostberliner Volkspolizei festhielt.46 Doch die Medienspirale drehte sich weiter. Um 20.16 Uhr hieß es nun auch im RIAS Berlin: „Die DDR hat ihre Grenzen zur Bundesrepublik mit sofortiger Wirkung für Westreisen und Übersiedlungen geöffnet.“47 43  DPA

v. 9. November 1989, 19.56 Uhr. v. 9. November 1989, 20.00 Uhr. 45  Vgl. (MfS-)Bezirksverwaltung Potsdam, Rapport Nr. 313  /  89, Zeitraum vom 9. November 1989, 6.00 Uhr bis 10. November 1989, 6.00 Uhr, Information Nr. 2132 (BStU, ASt. Potsdam, AKG Nr. 1750, Bl. 43). 46  PdVP-Rapport Nr. 230, lfd. Nr. 13 (Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin). 47  RIAS v. 9. November 1989. 44  Tagesschau



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Schließlich kam der Regierende Bürgermeister von Berlin in einer ARD„Brennpunkt“-Sendung in der Halbzeitpause des Fußballspiels VfB Stuttgart gegen FC Bayern München kurz nach 21.00 Uhr noch einmal ins Bild. Er wiederholte seine Erwartung, dass es erst am nächsten Tag losginge. Auch den Deutschen Bundestag in Bonn, der sich an diesem Abend mit Vereinsförderung befasste, hatten frühzeitig die Agenturmeldungen erreicht. Die laufende Debatte wurde unterbrochen. Bundeskanzleramtschef Rudolf Seiters stellte gegen 21.00 Uhr fest, dass mit der Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen „erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR“ hergestellt werde. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel wurde deutlicher: „Diese Entscheidung bedeutet, dass die Mauer nach 28 Jahren ihre Funktion verloren hat.“ Und der FDP-Abgeordnete Wolfgang Mischnick warnte: „Alle diejenigen, die jetzt noch schwanken, bitte ich herzlich: Bleibt daheim!“48 Dann erhoben sich die Abgeordneten und stimmten die Nationalhymne an. Die Sitzung wurde um 21.10 Uhr geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt war die Mauer zu, doch die Agenturmeldungen, die über diese Sitzung abgefasst und umgehend in die Nachrichtensendungen – zunächst des Hörfunks – übernommen wurden, mussten den Eindruck weiter verstärken, sie sei schon geöffnet. Die fortgesetzte Berichterstattung in Fernsehen und Hörfunk, verstärkt durch die Alltagskommunikation überall dort, wo an diesem Abend Menschen zusammenkamen, belebte den Zustrom von Ost-Berlinern an die Grenzübergangsstellen – allerdings in immer noch überschaubarer Größenordnung. Auch West-Berliner brachen jetzt vereinzelt zu den Kontrollpunkten auf. Die Meldung „DDR öffnet Grenze“ weckte nicht nur den Wunsch, sich von diesem unglaublichen Ereignis mit eigenen Augen zu überzeugen. Sie brachte vielmehr eine Möglichkeit ins Spiel, die die SED-Führung nicht im Entferntesten in Erwägung gezogen hatte: dass nämlich die Mauer auch in Richtung Osten passiert werden könnte. Ohne jegliche Information und ohne Befehle ihrer militärischen Führung – die Fernsehberichterstattung hatte den Dienstweg überholt – sahen sich die Grenzposten auf Ost-Berliner Seite zunächst vor allem in der Bornholmer Straße einer ständig größer werdenden Menschenansammlung gegenüber, die zwischen 21.00 und 21.30 Uhr auf 500 bis 1.000 Personen geschätzt wurde. Ganz wenige wollten ausreisen, fast alle die – vermeintliche – Reisefreiheit testen. Gegen 21.30 Uhr kam es in der Bornholmer Straße zur sogenannten Ventillösung: Um den Druck abzubauen, wurde die Ausreiseabfertigung aufgenommen. Die Personalausweise der DDR-Bürger wurden mit einem Passkontrollstempel neben dem Lichtbild ungültig gestempelt; 48  Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 174. Sitzung v. 9. November 1989, S.  13213 ff.

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ohne es zu wissen, waren die ersten Ost-Berliner, die jubelnd über die Bornholmer Brücke nach West-Berlin liefen, ausgebürgert worden. Ein „kleines Stück Souveränität“ habe die DDR-Staatssicherheit damit demonstrieren wollen, kommentierte Stasi-General Gerhard Niebling diese Maßnahme im Nachhinein: „Wir sind auch noch da! Es geht nicht nur darum, dass auf einer Pressekonferenz etwas gesagt wird – und alles rennt los.“49 Mit einem Ansturm auf alle Berliner Grenzübergänge rechnete man im Ministerium für Staatssicherheit, das für diese Entscheidung zuständig war, offenbar noch nicht: Außer in der Bornholmer Straße und am Übergang Heinrich-Heine-Straße, an dem laut Volkspolizei-Bericht gegen 21.30 Uhr 120 Personen auf der Ostseite zusammengekommen waren, waren um diese Zeit „an den übrigen GÜST [Grenzübergangsstellen] nur vereinzelt Personen festzustellen“.50 Für 21.00 Uhr waren die Leiter der Passkontrolleinheiten in die für die Passkontrolle an den Berliner Grenzübergängen zuständige Hauptabteilung VI des Staatssicherheitsdienstes einbestellt worden, um Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen. Die Entwicklung in der Bornholmer Straße nahm man zu diesem Zeitpunkt noch gelassen auf. Mit der Erwartung, die Lage in den Griff zu bekommen, schickte der Chef, Generalmajor Heinz Fiedler, seine Genossen zurück an die Übergänge und fügte beruhigend hinzu: „Wie ich meine Berliner kenne, gehen die um 23.00 Uhr ins Bett.“51 Mittlerweile, so meldete DPA um 21.27 Uhr und war kurze Zeit später im RIAS Berlin zu hören, begrüßte schon die US-Regierung die „Öffnung der Grenzen“; US-Präsident George Bush zeigte sich „erfreut“. Im DDR-Fernsehen passierte um diese Zeit Ungewöhnliches. Um 21.53 Uhr wurde der laufende Spielfilm, um 21.57 Uhr das sich anschließende Kulturmagazin abrupt unterbrochen und die ADN-Pressemitteilung über die Reiseregelung des Ministerrates vollständig verlesen – das erste Mal ohne jede Erläuterung, das zweite Mal mit der nachdrücklich betonten Ermahnung: „Also: die Reisen müssen beantragt werden!“ Lutz Herden, Moderator der Spätnachrichtensendung „AK ZWO“ des DDR-Fernsehens, erinnerte sich, dass sich der Chef vom Dienst des DDR-Fernsehens nach 21.00 Uhr in der Redaktion gemeldet und mitgeteilt habe, es gebe Telefonate von Grenzübergangsstellen, an denen sich Leute konzentrierten: „Bornholmer Straße war, glaube ich, dabei, Invalidenstraße und auch das Brandenburger Tor. Und es würde darum gebeten, dass der Hörfunk und das Fernsehen diese Meldung im Wortlaut noch einmal 49  Gerhard

Niebling, in: Hans Hermann Hertle / Kathrin Elsner (FN 3), S. 98. Berlin, Fernschreiben v. 10. November 1989, 6.25 Uhr, Anlage zu: PdVPRapport Nr. 231 (Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin). 51  So Oberstleutnant S. W., Stellvertreter Passkontrolle der Passkontrolleinheit Invalidenstraße, in: Hans-Hermann Hertle / Kathrin Elsner (FN 3), S. 115. 50  PdVP



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wiederholten, um damit zu sagen: Es gibt eine neue Reiseregelung, aber das bedeutet nicht gleichzeitig, dass nun die Grenze offen ist.“52 In der von Lutz Herden moderierten „AK ZWO“, die um 22.28 Uhr begann, las ein Sprecher die ADN-Mitteilung erneut Wort für Wort vor. Dann fügte er hinzu, dass die Abteilungen Pass- und Meldewesen „morgen um die gewohnte Zeit geöffnet haben“ und auch ständige Ausreisen erst erfolgen könnten, „nachdem sie beantragt und genehmigt worden sind“.53 Möglicherweise hätte der Versuch der Gegensteuerung durch das DDRFernsehen erfolgreich sein können, hätte die Ventillösung funktionieren und ein isoliertes Vorkommnis mit begrenzter Auswirkung bleiben können, wenn die Berliner Redaktion der ARD-„Tagesthemen“ in der Zwischenzeit nicht eine Live-Schaltung vor dem Grenzübergang Invalidenstraße aufgebaut hätte. Die entsprechende Entscheidung war etwa um 19.30 Uhr mit der Absicht getroffen worden, in den „Tagesthemen“ mit einem Stimmungsbericht über die Lage an der Grenze vor deren „Öffnung“ am nächsten Tag live auf Sendung gehen zu können, auch wenn bis dahin vor Ort noch nichts geschehen würde.54 Die „Tagesthemen“ begannen an diesem Abend leicht verspätet um 22.42 Uhr. Deren Chefmoderator Hanns Joachim Friedrichs hatte um 22.00 Uhr herum einen Anruf vom Sender Freies Berlin erhalten. „Die Mauer sei auf, die ersten Ost-Berliner seien auf dem Weg in den Westen“, habe man ihn informiert.55 Elektrisiert schrieb er danach seinen Anmoderationstext. Ein Einspielfilm zeigte zunächst die nahezu menschenleere Westseite des Brandenburger Tores. Hanns Joachim Friedrichs verkündete dazu: „Das Brandenburger Tor heute abend. Als Symbol für die Teilung Berlins hat es ausgedient. Ebenso die Mauer, die seit 28 Jahren Ost und West trennt. Die DDR hat dem Druck der Bevölkerung nachgegeben. Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei.“ Dann kam Friedrichs ins Bild und beendete seine Anmoderation mit den Sätzen: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser neunte November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“56 52  Lutz Herden, in: Die Nacht der Nächte, Dokumentarfilm von Robin Lautenbach und Dagmar Mielke, SFB 1997. 53  AK Zwo v. 9. November 1989. 54  Siehe Robin Lautenbach, in: Hans-Hermann Hertle  /  Kathrin Elsner (FN 3), S.  64 f. 55  Hanns Joachim Friedrichs, Journalistenleben, München 1996, S. 257. 56  Tagesthemen v. 9. November 1989. Daraus sind auch die folgenden Zitate entnommen.

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Friedrichs Ansage eilte den Ereignissen voraus, die Bild-Text-Schere konnte größer nicht sein: Entgegen der von ihm behaupteten Tatsache zeigte ein gegen 22.00 Uhr fertiggestellter Einspielfilm der Berliner Redaktion, dass zumindest an den gefilmten Grenzübergängen in der Heinrich-HeineStraße und am Checkpoint Charlie absolute Ruhe herrschte. Dann wurde nach Berlin geschaltet. „Tagesthemen“-Reporter Robin Lautenbach meldete sich live von der Westseite des Grenzübergangs Invalidenstraße, dessen Tor ebenfalls unübersehbar geschlossen war. Doch drei West-Berliner Augenzeugen, die zuvor am Grenzübergang Bornholmer Straße gewesen waren und die Lautenbach dann interviewte, halfen ihm und Friedrichs aus der Patsche. In Unkenntnis der Ausbürgerungsabsichten der DDR-Seite berichtete ein Augenzeuge: „Ich habe erlebt, dass um 21.25 Uhr das erste Pärchen tränenaufgelöst auf uns zugelaufen kam und die Berliner weiße Linie erreicht hat. Sie sind mir beide um den Hals gefallen, und wir haben alle gemeinsam geweint.“ Und die beiden anderen Augenzeugen ergänzten unter anderem, Ost-Berliner gingen hin und her, sie bräuchten nur den Personalausweis – in den es einen Stempel gäbe! Robin Lautenbach deklarierte umgehend den geschlossenen Übergang Invalidenstraße zum Ausnahmefall: „Hier in der Invalidenstraße auf der anderen Seite haben die Grenzpolizisten offenbar diese Weisung noch nicht bekommen oder sie haben sie nicht verstanden. Hier werden bis zu diesem Zeitpunkt offenbar die Leute auf der östlichen Seite weiter zurückgeschickt. Sie werden vertröstet auf morgen, 8.00 Uhr, dass sie sich dort ihren Stempel bei der Volkspolizei abholen können. Aber wie gesagt, an sehr vielen anderen Grenzübergängen, nicht nur in der Bornholmer Straße – wir haben es auch gehört von der Sonnenallee und vom Ausländergrenzübergang Checkpoint Charlie – ist es offenbar bereits möglich, mit dieser neuen Regelung völlig komplikationslos nach West-Berlin zu kommen. – Damit gebe ich zurück zum ‚Tagesthemen‘-Studio.“ „Reiseverkehr in Richtung Westen frei“? – „Tore in der Mauer weit offen“? – „Völlig komplikationslos nach West-Berlin?“ – Nach diesen Fernsehberichten gab es für Tausende, ja Zehntausende Ost- und West-Berliner sowie Bewohner des Umlandes kein Halten mehr. Erst jetzt begann jener Ansturm auf die Grenzübergänge, der Passkontrolleure und Grenzsoldaten zwang, das Stempeln einzustellen, die Durchlässe freizugeben und den Rückzug anzutreten. Zehntausende waren es, die nach 23.00 Uhr in der Bornholmer Straße – im Scheinwerferlicht von Kamerateams – immer ungeduldiger „Tor auf! Tor auf!“ riefen und gegen die Grenzsicherungszäune drückten. Die Grenzwächter wurden nervös. Niemand hatte bis dahin die Verantwortung für die entstandene Situation übernommen, alle warteten ab. Von ihrer



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Führung fühlten sie sich im Stich gelassen; massive Zweifel am Sinn der rigorosen Grenzsicherung in Berlin beschäftigten sie ohnehin bereits von der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze an und erst recht, nachdem die Ausreise über die CSSR ungehindert möglich war.57 Schließlich bangten die Offiziere um ihr Leben und das ihrer Mitarbeiter. Auf eigene Entscheidung stellten sie gegen 23.30 Uhr in der Bornholmer Straße alle Kontrollen ein. „Wir fluten jetzt!“, kündigte der leitende Offizier der Passkontrolle an; dann wurden die Schlagbäume geöffnet und Abertausende strömten von Ost nach West. Bis Mitternacht gaben die Passkontrolleure der Staatssicherheit und die Angehörigen der Grenztruppen dem Druck der Menschen auch an den übrigen innerstädtischen Grenzübergängen nach und ließen die Ost-Berliner zumeist unkontrolliert passieren. Am Grenzübergang Invalidenstraße rückten West-Berliner, angelockt von der Fernseh-Berichterstattung, Schritt für Schritt auf das Ost-Berliner Territorium vor, bis schließlich auch hier der Chef der Passkontrolle seinen Soldaten befahl: „Zieht Euch zurück, lasst sie laufen!“ und den Verkehr in beide Richtungen freigab. Der Grenzübergang „Checkpoint Charlie“, über den der Alliiertenverkehr lief, wurde gegen Mitternacht ebenso von beiden Seiten gestürmt. Später in der Nacht wurde zunächst die Mauer am Brandenburger Tor vom Westen aus bestiegen und besetzt, dann das Wahrzeichen der geteilten Stadt und der Pariser Platz von Ost und West erobert – das symbolträchtigste Ereignis der Nacht, das aus der Öffnung der Grenzübergänge den Fall der Mauer werden ließ. 6. „Self-Fulfilling Prophecy“ – eine Fiktion der Medien wird zur Realität Der Fall der Mauer war weder von der SED-Führung beabsichtigt noch wurde er von Günter Schabowski bekanntgegeben. Einem Theorem des amerikanischen Soziologen Robert Merton folgend lässt sich der Fall der Mauer als exemplarischer Fall einer nicht-beabsichtigten Folge sozialen Handelns analysieren, wobei im vorliegenden Zusammenhang den Bedingungen Bedeutung zukommt, die dem von Merton beschriebenen Typus der „Self-Fulfilling Prophecy“ zugrundeliegen.58 Die sich selbst erfüllende Prophezeiung ist „eine zu Beginn falsche Definition der Situation, die ein 57  Vgl.

dazu auch Walter Süß (FN 15), S. 445 ff. Robert K. Merton, Die Self-Fulfilling-Prophecy, in: ders., Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin / New York 1995, S. 399–413. Hier ist auch das folgende Zitat entnommen. 58  Vgl.

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neues Verhalten hervorruft, das die ursprünglich falsche Sichtweise richtig werden lässt“. Als Folge unkoordinierter Entscheidungen der SED-Führung gewannen die Medien am Abend des 9. November maßgeblichen Einfluss auf die „Situationsdefinition“. Die von den West-Medien im Anschluss an Schabowskis Pressekonferenz verbreiteten Interpretationen („DDR öffnet Grenze“), falschen Situationsdefinitionen („Die Grenze ist offen“) und falschen Realitätsbilder („Die Tore in der Mauer stehen weit offen!“) stießen auf Erwartungshaltungen und Handlungsdispositionen, die durch die schnellen und überraschenden Erfolge des Protestverhaltens der zurückliegenden Wochen geprägt waren. Nach dem Sturz Honeckers, den Massendemonstrationen, den Ausreisemöglichkeiten über Ungarn und die CSSR, dem geschlossenen Rücktritt der Regierung und des Politbüros, schließlich sogar der Zulassung des „Neuen Forum“ war der Erwartungshorizont für die Zukunft schier unbegrenzt: Nichts war mehr auszuschließen, alles schien möglich. So konnten die Meldungen der West-Medien am 9. November 1989 einen Mobilisierungsprozess auslösen, der das angenommene Ereignis und die „falschen“ Realitätsbilder erst Wirklichkeit werden ließ. Jene Fernsehzuschauer und Rundfunkhörer, die den historischen Moment nicht verpassen und eigentlich nur dabei sein wollten und deshalb an die Grenzübergänge und das Brandenburger Tor eilten, führten im Grunde das Ereignis erst herbei, das sonst gar nicht stattgefunden hätte. Eine von den Medien verbreitete Fiktion mobilisierte die Massen und wurde dadurch zur Realität. Dass die Fiktion jedoch überhaupt Realität werden konnte, der dynamische Mobilisierungsprozess, den die West-Medien vorantrieben, Erfolg hatte, hing nicht zuletzt von der eingeschränkten Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des SED-Regimes ab. Der abendliche Aufbruch zunächst einzelner an die Grenzübergänge hätte eine begrenzte Aktion bleiben können, der Mauerfall musste nicht zwangsläufig folgen. Schon nach den ersten Agenturmeldungen, Fernseh- und Rundfunknachrichtensendungen am Abend des 9. November hätte der DDR-Regierungssprecher, dem eigentlich die Bekanntgabe der Reise-Verordnung aufgetragen war, mit einer Pressemitteilung die Fehlinterpretationen korrigieren können. Die Institutionen des SED-Staates waren jedoch über geraume Zeit handlungsgelähmt. Die bewaffneten Organe – vor allem die Passkontrolleure des MfS, Soldaten der Grenztruppen und Volkspolizisten an den Berliner Grenzübergängen – waren mit einer Situation konfrontiert, die sie nicht im Geringsten vorausahnten. Nicht über den Dienstweg, sondern über die Medien und von den Bürgern unmittelbar am Schlagbaum erfuhren sie von der



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geplanten Reiseregelung. Die näheren Absichten der politischen Führung kannten sie nicht, Befehle der militärischen Führung gab es keine. Fatalismus brach aus: Wie kann ein für die Grenzsicherung zuständiger Stasi-General, wenn Menschen zu den Übergängen strömen, sich an den Strohhalm klammern, dass die Berliner gewöhnlich um 23.00 Uhr ins Bett gehen und dadurch Ruhe schon wieder von allein einkehren wird? Die in der Not vom MfS ersonnene „Ventillösung“, eine Art heimlicher Ausbürgerungsaktion, wurde von den Wartenden auf der Ostseite als Beginn der Abfertigung interpretiert, erhöhte den Druck und steigerte die Erwartung der anderen. Auf der Westseite wiederum galt die Ankunft der ersten OstBerliner als Bestätigung dafür, dass die Grenze tatsächlich geöffnet würde. Zwei bis drei Stunden vergingen, in denen es den West-Medien überlassen blieb, die Absichten der SED-Führung kreativ zu deuten. In dieser Zeit fühlte sich der DDR-Regierungssprecher ebenso wie der ADN-Generaldirektor nicht berechtigt, die Ausführungen eines Politbüro-Mitglieds zu korrigieren oder eigenständig zu interpretieren. Die SED-Führung war zunächst durch die bis in die Abendstunden verlängerte Tagung des Zentralkomitees paralysiert. Dann fehlten ihr Informationen, warum sich ereignete, was ihr gemeldet wurde. Als schließlich die Parteispitze und die Ministerien der bewaffneten Organe formell entscheidungsfähig waren, war der Mobilisierungsprozess schon so weit fortgeschritten, dass sich ihre Handlungsmöglichkeiten nach ihrer eigenen Wahrnehmung darauf beschränkten, entweder Panzer auffahren oder den Dingen freien Lauf zu lassen. Nach eigenem Bekunden versuchte Egon Krenz, telefonisch bei Michail Gorbatschow Rat einzuholen, doch kam eine Verbindung nicht zustande; in Moskau war es bereits Mitternacht.59 Schließlich ließ man den Dingen freien Lauf in der Hoffnung, dass sich so am nächsten Tag die ursprüngliche Absicht durchsetzen ließe, was nach einem Blutvergießen an der Mauer unmöglich gewesen wäre. Das Abwarten führte jedoch nicht dazu, dass sich die Lage beruhigte, das Gegenteil trat ein: Die Ereignisse beschleunigten sich umso mehr. Die Medienberichterstattung konstituierte eine Ost- und West-Berlin übergreifende Öffentlichkeit, die Grenzübergänge wurden von beiden Seiten gestürmt. Vereinzelt noch in der Nacht, geballt am nächsten Tag, griff dieser Sturm als Kettenreaktion auf die innerdeutsche Grenze über.

59  Siehe

Egon Krenz, Herbst 89, Berlin 1999, S. 248 f.

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7. Koinzidenz unkoordinierter Entscheidungen Entstehung, Verlauf und Ergebnis von Revolutionen, und dies gilt für die Umbrüche in allen mittelosteuropäischen Staaten, sind selbst bei einer Anhäufung von strukturellen Krisenfaktoren auf Grund kontingenter Handlungskonstellationen und Ereignisabläufe unvorhersehbar. Bourdieus von Ingrid Gilcher-Holtey vor allem um die Bedeutung der Medien erweitertes Analysekonzept ist hilfreich, um die „Konjunktion unabhängiger Kausalreihen“, ihre Interaktionsmomente und ihren Umschlag in Handlungsbereitschaft und offenen Protest zu entschlüsseln. Es leistet damit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Revolution in der DDR und darüber hinaus. Der Herbstrevolution in der DDR ging ein längerer Zeitraum voraus, indem sich interne und externe Krisenfaktoren parallel entfalteten; partiell griffen sie ineinander und verstärkten sich. Als im Bourdieu’schen Sinne „kritische Ereignisse“ lassen sich die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für DDR-Bürger am 10. / 11. September und die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 interpretieren. Die Wahrnehmung beider Ereignisse war in hohem Maße über die Medien vermittelt, ihre emo­ tionale Wirkung wurde durch deren Berichterstattung wesentlich verstärkt. Das ungarische „Loch in der Mauer“ legte die Schwäche des SED-Regimes und den Verlust seiner Unterstützung durch einen bis dahin verbündeten Staat, insbesondere durch seine sowjetische Vormacht vor dem Fernseh­ publikum offen. Über den harten Kern der Oppositionsbewegung hinaus erschloss die ungarische Grenzöffnung weiten Teilen der DDR-Bevölkerung, Ausreisern gleichermaßen wie Dableibewilligen, neue Handlungsoptionen und verengte zugleich diejenigen des Regimes. Die Massenausreise nahm weiter zu – und zugleich entwickelte sich und explodierte schließlich der Protest gegen das Regime auf der Straße. Die am Tag danach vom Westfernsehen ausgestrahlten Bilder von der Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 und das Nichteinschreiten der bereitgehaltenen Volkspolizei- und Armeekräfte gegen 70.000 Demonstranten machten den 9. Oktober zu einem Fanal, dem „Tag der Entscheidung“. Der friedliche Verlauf ermutigte viele, sich jetzt auch in ihren Dörfern und Städten an Protestaktionen zu beteiligen. Bis zum 9. November 1989 traten mehrere Millionen Menschen DDR-weit auf mehr als 600 Demonstrationen und Kundgebungen für ihre demokratischen Rechte und gegen das Regime ein. Die Rücktritte zunächst des SED-Generalsekretärs, dann des Ministerrats und des Politbüros sowie die Ankündigung von Reformen wurden den Machthabern in dieser Situation als Schwäche ausgelegt. Statt das System zu retten, verstärkten sie die Protestbewegung und beschleunigten den Zerfall der Parteiherrschaft.



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Der Fall der Mauer am 9. November 1989 entstand aus einer Koinzidenz von unkoordinierten Entscheidungen der SED-Führung, falschen Situationsdefinitionen der West-Medien, spontanen Entschlüssen von Fernsehzuschauern und Radiohörern sowie ad-hoc-Entscheidungen der Grenzsicherungs­ organe, das heißt kontingenten Handlungssituationen.60 Er beendete die Revolution in der DDR nicht, wie manche meinen61, sondern veränderte ihren Kurs. Die Anzahl der Demonstrationen in den drei Wochen nach dem Mauerfall blieb so hoch wie in den drei Wochen zuvor.62 Die Mehrheit der Demonstranten forderte jedoch nach dem Ende der Einmauerung, mit dem das kommunistische Regime endgültig die Macht und Kontrolle über die „Staatsinsassen“ (Joachim Gauck) verlor, unmissverständlich die deutsche Einheit („Wir sind ein Volk!“) und damit die Abschaffung der DDR – und nicht ihre Reform. Es gehört zu den Ironien der Herbstrevolution, dass Teile der SED-Führung schon vor dem Mauerfall angesichts des drohenden Staatsbankrotts den Glauben an ein Überleben der DDR ohne westdeutsche, „kapitalistische“ Hilfe aufgegeben hatten und damit „ihrem“ Volk voraus waren. Und es gehört zur Tragik der Opposition, dass Teile der BürgerrechtsGruppen – auch in Unkenntnis der politischen und wirtschaftlichen Lage der DDR – noch nach dem Mauerfall von deren sozialistischer Reform träumten und auf Distanz zu der auf den Demonstrationen immer energischer skandierten Parole „Deutschland, einig Vaterland“ gingen. Unter dem anhaltenden Druck der Massendemonstrationen und der fortgesetzten Massenausreise in die Bundesrepublik zerfielen innerhalb weniger Wochen die zentralen Parteistrukturen; Politbüro, ZK-Sekretariat und Zentralkomitee lösten sich selbst auf. Ohne die Steuerungszentrale der Partei zerbröselten die staatlichen Machtstrukturen. Dem Zusammenbruch des Regimes folgte ein politischer Systemwechsel. Im Vorfeld und während des politischen Umbruchs in der DDR hatten die West-Medien aktuell informiert und Mobilisierungs- und Verstärkungsfunktionen übernommen. Am Abend des 9. November 1989 jedoch berichteten sie nicht nur, sondern setzten mit ihren Interpretationen die Ereignisse auch selbst mit in Gang. Der Fall der Mauer steht als Symbol für das 60  In freier Anlehnung an das Erklärungsmodell von Ingrid Gilcher-Holtey, Die Nacht der Barrikaden (FN 13), S. 385 f. 61  Siehe etwa Stefan Bollinger, 1989 – eine abgebrochene Revolution. Verbaute Wege nicht nur zu einer besseren DDR?, Berlin 1999. 62  Vgl. Uwe Schwabe, Der Herbst ’89 in Zahlen – Demonstrationen und Kundgebungen vom August 1989 bis zum April 1990, in: Eberhard Kuhrt u. a. (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SEDHerrschaft, Opladen 1999, S. 719–735, hier 726 f.

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Ende des Kalten Krieges, für die Aufhebung der Teilung Deutschlands und des europäischen Kontinents – und er ist das erste welthistorische Ereignis, das als Folge der vorauseilenden Verkündung durch Fernsehen und Hörfunk eintrat. Epilog „Mit der DDR geht es uns jetzt so wie mit unserem Aserbeidschan: Auf niemanden kann man sich stützen, mit keinem gibt es vertrauliche Beziehungen. […] Es gibt keine wirklichen Kräfte in der DDR. Folglich können wir auf den Prozess nur über die BRD einwirken. […] Ich würde darauf setzen, möglichst viel Zeit zu gewinnen. Das Wichtigste ist jetzt, den Prozess in die Länge zu ziehen, wie immer auch das endgültige Ziel (Wiedervereinigung) aussehen mag. […] Welche nächsten Schritte? […] Abzug der Streitkräfte aus Deutschland vorbereiten.“ (Michail Gorbatschow während einer Beratung zur deutschen Frage im engsten Beraterstab am 26. Januar 1990 in Moskau)63

63  Zitiert nach Aleksandr Galkin / Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München 2011, S.  286 ff.

Menschen drin, Märkte draußen: Die wirtschaftlichen Flurschäden des Mauerbaus nach 50 Jahren Von Karl-Heinz Paqué 1. Langfristige Spuren durch den Mauerbau Die Berliner Mauer wurde am 13. August 1961 errichtet. In diesem Jahr wäre sie 50 Jahre alt geworden. Sie verschwand aber „schon“ nach 28 Jahren – durch eine friedliche Revolution, die am 9. November 1989 mit dem Mauerfall ihren Höhepunkt erreichte. Seit gut 22 Jahren ist die Mauer wieder weg. Sie ist damit ein abgeschlossener Teil der deutschen Geschichte. Zumindest gilt dies für die Mauer als physisches Faktum. Es gilt nicht, so meine Grundthese, für die langfristigen wirtschaftlichen Spuren, die der Mauerbau, der Eiserne Vorhang oder ganz allgemein: die Abschottung des planwirtschaftlichen Ostens vom marktwirtschaftlichen Westen, hinterlassen haben. Diese sind auch heute klar erkennbar und werden es wahrscheinlich noch in Jahrzehnten sein. Es sind durchweg negative Spuren, eben Flurschäden. Vor allem ist es die nachhaltige Schwächung der industriellen Innovationskraft in Mittel- und Ostdeutschland, die zu Buche schlägt. Für die Wirtschaftswissenschaft liefern Mauerbau und -fall ein typisches Beispiel für eine „Pfadabhängigkeit“: Ein Ereignis oder ein vorübergehender Zustand hinterlässt tiefe dauerhafte Spuren, die sich nur sehr langsam oder überhaupt nicht mehr beseitigen lassen. Es ist typisch, dass die Zeitgenossen solche Spuren zunächst nicht erkennen bzw. in ihrer prägenden Kraft unterschätzen. Es dauert einige Jahre, bis sich dies ändert. Der Prozess der Erkenntnis ist dabei schwierig, politisch und gesellschaftlich. Wir befinden uns, so meine Sicht, derzeit mitten in diesem Prozess. Mein Beitrag besteht aus zwei größeren Teilen. Gegenstand von Teil 1 (siehe 2.) ist die Wirtschaft und die Wirtschaftspolitik der DDR; es geht um das Motiv für den Mauerbau und die Folgen der Abschottung – unter Ulbricht und unter Honecker. Gegenstand von Teil 2 (siehe 3. und 4.) ist die ostdeutsche Wirtschaft nach Mauerfall und Wiedervereinigung – ihre Ausgangslage, die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen und die Ergebnisse des Aufbau Ost. Es folgt eine bewertende Einordnung.

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2. Abgeschotteter Sozialismus: Die DDR-Wirtschaft 1961–1989 2.1. Das Ende der Freizügigkeit Der Mauerbau 1961 beendete die Mobilität der Arbeitskräfte zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Genau dies war auch sein Zweck: Von 1951 bis 1961 verließen per Saldo knapp über zwei Millionen Menschen die DDR. Das waren 11,1 Prozent der Bevölkerung und 13,4 Prozent der Anzahl der Erwerbstätigen im Jahr 1950. Im Durchschnitt lag der Wanderungsverlust pro Jahr bei fast 190.000 Menschen, davon überdurchschnittlich viele gut ausgebildete Leistungsträger.1 Bis zum Mauerbau schwankte die Abwanderung mit der westdeutschen Konjunktur. Sie erreichte einen ersten Höhepunkt in der Boomphase 1955 bis 1957. Nach Ende der (leichten) Rezession 1958 wurden ab 1960 im Westen extrem niedrige Arbeitslosenquoten von rund ein Prozent erreicht. Wieder schoss deshalb die Zahl der Ost-West-Flüchtlinge nach oben. Ab 1960 überstieg die Zahl der gemeldeten offenen Stellen im Westen die der Arbeitslosen deutlich – ein Zustand, der übrigens mit Ausnahme des Rezessionsjahrs 1967 in allen Jahren bis 1973 erhalten blieb und mit einer massiven Zunahme der Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern aus den Ländern des Mittelmeerraums einherging. Von 1959 bis 1973 stieg der Anteil ausländischer Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der abhängig Beschäftigten in Westdeutschland von 0,9 auf 10,8 Prozent.2 Tatsächlich ist im Nachhinein klar erkennbar, dass zur Dekadenwende der 1950er auf die 1960er Jahre ein grundlegender Wandel am Arbeitsmarkt Westdeutschlands stattfand. Abgeschlossen war die überaus erfolgreiche Integration der rund 10 Millionen Vertriebenen, die bis Mitte der 1950er Jahre ein mobiles Reservoir von unterbeschäftigten Erwerbspersonen dargestellt hatten.3 Daneben setzte eine starke Welle der Pensionierung von Arbeitskräften ein und sorgte sogar für eine Schrumpfung der Zahl (west-) deutscher Erwerbspersonen, denn die Kohorte der angehenden Ruheständler, geboren zumeist in den wirtschaftlich glücklichen Jahren um 1900, war größer als die Kohorte der Neuankömmlinge am Arbeitsmarkt, also im Wesentlichen die Kinder der 1940er Jahre, der Zeit der Kriegs- und Nach1  Zur Statistik der innerdeutschen Wanderung in den 1950er Jahren, siehe André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, insbesondere Kapitel 3 und dort Tabelle 11. 2  Im Einzelnen dazu Herbert Giersch  /  Karl-Heinz Paqué  /  Holger Schmieding, The fading miracle. Four decades of market economy in Germany, Cambridge 1994, Abschnitt 4 A und dort insbesondere Tabelle 15. 3  Vgl. ebd., Abschnitt 3 A.



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kriegswirren. Selbst bei Mobilisierung aller „stillen Reserven“, insbesondere von noch nicht erwerbstätigen Frauen, war bestenfalls mit einer Stagnation des Potentials an einheimischen westdeutschen Arbeitskräften zu rechnen. Dieser Zustand blieb für fast eineinhalb Jahrzehnte stabil, bis ab Mitte der 1970er Jahre die Babyboom-Generation begann, in den Arbeitsmarkt hineinzuwachsen. Soweit die Fakten und Trends der Zeit. Sie waren schon Anfang der 1960er Jahre für einen nüchternen Betrachter durchaus zu erahnen. Den politisch Verantwortlichen der DDR musste klar sein, dass die Dramatik von Abwanderung und Flucht eher noch zunehmen würde, bedingt durch den Knappheitssog aus dem Westen. Zumindest die Größenordnung lag auf der Hand: Allein eine unveränderte Fortsetzung der Abwanderung „im Trend“ hätte in weiteren zehn Jahren den Aderlass der Bevölkerung auf rund ein Fünftel des Niveaus von 1950 heraufgeschraubt; und jeder weitere Nachfragesog aus dem Westen hätte bei Facharbeitern, Ingenieuren, Ärzten und vielen anderen Knappheitsberufen zu einer katastrophalen Einschränkung des jeweiligen Leistungsangebots in der DDR geführt. Berücksichtigt man all diese Umstände, dann steht außer Zweifel, dass der Mauerbau eine aus Sicht der DDR-Führung ökonomisch rationale Entscheidung war. Wer die Planwirtschaft als Experiment auf deutschem Boden fortsetzen wollte, der musste die konsequente Abschottung befürworten. Und dies hieß: Bau der Mauer in Berlin und eine völlig undurchlässige innerdeutsche Grenze bis hin zum Schießbefehl. So interpretiert wird die Berliner Mauer vielleicht zur äußersten Form des Protektionismus gegen die Folgen dessen, was wir heute den „Standortwettbewerb“ nennen. Unter den vorherrschenden Bedingungen – Menschen im Osten und im Westen mit gleicher Sprache, Kultur, Ausbildung und industrieller Tradition, aber nur wenige Kilometer voneinander entfernt – war der offene Standortwettbewerb derart scharf, dass jedes grundlegende Systemexperiment annähernd gleich hohe Arbeitsproduktivität und Reallöhne versprechen musste wie der regionale Systemkonkurrent (und Nachbar!) sie bot. Gelang dies nicht, blieb nur die „regionale Geiselnahme“. Diese wurde am 13. August 1961 mit Mauerbau und Schießbefehl abgeschlossen. Das brutale Opfer der Menschenrechte wurde zur letzten Konsequenz des ideologisch motivierten Wettbewerbs der Systeme. 2.2. Phasen der Entwicklung Brachte der Mauerbau die gewünschte wirtschaftliche Entlastung? Die Antwort hängt von der zeitlichen Perspektive ab. Sie lautet: kurzfristig „ja“, mittelfristig „bedingt“ und langfristig „nein“. Mit etwas Mut zur Vereinfa-

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chung lassen sich die drei Fristen mit Daten und Namen der politisch Verantwortlichen verbinden. So bezeichnen wir mit der kurzen Frist das Jahrzehnt vom Mauerbau 1961 bis 1971 – die „späte“4 Ulbricht-Zeit –, mit der mittleren Frist die „frühe“ Honecker-Zeit (vom Sturz Ulbrichts 1971 bis etwa 1982) und mit der langen Frist die „späte“ Honecker-Zeit (von etwa 1982 bis unmittelbar vor dem Mauerfall im Jahr 1989). Die drei Phasen beschreiben in geradezu paradigmatischer Weise das stufenweise Scheitern des Versuchs, in einem hoch entwickelten Industrieland eine vom Weltmarkt abgeschottete Produktwelt aufzubauen. Wir fassen die Entwicklung im Folgenden in extrem knapper, stilisierter Form zusammen.5 Zunächst zur späten Ulbricht-Zeit, beginnend mit dem Mauerbau. Sie ist gekennzeichnet durch den Versuch, die DDR-Wirtschaft zu modernisieren, und zwar unter Nutzung jener politischen Freiheitsgrade, die sich aus dem Mauerbau ergaben. Startpunkt war dabei die Erkenntnis, dass die 1950er Jahre in der DDR zwar durchaus den Wiederaufbau und auch ein beachtliches Wachstum des Produktionsniveaus gebracht hatten, dass aber von einem Gleichziehen mit dem Westen wohl nicht die Rede sein konnte, sonst – so die politisch nicht aussprechbare Erkenntnis – hätte es ja gar nicht zum Mauerbau kommen müssen. Das Konzept Ulbrichts zur Modernisierung wies dabei über die Jahre drei wesentliche Schwerpunkte auf: Verbesserung der wirtschaftlichen Effizienz auf betrieblicher Ebene, forcierter Ausbau der Investitionsgüterindustrien und innovative technologische Durchbrüche in Schlüsselbranchen. In allen drei Bereichen gab es schließlich große Enttäuschungen, zumindest wenn man die Ergebnisse am Standard der hohen Erwartungen misst. Dies lag letztlich an der mangelnden Bereitschaft, wirklich substantielle Einschränkungen der politischen Macht der Partei im wirtschaftlichen Bereich hinzunehmen – zugunsten einer deutlich freieren Markt- statt Planwirtschaft. Hinzu kam das völlige Fehlen einer außenwirtschaftlichen Öffnung zu den Weltmärkten. Gleichwohl gelten die 1960er Jahre zu Recht als eine Art „goldene Zeit“ der DDR. Immerhin gelang es im Schatten der Mauer, ein recht kontinuierliches Wirtschaftswachstum zu erreichen, das höher lag (und weniger stark schwankte) als in den beiden folgenden Jahrzehnten. Vor allem die Versor4  „Spät“, weil Walter Ulbricht ja schon seit 1950 Generalsekretär (ab 1953 Erster Sekretär) des Zentralkomitees der SED und damit faktisch die erste politische Autorität in der DDR war. 5  Ausführlich dazu André Steiner, von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, insbesondere die Kapitel 4 bis 6, denen die folgende Darstellung entscheidende Impulse verdankt, die zeitliche Strukturierung in drei Phasen eingeschlossen.



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gung mit langlebigen Verbrauchsgütern verbesserte sich spürbar und nachhaltig, bedingt durch einen Produktionsschub bei Kraftfahrzeugen, Fernsehgeräten, Kühlschränken, Waschmaschinen und anderen Produkten der Technik, die zunehmend zum Standard wurden. Es entwickelte sich jene Produktpalette, die bis zum Mauerfall das Bild dominierte: eine flächendeckende Versorgung mit den klassischen Attributen der Konsumgesellschaft. Bemerkenswert ist dabei, dass Ulbricht (und einige Planer) sich bewusst waren, dass dies noch nicht genügte, um wirklich im Systemwettbewerb überzeugend dazustehen. Schließlich war doch schon damals offensichtlich, dass die Ost- den Westprodukten mit Blick auf Design, Funktionalität, Komfort und Qualität deutlich nachstanden. Die merkwürdig anmutende Losung „Überholen ohne einzuholen“, die Ulbricht in den späten 1960er Jahren aufgriff,6 ist deshalb keineswegs nur unsinnig. Sie war gemeint als ein Aufruf zu einer technologischen Offensive, bei der es dem Osten endlich gelingen würde, in einer völlig neuen Generation von Produkten wirklich führend zu sein und damit den Westen insgesamt hinter sich zu lassen, auch wenn der Rückstand bei den eher schon traditionellen Industrieprodukten erhalten blieb.7 Die Hoffnung beruhte dabei vor allem auf der modernen Elektronik, die in den späten 1960er Jahren weltweit ihren ersten Aufschwung nahm. Diese Hoffnung erwies sich als völlig illusorisch, aber ihre politische Existenz als – wenn auch groteske – Zielvorgabe lässt erkennen, dass Ulbricht und seine Mitstreiter ein vages Gefühl hatten, welche dramatische Bedeutung die technologische Innovationskraft für das Wachstum in der Zukunft haben würde. Nebenbei sei bemerkt, dass die ostdeutschen Reformer mit ihrer Einschätzung gar nicht so weit entfernt lagen vom globalen Zeitgeist. Dies zeigt die gleichzeitige Diskussion unter Intellektuellen des Westens. Dort wurde ernsthaft an sogenannten Konvergenztheorien gebastelt, die eine zunehmende Annäherung der Methoden und Leistungskraft zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft postulierten. Grundlegend war dabei die Vorstellung, dass die zentralen künftigen Herausforderungen der Kapitalakkumulation und des technischen Fortschritts in beiden Systemen die gleichen waren und überall vermehrte staatliche Planung erforderten. Der Markt verlor damit, so die weit verbreitete Auffassung, als Instrument der wirtschaftlichen Koordination immer mehr seinen inhärenten 6  Dazu

im Einzelnen ebd., S. 142–151. Phänomen nennt man in der Wachstumsökonomik „leapfrogging“. Es hat einen Standardplatz als Variante des Überholens in der modernen Theorie des endogenen Wirtschaftswachstums, allerdings üblicherweise nur unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Siehe Robert J. Barro / Xavier Sala-i-Martin, Economic Growth, Cambridge / Mass. 2004, Abschnitt 8.6. 7  Dieses

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Vorteil. Was langfristige Trends anging, so die Meinung, hatte er sogar eher Nach- als Vorteile. Überall herrschte ja eine gewisse technologisch-politische Planungseuphorie. Von da war es tatsächlich kein weiter Weg mehr zur Losung „Überholen ohne einzuholen“, im Osten.8 Mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker im Mai 1971 fand die Phase des technologischen Optimismus ein jähes Ende. Die Vorstellung des Ein- bzw. Überholens tauchte fortan nicht mehr in dem Vokabular und den Konzepten der sozialistischen Planer auf. Sie galt als illusionär. Im Vordergrund stand nun eine eher „konservative“ Politik – konservativ im Sinne des Erhalts und der Verbesserung eines ordentlichen Versorgungsniveaus ohne die Vision einer neuen technologischen Dynamik. Noch immer profitierte die Politik von der Existenz der Mauer, aber die gewonnenen Freiheitsgrade wurden nur mehr genutzt, um den Menschen eine gewisse Zufriedenheit mit ihrem Leben zu erlauben, auch wenn dessen Standard deutlich unter dem des Westens lag. Erleichtert wurde diese Position nach 1973 durch das Entstehen von Massenarbeitslosigkeit im Westen. Denn dies eröffnete erstmalig die politische Chance, die materielle Bescheidenheit im Osten vor dem anscheinend rosigen Hintergrund der Vollbeschäftigung und der sozialen Sicherheit im real existierenden Sozialismus auszumalen. Auch in dieser Hinsicht gab es übrigens deutliche Parallelen zu den Darstellungen vieler Intellektueller im Westen. Als Konsequenz der „konservativen“ Re-Orientierung wurden gesamtwirtschaftlich Ressourcen umgelenkt – weg von ambitiösen Investitionsund Technologieprojekten hin zur Stützung eines bescheidenen, aber doch auskömmlichen Daseins mit gesichertem Arbeitsplatz und betrieblicher Sozialfürsorge. Mit diesem Ansatz der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wurde eine gewisse, wiewohl trügerische Stabilität erreicht. Immerhin gelten die 1970er Jahre gemeinhin noch nicht als eine Zeit des systematischen Zurückfallens gegenüber dem Westen. In internationalen Statistiken des Lebensstandards taucht denn auch die DDR gerade zu dieser Zeit auf sehr beachtlichen Rangplätzen auf, so zum Beispiel 1974 vor Großbritannien. Die Statistiken beruhten zwar auf einer geradezu skurrilen Fehleinschätzung des potentiellen Wertes der DDR-Produkte auf dem globalen Markt, auf dem sie ja nie angeboten werden.9 Sie sind aber nicht untypisch für das Bild, das im Osten und im Westen von der DDR-Wirtschaft herrschte: eine Ökonomie mit einem gewissen Wohlstand, der zwar auf einer – 8  Zur Rolle des damaligen Zeitgeistes in Ost und West mit Blick auf Fragen von Wachstum und Strukturwandel, Siehe Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009, S. 208–231, ders., Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010. 9  Vgl. ebd., S. 54 f.



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gemessen am westdeutschen Standard – eher minderwertigen Produktpalette beruht, aber ansonsten nachhaltig ist. Übersehen wurde dabei, dass die damalige Entwicklung bereits in hohem Maße zu Lasten der Substanz ging. Die Investitionen und deren Effizienz erreichten neue Tiefstände. Auch die selektive Auslandsverschuldung der DDR nahm zu und bekam einen völlig neuen Charakter. Gesamtwirtschaftlich diente sie der Finanzierung nicht mehr von großen Investitionsvorhaben (wie noch unter Ulbricht), sondern letztlich des Konsums. Hinzu kam schließlich eine Entwicklung, die sich langfristig besonders fatal auswirkte: Es fehlte an technischen Innovationen, die aus der früher entwickelten breiten Produktpalette Neues hätte hervorbringen können. Die Innovationskraft erlahmte, auch deshalb, weil sie als politisches Ziel an Priorität verlor. Dies zeigte sich in der letzten Welle der – offenen oder verdeckten – Verstaat­ lichungen jenes kleinen mittelständischen Gewerbes, das bis dahin überlebt hatte, wiewohl ständig vom Staat diskriminiert und schikaniert. Gerade das Innovations- und Qualitätsbewusstsein, das diese noch intakte Restwelt des Unternehmertums zu bieten hatte, ging damit verloren. Schleichend vergrößerte sich der Abstand zum Westen, wenn man ihn an der Qualität und der Vielfalt der Produkte festmacht, die produziert und konsumiert werden. Dazu trugen die beiden globalen Ölkrisen 1973 / 1974 und 1980 / 1981 bei. Sie sorgten im Westen über die Preissignale an den Weltmärkten für einen forcierten Strukturwandel weg von Produkten, die mit extrem energieintensiven und umweltzerstörenden Verfahren hergestellt wurden. Dieser Strukturwandel, der die westdeutsche Wirtschaft voll erfasste, wurde weithin als ein überaus schmerzhafter Prozess empfunden, denn die Industrie schrumpfte, das Wachstum schwächte sich ab und erstmals von den späten 1950er Jahren an gab es wieder eine dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit. Heraus kam aber längerfristig eine Palette von technisch rundum erneuerten, ökologischeren Erzeugnissen, deren Qualität und Vielfalt für die ostdeutsche Industrie in immer weitere Ferne rückte. Die Abhängigkeit von sowjetischen Ölvorkommen und Rohstoffen, die zumindest vorübergehend die DDR vor den Ölpreisschocks bewahrte, zeitigte langfristig bedrohliche Folgen. Gerade diese Folgen wurden in der späten Honecker-Zeit ab 1982 deutlich sichtbar. Es sind jene Jahre, in denen praktisch alle protektionistischen Vorteile des Mauerbaus längst ausgereizt waren und der Substanzverzehr sich offener und in vielfältigen Formen zeigte, von der vernachlässigten Bausubstanz über verschlissene Infrastruktur bis hin zu einem hoffnungslos veralteten Maschinenpark der Industrie sowie einer zerstörten Umwelt. Besonders verheerend wirkte sich dabei das aus, was als Re-Karbonisierung der ostdeutschen Wirtschaft bezeichnet werden könnte: Als Reaktion auf die abnehmende Bereitschaft der Sowjetunion, die DDR mit Rohstoffen unter

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den gestiegenen Weltmarktpreisen zu beliefern, wurde die Förderung der Braunkohle massiv ausgebaut. Dadurch kam es zu einer Art Rolle rückwärts in der Energie- und Umweltpolitik: Die Ölkrisen führten nicht, wie im kapitalistischen Westen, zu energiesparenden und umweltschonenden Investitionen und Innovationen, sondern zum genauen Gegenteil, nämlich zum rücksichtslosen Rückgriff auf eine Ressource, die zwar lokal reichlich vorhanden war, aber deren Nutzung gegenüber dem Ölzeitalter einen massiven ökologischen Rückschritt darstellte. Insgesamt ist es überaus bemerkenswert, wie wenig Versuche vom DDRRegime in den 1980er Jahren unternommen wurden, eine grundlegende Veränderung der Wirtschaftslage anzustoßen. Tatsächlich ist die verstärkte Nutzung der Braunkohle die einzige strukturelle Innovation von Substanz. Ansonsten standen gesamtwirtschaftlich eher jene Maßnahmen im Vordergrund, die nötig waren, um die DDR international vor einer Zahlungsunfähigkeit zu bewahren, wie sie 1981 Polen traf. Insofern addierten sich die wirtschafts- und finanzpolitischen Schritte der Regierung eher zu einer sozialistischen Variante klassischer Konsolidierungspolitik, die unvermeidbar wurde, um überhaupt auch nur annähernd das Konsumniveau früherer Zeiten aufrechtzuerhalten. Die Re-Karbonisierung ist ebenso in diesem Lichte zu sehen: In der neuen Welt hoher Rohstoffpreise war sie nötig geworden, um zu verhindern, dass die Kosten der Energie nicht zu stark den laufenden Konsum der Menschen belasteten. Ansonsten lässt sich die Losung der DDR-Politik in den 1980er Jahren am besten mit der Formel: „Weiter so!“ charakterisieren. Dies erwies sich vor allem deshalb als fatal, weil im kapitalistischen Westen technologisch eine neue Phase einsetzte: das Zeitalter der Mikroelektronik. Spätestens von Mitte der 1980er Jahre an durchdrang die Mikroelektronik praktisch alle industriellen Produktionsprozesse als neue „general purpose technology“10 wie zu früheren Zeiten der elektrische Strom. War die DDR in der Frühphase der Mikroelektronik mit dem Schwerpunkt auf Großrechenanlagen in bestimmten Bereichen noch nicht völlig vom Weltmarktniveau abgehängt, so änderte sich dies nun radikal: Praktisch die gesamte Produktpalette im Westen wurde entweder selbst elektronisiert oder mit neuen Verfahren hergestellt, die massiv auf modernste Mikroelektronik zurückgriffen. Dies geschah auf allen möglichen dezentralen Ebenen, und gerade darin zeigte sich in drastischer Form die Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Koordination. Es kam zum genauen Gegenteil dessen, was die Konvergenztheoretiker – verblendet durch die traditionelle Industriestruktur – in den 1960er Jahren 10  Vgl. Elhanan Helpman, General Purpose Technologies and Economic Growth, Cambridge / Mass. 1998; Philippe Aghion / Peter Howitt, The Economics of Growth, Cambridge / Mass. 2009.



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vorausgesagt hatten: Die Umsetzung der neuesten Technologie erforderte gerade nicht das zentrale Planungsbüro, sondern Millionen von dezentral agierenden und optimierenden Entscheidungsträgern. In den kapitalistischen Industrieländern führte die mikroelektronische Revolution – ähnlich wie zuvor der Anstieg der Rohstoff- und Energiepreise – zu einem durchaus schmerzhaften Strukturwandel. Insbesondere waren neue Ausbildungsgänge und -schwerpunkte für Facharbeiter nötig; und die Art der Forschung und Entwicklung in Industriebetrieben veränderte sich systematisch: weg von großen zentralen Laboren und hin zu kleineren Einheiten, die mit den neuen Technologien sehr viel produktnäher und flexibler umgehen konnten. Es war genau dieser schwierige Prozess der Anpassung, der zwar vorübergehend Friktionen und manchmal sogar Produktivitätsverluste mit sich brachte, aber langfristig die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit aufrecht erhielt. Dieser Prozess fand im Osten im Wesent­ lichen nicht statt. Das planwirtschaftliche System war zu einem „Pfadwechsel“ der Technologie nicht in der Lage,11 der jedoch in allen Industriebetrieben, die wettbewerbsfähig werden oder bleiben wollten, zwingend auf der Tagesordnung stand. Blickt man aus der Vogelperspektive auf die gesamte DDR-Wirtschaftsgeschichte zurück, wird eines klar: Der Mauerbau verschaffte eigentlich nur eine Art Atempause. Die DDR-Regierung konnte in der Ulbricht-Zeit für ein paar Jahre technologische Experimente anstoßen, die im Klima des damaligen weltweiten Wachstums der Industrie zwar nicht wirklich erfolgreich waren, aber doch einen bescheidenen Wohlstand zuließen. Es ist die letzte Phase „offensiver“ sozialistischer Wirtschaftspolitik in der DDR. Mit dem „frühen“ Honecker der 1970er Jahre und dessen Konzept der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wurde dieser Wohlstand verwaltet und ein Stück weit ausgebaut, allerdings bereits auf Kosten der Substanz. Denn schon zu dieser Zeit setzten gewaltige weltwirtschaftliche Veränderungen ein. Auf die gab es keinerlei Antworten der Planwirtschaft. So wurden vor allem die Verteuerung der Energie- und Rohstoffpreise sowie die MikroElektronisierung der industriellen Technologie zu den Sargnägeln des Sozialismus. Dies zeigte sich in voller Tragweite allerdings erst ab den frühen 1980er Jahren. Hatte die DDR also schlicht „Pech“, dass der weltwirtschaftliche Strukturwandel in eine für sie ungünstige Richtung lief? In gewisser Weise 11  Exemplarisch zeigt die Studie von Eva Susanne Franke, Netzwerk, Innova­ tionen und Wirtschaftssystem. Eine Untersuchung am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland (1945–1990), Stuttgart 2000, wie in der Druckmaschinenindustrie im geteilten Deutschland gerade die mikroelektronische Revolution die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Produzenten zerstörte.

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stimmt dies, denn die Ölkrisen und die mikroelektronische Revolution zogen gemeinsam in Richtungen, die besonders weit weg von der traditionellen Struktur der Industrie lagen. Allerdings ist die Geschichte der Weltwirtschaft voll von radikalen Veränderungen der Produktionstechnologie, die zwar zeitlich und strukturell nicht genau vorhersehbar sind, die aber doch irgendwann irgendwie kommen. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, wie eine technologische Revolution auszusehen hätte, damit ein planwirtschaftliches System besonders gut mit ihr umgehen könnte. Stets fehlt nämlich dem abgeschotteten Sozialismus jener Kompass der Veränderung, der für die nötigen Innovationen und Investitionen an der richtigen Stelle sorgt.12 So interpretiert liefert die Wirtschaftsgeschichte der DDR vom Mauerbau bis zum Mauerfall nur eines von vielen denkbaren Szenarien des Scheiterns der Planwirtschaft. Die weltwirtschaftlichen Herausforderungen waren nun mal so, wie sie waren, aber wären sie anders gewesen, wäre die DDR (und der gesamte „Ostblock“) eben an etwas anderem gescheitert. Ein abgeschottetes planwirtschaftliches System kann mit dem Strukturwandel nicht umgehen und büßt Schritt für Schritt seine Innovationskraft ein. Interessant ist das Experiment DDR vom Mauerbau bis zum Mauerfall vor allem deshalb, weil es zeigt, dass selbst bei einer regionalen „Geiselnahme“ der Bevölkerung, also bei radikaler Verletzung des Menschenrechts auf Freizügigkeit, die Politik außerstande war, im Rahmen der Planwirtschaft die Herausforderungen zu bewältigen. Die Geiselnahme brachte eine Atempause, der Resignation und Substanzverzehr folgten. Mehr kam nicht dabei heraus. Selbst ohne Druck der Abwanderung gab es keinen Weg zum erfolgreichen Strukturwandel. 3. Kapitalistische Realität: Die ostdeutsche Wirtschaft seit 1989 3.1. Die Rückkehr der Freizügigkeit Der Mauerfall am 9. November 1989 stellte die innerdeutsche Freizügigkeit wieder her. Ab diesem Tag konnte jeder ostdeutsche Arbeitnehmer als deutscher Staatsbürger in den nahe gelegenen Westen abwandern. Die Verlockung war sehr groß, denn es gab noch immer keine wesentlichen natürlichen Hindernisse. Die Jahrzehnte der wirtschaftlichen Isolation hatten keineswegs die „typisch deutschen“ Eigenschaften der Erwerbspersonen dramatisch verändert. Sprache, Kultur, Ausbildung und industrielle Tradition waren gleich oder zumindest ähnlich. Jedenfalls war zu erwarten, dass sich 12  Die ist letztlich der Kerngedanke der Theorie der Marktwirtschaft als „Entdeckungsverfahren“, wie sie Hayek vertrat. Vgl. Friedrich A. Hayek, Die Anmaßung des Wissens Ordo 26 (1975), S. 21–21.



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ein ostdeutscher Arbeitnehmer in den bevorstehenden 1990er Jahren im Westen in relativ kurzer Zeit einarbeiten konnte, genau so wie es in den 1950er Jahren geschehen war. Damit standen die nun politisch Verantwortlichen – in der Bundesrepublik und der noch existierenden DDR, später im wiedervereinigten Deutschland – vor einem ganz ähnlichen Problem, wie das Ulbricht-Regime Anfang der 1960er Jahre: Es drohte eine Massenwanderung von Ost nach West. Wahrscheinlich war die Drohung – für sich genommen – sogar viel stärker als drei Jahrzehnte zuvor, denn der wirtschaftliche Abstand zwischen West und Ost, wie immer man ihn messen mag, fiel 1990 viel größer als 1960, nach immerhin 30 Jahren erfolgreicher Integration des Westens in die Weltmärkte bei völliger Abschottung des Ostens. Im Westen gab es einen hochmodernen Kapitalstock, eine im Weltmarkt bewährte Produktpalette, recht sichere Arbeitsplätze und vor allem hohe Löhne, die im globalen Vergleich mit an der Spitze lagen. Ohne Frage: Der kapitalistische Westen war extrem attraktiv für Millionen Ostdeutsche – vor allem für die Fachkräfte und Leistungsträger unter ihnen. Genau dies schränkte das politisch Mögliche nach dem Mauerfall drastisch ein. Theoretisch war es vorstellbar, eine Massenwanderung einfach zuzulassen. Dies hätte bedeutet: „Erweiterung West“ statt „Aufbau Ost“. Es hätte vielleicht sogar recht gut funktioniert, so wie die Integration der Vertriebenen in Westdeutschland in den 1950er Jahren, die ja ein „Wirtschaftswunder“ befeuerte. Es wäre im Westen zu einem Investitions- und Bauboom gekommen – bei vorübergehendem Druck auf die Reallöhne, aber mit schneller Erweiterung der leistungsfähigen Industrieanlagen. All dies war rein ökonomisch denkbar. Politisch lag es aber jenseits aller Vorstellungskraft: ein „Morgenthauplan Ost“ mit den ehemals stolzen mitteldeutschen Industrieregionen als Rentnerparadies, grünem Biotop und landwirtschaft­ licher Nutzfläche, das wäre eine historische und moralische Bankrotterklärung der Nation gewesen. Es gab deshalb für die deutsche Politik nach 1989 ein Ceterum Censeo, das wie folgt lautete (frei nach Cato dem Älteren): „Und im Übrigen muss eine massive Abwanderung von Ost nach West verhindert werden!“ 3.2. Weichenstellungen und Entwicklungen Jede wichtige politische Entscheidung im Westen und im Osten Deutschlands hatte fortan drei Grundbedingungen zu erfüllen: Sie musste schnell sein; sie musste Vertrauen schaffen; und sie musste Löhne in Aussicht stellen, die nicht allzu weit unter dem westdeutschen Niveau liegen. Nur so gab es überhaupt eine Chance, die mobilen Leistungsträger zu motivieren,

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in ihrer Heimat zu bleiben und nicht die schnelle, sichere und lukrative Alternative zu wählen, in den Westen abzuwandern. Der politische Entscheidungsspielraum war also dramatisch eingeschränkt. Nur so lassen sich die drei großen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen verstehen, die das Jahr 1990 mit sich brachte: die Wirtschafts- und Währungsunion, die Einrichtung der Treuhandanstalt und der Beginn einer massiven Wirtschaftsförderung. Die drei Weichenstellungen lieferten die tragenden Elemente zur wirtschaftlichen Stabilisierung Ostdeutschlands.13 Zur ersten Weichenstellung: Mitte 1990 wurde im Osten die DM eingeführt. Von nun an gab es ein überaus stabiles Geld. Dies war ein unerlässlicher Schritt der Vertrauensbildung, was inzwischen weithin anerkannt ist. Ein Fortbestand der Mark (Ost) hätte jedem weiteren Reformschritt die Glaubwürdigkeit entzogen. Denn es gab für diesen Fall nur eine unheilvolle Alternative: Entweder die Mark (Ost) würde in ihrer Konvertibilität eingeschränkt, also eine Art „neuer Mauer“ gegenüber ostdeutschen Konsumenten errichtet; oder der DM-Wert der Mark (Ost) würde ins Bodenlose stürzen, mit der Folge eines drastischen Sinkens der Löhne auf unhaltbar niedriges Niveau. Um dies zu verhindern, hätte die Bundesbank die Mark (Ost) am Devisenmarkt massiv stützen müssen. Dies war ohne Zentralisierung aller geldpolitischen Entscheidungen in der Bundesbank nicht denkbar. So blieb nur der Weg der Währungsunion. Kritisiert wird die Währungsunion bis heute dafür, dass sie – angeblich – durch den Umstellungskurs von Mark (Ost) zu D-Mark von eins zu eins zu einer drastischen Erhöhung der Lohnkosten im Osten führte – und damit zu einem ruckartigen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie.14 Tatsächlich betrug das Lohnniveau des Ostens nach der Umstellung etwa ein Drittel des Westens. Ohne Zweifel hätte ein Umrechungskurs von, sagen wir, zwei Mark (Ost) für eine D-Mark rein arithmetisch die Arbeit im Osten verbilligt, auf ein Sechstel des Westniveaus. Die Frage ist allerdings: für wie lange? In Magdeburg, Erfurt und Chemnitz ein Lohn von einem Sechstel des Niveaus von Hannover, Kassel und Nürnberg? Das ist, wenn Arbeitnehmer mobil sind, völlig unrealistisch. Selbst das Drittel des Westniveaus erwies sich ja schnell als unhaltbar. Nur mit staatlichen Lohnkontrollen und massiven Mobilitätsbarrieren wäre ein Anstieg der Löhne und ein Anschwellen der Abwanderung zu verhindern gewesen. Dies hätte bedeutet: eine neue Mauer, und das kam nicht in Frage. Insofern ist die Kritik an dem Umstellungskurs der Währungsunion selbst im Rückblick realitätsfern. 13  Ausführlich

dazu Karl-Heinz Paqué (FN 8). u. a. Helmut Schmidt, Auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bilanz und Ausblick, Reinbek bei Hamburg 2005. 14  So



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Zur zweiten Weichenstellung: Ähnliches gilt für die Politik der zügigen Privatisierung. Die Treuhandanstalt als Wirtschaftsholding des Ostens wurde nach der staatlichen Wiedervereinigung mit einem Mandat zum möglichst schnellen Verkauf der staatlichen Betriebe und Vermögen ausgestattet. Sie arbeitete dann auch in Rekordgeschwindigkeit. Bei ihrer Auflösung Ende 1994 war der Großteil der 14.000 Unternehmen bzw. Unternehmensteile privatisiert. Es war ein gigantischer Kraftakt, und nicht ohne Erfolg. Es gelang ihr, einen industriellen Kern zu schaffen, der zukunftsfähig war. Die Investitions- und Beschäftigungszusagen wurden im Wesentlichen eingehalten, zum Teil sogar übererfüllt. Die Geschäftsmodelle der Erwerber – ob auswärtige Firmen oder frühere Manager – erwiesen sich in der großen Mehrzahl der Fälle als tragfähig. Ein beträchtlicher Teil der ostdeutschen Industriebetriebe, die heute rentabel arbeiten, stammt aus ehemaligen Unternehmen der Treuhandanstalt. Hinzu kommt eine Leistung, die heute oft übersehen wird: Es gab keine massenhafte Dauersubventionierung von maroden Industriestätten. Genau vor dieser Horrorvision hatten viele Ökonomen gewarnt. Auf der Negativseite der Treuhandbilanz stand schließlich ein Defizit von über 200 Milliarden D-Mark zu Lasten des Steuerzahlers und der Abbau von mehr als 2,5 Millionen industriellen Arbeitsplätzen. Hinzu kamen kriminelle Machenschaften und eine schwere Diskreditierung in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung. Emotional war dies verständlich, denn es lag nahe, dem wirtschaftlichen Aufräumkommando die Schuld für verlorene Arbeitsplätze anzulasten, zumal die Praktiken der Treuhandanstalt vor Ort nicht immer den nötigen Respekt vor der Lebensleistung der Menschen im Sozialismus erkennen ließen. Volkswirtschaftlich sehen die Dinge allerdings anders aus. Die Treuhandanstalt übernahm einen industriellen Kapitalstock, der sich fast durchweg als marode, verschlissen und veraltet herausstellte. Viel schlimmer noch war die Tatsache, dass nur wenige Industrieunternehmen Markenprodukte vorweisen konnten, die bei radikaler Modernisierung des Kapitalbestandes auf dem nationalen und globalen Markt eine Absatzchance hatten, und zwar zu einem Preis, der die Deckung der Kosten und einen angemessenen Gewinn erlaubte. Dort, wo es solche Produkte gab, lief der Prozess recht reibungslos. So konnten zum Beispiel in der Ernährungswirtschaft Brauereien mit berühmten Marken aus der Vorkriegszeit („Radeberger Pils“, „Köstritzer Schwarzbier“) zügig verkauft werden, und die Biere tauchten sehr schnell und erfolgreich in modernisiertem Gewand auf dem gesamtdeutschen Markt wieder auf. In den Investitionsgüter- und Grundstoffindustrien – von Fahrzeug- und Maschinenbau über die Feinmechanik und Elektrotechnik bis hin zur Chemie – war dies sehr viel schwieriger. Hier zeigte sich der Flurschaden des Sozialismus in seiner ganzen Tragweite: In den vier Jahrzehnten der

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Abschottung vom Weltmarkt hatten längst westliche Konkurrenten alle Marktnischen der technischen Spezialisierung besetzt, und selbst die besten Ingenieure waren nur selten in der Lage, aus dem Bestand der Produkte in absehbarer Zeit Neues und Innovatives zu entwickeln. Tatsächlich liegt es im Rückblick nahe, das Ausmaß von Treuhanddefizit und Personalabbau als jenen Preis des Sozialismus zu interpretieren, den die Wirtschaft Ostdeutschlands entrichten musste, um in der laufenden Globalisierung überhaupt noch einmal am Weltmarkt Fuß zu fassen. Weil die ostdeutschen Arbeitnehmer stets die Alternative hatten, im Westen zu arbeiten, war es nicht möglich, jenen Teil der Industrie zu erhalten, dessen Produktpalette am Weltmarkt nur einen sehr kleinen Bruchteil der westdeutschen Wertschöpfung pro Arbeitsplatz erwirtschaftete. Dieser Teil der Industrie musste – anders als in Mittel- und Osteuropa – unter dem Druck der Verhältnisse verschwinden. Es gab einfach nicht die Option des evolutionären Wandels, mit Industrielöhnen wie in Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, die damals bei unter 20 Prozent des westdeutschen Niveaus lagen und selbst heute noch 30 Prozent nicht überschreiten. Stattdessen musste ein revolutionärer Umbruch stattfinden. Und die Treuhandanstalt wurde der Agent dieser Revolution. Die Aufgabe und ihre Lösung bescherten der Treuhandanstalt nicht nur die Feindschaft entlassener Industriearbeiter im Osten, sondern auch herbe Kritik von Ökonomen im Westen. Diese bemängelten vor allem, dass es in den frühen 1990er Jahren vor der Privatisierung zu massiven Lohnerhöhungen gekommen sei – auf Druck der westdeutsch dominierten Gewerkschaften und auf Kosten des Steuerzahlers. Tatsächlich hatte die Treuhandanstalt als Staatsholding am Subventionstropf keinerlei Anreiz, wirklich harte Tarifverhandlungen zu führen. Die Löhne kletterten deshalb schnell weit über 50 Prozent des Westniveaus, bis hin zum erklärten Ziel von Tariflöhnen von 100 Prozent West in wenigen Jahren. Im Rückblick hat dies fast surreale Züge. Die längerfristigen Aussichten der Betriebe wurden dadurch allerdings kaum berührt, denn die meisten Treuhandunternehmen verließen mit der Privatisierung ohnehin den Tarifverbund und zahlten Löhne nach Gesichtspunkten der betrieblichen Effizienz. Und jeder potentielle Erwerber konnte dies voraussehen. Was er schließlich an Löhnen bezahlen musste und von vornherein in Rechnung stellte, hatte viel zu tun mit der Motiva­ tion der Belegschaft und deren latenter Bereitschaft zur Mobilität, wenig mit der Macht eines Flächentarifvertrags. Zur dritten Weichenstellung: Parallel zur Treuhandaktivität lief die Wirtschaftsförderung an, und zwar massiv: Ausbau und Renovierung der Infrastruktur sowie Förderung von Neuansiedlungen und Erweiterungsinvestitionen der Industrie. All dies war der eigentliche Kern dessen, was unter dem Begriff „Aufbau Ost“ zusammengefasst wurde. Es ging im Wesentlichen



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darum, den Rückstand in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gegenüber dem Westen durch massive öffentliche und private Investitionen zu beseitigen oder die Wettbewerbsnachteile des Produktionsstandorts Ost durch die Wirtschaftsförderung zu kompensieren. Der Aufbau Ost funktionierte. Dies gilt für die öffentlichen Projekte wie für Förderung privater Investitionen. Die „physische“ Lücke in der Standortqualität zwischen Ost und West wurde zügig geschlossen Es gab zunächst einen Boom der Bauwirtschaft, der in beeindruckendem Tempo zur Erneuerung des Baubestands führte, dabei allerdings auch längerfristig zu hohen Leerständen, weshalb die Förderung zu Recht immer stärker auf das verarbeitende Gewerbe konzentriert wurde. Ökonomen übten wiederholt Kritik an Einzelheiten der Förderung. Vor allem die starke Fixierung auf Investitionen wurde bemängelt, weil sie zu einem überhöhten Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz verleitete. Ob sie tatsächlich zu Fehlentwicklungen führte, ist bis heute strittig; die empirische Evidenz bleibt unklar. Es gab gewichtige praktische Argumente für die Beschränkung auf die Investitionsförderung, denn nur sie erlaubte eine scharfe Trennung zwischen einmaliger Förderung und der anschließend folgenden Produktion, die unsubventioniert blieb. Dies half, den politischen Druck in Richtung Dauersubventionen (die Horrorvision!) in Grenzen zu halten. Der Bauboom hielt bis Mitte der 1990er Jahre. Ihm folgte ein recht kontinuierliches Wachstum der industriellen Wertschöpfung bis 2008. Seit etwa 2003 kam es zu einer zunächst verhaltenen und dann deutlichen Zunahme der industriellen Beschäftigung. Die Re-Industrialisierung der ostdeutschen Wirtschaft gewann an Fahrt und wurde erst durch die Finanz- und Konjunkturkrise 2008 / 2009 gestoppt. Die kräftige Erholung der deutschen Wirtschaft insgesamt lässt derzeit vermuten, dass der Stopp vorübergehend sein wird; denn die Trends von Produktion und Beschäftigung in der Industrie zeigen wieder nach oben. Aktuell erreicht jedenfalls die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. 4. Strukturelle Schwächen der ostdeutschen Wirtschaft Es bleibt die Frage, ob die Weichenstellungen und Entwicklungen seit 1990 erfolgreich waren. Die Ergebnisse sind heute in der Statistik ablesbar: Wurde 1992 gerade mal 3,5 Prozent der gesamtdeutschen Industrieproduktion im Osten erstellt, so betrug 2008 der Anteil fast 10 Prozent. Während die Bauwirtschaft von Mitte der 1990er Jahre an kontinuierlich schrumpfte, gewann das verarbeitende Gewerbe wieder einen prominenten Platz. Auch in der wirtschaftlichen Leistungskraft gab es deutliche Fortschritte. Ein ostdeutscher Industriebeschäftigter erwirtschaftet heute pro Jahr fast

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80 Prozent der Wertschöpfung seines westdeutschen Kollegen; 1991 waren es weniger als ein Viertel, um die Jahrtausendwende etwa Zweidrittel. Gesamtwirtschaftlich dagegen verlief der Zuwachs der Produktivität in jüngerer Zeit schleppend, nach anfänglich rasantem Tempo. Dies liegt vor allem an der Schrumpfung der Bauwirtschaft, der Stagnation der Dienstleistungsgewerbe und dem Rückgang staatlicher Aktivität. Dabei handelt es sich um notwendige Anpassungen: Nur durch einen Strukturwandel weg von der binnenmarktorientierten Produktion von Bauleistungen und Diensten hin zum exportfähigen verarbeitenden Gewerbe konnte der Osten beginnen, aus seiner Transferabhängigkeit herauswachsen. Der Motor des Wachstums musste die weltmarktorientierte Industrie werden. Die Entwicklung der letzten Jahre ist deshalb volkswirtschaftlich in die richtige Richtung gegangen. Die Folgen dieser Entwicklungen zeigen sich seit einigen Jahren auch sehr deutlich in dem, was man die gesamtwirtliche „Leistungsbilanz“ Ostdeutschlands nennen könnte, also die Differenz zwischen dem Wert der Produktion und des Verbrauchs. Diese „Leistungsbilanz“ wies in den 1990er Jahren riesige Defizite auf, und zwar jährlich in der Größenordung von 100 Milliarden Euro. Im Jahr 2006 betrug das Defizit noch 31 Mil­ liarden Euro, seither ist es wahrscheinlich unter 20 Milliarden Euro geschrumpft.15 Dieser nachhaltige Fortschritt erklärt sich in erster Linie aus der kräftigen Zunahme der industriellen Produktion, ebenso aus der Konsolidierung der öffentlichen (und privaten) Ausgaben in den ostdeutschen Ländern. Was an Defizit derzeit noch übrig bleibt, resultiert aus den WestOst-Transfers innerhalb des Renten- und Sozialsystems, die auf Rechtsansprüchen beruhen.16 Bei allen Fortschritten der Industrie verbleibt ein zählebiges innerdeutsches Produktivitätsgefälle. Im Jahr 2008 betrug die Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigen 78,3 Prozent des Westens; pro Arbeitsstunde waren es 71,0 Prozent, da die Arbeitszeit in der ostdeutschen Industrie rund 10 Prozent höher liegt als im Westen. Wie lässt sich dieser Rückstand erklären? Alle Indizien sprechen dafür, dass der Hauptgrund in der Art der Produkte liegt, die im Osten hergestellt werden. Diese haben offenbar Charakteristika, die im Durchschnitt eine niedrigere Wertschöpfung pro Arbeitseinsatz erzielen als ihre westlichen Gegenstücke. So bleibt die industrielle Forschung und Entwicklung (F&E) immer noch sehr stark auf den Westen Deutsch15  Gesicherte Daten der regionalisierten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen liegen erst mit einigen Jahren Verspätung vor. 16  Vom Osten als „Mezzogiorno“ – so Hans-Werner Sinn, ist Deutschland noch zu retten?, 4. Aufl., München 2003; Helmut Schmidt (FN 14) – d. h. einer dauerhaft transferabhängigen Region, die über ihre Verhältnisse lebt, kann also ernsthaft nicht mehr die Rede sein – es sei denn, man hält dem Osten vor, dass er „seine“ Rentner noch nicht voll finanzieren kann.



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lands konzentriert. Im Jahr 2006 lag der Anteil der Erwerbstätigen, die in F&E tätig sind, in Ostdeutschland mit 0,43 Prozent nur etwa bei der Hälfte des westdeutschen Niveaus von 0,88 Prozent. Diese Anteile haben sich seit Mitte der 1990er Jahre kaum verändert. Die Re-Industrialisierung des Ostens war also bisher nicht mit einer stärkeren Forschungsorientierung verbunden. Auch die Exportausrichtung ist in Ostdeutschland noch immer schwächer als im Westen, wenngleich sich der Abstand in den letzten Jahren deutlich verringert hat. Im Jahr 2008 lag die Exportquote im Westen bei fast 46 Prozent, im Osten bei etwa 33 Prozent, nach nur 12 Prozent Mitte der 1990er Jahre. Schließlich arbeitet die ostdeutsche Industrie im Durchschnitt in außerordentlich kleinen betrieblichen Einheiten. So waren 2005 fast die Hälfte aller Industriebeschäftigten in Unternehmen mit maximal 12 Mitarbeitern tätig. Es wundert nicht, dass es ein solcher Mittelstand nicht leicht hat, in der Forschung und im Export die nötige innovative Schlagkraft zu entwickeln. All dies führt zu einer einfachen Schlussfolgerung: Die ostdeutsche Industrie ist eben noch immer zum Großteil eine verlängerte Werkbank des Westens. Die Direktinvestitionen westlicher Firmen haben viel gebracht an Modernität und Effizienz, aber wenig an Brutstätten des Wissens und industrieller Innovationskraft. Obendrein ist die ostdeutsche Industrie nicht groß genug, um den Produktivitäts- und Einkommensabstand zum Westen auch in den Bereichen lokaler Dienstleistungen deutlich zu verringern. Kurzum: Sie hat Fortschritte gemacht, aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Ein Teilerfolg – nicht mehr, nicht weniger. Dabei bedeutet die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Industrie keineswegs einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings liegt dies vor allem an einem Lohnniveau, das seit über zehn Jahren bei 67 bis 68 Prozent des Westniveaus verharrt. Die ostdeutschen Industrielöhne sind fast exakt dem westdeutschen Trend gefolgt – und nicht dem sehr viel steileren Aufwärtstrend der Arbeitsproduktivität im Osten. Entsprechend sind die Lohnstückkosten, definiert als das Verhältnis von Arbeitskosten zu Arbeitsproduktivität, relativ zum Westen kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2008 lagen sie im verarbeitenden Gewerbe bei 86 Prozent des Westniveaus. Industriell ist der Osten – was die Lohnstückkosten betrifft – ein überaus wettbewerbsfähiger Standort geworden, trotz des fortdauernden Rückstands der Produktivität. Der Hauptgrund für diese Entwicklung liegt in der Erosion des Flächentarifvertrags: Wegen der hohen Arbeitslosigkeit gelang es im Osten weder den Arbeitgeberverbänden noch den Gewerkschaften, einen hohen Organisationsgrad zu erreichen. Tatsächlich ist der Anteil der Industrieunterneh-

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men, die tarifvertraglich gebunden sind, nach allen Maßstäben extrem niedrig und allemal weit niedriger als im Westen. Offenbar haben sich auf breiter Front betriebsnahe Lösungen durchgesetzt, die ein hohes Maß an Flexibilität gewährleisten und die Löhne auf einem wettbewerbsfähigen Niveau halten. Erst diese Entwicklung öffnete die Tür zur Re-Industrialisierung des Ostens. Bleibt die Frage, wie der Aufbau Ost insgesamt zu bewerten ist. Eine Re-Industrialisierung des Ostens ist im Wesentlichen gelungen. Damit ist das totale Ausbluten des Ostens durch Abwanderung nach der Wiedervereinigung verhindert worden. Gleichwohl verlassen per Saldo pro Jahr annähernd 50.000 Menschen die Region. Von einer vollständigen Stabilisierung kann daher nicht die Rede sein. Allerdings lässt das industrielle Wachstum der letzten Jahre hoffen, dass zumindest für die dichter besiedelten mitteldeutschen Industrieregionen im Dreieck Dresden-Erfurt-Magdeburg in der kommenden Dekade die Wanderungsbilanz zum Ausgleich kommen wird. Dies gilt umso mehr, als deutschlandweit durch die demographische Entwicklung Arbeitskräfte zunehmend knapp werden – ein Trend, der sich schon im Zuge der jüngsten Konjunkturkrise 2008 / 2009 zeigte, als die Arbeitslosigkeit wider Erwarten nur sehr mäßig anstieg und inzwischen deutschlandweit den niedrigsten Stand seit 1990 aufweist. Wie nun die historische Erfahrung Westdeutschlands in den 1960er Jahren gezeigt hat, kommt es in Zeiten der Knappheit an Arbeitskräften zu einem Aufholprozess in den strukturell benachteiligten Räumen, weil sich in den führenden Industriezentren kaum mehr qualifizierte Arbeitskräfte finden lassen. Oder anders formuliert: Das Kapital wandert von den Zentren zur „Peripherie“, und zwar stärker als die Arbeitskräfte in die umgekehrte Richtung.17 Indes wird die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft, ihr Charakter als „verlängerte Werkbank“, voraussichtlich lange bestehen bleiben, und damit auch ein systematischer Rückstand in der Produktivität und den Einkommen gegenüber dem Westen. Mit gutem Recht kann diese Schwäche als „Flurschaden des Sozialismus“ bezeichnet werden. Der Gedankengang ist dabei einfach: Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es einen solchen Rückstand innerhalb des Deutschen Reiches nicht. Im Gegenteil, Ostdeutschland lag sogar leicht vor Westdeutschland, Berlin und die mitteldeutschen Industrieregionen in der Spitzengruppe aller Regionen. Mit der planwirtschaftlichen Isolation nach dem Zweiten Weltkrieg – und a fortiori nach dem Mauerbau – begab sich die DDR auf den Weg, diese 17  Dazu Karl-Heinz Paqué, Die Arbeitskraft mobilisieren, in: Handelsblatt v. 12. / 13.  November 2010.



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gute Position Schritt für Schritt zu zerstören. Allerdings geschah dies in verdeckter Form, da die ostdeutsche Produktpalette bis zum Mauerfall niemals dem harten Test des Weltmarktes ausgesetzt war. Als dieser Test dann kam, erwies sie sich als praktisch unverkäuflich. Niemand wollte die Produkte zu den Preisen erwerben, die gefordert werden mussten, um jene Lohnkosten zu finanzieren, die nötig waren, um die Abwanderung der Menschen zu verhindern. Anders als in Mittel- und Osteuropa verhinderte die innerdeutsche Mobilität, dass sich die Löhne auf einem Niveau einpendeln konnten, das den Zusammenbruch der Industrie weitgehend abfederte. Es liegt nahe, in der historischen Rücksicht von einer Art Tragik der Freiheit zu sprechen: Was noch physisch an Industrie vorhanden war, riss die Freiheit ökonomisch in den Abgrund. Die Tragik setzte sich insofern fort, als den politisch Verantwortlichen dann im Wesentlichen gar nichts anderes übrig blieb, als den Weg der radikalen, schnellstmöglichen Erneuerung zu gehen. Dieser mündete – weitgehend zwingend – in einer Re-Industrialisierung mit strukturellen Schwächen. Denn es war nicht zu erwarten, dass der Aufbau Ost und die Investitionsförderung zu einer frühen Verlagerung der Wissensproduk­ tion von West nach Ost führen würde. Zunächst wurde einfach, wie stets bei Direktinvestitionen, das Wissen in Form moderner Maschinen installiert, aber die Forschung blieb zurück bzw. im Westen. Eine realistische Alternative dazu war kaum zu erkennen, denn es musste ja schnell gehen. Die Zeit für einen langsamen evolutorischen Prozess war nicht gegeben. Insofern ist es historisch angemessen, auch den heutigen Ost / West-Produktivitätsrückstand kausal jenen Ideologien und Entscheidungen zuzuschreiben, die in der DDR-Zeit die schleichende verdeckte Entwertung bewirkten. Und das sind, in Schlagworten zusammengefasst, die Planwirtschaft im Inneren und die Abschottung nach außen. Der anschließende industrielle Zusammenbrauch ab 1990, die parallelen Weichenstellungen für den Wiederaufbau Ost und dessen Ergebnisse sind nichts anderes als die logische Konsequenz eines der größten Fehlschläge, die jemals irgendein historisches Experiment hatte. Eine grobe Überschlagsrechung macht deutlich, um welch gigantische Größenordnung von Flurschäden es geht. Im Jahr 2008 lag die Wertschöpfung je Erwerbstätigen nach den neuesten Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechung bei rund 79 Prozent des westdeutschen Niveaus. Hätte sie bei 100 Prozent gelegen, wie vor der deutschen Teilung stand, so wäre das gesamtdeutsche Bruttoinlandsprodukt unter sonst gleichen Bedingungen im Jahr 2008 um über 100 Mrd. Euro höher gewesen als tatsächlich. Allein diese grobe Rechnung zeigt, dass der langfristige Flurschaden der Planwirtschaft, der Jahr für Jahr zu Buche schlägt, eine riesige Dimension erreicht,

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ungefähr vier Prozent des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts. Berücksichtigt man zusätzlich die gesamten Kosten der Deutschen Einheit, die seit 1990 angefallen sind, wird das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich. Denn auf rund 1,6 Billionen Euro belaufen sich die bisherigen Aufwendungen für den Aufbau Ost im weitesten Sinn, einschließlich der durch die Einheit verursachten zusätzlichen Sozialausgaben und Rentenzahlungen, die allein über die Hälfte des Gesamtbetrags ausmachen.18 All diese Kosten wurden aufgebracht bzw. hingenommen, weil die überragende nationale Aufgabe lautete, Ostdeutschland nach dem Ende der Planwirtschaft vor einer massiven Abwanderung zu bewahren und in eine einigermaßen vielversprechende Zukunft zu führen. Vor allem ein Seitenblick auf die mitteleuropäischen Nachbarländer zeigt, dass diese Politik erfolgreich war. Der Vergleich mit Tschechien ist besonders interessant, weil es das Land ist, das als hochentwickelte Industrieregion sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in den 40 Jahren der sozialistischen Abschottung die größte strukturelle Ähnlichkeit mit Ostdeutschland aufweist. Wo steht die tschechische Industrie heute? Die Antwort lautet für 2007: bei etwa 31 Prozent der Arbeitsproduktivität von West- und 41 Prozent von Ostdeutschland, und damit viel niedriger als in der Zwischenkriegszeit. Tschechien hatte keinen „Aufbau Ost“ im Sinne eines massiven staatlichen Programms und privater Direktinvestitionen durch einen benachbarten kapitalistischen Westen innerhalb derselben Nation. Insofern ist der Rückstand nicht verwunderlich. Immerhin zeigt der Vergleich, dass der Aufbau Ost seine Wirkung tat. Eine grobe Kalkulation dieser Wirkung nach ähnlichem Schema wie die Kalkulation des innerdeutschen Flurschadens ergibt bemerkenswerte Ergebnisse: Rechnet man den gesamtwirtschaftlichen Unterschied in der Arbeitsproduktivität zwischen Tschechien und Ostdeutschland der Wirkung des Aufbau Ost zu,19 so ergibt sich ein „Ertrag“ von jährlich 120 bis 150 Mrd. Euro. Und selbst wenn man deutlich konservativere Annah18  Siehe u.  a. Karl-Heinz Paqué (FN 8), Abschnitt 5.1. In einem umfassenden Sinn muss man auch diese Ausgaben den Folgekosten des Sozialismus zurechnen, denn sie ergeben sich ja vor allem aus zwei Gründen: (1) Arbeitskräfte wurden ab 1990 in Massen aus maroden Industriebetrieben entlassen und dadurch anschließend arbeitslose Unterstützungsempfänger; (2) Rentnern, die zur DDR-Zeit gearbeitet hatten, wurde durch das Rentenüberleitungsgesetz von 1991 die Arbeitsleistung in der DDR-Zeit im Wesentlichen so anerkannt, als hätten sie im Westen gearbeitet. In beiderlei Hinsicht schuf die sozialistische Planwirtschaft die Gründe für die schließlich anfallenden Sozialkosten: im Fall der Arbeitslosen durch die Wettbewerbsunfähigkeit der Industriebetriebe beim Übergang zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen, im Fall der Rentner durch deren (allein von der Politik zu verantwortende) geringe Produktivität in ihrer Zeit als Arbeitskräfte in der Planwirtschaft. 19  Dies ist eine grobe, aber keineswegs völlig unrealistische Annahme. Denn noch in den späten 1920er Jahren lag das Pro-Kopf-Einkommen in der Tschechoslo-



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men über einen „natürlichen“ Unterschied von 10 bis 20 Prozent im Produktivitätsniveau unterstellt, bleibt stets eine Größenordnung von um 100 Mrd. Euro. Ostdeutschland hat also durch den Aufbau Ost einen guten Mittelfeldplatz in der europäischen Rangliste der Produktivität erobert. Es liegt ein Stück weg vom Westen, aber ein großes Stück vor den postsozialistischen Nachbarländern aus Mitteleuropa.20 Hierin vor allem liegt der wirtschaftliche Wert des Aufbau Ost. Richtig interpretiert zeigen diese Zahlenspiele allerdings vor allem eines: Die postsozialistische Aufgabe des Aufholens gegenüber dem Westen ist offenbar überall schwierig. Anscheinend wirkt der Flurschaden des Sozialismus lange und tief. Und wahrscheinlich sind dafür auch ähnliche Ursachen verantwortlich. Tatsächlich zeigen Vergleiche der Forschungsintensität der Produktion, dass in dieser Hinsicht die post-sozialistischen EU-Länder Tschechien und sie Slowakei sowie Polen und Ungarn genau so wie Ostdeutschland einen deutlichen Rückstand gegenüber Westeuropa aufweisen. Auch in diesen Ländern sorgten offenbar die Direktinvestitionen des Auslands dafür, dass eher „verlängerte Werkbänke“ als Brutstätten der industriellen Forschung und Innovation entstanden.21 5. Ausblick Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um Ostdeutschland weiter voranzubringen? Sie muss versuchen, die Industrie im Osten zu stärken, und zwar in der Größe und der Produktivität. Dies muss die Priorität der Politik werden. Dabei bedarf es einer Umschichtung von Mitteln: weg von Projekten der Infrastruktur und Arbeitsbeschaffung, hin zu Maßnahmen, die der ostdeutschen Industrie zu mehr Innovationskraft verhelfen. Es geht dabei vor allem um das Entstehen neuer Zentren der privaten Forschung im Zusammenspiel mit öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen, die sich zu industriellen Ballungszentren verdichten können. Erste Ansätze dazu gibt es, zum Beispiel in der Mikroelektronik im Raum Dresden und in der Photovoltaik im Raum Bitterfeld-Wolfen. Bei dieser Umorientierung sind alle politischen Ebenen des bundesdeutschen Föderalismus gefordert. Die Bundespolitik muss darauf hinwirken, dass wissenschaftspolitische Exzellenzprogramme keine negativen regionalwakei etwa auf dem Niveau von Österreich. Dazu im Einzelnen Karl-Heinz Paqué (FN 8), S. 204. 20  Dazu im Einzelnen ebd., Abschnitt 5.1 21  Dazu im Einzelnen ders., Wo stehen Ostdeutschland und Mitteleuropa heute? Bemerkungen zu Messung und Vergleich der Produktivität, Bonn 2010 (GfD-Beiträge zur Deutschlandforschung); mit entsprechenden statistischen Belegen.

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politischen Nebeneffekte haben. Der Osten – und im Übrigen auch der Norden – dürfe nicht wegen der weit schwierigeren Startposition von der Entwicklung neuer Schwerpunkte öffentlicher und privater Forschungszusammenarbeit abgehängt werden. Daneben muss das hohe Maß an Flexibilität und Betriebsnähe, das die ostdeutsche Industrie auszeichnet, als besonderer Standortvorteil erhalten bleiben. Jede Form der Regulierung des Arbeitsmarkts (z. B. durch flächendeckende Mindestlöhne) ist dabei schädlich. Die Landes- und Kommunalpolitik muss weiter standortpolitische Schwerpunkte setzen, die vielversprechende Ballungsvorteile von Industrien gewährleisten, ohne die Chancen für neue Entwicklungen zu verschließen. Und sie muss die Förderung darauf richten, die private Forschung und Entwicklung in der Region zu stärken. Die kommunalen Entscheidungsträger brauchen Freiräume, um bei der Anwerbung von Investoren mit westdeutschen und ausländischen Städten und Gemeinden konkurrieren zu können. Es geht um eine Mischung von anspruchsvoller Innovationsförderung, einfacher Anwerbung von Investoren und pragmatischer Stärkung des industriellen Mittelstands. Es ist eine moderne Industriepolitik – nicht branchenspezifisch, aber branchenbewusst und zukunftsorientiert. Auch von dieser Mischung darf man sich keine Wunder versprechen. Es ist eben eine sehr langwierige Aufgabe, die Flurschäden des Sozialismus zu beseitigen. Nur wenn dies irgendwann gelingt, wird die Wanderung von Ost nach West zum Stillstand kommen.

Finis terrae? – Die Mauer in der deutschen Geschichte Von Sebastian Liebold 1. Befestigte Grenzen Mit dem Aufkommen Deutschlands Anfang des 10. Jahrhunderts – gewöhnlich gilt die Regentschaft König Konrads I. als Beginn der politischen Verfasstheit – ist die Sicherung wichtiger Orte durch Mauern verbunden. Befestigte Grenzen von Klöstern, Pfalzen und Städten stellen indes keine Neuerung dieser Zeit demographischen und zivilisatorischen Aufschwungs dar. Germanische Siedlungen waren ebenso umfriedet wie römische Kastelle. Als benachbarte Stämme (wie die Lutizen) oder weit entfernt lebende Völker (wie die Ungarn) fast so regelmäßig einfielen wie die Jahreszeiten sich abwechseln, dienten umzäunte Areale dem Gedeihen eines Raumes der Rechtssicherheit. Hier entstanden lebhafte Handelsplätze, hier hielten die deutschen Herzöge Reichstag und wählten den Fähigsten unter ihnen zum Heerführer-König, hier gaben Gelehrte ihr mühsam erworbenes Wissen weiter – nur intra muros bestand Freiheit zu allen gemeinschaftlichen Aktivitäten der Feudalgesellschaft. Außerhalb herrschte Unsicherheit, nicht selten Fehde oder Krieg. In Mitteleuropa lebten die Menschen von punktuell etablierter Ordnung. Prinzipien wie Patronage oder Bann galten für eine bestimmte Person und für einen Ort. Es war die wichtigste Aufgabe eines neuen Königs, sich im Lande der Loyalität zu versichern und im Gegenzug Privilegien zu verlängern. Die königliche Herrschaft selbst reichte oft nicht weit über die Grenzen der Pfalzen hinaus, die der Regent am häufigsten aufsuchte – Königsiti­ nerare geben davon Zeugnis.1 In ottonischer und salischer Zeit reichte die Herrschaft auch kaum über die Lebenszeit hinaus; erst nach und nach entstand die Idee dynastischer Abstraktion. So fehlte etwas für ein Staatsgebil1  Grundlegend dazu Dirk Alvermann, Königsherrschaft und Reichsintegration. Eine Untersuchung zur politischen Struktur von regna und imperium zur Zeit Kaiser Ottos II. (967) 973–983, Berlin 1998; für das Spätmittelalter vgl. Ellen Widder, Itinerar und Politik. Studien zur Reiseherrschaft Karls IV. südlich der Alpen, Köln 1993. Refugien königlicher Macht waren reichsfreie Gebiete (wie das Pleißenland) und reichsfreie Städte (wie Nürnberg).

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de in heutiger Zeit Unabdingbares – ein einheitlicher Herrschaftsraum mit einer Vorstellung von Fläche und fixen Grenzen. Die Völkerwanderung hatte nicht nur die Siedlungsgröße der Städte schrumpfen lassen (Trier besaß um 400 etwa 50.000 Einwohner, nach der Zerstörung durch die Normannen zu Ostern 882 jahrhundertelang nur mehr 2.5002), mit ihr war das römische Bewusstsein um die steuerliche Tiefe des Landes verschwunden. In der Spätantike war das wichtigste geographische Kriterium zwischen Rhein und Elbe gewesen: Wer lebte diesseits, wer jenseits des Limes? Wer trank Wein, wer Met? Diese Landgrenze zeigte das Ende des Herrschaftsraumes an, sie sollte ihn sichern – eine bis in die Neuzeit nicht wieder erreichte Situation. Mit der erneuerten Zivilisation verlagerte sich im heutigen Siedlungsgebiet der Deutschen (in Trier verfielen die Thermen) das Bild vom Osten als barbarischer Wildnis weiter ostwärts, hinter die Grenzen der Marken. Am Ostende des deutschen Herrschaftsbereiches existierten im 10. Jahrhundert entlang von Havel, Spree und Warthe siedlungsfreie Räume auf sumpfigem Grund. Die Konkurrenz des polnischen Königs Boleslaw I. Chrobry war zunächst nicht erfolgreich (die Ehe mit einer Tochter des Markgrafen von Meißen hielt nicht lange), der „Akt von Gnesen“ im Jahr 1000 erscheint als unsichere Übereinkunft. Statt einer Landgrenze gab es Zentren und schwach besiedelte Peripherien, die zugleich als fines terrae Gebiete abgeschwächter Machtausübung darstellten. 2. Das Privileg der Mauer Die Ottonen, Deutschlands Herrscher von 919 bis 1024, mussten zunächst die Ostgrenzen sichern. Sie siedelten sich zu diesem Zweck nicht nur selbst direkt an der Grenze an (Magdeburg avancierte zum Zentrum), sondern besaßen zwischen Merseburg und Quedlinburg auch ihren engsten Vasallenkreis, der zum kaiserlichen Aktionsradius wurde: Heinrich I. zog gegen die Ungarn zu Felde, Otto I. besiegte diese 955 auf dem Lechfeld und den slawischen Stamm der Abodriten noch im selben Jahr an der Recknitz.3 Mit der planmäßigen und steuerlich begünstigten Besiedlung entstanden systematisch angelegte Städte, von hölzernen und später steinernen Mauern umgeben, auf einem Gebiet, das in seiner Ausdehnung der DDR frappierend ähnlich ist. Städte waren ein kleiner Schutzraum, während von öffentlicher Sicherheit in der Fläche nicht die Rede sein konnte. 2  Gabriele und Lukas Clemens, Geschichte der Stadt Trier, München 2007, S. 54 und 61. 3  Bis zum Slawenaufstand 983 hatte Otto damit die Ostgrenze des Reiches vor Übergriffen geschützt. Die heidnischen Elbslawen galten als unzuverlässig, während die christlichen Polen mehrfach Vertragspartner waren.



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Einen eindrücklichen Bericht über Mitteldeutschland um 1000 gibt Bischof Thietmar von Merseburg (975–1018) in seiner Chronik, deren plastische Schilderungen das schlechte Latein aufwiegen. Der glanzvolle Reichstag Ottos des Großen zu Ostern 973 kann als ein wahrlich europäisches Treffen angesehen werden – die Gästeliste weist auf den Höhepunkt kaiserlicher Macht hin: „Dehinc ivit ad Quidilingeburg proximum pascha divinis laudibus humanisque peragens gaudiis. Huc confluebant imperatoris edictu Miseco atque Bolizlavo duces et legati Grecorum, Beneventorum, Ungariorum, Bulgariorum, Danorum et Sclavorum cum omnibus regni totius primariis.“4 Neben Quedlinburg fielen wichtige Entscheidungen auf den Pfalzen Tilleda und Memleben, die auf fruchtbarem Land liegen und dennoch das königliche Gefolge in ihren Mauern kaum ausreichend speisen konnten.5 Städte, Burgen und Klöster als Speicherorte waren immer wieder Ziel von Aufständen, denn Hunger grassierte.6 Um die Burgen des Elbe-Saale-Gebietes entbrannten immer wieder heftige Kämpfe. Bischof Thietmar maß der Befestigung und dem Wachdienst daher großes Gewicht zu: „Horum consultu rex asspirans, […] presidii continuatione ab hostibus Misni muniens eamque ad tempus providendum Fritherico committens.“7 Dies hinderte König Mieszko I. nicht daran, die Burg Meißen am 13. September 1015 mit sieben Heerhaufen zu belagern. Die Mannschaft von Markgraf Herrmann, der das Lehen von Friedrich von Eilenburg übernommen hatte, löschte die brennende Unterburg mangels Wasser mit Met („ignem medone extingunt“). Auf kaiserlichen Befehl zogen alle verfügbaren Helfer nach Meißen, selbst Thietmar: „Imperator autem haec ut audivit, quoscumque tunc colligere potuit, ad succurrendum suo marchioni propere mittet et suburbium non longe post redintegrare precepit.“ Der Wiederaufbau war behelfsmäßig, denn er dauerte genau 14 Tage („in XIIII diebus incepta“).8 Von den Burgen aus betrieben die Markgrafen Landesausbau. Sie konnten auf königliche Privilegien für die Siedler zählen – aus Franken, Sachsen 4  Thietmari Merseburgensis Episcopi Chronicon, übertragen von Werner Trillmich, mit einem Nachwort von Steffen Patzold, 8. Aufl., Darmstadt 2002, S. 68. 5  Vgl. Helge Wittmann (Hrsg.), Memleben. Königspfalz – Reichskloster – Propstei, 2. Aufl., Petersberg 2009; Ernst Schubert / Klaus G. Beyer, Stätten sächsischer Kaiser. Quedlinburg, Memleben, Magdeburg, Hildesheim, Merseburg, Goslar, Königslutter und Meißen, Leipzig 1990. 6  Vgl. Heinrich Eduard Jacob, 6000 Jahre Brot, Frankfurt a. M. 1956. 7  Thietmari Merseburgensis Episcopi Chronicon (FN 4), S. 302; zu Befestigung vgl. Olaf Wagener (Hrsg.), „… wurfen hin in Steine, grôze und niht kleine …“ Belagerungen und Belagerungsanlagen im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2006. 8  Alle drei Zitate aus: Thietmari Merseburgensis Episcopi Chronicon (FN 4), S. 376 und 378.

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(dem heutigen Niedersachsen) und Thüringen kamen Bauern ins Land, deren ungesicherte Dorfgemeinschaften nur in den Fluchtburgen Schutz fanden. Das Lehensprinzip sicherte die Durchsetzung geltenden Rechts dort, wo der Grundherr mächtig war, auf Königsland wie auf den Flächen des unbedeutendsten Adligen. So bestand ein föderales Rechtssystem, wie es stärker nicht sein kann: Jeder regelte in seinen Besitzgrenzen das Nötige und gab alles andere in die Hände des übergeordneten weltlichen oder geistlichen Herrn. Grenzen von geliehenem Land legten manche Urkunden sehr genau fest, etwa das Bestätigungsschreiben von Markgraf Otto von Meißen gegenüber dem Kloster Altzella („certis terminis designare“9) oder Otto von Eilenburgs für Kloster Dobrilugk (heute Doberlug): „Incipiunt itaque termini a lapide propre villam Schoneborne sito iuxta viam, que ducit versus Drewitz, et protenduntur per descensum eiusdem vie, quousque veniatur ad arborem colle signatam et in sinistra parte locatam.“10 Auffällig spricht der Schreiber von „Zeichen“ in der Landschaft – markante Steine und Bäume symbolisieren eine für die Abgaben der Bauern, Kirchspiele und Gerichtsbezirke unentbehrliche feste Grenzziehung. Einkünfte aus noch zu errichtenden Ortschaften, Mühlen („molendinis construendis“) und künftig zu rodendem Wald waren bereits mit vergeben. Im Innern der Klöster bestanden – gemauerte – Grenzen, vor allem zwischen Laienkloster und der Klausur. Besonders eindrücklich sind Klostergrenzen auf dem idealen Klosterplan von Sankt Gallen markiert: Dort hat jeder Wirtschaftszweig ein eigenes Gebäude, selbst der Garten ist in Sektionen geteilt.11 Langsam entwickelte sich in den Städten des Mittelalters die steinerne Bauweise. Mauern gehörten mit Kirche und – meist etwas später – Rathaus zu den ersten Steinbauten. Häufige Stadtbrände ließen von den eng aneinander gereihten hölzernen Bürgerhäusern nur Asche übrig, während Kirche und Mauern die Unbilden (neben Feuer auch Kriegszüge) eher überstehen konnten. Türmer achteten auf Feuer- und Feindgefahr, die Bürger organisierten den Wachdienst auf der Stadtmauer unter sich. Die Berufe in der Stadt schufen ein Überlegenheitsgefühl zum Umland, hier konnte „man“ etwas werden („Stadtluft macht frei“). Insofern waren die Städte einerseits Zentren, andererseits war die äußere Grenze der Gemeinschaft stets im Blickfeld der Bewohner. Das Marktrecht hütete jede Bürgerschaft wie ihren 9  Herbert Helbig  /  Lorenz Weinrich (Hrsg.), Urkunden und erzählende Quellen zur deutschen Ostsiedlung im Mittelalter, Darmstadt 1968, S. 202. 10  Ebd., S. 237. 11  Vgl. Konrad Hecht, Der St. Galler Klosterplan, Wiesbaden 1997; ferner Werner Jacobsen, Der Klosterplan von St. Gallen und die karolingische Architektur. Entwicklung und Wandel von Form und Bedeutung im fränkischen Kirchenbau zwischen 751 und 840, Berlin 1992.



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Augapfel. Umgekehrt entstanden aus Handelsplätzen an Gebietsgrenzen oft rasch wachsende Ortschaften, die ihrerseits – nicht selten umkämpfte – Zentren wurden (so etwa Havelberg, Brandenburg, Meißen oder Merseburg). Offene Grenzsiedlungen galten paradoxerweise als Orte der Begegnung, des Übergangs, der Neuigkeiten und Entdeckungen, während die Machtzentren recht abgeschottet innerhalb oder am Rande der Stadt lagen (ohne dass in Deutschland irgendwo eine „Verbotene Stadt“ existiert hätte).12 Das Recht zur Stadtbefestigung erteilte ein landesherrliches Privileg (in Thüringen und im heutigen Baden-Württemberg waren auch manche Dörfer mit einfachen Mauern umgeben). Die Mauer um eine Stadt diente dem Frieden im Innern, Pech und Schwefel dem Kampf gegen Angreifer. Technisierung erfuhren Stadtmauern insbesondere an den – zunehmend eisenbewährten und mit abgewinkeltem Wegeverlauf versehenen – Toren und wandelten sich von einfachen Steinmauern zu ausgeklügelten Festungssystemen der frühen Neuzeit. Mit den Feuerwaffen wurden die Mauern dicker. Kanonen, vom 14. Jahrhundert an gebaut und bei Metz erstmals wirkungsvoll eingesetzt, erforderten Bastionen von riesigen Ausmaßen, wie ein Katalog der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel illustriert. Zu einer eigenen Spezies stiegen Zitadellen (wie Spandau) und Garnisonsstädte (wie Neu-Breisach) auf.13 Die Organisation der Sicherheit oblag dem Stadtvogt, der seine Verliese – in der Eigenschaft als Gerichtsherr – in den Stadttürmen unterbrachte. Neben den äußeren Grenzen bestanden empfindliche innere Grenzen, die Viertel der verschiedenen Gewerbe waren durch soziale Unterschiede markiert. So wohnten die Tuchmacher für sich, die Gerber notgedrungen ­abgeschieden am Wasser14, Bäcker und Schmiede in eigenen Gassen, nicht zuletzt die Kaufmannsfamilien, die – oft als Ratsherrn wichtig – am Marktplatz siedelten. Juden erhielten insbesondere in Reichsstädten und an Bischofssitzen einen besonderen Schutz (Pogrome begleiten die Juden gleichwohl durch die mittelalterliche Stadt).15 Über Juden an der Ostgrenze bestehen unterschiedliche Berichte. Thietmar berichtet von Juden, die am 13. August 1012 den am Vortag verstorbenen Erzbischof Walthard von Magdeburg betrauerten: „Clerus omnis flens adfuit, et Judeorum magna et, quorum erat pater, orphanum multitudo conveniens dolorem lamentando 12  Michael Schack, Grenzen und Grenzregionen. Soziale Differenzierung im Raum, Aachen 2007, S. 94. 13  Ulrich Schütte (Bearb.), Architekt & Ingenieur. Baumeister in Krieg & Frieden, Wolfenbüttel 1984, S. 317–348, hier S. 326. 14  Mark Girouard, Die Stadt, Frankfurt a. M. 1992, S. 72. 15  Mittelalterliche Judenviertel, wie es sie in Köln oder Erfurt gab, waren nicht von einer Mauer umfriedet.

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manifestat.“16 Sie waren folglich unter den Stadtbewohnern akzeptiert, ihre Erwähnung in einem Atemzug mit Waisen weist allerdings auf einen schwachen Status hin. Am Rande der Städte errichteten Mönchsorden, später auch Bürgerstiftungen, Spitäler. Magdeburg ist mit Recht als Ausgangspunkt für die Stadtentwicklung im deutschen Osten anzusehen. Planmäßige Stadtanlagen, in Mitteldeutschland nur bei späten Gründungen wie etwa Chemnitz oder Freiberg anzutreffen, wurden nach Lübecker bzw. Magdeburger Recht während der Ostkolonisation bis ins Baltikum geschaffen.17 In masurischen Städten haben sich die trutzigen Befestigungen teils bis heute erhalten, daneben in einem Land, das in früheren Tagen stehen geblieben zu sein scheint – in Siebenbürgen.18 Die entfernt liegenden Orte zeigen nicht nur die Ausbreitung des Stadtrechts an, sie weisen auch auf eine Ausdehnung des Landrechts hin. Dennoch war die Mauer als Landgrenze, wie einst der römische Limes, verschwunden. Erdachte Linien militärischer Verteidigung, die sich an besonders befestigten Orten ablesen lassen, prägen „strategische Landstriche“ dagegen bis in die Neuzeit (Freudenstadt, Küstrin, Memel, Torgau, aber auch Alpenübergänge oder der Rhein von Kleve über Koblenz bis Rastatt). Wüste Zustände hinterließ der Dreißigjährige Krieg in Deutschland. Als die Glocken in Münster und Osnabrück 1648 Frieden verkündeten, lagen viele Städte zerstört da, es gab so viele Tote, dass ein Wachstum kaum zu erwarten war. Merkwürdigerweise änderten sich die Befestigungsbauten in der Folge kaum. Die Herrscher des Barock waren im Sicherheitsdenken (wie auch sonst) leichtfüßig und bauten ihre neumodischen Schlösser ganz ohne Festungsmauern: In Sachsen kommt nicht an Pillnitz und Moritzburg vorbei, wer auf den Spuren Augusts des Starken wandeln will. Mancher Fürst bediente sich eines Tricks – er baute neue Lustschlösser im Innern der Festungsstadt (so der Dresdner Zwinger oder die Würzburger Residenz). Schärfere Bauord16  Thietmari Merseburgensis Episcopi Chronicon (FN  4), S. 320 – Walthard, Nachfolger des einflussreichen Erzbischofs Tagino, war kaum zwei Monate im Amt; vgl. für das Spätmittelalter Jürgen Bürstenbinder: Judenschutz und Eigennutz. Auseinandersetzungen um die Juden an der Ostgrenze des Römisch-Deutschen Reiches im 13. und 14. Jahrhundert, Saarbrücken 2010. 17  Friedrich Lotter, The Cruisading Idea and the Conquest of the Region East of the Elbe, in: Robert Bartlett (Hrsg.), Medieval Frontier Societies, Oxford 1989, S. 267–306; Heiner Lück (Hrsg.), Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Köln 2009. 18  Hermann und Alida Fabini, Kirchenburgen in Siebenbürgen. Abbild und Selbstdarstellung siebenbürgisch-sächsischer Dorfgemeinschaften, Leipzig 1985; vgl. ferner Konrad Gündisch, Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen (unter Mitarbeit von Mathias Beer), München 1998; zum Stadtrecht Dirk Moldt, Deutsche Stadtrechte im mittelalterlichen Siebenbürgen. Korporationsrechte – Sachsenspiegelrecht – Bergrecht, Köln 2009.



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nungen legten zwischen den Bürgerhäusern die Anlage von Brandmauern fest; so nahm die Zahl verheerender Stadtbrände deutlich ab. 3. Der ambivalente Freiheitsbegriff Funktionen von Mauern als feste Grenzen änderten sich bis ins 19. Jahrhundert kaum – Friedrich II. von Preußen belagerte sächsische Städte, Napoleon baute Festungen aus, und noch auf Carl Spitzwegs pittoresken Miniaturen des Stadtlebens wird abends das Stadttor geschlossen (obgleich die „Gähnende Schildwache auf der Bastei“ oder die „Päpstliche Zollwache“ die Nutzlosigkeit der Mauern andeuten). Nachdem städtische Umfassungen bis ins frühe 19. Jahrhundert nichts von ihrer alten Funktion eingebüßt hatten, war die Niederlegung der Stadtwälle – meist zwischen 1830 und 1860 – eine vergleichsweise plötzliche Wendung. Bevölkerungswachstum, industrieller Aufschwung und bessere Verkehrswege, die den Handel zum Florieren brachten, sind Ursachen. Die Stadtmauern wurden zunächst ohne historisches Bewusstsein abgerissen. Am sinnfälligsten sind Veränderungen im Stadtgrundriss dort, wo neue Funktionen „quer“ über die alten Anlagen verlaufen, so in Köln der Hauptbahnhof auf altem Ufergelände direkt neben dem Dom. Meist entstanden auf den Wallanlagen kurzzeitig Gärten, ehe öffentliche Bauten den Raum einnahmen – am berühmtesten sind die „Ringbauten“ in Wien, aber auch mitteldeutsche Städte wie Chemnitz erhielten in dieser Zeit Platz für ein Stadttheater und die Post – darunter lag noch der Schutt der Stadtmauern. Die historizistische Bewegung (sie bewirkte die Vollendung des Kölner Domes) insbesondere in der Zeit der Reichseinigung versuchte, die Zeugnisse des – häufig verklärten – Mittelalters mit mehr Respekt zu behandeln. Unverkennbar ist dennoch: Mauern blieben nur in armen Städten bzw. Landstrichen erhalten (etwa in Rothenburg ob der Tauber, Dinkelsbühl, Mühlhausen oder Zerbst). Zudem verschmolz der zunächst auf die Gotik rekurrierende Geschmack zu einem variablen Eklektizismus. Zu den Mauern des 19. Jahrhunderts wurden die Zollschranken. Der Zollverein vom 1. Januar 1834 brachte dem aufstrebenden Bürgertum wirtschaftliche Freiheit, die politische musste erst noch erkämpft werden. Was sich im Jahrhundert der nationalen Einigung am schnellsten änderte, war die Erinnerungskultur – die Grenze avancierte zur Konstruktion, vor allem als Scheidelinie zu anderen Nationen.19 Bilder des Mittelalters sind bis 19  Etienne François u. a., Grenzen und Grenzräume. Erfahrungen und Konstruktionen, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–32.

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heute von der verklärenden Romantik des 19. Jahrhunderts geprägt. Als sich Ideen der Freiheit (nicht nur die von 1789) in alle Welt verbreiteten, verlor sich ein reales Urteil über die „dunkle“ Zeit ständestaatlicher Ordnung. Neue Grabungen an den Orten der Elbe-Saale-Grenze und Quellenberichte zeigen indes: Alltägliches Grenzüberschreiten zu Handelszwecken und akademische Innovationen wie die Aristoteles-Rezeption in der Theologie oder Aneignung islamischen Wissens in den Naturwissenschaften zeugen von der Aufgewecktheit mittelalterlicher Gelehrter wie Kaufleute.20 Nicht zu vergessen ist die unheilvolle Stilisierung des Mittelalters als Hort germanischer Gemeinfreiheit unter den Nationalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die im dezisionistischen Freund-Feind-Schema etwa Carl Schmitts fortlebte. Mit zunehmender wirtschaftlicher und sozialer Differenzierung brauchten die Städte keine Einfassung mehr – das Wachstum der Industriemetropolen (wie im Ruhrgebiet und im „sächsischen Manchester“) hätte im Abstand von wenigen Jahren immer weiter außen liegende Mauerringe erfordert. Umgrenzt wurden nun Kasernen, Gefängnisse, daneben Industrieanlagen. In Deutschland bürgerte sich weniger als etwa in Frankreich ein, Villen mit Mauern zu umgeben (ein Vergleich der Architektur alter Vororte wie Versailles bei Paris und Potsdam bei Berlin ist augenfällig). Erst mit der offenen Stadt hat die Landgemeinde eine nicht nur rechtlich abgesicherte, sondern auch faktisch gelebte Gleichheit erreicht. Während der mitten durch Deutschland ziehenden „eingehegten“ Kriege des 19. Jahrhunderts blieb die Stadt- wie die Landbevölkerung weitgehend unbehelligt – wie kaum je davor oder danach.21 Mit der höheren Sicherheit in Stadt und Land verlagerte sich die Unsicherheit an die Außengrenzen der Nation – eine bis heute anhaltende Entwicklung, wovon noch die Rede sein wird. Paradoxerweise entstand das klare Bedürfnis nach einer abgesicherten Landgrenze mit dem modernen Rechtsstaat. In grauenhafter Erinnerung sind die blutigen Kämpfe zwischen Soldaten in deutschen und französischen Schützengräben im Stellungskrieg 1914–1918 (auf elsässischem Gebiet liegt etwa der zum Gedenkort ausgebaute Hartmannsweilerkopf nahe Colmar, ein während des Ersten Weltkriegs mit Bunkersystemen ausbetonierter Höhenzug). Nach den bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs entstanden in wenigen Jahren – trotz der Friedensmühen in Rapallo, Locarno oder Lausanne – Befestigungssysteme mit Artilleriebatterien und verzweigten Bunkeranlagen, die ein unterirdisches 20  Klaus Herbers  / Nikolas Jaspert (Hrsg.), Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa, Berlin 2007; Robert I. Burns, The Significance of the Frontier in the Middle Ages, in: Robert Bartlett (FN 17), S. 307–330. 21  Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002, S. 120.



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Leben während längerer Angriffe ermöglichen sollten. Maginot-Linie und Westwall (das Bauprogramm nahm Rekurs auf den Limes) bzw. im Osten die Festungsfront „Oder-Warthe-Bogen“ mit „Hindenburgständen“ (Verweis auf den Sieg bei Tannenberg 1914) sprechen für sich. Ex post kann die Zwischenkriegszeit nicht als Epoche der Abrüstung gelten. Im Kaiserreich wie im Dritten Reich betrieben Taktiker eine völkisch ausgerichtete Grenzlandpolitik im Westen22 und – mit ungleich höherer öffentlicher Resonanz – im Osten.23 Nach dem Überfall auf Polen begann eine aggressive Politik der Ausrottung, vor allem Polen und Juden fielen ihr zum Opfer. Alfred Rosenberg steht für die totalitäre Strategie der Nationalsozialisten, er lieferte die Ideologie und setzte sie als Minister für die besetzten Ostgebiete rücksichtslos um: Die slawische Bevölkerung wurde ausgehungert, eine Vielzahl deutscher „Wehrbauern“ angesiedelt. Parallel beuteten Firmen die Landwirtschaft und Bodenschätze aus. Im Zweiten Weltkrieg kulminierte die Rüstungsproduktion – effizient organisierte unter der Kommandowirtschaft etwa der Krupp-Konzern privatwirtschaftliche Interessen. Die totale Mobilmachung aller verfügbaren Ressourcen erfasste die Gesellschaft, nur wenige weigerten sich.24 Die Mauer erhielt eine neue Bedeutung: Wurden zunächst Regimegegner in Konzentrationslagern auf Reichsgebiet gefangen gehalten und ermordet (in Buchenwald, Dachau, Mauthausen oder Ravensbrück), deportierte Hitlers SturmStaffel (SS) nach der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 mithilfe vieler anderer – teils ausländischer – Gruppen und nicht zuletzt der Reichsbahn Juden aus ganz Europa systematisch ins besetzte Polen, pferchte sie in ummauerten und stacheldrahtbewährten Lagern zusammen, zwang sie zur Arbeit und tötete sie millionenfach. Die Lagerrampe in Auschwitz mahnt alle nachfolgenden Generationen zur Wachsamkeit gegen Vorboten des Völkermords. Ganze Stadtgebiete konnten zu Lagern verkommen – in den Ghettos etwa in Warschau oder Krakau lebten Juden unter menschenverachtenden Bedingungen, in Theresienstadt entwickelte sich unter der Lagerleitung eine Art Subsistenzwirtschaft. Die massenhafte Begeisterung der Deutschen für Hitler sollte sich rächen. Der Krieg kehrte nach Deutschland zurück. Besonders tragisch verliefen die 22  Fritz Blaich, Grenzlandpolitik im Westen 1926–1936. Die „Westhilfe“ zwischen Reichspolitik und Länderinteressen, Stuttgart 1978. 23  Andreas Kossert, Masuren als „Bollwerk“ – Konstruktion von Grenze und Grenzregion von der Wilhelminischen Ostmarkenpolitik zum NS-Grenzland- und Volkstumskampf 1894–1945, in: Etienne François (FN 19), S. 211–242. 24  Berthold Beitz, der spätere Firmenlenker des Krupp-Konzerns, half während des Krieges als Manager bei der Karpaten-Öl-Gesellschaft hunderten Juden, dem sicheren Tod zu entkommen, vgl. Joachim Käppner, Berthold Beitz. Die Biographie. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt, Berlin 2010.

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letzten Wochen dieses Konflikts in den Städten, die zur Festung erklärt wurden (wie Breslau). Am 8. Mai 1945 – keine „Stunde Null“ – lagen fast alle größeren deutschen Städte in Trümmern, überall waren Tote aus den Bombennächten zu beklagen. Kahle Mauern ragten in den Himmel, Straßenzüge (etwa in der Dresdner Altstadt) waren so hoch verschüttet, dass erst Jahre nach Kriegsende mit der Beräumung begonnen wurde. Die Ruine der Frauenkirche stand lange Zeit für die Sinnlosigkeit der Luftangriffe – gleichwohl hatten diese einen zermürbenden Effekt. Die Kirche auf dem Dresdner Neumarkt geriet unversehens in den Ost-West-Konflikt. Dem Ulbricht-Regime kam es nicht ungelegen, dass eine Kirchenruine für die geschwächte Christenheit stand. Schreiendes Unrecht bleibt, mit welcher Impertinenz der Tischler aus Leipzig (und in Moskau geschulte Mitbegründer des „Nationalkomitees Freies Deutschland“) Kirchen aus Modellen zum Wiederaufbau von Städten in der DDR „räumte“ (ein bekanntes Bild zeigt ihn beim „Herausnehmen“ der Dresdner Sophienkirche aus dem Stadtmodell – fortan kam diese Kirche bei den Planern nicht mehr vor, letzte Wände wurden am 1. Mai 1963 mit Winden eingerissen). „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, sagte Ulbricht am 15. Juni 1961 unaufgefordert der Journalistin Annemarie Doherr von der Frankfurter Rundschau. Es herrschte Kalter Krieg; mit der ersten BerlinKrise hatte sich gezeigt: Die Abriegelung West-Berlins führte durch beherztes Eingreifen der Alliierten (insbesondere des amerikanischen Militärgouverneurs Lucius D. Clay) zu einer stärkeren Bindung an die westlichen Besatzungszonen. Berlin wurde zum Brennspiegel, von hier aus flohen von 1949 bis 1961 die meisten DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Paradoxerweise bestand noch eine gewisse Reisefreiheit (am ungewöhnlichsten erscheinen Besuche und Gegenbesuche von Hochschulgemeinden) bei strengster Überwachung des alltäglichen Lebens in der DDR. Eine Kindheit in „vormaurischer Zeit“ hat Christine Brinck ihre ersten Lebensjahre genannt.25 Neben den eigenen Erinnerungen gibt sie damaligen Flüchtlingen eine Stimme, die teils bei zunächst missglückter Flucht die Haftbedingungen der Staatssicherheit kennen gelernt hatten. Eines steht fest: Während die DDR-Führung ein vereintes Deutschland nur unter sozialistischen Vorzeichen akzeptierte, machte Adenauer immer wieder deutlich, freie Wahlen führten zur Einheit. Die Grenze avancierte in der westdeutschen Öffentlichkeit zu einem Gradmesser für die deutsche Einheit.26

25  Christine

Brinck, Eine Kindheit in vormaurischer Zeit, Berlin 2010. Doering-Manteuffel, Die innerdeutsche Grenze im nationalpolitischen Diskurs der Adenauer-Zeit, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.), Grenzland. Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze, Hannover 1993, S. 127–140. 26  Anselm



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4. Die Perversion der Mauer Mauern sicherten lange Zeit die Freiheit im Innern (mangels äußerer Sicherheit), die Mauer von 1961 zementierte die Unterdrückung der eingeschlossenen Bevölkerung.27 Sie stabilisierte die Diktatur.28 Von West-Berliner Aussichtsplattformen schaute die Welt in den grauen Osten, so etwa Kennedy bei seinem Besuch am 26. Juni 1963. Bereits zwei Jahre nach dem Mauerbau (der Ausbau dauerte bis fast zum Mauerfall) mutete „Besuchern“ die Befestigung wie eine unverrückbare Barriere in der Mitte Europas an. Nicht vergessen darf ein Beitrag zu Mauern aber die kleinräumige Veränderlichkeit der starr erscheinenden DDR-Grenzen (im Osten bestand bis 1989 ein Streit um den Verlauf der Grenze zwischen Oder und Stettiner Haff, im Westen gab es mehrere Gebietsaustausche, meist aufgrund von Erfordernissen der Infrastruktur29). Zuweilen wurde die Infrastruktur den Mauerbauten angepasst: Den Autobahnabschnitt südlich der alten „Avus“ zwischen Nikolassee und Potsdam bei Dreilinden verlegten Baubrigaden 1969 um einige hundert Meter nach Südosten, um nur mehr einen Grenzpunkt (an der Königswegbrücke) zu haben. Daneben wurde die S-Bahnlinie Wannsee-Dreilinden-Stahnsdorf abgebaut, die die abgeriegelte Zonengrenze querte. Ähnliche „Hindernisse“ bestanden für die Grenzsicherung zwischen Eisenach und Herleshausen: Autobahn und Eisenbahn querten mehrfach die Grenze. Die Autobahn wurde auf dem Abschnitt kurzerhand stillgelegt, Züge verkehrten vom ­ 28. September 1963 an über Gerstungen nach Bebra. Die Nebenstrecke bei Vacha wurde ebenfalls neu verlegt (die Arbeiten galten 1952 in der DDR als „erster sozialistischer Bahnbau“).30 Ein norddeutsches Kuriosum war der 27  Jürgen Ritter  / Peter Joachim Lapp, Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Mit einem Geleitwort von Rainer Eppelmann und einem Beitrag von Ulrich Schacht, 5. Aufl., Berlin 2006. 28  Winfried Heinemann, Die Sicherung der Grenze, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 138– 151; Jens Schöne, Ende einer Utopie. Der Mauerbau 1961 in Berlin, Berlin 2011; Robert Lebegern, Mauer, Zaun und Stacheldraht. Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze 1945–1990, Weiden 2002; ferner Hendrik Thoß, gesichert in den Untergang. Die Geschichte der DDR-Westgrenze, Berlin 2004. 29  Der Streit um Hoheitsgewässer in der Stettiner Bucht wurde erst mit dem Vertrag zwischen der DDR und Polen vom 22. Mai 1989 beigelegt; ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien für die innerdeutsche Grenze folgende Veränderungen genannt: der Landaustausch um Ratzeburg, das Wanfrieder Abkommen vom 17. September 1945 (wegen der Bahnlinie im Werratal), der Gebietstausch bei Hornburg nahe Osterode. 30  Nach der Wiedervereinigung entstand bei Heimboldshausen ein kürzerer Anschluss an die Werratalbahn, als eines der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ am 31. Januar 2000 für den Verkehr freigegeben.

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Grenzübergang zwischen Lauenburg an der Elbe und Horst, den zwischen Sonnenaufgang und -untergang Radfahrer nutzen konnten. Über den Grenzverlauf an der Elbe herrschte bis 1989 Uneinigkeit. Die Mauer von 1961 kann als Gipfel aller technisierten Abriegelung gelten, da ihr Ziel war, die Bevölkerung mit Waffengewalt, Minen und Kampfhunden am Grenzübertritt zu hindern.31 Die Mauer ist betonierter und minenbewährter Ausdruck des „Eisernen Vorhangs“ geworden, zwischen Ostsee und Adria waren die Sperranlagen nirgends so scharf bewacht wie mitten in Deutschland (obgleich viele DDR-Bürger in Südbulgarien gefasst wurden, als sie über das Piringebirge nach Griechenland fliehen wollten). An der Westgrenze der DDR und an der Ostgrenze der Bundesrepublik entwickelte sich „die“ Grenze – mental wie naturräumlich – zum finis terrae. Das Leben an der Grenze glich einem Schattendasein, dem auf west­ licher Seite mit der Förderung der „Zonenrandgebiete“ entgegnet werden sollte.32 Ungleich abgeschiedener lebten Menschen in grenznahen Orten der DDR. Für viele Gebiete brauchte jeder Ein- und Ausreisende (ohne das Staatsgebiet zu verlassen) einen vom Ministerrat der DDR ausgestellten Passierschein.33 Zahllos sind die Veröffentlichungen zu geteilten Orten wie etwa Mödlareuth, wo die Mauer zwischen den Häusern im Dorf verlief und Familien in Sichtweite trennte. Reaktionen der Öffentlichkeit auf den Ausbau vom Stacheldraht zur Steinmauer fasst Elena Demke in einem illustrierten Bericht zusammen: Die Bild-Zeitung monierte zwar die Untätigkeit des Westens, setzte aber anschließend (nur) harsche Grenzkontrollen durch meist unbeholfen wirkende „Grenzer“ ins Bild, verzichtete auf Motive mit Wehranlagen (anders WestBerliner Zeitungen).34 Dabei fand die Teilung insbesondere in Berlin Niederschlag in einer vollkommen gegenläufigen Stadtentwicklung mit konträrem theoretischen Grund: West-Berlin sollte nach dem Prinzip der „Stadtlandschaft“ wieder aufgebaut werden (umgesetzt im Hansa-Viertel am Tiergarten), während Ost-Berlin die 16 Grundsätze des Städtebaus nach sowjetischem Muster zu spüren bekam (umgesetzt in den Monumentalbauten der Stalin-Allee).35 Interessanterweise existieren Stadtentwicklungspläne 31  Eine

ähnlich militärisch organisierte Befestigung ist in Korea entstanden. Meyer-Rebentisch, Grenzerfahrungen. Dokumentation zum Leben mit der innerdeutschen Grenze bei Lübeck von 1945 bis heute, Lübeck 2009. 33  Ein besonderes war der Raum um Johanngeorgenstadt im Erzgebirge, der aufgrund rücksichtslosen Uran-Bergbaus nahe der Grenze besonders abgeschottet war; vgl. Rainer Karlsch, Uran für Moskau. Die Wismut – eine populäre Geschichte, Berlin 2007. 34  Elena Demke, Mauerbilder in Ost und West. Korrespondenzen und Kontraste, in: Deutschland Archiv 44 (2011), Sonderheft, S. 30–49, hier S. 39. 32  Karen



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für Groß-Berlin aus westlichen wie östlichen Schubladen. Beide Seiten planten mithin über die Grenze hinweg – wer die Karten über einander legt, erkennt kaum die gleiche Stadt. Für Bewohner mauernaher Häuser war die Absperrung bittere Realität: An Häusern, deren Hauskante die Grenze bildete, wurden nach dieser Seite sämtliche Fenster zugemauert (an manchen Straßenzügen dienten Ruinen von Häusermauern als vorläufige Befestigung, etwa an der Bernauer Straße in Höhe der am 22. Januar 1988 gesprengten Versöhnungskirche). Grauen verbreiteten Bilder, die Sprünge von verzweifelten Menschen aus ihrem Haus hinunter auf die Straße im „anderen Sektor“ zeigten. 35

Während in Berlin-Mitte die an die Mauer angrenzenden Areale systematisch leergezogen und planiert wurden (von 1965 an errichtete die DDRFührung dort einen zusätzlichen Zaun als „Hinterlandmauer“), entstanden auf westlicher Seite bis nahe an die Grenze Neubaugebiete. Als ein bewusstes Statement schaute das Verlagshaus von Axel Springer über Ost-Berlin, ein Stachel im Fleisch der Diktatur. Doch die sozialistischen Baubrigaden ließen nicht locker – 1989 bedeckten Grenzanlagen entlang der 43,7 Kilometer langen Scheidelinie eine Fläche von 330 Hektar.36 Fast unter den Augen der Grenztruppen entstand im Südwesten des freien Berlins eine ganz eigene Subkultur. Inzwischen – dies bleibt ein Wermutstropfen – hatte der Flächennutzungsplan West-Berlins die Vision des Ost und West verbindenden „Citybandes“ aufgegeben, er ging 1984 von zwei Stadthälften aus. Die Teilung – sie war in den Köpfen angekommen. Die DDR-Propaganda verordnete den Gedanken einer notwendigen Teilung, treue Genossen sprachen von der Mauer als vom „antifaschistischen Schutzwall“ (Begriff von Horst Sindermann).37 Städtebau in der DDR bildete die undemokratische Regierung ab – langgestreckte Neubaublocks erhielten im Volksmund teils den Namen „Stadtmauer“ (wie für Karl-MarxStadt belegt). Die Berliner Mauer als Umkehrung einer Stadtmauer nach innen ist ein singuläres Phänomen.38 Stärker als in Berlin entwickelten sich allerdings Orte nahe der „Zonengrenze“ zu verwunschenen Siedlungen ohne ökonomische Fortschritte und ohne Perspektive. Besonders stark litten oh35  Günter Schlusche, Stadtentwicklung im geteilten Berlin, in: Klaus-Dietmar Henke (FN 28), S. 407–425. 36  Ebd., S. 417. 37  Westdeutsche Intellektuelle – darunter Günter Grass – sprachen teils von der Teilung als von einer historischen Strafe. Eine Gegenposition nahm Martin Walser ein, der sich bereits lange vor 1989 (vor allem durch die Rede von 1988) zur Einheit bekannt hatte. 38  Eine historische Einordnung unternimmt Olaf Briese, Steinzeit. Mauern in Berlin. Mit Illustrationen von Falk Nordmann, Berlin 2011.

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nehin benachteiligte ländliche Gebiete, so das Eichsfeld und Orte an der Elbe.39 In den Landschaften nahe der Mauer entstand eine „Idylle“ für Flora und Fauna. Manch einsamer See und viele Waldstücken durften nicht betreten werden, hier entwickelten sich Biotope, die inzwischen zum geschützten „grünen Band“ quer durch Deutschland gehören. Fern von jeder Idylle ist die Soziologie der Grenze als finis terrae, als Landgrenze nicht vergleichbar mit dem Limes, da in römischer Zeit keine Seite „eingeschlossen“, ein Austausch jederzeit möglich war. Das Prinzip der Mauer von 1961 war hingegen Abschottung und Tötung von Übertrittswilligen. Innerhalb Deutschlands konnte es keine Spezies wie „Republikflüchtlinge“ geben, obgleich Wandlitzer Machthaber dieses Wort unermüdlich verwendeten. Unweit der Grenze sammelte die Zentrale Beweismittelund Dokumentationsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter Beweismittel für (versuchte) Tötungsdelikte an der Grenze. Doch selbst wer nicht „rübermachen“ wollte, sondern – vor allem von Mitte der 1970er Jahre an – zu bestimmten Anlässen den „anderen“ Teil Deutschlands besuchte und den geistigen Fortbestand des Landes unterstützte, war an den „Grenzübergangsstellen“ Drangsal und Geduldsproben ausgesetzt. Neben der Suche nach ideologisch frevelhaften Gegenständen wie Büchern, die Ostdeutsche einschleusen oder Westdeutsche mitbringen konnten, war die Grenzpolizei vor allem mit der Fahndung nach Devisen beschäftigt. Seit dem 9. November 1989 ist diese Zeit des systematischen Unrechts vorbei. Eine juristische Aufarbeitung ist für manchen zu lasch, für wenige zu hart ausgefallen.40 Besteht in einigen Köpfen eine Teilung in der Zeit der Einheit fort?41 Viele Menschen nutzen die Ferienzeit, um Grenzorte zu besuchen, ihre Kinder mit der Vergangenheit vertraut zu machen – es könnten mehr sein. Zum Sport ist es geworden, die frühere innerdeutsche Grenze zu erwandern oder mit dem Rad abzufahren: So erzählt Landolf Scherzer auf seinem Pfad entlang des thüringischen Wegstückes der alten Grenze Geschichten von langer Trennung und glücklicher Wiederkehr, nimmt bei neuen Differenzen kein Blatt vor den Mund – insgesamt stimmen viele Entwicklungen positiv, die unterdessen auf ein neues gemeinsames Be39  Jürgen Ritter und Peter Joachim Lapp: Die Mauer. Ein deutsches Bauwerk, 5. Aufl., Berlin 2006, S. 117. Zur Förderung dieser Gebiete nach 1990 vgl. FrankDieter Grimm (Hrsg.), Regionen an deutschen Grenzen. Strukturwandel an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und an der deutschen Ostgrenze, Leipzig 1995. 40  Hans-Jürgen Grasemann im Gespräch mit Imke Scharlemann, Die deutschdeutsche Grenze aus juristischer Sicht, in: Michael Gehler und Andreas Pudlat (Hrsg.), Grenzen in Europa, Hildesheim 2009, S. 195–207. 41  Maren Ullrich, Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano, Berlin 2006.



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wusstsein hinweisen.42 Immer wieder spielt die teils über Jahrzehnte unberührte Natur eine attraktive Rolle für die Besucher. Das „grüne Band“ glänzt unter der Schirmherrschaft Michail Gorbatschows.43 Die Mauer als touristischer Anziehungspunkt steht dem Umweltschutz heute nicht mehr entgegen. So kommt der Anspruch der Erinnerungslandschaft zusammen mit dem Erhalt der ökologischen fines terrae.44 Mit der Erinnerung an Grenzen eng verbunden ist die Identitätssuche im geschichtsreichen Sachsen-Anhalt. Seit der Wiederentdeckung Kaiser Ottos I. und Magdeburgs als dessen Herrschaftszentrum an der umkämpften Ostgrenze entsteht eine verblüffende Situation: Während das Land jahrelang mit der innerdeutschen Grenze im Westen haderte, entdeckt es die Grenze nach Osten (wieder).45 Jenseits der Elbe begann das Missionsgebiet. Bischöfe, die dorthin gingen, hatten ihren Status unter den Märtyrern der Kirche fast sicher. Von solch blutrünstigen Zuständen sind die Deutschen zum Glück heute weit entfernt. Können Mauern neben negativen auch ­positive Funktionen haben? 5. Ausblick „Die“ Mauer gehört als Markenzeichen deutscher Erinnerungskultur zu den Exportschlagern unseres Gemeinwesens.46 Die Mauer steht inzwischen für den erfolgreichen Freiheitskampf der Ostdeutschen, sie ist in der Welt beliebt.47 Eine Art säkularer Reliquie ist der Mauerbetonstein von Rapid City (nahe des Mount Rushmore). Ein anderer Mauerstein steht vor der Werft in Danzig, einer in Seoul.48 Weitere Mauerstücke zieren die Eingänge 42  Landolf Scherzer, Der Grenzgänger, Berlin 2005; neben vielen weiteren vgl. Paul-Josef Raue (Hrsg.), Grenzwanderung, Essen 2010. Auf jedem Teilgebiet können Wanderer Broschüren der angrenzenden Länder und engagierter Vereine nutzen – besonderes Medieninteresse erfährt regelmäßig das Museum zur Geschichte der deutschen Teilung in Mödlareuth. 43  Faltblatt des BUND (Hrsg.), Das Gründe Band. Grenzenlos Natur (o. J.). 44  Informationen über den Grenz-Naturpark Eichsfeld, Hainich, Werratal finden sich in einem vom Freistaat Thüringen veröffentlichten Faltblatt „Alte Grenzregion auf neuen Wegen“ (o. J.). 45  Robert von Lucius, Verdichtetes Europa im Kleinen. Sachsen-Anhalt auf der Suche nach einer neuen Landesidentität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28. Februar 2012, S. 8. Die Magdeburger Landesausstellung 2012 widmet sich (nach 2001 erneut) Otto dem Großen. 46  Edgar Wolfrum, Die Mauer, in: Etienne François  / Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, Bonn 2005, S. 385–401. 47  Ronny Heidenreich, Eine Mauer für die Welt. Inszenierungen außerhalb Deutschlands nach 1989, in: Klaus-Dietmar Henke (FN 28), S. 440–455. 48  Ebd., S. 448–449.

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der „Presidential Libraries“ von Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy, Richard Nixon, Ronald Reagan, George W. Bush, daneben besitzen die Militärstandorte Fort Gordon und Fort Knox Mauerteile. Ebenso existiert ein Stein bei der „Vereinigung Erzgebirge“ in Warminster (Pennsylvania). Mindestens 43 Standorte sind allein in den USA nachgewiesen. Sinnfällig ist auch ein Mauerteil im luxemburgischen Ort Schengen, der wie kein zweiter für neue europäische Grenzbefestigungen steht. Für die Freiheit will ein Mauerklotz auf der St. George’s Mall in Kapstadt eintreten, wo die Apartheid rechtlich längst, inzwischen mehr und mehr auch in den Köpfen beendet ist. Kleinere Mauerstücke verwahren stolze Besitzer an vielen Orten in der Welt im Vorgarten oder in einer Schatulle im Wohnzimmer. Ein Ausblick von Deutschland in die Welt ist ernüchternd – die Erde bleibt vermauert: Amerikas und Europas Süden (in Ceuta und Melilla ist der Wille zur Abschottung gegen Afrika erkennbar wie in Arizona gegen Mexiko) und die Grenze zwischen Israel in den palästinensischen Autonomiegebieten – eine veritable Landmauer – zeugen nicht von einer Entspannung des Phänomens „Außengrenze“.49 So erscheint die Mauer als eine historische Kontinuität. Kann eine offene Gesellschaft nur im Innern fixer Grenzen bestehen?

49  Maximilien

LeRoy, Die Mauer. Bericht aus Palästina, Zürich 2012.

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Personenverzeichnis Acheson, Dean  66 f. Adenauer, Konrad  13 f., 30, 41–43, 49 f., 61, 63, 65, 68–70, 86, 89–94, 96–111, 159 f., 187, 256 Amrehn, Franz  107 Andersch, Alfred  91 Andropow, Jury  193 Arbatow, Georgij  194 Aristoteles  254 Arndt, Adolf  92 Arnold, Karl  98 August II., der Starke  252 Bahr, Egon  104 Barthel, Hans  171 Bonwetsch, Bernd  54 Bourdieu, Pierre  202 f., 222 Bovin, Alexander  194 Brandt, Willy  7, 13 f., 41–48, 91–98, 100, 104–106 f., 111, 159 f. Brentano, Heinrich von  63, 93 f., 100 f., 105, 107, 109 Breschnew, Leonid I.  59, 186, 189, 193–195, 201 Brinck, Christine  256 Brzezinski, Zbigniew  199 f. Bush, George W.  150, 200, 216, 261 Carstens, Karl  109 Castro, Fidel  86 Chrobry, Bolesław I.  248 Chruschtschow, Nikita S.  13 f., 16, 21–37, 40 f., 45–49, 53–59, 61 f., 64–67, 71, 73–87, 89, 92 f., 99 f., 108, 182 184, 188 f., 201 Clay, Lucius D.  26, 47, 68–70, 184, 256

Daschitschew, Wjatscheslaw I.  196 Dehler, Thomas  93 Dehmel, Niels  18 Demke, Elena  258 Deng Xiaoping  191 Diepgen, Eberhard  147 Dietzel, Kerstin  15 Doherr, Annemarie  256 Dohlus, Horst  163 Döpfner, Julius  92 Döring, Wolfgang  104 Douglas-Home, Alec  65 Dulles, John F.  63 f., 99, 102, 110 Eberlein, Werner  38, 177 Eilenburg, Friedrich von  249 Eilenburg, Otto von  250 Eisenhower, Dwight D.  63 f., 80 f., 182 Engels, Friedrich  191 Enzensberger, Hans Magnus  91 Erhard, Ludwig  86, 97, 99, 103 Erler, Fritz  93, 96 f., 107 Falin, Valentin  56 Fechter, Peter  20, 144 Fiedler, Heinz  216 Figl, Leopold  59 Filitov, Alexei  13 Fischer, Manfred  146 Flierl, Thomas  148 Friedrich II.  253 Friedrichs, Hans Joachim  217 f. Frommer, Jörg  131 Fussel, Paul  133

270 Personenverzeichnis Gauck, Joachim  223 Gaulle, Charles de  30, 63, 96, 102 f., 110 Gerstenmaier, Eugen  97 Gilcher-Holtey, Ingrid  202 f., 222 Gomulka, Wladyslaw  57 Gorbatschow, Michail  13, 16, 189–191, 195–197, 199 f., 208, 221, 224, 261 Grass, Günter  91 Grewe, Wilhelm  108 f., 188 Gromyko, Andrej  33 Gusew, Fedor T.  26 Guttenberg, Karl Theodor Freiherr von und zu  108 Haarmann, Lutz  18 Hackenberg, Helmut  177 Hager, Kurt  117 Harrison, Hope M.  55 Heinemann, Gustav W.  91, 93 Heinrich I. (Herzog)  248 Herden, Lutz  216 f. Hermann I.  249 Herter, Christian  94 Hertle, Hans-Hermann  16 Hertwig, Hans-Joachim  177 Heuss, Theodor  98 Hitler, Adolf  19, 50, 255 Ho Chi Minh  74 Hochhuth, Rolf  91 Hoffmann, Erich  33, 35 Honecker, Erich  34, 172, 174, 176 f., 196 f., 199 f., 206 f., 220, 225, 228, 230 f., 233 Hörnig, Johannes  116 Horten, Helmut  104 Jahn, Günther  172 Jahnel, Ernst  175 Jakubowskij, Iwan I.  34 f., 82 Johnson, Lyndon B.  47, 68, 105, 184

Kaven, Carsten  191 Kennan, George F.  67, 69 Kennedy, John F.  13, 25–30, 45–47, 58, 64–71, 82 f., 85, 96, 102, 105, 109, 182 f., 187 f., 257, 261 Kissinger, Henry  49 Klausmeier, Axel  152 Kleinfeld, Gerald  150 Klemke, Rainer  148 f. Knabe, Hubertus  147 Knappstein, Karl Heinrich  188 Kohl, Helmut  150, 200, 209 Kohler, Foy  109 Konjew, Iwan S. 39 Konrad I.  247 Koslow, Frol R.  58 Kotschemassow, Wjatscheslaw I.  196 Kramer, Erwin  33 Krätzner, Anita  14 Krenz, Egon  177 f., 207–211, 221 Kroll, Hans  56, 74, 83 Krone, Heinrich  99, 107 Kwizinskij, Julij A.  33, 39, 56 Langner, Margarete  167 Latzel, Klaus  132 Lautenbach, Robin  218 Liebold, Sebastian  17 Lloyd, Selwyn  62 f. Lochner, Robert H.  46 Lorenz, Siegfried  172 Lübke, Heinrich  99, 106 Macmillan, Harold  30, 62 f., 66, 68–70 Mansfield, Michael  187 Mao Tse-tung  191–193 Maron, Karl  33, 35 Marx, Karl  191 März, Peter  14, 18 Mayer, Tilman  18 McElroy, Neil  64 McNamara, Robert  68

Personenverzeichnis271 Meißen, Otto von  250 Mende, Erich  104, 106, 109 Mereschko, Anatolij G.  34 f. Merkel, Angela  156 Merseburg, Thietmar von  249 Merton, Robert  219 Meyer, Wolfgang  211 Mielke, Erich  10, 33–35, 207 Mieszko I. (König)  249 Mikojan, Anastas  78 Mischnick, Wolfgang  215 Mittag, Günter  206 Mitterrand, François  195, 200 Möbius, Sascha  15 Modrow, Hans  172 Molotow, Wjatscheslaw M.  26 Momper, Walter  213 Müller, Helmut  177 f. Müller, Hermann  106 Müller, Werner  10, 18 Napoleon I.  253 Niebling, Gerhard  216 Niemann, Mario  15 Nixon, Richard  192, 261 Norstad, Lauris  63 Ollenhauer, Erich  107, 109 Otto I.  248 f., 261 Paqué, Karl-Heinz  16 Perwuchin, Michail G.  33 f., 39, 53, 82 Peters, Jan  132 Rapacki, Adam  56 Reagan, Ronald  261 Reilly, Patrick  63 Reuter, Ernst  7, 26, 41, 159 Richter, Dajana  18 Roberts, Frank  68 Roosevelt, Franklin D.  261 Rusk, Dean  65–70, 110

Sacharow, Andreij  194 Saslawskaia, Tatiana  193 Schabowski, Günter  16, 176, 209, 211–214, 219 Schalck-Golodkowski, Alexander  208 Schäuble, Wolfgang  208 Schelepin, Aleksandr  82 Scherzer, Landolf  260 Schlicht, Hans  171 Schmid, Carlo  92 f., 97 f. Schmidt, Helmut  96 Schmidt, Leo  144–146 Schmitt, Carl  254 Schröder, Gerhard (CDU)  96 f., 107, 109 f. Schröder Gerhard (SPD)  156 Schukow, Konstantin G.  39 Schumann, Conrad  160 Schumann, Horst  176 Schütz, Klaus  95 Schütze, Fritz  131 Schwarz, Hans-Peter  90, 111 Seidel, Egon  171 Seifert, Willi  40 Seiters, Rudolf  208, 215 Sindermann, Horst  259 Smirnow, Andrei A.  104 Spaak, Paul-Henri  48 Spitzweg, Carl  253 Stalin, Josef  19, 26, 163 Steel, Christopher  67, 70 f. Steinhoff, Fritz  98 Steininger, Rolf  13, 47 Stoph, Willi  166 Strauß, Franz Josef  96 f., 100–102, 104 f. Thälmann, Ernst  115 Thatcher, Margaret  195, 200 Thompson, Llewelyn E.  65, 82 Tiedke, Kurt  177 Timofeeva, Tatiana  195

272 Personenverzeichnis

Vogel, Hans-Jochen  215

Weinberg, Gerhard  49 Weiss, Gerhard H.  49 Weizsäcker, Richard von  199 Welsh, Helga  179 Wettig, Gerhard  14 Weyer, Willi  104 Wieck, Hans-Georg  16 Wilke, Manfred  13, 15, 18, 147 Wodak, Walter  59 Wulff, Christian  143

Wandel, Paul  57 Wehner, Herbert  14, 93 f., 97, 100, 106 f.

Zellmer, Christa  173, 177 Zimmermann, Friedrich  104

Tisch, Harry  176 Truman, Harry S. 66 Tschernenko, Konstantin U.  193, 196 Uhl, Matthias  101 Ulbricht, Walter  7, 13, 21–40, 42–45, 49, 53–57, 70 f., 73, 77, 80–83, 108, 113, 116 f., 167, 172, 228–231, 233, 235, 256

Autorenverzeichnis Dr. Kerstin Dietzel, Privatdozentin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Dr. Alexei Filitov, leitender Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften Moskau. Dr. Hans-Hermann Hertle, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Prof. Dr. Eckhard Jesse, Hochschullehrer am Institut für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Dr. Anita Krätzner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in Berlin. Dr. Uwe Lehmann-Brauns, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin 1979–2001 sowie seit 2004 und Mitbegründer des Bürgerbüros zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur. Dr. Sebastian Liebold, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Dr. Peter März, ehemaliger Leiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Dr. Sascha Möbius, Leiter der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn in der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Prof. Dr. Mario Niemann, Hochschullehrer am Historischen Institut der Universität Rostock. Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué, Hochschullehrer für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Prof. Dr. Rolf Steininger, em. Hochschullehrer für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Dr. Gerhard Wettig, ehemaliger Leiter des Forschungsbereichs Außen- und Sicherheitspolitik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Dr. Hans-Georg Wieck, ehemaliger Botschafter in der UdSSR und Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Prof. Dr. Manfred Wilke, Soziologe und Publizist sowie Projektleiter beim Institut für Zeitgeschichte München.