Von Magna Graecia nach Asia Minor: Festschrift für Linda-Marie Günther zum 65. Geburtstag 3447109076, 9783447109079

Von Magna Graecia nach Asia Minor – der Titel ist Programm: 23 Beiträge von renommierten Althistorikern und Archäologen

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Von Magna Graecia nach Asia Minor: Festschrift für Linda-Marie Günther zum 65. Geburtstag
 3447109076, 9783447109079

Table of contents :
Cover
Title pages
Inhalt
Vorwort
Tabula Gratulatoria
Schriftenverzeichnis von Linda-Marie Günther
Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos
Jan-Marc Henke
1. Einleitung
2. Der Fundkontext der Phialen A und B
3. Beschreibung und typologische Einordnung der Phialen A und B
3.1 Phiale A (Mesomphalide Buckelschale)
3.1.1 Zur Rekonstruktion
3.1.2 Formbeschreibung und typologische Einordnung
3.1.3 Materialbeschreibung, Herstellung und technische Besonderheiten
3.2 Phiale B (Buckelschale mit flachem Boden und zentralem Rosettendekor)
3.2.1 Zur Rekonstruktion
3.2.2 Formbeschreibung und typologische Einordnung
3.2.3 Materialbeschreibung, Herstellung und technische Besonderheiten
3.2.4 Die Deutung der figürlichen Darstellung der Phiale B als Tilapia
4. Die typologische Stellung der Glasphialen auf Samos im Gesamtkorpus der bisher bekannten Glasschalen im Mittelmeerraum bis ins 6. Jh. v. Chr
5. Zu den Produktionszentren der Phialen und ihrer Datierung
6. Zur Funktion der Phialen A und B
7. Katalog
Dem Lokalen auf der Spur. Einige Vorbemerkungen zur Parochial Polis Hans Beck
Griechische Religion: das Ende der Dichotomie Lokal–Global
Lokale Welt und religiöser Raum: Xenophons Skillous
Von Magna Graecia bis Asia Minor: globale Vernetzung und das vernetzte Lokale
Griechische Vorstellungen von biologischer Vererbung und ihre gesellschaftlichen Implikationen (6.–frühes 4. Jh. v. Chr.)
Andreas Mehl
1. Kreuzung und reine ‚Rasse‘
2. Wer vererbt Merkmale?
3. Erworbenes wird zu Vererbtem
4. Ergebnisse
Small but perfectly formed? Das Verhältnis von Fuß- und Beckendurchmesser bei den „kleinen“ Schalen des Töpfers Euphronios
Bernd Lehnhoff
Herodot, der Weitgereiste? Eine hoffentlich unterhaltsame Betrachtung
Reinhold Bichler
„Nachgeben müßt ihr, flüchtig, fremd, bedürftig hie, denn kecke Rede ziemt den Unglückselgen nie.“ Von Schutzflehenden und Schutzbefohlenen
Lara Sophie Köcke
Das rettende Gesetz und die Aporie des Verfügens. Zum Mängelwesen Mensch bei Protagoras und Sophokles
Egon Flaig
Antike Demokratie im Experiment – Die Auslosung der Geschworenen in der attischen Demokratie
Klaus Scherberich
Zwischen Landwirtschaft und Mythos. Motivgeschichtliche Überlegungen zu Münzen mit dem ‚grasenden Pferd‘
Katharina Martin
1. Die Troas
1.1 Neandria
1.2 Alexandria Troas
2. Thessalien
2.1. Larissa
3. Resümée
Philipp II. von Makedonien, Athen und der Plan eines Perserkrieges
Michael Zahrnt
Der Krieg, die Götter, die Frauen. Zur Herrschaftsrepräsentation des Demetrios I. Poliorketes
Benedikt Eckhardt
Idealtypen
Der Krieg
Die Götter
Die Frauen
Schluss
Überlegungen zum ‚kosmischen‘ Herrscherornat des Demetrios I. Poliorketes
Christoph Michels
Demetrios I. Poliorketes. Historisches Scheitern auf hohem Niveau?
Sonja Richter
1. Einleitung
2. Der zügellose Demetrios – Plutarch und sein Protagonist
3. Zur Bedeutung politischer Heiratsallianzen
3.1 Dynastische Allianzen innerhalb des Diadochengefüges
3.1.1 Die Frühphase der Diadochenauseinandersetzungen – Phila
3.1.2 Der vierte Diadochenkrieg vor der Schlacht bei Ipsos – Deidameia
3.1.3 Nach der Niederlage bei Ipsos – Stratonike und Ptolemais
3.2 Politische Heiratsverbindungen zur Sicherung lokaler Interessen
3.2.1 Athen und Eurydike
3.2.2 Lanassa und Korkyra
3.2.3 Kratesipolis und Sikyon und Korinth?
3.3 Heiratsverbindungen zur Sicherung externer Allianzen?
4. Fazit
Demetrios von Phalerons pompe und Demochares’ Kritik
Sabine Müller
Der Schiedsspruch des Satrapen Struses: Prozedur und Politik
Norbert Ehrhardt
Historia als Waffe. Zu den politischen Möglichkeiten der griechischen Geschichtsschreibung im Imperium Romanum
Ernst Baltrusch
Altäre auf den Straßen für die „Söhne des Volkes“
Eftychia Stravrianopoulou
1. Die isotheoi timai
2. Die Einführung neuer Ritualpraktiken und die Begründung einer neuen Tradition
3. Isotheos – Isobasileus – Ktistes
‚Pastorenstücke‘ und ‚Besucherordnung‘ – eine lex sacra aus dem Heiligtum des Zeus Labraundos von Patara
Klaus Zimmermann
Gewichte griechischer Städte II. Kontrollstempel mit der Hauptgottheit auf kaiserzeitlichen Stathma Ioniens und Lydiens
Peter Weiß
1. Ephesos: Artemis Ephesia, Biene, Hirsch
2. Magnesia am Mäander: Artemis Leukophryene
3. Kolophon: Apollon Klarios
4. Sardes: Artemis Sardiane/Kore
5. Fazit
Aus welchem Material waren die Federn antiker Torsionsgeschütze?
Burkhard Meißner
Sehnen
Haare
Sehnen oder Haare
Welche Haare?
Zusammenfassung: Antike Torsionsfedern und ihre Materialien
Die Ewigkeit des Kaisers und das Wohlergehen des Reiches
Peter F. Mittag
Die Makkabäer – Geschichte und Erinnerung
Hans Kloft
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
Appendix
René Magritte und Artemidor. Betrachtungen und Lektüren zu „La clef des songes“ (1927)
Gregor Weber

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Von Magna Graecia nach Asia Minor Festschrift für Linda-Marie Günther zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Hans Beck, Benedikt Eckhardt, Christoph Michels und Sonja Richter

PHILIPPIKA

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures 116

Harrassowitz Verlag

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

PHILIPPIKA Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 116

2017

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

Von Magna Graecia nach Asia Minor Festschrift für Linda-Marie Günther zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Hans Beck, Benedikt Eckhardt, Christoph Michels und Sonja Richter

2017

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2017 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1613-5628 ISBN 978-3-447-10907-9 e-ISBN 978-3-447-19718-2

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

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Inhalt Vorwort .... ....................................................................................................................

IX

Tabula Gratulatoria .......................................................................................................

XI

Schriftenverzeichnis von Linda-Marie Günther ...........................................................

XV

Jan-Marc Henke Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos ..............................

1

Hans Beck Dem Lokalen auf der Spur. Einige Vorbemerkungen zur Parochial Polis ..................

35

Andreas Mehl Griechische Vorstellungen von biologischer Vererbung und ihre gesellschaftlichen Implikationen (6.– frühes 4. Jh. v. Chr.) ...........................

55

Bernd Lehnhoff Small but perfectly formed? Das Verhältnis von Fuß- und Beckendurchmesser bei den „kleinen“ Schalen des Töpfers Euphronios ......................................................

75

Reinhold Bichler Herodot, der Weitgereiste? Eine hoffentlich unterhaltsame Betrachtung .....................

87

Lara Sophie Köcke „Nachgeben müßt ihr, flüchtig, fremd, bedürftig hie, denn kecke Rede ziemt den Unglückselgen nie.“ Von Schutzflehenden und Schutzbefohlenen .............

103

Egon Flaig Das rettende Gesetz und die Aporie des Verfügens. Zum Mängelwesen Mensch bei Protagoras und Sophokles..........................................

115

Klaus Scherberich Antike Demokratie im Experiment – Die Auslosung der Geschworenen in der attischen Demokratie ...................................

133

Katharina Martin Zwischen Landwirtschaft und Mythos. Motivgeschichtliche Überlegungen zu Münzen mit dem ‚grasenden Pferd‘ ................

157

Michael Zahrnt Philipp II. von Makedonien, Athen und der Plan eines Perserkrieges ..........................

183

Benedikt Eckhardt Der Krieg, die Götter, die Frauen. Zur Herrschaftsrepräsentation des Demetrios I. Poliorketes ........................................

197

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

VIII

Inhalt

Christoph Michels Überlegungen zum ‚kosmischen‘ Herrscherornat des Demetrios I. Poliorketes ...........

211

Sonja Richter Demetrios I. Poliorketes. Historisches Scheitern auf hohem Niveau? ..........................

225

Sabine Müller Demetrios von Phalerons pompe und Democharesʼ Kritik ...........................................

243

Norbert Ehrhardt Der Schiedsspruch des Satrapen Struses: Prozedur und Politik ....................................

255

Ernst Baltrusch Historia als Waffe. Zu den politischen Möglichkeiten der griechischen Geschichtsschreibung im Imperium Romanum .................................

267

Eftychia Stavrianopoulou Altäre auf den Straßen für die „Söhne des Volkes“ ......................................................

281

Klaus Zimmermann ‚Pastorenstücke‘ und ‚Besucherordnung‘ – eine lex sacra aus dem Heiligtum des Zeus Labraundos von Patara ............................

299

Peter Weiß Gewichte griechischer Städte II. Kontrollstempel mit der Hauptgottheit auf kaiserzeitlichen Stathma Ioniens und Lydiens ........................................................

311

Burkhard Meißner Aus welchem Material waren die Federn antiker Torsionsgeschütze? .........................

327

Peter F. Mittag Die Ewigkeit des Kaisers und das Wohlergehen des Reiches .......................................

339

Hans Kloft Die Makkabäer – Geschichte und Erinnerung ..............................................................

349

Gregor Weber René Magritte und Artemidor. Betrachtungen und Lektüren zu „La clef des songes“ (1927) .......................................

365

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

Vorwort Der fünfundsechzigste Geburtstag von Linda-Marie Günther am 26. November 2017 bietet den Herausgebern dieser Festschrift – allesamt Schüler der Jubilarin – sowie den Beiträgern die Möglichkeit, ihr mit dieser Festgabe ihre Verbundenheit auszudrücken. Der Titel „Von Magna Graecia nach Asia Minor“ spannt dabei den Bogen von ihrer Dissertation zu einer erst kürzlich erschienenen wissenschaftlichen Monographie der Jubilarin. Auf dem Weg von Sizilien (1983) nach Kleinasien und Milet (2014) hat Linda-Marie Günther allerdings derart viele Abzweigungen gefunden, dass der hier gewählte Titel bestenfalls als weiter Rahmen gelten kann. Wenn in wissenschaftlichen Stellenausschreibungen oft die Rede davon ist, das Fach Alte Geschichte sei „in ganzer Breite“ zu vertreten, dann ist Linda-Marie Günther zweifellos ein Beispiel dafür, dass und wie dies auch in Zeiten stetig zunehmender Spezialisierung möglich ist. Von ihr war und ist zu lernen, dass man auf hohem Niveau über das klassische Athen, die hellenistische Welt, die auch nach der Habilitationsschrift (1989) einer ihrer besonderen Schwerpunkte blieb, die römische Republik und die Spätantike arbeiten und Detailstudien zu Griechenland, Nordafrika, Kleinasien und Judäa erstellen kann, ohne dabei Trends hinterherzulaufen oder den spezifischen Charakter der eigenen Methode und Fragestellungen aufzugeben. Linda-Marie Günther hat einmal als ihre Hobbies „Prosopographie und Feinchronologie“ angegeben, und wer mit ihrem historiographischen Zugang als Lernender oder Forschender in Berührung gekommen ist, wird am Ernst dieser Aussage nicht zweifeln wollen. Gerade Randfiguren und vermeintliche Nebensächlichkeiten haben es ihr angetan. So stehen neben Monographien zu Herodes (2005), Perikles (2010), Hannibal (2010) und Herodot (2013) Untersuchungen zu der Judäerin Alexandra (2012) oder den milesischen Bürgerinnen (2014), die zu erarbeiten eher mehr als weniger Aufwand bedeutet – weil sowohl Quellen als auch Forschung sich eigentlich für andere (meist männliche) Protagonisten interessieren. Was man durch sorgfältige Prosopographie und gezieltes Nachfragen in die Lücken der Evidenz hinein erreichen kann – das dürfte für alle Herausgeber eine der wichtigsten Lehren aus einem Studium bei Linda-Marie Günther gewesen sein. Die viel und zurecht geforderte Interdisziplinarität ist dabei für sie immer selbstverständlich gewesen. Neben der auch in zahlreichen Lehrveranstaltungen praktizierten Epigraphik ist hier ebenso das Interesse an der Archäologie hervorzuheben, das einem der Herausgeber vor Jahren zu seiner damaligen (freudigen) Überraschung ein archäologisches Magisterarbeitsthema bescherte. Ein besonderer Schwerpunkt von Linda-Marie Günther ist aber auch die Numismatik. Neben den hellenistischen Königsmünzen, mit deren Analyse gleich mehrere der Herausgeber in ihren Lehrveranstaltungen vertraut wurden und die ein wichtiger Aspekt ihrer späteren Forschung werden sollten, sind hier die sikulopunischen Münzen zu nennen. Man muss das alles hervorheben, denn die hier vorliegenden Beiträge von Kollegen, Schülern und Freunden leuchten das Feld, das Linda-Marie Günther ausgemessen hat, nur partiell und auch eher exemplarisch aus. Ein Schwerpunkt in der griechischen, insbesondere

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X

Vorwort

der hellenistischen Zeit ist freilich unübersehbar, ist dies doch die Epoche, in der nicht nur die umfangreiche Monographie zu Bürgerinnen in Milet (2014), sondern auch das aktuelle Vorhaben einer Biographie des Demetrios Poliorketes angesiedelt sind. Letzterem sind denn auch gleich drei Beiträge gewidmet. Dass im Gegenzug Afrika herausgefallen ist, kann als unproblematisch gelten, denn das Offensichtliche muss man nicht abbilden. Dass aber etwa die Spätantike für Linda-Marie Günther keineswegs nur ein in der Lehre gelegentlich abzuarbeitendes Feld, sondern ein Forschungsschwerpunkt eigenen Ranges ist – davon legt in diesem Band lediglich das Schriftenverzeichnis Zeugnis ab. Numismatisches findet sich zwar, doch auch dies nicht in der eigentlich gebotenen Breite. Der von Linda-Marie Günther nicht nur mit der Herodesbiographie erschlossene Bereich der Geschichte Judäas ist ebenfalls unterrepräsentiert. Hier hätte noch der bereitwillig zugesagte Beitrag Jörg-Dieter Gaugers stehen sollen, der durch seinen plötzlichen Tod im Sommer 2015 verhindert wurde. Auch Jürgen Deininger war es, trotz schwerster Krankheit, ein Herzensanliegen, Linda Marie Günther seine fachliche wie persönliche Wertschätzung durch einen Beitrag zum Ausdruck zu bringen. Leider jedoch konnte er seine „Bemerkungen zu den Anfängen der ‚kritischen Methode‘ im Werk Herodots“ nicht mehr abschließen. Er verstarb im April 2017. Neben einem Forschungsprogramm, das explizit auch die weniger beachteten Ränder der Alten Geschichte miteinschließt, steht Linda-Marie Günther ferner für die nachdrückliche Positionierung der Altertumswissenschaften in Kontexten, in denen man schnell bereit ist, ohne sie auszukommen. Die für alle im Fach Tätigen immer wichtiger werdende Kommunikation mit der Öffentlichkeit und das Ausloten von gemeinsamen Interessen jenseits der strikten Fachgrenzen ist ihr – nicht nur in ihrer Zeit als Vorsitzende des Vereins AGE (Alte Geschichte für Europa) – stets ein wichtiges Anliegen. Dass dasselbe für die Lehre gilt, muss niemandem gesagt werden, der bei Linda-Marie Günther Seminare besucht hat. Interessierten Teilnehmern konnte es dabei ungewöhnlich früh passieren, dass sie in wissenschaftliche Kontexte eingebunden wurden. Gleichzeitig legt Linda-Marie Günther stets größten Wert darauf, dass man fachlich und beruflich einen eigenen Weg geht. Versprechungen oder informelle Vermittlungen gibt es nicht. Wohl auch deshalb ist eine „Günther-Schule“ auf den ersten Blick kaum ersichtlich: Sie kann nur geographisch und inhaltlich disparat sein. Dass es dennoch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl gibt – auch davon mag diese Festschrift Zeugnis ablegen. Es bleibt zuletzt Dank auszusprechen: den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Bereitschaft, sich an dem Projekt zu beteiligen und für ihre Mitarbeit und Geduld bei der Erstellung des Manuskripts, Barbara Krauß, Ulrike Melzow und Jens Fetkenheuer vom Harrassowitz Verlag dafür, dass sie die Publikation der Festschrift optimal betreut und alle Hürden ausgeräumt haben, sowie Wolfgang Günther, der dieses Projekt von Anfang in vielerlei Hinsicht unterstützt hat. Die Herausgeber und die Beitragenden hoffen, dass sich „L.-M.G.“ über die in dieser Festgabe versammelten Beiträge freuen wird.

im August 2017 Hans Beck, Benedikt Eckhardt, Christoph Michels und Sonja Richter

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Tabula Gratulatoria

WALTER AMELING (Köln)

BENEDIKT ECKHARDT (Bremen)

ERNST BALTRUSCH (Berlin)

NORBERT EHRHARDT (Münster)

MANUEL BAUMBACH (Bochum)

ARMIN EICH (Wuppertal)

HANS BECK (Montreal)

KARL-LUDWIG ELVERS (Bochum)

RALF BEHRWALD (Bayreuth)

EGON FLAIG (Rostock)

FRANK BERNSTEIN (Frankfurt/Main)

STEFAN FRAß (Gießen)

REINHOLD BICHLER (Innsbruck)

KLAUS FREITAG (Aachen)

BRUNO BLECKMANN (Düsseldorf)

CHRISTIAN FREVEL (Bochum)

HANSWULF BLOEDHORN (Tübingen)

PETER FUNKE (Münster)

WOLFGANG BLÖSEL (Essen)

ULRICH-WALTER GANS (Marburg)

HARTWIN BRANDT (Bamberg)

JÖRG-DIETER GAUGER † (Bonn)

ANGELOS CHANIOTIS (Princeton)

HANS-JOACHIM GEHRKE (Freiburg)

JUSTUS COBET (Essen)

VOLKER GRIEB (Graz)

JÜRGEN DEININGER † (Hamburg)

WOLFGANG GÜNTHER (München)

HELGA DEININGER (Hamburg)

MATTHIAS HAAKE (Münster)

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XII

Tabula Gratulatoria

JOHANNES HAHN (Münster)

CHRISTOPH MICHELS (Aachen)

JAN-MARC HENKE (Bochum)

PETER FRANZ MITTAG (Köln)

KARL-JOACHIM HÖLKESKAMP (Köln)

BÄRBEL MORSTADT (Bochum)

ULRICH HUTTNER (Siegen)

SABINE MÜLLER (Marburg)

MARTIN JEHNE (Dresden)

ECKART OLSHAUSEN (Stuttgart)

THORSTEN JÖRGER (Velbert)

SEBASTIAN PRIGNITZ (Wien)

ERICH KISTLER (Innsbruck)

KURT RAAFLAUB (Providence)

HILMAR KLINKOTT (Kiel)

SONJA RICHTER (Essen)

HANS KLOFT (Bremen)

CHRISTINE ROLL (Aachen)

LARA SOPHIE KÖCKE (München)

ROBERT ROLLINGER (Innsbruck)

CHRISTIANE KUNST (Osnabrück)

TANJA SCHEER (Göttingen)

BERND LEHNHOFF (Bochum)

KLAUS SCHERBERICH (Aachen)

BERNHARD LINKE (Bochum)

SEBASTIAN SCHMIDT-HOFNER (Tübingen)

HANS LOHMANN (Bochum)

TASSILO SCHMITT (Bremen)

JOCHEN MARTIN (Freiburg)

WINFRIED SCHMITZ (Bonn)

KATHARINA MARTIN (Düsseldorf)

KORDULA SCHNEGG (Innsbruck)

ANDREAS MEHL (Halle/Saale)

CHRISTOF SCHULER (München)

BURKHARD MEIßNER (Hamburg)

CHRISTIAN SEEBACHER (Bochum)

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XIII

Tabula Gratulatoria

REINHARD SENFF (Olympia)

GREGOR WEBER (Augsburg)

EFTYCHIA STAVRIANOPOULOU (Heidelberg)

CORNELIA WEBER-LEHMANN (Bochum)

ELKE STEIN-HÖLKESKAMP (Essen)

PETER WEIß (Kiel)

MERET STROTHMANN (Bochum)

HANS-ULRICH WIEMER (Erlangen)

LÂTIFE SUMMERER (München)

WOLFGANG WILL (Bonn)

WERNER TIETZ (Köln)

ENGELBERT WINTER (Münster)

REINHARD VON BENDEMANN (Bochum)

MICHAEL ZAHRNT (Heikendorf)

KONRAD VÖSSING (Bonn)

KLAUS ZIMMERMANN (Münster)

UWE WALTER (Bielefeld)

MARTIN ZIMMERMANN (München)

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

Schriftenverzeichnis von Linda-Marie Günther In den Jahren 1982 bis 1988 veröffentliche Linda-Marie Günther ihre Schriften unter ihrem Geburtsnamen Hans.

2016 Neu – anders – ungewohnt: Die sikulopunischen Emissionen (410–300 v. Chr.), in: Benedikt Eckhardt / Katharina Martin (Hrsgg.), Eine neue Prägung. Innovationspotentiale von Münzen in der griechisch-römischen Antike, Wiesbaden, 19–30. Münze und Macht – Eine Währungsunion bei den ‚alten Griechen‘?, NNB 65/11, 450–452. Der Tod im Meer – aphaneis und kenotaphia, in: Alexander Berner [u. a.] (Hrsgg.), Das Mittelmeer und der Tod. Mediterrane Mobilität und Sepulkralkultur, Paderborn, 299–318. Rez. Simon Hornblower, Herodotus, Histories, Book V (Cambridge 2013), HZ 302, 448–449. Rez. Jonathan Prag / Josephine Quinn (Hrsgg.), The Hellenistic West (Cambridge 2013), HZ 302, 449–452.

2015 Kochen mit den Römern. Rezepte und Geschichten, München. (Hrsg. mit Bärbel Morstadt) Phönizische, griechische und römische Gottheiten im historischen Wandel, Turnhout. Herrscherliche Inszenierungen in den Diadochenkriegen am Beispiel von Antigonos I. und Demetrios I., in: Dietrich Boschung / Jürgen Hammerstaedt (Hrsgg.), Das Charisma des Herrschers, Paderborn, 235–252. Pferd und Quadriga auf sikulopunischen Münzen: Griechische oder punische Symbolik?, in: LindaMarie Günther / Bärbel Morstadt (Hrsgg.), Phönizische, griechische und römische Gottheiten im historischen Wandel, Turnhout, 137–154. (mit Bärbel Morstadt) „Interpretationes“ – eine Einleitung, in: Linda-Marie Günther / Bärbel Morstadt (Hrsgg.), Phönizische, griechische und römische Gottheiten im historischen Wandel, Turnhout, 1–8. Rez. Claudio Vacanti, Guerra per la Sicilia e guerra della Sicilia (Neapel 2012), Gnomon 87, 78–80.

2014 Bürgerinnen und ihre Familien im hellenistischen Milet. Untersuchungen zur Rolle von Frauen und Mädchen in der Polis-Öffentlichkeit, Wiesbaden. Syrakus unter Agathokles und die ptolemäische Expansion, in: Sebastiano Amato (Hrsg.), Atti del convegno su Agatocle, Siracusa, 89–109. Überlegungen zur sozialen Mobilität von Metöken in hellenistischen Poleis, in: Eckart Olshausen / Vera Sauer (Hrsgg.), Mobilität in den Kulturen der antiken Mittelmeerwelt, Stuttgart, 71–77.

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

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Schriftenverzeichnis …

„Korinthischen Stammes sind wir wie Bellerophontes“ – Syrakusaner/Innen fern der Heimat, in: Klaus Freitag / Christoph Michels (Hrsgg.), Athen und/oder Alexandria? Aspekte von Identität und Ethnizität im hellenistischen Griechenland, Köln u. a., 51–64. Nothoi und nothai – eine Randgruppe in der hellenistischen Polis? Zur Auswertung der einschlägigen Inschriften Milets, in: Albrecht Matthaei / Martin Zimmermann (Hrsgg.), Stadtkultur im Hellenismus, Heidelberg, 133–147.

2013 Innergriechische Diplomatie und zwischenstaatliche Beziehungen in den Historien des Polybios, in: Volker Grieb / Clemens Koehn (Hrsgg.), Polybios und seine Historien, Stuttgart, 219–232. Milesische Mütter – Matronage in der Honoratiorenschicht einer hellenistischen Großstadt, in: Christiane Kunst (Hrsg.), Matronage. Handlungsstrategien und soziale Netzwerke antiker Herrscherfrauen, Rahden/Westfalen, 71–78. Concepts of Purity in Ancient Greece, with Particular Emphasis on Sacred Sites, in: Christian Frevel / Christophe Nihan (Hrsgg.), Purity and the Forming of Religious Traditions in the Ancient Mediterranean World and Ancient Judaism, Leiden/Boston, 245–260. Euböa in Sizilien – Apoikie oder Übersetzungsfehler?, in: Georg Kalaitzoglou (Hrsg.), Petasos. Festschrift für Hans Lohmann, Paderborn, 75–82. Alexanders III. Agone in Asia: quellen- und interpretationskritische Überlegungen, in: Peter Mauritsch / Christoph Ulf (Hrsg.), Kultur(en) – Formen des Alltäglichen in der Antike. Festschrift für Ingomar Weiler zum 75. Geburtstag, Graz, 287–300. König Herodes in der jüngeren historischen Forschung, in: Thomas Söding (Hrsg.), Zu Bethlehem geboren? Das Jesus-Buch Benedikts XVI. und die Wissenschaft, Freiburg, 79–88. Bösewicht oder Genie? Annäherungen an Herodes, WUB 18/4, 6–11. Art. Women, Hellenistic, in: EAH 12, 7121–7124. Rez. Salvatore de Vincenzo, Tra Cartagine e Roma (Berlin 2013), sehepunkte 13/6. Rez. Hans-Ulrich Cain [u. a.] (Hrsgg.), Hellenismus (Stuttgart 2012), AW 5, 90.

2012 Herodot, Tübingen/Basel. (Hrsg.) Migration und Bürgerrecht in der hellenistischen Welt, Wiesbaden. (Hrsg.) Tryphe und Kultritual im archaischen Kleinasien – ex oriente luxuria?, Wiesbaden. (Hrsg. mit Volker Grieb) Das imperiale Rom und der hellenistische Osten. Festschrift für Jürgen Deininger zum 75. Geburtstag, Stuttgart. Polis und Königin: Zur Interpretation von Frauenköpfen auf hellenistischen Münzen, JNG 62, 36–53. Seleukidische Vorbilder der parthischen Münzikonographie, in: Peter Wick / Markus Zehnder (Hrsgg.), The Parthian Empire and its Religions. Studies in the Dynamics of Religious Diversity, Gutenberg, 53–66. Die Hasmonäerin Alexandra – Integrationsfigur für den Widerstand gegen den neuen König Herodes?, in: Benedikt Eckhardt (Hrsg.), Jewish Identity between the Maccabees and Bar Kokhba. Groups, Normativity, and Rituals, Leiden/Boston, 131–156. Eroberungen in Nordafrika: Wunschträume im hellenistischen Syrakus?, in: Maria Bastiana Cocco / Alberto Gavini / Antonio Ibba (Hrsgg.), L’Africa romana. Trasformazione dei paesaggi del potere nell’Africa settentrionale fino alla fine del mondo antico (L’Africa romana XIX), Bd. 2, Rom, 1611–1620.

© 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

… von Linda-Marie Günther

XVII

Aphrodite in Korinth – Münzbilder und Mutmaßungen, in: Gerd Dethlefs [u. a.] (Hrsgg.), Nummi docent! Münzen – Schätze – Funde. Festschrift für Peter Ilisch zum 65. Geburtstag, Osnabrück, 17–23. Das „Wohlleben“ der Milesier und Thrasybulosʼ Festschmaus, in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Tryphe und Kultritual im archaischen Kleinasien – ex oriente luxuria?, Wiesbaden, 139–152. Die Milesierinnen Tryphosa Apolloniou und Tryphosa, die Prophetin, in: Linda-Marie Günther / Volker Grieb (Hrsgg.), Das imperiale Rom und der hellenistische Osten. Festschrift für Jürgen Deininger zum 75. Geburtstag, Stuttgart, 151–164. Timokleons ‚Kolonisationsprogramm‘ und die massenhaften Einbürgerungen im spätklassischen Sizilien, in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Migration und Bürgerrecht in der hellenistischen Welt, Wiesbaden, 9–20. Karische Städtchen im Einzugsbereich der Metropole Milet, in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Migration und Bürgerrecht in der hellenistischen Welt, Wiesbaden, 73–82. Milesierinnen im hellenistischen Athen, in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Migration und Bürgerrecht in der hellenistischen Welt, Wiesbaden, 127–145. Rez. Boris Dreyer / Peter F. Mittag (Hrsgg.), Lokale Eliten und hellenistische Könige (Berlin 2011), Klio 94, 525–527.

2011 (Hrsg. mit Sonja Plischke) Studien zum vorhellenistischen und hellenistischen Herrscherkult, Berlin. Herrscher als Götter – Götter als Herrscher? Zur Ambivalenz hellenistischer Münzbilder, in: LindaMarie Günther / Sonja Plischke (Hrsgg.), Studien zum vorhellenistischen und hellenistischen Herrscherkult, Berlin, 98–113. Rez. Christoforo Grotta, Zeus ‚Meilichios‘ a Selinunte (Rom 2010), Klio 93, 484–486.

2010 Perikles, Tübingen. Hannibal. Ein biographisches Porträt, Freiburg. Überlegungen zum Handwerk und Kunsthandwerk in der Metropole Karthago, in: Marco Milanese (Hrsg.), L’Africa romana. I luoghi e le forme dei mestieri e della produzione nelle province africane (Africa Romana XVIII), Rom, 175–182. Rez. Efrem Zambon, Tradition and Innovation. Sicily between Hellenism and Rome (Stuttgart 2008), Klio 92, 507–509. Rez. Michael Jung, Marathon und Plataia (Göttingen 2006), AnzAW 63, 58–64. Rez. Dexter Hoyos, Hannibal (Bristol 2008), HZ 290, 745–747. Rez. Heinz Heinen, Kleopatra-Studien (Konstanz 2009), HZ 291, 154–155.

2009 (Hrsg.) Herodes und Jerusalem, Stuttgart. Herodot und die Entführung der Europa: Zu Gegnerwahrnehmung und Geschichtsbild im 5. Jahrhundert v. Chr., in: Almut-Barbara Renger / Roland A. Issler (Hrsgg.), Europa. Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen, 353–363. Quellen, Bäche, Flüsse und ihre Gottheiten im griechischen Sizilien, in: Eckart Olshausen (Hrsg.), Die Landschaft und die Religion, Stuttgart, 81–95.

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Schriftenverzeichnis …

Herodes, sein Sohn Antipater und die Jerusalemitische Aristokratie, in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Herodes und Jerusalem, Stuttgart, 99–112. Rez. Aryeh Kasher, King Herod: A Persecuted Persecutor (Berlin 2007), Klio 91, 503–506.

2008 Griechische Antike, Tübingen/Basel (2., aktualisierte Auflage 2011). Hera Lakinia auf Münzen der brettischen Verbündeten Hannibals?, JNG 58, 19–40. Catos Feigen aus Karthago: Zur Interpretation einer Anekdote (Plutarch, Cato maior, 27,1), in: Julian González [u. a.] (Hrsgg.), L’Africa romana. Le ricchezze dell’Africa. Risorse, produzione, scambi (Africa Romana XVII), Bd. 1, Rom, 151–156. Bürgersfrau oder Hetäre? Zum Frauenbild bei Herondas und Theokrit, in: Peter Mauritsch [u. a.] (Hrsgg.), Antike Lebenswelten. Konstanz – Wandel – Wirkungsmacht. Festschrift für Ingomar Weiler zum 70. Geburtstag, Wiesbaden, 265–276. Rez. Christopher Barnes, Images and Insults (Stuttgart 2005), Gnomon 80, 747–748. Rez. Peter Nadig, Zwischen König und Karikatur (München 2007), HZ 287, 709–712. Rez. Klaus Zimmermann, Rom und Karthago (Darmstadt 2005), Klio 90, 231–234.

2007 (Hrsg.) Herodes und Rom, Stuttgart. Familien und Geschlechterverhältnisse, in: Gregor Weber (Hrsg.), Kulturgeschichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra, München, 118–138. Raumwahrnehmung in der spätantiken Hagiographie und Historiographie, in: Michael Rathmann (Hrsg.), Wahrnehmung und Erfassung geographischer Räume in der Antike, Mainz, 231–242. Herodes, Caesar (Augustus) und Caesarea, in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Herodes und Rom, Stuttgart, 79–89. Rez. Rosa Albanese Procelli, Sicani, Siculi, Elimi (Mailand 2003), Gnomon 79, 269–271. Rez. Eftychia Stavrianopoulou, Gruppenbild mit Dame (Stuttgart 2006), HZ 285, 160–162. Rez. Haouaria Kadra, Jugurtha (Paris 2005), HZ 285, 433–435. Rez. Caroline Lehmler, Syrakus unter Agathokles und Hieron II. (Frankfurt am Main 2005), Klio 89, 514–516.

2006 (Hrsg. mit Michael Oberweis) Inszenierungen des Todes. Hinrichtung – Martyrium – Schändung, Berlin u. a. Alkaios und die Statere des Lyderkönigs, in: Robert Rollinger / Brigitte Truschnegg (Hrsgg.), Altertum und Mittelmeerraum. Die antike Welt diesseits und jenseits der Levante. Festschrift für Peter W. Haider zum 60. Geburtstag, Stuttgart, 43–52. Frauenbild und Geschlechterrollen bei Theophylaktos Simokates, in: Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hrsgg.), Frauen und Geschlechter. Bilder – Rollen – Realitäten in den Texten antiker Autoren zwischen Antike und Mittelalter, Wien u. a., 295–306. Späte Migranten. Das südliche Tyrrhenische Meer und die Griechen im 6. Jh. v. Chr., in: Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hrsgg.), „Trojaner sind wir gewesen“ – Migrationen in der antiken Welt, Stuttgart, 244–249.

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„Sie zeigten offen die Dolche …“ – Zum Widerstand und Martyrium gesetzestreuer Juden unter Herodes, in: Linda-Marie Günther / Michael Oberweis (Hrsgg.), Inszenierungen des Todes. Hinrichtung – Martyrium – Schändung, Berlin u. a., 53–62. Rez. Bernhard Smarczyk, Timoleon und die Neugründung von Syrakus (Göttingen 2003), Gnomon 78, 469–470. Rez. Glenn Markoe, Die Phönizier (Stuttgart 2003), Klio 88, 234–236.

2005 Herodes der Große, Darmstadt (2., durchgesehene und bibliogr. aktual. Aufl. 2012; italienische Übers. Erode il Grande, Rom 2007). Hannibal und Europa im aktuellen Geschichtsverständnis, Köln u. a. Rez. Andreas Hartmann / Michael Neumann (Hrsgg.), Mythen Europas (Regensburg 2004), HZ 280, 137–138.

2004 (Hrsg.) Olympia und seine Spiele. Kult – Konkurrenz – Kommerz, Berlin u. a. (Hrsg.) Die Wurzeln Europas in der Antike. Bildungsballast oder Orientierungswissen?, Berlin u. a. (Hrsg. mit Katja Gorbahn und Hans Kloft) Alte Geschichte und ihre Vermittlung. Schulen – Hochschulen – Medien, Münster. Karthager und Griechen – „Erzfeinde“?, in: Sabine Peters (Hrsg.), Hannibal ad Portas. Macht und Reichtum Karthagos (Ausstellungskatalog Badisches Landesmuseum Karlsruhe), Stuttgart, 81–87. Die römische Expansion und der Europa-Begriff im 2. Jh. v. Chr., in: Linda-Marie Günther (Hrsg.), Die Wurzeln Europas in der Antike. Bildungsballast oder Orientierungswissen?, Berlin u. a., 53–72. Alte Geschichte in den Bachelor- und Magisterstudiengängen Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, in: Katja Gorbahn / Linda-Marie Günther / Hans Kloft (Hrsgg.), Alte Geschichte und ihre Vermittlung. Schulen – Hochschulen – Medien, Münster, 77–95. Rez. Herbert Heftner, Der Aufstieg Roms (Regensburg 1997), Klio 86, 483–484.

2003 Hellenistische Könige als Götter: Das Beispiel der Ptolemäer, in: Gerhard Binder / Bernd Effe / Reinhold Glei (Hrsgg.), Gottmenschen. Konzepte existenzieller Grenzüberschreitungen im Altertum, Trier, 9–26. (mit Wolfgang Günther) Mars und Musica zwischen ‚chanson de geste‘ und Symphonie, in: Gerd Krumeich / Susanne Brandt (Hrsgg.), Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung, Köln u. a., 219–231.

2002 (Hrsg. mit Norbert Ehrhardt) Widerstand – Anpassung – Integration. Die griechische Staatenwelt und Rom. Festschrift für Jürgen Deininger zum 65. Geburtstag, Stuttgart. Die Inseln „zwischen Italien und Sizilien“ im römisch-karthagischen Frieden (241 v. Chr.), in: Mustapha Khanoussi / Paola Ruggeri / Cinzia Vismara (Hrsgg.), L’Africa romana. Lo spazio maritimo del mediterraneo occidentale: geografia storica ed economia (Africa Romana XIV), Rom, 145–150.

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Geschlechterrollen im Werk des Flavius Arrianus, in: Christoph Ulf / Robert Rollinger (Hrsgg.), Geschlechter – Frauen – Fremde Ethnien in antiker Historiographie, Theorie und Realität, Innsbruck u. a., 436–450. Griechische Bühnenkunst bei den römischen Siegesspielen des L. Anicius (166 v. Chr.) – Klamauk oder Parodie?, in: Norbert Ehrhardt / Linda-Marie Günther (Hrsgg.), Widerstand – Anpassung – Integration. Die griechische Staatenwelt und Rom. Festschrift für Jürgen Deininger zum 65. Geburtstag, Stuttgart, 121–133. Reisewege in der spätantiken Hagiographie, in: Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hrsgg.), Zu Wasser und zu Land. Verkehrswege in der antiken Welt, Stuttgart, 68–76. Helmut Berve. Professor in München 6.3.1943–12.12.1945, in: Jakob Seibert (Hrsg.), 100 Jahre Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1901–2001), Berlin, 69–105. Art. Syrakusai, DNP 12/2, 1159–1172. Rez. Véronique Krings, Carthage et les Grecs c. 580–489 av. J.-C. (Leiden 1998), Klio 84, 194–195. Rez. Irad Malkin, The Returns of Odysseus (Berkeley 1998), Klio 84, 193–194. Rez. Claudia Antonetti (Hrsg.), Il dinamismo della colonizzazione greca (Neapel 1997), Klio 84, 192–193. Rez. Sebastiana Consolo Langher, Siracusa e la Sicilia greca tra età arcaica ed alto ellenismo (Messina 1996), Gnomon 74, 368–369. Kleinere Artikel in DNP 12/1: Taurion (53); Teisippos (84); Telemnastos (93); Teuta (206–207); Theaidetos (249–250); Thearidas [1–3] (254); Demetrios von Pharos (939); Thebe [1] (295); Theodotos [5] (348); Theophiliskos (381); Theoxenos (405–406); Thoas [8] (466–467); Timoxenos [1] (602). Kleinere Artikel in DNP 12/2: Volux (325); Xanthippos [3–4] (602–603); Xenarchos [3] (608); Xenokleides [2–3] (618); Xenokles [7] (619); Xenon [6–8] (627); Xenophanes [2] (632); Xenophon [6] (643); Zarzas (696); Zeniketes (729); Zeuxippos [4] (792); Demotikon (939–940); Ethnikon (954).

2001 Sophoniba – eine Patriotin?, in: Klaus Geuß / Klaus Zimmermann (Hrsgg.), Punica – Libyca – Ptolemaica. Festschrift für Werner Huß, zum 65. Geburtstag dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen, Leuven u. a., 289–309. Art. Pyrrhos, DNP 10, 645–648. Art. Quinctius [I 14] T. Quinctius Flamininus, DNP 10, 709–711. Rez. Yann Le Bohec (Hrsg.), La Première Guerre Punique (Lyon 2001), BJ 201, 521–522. Rez. Attilio Mastrocinque, Studi sulle guerre Mitridatiche (Stuttgart 1999), HZ 273, 723–724. Kleinere Artikel in DNP 10: Polyaratos [2] (41); Polykrateia (69); Ptolemaios [53–54] (556); Pyrrhias (642); Rhodopis (996). Kleinere Artikel in DNP 11: Skerdilaidas (612); Söldnerkrieg (670); Sophoniba (735–736); Spendios (805); Sufeten (1089).

2000 Zur Metrologie der phönizischen Münzprägung, Annali 47, 111–141. Titus Quinctius Flamininus – Griechenfreund aus Gefühl oder Kalkül?, in: Karl-Joachim Hölkeskamp / Elke Stein-Hölkeskamp (Hrsgg.), Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der römischen Geschichte, München, 120–130. Reisende und Pilger in der nordafrikanischen Hagiographie, in: Mustapha Khanoussi / Paola Ruggeri / Cinzia Vismara (Hrsgg.), L’Africa romana XIII, Bd. 1, Rom, 259–263.

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Rez. Sarah B. Pomeroy, Families in Classical and Hellenistic Greece (Oxford 1997), Klio 82, 231–232. Kleinere Artikel in DNP 8: Meton [3] (108); Metrodoros [4] (134); Mikythion (163); Moericus (328); Morkos (399); Morzios (402); Myttones (653–654); Nearchos [3] (779); Neon [3–4] (828–829); Nestor [2] (864); Nikandros [2] (897–898); Nikodemos [2] (917); Nikon [3] (933); Nikostratos [7] (941); Onomastos (1218). Kleinere Artikel in DNP 9: Pamphilidas (213); Pantauchos [1–2] (262–263); Pausistratos (450–451); Perseus [2] (614–615); Phaineas (718–719); Phileas [2] (783); Philinos [6] (792); Philippos [23] (808); Philokles [3] (830); Philokrates [3] (832); Philopoimen (859–860); Pleuratos [1–4] (1133–1134).

1999 Caesar und die Seeräuber – eine Quellenanalyse, Chiron 29, 321–337. Carthaginian Parties during the Punic Wars in Modern German Historiography, MHR 14, 18–30. Alles von überall her … – Handel und Tryphe bei Polykrates von Samos, MBAH 18, 48–56. Zum Quellenwert der Hagiographie für die spätantike Wirtschaft, Laverna 10, 1–16. Geschlechterrollen bei Ammianus Marcellinus, in: Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hrsgg.), Geschlechterrollen und Frauenbild in der Perspektive antiker Autoren, Innsbruck u. a., 57–86. Rez. Luigi Loreto, La grande insurrezione libica contro Cartagine del 241–237 a. C. (Rom 1995), Klio 81, 252–253. Rez. Lorenzo Braccesi (Hrsg.), Hesperia. Studi sulla grecità di Occidente (Rom 1995), Klio 81, 501–502. Kleinere Artikel in DNP 6: Kallikrates [11] (186); Karthalo [1–5] (301–302); Kephisodoros [4] (424); Kleuas (602); Kritolaos [2] (855–856); Kykliadas (961); Lasthenes [1–3] (1160); Lattabos (1182). Kleinere Artikel in DNP 7: Leonidas [6] (59); Leontios [2] (64); Lydiadas (547); Lykiskos [2–3] (564); Lykortas (571–572); Lykos [11] (574); Lysandridas [2] (596); Machanidas (621–622); Mago [1–11] (699–702); Magonos (704); Maharbal [1–2] (705); Malchos [1] (766); Mandonius (800); Mathos (1024); Medon [7] (1125); Megaleas (1137); Megalophanes (1137); Meleagros [6–7] (1179–1180); Menalkidas (1214); Menekrates [9] (1230); Menippos [2], 1243.

1998 Das Hochwasser bei Helenopolis (6. Jh. n. Chr.), in: Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hrsgg.), Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 6, 1996: „Naturkatastrophen in der antiken Welt“, Stuttgart, 105–117. Der ländliche Alltag im Spiegel der nordafrikanischen Hagiographie, in: Mustapha Khanoussi / Paola Ruggeri / Cinzia Vismara (Hrsgg.), L’Africa romana XII, Bd. 1, 413–417. Art. Hannibal [4], DNP 5, 152–154. Rez. James B. Rives, Religion and Authority in Roman Carthage from Augustus to Constantine (Oxford 1995), Klio 80, 273. Rez. Maria Caccamo Caltabiano (Hrsg.), La Sicilia tra L’Egitto e Roma (Messina 1995), Klio 80, 536–537. Kleinere Artikel in DNP 4: Eudamos [2–3] (217); Eurykleides (298–299); Genthios (921); Geskon [1–5] (1017–1018). Kleinere Artikel in DNP 5: Halkyoneus (96); Hamilkar [1–6] (104–105); Hampsicora (106); Hannibal [1–3] (151–152); Hanno [2–12] (155–157); Hasdrubal [1–7] (172–174); Hegesilochos [2] (237); Herakleides [11–12] (272); Himilkon [1–6] (563–564) Hippias [3–4] (576); Hippokrates [8] (600); Indibilis (969–970); Ion [3] (1076).

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Schriftenverzeichnis …

1997 Die ‚Leptis-Magna-Affäre‘ bei Ammianus Marcellinus (XXVIII 6), Klio 79, 444–458. Roscia – Aristokratentochter und Bischofskind im spätantiken Gallien (zu Sid. Ap. ep. 5,16,5), Laverna 8, 48–53. Sappho, in: Alexandra Busch / Dirck Linck (Hrsgg.), Frauenliebe – Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts, Stuttgart/Weimar, 391–396. Anastasius (491–518), in: Manfred Clauss (Hrsg.), Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, München, 418–424. Kleinere Artikel in DNP 2: Astymedes (140–141); Autaritos (345); Balari (417); Barkiden (450); Bomilkar [1–4] (741); Bostar [1–4] (752); Brachylles (760). Kleinere Artikel in DNP 3: Dasius [1–3] (329); Deinokrates [2] (370); Demaratos [6] (418); Demetrios [5] (431); Diaios (511); Diogenes [1, 3] (595); Echedemos (865); Epikrates [3] (1121); Epikydes [2] (1140).

1996 Eine familienstolze Hydrophoren-Mutter: Die Tantenschaft der Julia Hostilia Rheso (IvDidyma 372), Tyche 11, 113–121. Ein Stephanus-Wunder im Weinkeller, MBAH 15, 19–29. Die Phönizier und die Entstehung der griechischen ‚Polis‘, in: Enrico Acquaro (Hrsg.), Alle soglie della classicità. Il mediterraneo tra tradizione e innovazione. Studi in onore di Sabatino Moscati. Bd. 2: Archeologia e arte, Pisa/Rom, 789–799. Die Austorianer als Belagerer tripolitanischer Städte (um 365 n. Chr.)?, in: Mustapha Khanoussi / Paola Ruggeri / Cinzia Vismara (Hrsgg.), L’Africa romana XI, Bd. 3, Ozieri, 1643–1650. Rez. Nino Luraghi, Tirannidi archaiche in Sicilia e Magna Grecia (Firenze 1994), Klio 78, 244–245. Rez. Marta Sordi, La ‚Dynasteia‘ in Occidente (Padova 1992), Gnomon 68, 373–375. Rez. Klaus Geus, Prosopographie der literarisch bezeugten Karthager (Leuven 1994), HZ 262, 535–536. Rez. Richard Hawley / Barbara Levick (Hrsgg.), Women in Antiquity (London 1995), HZ 263, 734–735. Kleinere Artikel in DNP 1: Abantidas (5); Adherbal [1–3] (111–112); Agelaos [7] (246); Agesilochos (255); Agron [3] (300); Akesimbrotos (399); Alexamenos (453); Alexandros [10, 12] (475–476); Amynandros (635); Anaxidamos [2–3] (670–671); Andriskos [1] (688); Andronikos [3] (694); Androsthenes [2] (696); Apelles [1–2] (828); Aratos [2–3] (956); Archedamos (983); Archon [2] (1025); Aristainos (1087); Aristippos [1–2] (1103); Aristodemos [6] (1108); Aristomachos [5] (1115); Aristoteles [2–4] (1134); Aristotimos (1152).

1995 Kappadokien, die seleukidische Heiratspolitik und die Rolle der Antiochis, Tochter Antiochos’ III., in: Engelbert Winter (Hrsg.), Studien zum antiken Kleinasien III, Bonn, 47–61. L. Aemilius Paullus und ‚sein‘ Pfeilerdenkmal in Delphi, in: Charlotte Schubert / Kai Brodersen (Hrsgg.), Rom und der Griechische Osten. Festschrift für Hatto H. Schmitt zum 65. Geburtstag, dargebracht von Schülern, Freunden und Münchener Kollegen, Stuttgart, 81–85. Die Karthager: Phönizier im westlichen Mittelmeer, in: Christof Dipper / Rudolf Hiestand (Hrsgg.), Siedler-Identität. Neun Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main, 25–43.

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Rez. Kathryn Lomas, Rome and the Western Greeks 350 B. C.–200 A. D. (London 1993), HZ 260, 843–844. Rez. Erich S. Gruen, Culture and National Identity in Republican Rome (Ithaca 1992), Gymnasium 102, 93–94.

1994 Aspasia und Perikles: Rufmord im klassischen Athen, in: Maria H. Dettenhofer (Hrsg.), Reine Männersache? Frauen in Männerdomänen der antiken Welt, Köln u. a., 41–67. Identità civile e patronato spirituale: cittadini cristiani nell’Africa tardo-imperiale, in: Attilio Mastino / Paola Ruggeri (Hrsgg.), L’Africa romana X, Sassari, 769–777. Rez. Erich S. Gruen, Studies in Greek Culture and Roman Policy (Leiden 1990), Gnomon 66, 131–134. Rez. Paul Cartledge / Antony Spawforth, Hellenistic and Roman Sparta (London 1989), HZ 258, 151–152. Rez. Roger C. Blockley, East Roman Foreign Policy (Leeds 1992), ByzZ 86/87, 139–141. Rez. Shlomo Berger, Revolution and Society in Greek Sicily and Southern Italy (Stuttgart 1992), HZ 259, 447–448.

1993 Witwen in der griechischen Antike – zwischen Oikos und Polis, Historia 42, 308–325. Die karthagische Aristokratie und ihre Überseepolitik im 6. und 5. Jh. v. Chr., Klio 75, 76–84. Rez. Paul Cartledge (Hrsg.), Nomos. Essays in Athenian Law, Politics and Society (Cambridge 1990), HZ 257, 722–724. Rez. Paolo Xella, Baal Hammon (Rom 1991), ZA 83, 297–298.

1992 Schweine für Uzalis: Zur Interpretation einer Wundertat des Heiligen Stephanus, MBAH 11, 56–69. Gallicus sive Anticus: Zu einem Triumphaltitel Justinians I., Tyche 7, 89–91. Zur Familien- und Haushaltsstruktur im hellenistischen Kleinasien, in: Anke Schütte (Hrsg.), Studien zum antiken Kleinasien II, Bonn, 23–42. Rez. Michael Maas, John Lydos and the Roman Past (London 1992), ByzZ 84/85, 129–130. Rez. Dankward Vollmer, Symploke. Das Übergreifen der römischen Expansion auf den griechischen Osten (Stuttgart 1990), Gnomon 62, 262–265.

1991 Nordafrika als Wirtschaftsfaktor im Oströmischen Reich unter Justinian I., in: Attilio Mastino (Hrsg.), L’Africa romana VIII, Sassari, 365–371. Rez. Miccichè, Calogero, Mesogheia. Archeologia e storia della Sicilia centro-meridionale dal VII al IV secolo a. C. (Caltanissetta 1989), Gnomon 63, 568–569.

1990 Cornelia und Ptolemaios VIII. Zur Historizität des Heiratsantrages (Plut. TG 1,3), Historia 39, 124–128.

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Schriftenverzeichnis …

1989 Prava calliditas. Hellenistische Monarchen und Rom (215–63 v. Chr.), unpubl. Habil.-Schr. Freiburg. Gladiatoren beim Fest Antiochos’ IV. zu Daphne (166 v. Chr.)?, Hermes 117, 250–252. Hannibal im Exil: Seine antirömische Agitation und die römische Gegnerwahrnehmung, in: Hubert Devijver / Eduard Lipinski (Hrsgg.), Punic Wars, Leuven, 241–250. Rez. William Reiter, Aemilius Paullus. Conqueror of Greece (London u. a. 1988), Gnomon 61, 447–448.

1988 Der Kaiser als Märchenprinz. Brautschau und Heiratspolitik in Konstantinopel 395–882, JÖByz 38, 33–52.

1987 Rhosica vasa am Hof Kleopatras VII., MBAH 6, 116–121. Die Göttin mit der Tiara, SNR 66, 47–61. Rez. Holger Sonnabend: Fremdenbild und Politik. Vorstellungen der Römer von Ägypten und dem Partherreich in der späten Republik und frühen Kaiserzeit (Frankfurt 1986), Gnomon 59, 559–561.

1986 Rez. Giovanna de Sensi Sestito, La Calabria in età arcaica e classica (Gangemi 1984), Gnomon 58, 660–662.

1985 Theokrits XVI. Idylle und die Politik Hierons II. von Syrakus, Historia 34, 117–125. Zur Rolle Sardiniens in der karthagischen Handelspolitik im 4. Jh. v. Chr., MBAH 4, 65–76.

1983 Karthago und Sizilien. Die Entstehung und Gestaltung der Epikratie auf dem Hintergrund der Beziehungen der Karthager zu den Griechen und den nichtgriechischen Völkern Siziliens (6.–3. Jh. v. Chr.), Hildesheim/Zürich.

1982 Lykos und Halykos, Chiron 12, 211–216.

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Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos Jan-Marc Henke

1. Einleitung Im Jahre 2009 deckten die neuen Grabungen im Heraion von Samos unter Leitung von WolfDietrich Niemeier neben bisher unbekannten prähistorischen Phasen unter den Altären I bis III noch unberührte Ausläufer von Deponien an Heiligtumsabfällen östlich der Schnitte auf, die zuletzt von Hans Walter 1963 und 1964 entlang der Fundamente des sogenannten Rhoikos-Altares geöffnet worden waren (Abb. 1)1. Damals verband Walter die äußerst reichen Fundschichten mit dem Kultgeschehen der Altäre V und VI vom 8. Jh. bis 570/60 v. Chr.2. Er nahm die ihm weitestgehend homogen erscheinenden Schichten als sogenannte Fundgruppe XL in mehreren 10 cm hohen Abhüben aus und grenzte einzelne Fundregionen horizontal voneinander ab3. Eine schärfere Unterteilung fiel ihm nicht zuletzt durch den hohen Grundwasserspiegel schwer. Der sorgfältigen Neuuntersuchung dieser Fundgruppe waren die anschließenden Kampagnen von 2010 bis 2013 gewidmet. Die neuen Sondierungen erkannten in der sogenannten Fundgruppe XL eine Folge unterschiedlicher Deponien und Deponierung von Überresten des Kultbetriebs, die in mehreren Intervallen an den östlichen Ausläufern des Altarplatzes über einer kräftigen Sedimentschicht angelegt worden waren. Die älteste dieser Deponien wurde nach aktuellem Stand der Aufarbeitung gegen 640/30 oder 630/20 v. Chr. eingebracht bzw. geschlossen, die zweite vermutlich gegen Ende des 7. Jhs. v. Chr. und die dritte Deponie um ca. 590/70 v. Chr. Die aufgedeckten Deponien und Deponierungen zeigen charakteristische Unterschiede in der Erhaltung, der Verteilung und der Zusammensetzung der in ihnen enthaltenen Überreste, die in Zukunft unterschiedliche Interpretationen zum Ablauf und zu den Hintergründen ihrer Einbringung erlauben könnten. Zu den Funden dieser Deponien gehören Fragmente von mindestens drei früheisenzeitlichen Klarglasschalen, von denen zwei – Phiale A und B – mit diesem Beitrag erstmalig näher besprochen werden.

1 Homann-Wedeking 1964, 220–226; Homann-Wedeking 1965, 428–439; vgl. auch Henke (im Druck 1); Henke (im Druck 2). 2 Buschor/Schleif 1933, 145–150 nahm sieben Vorgängeraltäre an, doch konnte die Existenz von Altar VII (Buschor/Schleif 1933, 149–150) durch die Grabungen von Walter nicht bestätigt werden (Niemeier 2010, 100 Anm. 2). 3 Schmidt 1968, 75–78, „5. Schuttschicht östlich und südlich des Rhoikos-Altares“ unterteilte die Fundkontexte zyprischer Terrakotten und Kalksteinstatuetten östlich und südlich des monumentalen Altares (Rhoikos-Altar) gemäß Walters Beschreibungen.

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2. Der Fundkontext der Phialen A und B Die Fragmente der Glasschalen stammen aus der obersten und jüngsten Deponie an Heiligtumsabfällen, die nach der Datierung der korinthischen Keramik offensichtlich gegen 590/70 angelegt worden war (Abb. 2 Schicht b; Abb. 3). Sie beinhaltete verschiedene Gattungen ausrangierter Votivweihungen und das Opferbesteck (Abb. 3 graue Kreuze4), die Überreste von Kultmahlzeiten, wie z. B. Samen und Kerne, die Knochen der verzehrten Opfertiere, überwiegend Rinder, aber auch Schafe, Ziegen sowie wenige Schweine, und schließlich Lampen sowie das für die Mahlzeiten verwendete Geschirr (Abb. 3 schwarze Kreuze5). Wie auf Abb. 3 erkennbar, stieß die Grabung im südlichen und nördlichen Grabungsbereich auf zwei auffällige Fundkonzentrationen, die sich mit den Einträgen der Grabungstagebücher von Hans Walter aus den Jahren 1963 und 1964 decken. Obwohl sich die beiden Konzentrationen besonders markant absondern, gehören beide zu der gleichen Schicht an Heiligtumsabfällen. Der Eindruck wird durch die einheitliche Zurichtung bzw. Fragmentierung der Votive wie auch das Vorkommen an bestimmten Votivgattungen bestärkt. Beides ändert sich in den darunter anschließenden älteren Deponien. Die meisten der Objekte sind zu sehr kleinen Fragmenten zerschlagen. Lediglich zwei korinthische Salbölgefäße sind annähernd vollständig erhalten. Ansonsten hat sich bisher so gut wie keine weitere Anpassung innerhalb der gesamten Deponie finden lassen. Ausnahme bilden natürlich Fragmente, die erst während oder nach ihrer Einbringung in diese Deponie an Ort und Stelle in weitere Teile zerbrachen. Dies gilt interessanterweise auch innerhalb von Gattungsakkumulationen, zu denen die Fragmente der hier behandelten Glasphialen gehören. Die 35 Einzelfragmente, die sicher den beiden Phialen A und B zugewiesen werden können, sind Teil von insgesamt 49 Schalenfragmenten aus farblosem und zum Teil leicht grünlich gefärbtem Klarglas, welche sich mit zwei Ausnahmen in dichter Lage zueinander fanden (Abb. 4). Offensichtlich sind sie gemeinsam mittels eines Behälters, eventuell eines Korbes, an ihren Fundort gebracht und abgekippt worden. Neben den Phialen A und B fanden sich noch Reste einer weiteren flachen und unprofilierten Schale, die hier nicht weiter besprochen wird. Nur ein Fragment der Phiale B stammt aus der Füllung eines rezenten Grabens, der die Oberfläche der Deponie von 590/70 v. Chr. unmittelbar westlich der Fundstelle der Glasfragmente leicht verletzte. Ein weiterer unspezifischer Klarglassplitter stammt aus einer Schlämmprobe der gleichen Fundschicht, die unmittelbar nördlich der Fragmentansammlung genommen wurde. Nur ein kleiner Teil des jeweiligen Gefäßkörpers ist durch die Fragmente überliefert. In wenigen Fällen ließen sich einige Fragmente Bruch an Bruch zusammensetzen. Offensichtlich wurden die Schalen an einer anderen Stelle – vielleicht direkt am Altar – zerschlagen und die Fragmente anschließend in unterschiedliche Behälter gefüllt und zum endgültigen Ablagerungsort gebracht. Da sich im gesamten Grabungsareal keine ähnlichen Glasfunde oder weitere Teile der Schalen fanden und auch von anderen Stellen des intensiv 4 Die in Abb. 3 angegebenen grauen Kreuze beziehen sich auf alle weiteren Kleinfunde, die nicht zur sogenannten Kultkeramik, zu Lampen sowie den archäozoologischen und archäobotanischen Funden gehören. Neben verschiedenen Objektweihungen befinden sich auch die angetroffenen Reste des Opferbestecks darunter, die allerdings nur einen sehr geringen Anteil ausmachen. 5 Die in der Abbildung angegebenen schwarzen Kreuze für die aufgefundenen Keramikfragmente beziehen sich auf alle Rand-, Henkel-, Boden- und diagnostischen Wandfragmente. Undiagnostische Wandfragmente sind nicht darunter.

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untersuchten Heiligtums bisher keine solchen Funde bekannt sind, muss die Frage offen bleiben, wohin der Rest der Schalen nach ihrer Zerstörung gelangte. Auch in dem Fall, dass es sich nicht um Gattungskonzentrationen handelt, bleibt der Eindruck bestehen, dass die Votive an einem anderen Ort zerschlagen und anschließend vermutlich in Körben zum Ort ihrer endgültigen Deponierung gebracht wurden. Sie wurden überwiegend in engen Nestern gefunden. In diesem Fall lagen die größten Fragmente immer oben auf, als seien sie als erstes in die Körbe geraten, gefolgt von kleineren Brocken und Bröseln, mit denen die Behälter aufgefüllt wurden. Durch das Auskippen der Körbe kehrte sich die Folge einfach um. Interessanterweise fanden sich Überreste von Opferasche neben einer mit der Deponie zu verbindenden Aschengrube ausschließlich innerhalb dieser Nester, als sei die Asche mit in die Körbe gefüllt worden. In den unteren Deponien fand sich demgegenüber keine Opferasche. Das Spektrum der innerhalb dieser Deponie beseitigten Votivgattungen ist gegenüber dem aus dem Heraion vertrauten Bild begrenzt. Die mit ca. 1382 Fragmenten größte Materialgruppe sind figürliche Fayencen. Auch wenn es sich bei den meisten Fragmenten um amorphe Bruchstücke handelt, gliedern sich die Funde ganz dem heraionstypischen Bild an großformatigen Statuetten ohne Aufhängering der gegen 630 v. Chr. einsetzenden sogenannten Gruppe „Phase II, Section II“ nach Klassifikation von Virginia Webb ein6. Dabei machen Falkendarstellungen den größten Anteil aus. Den figürlichen Fayencen schließt sich eine erhebliche Zahl von Fayenceperlen an. Als zweitgrößte Materialgruppe gemessen an der Fragmentzahl beinhaltete die Deponie Straußeneier. Schließlich folgen ionische wie zyprische Terrakotten und Fragmente korinthischer Salbölgefäße. Kleinere Gruppen umfassen zyprische Kalksteinstatuetten, Edelmetalle – zumeist Schmuck und Applikationen, aber auch Elektronmünzen –, Lapislazulieinlagen von Kästchen, Gussformen für Schmuck und Roherze wie Malachit und Azurit. Hinzu treten exzeptionelle Einzelstücke, wie ein Miniaturkessel aus Kalkstein mit der Dadikationsinschrift eines gewissen „Poses“, ein Kesselträgerkapitell mit einem umlaufend eingeritzten Pantherfries7 oder ein phönizischer ägyptisierender Siegelring aus Silber mit der Darstellung dreier Gottheiten als Glückssymbol8. Bedeutende Elfenbeinschnitzereien – mit Ausnahme zweier Plättchen – oder figürliche Bronzen fehlen in dieser oberen Deponie. Demgegenüber fehlen in den unteren Deponien Straußeneier fast vollständig, während figürliche Fayencen zumindest mit ca. 40 Fragmenten vertreten sind. Dieser Umstand könnte von chronologischer Relevanz für die beiden Votivgattungen sein.

6 Webb 1978, 7; für die Fayencen der Altgrabungen aus dem Heraion von Samos vgl. Webb 2016. 7 Jahresberichte 2011, 101 fig. 24. 8 Henke (im Druck 1) Abb. 7.

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3. Beschreibung und typologische Einordnung der Phialen A und B 3.1 Phiale A (Mesomphalide Buckelschale) 3.1.1 Zur Rekonstruktion Von den 35 sicher bestimmbaren Fragmenten zweier Buckelphialen lassen sich 19 Fragmente einer allem Anschein nach mesomphaliden Buckelschale zuweisen (Phiale A, Abb. 5; 7). Mehrere Fragmente ließen sich Bruch an Bruch zusammensetzen, so dass sich die 19 Einzelfragmente über 11 Katalognummern verteilen (Abb. 5). Die Rekonstruktion des exakten Durchmessers und somit auch der ursprünglichen Buckelzahl bereitet einige Schwierigkeiten, da die Schale in sich verzogen war und keinen gleichmäßig gekrümmten Randverlauf besaß. Besonders anschaulich wird dieses an den Bodenfragmenten Kat. 1 und 3, die den Übergang zum zentralen Omphalos zeigen. Bei den lediglich in ihren spitzen unteren Enden erhaltenen zwei Buckeln ist nur eine der Buckelachsen annähernd radial zum Omphalos ausgerichtet. Die andere Buckelachse läuft knapp am äußeren Omphaloskontur vorbei. Die abweichende Ausrichtung der Buckel erschwert die Rekonstruktion erheblich, da die Phiale offensichtlich nicht völlig symmetrisch war. Der mit Hilfe der erhaltenen Bruchstücke ermittelte äußere Randdurchmesser erlaubt einen Spielraum zwischen 15 und 16 cm. Unter der Voraussetzung einer einigermaßen gleichmäßigen Verteilung der Buckel über den Gefäßkörper wurde er für die Rekonstruktionszeichnung auf 15,4 cm festgelegt. In diesem Fall ergäbe sich eine Anzahl von zehn Buckeln. Die erhaltenen Omphalosrudimente gestatten einen Durchmesser zwischen drei und vier Zentimetern auf der Schaleninnenseite. Bei dem oben gewählten Randdurchmesser und einer gleichmäßigen Verteilung der Buckel ergäbe sich ein Omphalosdurchmesser von ca. 3,5 cm. Für die Interpretation der Rekonstruktionszeichnung ist unbedingt zu berücksichtigen, dass die Schale idealisiert dargestellt ist, um zumindest einen gewissen Eindruck von ihrem allgemeinen Erscheinungsbild zu geben. So sind alle dargestellten sechs Buckelachsen radial auf das Schalenzentrum ausgerichtet. Wie oben beschrieben, war dieses aber nicht bei allen Buckeln der Fall. Hinzu tritt, dass die Wandungsstärke unterschiedlich variiert. Damit ist nicht nur eine Variation zwischen den einzelnen Körperregionen gemeint, wie dem Rand, dem Omphalos, den Buckeln und den Stegen in ihren Zwischenräumen, sondern auch innerhalb der gleichen Körperregion. Wie weiter unten erklärt, kann dieses sehr wahrscheinlich auf den Produktionsvorgang zurückgeführt werden. Des Weiteren deutet ein geringfügig voneinander abweichender Wandungsverlauf an den verschiedenen Fragmenten darauf hin, dass das Volumen und der Konturverlauf der einzelnen Buckel nicht völlig identisch waren. In der Rekonstruktionszeichnung sind lediglich die beiden Fragmente Kat. 1 und 2 mit ihren Umrissen separat hervorgehoben. 3.1.2 Formbeschreibung und typologische Einordnung Nach den oben beschriebenen Umständen lässt sich die Phiale A mit einem Durchmesser von ca. 15,4 cm und einer Höhe von ca. 4,9 cm rekonstruieren. Die Wandungsstärke schwankt am eigentlichen Schalenkörper zwischen 0,2 cm und 0,4 cm. Am unteren Randansatz werden gelegentlich auch fast 0,5 cm erreicht. Im Bereich der stärksten Buckelwölbung liegt die Wandungsstärke demgegenüber teilweise sogar nur bei 0,1 cm.

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Die Phiale besitzt einen um die 1,8 cm hohen, schwach diagonal nach außen geneigten Rand mit verdickter Lippe und konkav geschwungener Außenseite. Die Innenseite verläuft demgegenüber fast geradlinig schwach diagonal. Die Oberseite der Lippe ist offenbar nachträglich gerade horizontal abgeschliffen worden, so dass an der Ausrichtung des Randes kaum Zweifel bestehen kann. Von der geraden Oberkante fällt die Lippe auf einem kurzen, maximal einen Millimeter hohen Stück nach innen und außen schräg ab. Am unteren Ende dieser Schräge bildet sie auf der Außenseite einen feinen, nur bei genauer Betrachtung erkennbaren Grat. Darunter zieht sich die verdickte Lippe in leicht konvexem Schwung zur konkaven Kehlung der Randaußenseite wieder zurück. Der untere Randansatz ist auf der Außenseite durch einen markanten Grat vom lediglich flach geschwungenen, in seiner Wölbung eher als halblinsenförmig zu beschreibenden Schalenköper abgesetzt. Da die Wandung auf Höhe dieses Grates wesentlich stärker ist, bricht der Innenkontur vom flacher gewölbten Schalenboden steiler als auf der Außenseite zum Rand um. Auf dem Boden erhob sich ein verhältnismäßig kleiner Omphalos von ca. 3,5 cm Durchmesser. Lediglich sein unterer Ansatz ist in wenigen Bereichen erhalten geblieben, so dass keine genaueren Angaben zu seiner Höhe und Gestalt gemacht werden können. Auch wenn die Wandung vom Schalenboden zum Omphalos hin relativ steil umbricht, fehlen weitere optische Zäsuren, wie Grate oder Ritzlinien, die den Omphaloskontur zusätzlich vom Boden abgrenzen. Da die zum Omphalos aufsteigende Wandung an Stärke zunimmt, könnte der obere Omphalosabschluss erheblich verdickt gewesen sein. In einem ca. zwei Zentimeter weiten Abstand zum Omphalosansatz gruppieren sich die unteren spitzen Enden der tropfenförmig nach oben gerichteten Buckel um den Omphalos herum. Wie oben bereits beschrieben, waren offenbar nicht alle Buckelachsen völlig radial auf den Omphalos ausgerichtet. Soweit erhalten, treten die Buckel bis zu drei Millimeter über den oberen Randkontur nach außen hinaus. Ihr oberer Abschluss stößt direkt an den Grat des unteren Randansatzes und überschneidet diesen manchmal leicht. Bei den erhaltenen Bruchstücken lässt sich der geringste Abstand, bis zu dem sich die Buckel einander annähern, für die Außenseite mit ca. 0,8 cm bis 0,9 cm, für die Innenseite mit ca. 1 cm bis 1,1 cm ermitteln. Keiner der Buckel ist vollständig erhalten. Ihre horizontale Tiefe bzw. ihre Länge dürfte um die 4,3 cm, ihre größte Breite auf der Außenseite um die 2,8 cm, auf der Innenseite vermutlich um die 2,6 cm betragen haben. Von der Spitze der Buckel ausgehend zeichnet sich ein flacher Achsengrat über eine Länge von ca. 1,8 cm auf der Außen- und Innenseite der Buckel ab. Er verliert sich nach oben mit der sehr plastischen Tropfenwölbung der Buckel. Im Vergleich mit früheisenzeitlichen Bronzeschalen lässt sich die Phiale A der Gruppe der Buckelschalen mit gegenständigen Buckeln und Omphalos bzw. Mittelknopf nach Heinz Luschey zuweisen, obwohl sie sich in einigen wichtigen Details von diesen unterscheidet 9. Nach Luschey besitzt die Phiale mit gegenständigen Buckeln in der Regel tropfenförmig nach unten gerichtete Buckel, die mit gegenläufig nach oben gerichteten Buckeln abwechseln 10. Dabei können Letztere mit zusätzlichen kleinen Buckeln unter dem Rand ein dreigliedriges, an einen Blütenkelche erinnerndes Ornament bilden. Die Ränder dieser Bronzeschalen sind niedrig und schwingen zumeist leicht trichterförmig nach oben aus. Auf dem Boden befindet sich ein Mittelknopf, der sich offenbar erst bei etwas späteren Exemplaren zu einem auf der 9 Luschey 1939, 41–60. 10 Hasserodt 2009, 198–199.

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Außenseite geöffneten Omphalos entwickelt. Innerhalb dieser Gruppe steht die Phiale A den frühen Formen aus dem Depotfund aus Assur im Vorderasiatischen Museum in Berlin am nächsten, bei denen die tropfenförmig nach oben gerichteten Buckel in Größe und Volumen das Erscheinungsbild dominieren11. Zu ihrem spitzen Ende hin zeigen sie einen deutlichen Grat. Zwischen den größeren Buckeln sitzen schmalere gegenläufig gerichtete Buckel, deren spitze Enden unter dem Rand blütenkelchähnlich gestaltet sind. Auf der Unterseite erweckt das Ornament daher den Eindruck eines Strahlenkranzes. Abweichend zu den genannten Vergleichen zeigt die Phiale A nur die tropfenförmig nach oben gerichteten Buckel. Alle weiteren Buckelornamente fehlen. Stattdessen bleibt die Wandung in diesen Bereichen flach. Ferner ist die vergleichsweise senkrechte Stellung des konkaven, nach oben nur schwach ausschwingenden Randes der Phiale A für bronzene Buckelschalen eher ungewöhnlich. Mit neun, elf und zwölf nach oben gerichteten Buckeln kommen die Bronzeschalen aus dem Depotfund aus Assur der Buckelzahl der Phiale A allerdings sehr nahe. In den Proportionen von Rand und Schalenkörper sowie der Randstellung, der Volumenwirkung der Buckel und der Weite, mit der sie aus dem Schalenkörper hervorschwellen, scheint die Phiale A mit der Bronzeschale Inv. 12325 1 aus Assur am besten vergleichbar zu sein12. Allerdings variiert das Verhältnis von Höhe und Durchmesser. Bei der Schale aus Assur beträgt es 1:3,8, bei der Phiale A 1:3,1. Die Phiale A kann nicht Luscheys Gruppe der Phialen mit einreihigen Buckeln zugewiesen werden, da die Buckel bei dieser Gruppe wesentlich weiter auseinander stehen, so dass Raum für weitere nicht selten figürliche Ornamente besteht 13. Zweifelsfrei gehört sie auch nicht in die Gruppe der Zungenphialen, da sich die Zungen in der Regel stabähnlich über den gesamten Gefäßkörper ausbreiten und sich ihre unteren schmaleren Enden im Gegensatz zu den Spitzen tropfenförmigen Buckeln nicht wieder oder nur unwesentlich voneinander entfernen14. In der Seitenansicht erinnert die Phiale A auf Grund der fehlenden Zwickelornamente zwischen den oberen Buckelenden aber durchaus an Zungenphialen. 3.1.3 Materialbeschreibung, Herstellung und technische Besonderheiten Die Phiale A besteht aus farblosem Klarglas mit zahllosen kleinen Lufteinschlüssen. Viele dieser Einschlüsse öffnen sich zu beiden Seiten der Wandung, so dass sich die Oberfläche rau anfühlt. Das Glas zeigt keine erkennbaren Spuren von Korrosion oder anderen chemischen Zerfallsprozessen. Für die mesomphalide Glasphiale aus dem Tumulus P in Gordion und weitere ähnliche Schalen aus Nimrud schlug Axel von Saldern eine Herstellung mit zwei Matrizen für die Außen- und Innenseite vor15. Nach von Saldern wurde bei diesem Herstellungsverfahren gemahlenes Glas zwischen die Matrizen eingebracht und langsam im Ofen geschmolzen. Nach dem Abkühlen wäre das Objekt dann in Kaltarbeit nachbearbeitet worden. Auch das Wachsausschmelzverfahren, wie es beim Bronzeguss angewandt wurde, hielt von Saldern für möglich. Dann wäre bereits geschmolzenes Glas in die Form hineingegossen worden, welches 11 12 13 14 15

Luschey 1939, Abb. 14 a–17 c. Luschey 1939, Abb. 16 a–16 c. Luschey 1939, 61–76. Luschey 1939, 76–95. Von Saldern 2004, 53–54.

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das schmelzende und herauslaufende Wachs langsam ersetzte. Auch für die Phiale A lässt sich eine Zweischalentechnik in Erwägung ziehen. Auf diese Weise ließe sich der leichte Versatz der plastischen Ornamente auf beiden Seiten plausibel erklären. So sind die spitzen unteren Enden und die von ihnen ausgehenden Grate der tropfenförmigen Buckel minimal entlang des Kreisbogens gegeneinander verschoben. Demnach saßen die beiden Formteile nicht exakt übereinander. Die variierende Wandungsstärke innerhalb der gleichen Körperregionen könnte ebenfalls durch die gegeneinander verschobenen Formen zu begründen sein. Die steile Randstellung und die darunter weit nach außen drängenden Buckel der Phiale A lassen es aber kaum zu, dass zwei vorgefertigte, starre Matrizen nachträglich ineinandergeschoben hätten werden können, von denen die Innenschale ebenfalls weit unter dem Rand auslud, wie es bei der Phiale A der Fall gewesen sein muss. Daher ist zu überlegen, ob bei der Phiale A nicht doch das Wachsausschmelzverfahren hätte angewandt werden können. Die Phiale A muss bereits vor dem endgültigen Abkühlen und Erstarren des Glases aus ihrer Form herausgenommen worden sein. Alle erhaltenen Fragmente zeigen wahllos in den Gefäßkörper eingebrachte Schnitte, die die Wandung vollständig durchstoßen. Sie wurden mit einem flachen, einen Millimeter starken Gegenstand – vermutlich einem Messer – ausgeführt. Das Glas kann zu dieser Zeit nicht ausgehärtet gewesen sein. Die Form und Position der Schnitte dürfte auch gegen eine Interpretation als nicht beseitigte Öffnungen von Abstandhaltern zwischen den beiden Matrizen sprechen, wie sie beim Wachsauschmelzverfahren für größere Objekte beim Bronzeguss verwendet wurden. Auch ein nachträglicher Zerfallsprozess oder die Deutung als übergroße Lufteinschlüsse dürfte bei der gleichmäßigen Form und Stärke der Öffnungen auszuschließen sein. Demnach konnte die Schale nach ihrer Fertigstellung keine Flüssigkeit dauerhaft halten. Entweder war das unregelmäßige Entweichen der Flüssigkeit im Rahmen eines besonderen Spenderituals intendiert oder aber – was bei der Wahllosigkeit der Schnitte wahrscheinlicher sein dürfte – die Schale war direkt als Votiv bestimmt und sollte niemals einer praktischen Funktion nachkommen. Dann wären die Schnitte unter Umständen als sofortiges Unbrauchbarmachen der Phiale A für jegliche anderweitige Nutzung zu interpretieren. Die Öffnungen bereiten allerdings keine größeren Probleme für die Nutzung der Schale als Räuchergefäß, wie weiter unten noch zu diskutieren sein wird. Dabei könnten die Schlitze durch eine zusätzlich Luftzirkulation oder den durch sie austretenden Rauch die Funktion sogar optimiert haben. Dennoch bleibt die sehr unregelmäßige Anlage der Schnitte unverständlich. 3.2 Phiale B (Buckelschale mit flachem Boden und zentralem Rosettendekor) 3.2.1 Zur Rekonstruktion Die restlichen 16 Fragmente der genannten 35 Bruchstücke zweier Phialen lassen sich einer weiteren Buckelphiale zuweisen (Phiale B, Abb. 6; 8), die an Stelle des zentralen Omphaloses allerdings einen flachen Boden mit eingraviertem Rosettendekor besitzt. Einige Fragmente ließen sich Bruch an Bruch zusammensetzen, so dass sich die 16 Fragmente über 13 Katalognummern verteilen (Abb. 6). Für die exakte Rekonstruktion der Schale ergeben sich ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Phiale A. Auch die Phiale B war in sich leicht verzogen und besaß keinen gleichmäßig gekrümmten Randverlauf. Ob auch die Buckelachsen nicht gleichmäßig radial auf das Schalenzentrum ausgerichtet waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Der ermittelbare äußere

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Randdurchmesser erlaubt einen Spielraum zwischen ca. 18 cm und 19 cm. Demgegenüber wird die zentrale Rosette auf der Außenseite von drei konzentrischen Kreisgravuren in unterschiedlichem Abstand zueinander gerahmt, deren Durchmesser sich relativ sicher bestimmen lässt. Die Gravurlinien sind mit geringen Schwankungen ca. einen Millimeter breit. Von innen nach außen besitzen die drei Kreise folglich den jeweiligen Durchmesser von ca. 4,4–4,6 cm, 6,0–6,2 cm und 7,0–7,2 cm. Unter der Voraussetzung einer annähernd gleichmäßigen Verteilung der Buckel über den Gefäßkörper ergäben sich ca. 16 Buckel, wobei deren Größen oder deren Abstände zueinander minimalst variieren müssten. Demnach wäre der äußere Randdurchmesser bei ca. 18,2 cm anzusetzen, sofern die Größe der Buckel und der Verlauf des Schalenkörpers anhand der erhaltenen Fragmente richtig bestimmt worden sind. Für die Interpretation der Rekonstruktionszeichnung ist daher abermals zu berücksichtigen, dass die Schale zumindest in den äußeren Zonen idealisiert dargestellt ist, während sich die Größe des zentralen Bodenornaments recht sicher bestimmen lässt. In der Rekonstruktionszeichnung sind lediglich die Fragmente Kat. 12, 13, 15 und 19 mit ihren Umrissen separat hervorgehoben. 3.2.2 Formbeschreibung und typologische Einordnung Nach den oben beschriebenen Umständen lässt sich die Phiale B mit einem Durchmesser von ca. 18,2 cm und einer Höhe von ca. 4,4 cm rekonstruieren. Die Wandungsstärke schwankt am eigentlichen Schalenkörper zwischen 0,2 cm und 0,38 cm, am Rand liegt er ungefähr zwischen 0,1 cm bis 0,2 cm. Im Bereich der stärksten Buckelwölbung liegt die Wandungsstärke bei 0,1 cm, in wenigen Fällen sogar darunter. Die Phiale B besitzt einen 1,3 cm bis 1,4 cm hohen, diagonal nach außen geneigten Rand mit verdickter Lippe und fast geradlinig verlaufender Außen- und Innenseite. Lediglich an den Übergängen zur Lippe und zum Gefäßkörper ist der Randkontur leicht geschwungen. Die Oberseite der Lippe besitzt einen flachen Grat, von dem sie nach innen und außen schräg abfällt. Am unteren Ende dieser Schräge bildet sie auf der Außenseite einen weiteren nur schwach erkennbaren Grat, unter dem sie sich wieder geradlinig einzieht. In einer feinen Kante stößt die Lippe wieder auf den darunter abfallenden Rand. Der untere Randansatz ist auf der Außenseite durch einen weiteren seichten Grat vom relativ flach geschwungenen Schalenköper abgesetzt. Wie bereits beschrieben, trägt der flache Boden ein zentrales von drei konzentrischen Kreisen in unterschiedlichem Abstand zueinander gefasstes Rosettenornament. Wie u. a. auf der goldenen Zungenphiale mit Rosettendekor aus Nimrud 16 oder einer Reihe von figürlich dekorierten Silberschalen17 sowie einer Bronzepfanne18 auf Zypern oder einer Bronzeschale aus Sparta19 wird die Rosette der Phiale B einen zentralen kleinen Blütenboden oder eine Kreiszeichnung besessen haben, zu der die Rosettenblätter annähernd spitz ausgelaufen sind. Ob dieser zentrale Knopf wie bei einigen der Metallschalen plastisch empor gewölbt war, lässt sich nicht mehr feststellen. Die nach außen abgerundeten Rosettenblätter variieren leicht

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Collon 2008, 117 Taf. 4 a. Markoe 1985, 249 (BM 123053). 262 (Met 74.51.4552). 273 (Zypern Museum 1980/XII-18/2). Markoe 1985, 261 (Met 74.51.5616). Markoe 1985, 329 (Louvre AO 4702).

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in ihrer Breite. Die sie jeweils trennende Gravurlinie verbreitert sich leicht zum Schalenzentrum hin, während sie sich nach außen deutlich verjüngt. Damit besitzt nicht jedes Rosettenblatt eine eigene es beidseitig umlaufende breite Konturlinie, wie sie an manchen der gerade genannten Metallschalen als doppelt gerahmte Konturlinie erscheint. Stattdessen gabelt sie sich auf der Phiale B am oberen Ende und schwingt beidseitig zu den Bögen der Blätterabschlüsse aus. Für die äußeren Konturbögen der Blätter wurde das Gravurwerkzeug jeweils neu angesetzt, wobei die Endpunkte nicht immer ganz exakt über den Trennlinien zwischen den Blättern sitzen. Auch einige Metallschalen auf Zypern zeigen diese Rosettenbildung, wodurch ihnen die Rosette der Phiale B in diesem Punkt besonders nahe steht20. In einem ca. 0,6 cm weiten Abstand zum äußeren Kreisbogen auf der Innenseite und einem ca. 0,4 cm weiten Abstand auf der Außenseite gruppieren sich die unteren spitzen Enden der tropfenförmig nach oben gerichteten Buckel um den Schalenboden herum. Soweit erhalten, treten die Buckel nicht über den oberen Randkontur nach außen hinaus, womit sie deutlich flacher sind als bei der Phiale A. Ihr oberer Abschluss stößt direkt an den Grat des unteren Randansatzes. Mit den erhaltenen Bruchstücken lässt sich der geringste Abstand, bis zu dem sich die Buckel einander annähern, für die Außenseite mit ca. 0,1 cm bis 0,15 cm, für die Innenseite mit ca. 0,2 cm bis 2,5 cm rekonstruieren. Abermals ist keiner der Buckel vollständig erhalten. Ihre horizontale Tiefe bzw. Länge dürfte um die 4,8 cm, ihre größte Breite um die 2,6 cm auf der Außenseite und vermutlich um die 2,4 cm bis 2,5 cm auf der Innenseite gelegen haben. Von der Spitze der Buckel ausgehend zeichnet sich ein flacher Achsengrat auf der Außen- und Innenseite der Buckel ab, der sich nach oben mit der Tropfenwölbung verliert. Neben den Gravuren auf der Außenseite des Schalenbodens besitzen drei Buckelfragmente die Reste eingeritzter figürlicher Darstellungen. Auf Kat. 13 (Abb. 6; 8; 9) ist deutlich der nach rechts gerichtete Kopf eines Fisches zu erkennen. Der undifferenzierte Kopf mit einem großen annähernd zitronenkernförmigen Auge setzt sich klar gegen den schuppigen mit einem Gittermuster überzogenen Rumpf ab. Von dem leicht zugespitzten Maul nimmt eine nach rechts gerichtete Linie ihren Ausgang, die sich gabelt. Der obere Verlauf dieser Gabelung rollt sich leicht nach oben ein, während der untere Verlauf geradliniger bleibt. Auf Kat. 15 (Abb. 6; 8; 9) sind drei leicht ausfächernde Linien erhalten, die in einem geraden vertikalen Abschluss enden. Sie erinnern an die Schwanzflosse eines nach links gerichteten Fisches. Demgegenüber ähnelt die flammenförmige Gravur auf Kat. 22 (Abb. 6) eher dem Schweif eines Pferdes oder Satyrs. Wie unten noch genauer ausgeführt, wird das Motiv von ägyptischen bzw. wohl eher ägyptisierenden Darstellungen des Tilapia-Fisches, aus dessen Maul Lotusblüten heraustreten, inspiriert sein, wie sie sich u. a. auch auf ägyptischen wie ägyptisierenden Fayenceschalen oder Aryballoi im syro-levantinischen Raum oder auf Zypern und Rhodos finden21. Auch die Phiale B gehört zu der Gruppe der Buckelphialen. Anstelle eines zentralen Omphalos besitzt sie allerdings einen flachen Boden mit Rosettendekor. Selbst wenn eine kleine Erhebung im Rosettenzentrum existiert haben sollte, lässt sich diese wohl nicht als Omphalos bzw. Mittelknopf nach der Definition von Heinz Luschey bezeichnen. Wie bei der Phiale A 20 Markoe 1985, 260 (Met 74.51.4551); 261 (Met 74.51.5616); 262 (Met 74.51.4552); 272–273 (Zypern Museum 1980/XII-18/2). 21 Stampolidis 2003, 490 Kat.-Nr. 905; 494 Kat.-Nr. 920. 923.

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sind auch bei der Phiale B nur die tropfenförmig nach oben gerichteten Buckel vorhanden, während alle weiteren nicht ausgebildet sind. Gegenüber der Phiale A sind die Buckel wesentlich flacher und deutlich enger zusammengerückt, so dass sie in der Seitenansicht völlig den Zungenphialen gleichen. Auch bei der Phiale B beginnen die spitzen unteren Buckelenden in einem weiten Abstand zum Boden bzw. zur äußersten der drei konzentrischen Kreisgravuren. Der mit einer Rosette geschmückte Boden begegnet an goldenen Zungenphialen aus den Königinnengräbern in Nimrud22, aber auch auf den oben bereits genannten figürlich dekorierten Silber- und Bronzeschalen im phönizischen Stil auf Zypern, zu denen auch ein Fund aus Sparta gehören dürfte. Dabei stehen Letztere mit der Anlage ihrer Rosetten und deren Umrisszeichnungen der Phiale B besonders nahe. 3.2.3 Materialbeschreibung, Herstellung und technische Besonderheiten Die Phiale B besteht ebenfalls aus farblosem Klarglas mit zahllosen kleinen Lufteinschlüssen. Viele dieser Einschlüsse öffnen sich zur Oberfläche der Wandung, dennoch fühlt sie sich wesentlich glatter an als bei der Phiale A. Allem Anschein nach wurde die Oberfläche intensiv poliert. Die Produktion der Phiale B dürfte auf die gleiche Weise wie die der Phiale A mit zwei Matrizen für die Innen- und Außenseite erfolgt sein. Auch bei ihr ist eine minimale Verschiebung der Formen gegeneinander zu beobachten. Nach dem Abkühlen müssen die sehr scharfkantigen Bodengravuren vorgenommen worden sein. Demgegenüber erscheinen die Linien der Fischzeichnungen weniger scharf geschnitten und in ihrer Tiefe ungleichmäßiger sowie wesentlich fahriger oder skizzenhafter. Hier könnte die Möglichkeit bestehen, dass sie noch im nicht ganz ausgehärteten Zustand des Glases eingeritzt worden sind. Die Phiale B zeigt keine Einschnitte in den Gefäßkörper wie die Phiale A. Die schmale Lücke in Kat. 13 scheint ein Sprung zu sein. 3.2.4 Die Deutung der figürlichen Darstellung der Phiale B als Tilapia Die nur in wenigen Resten erhaltenen figürlichen Darstellungen auf der Phiale B (Abb. 6; 8; 9) könnten von figürlich dekorierten Silber-, Gold- und Bronzeschalen inspiriert sein, die ansonsten keine Zungen oder Buckel besitzen. Allerdings scheinen auf ihnen äußerst selten Fische dargestellt zu sein. Sofern auf den entsprechenden Metallschalen Wasserszenen wiedergegeben sind, handelt es sich um ägyptisierende Flusslandschaften mit Papyrusstauden und anderen Pflanzen sowie Menschen und unterschiedlichen Land- wie Wassertieren, aber kaum Fischen. Allerdings zeigt die ägyptisierende Goldschale der Yaba aus Grab II der Königinnengräber in Nimrud eine Nillandschaft, bei der u. a. eine Schwimmerin im reich mit Fischen bevölkerten Nil schwimmt23. Es handelt sich um Bulti-Fische bzw. die Tilapia nilotica. Vor allem seit dem Neuen Reich wurde das Tilapia-Motiv sehr zahlreich in Ägypten verwendet und fand darüber hinaus weite Verbreitung im Mittelmeerraum, wo es auch imitiert

22 Collon 2008, 117 Taf. 4 a. 23 Collon 2008, 115 Taf. 3.

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wurde24. So begegnet es neben der früheisenzeitlichen Goldschale aus Nimrud auf spätbronzezeitlichen Fayenceschalen in Syrien und auf Zypern25. Auch in der ägyptisierenden griechisch-archaischen Fayenceproduktion auf Rhodos lässt sich die Tilapia auf Aryballoi und Pyxiden des 7. Jhs. v. Chr. wiederfinden26. Anders als bei der Schale aus Nimrud treten hier aus dem Maul der Tilapia Lotusblüten und manchmal auch deren Blätter aus. Daher dürfte für die Deutung der etwas groben Fischdarstellung der Phiale B die nach oben und unten gegabelte Linie ausschlaggebend sein, die aus dem Maul des Fisches austritt. Auch wenn an dieser keine weiteren Zeichnungen von Blüten und Blättern anschließen, werden damit dennoch solche Blütenstängel wie an den genannten Tilapia-Darstellungen gemeint sein. Charakteristisch für die Tilapia ist ferner ihre Kopfform mit einem spitzen Maul, vor allem aber ihre Flossenstellung, die auf der Phiale B ebenfalls nicht klar zu erkennen ist. Dennoch lässt sich deren Zeichnung in ihren wesentlichen Zügen mit den anderen Wiedergaben der Tilapia verbinden. So deutet eine leichte Spitze am vorderen, eher stumpf erscheinenden Kopfkontur das Maul an, über dem ein großes Auge ruht. Auch bei anderen Darstellungen kann die Kopfform zwischen spitzem und stumpfem Maul variieren. Der hintere Kopfkontur wird bei der Phiale B durch zwei gebogene Linien begrenzt, was ebenfalls für andere Tilapia-Darstellungen charakteristisch ist und wohl die Angabe des Kiemendeckels meint. Die Schuppen des Körpers sind bei der Phiale B durch ein Gittermuster angegeben, was auch bei anderen Tilapia-Darstellungen u. a. in Ägypten selbst begegnen kann. Innerhalb der späten griechischen Fayenceproduktion bis in die erste Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. hinein taucht die Tilapia gleichfalls als zoomorpher Aryballos mit Gitter- bzw. Rautenschraffur für die Schuppenangabe auf27. Hier fehlen allerdings die Lotusblüten. Die Tilapia ist ein Maulbrüter, die ihre Jungen nach der Eiablage im Maul austrägt und ihnen dort noch einige Zeit danach Schutz bietet. Bereits die Befruchtung der Eier findet im Maul statt. Mit ihren Unterarten fand die Gattung in der Antike in Afrika und Palästina Verbreitung28. Ähnlich wie der Skarabäus oder der Frosch avancierte die Tilapia durch ihre besondere Fortpflanzungsweise und daran geknüpfte Interpretationen früh in der ägyptischen Kultur zum Symbol des sich aus sich selbst heraus erneuernden Lebens und der an den Tod anschließenden Wiederbelebung29. Neben Opfergeräten – zumeist für Räucher- und Libationsopfer – findet sich die Darstellung der Tilapia daher auch auf Grabbeigaben, z. B. Löffeln oder Trinkschalen. Wie andere ‚Fruchtbarkeitssymbole‘ begegnet die Tilapia auf unterschiedlichen Schmink- oder Toilettenutensilien – wie Schminkpaletten, Neujahrsfläschchen oder anderen Salb- und Duftölgefäßen – und ist daher auch eng mit weiblichen Lebensbereichen verbunden30. Auf die Bedeutung des Fisches verweist auch die aus dem Maul heraus-

24 Bei den von Dambach/Wallert 1966, 286–290 Abb. 6–10 abgebildeten Beispielen handelt es sich um Objekte der 18. und 19. Dynastie, womit sie dem hier behandelten Zeitraum deutlich vorausgehen. 25 Stampolidis 2003, 494 Kat.-Nr. 920. 923. 26 Stampolidis 2003, 490 Kat.-Nr. 905; der gleiche Aryballos Webb 1978, 64 Kat.-Nr. 216; s. a. Webb 1978, 39 Kat.-Nr. 148; 54. 27 Webb 1978, 134–135 Taf. 22, 941. 942. 948. 949. 28 Dambach/Wallert 1966, 274–276. 29 Dambach/Wallert 1966, 292. 30 Dambach/Wallert 1966, 285–289. 292.

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tretende Lotusblume, die als Symbol des jugendlichen Nefertem, der Verkörperung der aufsteigenden Morgensonne und dem Schutzgott der Salben, Salb- und Duftöle, auf die gleiche revitalisierende und verjüngende Kraft Bezug nimmt 31.

4. Die typologische Stellung der Glasphialen auf Samos im Gesamtkorpus der bisher bekannten Glasschalen im Mittelmeerraum bis ins 6. Jh. v. Chr. Nach Axel von Saldern gehören die drei Phialen auf Samos zur Gruppe der frühen Klarglasgefäße. Dabei ordnete von Saldern sowohl die völlig farblosen Gefäße, die er als „wasserklar“ charakterisierte, als auch leicht grünlich wie bläulich eingefärbte Gläser dieser Gruppe zu32. Die bekanntesten dieser Gefäße stammen aus Nimrud und dem Tumulus P in Gordion33. Allerdings existieren noch weitere hier zu berücksichtigende Funde. Neben verschiedenen Glasgefäßen und -schalen unterschiedlicher Form lassen sich die Phialen A und B neben den Schalenfragmenten aus Nimrud wenn überhaupt mit den Glasphialen aus Gordion 34 und der Schale aus dem Grabbau M in der Nekropole von Eleutherna bei Orthi Petra 35 vergleichen. Die Phiale aus blauem Klarglas aus Grab A des Montefortini Tumulus bei Comeana 36 in Etrurien ist mit ihrem tiefen Gefäßkörper formtechnisch von den anderen genannten flacheren Beispielen deutlich zu scheiden, wird aber dennoch hier berücksichtigt. Es ist sehr auffällig, dass sich keine der genannten Beispiele völlig entsprechen. Technisch und typologisch weichen sie oftmals deutlich voneinander ab. Eine homogene Gruppe lässt sich nicht bilden. Allerdings gibt es auch bei den früheisenzeitlichen Bronze- und Silberphialen nur selten völlige Entsprechungen, doch ist das Bild hier vermutlich auf Grund der höheren Überlieferungszahl etwas klarer. Mit Blick auf die Phialen A und B handelt es sich nur bei der durch ein einzelnes Wandungsfragment überlieferten zweiten Glasphiale in Gordion um eine Buckelphiale37. Die Schalen aus dem Tumulus P in Gordion und aus Eleutherna sind demgegenüber mesomphalide Zungenphialen nach der Definition von Heinz Luschey38. Auch die Schale aus dem Montefortini Tumulus trägt ein Zungenmuster. Typologisch lassen sich die sechs Schalen demnach nur begrenzt untereinander vergleichen. Das Proportionsverhältnis von Höhe und Durchmesser beider Zungenphialen ist sehr unterschiedlich. Bei der Schale aus Gordion liegt es bei ca. 1:4,4, bei der aus Eleutherna bei ca. 1:3,3. Mit Blick auf die proportionale Entwicklung der Metallschalen des 7. Jhs. v. Chr. wertete Nikolaos Stampolidis das Proportionsverhältnis der Schale aus Eleutherna als mögliches Indiz für eine Datierung in die zweite Hälfte des 8. Jhs. v. Chr., worauf auch der Fundkontext hinzudeuten scheint39. Die Schale aus Gordion gehört allerdings nach der neuen Datierung des gordischen Zerstörungshorizontes sowie der Tumuli in das mittlere 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Bonnet 2000, 508–510; Dambach/Wallert 1966, 293. Von Saldern 2004 53–62. Von Saldern 2004, 53–62. Duncan Jones 2005, 105 Abb. 8–3 A-B; 107 Abb. 8–4. Stampolidis 2015, 77 Abb. 4 a–b. Stampolidis 2003, 495 Kat.-Nr. 927. Duncan Jones 2005, 107 Abb. 8–4. Luschey 1939, 76–95. Stampolidis 2015, 78.

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8. Jh. v. Chr. und ist somit älter als bisher angenommen40. Zuvor ging man noch von einer Datierung in das späte oder ausgehende 8. Jh. v. Chr. aus41. Mit einem Proportionsverhältnis von 1:3,1 der Phiale A und 1:4,1 der Phiale B steht die Phiale A der Schale aus Eleutherna nahe und müsste folglich jünger sein als die Phiale B, die ein ähnliches Proportionsverhältnis wie die Schale aus dem Tumulus P in Gordion besitzt. Es ist fraglich, ob dieses Indiz ausreicht, die Phiale B auf Grund ihrer Proportion noch dem 8. Jh. oder gar dem 9. Jh. zuzuweisen, während die Phiale A dann bereits in das 7. Jh. gehören würde. Beiden Stücken auf Samos fällt ein terminus ante quem um 590/70 v. Chr. zu, was zunächst leider keine genauere Datierung zwischen dem 9. Jh. und frühen 6. Jh. erlaubt. Die Phiale aus Comeana wird in das mittlere 7. Jh. datiert. Zum Proportionsverhältnis der zweiten Schale aus Gordion lässt sich auf Grund ihres Erhaltungszustandes nichts Sicheres sagen, doch gehört sie nach Janett Duncan Jones einem Fundkontext aus dem mittleren 8. Jh. v. Chr. an42. Die Schalen aus Eleutherna und dem Montefortini Tumulus besitzen einen verwandten geraden, leicht nach innen gezogenen Rand, mit dem auch eine ähnliche Zungenform einhergeht, wie unten noch beschrieben wird. Bei der Phiale aus Gordion schwingt der Rand allerdings leicht nach oben aus. Allem Anschein nach besitzen alle drei Schalen eine nach oben abgerundete schmale Lippe, die ansonsten nicht weiter plastisch abgesetzt ist. Demgegenüber sind die Lippen der nach oben ausschwingenden Ränder der Phialen A und B auf Samos verdickt. Bei der Phiale A ist die Oberseite deutlich, bei der Phiale B nur schwach abgeflacht. Bei dieser ist die Lippe nach außen mit einem umlaufenden Grat deutlich kantiger gebildet, als bei der Phiale A. Mit dieser Randgestaltung folgen die beiden Phialen auf Samos ähnlichen Formen an den oben genannten metallenen Vorbildern. Die Schale aus Gordion trägt 32 Zungen, während die Eleutherna-Schale 46 Zungen aufweist. An ihr sind die Zungen nach oben gerade abgeflacht, während sie an der Schale aus Gordion im Kontur gerundet sind. Damit ähnelt die Phiale aus Eleutherna entfernt den Zungen der Schale aus dem Montefortini Tumulus, der sie auch in der Randgestaltung näher steht. Der tiefe Gefäßkörper der Schale aus Etrurien gleicht jedoch eher u. a. aus Nimrud und Kreta bekannten gläsernen Kalottenschalen, womit sie sich wiederum von der Phiale aus Eleutherna und den anderen hier betrachteten Schalen deutlich unterscheidet 43. Entfernt gearbeitete obere Zungenenden in Kombination mit einer ähnlichen, wenn auch nicht identischen Randgestaltung besitzt eine der Bronzeschalen aus der idäische Grotte auf Kreta, die u. a. zuletzt von Monika Hasserodt mit einer nordsyrischen/südostanatolischen Herkunft verbunden wurde44. Demgegenüber besitzen die Phialen aus Samos Buckel anstelle von Zungen. Dass sie den klassischen Vertretern dieser Schalengattung nicht völlig entsprechen, wurde oben bereits beschrieben. Die zweite Schale aus Gordion scheint dagegen den Lotusschalen zugeschrieben werden zu können. Ihr Dekor orientiert sich deutlich an den metallenen Vorbildern, wie 40 41 42 43 44

DeVries [u. a.] 2008; zusammenfassend Sams/Voigt 2011, 155–164. 166 Abb. 7; 10. Young 1981, 10. Duncan Jones 2005, 108. Stampolidis 2003, 495 Kat.-Nr. 927. Hasserodt 2009, 198; 374 Kat.-Nr. 14 Taf. 4, 2; Luschey 1939, Abb. 25.; ein entfernt mit der Schale aus dem Montefortini Tumulus verwandtes Randfragment aus Nimrud im Britischen Museum aus leicht gelblich gefärbtem Glas (Barag 1985, Nr. 39; British Museum online 2) besitzt eine mit einer umlaufenden Furche abgesetzte Lippe. Das Fragment datiert ebenfalls vom 8. Jh. bis in das 7. Jh. v. Chr.

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sie sehr zahlreich in den phrygischen Tumuli begegnen. Sie gelten in der modernen Forschung als phrygische Fabrikate45. Das Dekor unterscheidet sich deutlich von den Buckeln der Phialen A und B auf Samos. Bei der Phiale A sind die vermutlich zehn volumenreichen Buckel weiter auseinandergerückt, während die vermutlich 16 Buckel bei der Phiale B eng beieinander stehen und deutlich flacher gebildet sind. Dass sie als Fläche für figürliche Darstellungen genutzt wurden, ist bisher für keinen der Vertreter von Buckel- und Zungenphialen ungeachtet ihres Materials bezeugt. Die Phiale B könnte natürlich auch von figürlich dekorierten Silber-, Gold- und Bronzeschalen inspiriert sein, die ansonsten keine Zungen oder Buckel besitzen. Allerdings scheinen auf ihnen selten Fische dargestellt zu sein. Wie oben beschrieben, ist die Deutung der Fischdarstellung als Tilapia-Motiv naheliegend, das im östlichen Mittelmeerraum besonders auf Fayencegefäßen begegnet. Die Inspiration dürfte daher eher von diesen Objekten ausgegangen sein, worauf weiter unten noch einmal in Zusammenhang mit einer möglichen Funktion der Phialen eingegangen wird. Auf den Fayencegefäßen begegnet die Tilapia nämlich im Gegensatz zur bereits erwähnten Goldschale aus Nimrud mit der Darstellung von Lotusblüten, die aus ihrem Maul austreten, worauf die Zeichnung auf der Phiale B ja Bezug zu nehmen scheint. Auch die Gestaltung des Omphalos ist an den entsprechenden Schalen abweichend. So ruht auf der konvexen zentralen Bodenwölbung der Schale aus dem Tumulus P in Gordion ein kleiner knopfähnlicher Omphalos, der der Schale aus Eleutherna fehlt. Eine ähnliche Omphalosform mit kleinerem Durchmesser besitzt das Bodenfragment einer Zungenphiale aus Mesopotamien im Britischen Museum46. Die genaue Omphalosform der Phiale A ist nicht mehr ermittelbar, während die Phiale B einen flachen Boden mit Rosettendekor besitzt, das entfernt auch auf einem Glasschalenfragment aus Nimrud begegnet 47. Allerdings sind die Rosettenblätter auf dem Fragment aus Nimrud jeweils durch eine vollständig umlaufende gravierte Konturlinie umrissen, während die Blätter auf der Phiale B, wie oben beschrieben, nur durch insgesamt eine Gravurlinie voneinander getrennt sind. Wie oben erwähnt, steht die Rosette der Phiale B damit u. a. der Anlage von Rosetten auf Silber- und Bronzeschalen auf Zypern näher. Klarglasphialen aus ausgewählten früheisenzeitlichen Kontexten im Mittelmeerraum Phiale Form Dm H Stärke Zungen/ H:Dm Buckel (Relation) Tumulus P Mesomphalide 15,4 3,5 1,0 32 1:4,4 (Gordion) Zungenphiale Grabbau M Mesomphalide 14 4,2 0,3 46 1:3,3 (Eleutherna) Zungenphiale Phiale A Mesomphalide 15,4 4,9 0,1–0,5 10 1:3,1 (Samos) Buckelphiale Phiale B Buckelphiale 18,2 4,4 0,06–0,38 16 1:4,1 (Samos) mit flachem Boden

45 Duncan Jones 2005, 108; u. a. Young 1981, Taf. 68–70; Howes Smith 1981, 9; Hasserodt 2009, 276–286. 46 Barag 1985, Nr. 42; British Museum online 1; Duncan Jones 2005, 106. 47 Von Saldern 2004, 57 Abb. 10.

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5. Zu den Produktionszentren der Phialen und ihrer Datierung Von Saldern schlug eine Produktion der Schale aus dem Tumulus P von Gordion und der Gefäße aus Nimrud in Assyrien, zumindest aber dem syrisch-phönizischen Raum vor48. Janet Duncan Jones zog auf Grundlage typologischer Vergleiche des zweiten Schalenfragments aus Gordion zu phrygischen Lotusschalen, wie oben beschrieben, eine phrygische Herstellung in Erwägung49. Technisch könnten alle genannten Glasphialen auf eine ähnliche Weise im doppelten Model oder dem Wachsausschmelzverfahren hergestellt worden sein. Allerdings scheinen sie eine recht unterschiedliche Qualität zu besitzen. So ist die Phiale aus Gordion gegenüber den anderen Phialen mit ca. einem Zentimeter Wandungsstärke erstaunlich dick. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Klarglasphialen ursprünglich tatsächlich Bergkristallgefäße nachahmen sollten und die Schale daher entsprechend stabil geformt wurde. Natürlich könnten auch technische Schwierigkeiten im Umgang mit dem Material eine Ursache dafür sein. Beides mag darauf hindeuten, dass die Schale aus Gordion gegenüber den anderen Phialen deutlich älter ist. Zur Stärke des Wandungsfragments der zweiten Glasschale aus Gordion macht Janet Duncan Jones leider keine Angaben, doch erscheint es auf der Abbildung ebenfalls recht dickwandig50. Das von ihr als nächste bisher bekannte Parallel zu der Schale aus dem Tumulus P genannte Bodenfragment aus Mesopotamien im Britischen Museum ist allerdings nur 0,1 cm stark51. In seiner Stärke steht das Bodenfragment im Britischen Museum daher den Schalen aus Eleutherna und von Samos deutlich näher, die eine Wandungsstärke von 0,1 cm bis 0,4 cm besitzen. Natürlich könnte man die Wandungsstärke der gordischen Glasschalen unter Umständen auch auf ein unterschiedliches Herstellungszentrum beziehen, doch scheint mit Blick auf die neue Datierung der gordischen Kontexte ein chronologischer Hintergrund für die abweichende Materialstärke genauso wahrscheinlich. Vermutlich trifft beides zu. So gehören beide Schalen Fundkontexten des mittleren 8. Jhs. v. Chr. an. Die Kontexte aus denen die Schalen aus Eleutherna, dem Montefortini Tumulus und auf Samos stammen, sind deutlich jünger. Natürlich könnte es sich hier auch um lange genutzte Altstücke handeln. Die Phiale aus Eleutherna ist laut Nikolaos Stampolidis zwar mit zwei Modeln hergestellt, doch auf der Innenseite erstaunlich grob nachbearbeitet. Insgesamt wirkt auch die Außenseite gröber modelliert als die Schalen aus Gordion, Etrurien und auf Samos. Dabei scheint auch das Glas der Schale aus Eleutherna ähnlich grobporig zu sein, wie bei den Phialen A und B. Allerdings ist es grünlich gefärbt und offenbar stärker verwittert. Abgesehen von ihren Lufteinschlüssen sind die Fragmente der Phialen auf Samos in Erhaltung und Fertigung demgegenüber von höherer Qualität, womit sie auch in ihrer Nachbearbeitung wiederum den Schalen aus Gordion und im Britischen Museum näher stehen. Der Schale aus Eleutherna fehlt anscheinend eine vergleichbare Sorgfalt in der Kaltarbeit. Bei den Schalen auf Samos, aus Gordion und im Britischen Museum sind die Oberflächen poliert. Gegenüber der Schale aus

48 49 50 51

Von Saldern 2004, 61–62. Duncan Jones 2005, 106–108. Duncan Jones 2005, 107 Abb. 8–4; 108. Barag 1985, Nr. 42; British Museum online 1.

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dem Tumulus P sind die Oberseiten der Lippen bei den Phialen A und B horizontal geschliffen, was auch die Phiale aus Eleutherna nicht aufweist. Allerdings besitzen die Schalen aus dem Tumulus P und aus Eleutherna grundsätzlich eine abweichende Randbildung. Demnach gibt es ähnlich wie bei den Metallphialen keinen Hinweis auf ein einheitliches Herstellungszentrum der Glasschalen und dessen Lokalisierung. Die technischen und typologischen Unterschiede bzw. Variationen sind auffällig. Im genannten Spektrum stehen sich die beiden Phialen auf Samos trotz gewisser Differenzen in der Verarbeitung und Formgebung noch am nächsten. Dies betrifft nicht nur die einheitliche Glasqualität und Färbung, sondern auch das übergeordnete Buckelmotiv und die Randbildung. Vielleicht könnte dieses dafür sprechen, dass zumindest diese beiden Exemplare aus einem gemeinsamen Herstellungszentrum stammen. Auf Grundlage der Wandungsstärke und Materialkonsistenz mit den zahlreichen Lufteinschlüssen scheint die Schale aus Eleutherna den Phialen A und B sowie dem Fragment im Britischen Museum noch etwas näher zu stehen, als z. B. den beiden Schalen aus Gordion. Sollte das Wandfragment tatsächlich ähnlich dickwandig sein wie die Phiale aus Tumulus P, könnte dieser Umstand gemeinsam mit dem phrygischen Dekor des Wandfragments auf eine lokale phrygische Produktion der beiden Stücke hindeuten. Immerhin sind die anderen Schalen deutlich dünner. Vermutlich würde dieses phrygische Produktionszentrum aber nur eines von mehreren Fabrikationsorten in Anatolien und im östlichen Mittelmeerraum einschließlich der Ägäis sein. Wie oben bereits angesprochen, könnte die besondere Fabrikationsstärke aber möglicherweise auch über eine besonders frühe Stellung der gordischen Funde erklärbar sein. Dann müsste zur Frage der Herstellungszentren auch noch eine zeitliche Entwicklung als Ursache technischer Unterschiede berücksichtigt werden. Die gordischen Funde stammen aus Fundkontexten des mittleren 8. Jhs. v. Chr., die Schale aus Eleutherna aus Kontexten des späten 8. Jhs., wobei dieser auch noch leicht ins frühe 7. Jh. hineinreichen kann. Das Fragment aus dem Britischen Museum wird allgemein vom späten 8. Jh. bis ins 7. Jh. v. Chr. datiert. Die Schale aus Etrurien stammt aus einem Kontext des mittleren 7. Jhs. während die Phialen A und B lediglich einen terminus ante quem um 590/70 v. Chr. besitzen. Folgt man der oben bereits angesprochenen These einer Proportionsverschiebung von Höhe zu Durchmesser müsste die Phiale A mit einem Verhältnis von 1:3,1 jünger sein als die Phiale B mit 1:4,1. Allerdings steht die Phiale A ansonsten einer der Bronzeschalen aus dem Depotfund in Assur am nächsten, die einen terminus ante quem gegen 612 v. Chr. besitzt. Die Schale nähert sich mit 1:3,8 jedoch auch dem vermeintlich älteren Proportionsverhältnis von 1:4 an. Über die mögliche Lokalisierung eines weiteren solchen Herstellungszentrums lässt sich zurzeit nichts Konkretes aussagen. Typologisch steht man hier vor der gleichen Herausforderung wie bei den zahlreicheren Metallschalen. Auch wenn sich die Typen der Buckel- und Zungenphialen aus dem Orient gut herleiten lassen, werden unterschiedliche Produktionsregionen u. a. Phrygien für einige Typen der Metallschalen in der Forschung erwogen. So bliebe zu diskutieren, ob die Darstellung einer Tilapia auf der Phiale B, die für diese Schalenform völlig unüblich und singulär ist, ein Hinweis darauf sein kann, dass solche Glasschalen in Werkstätten produziert wurden, die auch Fayencen herstellten. Immerhin begegnet das Motiv hier wesentlich häufiger und auch das zu verarbeitende Material ist ähnlich bzw. von seinen Grundstoffen her gleich. Demnach mögen die postulierten Fayencewerkstätten auf Rhodos vielleicht durchaus in der Lage gewesen sein Glasschalen wie die Phialen A und B herzustellen. Allerdings kann dieses dann vermutlich nicht vor der Mitte des

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7. Jhs. v. Chr. geschehen sein, da die Werkstätten laut Virginia Webb erst um diese Zeit die Produktion aufnahmen52. Doch mögen auch andere Werkstätten auf Zypern und in der Levante für die Schalenproduktion in Erwägung gezogen werden können. Immerhin ähnelt die Rosette der Phiale B den Rosetten einiger zypro-phönizischen Metallschalen auf Zypern, für das Glenn Markoe – wie u. a. auch für charakteristische Fayencen oder Elfenbeine – Werkstätten auf der Insel selbst in Anspruch nahm53. Die Schalen verteilen sich über die von Markoe definierten Perioden II bis IV von max. 750–625 v. Chr.54. Eine sichere Aussage lässt sich aber zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht geben.

6. Zur Funktion der Phialen A und B Nikolaos Stampolidis vermutete mit Verweis auf die Fundkontexte der Zungenphialen aus dem Tumulus P in Gordion und dem Grabbau M in Eleutherna, bei denen es sich um zwei Frauengräber handelt, dass solche Glasphialen primär mit einem weiblichen Lebensumfeld zu verbinden sein könnten55. Wie bereits Heinz Luschey am Weinlaubenrelief aus dem Nord-Palast Ashurbanipals in Niniveh hervorhob, hält hier gerade die Königin eine Buckelphiale56. Die Königinnengräber aus Nimrud beinhalteten neben einer Buckelphiale, die offenbar der bronzenen Buckelschale aus Perachora ähnlich ist57, goldene Zungenphialen, von denen eine allerdings einen männlichen Namen trägt, und Bergkristallgefäße58. Dabei erinnert der Bergkristallschöpfer ebenfalls entfernt an Buckelphialen. Ansonsten handelt es sich bei den Kristallgefäßen aber nicht um Phialen. Da vermutet wird, dass die Glasschalen Bergkristall imitieren oder zumindest davon inspiriert sein sollen59, könnte mit Blick auf die Königinnengräber in Nimrud sowie die Frauengräber in Gordion und Eleutherna tatsächlich ein besonderer Bezug dieser Materialien und der daraus hergestellten Gefäße zu Frauen bestehen. Stampolidis bezog die Schale aus Eleutherna auf eine mögliche priesterliche Funktion einer der in Grabbau M bestatteten Frauen60. Die Phiale dürfte in diesem Fall als Spendeschale gedeutet werden, worauf ja u. a. auch der Omphalos hindeutet. Natürlich könnten auch die beiden Phialen auf Samos von Priesterinnen im Kult verwendet worden sein, wobei die Schlitze in der Phiale A einer entsprechenden Funktion nach den herkömmlichen Vorstellungen widersprechen würden. Der Kontext gibt allerdings keine konkreten Hinweise für weiterreichende Interpretationen. Lediglich die deutliche Dominanz an figürlichen Fayencen, die überwiegend mit ‚weiblichen‘ bzw. familiären Anliegen, wie Hochzeit, Nachwuchs, Schutz

52 Webb 1978, 5–7. 53 Markoe 1985, 3–4. 87–89. 54 Markoe 1985, 149–156; hier besonders Cy 10 (Markoe 1985, 261) und Cy 11 (Markoe 1985, 262) aus den Perioden II (750–700 v. Chr.) und IV (675–625 v. Chr.). 55 Stampolidis 2015, 79. 56 Luschey 1939, 46. 57 Hasserodt 2009, 203 Anm. 834; für die Schale aus Perachora vgl. Payne 1940, Taf. 56, 3; 4. 58 Collon 2008, 117–118 Abb. 14 unten. 59 Von Saldern 2004, 53. 60 Stampolidis 2015, 79.

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im Kindbett oder des Kindes, in Verbindung gebracht werden 61, ist innerhalb des Fundkontextes der Schalen im Vergleich zu den anderen Fundstellen im Heraion von Samos erstaunlich hoch. Die Ursachen für diese Anhäufung im Altarbereich dürften dabei auf vielfältige Weise erklärbar sein und erlauben keine sicheren Rückschlüsse auf die Funktion oder die inhaltliche Bedeutung anderer dort gefundener Objekte. Lediglich mit Blick auf die Verwandtschaft der Materialien Glas und Fayence sowie die Darstellung der Tilapia auf Fayencegefäßen und der Phiale B könnten Spekulationen über eine Beziehung der Glasphialen zu weiblichen Lebensbereichen oder eine Funktion im Kult möglich machen. Wie oben beschrieben, ist die Tilapia allgemein mit revitalisierenden Kräften verbunden. Somit taucht sie auch an Opfergeräten, scheinbar vor allem für Spende- und Rauchopfer, auf62. Daher würde das Motiv auf der Phiale B gut zu einer Deutung beider Phialen als Spendeschalen, die von einer Herapriesterin hätten verwendet werden können, passen. Die Schlitze der Phiale A widersprechen jedoch den gängigen Vorstellungen eines solchen Rituals. Den Buckel- und Zungenphialen entfernt ähnliche Schalenformen begegnen bei einigen phönizischen Thymiateria aus Bronze63. Hier sind die Gefäßkörper allerdings u. a. massiv gegossen. Es stellt sich die Frage, ob solche dünnen Glasschalen wie die Phiale A u. U. auch als Räuchergefäß verwendet worden sein könnten. Eventuell mag die stabilere Randgestaltung der Phiale A mit der auffällig horizontal geschliffenen Lippenoberkante in diese Richtung deuten. Beide Schalen auf Samos zeigen allerdings keine Brandspuren und es bleibt zu überprüfen, ob das Material je nach Hitzeeinwirkung nicht hätte springen müssen. Ob die Schlitze der Phiale A mit Blick auf eine solche Funktion und die damit verbundene Beanspruchung eine Verbesserung bedeutet hätten, wäre zu klären. Allerdings irritiert, wie oben bereits angemerkt, die Wahllosigkeit der Öffnungen, die man eher mit einer bewussten Unbrauchbarmachung der Schale assoziieren kann. Ferner deuten die Fundlagen der Schale aus Gordion in einer von mehreren Bronzeschalen und der Schale aus Eleutherna als Verschluss einer Amphora, auf eine Verwendung für den Konsum von Flüssigkeiten oder für Trankspenden hin. Auch wenn das Tilapia-Motiv einen weiten Bezug zu sakralen Opfern wie zum Totenkult erlaubt, tritt es dennoch häufig in Zusammenhang mit Objekten aus einem weiblichen Lebensumfeld auf. Zu nennen sind hier vor allem die Fayencegefäße 64 oder Schminkutensilien. Es begegnet gleichfalls auf der figürlich dekorierten Schale in dem Königinnengrab in Nimrud und hat hier einen ‚weiblichen‘ Bildbezug65. Somit könnte die Verwendung des Motivs auf der Phiale B tatsächlich auf eine Verbindung der Schale zum Lebensumfeld von Frauen oder darauf bezogene Vorstellungen hinweisen.

61 Hölbl 2014. 62 Dambach/Wallert 1966, 285–289; 292. 63 Niemeyer/Schubart 1965, 76 Abb. 1; dasselbe Morstadt 2008, 390 Kat. OF 1a/12 Taf. 29; vgl. auch Morstadt 2008, 395–396 Kat. OF 1a/26 Taf. 31; 388 Kat. OF 1a/5 Taf. 28. 64 Hölbl 2014. 65 Collon 2008, 115 Taf. 3.

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Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos

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7. Katalog 1. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1970 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-043 + 2012-052 17.371 + 17.820 6,5 cm 6,4 cm 0,4 cm Farbloses Klarglas

Wandungsfragment einer mesomphaliden Buckelphiale. Vom Omphalosansatz bis unmittelbar unter den unteren Randansatz erhalten. Reste zweier Buckel mit Mittelgrat, davon eine in der unteren Hälfte und die andere vermehrt in der oberen Hälfte erhalten. Zu allen Seiten Bruch. Langer Einschnitt von annähernd gerade oben oder unten eingebracht, jedoch mit sehr unregelmäßigem Schnittverlauf. Zweiter vollständig erhaltener kurzer Schnitt von annähernd gerade unten oder oben mit seichter Diagonalstellung eingebracht. Dritter unvollständig erhaltener Einschnitt von diagonal unten oder oben seitlich eingestoßen. 2. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1971 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.818 a + 17.824 5,25 cm 6,7 cm 0,3–0,5 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale, unmittelbar von der Mitte des Buckels bis zum oberen Randabschluss auf einer Breite von annähernd zwei Buckeln erhalten. Der eine Buckel in der oberen Hälfte vollständig und der andere nur im Ansatz erhalten. Der Rand ist durch eine Kante vom Gefäßkörper abgesetzt, über der der Hals konkav eingezogen ist. Verdickte Lippe, auf der Oberkante horizontal geschliffen. Der obere Buckelkontur stößt an den unteren Randabschluss. Schnitte über Buckelbogen und Randabschluss seitlich in spitzem Winkel zum Gefäßrand in den Gefäßkörper gestoßen. 3. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund:

V1972 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755/5500 2012-043

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Jan-Marc Henke

Messnr.: H: B: St: Material:

17.337 + 17.339 a 7,45 cm 4,35 cm 0,3–0,4 cm Farbloses Klarglas

Bodenfragment einer mesomphaliden Buckelphiale. Erhalten ist der äußere Ansatz des Omphalos mit einem größeren Abschnitt des Bodens und der unteren Hälfte eines Buckels. Neben der unteren Spitze des Buckels hat sich der Körperzwischenraum bis zum rudimentären Ansatz des anschließenden Buckels erhalten. Ein Einschnitt von oben oder unten leicht diagonal in den Gefäßkörper eingebracht. 4. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V1973 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755/5500 2012-043 17.339 b 4,15 cm 2,8 cm 0,3–0,45 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. In der Höhe unmittelbar von der oberen Gefäßbiegung bis zur Lippe erhalten. In der Breite ungefähr auf Länge eines Buckelzwischenraums mit den rudimentären Ansätzen eines Buckels erhalten. Mit Ausnahme der Lippe zu allen Seiten Bruch. Der Rand ist durch eine Kante vom Gefäßkörper abgesetzt, über der der Rand konkav eingezogen ist. Verdickte Lippe, auf der Oberkante horizontal geschliffen. Diagonal von links unten nach rechts oben verlaufende Schnittverletzung am Übergang vom Buckel zum Buckelzwischenraum diagonal von unten in den Gefäßkörper eingebracht. 5. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V1974 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.816 + 17.819 + 17.838 + 17.874 4,45 cm 5,4 cm 0,3–0,5 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. In der Höhe unmittelbar von der oberen Gefäßbiegung bis zur Lippe erhalten. In der Breite ungefähr auf Länge eines vollständigen Buckels und dem anschließenden Zwischenraum zum nächsten Buckel erhalten. Anschließender Buckel im oberen Konturviertel erhalten. Mit Ausnahme der Lippe zu allen Seiten Bruch. Der Rand ist

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durch eine Kante vom Gefäßkörper abgesetzt, über der der Rand konkav eingezogen ist. Verdickte Lippe, auf der Oberkante horizontal geschliffen. 6. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1975 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.827 2,3 cm 2,3 cm 0,25–0,3 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. In der Höhe unmittelbar vom oberen rechten Buckelbogen, der sich bereits in den Mittelsteg hinabsenkt, einschließlich unterem Randabschluss bis auf ca. halbe Randhöhe erhalten. Der Rand ist durch eine Kante vom Gefäßkörper abgesetzt, über der der Hals konkav eingezogen ist. 7. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1976 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.818 b 3,6 cm 2,9 cm 0,12–0,4 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. In der Höhe unmittelbar vom oberen Mittelsteg mit dem Ansatz des nach rechts anschließenden Buckels bis zur Lippe erhalten. Zur linken Seite direkt unterhalb des Randgrates seichteste Ansätze des links folgenden Buckelbogens. Der Rand ist durch eine Kante vom Gefäßkörper abgesetzt, über der der Hals konkav eingezogen ist. Verdickte Lippe, auf der Oberkante horizontal geschliffen. 8. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1977 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755/5500 2012-043 17.375 1,75 cm 2,85 cm 0,2–0,3 cm Farbloses Klarglas

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Körperfragment einer Buckelphiale. Teil eines Buckels mit dem anschließenden Mittelsteg erhalten. 9. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1984 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-042 17.426 3,5 cm 2,1 cm 0,3–0,35 cm Farbloses Klarglas

Bodenfragment einer Buckelphiale. Erhalten sind der untere Ansatz (Spitze) eines ca. zu einem Viertel im unteren Abschnitt erhaltenen Buckels sowie der Ansatz des anschließenden Buckels einschließlich des Mittelstegs. Auf der Innenseite ist die Oberfläche an drei Stellen (unterer Steg und beide Buckel im oberen Bereich) abgeplatzt. 10. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1985 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-042 17.427 2,4 cm 1,2 cm 0,3–0,32 cm Farbloses Klarglas

Boden-Wandfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist der untere Mittelstegbereich unmittelbar am Übergang zum Boden mit den auf beiden Seiten anschließenden Buckelresten. Auf der Innenseite ist die Oberfläche am unteren Steg abgeplatzt. 11. Phiale A Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1990 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.905 1, 48 cm 1,6 cm 0,1–0,2 cm Farbloses Klarglas

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Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos

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Randfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Randes unmittelbar oberhalb des unteren Randansatzes bis unmittelbar zur Lippe. 12. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1978 Füllung eines rezenten Grabens östl. der Altäre; Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755/5505 + Q4755/5500 2011-008 + 2012-043 Ohne Messnr. + 17.339 c 6,85 cm 3,05 cm 0,25–0,35 cm Farbloses Klarglas

Bodenfragment einer Buckelphiale mit zentralem Rosettendekor innerhalb dreier konzentrischer Kreisritzungen. Trennlinien der Rosettenblätter verbreitern sich zum Zentrum. Für die Ritzung der Rosettenblattbögen wurde das Gravurinstrument erneut angesetzt. Buckelgrat läuft bis zum ersten Kreissegment. Die plastisch gewölbte Buckelspitze endet jedoch in einem deutlichen Abstand zum Kreissegment. 13. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1979 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755/5500 2012-043 17.339 d + 17.373 3,9 cm 2,6 cm 0,11–0,31 cm Farbloses Klarglas

Körperfragment einer Buckelphiale. Reste zweier Buckel mit Mittelgrat erhalten. Darüber setzt der untere Randabschluss mit einem Stück der über einer schärferen Abschlusskante leicht konkav eingezogenen Randwandung an. Auf dem Buckel Reste einer Fischzeichnung (Fisch nach rechts, erh. Körperlänge 1,1 cm/max. B 0,7 cm, Schuppen als Kästchenschraffur angegeben, Kopf halbkreisförmig mit doppelter Kontur abgesetzt, vom Kopf nach unten ausgehend eine geschwungene Linie, die sich nach oben und unten gabelt und an den Enden leicht einrollt). 14. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.:

V 1980 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-042 17.423

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H: B: St: Material:

2,2 cm 2,3 cm 0,35–0,38 cm Farbloses Klarglas

Unteres Körperfragment einer Buckelphiale. Zwei Hälften und Mittelsteg erhalten. Zu allen Seiten Bruch. 15. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1981 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.822 + 18.940 4,05cm 3,1 cm 0,2–0,3 cm Farbloses Klarglas

Körperfragment einer Buckelphiale. Ungefähr zwei Buckelhälften mit Fehlstellen und Mittelsteg erhalten. Auf einem der Buckel Reste vermutlich einer Fischzeichnung (Fisch nach links, erh. offenbar Reste der Schwanzflosse, eventuell auch eine Lotusblüte, erh. L 0,35 cm/erh. H 0,5 cm, Binnenschraffur aus horizontal gestellten, leicht ausfächernden Linien, nach unten nicht klar, ob die Oberfläche hier abgeplatzt ist). 16. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1982 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.823 3,0 cm 1,7 cm 0,2–0,3 cm Farbloses Klarglas

Körperfragment einer Buckelphiale. Ungefähr zwei Buckeldrittel mit Fehlstellen und Mittelsteg erhalten. 17. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H:

V 1983 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 18.135 3,85 cm

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B: St: Material:

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2,5 cm 0,3 cm Farbloses Klarglas

Bodenfragment einer Buckelphiale. Erhalten sind der untere Ansatz (Spitze) eines ca. zur Hälfte im unteren Abschnitt erhaltenen Buckels sowie eines Rudiments des anschließenden Buckels einschließlich des Mittelstegs. Auf der Innenseite ist die Oberfläche an zwei Stellen (Steg und unterer Buckelbereich) abgeplatzt. 18. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1986 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.902 1,3 cm 1,7 cm 0,1–0,2 cm Farbloses Klarglas

Randansatz einer Buckelphiale. Erhalten ist der untere Randabschluss, mit dem der Rand vom Gefäßkörper durch eine schärfere Kante abgesetzt ist sowie ein schmaler Streifen der darüber aufsteigenden Randwandung und der unter dem Randabschluss folgende Ansatz eines Buckels. 19. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1987 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.826 2,0 cm 3,88 cm 0,18–0,2 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Randes unmittelbar vom oberen Buckelabschluss bis zur Lippe. Lippe verdickt und auf der Oberseite seicht horizontal geschliffen. Der Rand ist durch eine schärfere Kante vom Körper abgesetzt. 20. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.:

V 1988 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.871

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Jan-Marc Henke

H: B: St: Material:

1,75 cm 2,15 cm 0,2–0,21 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Randes unmittelbar von der Kante, mit der der Rand vom Körper abgesetzt ist, bis zur Lippe. Lippe verdickt und auf der Oberseite seicht horizontal geschliffen. 21. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1989 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.978 0,9 cm 1,1 cm 0,11–0,19 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Randes unmittelbar oberhalb der Kante, mit der der Rand vom Körper abgesetzt ist, bis zur Lippe. Lippe verdickt und auf der Oberseite seicht horizontal geschliffen. 22. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1992 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 18.182 1,35 cm 1,8 cm 0,1–0,2 cm Farbloses Klarglas

Buckelfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Buckels unmittelbar von seinem Ansatz am Mittelsteg. Auf der Außenseite befindet sich eine doppelt gerahmte geschwungene Linienstruktur, offenbar eine Ritzung (die Form erinnert an einen spitz auslaufenden Pferde- oder Satyrschweif, eventuell auch ein vegetabiles Objekt). 23. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.:

V 1993 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755/5500 2012-043 17.372

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Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos

H: B: St: Material:

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1,2 cm 2,05 cm 0,1–0,2 cm Farbloses Klarglas

Randfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Randes unmittelbar oberhalb der Kante, mit der der Rand vom Körper abgesetzt ist, bis zur Lippe. Lippe verdickt und auf der Oberseite seicht horizontal geschliffen. 24. Phiale B Inv.-Nr.: FO: Schnitt: Befund: Messnr.: H: B: St: Material:

V 1994 Deponie von Heiligtumsabfällen östl. der Altäre Q4755-60/5500 2012-052 17.818 c 1,75 m 0,8 cm 0,06–0,1 cm Farbloses Klarglas

Buckelfragment einer Buckelphiale. Erhalten ist ein kurzer Abschnitt des Buckels wohl aus dem oberen Buckelbereich.

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Abb. 1: Ruinenplan des Heraions von Samos mit der Lage des Grabungsareals von 2010 bis 2013 östlich der Altäre. © 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos

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Abb. 2: Westprofil der Grabungsschnitte Q 4755/5505 bis Q 4755/5515. Abb. 3: Fundverteilung innerhalb der Deponie von 590/70 v. Chr. (Schicht c). Schwarze Kreuze = Fragmente (RS, BS, Henkel) von Speise- und Trinkgeschirr, graue Kreuze = Fragmente anderer Votivgattungen.

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Jan-Marc Henke

Abb. 4: Verteilung der Fragmente der Phialen A und B.

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Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos

Abb. 5: Fragmente der Phiale A.

Abb. 6: Fragmente der Phiale B.

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Abb. 7: Rekonstruktionszeichnung der Phiale A.

Abb. 8: Rekonstruktionszeichnung der Phiale B.

Abb. 9: Detail der Fischdarstellung auf Kat. 13.

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Zwei früheisenzeitliche Glasphialen aus dem Heraion von Samos

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Ruinenplan des Heraions von Samos mit der Lage des Grabungsareals von 2010 bis 2013 östlich der Altäre; Plan: (DAI-Athen) Th. Schulz mit Modifikationen des Autors. Abb. 2: Westprofil der Grabungsschnitte Q 4755/5505 bis Q 4755/5515; Zeichnung: J.-M. Henke. Abb. 3: Fundverteilung innerhalb der Deponie von 590/70 v. Chr. (Schicht c). Schwarze Kreuze = Fragmente (RS, BS, Henkel) von Speise- und Trinkgeschirr, graue Kreuze = Fragmente anderer Votivgattungen; Plan: J. Fuchs. Abb. 4: Verteilung der Fragmente der Phialen A und B; Plan: J. Fuchs. Abb. 5: Fragmente der Phiale A; Neg.-Inv.-Nr.: D-DAI-ATH-2016-12821; Foto: J.-M. Henke. Abb. 6: Fragmente der Phiale B; Neg.-Inv.-Nr.: D-DAI-ATH-2016-12805; Foto: J.-M. Henke. Abb. 7: Rekonstruktionszeichnung der Phiale A; Zeichnung: J.-M. Henke. Abb. 8: Rekonstruktionszeichnung der Phiale B; Zeichnung: J.-M. Henke. Abb. 9: Detail der Fischdarstellung auf Kat. 13; Neg.-Inv.-Nr.: D-DAI-ATH-2014-6979; Foto: J.-M. Henke.

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Dem Lokalen auf der Spur. Einige Vorbemerkungen zur Parochial Polis Hans Beck

Kein Paradigma hat in Humanwissenschaften gegenwärtig so viel Konjunktur wie dasjenige der Konnektivität. Inspiriert von sozialen Netzwerken im Internet und einer omnipräsenten Dynamik der Globalisierung sind Vernetzung und connectivity zu Schlüsselbegriffen des wissenschaftlichen Diskurses geworden. Horizonterweiterung durch voranschreitende Vernetzung und Beschleunigung von Kommunikation durch mediale Innovation sind dabei als solche natürlich nicht neu. Es handelt sich um universelle, transhistorische Figuren, die sich in verschiedenen Epochen und historischen Konstellationen beobachten lassen, und es ist auch zu erkennen, wie sich diese Figuren mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen: manchmal verlangsamt und retardiert, manchmal schrittweise, manchmal dramatisch akzeleriert. In der Geschichte des antiken Mittelmeerraumes sind die entsprechenden Makroprozesse schnell benannt. Die griechische Welt wurde von der Archaik bis in die Alexanderzeit immer größer. Ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. ging der Kulturraum des Hellenismus im schnell wachsenden Imperium Romanum auf, dessen Ausdehnung wiederum bald den Gedanken einer globalen Herrschaft evozierte. In der Zeit des Augustus machte das geflügelte Wort von einer „Herrschaft ohne Grenzen“ die Runde. Mit der Expansion ging eine Intensivierung der Binnenkontakte einher. In jeder Epoche der Antike beschleunigten sich die Kommunikation, der Warentransport und der Wissenstransfer. Am vorläufigen Ende dieses Prozesses in der hohen Kaiserzeit hatten die städtischen Eliten des Imperiums Zugang zu einem gewaltigen Wirtschaftsraum, und sie waren auch in weiträumige Netzwerke eingebunden, die die mediterrane Welt umspannten. Für den Ausgangspunkt der Welterweiterung in der griechischen Antike, das Zeitalter der sogenannten Großen Kolonisation, hat Irad Malkin mit A Small Greek World (2011) eine scheinbar paradoxe Formel geprägt, wobei sein Befund ausdrücklich von Netzwerktheorie und Konnektivität in den sozialen Medien inspiriert ist: Je größer und schneller ihre sozialen Netzwerke, umso kleiner wurde die Welt der Hellenen. Zu den vielen konzeptuellen und methodischen Grundprämissen der Debatte gehört die Unterscheidung zwischen bloßem Kontakt auf der einen Seite und auf der anderen Seite Konnektivität und Netzwerkmentalität, die den Kern von network societies (Manuel Castells) bilden. Peregrine Horden und Nicholas Purcell haben diese Grundbeobachtung in The Corrupting Sea (2000) auf eine neue Grundlage gestellt, indem sie ein neues Modell mediterraner Geschichte

Bei den folgenden Überlegungen handelt es sich um einen kleinen Ausschnitt meines Forschungsprogramms The Parochial Polis. Localism and the Ancient Greek City-State, www.hansbeck.org/local. Ich bin dankbar für die Gelegenheit, eine erste Skizze des Themen- und Fragehorizonts in der Festgabe für Linda-Marie Günther vorstellen zu dürfen. Mein Dank gilt auch Christian Fron (Heidelberg) für die Erstellung der Karte von Skillous und Umgebung.

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entworfen haben, eines, das das gerade skizzierte Bild der Expansion eines einheitlich-homogenen Handlungsraumes im Mittelmeer maßgeblich modifiziert. Nach Fernand Braudel waren die zahllosen kleinen Räume des mediterranen Beckens einem langsamen Rhythmus von Geschichte und ihrer viel zitierten langen Dauer unterworfen. The Corrupting Sea greift diese Beobachtung auf und passt sie an die impliziten Prämissen des Globalisierungsdiskurses an. Die mediterrane Welt wird von Horden und Purcell als Ansammlung von unzähligen Mikroregionen beschrieben, Regionen, die ihrerseits kulturell fragmentiert und oft auch in eigene Ökosysteme eingebettet waren. Auf der anderen Seite gilt der Austausch zwischen den Mikroregionen – das ist die post-Braudelsche Dimension des Ansatzes1 – als Indikator und Ausdruck einer dezidierten, weitreichenden und intensiven mediterranen connectivity. Genau in dieser Hinsicht ist The Corrupting Sea auch Gegenwartsdiagnose. Während die fortschreitende Integration globaler Wirtschafts- und Kommunikationsräume in der Gegenwart einen dezidierten Regionalismus und Lokalismus hervorruft, erkennen Horden und Purcell eine ähnliche Konstellation im antiken Mittelmeerraum, einschließlich eines kreativen Spannungsfelds zwischen globaler und lokaler Welt und einer multilateralen Vernetzung von microregions untereinander. Zuweilen werden digitale und mediterrane connectivity dabei als direkt vergleichbar gesehen, zumindest in Bezug auf ihre Wirkung für die Beteiligten. Spatial turn, area sudies und microhistories tragen das ihre dazu bei, dass das Paradigma mediterraner Hypervernetzung weiter Sinnfälligkeit und Überzeugungskraft gewinnt.2 Konnektivität und Globalisierung als ihre sublimierte Form setzen also nicht allein und schon gar nicht ausschließlich eine Homogenisierungswelle von Kultur und Konsum in Gang, im Gegenteil. Denn während im Zuge von beschleunigter Konnektivität immer neue machtpolitische, ökonomische, soziale, kulturelle und religiöse Konstellationen entstehen, sind die allermeisten Menschen einem Umfeld ausgesetzt, das im Kern lokal konfiguriert ist. Und zumindest in der Gegenwart führt die Dichotomie von lokaler und globaler Welt zu einer Gegenbewegung zur Globalisierung, dem bereits genannten Lokalismus, der auf lokale Identität und Idiosynkrasie setzt. Da globale Homogenisierung und lokale Heterogenisierung in einem dauerhaften, intensiven Dialog zueinander stehen, haben Roland Robertson und andere den Begriff der ‚Glokalisierung‘ geprägt. Dies soll zum Ausdruck bringen, dass das Globale immer lokaler Aneignung und Adaption ausgesetzt ist, wobei die Aneignung ihrerseits auf das Wesen des Globalen zurückwirkt. Lokale und globale Welt sind ineinander inhärent.3 In den gegenwartsgespeisten Modellen von Globalisierung ist das Lokale vor allem eine sekundäre Referenzgröße, d. h. ein Ordnungsraum, in dem Abwehrstrategien gegen die tektonischen Verschiebungen in der Lebenswelt der Menschen formuliert werden, die der Fortschritt des Globalen zeitigt. Eine Vielzahl der Deutungsmuster baut dabei auf sozioökonomischen Argumenten auf, die sich gegen den globalen Kapitalismus und seine Derivate richten, gegen die Ausbeutung unterprivilegierter Produktionsräume bei gleichzeitiger globaler Abschöpfung von Gewinnen, insbesondere durch sogenanntes investment banking.4 Für die Globalisierungshistoriker Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson ist es etwa ein Leit-

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Concannon/Mazurek 2016. Castells 2000. Zur mediterranen Konnektivität vgl. Malkin 2005; Morris 2005; Dabag [u. a.] 2016. Robertson 1992; vgl. auch Kumaravadivelu 2008. Vgl. Hess 2009.

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motiv des neuen Lokalismus, in Reaktion auf die Globalisierung „neuen Antrieb für die Verteidigung lokaler Eigenart und Identität“ zu beziehen.5 Gleichzeitig, und wiederum vom Primat der Globalisierung gedacht, schaffen die fortschreitende Universalisierung und Vernetzung einen qualitativ neuen Orientierungsrahmen. Martin Albrows Konzept von Globalität speist sich aus der doppelten Beobachtung, dass die Schicksale von Gesellschaften, aber mithin auch diejenigen von einzelnen Menschen, nicht nur planetarisch miteinander vernetzt sind, sondern dass das Wissen um diese Konnektivität auch zur Ausprägung einer vernetzten Mentalität und in diesem Sinne eines kognitiv-globalen Orientierungsrahmens beiträgt. Zu den Hauptmerkmalen dieses Rahmens gehört, dass er als Folge der ubiquitären connectivity das Raum-Zeit Kontinuum menschlichen Handelns neu kalibriert bzw. ganz außer Kraft setzt. Der Unterschied zwischen Vernetzung und nicht-Vernetzung wird folglich auch zur neuen Schnittstelle zwischen Globalität und lokaler Welt.6 In der Globalisierungsdebatte ist das Lokale also vor allem ein Verhandlungs- und Adaptionsraum des Globalen, in dem es zu verschiedenen Vermeidungsstrategien, Aversion und auch Abgeschiedenheit (oder in der Netzwerkmetapher „Abgeschnittenheit“) kommt. Und gleichzeitig münden connectivity und Globalisierung – oder Glokalisierung – in neue politisch-kulturelle Sinnmuster, die als solche größere, wirksamere und erfolgreichere Ordnungskategorien sind als diejenige des Lokalen. Für die Geschichte des archaischen und klassischen Griechenlands, wie sie in zahllosen Gehöften und Dorfgemeinschaften (komai), Landstädtchen (polismata), Stadtstaaten (poleis) und Bundestaaten (ethnē und koina) geschrieben wurde, ist nichts von diesen Prämissen selbstverständlich und vieles fragwürdig. Dabei ist es zunächst einmal unstrittig, dass die lokalen Welten Griechenlands in engem Kontakt miteinander standen und vielfach vernetzt waren. Die sogenannte peer politiy interaction und die aus ihr resultierenden Impulse in der Politik, Religion, Wirtschaft usw. bieten beispielsweise nach wie vor ein griffiges Erklärungsmodel für die Entstehung des griechischen Kulturraumes als solchem. Inwiefern und wie genau aber diese Vernetzung die Wahrnehmung von universellen Konfigurationen lenkte und ob sie automatisch eine network society generierte, in der kognitiv über eine neue Qualität von Kommunikation nachgedacht wurde, ist eine ganz andere Frage. Dass die Welt durch zunehmende Vernetzung, etwa in der Politik und im Handel, mental kleiner wurde, ist nicht ausgeschlossen, wäre aber erst zu zeigen. Und dass das Lokale ein Rückzugsraum war, in dem Gegenreaktionen zu einer voranschreitenden Globalisierung formuliert wurden, ist trotz mancher Entschleunigungsdiskurse in der Antike sehr gegenwartsbezogen gedacht. 7 Nicht jeder hatte an der viel zitierten connectivity (in) der „kleinen Welt“ der griechischen Antike teil, und nicht jeder wollte umgekehrt Weltbürger oder Kosmopolit sein – für den Begründer des Begriffs, Diogenes von Sinope, lag die Qualität des Kosmopoliten gerade darin, dass er „staatlos (apolis), heimatlos, ohne lokale Herkunft“ war.8 Es bedarf nicht viel Konjektur, diesen Gedanken für die allermeisten Bürger griechischer Stadtstaaten als undenkbar zu sehen. Das Eintreten für die kleinräumige, lokale Welt mit allen ihren Idiosynkrasien und Distinktionen war in der Traditionsgeschichte der Mittelmeerwelt jedenfalls 5 6 7 8

Osterhammel/Petersson 2003, 12. Albrow 1996. Beck 2015. Diog. Laert. 6,38; vgl. Chin 2016.

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so alt wie die Faszination mit Vernetzung und Ferne. Der Gegensatz ist so alt wie die griechische Kultur selbst, er steckt in ihren Anfängen. Die antike Tradition hat ihn auf einen Wettstreit zwischen Homer und Hesiod zugespitzt, die beiden Archegeten der Literatur und die mit ihnen assoziierten Lebensstile. Im fiktiven Preiskampf zwischen den Urvätern der griechischen Dichtung trug Hesiod dabei übrigens den Sieg davon. Der bäuerliche Lebensstil hatte sich hier also gegen den Glanz ferner Welten durchgesetzt.9 Phokylides aus Milet nahm den Faden im späten 6. Jahrhundert auf und pries die kleine, wohlgeordnete Polis auf einem kargen Fels gegenüber der Weltstadt Ninive, und zwar offenbar gerade weil es der Polis an Weltläufigkeit fehlte.10 Die Debatte über den antiken Globalisierungsbegriff und seine Anwendbarkeit auf die alte Welt steht trotz mancher Fortschritte gerade in der römischen Geschichte in Vielem noch am Anfang. Immerhin wird dem Lokalen dabei neue Aufmerksamkeit entgegengebracht, meistens allerdings als Randfigur und in Relation zur weiteren Ordnungsebene des Globalen.11 Lokal meint in diesem Zusammenhang immer noch vor allem eine deskriptive Kategorie, zum Beispiel lokale Eliten, lokale Ausdrucksformen materieller Kultur oder lokale Geschichte. Tim Whitmarsh hat auf eine weitere semiotische Qualität des Lokalen aufmerksam gemacht: Der Begriff wird in der Forschung oft für Kulturräume benutzt, die weder griechisch noch römisch sind. Sie werden einfach auf den Status des Lokalen reduziert. 12 Die Ethnizitätsdebatte, in deren Zuge verschiedentlich auch von lokalen Identitäten die Rede ist, hat ihrerseits einen wichtigen Beitrag zur Erforschung lokaler Diskursräume geleistet, insofern sie Narrative von Abstammung und Gruppenkonstituierung in sogenannten imagined communities (Benedict Anderson) freigelegt hat. Für Boiotien hat die Analyse von Abstammungsmythen und Gründungssagen beispielsweise gezeigt, wie sich diese Traditionen einerseits diachron entwickelten und wie ihre Fortschreibung andererseits in konkrete lokale Räume hineingeschrieben war, die dann die Plattform für die Genese von Polis- und Ethnosidentitäten in Boiotien geboten haben.13 Dabei konzentriert sich die Diskussion lokaler Identitäten vor allem auf interpersonale Konstellationen; lokale Identität ist insofern vor allem eine soziologische Prädisposition. Lokale Identität (local identity) und eine Identität des Lokalen (identity of place), die tief in den Ort hineingeschrieben ist und aus diesem wiederum maßgebliche Impulse bezieht, sind aber nicht dasselbe. Die räumliche Dimension des Lokalen, seine inhärent spatiale Qualität, ist hier von besonderer Bedeutung. Denn lokal meint erstens den alltäglich sicht- und in diesem Sinne erfahrbaren Raum des Einzelnen, wie er sich aus einer embodied experience ableitet. Der lokale Einzugsradius ist keine absolute Größe, sondern er bestimmt sich relational. Er baut einerseits auf der Alltagserfahrung des Einzelnen im Verhältnis zur Umgebung auf, die unmittelbar im Ort verankert, direkt erfahrbar und in diesem Sinne lokal kodiert ist. Andererseits

9 Zum Wettkampf Homers und Hesiods (Homeri Opera Band 5), ausgetragen im Zuge der Leichenspiele des Amphidamas von Chalkis, vgl. West 1967 und Richardson 1981. Pausanias (9,31,3) kannte noch den Dreifuß, den Hesiod im Anschluss den Musen geweiht haben soll. 10 Frg. 4 Gentili/Prato mit Hall 2007, 74 und Itgenshorst 2014, 88; 208–210. 11 Vgl. vor allem Hingley 2008; Pitts/Versluys 2015; Ando 2016. 12 Whitmarsh 2010, 3. 13 Vgl. Kühr 2005.

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impliziert lokal, dass es Räume jenseits dieses Radius gibt. Die Grenzen zum nächsten Ordnungsraum, dem Regionalen, sind ihrerseits fließend, beide stehen in Relation zueinander und nicht in hartem Gegensatz. Über die embodied experience hinaus manifestiert sich die spatiale Qualität des Lokalen zweitens in einer metaphorischen Dimension. Diese metaphorische Qualität baut auf individueller Erfahrung auf, sie überschreitet sie aber auch. Denn als abstrakte Kategorie ist das Lokale ein Raum, in den embodied experience hineinprojiziert wird, und zwar von all denen, die den physischen Raum der Alltagswelt miteinander teilen.14 Henri Lefebvre hat schon vor einiger Zeit beide Deutungsebenen von Raum, den physischen wie den abstrakten, kategorisch erschlossen und auch ihre Verbindungen freigelegt. Naturraum segregiert, so Lefebvre, erschafft lokale Räume, die neben-, mit-, oder gegeneinander existieren. Sozialer Raum, auf der anderen Seite, „implies actual or potential assembly at a single point, or around that point. It implies, therefore, the possibility of accumulation“15 – eine Möglichkeit, die ihrerseits von äußeren Gegebenheiten wie Infrastruktur, medialer Kommunikation oder politischer Kultur bestimmt wird. Die Verbindung zwischen beiden lokalen Räumen liegt wiederum darin, dass dem Naturraum, jenseits seiner Beliebigkeit (die GPS-Koordinaten können überall liegen), eine maßgebliche Bedeutung bei der Aushandlung von sozialem Raum zukommt. Das impliziert freilich keinen topographischen oder geographischen Determinismus. David Harvey hat ja wiederholt betont, dass der Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und Naturraum gerade nicht von Letzterem, der Geographie, vorbestimmt wird. Das Kausalverhältnis verläuft genau umgekehrt. Soziale Qualität erlangt der lokale Raum nicht durch einen absoluten geographischen Zustand, sondern „through human practice“, das heißt durch einen langwierigen und oft auch impliziten Verhandlungsprozess, in dessen Folge Raum nach den Maximen menschlichen Handelns gestaltet wird.16 Die Ontologie von lokalem Raum (ontology of place) erschöpft sich demnach nicht allein in einem physischen Sein-Zustand, sondern sie umfasst ihrerseits die Aneignung dieses Zustandes und seine Integration in den menschlichen Handlungshorizont. Die Ontologie ist eine Kombination von Naturraum und menschlichem Tun, von Materie, Handeln und Prozess, durch die space zu place wird.17 Im Zuge des bereits genannten spatial turn ist dem so verstandenen Raum, d. h. dem mit sozialen Sinn angereicherten öffentlichen Raum als Ort oder Bühne gesellschaftlichen Handelns, viel Aufmerksamkeit in der Forschung beigemessen worden und dies wiederum im Besonderen in seiner Ausprägung in antiken Stadtstaatskulturen. Die Vorortung gesellschaftlichen Handelns wird dabei erneut im doppelten Sinne verstanden, indem die relevanten Praktiken, etwa religiöser, politischer, zeremonieller Natur, nicht nur eines konkreten Handlungsortes bedürfen, sondern dass der vielschichtig strukturierte öffentliche Raum durch die Ansiedlung dieser Praktiken in ihm überhaupt erst zu einem Ort wird. In dem Konzept von Verräumlichung und Verortung von politischer Kultur ist alles auf Direktheit der Interaktion angelegt. Gesellschaftliches Handeln ist unmittelbar hör-, sicht-, und erfahrbar und in diesem 14 Vgl. Hall 2013, auch zum Verhältnis dieser embodied experience zu embodied knowledge, das seinerseits lokal ist. 15 Lefebvre 1974/1991, 101. 16 Harvey 1979/2006, 275. 17 Vgl. bereits Soja 1989, 118–137, dessen Konzept einer „spatialized ontology“ zu einem wesentlichen Wegbereiter des spatial turns wurde.

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Sinne lokal. In dieser Lesart der spatialen Wende ist der lokale Raum denn auch kein sekundärer Bezugsrahmen, sondern die diskursive Quelle, aus der sich Alltagsüberzeugungen, Weltwahrnehmungen und lokale Regimente von Wahrheit speisen. 18 Die Suche nach dem Lokalen ist also mehr als der Versuch, Geschichte in einem beliebigen Kontext zu erzählen. Der lokale Horizont ist selbst eine Ordnungskategorie mit eigener diskursiver Qualität, die das menschliche Handeln im Alltag lenkt, durch persönlich-privilegierte Interaktion, durch materielle wie immaterielle Ausdrucksformen, die an den lokalen Horizont geknüpft sind und aus diesem eigene Impulse beziehen, und schließlich durch die Ontologie des lokalen Raumes selbst. Jede einzelne dieser Facetten ist den rasch wandelnden Ordnungsmustern von ‚universaler‘ bzw. ‚globaler‘ Veränderung ausgesetzt. Um das Wechselspiel zwischen beiden besser zu verstehen, lohnt es sich, auf die Spurensuche nach dem Lokalen zu gehen und damit just den Raum auszumessen, in dem menschliches Handeln seinen allerersten und unmittelbaren Bezugspunkt findet.

Griechische Religion: das Ende der Dichotomie Lokal–Global Das traditionelle Bild der griechischen Religion ist rasch skizziert. In Abwesenheit eines einheitlichen Dogmas und kanonischen Textes, etwa eines religiösen Buches, gelten die überregionalen Heiligtümer von Olympia und Delphi gemeinhin als Zentren eines panhellenischen Glaubens, mit gemeinsamem Pantheon, mythischen Traditionen und verbindenden Ritualen sowie dessen Ausdrucks in ta hiera, das heißt, in Opferpraxis und Kult. Die Verehrung der gemeinsamen Gottheiten in den beiden großen Heiligtümern gehörte ja auch für Herodot zum Griechentum schlechthin, wie Linda-Marie Günther19 resümiert hat. Die zweite, zu den transregionalen Heiligtümern komplementäre Arena religiösen Handelns wird in der Polis gesehen. In ihrer Kommunikation mit den Göttern griff die Bürgergemeinde auf ein breites Spektrum von Opfer- und Kultpraktiken zurück, die tief in der Polis verankert und durch sie sanktioniert waren. So wurden die Opfer in der Regel von Polisbeamten vollzogen, und zwar vor den Augen der anwesenden Vollbürger und nach Vorschriften und Gesetzen, die ihrerseits von der Stadt erlassen wurden. Die Zeremonie unterlag der lokalen Welt: Sie wurde vom lokalen Kultkalender bestimmt und den lokalen Variationen des Olympischen Pantheons, ausgedrückt in lokalen Epitheta der jeweiligen Gottheiten; ferner vom geheiligten Bund, den die Bürger mit ihren Polisgottheiten geschlossen hatten; und sie verfolgte das Ziel, durch die Stärkung dieses Bundes den künftigen Wohlstand der Gemeinschaft zu sichern. Diesen hohen Stellenwert der Polis in der alltäglichen Opfer- und Kultpraxis hat Christiane SourvinouInwood zum Anlass genommen, die griechische Religion als Polisreligion zu charakterisieren. Der Begriff soll anzeigen, dass die Polis die Gesamtheit der religiösen Beziehungen zwischen den Bürgern und den Göttern vermittelte. 20 Mit diesem Bild von zwei tragenden Säulen der griechischen Religion, den überregionalen Heiligtümern und der Polis, wird üblicherweise eine eigene Taxonomie von Relevanz

18 Vgl. Hölkeskamp [u. a.] 2003; Boschung/Hölkeskamp/Sode 2015. 19 Günther 2012, 51. 20 Vgl. Sourvinou-Inwood 1990.

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verknüpft. Die Forschung sieht mit der Dichotomie von universeller Dimension des Religiösen auf der einen und lokaler Sphäre auf der anderen Seite unterschiedliche Bedeutungszirkel und Wichtigkeiten vorgezeichnet. Delphi und Olympia stehen dabei für die weite Vernetzung in der griechischen Welt und für einen lebendigen Austausch: Weihgeschenke aus den fernen Ecken des Mittelmeerraumes, weitreisende Theorodoken und andere Festgesandte, und einheitliche Opfer und Kulte, die sich in Olympia verdichten und von dort wiederum in die entfernten Winkel des griechischen Kulturraumes ausstrahlen: all dies scheint eine immense panhellenische Gravitationskraft der Religion zu indizieren. Polisreligion ist im Gegenzug durch den stark eingegrenzten Kreis der an ihr beteiligten Personen charakterisiert. Der lokale Horizont griechischer Religion ist deshalb, so die herkömmliche Orthodoxie, nur von eingeschränkter und untergeordneter Bedeutung. Eine solche oppositionelle Verortung des Religiösen wird neuerdings grundsätzlich in Frage gestellt. Julia Kindt hat angemahnt, dass die Unterscheidung zwischen lokalem und universellem Diskursraum auf zweifelhaften Prämissen aufbaut, ja eine „falsche Dichotomie“ evoziert.21 Am einen Ende des Gegensatzes wird neuerdings die panhellenische Qualität von Olympia (und Delphi) als solche hinterfragt bzw. ganz in Abrede gestellt hat. Lokale und globale Welt standen sich in Olympia nicht nur ergänzend gegenüber, sondern befanden sich in einem dauerhaften, wechselseitigen Dialog miteinander. Natürlich war der Wettbewerb zwischen den griechischen Städten dabei ein Leitgedanke, der die performativen Praktiken im Heiligtum (Statuenweihungen, Siegesmonumente, usw.) lenkte. Jede Form von religiöser Konformität war somit immer auch vom Motiv der Konkurrenz unter den Städten gespeist, die, bei allen kulturellen Gemeinsamkeiten, keinerlei Scheu zeigten, ihre Kontrahenten im öffentlichen Raum des Heiligtums zu demütigen. Es ist genau dieses kompetitive Ethos, das Michael Scott jüngst zum Anlass genommen hat, einen ausgeprägten Panhellenismus als solchen in Abrede zu stellen.22 Eine grundsätzliche Negierung der panhellenischen Qualität Olympias dürfte den Gedanken von Kollektivität und auch kultureller Homogenität ihrerseits zu sehr marginalisieren. Wie dem auch sei, von einschlägigerer Bedeutung ist hier, dass die vielfältigen Ausdrucksformen dieses kompetitiven Ethos, in Form von Weihungen, Dedikationen und Monumenten, einer ganz eigenen Grammatik unterworfen waren. Weihgeschenke in Olympia wurden zunächst einmal vor einem universellen Publikum aufgestellt. Der Adressatenkreis war weit gefasst; das war ja einer der Hauptgründe, warum Städte überhaupt in Olympia dedikatorisch tätig wurden, weil sie dort ein breites Publikum erreichten. Für die Weihungen selbst bedeutete das, dass sie kommunizierbar und in diesem Sinne also versteh- und entschlüsselbar sein mussten. Auf der anderen Seite waren sie einem starken lokalen Kontext unterworfen, der dem globalen Inventar ganz eigene und auch eigenwillige Form verlieh. Zunächst einmal war die weitaus größte Zahl von Siegesmonumenten in Folge von militärischen Konflikten aufgestellt worden, die ihrerseits lokaler Natur waren. Oft handelte es sich um nicht mehr als Nachbarschaftskriege. In einer Reihe von Bronzeinschriften vom späten 6. Jahrhundert feierte Orchomenos einen Sieg über Koroneia; Theben über Hyettos; und Tanagra über eine

21 Kindt 2012 (hier 154). 22 Scott 2010.

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weitere Nachbargemeinde, deren Name verloren ist.23 Dieselbe Konstellation von nachbarschaftlichen Beziehungen motivierte eine Reihe von Verträgen und Friedensschlüssen, die unter die Autorität des Heiligtums gestellt wurden. Die frühesten Beispiele sind ein Vertrag zwischen Sybaris und den benachbarten Serbaioi in Unteritalien von ca. 550 v. Chr. und eine vergleichbares Abkommen zwischen Anaitoi und Metapioi, mit dem beide Parteien einen 50-jährigen Frieden begründeten.24 Auf der Peloponnes schickten Elis und Heraia zur etwa selben Zeit die Kopie eines Vertrages nach Olympia.25 Diese Beispiele bezeugen natürlich das stetig wachsende Ansehen des Heiligtums in der griechischen Welt; der panhellenische Kontext ist unverkennbar. Allerdings beruhten die Weihungen selbst auf Anlässen, die in ihrem Kern lokal kodiert waren. Ein eigenwilliger Befund also: Während der Weihradius weitgespannt war, war der eigentliche Aktionsraum der Polis beschränkt. In seinem Kern war er von lokaler Natur. Über Anlass und Kontext kam das Lokale auch im Erscheinungsbild der Weihung selbst zum Ausdruck. Als lokale Vorsteher in Olympia übten die Eleier einen wesentlichen Einfluss auf die gängigen Weihpraktiken im Heiligtum aus. So waren die Städte etwa der Entscheidung der Eleier ausgeliefert, wo denn ihre Weihung in der Altis aufgestellt wurde bzw. ob eine Weihung überhaupt gestattet war. Beim Weihgeschenk selbst sah die Sache anders aus. Die Städte hatten hier freie Hand, d. h. sie bestimmten Form und Design, und sie warben dafür Künstler an, je nachdem, wie es um ihr Budget stand und wer gerade für den Auftrag zu haben war. Damit waren die Weihungen aber wiederum Ausdruck von Stil und Tradition, wie sie in der Auftrag gebenden Stadt vorherrschten. Mit anderen Worten, die Städte weihten, was sie wollten, wie sie wollten. Sinn und Botschaft waren lokal kodiert. Das hatte aber wiederum Auswirkungen auf die vermeintlich universelle Kommunikation in Olympia. Den genauen, lokalen Hintergrund der bereits genannten Weihungen boiotischer Bronzetafeln dürften nicht alle Besucher im Heiligtum verstanden haben. Wann fanden diese Schlachten statt, und weshalb? Und wo genau war Hyettos, geschweige denn Anaitoi? Selbst Experten wie Pausanias konnten ins Straucheln kommen. Zur Statue des Theognotos aus Aigina, Sieger im Ringkampf der Knaben, bemerkt er, dass dieser die Frucht einer Pinie und einen Granatapfel in den Händen hielt. Die Bedeutung war Pausanias unklar; offenbar gingen sie auf eine „lokale Tradition“26 zurück. Ähnliche Manifestationen des Lokalen erkannte Pausanias in der Eigenheit der Namensgebung, die oft lokalen Gegebenheiten folgen und auch in anderen sprachlichen Wendungen, die nur von Einheimischen gebraucht wurden. 27 Mit anderen Worten, sie waren unverständlich. Wie so oft auf seiner Reise war Pausanias auf lokale Informanten angewiesen, die ihm kulturelle Eigenarten und lokale Idiosynkrasien erklärten. Die cultural literacy des Pausanias hatte selbst in Olympia, dem Zentrum dieser Kultur schlechthin, ihre Grenzen.28 Auf ganz andere Art und Weise brachten die Sikyonier ihre lokale Welt ins Heiligtum, und das in wörtlichem Sinne. Ihr Schatzhaus in Olympia war aus Kalksandstein errichtet, wie 23 24 25 26 27 28

Vgl. Beck 2014, 24–28. Meiggs/Lewis Nr. 10. Meiggs/Lewis Nr. 17. Paus. 6,9,1. Paus. 5,21,1–2. Beck 2016.

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er sonst nirgends in der Altis verbaut wurde. Schon Wilhelm Dörpfeld hat deshalb die Vermutung geäußert, dass der Stein aus Steinbrüchen in Sikyon importiert wurde, wo er im Umland der Stadt reichlich vorkommt. Für das ältere Schatzhaus der Sikyonier in Delphi wurde ebenfalls der Gebrauch von Steinen aus der Sikyonia postuliert.29 Der Gebrauch von Stein aus der chōra in monumentalen Bauprojekten in der Polis wird im allgemeinen als Stärkung der mentalen Bindung zwischen Stadt und Hinterland gedeutet. 30 Vor diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung der Sikyonier, für ihre Schatzhäuser in Olympia und Delphi ausschließlich Kalksandstein aus der Sikyonia zu verwenden, besonders bedeutungsvoll. Der Gebrauch lokaler Steine hatte einerseits den Effekt, dass das Territorium Sikyons unter den Schutz der Götter gestellt wurde. Die Schatzhäuser verankerten Sikyon in den Heiligtümern, sie schrieben die Polis in den Raum Olympias und Delphis hinein, in metaphorischem, symbolischem und wörtlichem Sinne. Auf der anderen Seite signalisierten die Schatzhäuser ihrerseits eine enge Anbindung an Sikyon. Der Schritt war ingeniös. Umgeben von mächtigen Nachbaren (Korinth, Pellene, Nemea und Argos weiter im südlich), zu denen die Grenzen in der chōra oft prekär waren, artikulierte er – vor einem weiten Publikum! – den unauflösbaren Bund zwischen Stadt und Umland von Sikyon, ja er stellte diesen Bund unter die Oberhoheit der großen Heiligtümer. Diese Beispiele illustrieren, wie die panhellenische Dimension von Opfer und Kult in den überregionalen Heiligtümern mit einer lokalen Agenda verzahnt war. Der weite Kreis religiösen Handelns folgte einer verbindenden Grammatik, gleichzeitig wurde er selbst in Olympia vom Ausdruck einer lokalen Welt bestimmt. Die griechische Religion oszillierte hier frei zwischen lokalen und universellen Ausdrucksformen. Beide Dimensionen waren ineinander inhärent. Am anderen Ende des Spektrums, demjenigen der Polis, hat der Stadtstaat gleichermaßen religiöse Gravitationskraft eingebüßt. Das gilt vor allem für das Paradigma von Polisreligion. In den vielzitierten Worten von Christiane Sourvinou-Inwood galt Polisreligion lange als „a religious sytem which formed part of the more complex world-of-the-polis system. ... [D]irect and full participation in religion was reserved for citizens, that is, those who made up the community which articulated the religion“.31 Sourvinou-Inwood hat diese Definition noch dahingehend erweitert, dass die Griechen über ihre Polis hinaus stets den Status von xenoi oder Fremden innehatten, wenn sie an den hiera anderer Griechen teilnahmen, einschließlich der panhellenischen Feste in Delphi und Olympia. Erneut in den Worten Sourvinou-Inwoods, „the polis has ultimate authority in, and control of, all cults, and polis religion encompassed all religious discourses within in“.32 Die wesentlichen Argumente für diese Sichtweise wurden bereits angesprochen. Das gilt für die einheitliche Identität von religiösem Personal und öffentlichen Amtsträgern; der Personenkreis war in beiden Fällen oft identisch. Und die Verabschiedung religiöser Vorschriften und Gesetze durch Bürgerschaft machte diese im Gegenzug wiederum für alle Politen verbindlich. Die Einwände gegen das Axiom Polisreligion kommen aus einer anderen Richtung. Zunächst einmal waren die Ränder des Religiösen keineswegs so eindeutig, wie das 29 30 31 32

Lolos 2011, 57. Vgl. Osborne 1987, 91. Sourvinou-Inwood 1990, 295. Sourvinou-Inwood 1990, 307.

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Konzept impliziert. Jan Bremmer hat mit dem Verweis auf Magie und Mysterienkulte darauf hingewiesen, dass es am Rande der Polis eine Bandbreite religiöser Praktiken gab; die Religion der Polis hatte ihre „messy margins“.33 Häufig standen die Praktiken jenseits der Polisadministration mit dem oikos in Verbindung, weshalb auch der Begriff der „persönlichen griechischer Religion“ oder derjenigen des Haushaltes und der Familie in Gebrauch gekommen ist, wodurch erneut angezeigt wird, dass der Polis auf diesem Feld religiösen Handelns keine Vermittlerrolle zukam. Der implizite Einwand gegen die Religion des oikos, dass es ihr an Koordination und Dogma fehlte, ist schnell ausgeräumt. Der Mangel an beidem machte die Ausübung „persönlicher Religion“ nicht weniger sinnfällig oder wirkkräftig. 34 Eine alternative Annäherung an die Religion (in) der Polis liegt in der spatialen Dimension. Das Konzept von Polisreligion stellt seinerseits einen impliziten Zusammenhang her zwischen der Polis auf der einen Seite und ihrem lokalen Raum auf der anderen als religiösem Handlungsort. Sourvinou-Inwood hat selbst formuliert, dass sich Polisreligion in verschiedenen lokalen Räumen konstituiert, in gewissermaßen „functional localizations“ (Lefebvre): Während einige Kulte und Opfer unter Aufsicht der Gesamtpolis vollzogen wurden, waren andere an Untereinheiten oder Teile der Bürgerschaft relegiert. Die Performanz der hiera oblag damit verschiedenen lokalen Konstellationen, je nachdem, welche Ordnungsgröße angesprochen ist: Phratrien, Demen, Oben, oder die Polis insgesamt. Sourvinou-Inwoods Zugriff verfährt in dieser Hinsicht deskriptiv, indem sie die lokale Dimension mit einer konkreten Arena religiösen Handelns assoziiert: je nachdem, in welcher Stadt und gegebenenfalls in welcher Untereinheit der Stadt lokales religiöses Handelns stattfindet. Polisreligion ist so besehen eine Akkumulation von lokalen Manifestationen, Stadt für Stadt, Phratrie für Phratrie, Kult für Kult, alle mit entsprechender lokaler Varianz. Viele Städte feierten ein Thesmophorien-Fest, aber nur in Eretria wurde das Opferfleisch dabei in der Sonne und nicht über offenem Feuer gebraten. Die Agrionia wurden in Orchomenos anders gefeiert als im nur zehn Kilometer entfernten Chaironeia. Und in Boiotien allein lassen sich mindestens 19 verschiedene, lokal kodierte Kultfeste für Apollo ausmachen mit einer noch größeren Zahl von lokalen Kultepitheten.35 Man kann das Lokale in der griechischen Religion auch anders denken, über das bloße Sammeln lokaler Idiosynkrasie hinaus. In der polytheistischen Welt des klassischen Griechenland waren die Stadt und ihr Umland immer auch die Heimstätte von Göttern, Heroen, Nymphen und Dämonen, die das Territorium der Polis besiedelten. In den Hiketiden spricht Aischylos von „den Göttern, denen das Land gehört“36 und von den enchōrioi daimones37, d. h. den Dämonen des Landes, denen die Polisbürger ausgesetzt sind. Die Bedeutung von enchōrios lehnt sich hier an die üblichere Variante epichōrios an; beide bezeugen eine enge Verbindung zwischen Polis und ihrem Umland. Es besteht aber auch ein semantischer Unterschied. Während epichōrios eine pauschale Verbindung anzeigt, die sich in vielerlei Form ausdrücken kann (z. B. landwirtschaftlicher Ertrag, lokale Eigenheiten und Traditionen), ist 33 Bremmer 2010. 34 Zu den verschiedenen Manifestationen „persönlicher Religion“ vgl. jetzt Kindt 2015. 35 Eretria: Plut. Mor. 298b–c = Quaest. Graec. Nr. 31; Agrionia: Schachter 1981, 173–174 und 179–181; Kultepitheta Apollons: Schachter 1981, 43–90. 36 Aischyl. Hik. 704–705. 37 Aischyl. Hik. 482.

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enchōrios enger gefasst. Der Begriff bezieht sich auf Einwohner oder Bewohner des Landes, auf Personengruppen also, wobei mit der wörtlichen Übersetzung „im Land“ auf eine indigene Beziehung angespielt wird. Im Unterschied zur attributiven Bedeutung von epichōrios nimmt enchōrios also auf die Ontologie des Raumes Bezug. 38 In Aischylos’ Hiketiden sind die enchōrioi daimones Teil dieser Ontologie, sie sind zum Land der Polis zugehörig, ein integraler Teil davon. Thukydides macht den Zusammenhang noch deutlicher. Vor dem spartanischen Angriff auf Plataiai im Jahr 430/29 lässt er eine Gruppe von Gesandten vor Archidamos auftreten, die den König flehentlich an frühere Eide zwischen beiden Seiten, Spartanern und Plataiaern, erinnern. Diese Eide wurden von „unseren Göttern im Land“ (theous hēmeterous enchōrious) bezeugt, sowie von „den Göttern eurer Väter“ (theous humeterous patrōous).39 Die Ermahnung bleibt bekanntlich fruchtlos, bevor die Spartaner aber zum Angriff übergehen, werden erneut die Götter als Zeugen angerufen, dieses Mal vom spartanischen König. Archidamos ruft zu den „Göttern und Heroen im Land“40 (kai tōn theōn kai hērōōn enchōriōn), die das Gebiet (gē) von Plataiai besitzen. Die Unterscheidung zwischen Göttern im Land, also einheimischen Göttern, und denjenigen der Väter ist sorgfältig gewählt; sie reflektiert genau den Ort, der angesprochen ist, und die Position des Sprechers. Wenn die Plataiaer von ihrem Land und Göttern darin reden, markieren sie ihre Ansprüche mit dem Verweis auf die enchōrioi theoi. Die Spartaner hatten ihre eigenen Götter in ihrem Land, aber darum geht es in der Passage nicht. Folglich ist bei ihren Göttern von patrōoi theoi die Rede. Archidamos nimmt diese Unterscheidung in seiner eigenen Rede auf. Für ihn konnten die Götter der Plataiaer ebenfalls patrōoi theoi sein. Da es sich aber konkret um das Gebiet dreht, in dem sich beide Kriegsparteien gerade gegenüber stehen, und die Auseinandersetzung von genau der Zukunft dieses Ortes handelt, spricht Archidamos von den enchōrioi theoi. In Thukydides’ Skizze werden Plataiai und sein Umland demzufolge als lokaler Raum verstanden, der von Menschen und Göttern gleichermaßen bewohnt wird. Die inhärente Beschaffenheit dieses Ortes war, dass er konkreten Raum für die existentielle Interaktion zwischen Göttern und Menschen bot.41 Das Lokale (in) der griechischen Religion ist also nicht nur ein lokal umrissener Raum, in dem sich Eigenheiten und Idiosynkrasien verdichten, sondern es konstituiert seinerseits ein diskursives religiöses System, das aus der lokalen Welt Sinn bezieht.42 Dieses System zeichnete sich dadurch aus, dass die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen, und ihre Ausdrucksformen in Opfer und Kult, in einem konkreten Raum angesiedelt und verankert waren; zweitens, dass dieser Raum darüber hinaus, jenseits seiner demarkierenden Funktion, Gegenstand und Motor der religiösen Kommunikation war, ihm also eine aktive Rolle in der Kommunikation zufiel; und dass drittens, gerade in der polytheistischen Welt Griechenlands, eine solche Aufladung des Ortes wiederum besonders vielfältig und auch sinnträchtig war, indem sie zahllose aitiologische Traditionen produzierte, die die Natur selbst – Wälder, Flüsse, Hügel, Grotten und Höhlen, usw. – mit der direkten und unmittelbaren Präsenz der Götter verbanden. 38 39 40 41 42

Vgl.. LSJ s. v. Thuk. 2,71,4. Thuk. 2,74,2. Hornblower 1991, 357–361; Polynskaia 2012 und 2013. Vgl. im weiteren Ogden 2007, 9; Polinskaya 2013, 41–42.

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Lokale Welt und religiöser Raum: Xenophons Skillous Bei Xenophon findet sich eine Beschreibung der Verortung religiösen Handelns im lokalen Raum, die in Vielem als exemplarisch gelten kann. In den 380er und 370er Jahren während seiner Zeit in Skillous im Westen der Peloponnes erwarb Xenophon ein Stück Land mit Geldern, die er um das Jahr 395 im Tempel der Artemis in Ephesos hinterlegt hatte. Die Einlage wurde ihm jetzt von einem gewissen Megabyzos zurückgebracht, der seinerzeit Tempelwärter in Ephesos war und eine Reise nach Olympia zum Anlass nahm, um Xenophon einen Besuch abzustatten. Dazu brauchte es nur einen kurzen Ausflug. Skillous lag gerade einmal fünf Kilometer südwestlich von Olympia auf dem Weg nach Sparta. Anders als der moderne Ort befand sich die antike Siedlung höchstwahrscheinlich beim Prophitis Elias am Rande des heutigen Makrisia, wo Archäologen die Spuren einer Siedlung aus klassischer Zeit freigelegt haben. Xenophons Anwesen muss sich in unmittelbarer Nähe befunden haben. 43 Auf dem Grundstück errichtete er einen Tempel und Altar; beide hatte er zuvor auf dem Zug der Zehntausend der Artemis gelobt. In der Anabasis führt Xenophon aus, dass das temenos in Skillous dem Tempelbezirk der Artemis in Ephesos nachempfunden war. 44 Beide lagen am Ufer eines Flusses, der Selinus hieß und hier wie da reich an Fischen war. Das Gebiet in der Peloponnes war zudem ideal für die Jagd mit reichem Wildbestand. Das Terrain muss entsprechend groß gewesen sein. Es umfasste bewaldete Hügel und ausgedehnte Weiden, exzellent für die Rinder-, Schaf- und wohl auch Pferdezucht. In den umliegenden Wiesen standen verschiedene Obstplantagen. Kein Wunder, dass die Tempelgründung schnell zum Erfolg wurde. Der Kult der Artemis florierte bald so sehr, dass Xenophon „jährlich den zehnten Teil des Agrarertrages stiftete, woraus der Göttin zu Ehren ein Opferfest gefeiert wurde, an dem alle ansässigen Männer und Frauen und diejenigen in der Nachbarschaft teilnahmen. Die Göttin bot den Teilnehmern am Festmahl jeweils Gerstenmehl, Brote, Wein, Süßspeisen und einen Teil von dem, was von der heiligen Herde als Opfer geschlachtet wurde, ebenfalls vom Wildbret. Denn auf das Fest hin jagten die Söhne Xenophons und diejenigen der anderen Teilnehmer. Und wer es wünschte, nahm an der Jagd Teil, auch die Männer. Manches Wild wurde im heiligen Bezirk selbst erlegt, manches im Gebiet des Pholoe: Wildschweine, Rehe und Hirsche.“45 Die Passage ist mit viel Selbstbewusstsein geschrieben. Wir hören Xenophon den Entrepreneur, dem gelingt, was er anpackt. Auf eigentümliche Weise und non galant wird dabei auch deutlich, wie der Kult für Artemis in den Raum hineingeschrieben war. Er war durch das unmittelbare Umland konfiguriert, seine topographischen Gegebenheiten, seine Flora und Fauna, in denen das Kultfest im wörtlichen Sinne verortet war und die es umgekehrt mit einer eigenen Agenda anreicherten. Xenophon ist es wichtig, die Parallelen zum größeren Vorbild in Ephesos herauszustellen; das Projekt sollte dadurch offenbar an Prestige gewinnen. Zehn

43 Xenophons Skillous: Xen. Anab. 5,3,7–13; Paus. 5,6,5–6; Diog. Laert. 2,52–53; Anderson 1974, 165–166; Tuplin 1993, 183–5; Nielsen 2004, 546. 44 Xen. Anab. 5,3,7–8; 11–13. 45 Xen. Anab. 5,3,9–10.

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Kilometer südöstlich lag bei Kombothekra ein älteres Artemis-Heiligtum, dasjenige der Artemis Limnatis, zu dem Xenophons Gründung nicht automatisch in Konkurrenz stand, gegenüber dem es aber galt, eine gewisse Eigenständigkeit und Sichtbarkeit herzustellen. 46 Skillous wurde in diesem Zuge zur Miniaturausgabe des viel größeren und auch prestigereicheren Heiligtums von Ephesos stilisiert, wobei der Verweis auf die vergleichbare lokale Topographie von einschlägiger Bedeutung war. Beide lagen an Flüssen mit dem Namen Selinus, die reich an Fischen und Süßwassermuscheln waren. Der Name Selinus war geläufig für kleinere Flüsse und Bäche, weil sich entlang des Flussbettes gute Wachstumsbedingungen für Sellerie oder wilde Petersilie (griech. to selinon) finden. Vermutlich war das in der Peloponnes und in Kleinasien auch so.47 Der Selinus bot aber noch einen ganz anderen Anschlusspunkt für das Kultfest der Artemis, Göttin der Wildnis. In Vorbereitung der Feierlichkeiten wurde eine Jagd abgehalten, auf der die Jäger durch das Bergland des Pholoe im Nordosten Olympias zogen, jenseits des Alpheios. Die Jagd ersteckte sich über ein beachtliches Gebiet. Um den Pholoe, die Heimat der Peloponnesischen Kentauren, rankten sich viele Sagentraditionen. Eine davon erzählte, wie Alpheios einer lokalen Nymphe Arethusa hinterherstellte. Auf der Flucht sprang Arethusa ins Meer und tauchte in Form ein Süßwasserquelle in Sizilien wieder auf. Der lokale Raum war demzufolge nicht nur mit Kleinasien, sondern auch mit der Welt der Westgriechen narrativ vernetzt. Eine andere Tradition erinnerte die Jäger daran, dass der Kentaur Pholos Herakles auf dessen Jagd nach dem Erymanthischen Eber beherbergte, mit ihm tafelte und schwer trank. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie die Jagdgemeinde, inspiriert von Herakles’ exemplarischen Taten, auf dessen Spuren wandelte. An manchen Tagen erreichten die Jäger womöglich den Fluss Erymanthos im Osten, der den Heraklesmythos weiter verräumlichte. In den dichten Wäldern des Pholoe wurden sie in jedem Fall auch daran erinnert, dass Pholos selbst der Sohn einer lokalen Nymphe namens Melia und eines ländlichen Dämonen war. Dessen Name war wiederum Selinus. Hier, am äußersten Rand des Parkours, im Bergland des Pholoe, fand sich also ein weiterer Anknüpfungspunkt für den Kult der Artemis, mit dem sich der Sagenkreis zwischen dem temenos in Skillous und dem Umland zu einer Ringkomposition zusammenfügte. Auf ihrem Jagdausflug vom Schrein beim Selinus über den Alpheios in die Berglandschaft des Pholoe durchstreiften die Teilnehmer ein Gebiet, in das viele mythische Traditionen hineingeschrieben waren. Ihr Parkour führte sie nicht nur durch einen Naturraum, sondern durch eine storied world, das heißt eine Welt voller Mythentraditionen und Ursprungsgeschichten, die der Exkursion ihrerseits religiöse Bedeutung verliehen. Die Gravitationskraft von Olympia war bestimmt omnipräsent; übrigens war Xenophons Tempelgründung ja nur aufgrund des weitreichenden Bekanntheitsgrades Olympias in der griechischen Welt möglich geworden, der Besucher wie Megabyzos in die Westpeloponnes zog. Gleichzeitig machte die Jagdgemeinde offenbar einen Bogen um Olympia. Vielleicht hatte das auch damit

46 Vgl. Sinn 1978, 1981 und SEG 31,356. Vgl. ebenfalls Taita 2001 zur gesamten Region. 47 Hulot/Fougères 1910, 77–79; Marconi 2006, 75.

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Die Einbettung des Kultfestes für Artemis im lokalen Raum von Skillous und Umgebung. © 2017, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10907-9 - ISBN E-Book: 978-3-447-19718-2

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zu tun, dass Xenophons Lage in Skillous prekär war. Ursprünglich von den Spartanern dort angesiedelt, denen Triphylien als Teil ihrer genuinen Einfluss- und Hegemoniesphäre in der Peloponnes galt, war Xenophon im Alltag vor allem auf gute Beziehungen zu Elis angewiesen. Und es waren gerade die Eleier, die den spartanischen Ambitionen in der Region ausdrücklich eine Absage erteilten. Vor diesem Hintergrund dürfte es klug gewesen sein, jede Form von Provokation gegenüber Elis zu vermeiden. Im Schatten überregionaler Interessenkonflikte und in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem der lebendigsten Knotenpunkte griechischer connectivity setzte das Erntefest für Artemis einen eigenen Akzent, einen, der ganz der lokalen Welt vor Ort und ihren Menschen galt. Paul Vernant hat schon vor längerem formuliert, dass religiöses Handeln im antiken Griechenland einer dreifachen Ethik ausgesetzt war, die die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie diejenigen zwischen Menschen und Göttern stabilisierte. Die erste Säule dieser Ethik hat Vernant im oikos und in der Ehe als Basiseinheiten menschlicher Interaktion gesehen, die zweite in der Landwirtschaft mit ihrer zyklischen Abfolge von Aufgaben und Pflichten, die ihrerseits das prospektive Wohlergehen der Gemeinde sichern; und die dritte im gemeinsamen Kult, bei dem die Festgemeinde ihre Einheit mit den Göttern artikuliert, die im Gegenzug für den Wohlbehalt der Gemeinde sorgen. Alle drei Säulen kreisen um den lokalen Raum der Alltagswelt, aus dem sie Sinn und Ordnung beziehen. 48 Xenophons Artemisfest ist dieser Ethik in geradezu selbstevidenter Weise verpflichtet. Das gilt auch und vor allem für die Basiseinheit von oikos und Familie und ihre Prominenz im Fest. Denn Xenophon spricht ausdrücklich von seinen eigenen Söhnen, die zusammen mit anderen jungen Männern an der Jagd teilnahmen. Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass weder die Jagd noch das Fest auf den Kreis von politai, die Bürger von Skillous, beschränkt war, im Gegenteil. Es ist davon die Rede, dass alle ortsansässigen Männer und Frauen sowie die Leute aus der Umgebung eingeladen waren. Wir bekommen den Eindruck, dass der Teilnehmerkreis vor allem von der räumlichen Nähe zum Schrein bestimmt war, von einem örtlichen Zugehörigkeitskriterium also und nicht von einem Politischen; und ferner, dass das Fest Männer, Frauen und deren Kinder einbezog. Wer in der Nähe des temenos wohnte, war eingeladen: die Politen von Skillous sowie die freien Einwohner der vielen Farmen und Gehöfte im triphylischen Umland.49 Dabei greift es zu kurz, den Kult als Akt privater Religion abzutun; das Problem einer solchen Verkürzung der Taxonomie religiösen Handelns wurde bereits angesprochen. Nach der Schlacht von Leuktra im Jahr 371 trat genau jene Prekarität zu Tage, der Xenophon in Skillous ausgesetzt war. Die Eleier nahmen die machtpolitischen Verschiebungen in der Peloponnes unmittelbar zum Anlass, ihre Herrschaft zumindest kurzzeitig südlich des Alpheios auszuweiten. In diesem Zusammenhang kam es auch zum Angriff auf Skillous, der Xenophon und seine Familie zur neuerlichen Umsiedlung zwang, offenbar nach Korinth. Wie Ernst Badian gezeigt hat, ging der Artemiskult in Skillous in Xenophons Abwesenheit aber weiter; seine Spuren verlieren sich erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts.50 Mit anderen Worten, Xenophons Festival war zum Zeitpunkt seiner Flucht aus Skillous mit der religiösen Welt der Polis verschränkt. Vielleicht war eine solche Verschränkung von Anfang 48 Vernant 1974 und 1979. 49 Zur losen Siedlungsstruktur Triphyliens, die diese Interpretation mit befördert, vgl. Nielsen 2004. 50 Badian 2004.

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an intendiert. Denn wenn Xenophon davon spricht, dass das Land für das temenos von ihm zu seinem Anwesen hinzugekauft wurde,51 dann dürfte der wahrscheinlichste Verkäufer die Polis Skillous gewesen sein. Der Bestimmungszweck war dann wohl allen an der Transaktion Beteiligten bekannt. Trotz dieser engen Verbindung war das Kultfest aber nicht von den gängigen Exklusivierungsmustern der Polis geleitet. Es war weder Poliskult noch Ausdruck persönlicher Religion; auch hier, noch einmal in den Worten Jan Bremmers, waren die Grenzen „messier“.52 Seine lokale Diskurswelt lag jenseits der gängigen Ordnungsdiskurse der modernen Forschung. Der Kult für Artemis war einer religiösen Handlungsethik bestimmt und verlieh dieser im Gegenzug Ausdruck, die dem alltäglichen lokalen Erfahrungshorizont verpflichtet war, mit allen seinen existentiellen Sinnmustern zur Stabilisierung menschlichen Handelns.

Von Magna Graecia bis Asia Minor: globale Vernetzung und das vernetzte Lokale Welche Lieder wurden beim Opferfest für Artemis in Skillous gesungen? Was war die Festtracht der Männer und Frauen und nach welchem Rezept wurde die Opferspeise zubereitet? Diese und ähnliche Fragen mögen zunächst einmal folkloristisch erscheinen. Gleichzeitig führen sie zu einem Fragehorizont, mit dem sich nicht weniger als der Kern der griechischen Geschichte verbindet. Natürlich war der Kult von Skillous weiträumig in die hellenische Welt eingenetzt, mit vielen Verbindungen und Adaptionen in Religion, Politik, materieller wie immaterieller Tradition usw. Zur kulturellen Einnetzung trugen wiederum einzelne Akteure bei: Xenophon selbst war weit gereist und hatte sein eigenes Netzwerk persönlicher Kontakte und Verbindungen; er war insofern ein beweglicher Netzwerkpunkt (node), der sein kulturelles Wissen von verschiedenen Orten aus in die global-vernetzte Welt der Griechen einspeiste. Archestratos von Gela, ein jüngerer Zeitgenosse Xenophons und ähnlich weit gereist, wusste ebenfalls vom Fischreichtum des Selinus in Ephesos. Er pries die Doraden von dort, eine lokale Spezialität, für die es auch einen eigenen Namen gab, „kleine Ionier“.53 Mit der connectivity des Kults von Skillous war der verbindende, panhellenische Rahmen vorgezeichnet, zumindest was die religiösen Makrostrukturen anbetraf: das Pantheon, seine religiösen Deutungsmuster sowie der Vollzug der hiera und komplementärer Praktiken wie diejenige der Jagd. Aber schon beim Kultlied hörte der gemeinsame Rahmen auf. Barbara Kowalzig hat gezeigt, wie sich in religiösen Chorliedern und Tanz ein „local myth-ritual nexus“ verdichtete, der die Festgemeinde tief im eigentlichen Performanzraum verankerte.54 Zum einem lag das schon am polytheistischen Wesen der griechischen Religion, das allerorts lokale Varianz und Distinktion beförderte, ja diese geradezu zwingend einforderte. Zum anderen bewirkte die Aufladung des Kultes durch die Ontologie des Ortes selbst, seine Anreicherung mit lokalen Traditionen, Sinnmustern und deren Manifestation im Land – in Hainen und Hügeln, Quellen und Flussläufen oder im Feld und seinem Ertrag –, dass der universelle Rahmen immer neue 51 52 53 54

Xen. Anab. 5,3,7. Für die Tetrapolis von Marathon hat Ismard 2015 jetzt ein ganz vergleichbares Bild entworfen. Fr. 13 Olsen/Sens. Kowalzig 2007.

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lokale Konstellationen zeitigte. Es ist gerade diese diskursive Qualität des Lokalen, die ihm, am anderen Ende von Konnektivität und ubiquitärer Vernetzung, Wirkkraft als eigene und unmittelbare Ordnungs- und Bezugsgröße menschlichen Handelns verlieh. In den Quellen zur griechischen Geschichte bleibt die lokale Diskurswelt indes meistens stumm. Lokale Keramikstile, Kalender oder Dialekte sind lebendige Zeugnisse lokaler Traditionen, und sie verraten auch, dass bzw. wie der lokale Horizont mit der größeren Welt verzahnt war. Die eigentlichen Inhalte und Verhandlungsgegenstände des lokalen Diskurses liegen aber oft im Dunkeln. Immerhin, die Ethnizitätsdebatte der vergangenen Jahrzehnte hat zeigen können, wie sich die Menschen in den griechischen Städten ihre ferne Vergangenheit und kollektive Abstammung vorstellten und wie die Erinnerung an beide in den Raum hineingeschrieben war. Wie sich das aber wiederum auf Lesarten der Gegenwart auswirkte, in der sich im Zuge einer rasch voranschreitenden Vernetzung immer neue Handlungsoptionen auftaten, ist in den allermeisten Fällen ungewiss. Triphylien ist keine Ausnahme, was die schwierige Quellenlage angeht. In den 360er Jahren fällt in der Überlieferung jedoch plötzlich ein Schlaglicht auf die Region. Als unmittelbare Folge der Schlacht von Leuktra verschoben sich die Zugehörigkeitsmuster, und zwar geradezu eruptiv. Für die längste Zeit dem Einfluss und der indirekten Herrschaft Spartas ausgesetzt wurden die Einwohner der schmalen Küstenlandschaft zwischen Alpheios im Norden und Neda im Süden in den regionalen Konflikt zwischen Elis und Arkadien hineingezogen. Offenbar stellten sich die Triphylier dabei auf die Seite der Arkader; womöglich war eine entsprechende „Triphylian identity“ überhaupt erst im frühen 4. Jahrhundert entstanden.55 Ob nun als Triphylier, Halb-Arkadier oder als Untergebene der Spartaner oder Eleier: die Bewohner in und um Skillous waren zunächst einmal durch eine identity of place vereint, die ihr Handeln dauerhaft im Raum einordnete und in diesem Sinne Orientierung in schnell wechselnden machtpolitischen Konstellationen bot. Die Vernetzung mit der griechischen Welt war omnipräsent. In der wichtigen Frage nach der Kommunikation mit den Göttern und, so werden wir hinzufügen dürfen, in derjenigen nach der alltäglichen Interaktion miteinander war es aber vor allem diese kleinräumige, unmittelbare und lokale Welt, die vielfache Sinnangebote bereithielt.

55 Ruggeri 2009.

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Griechische Vorstellungen von biologischer Vererbung und ihre gesellschaftlichen Implikationen (6.–frühes 4. Jh. v. Chr.) Andreas Mehl

Als Zeitgenossen molekularer Genetik mögen wir leicht übersehen, dass Menschen schon vor etlichen Jahrtausenden Wissen über biologische Vererbung, also über die Weitergabe individueller und arttypischer Eigenheiten, sogenannter Merkmale, auf die nächste und spätere Generationen, erworben und besessen haben. Man wird den Beginn des Erwerbs solchen Wissens in der sogenannten ‚Neolithischen Revolution‘ ansetzen: 1 Im Übergang von Jagen und Sammeln zu Pflanzenanbau und Tierhaltung muss man erkannt haben, dass die Beschaffenheit künftiger Generationen von Tieren und Pflanzen beeinflusst werden kann.2 Bei Haustieren verpaarte man anhand gewünschter physischer und mentaler Eigenschaften ausgewählte weibliche und männliche Individuen derselben Art und setzte so biologische Vererbung gezielt ein. In solchen Kulturen, in denen der Mensch sich nicht für grundsätzlich anders als die Tiere, sondern als zu diesen gehörend angesehen hat, und damit bei Griechen und Römern, war es kein Problem, bei Tier und Mensch dasselbe Prinzip der Vererbung vorauszusetzen. Unter den von mir herangezogenen griechischen Autoren ist die biologische Gleichheit von Mensch und Tier etwa bei Anaxagoras in derselben „Zusammensetzung der Menschen und der anderen Tiere, soweit diese eine Seele besitzen“ (καὶ ἀνθρώπους τε συμπαγῆναι καὶ τὰ ἄλλα ζῶᾳ ὅσα ψυχὴν ἔχει) ausgedrückt. Später beruht beispielsweise Platons Eugenik auf der Voraussetzung, dass Mensch und Tier in der biologischen Vererbung gleich sind.3 Weiter findet man im griechischen Mythos und überhaupt durch die griechische und lateinische Literatur aller antiken Epochen und verschiedener Gattungen hindurch zahlreiche Beispiele für vererbte Merkmale.4 1 Vgl. etwa Müller-Beck 2004 und Gronenborn/Terberger 2014. 2 Vgl. Grmek 1991, 18f. und die Literatur in Anm. 1. 3 Diels/Kranz 1951, 59 B 4 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 24 (Simpl. 156,1: als wörtliche Wiedergabe von Anaxagoras anzusehen), Plat. rep. 424A und 459A–B. Zu letzterem Brumbaugh 1954. Anaxagoras ordnet sogar die Pflanzen den Tieren zu, und lässt auch sie aus Samen entstehen und Gefühle und damit eine Seele, ja Verstand haben. Pflanzen seien nur anders als Tiere in der Erde verwurzelt: Diels/Kranz 1951, 59 A 116 und 117 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 63 und 64 (Plut. quaest. phys. 1,911D und Ps.-Aristot. [Nikol. Dam.] plant. 815A18–19). Vgl. Cappelletti 1980, 19 (sowie weitere Arbeiten desselben Autors aus demselben Jahr). Über die Pflanzen haben sich Empedokles, Demokrit und Platon in gleicher Weise geäußert. Vgl. Herzhoff 1999, 38 und 42f. unter Heranziehung der arabischen Version des Aetios (Daiber 1980, 243, vgl. 513). 4 Zu griechischen Vorstellungen und Theorien biologischer Vererbung vgl. Haedicke 1937 (In der bei Ernst Diehl in Halle angefertigten philologischen Dissertation wird der NS-Zeitgeist in nur wenigen einschlägigen Begriffen sichtbar, die den Duktus der Arbeit indes nicht bestimmen. Da Haedickes zentraler Begriff ‚Herkunft‘ zwar biologische Vererbung, aber nicht deren Einzelheiten einschließt, ist diese Arbeit für mein Thema mit der Ausnahme von Theognis [vgl. in Anm. 10] freilich nicht von Interesse), Brumbaugh 1949, 1951, 1952, 1954 (dessen auf mathematisch ausgedrückte Vererbungsschemata ausgerichtete

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Darüber, wie Merkmale von Generation zu Generation weitergegeben werden, sind in der Antike mehrere Theorien aufgestellt, variiert und gegeneinander abgewogen worden. Ich stelle Ansichten und Theorien griechischer Autoren von Vererbung und Zeugung vor, die beide in der Antike nicht strikt voneinander getrennt worden sind, und interpretiere sie. Sie gehören der Zeit vom 6. bis spätestens frühen 4. Jh. v. Chr. an. In dieser Zeit stellten Intellektuelle Theorien auf, die weit nachwirken sollten; aber auch Alltagswissen wurde schriftlich festgehalten.5 Bewusst habe ich Werke verschiedener Literaturgattungen ausgewählt, um unterschiedliche Wissenshorizonte, Mentalitäten und Motivationen für die Befassung mit Vererbung einzufangen. Das moderne Nebeneinander von Darwinismus und Sozialdarwinismus mag daran erinnern, dass biologische Theorien und Hypothesen auf die menschliche Gesellschaft übertragen werden und dass die Versuchung, dies zu tun und dabei weitreichende Wertungen vorzunehmen, anscheinend groß ist, dies übrigens nicht erst in neuer Zeit.6 Daher werde ich – im Unterschied zu den von mir herangezogenen teils aus den Altertumswissenschaften, teils aus Biologie und Genetik stammenden Arbeiten über antike Vorstellungen und Theorien biologischer Vererbung, jedoch im Einklang mit frauen- und geschlechtergeschichtlichen Arbeiten, sofern sie denn Zeugung und Vererbung behandeln7 – auch danach fragen, ob und in welcher Weise Griechen aus ihren Vorstellungen von biologischer Vererbung Konsequenzen für die menschliche Gesellschaft gezogen haben. Das tue ich freilich auch deswegen, weil die Empfängerin dieser Festschrift innerhalb ihres reichen Themenspektrums über die gesellschaftliche Stellung von Frauen forscht. Ihre Veröffentlichungen vermehren und korrigieren unser Wissen über Bürgerinnen in griechischen Poleis. Soweit mein Beitrag sich ebenfalls mit Frauen befasst, gelten seine Ausführungen der griechischen Frauen von griechischen Männern zugewiesenen Funktion bei der Zeugung und der damit verbundenen Vererbung von Merkmalen. Von da aus Erörterungen zu Recht mit den Pythagoreern einsetzen), Lesky 1950 (ausführlichste Arbeit zum Gegenstand und daher immer noch grundlegend, allerdings mit der Tendenz, die antiken Theorien in eine lineare Abfolge zu setzen), Herter 1975 (bezogen auf erworbene und dann vererbte Merkmale: vgl. den entsprechenden Abschnitt weiter unten) und Grmek1991 (31–34 reiche Bibliographie, die im Aufsatz selbst freilich nicht ausgewiesen ist) und andere mehr. 5 In Werken über die historische Entwicklung der Vorstellungen und Theorien von Vererbung bzw. der Genetik wie Rheinberger/Müller-Wille 2009, Falk 2009 und Plischke 2015 wird keine Geschichte antiker Vererbungsvorstellungen geboten, sondern auf diese oder jene antike oder biblische Ansicht und deren Urheber oder Vermittler verwiesen. Am häufigsten werden Platon und Aristoteles genannt, auch Hippokrates, aber kaum Vorsokratiker. Gänzlich ohne Bezug zur Antike sind Griffiths/Stotz 2013 und Perbal 2014. Einige Werke über die Geschichte der Biologie geben Überblicke, die auch die Antike einbeziehen, so Bodenheimer 1958, 83–98, der auch Steinzeit und Alten Orient streift, indes bei den Griechen vor dem von ihm ausführlich behandelten Aristoteles nur das Corpus Hippocraticum und Demokrit nennt, und fast genauso Singer 1959, 1–63, der erst mit Hippokrates einsetzt und dann sogleich zu Aristoteles übergeht. 6 Kritisch zum Begriff ‚Sozialdarwinismus‘ Mehl 2010, 104–106. Zu den mentalen Vorbereitungen des Darwinismus wird man ein Ergebnis des – nur bis in das Mittelalter zurückgehenden – Sammelbandes von Willer/Weigel/Jussen 2013 (Einleitung) zählen: Um 1800 n. Chr. habe sich die Vorstellung von Erbe deutlich verändert, indem nunmehr das biologische Moment in den Vordergrund getreten sei, d. h. die Weitergabe von Merkmalen und Anlagen der Eltern an ihre Kinder. Dabei sei der Blick nicht mehr so sehr in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft gerichtet und auf die Nation ausgeweitet worden. 7 Aus letzterer Kategorie vgl. Scheer 2011. Hartmann 2013 hilft für mein Thema nicht weiter, es sei aber auf ihre Skizze zur Entwicklung der Frauen- und der Geschlechtergeschichte hingewiesen (204–208). Föllinger 1996 geht als philosophie- und zugleich geschlechtergeschichtliche Arbeit auch auf soziale Implikationen ein und greift auf die Vorsokratiker zurück. Zu letzterem vgl. in Anm. 31.

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Griechische Vorstellungen von biologischer Vererbung

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schlage ich, soweit dies von meinen antiken Texten her möglich ist, den Bogen zur gesellschaftlichen Position von Griechinnen in der Zeit meiner literarischen Zeugnisse.8 Meine Erörterungen ordne ich in drei von ihren Inhalten und zufällig zugleich von einer groben Chronologie bestimmten Abschnitten an.

1. Kreuzung und reine ‚Rasse‘ Unter dem Namen des Theognis aus der Stadt Megara ist eine Sammlung kürzerer und längerer elegischer Versgruppen aus archaischer Zeit erhalten, von denen man etliche mit mehr oder weniger Sicherheit auf einen und denselben Autor, eben Theognis, zurückführt, den man zumeist kurz nach der Mitte des 6. Jhs. datiert.9 Entstehung und Aufstieg einer neuen, nicht mehr auf Landwirtschaft, sondern auf Gewerbe und auf überörtlichen, ja überregionalen Handel ausgerichteten Schicht hatte zu Verwerfungen in den griechischen Polisgesellschaften geführt. Edelmetall und das allmählich aufkommende Geld traten neben oder sogar vor Land und Vieh. Adelige waren nicht mehr zugleich die besonders Wohlhabenden. In dieser Situation waren sie, zumal wenn sie zu verarmen drohten, versucht, sich mit den neuen Reichen über Eheschlüsse zusammenzutun. Damit stellten sie freilich diese neuen Reichen auf eine gesellschaftliche Ebene mit sich selbst und unterminierten so das Fundament ihres eigenen Ansehens und ihres daraus resultierenden Anspruchs auf politische Führung. Theognis, der sich selbst mit Bitterkeit als durch Armut deklassierten Adeligen zu erkennen gibt, wird nicht müde, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch zu diagnostizieren und vor dem in seinen Augen selbstzerstörerischen Zusammengehen adeliger Geschlechter mit Aufsteigerfamilien zu warnen. In seinen Klagen über die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart kontrastiert Theognis den Umgang der Menschen mit Tieren und den der Menschen untereinander: 10 Die Menschen möchten Schafe, Esel und Pferde guter Abstammung (εὐγενής) haben. Sie achten darauf, dass sie gute Tiere aus guten (ἀγαθός) Tieren bekommen. Sie wählen also diejenigen Tiere aus, die sich fortpflanzen dürfen und sollen. Dahinter kann nur die Überzeugung stehen, dass Merkmale von einer Generation auf die andere übertragen werden. Obwohl die Menschen dies wissen und bei ihren Haustieren danach handeln, verhalten sie sich nach Theognis 8 Zur Geschlechtergeschichte als Teil der Gesellschaftsgeschichte vgl. Hausen 2013. 9 Zur Elegiensammlung unter dem Namen des Theognis, zu den sozialen Umbrüchen, zu Theognis’ Diagnose der Gesellschaft seiner Zeit und damit auch zur hier gebotenen Interpretation vgl. Van Groningen in Theognis 1966 (Kommentar), Gschnitzer 1981, 48–99, Stein-Hölkeskamp 1989, 57–93 sowie 134–138 (hier die Adeligen bereits im Gegenangriff mit ethischen Werten gegen die neue Schicht und deren UnWerte), Hansen in Theognis 2005, X–XVII und Selle 2008. 10 Theognis 1,183–196, bes. 183–189. Indem Haedicke 1937, 46–49 die Reinerhaltung des Blutes als Theognis’ Ziel bezeichnet, beschreibt er dies jenseits des NS-Bezuges des von ihm gebrauchten Begriffes zutreffend. Und sein Bezug auf ein berühmtes Werk des Philologen Werner Jäger (Paideia. Berlin 1934, Band 1, 270) ist nicht nur dem Gegenstand angemessen, sondern entspricht angesichts des Inhalts dieses Werkes und Jägers apolitisch-distanzierter Haltung zum Nationalsozialismus samt seiner Entlassung auf eigenen Wunsch aus seiner Berliner Professur und seiner Emigration in die USA bereits 1936 absolut nicht nationalsozialistisch-rassenideologisch bestimmter ‚Wissenschaft‘. Nichtsdestoweniger hat das von mir benutzte Exemplar einst zum Bestand des „Instituts für Rassenhygiene der Universität Berlin“ gehört. Zu Haedickes Buch vgl. auch o. Anm. 4.

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untereinander ganz anders: Ein edler Mann scheut sich nicht, die „schlechte Tochter eines schlechten Mannes“ (κακὴ κακοῦ) zu heiraten, und genauso bedenkenlos wird eine edle Frau die Gattin eines schlechten Mannes. Mit „edel“ (ἐσθλός) und „schlecht“ (κακός) ist sowohl die Abkunft als auch die damit verbundene sittliche und sonstige Qualität eines Menschen angesprochen. Ihr als einer wie bei Haustieren vererbten Eigenschaft stellt Theognis mit mehreren Worten (χρήματα πολλά, πλούσιος, πλοῦτος und ἀφνεός) Reichsein bzw. Reichtum als – biologisch nicht vererbte – Eigenschaft der Emporkömmlinge entgegen. Als Resultat der in seiner eigenen Lebenszeit üblich gewordenen Ehegattenwahl zwischen Adel und reichem Nicht-Adel „mischt Reichtum das Geschlecht“ (πλοῦτος ἔμειξε γένος) und damit „mischt sich Edles mit Schlechtem“ (σὺν γὰρ μίσγεται ἐσθλὰ κακοῖς). Bei Haustieren würden wir heute von Kreuzung sprechen, und zwar in Theognis’ Überzeugung von unerwünschter, weil für nachteilig erachteter; denn durch derartige Mischung „verdunkelt sich das Geschlecht der Stadtbürger“ (γένος ἀστῶν μαυροῦσθαι), es ist kaum noch erkennbar. An anderen Stellen beklagt Theognis, dass Männer, die er in Kleidung, Lebensführung und fehlendem Rechtsverständnis als Hinterwäldler kennzeichnet, nun als die Guten (ἀγαθοί) und die vormals Edlen als Nichtswürdige gälten (οἱ δὲ πρὶν ἐσθλοὶ vῦν δειλοί) und dass so eine Umkehrung der gesellschaftlichen Bewertungen eingetreten sei. Mit solcher Entwicklung veränderten sich die Wertverhältnisse so gründlich, dass zwar die Stadt noch dieselbe, aber ihre Bewohner andere seien.11 Im Zentrum von Theognis’ Zeit- und Gesellschaftskritik stehen der soziale und ökonomische Widerstreit von neuem, individuell erworbenem Reichtum und herkömmlichem, ererbtem Adel, in dem letzterer wegen seines in den Augen des Autors inkonsequenten Verhaltens unterzugehen droht oder bereits untergeht, und zugleich der sowohl biologisch als auch gesellschaftlich verstandene Gegensatz von Reinheit des Geblüts und Vermischung der Gattungen bzw. der Stände. Wenn jedoch alles nach Theognis’ Wertvorstellung ginge, bliebe der alte Adel erhalten, indem er nur untereinander heiratete und seinen Nachwuchs – wie bei den Haustieren – unvermischt und ‚rasserein‘ geradezu züchtete. Grundlage des von Theognis für allein richtig erachteten Verhaltens Adeliger ist das Vertrauen in die Wirksamkeit biologischer Vererbung, die er von der Haustierzüchtung her als selbstverständlich gegeben ansieht, so dass er sie ohne weitere Erklärung als Argumentationsmittel für die Verhältnisse bei den Menschen einsetzt.

2. Wer vererbt Merkmale? Die Frage, wer innerhalb geschlechtlicher Fortpflanzung Merkmale vererbt, erscheint müßig. Tatsächlich aber wurde diese Frage von Griechen gestellt und in zwei Richtungen beantwortet, nämlich zugunsten beider Elternteile oder des Vaters allein. Theognis warf diese Frage freilich nicht auf. Daraus, dass er seine Gesellschaftskritik sowohl aus der Haustierzucht heraus begründete als auch gesellschaftliche Mischehen in beiden

11 Theognis 1,53–60 und 1109–1112. An letzterer Stelle bezieht sich der Autor wieder auf gesellschaftliche Mischehen.

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Griechische Vorstellungen von biologischer Vererbung

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möglichen Varianten, adeliger Mann und nicht-adelige Frau sowie adelige Frau und nicht-adeliger Mann, ablehnte, ist zu erschließen, dass für ihn beide Geschlechter gleichen Anteil an der Weitergabe von Merkmalen hatten. Das war jedoch keineswegs selbstverständlich. Dies zeige ich an einem Beispiel aus dem demokratischen Athen auf. Dort entwickelte sich die Bühnendichtung schnell zur konkurrenzlos publikumswirksamsten Gattung der Dichtung. Im dritten Teil der 458 uraufgeführten „Orestie“ des Aischylos (525/4–456/5), den „Eumeniden“, beruft Athena eine Gerichtsverhandlung ein, die über den Anspruch entscheiden soll, den die Erinyen auf Orest als Muttermörder erheben und den dieser mit Apolls Unterstützung zurückweist.12 Die Geschworenen sind von Athena ausgewählte athenische Bürger, die die Institution bzw. Versammlung des Areopags bilden; Zuhörer sind die Athener. Insoweit entspricht diese Gerichtsverhandlung dem in der athenischen Demokratie damals bei Anklage auf Mord üblich Gewesenen. 13 In der Verhandlung kommt es schnell zu einem Wortgefecht zwischen den anklagenden Erinyen und dem sich verteidigenden Orest. In dem erregten Dialog wird ein Punkt angeschnitten, der sowohl für den Ausgang dieses Gerichtsverfahrens als auch für meinen Gegenstand wesentlich ist: Die Erinyen haben Klytaimestra für ihren Mord an ihrem Ehemann Agamemnon nicht verfolgt, verfolgen aber nunmehr Orest für den Mord an seiner Mutter Klytaimestra. Um dieses in sich widersprüchlich erscheinende Verhalten zu erklären, weisen die Erinyen darauf hin, dass sie nur für solche Mörder zuständig seien, die einen Blutsverwandten getötet haben. Orest reagiert mit einer Frage: 14 „Bin denn aber ich von meiner Mutter Blut“ (ἐγὼ δὲ μητρὸς τῆς ἐμῆς ἐν αἵματι)? Diese Frage erstaunt nicht nur heutige Menschen, sie muss auch manchen Zeitgenossen verwundert haben. Innerhalb des Dramas können die Erinyen von ihrer Position her nichts anders als die von Orest suggerierte negative Antwort empört zurückweisen. 15 Damit scheint Orests sonderbar erscheinende Frage erledigt. Sie ist es indes nur einstweilen, denn in ihrem nun einsetzenden längeren Disput mit Apoll benennen die Erinyen mit dem Wort „blutgleich“ (ὅμαιμος) die Blutsverwandtschaft zwischen Mutter und Kind direkt. 16 Darauf kontert Apoll mit einer ebenso eindeutigen Leugnung der Blutsverwandtschaft zwischen Mutter und Kind:17 Das Kind wachse in der Mutter nur heran, die bildlich auf die Rolle einer Amme (τροφός) reduziert wird; gezeugt werde es ausschließlich vom Vater. 18 Allein der Mann besitzt also eine weiterzugebende Erbmasse. Apoll benennt für seine Position als Zeugen

12 Aischyl. Eum. 470–489 und 566–573. 13 Vgl. etwa Bleicken 1995, 240–269 und 599–607 sowie Braun 1998 (mit Kritik an Christian Meiers politisch-aktueller Deutung des Areopags). 14 Aischyl. Eum. 606. 15 Aischyl. Eum. 607–608. 16 Aischyl. Eum. 653 bezogen auf Mutter und Sohn, eben Klytämnestra und Orest. Dass das nicht nur für männliche Kinder gilt, zeigt der Fortgang des Dialogs. In Eum. 653 ist ὅμαιμος Attribut zu αἵμα. Damit wird die Blutsgleichheit akzentuiert. Zudem steht diese Stelle mit dem nicht gerade häufigen Adjektiv ὅμαιμος in Bezug zu Vers 212, in dem die Erinyen in ihrem ersten Disput mit Apoll, noch vor der Gerichtsverhandlung, die Tötung der eigenen Mutter durch Orest als „blutgleichen Mord“ (ὅμαιμος φόνος) bezeichnen. 17 Aischyl. Eum. 657–666. 18 Grmek 1991, 26 zitiert diese Stelle (Aischyl. Eum. 659) und stellt ihr Worte Orests (!) in Euripides’ gleichnamiger Tragödie (552–554) voran, in denen für die Mutter das Bild des Saatfeldes gebraucht wird.

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(μάρτυς) – prozesstaktisch geschickt – die anwesende Göttin Athena, die keiner Mutter, sondern ausschließlich ihres Vaters Zeus Kind sei. 19 Damit sind die Plädoyers abgeschlossen, denn Athena ruft nun zur Abstimmung des Gerichts auf und nimmt selbst daran teil: Die Abgabe ihrer eigenen Stimme zugunsten der Sache Orests und Apolls begründet sie, indem sie Apolls Argumentation mit ihrer Zeugung allein durch den Vater aufgreift und daran ein Lob alles Männlichen und die moralische Verurteilung der Ehegattenmörderin Klytaimestra anschließt.20 Nach der von ihr selbst festgelegten Regel, dass Stimmengleichheit Freispruch bedeutet, bewirkt Athena mit ihrer Stimmabgabe Orests Freispruch. Denn, wie sich bei der Auszählung der Voten herausstellt, haben sich vor Athenas Stimmabgabe die Richter mit einer Stimme Mehrheit gegen Orests Position und für die der Erinyen entschieden. Deren Klageerfolg wird also durch die Stimme der mutterlosen Athena abgewendet.21 Die Pointe dieses Gerichtsverfahrens und des in ihm gefällten Urteils besteht darin, dass eine rigide pro-männliche und anti-weibliche Position durch eine weibliche, jedoch nur von einem Mann erzeugte und in ihrem Wesen eher männliche Gottheit zum Sieg geführt wird. Die athenischen Richter haben sich freilich nicht einhellig für diese Position entschieden, sondern mit kleinstmöglicher Mehrheit dagegen. 22 Was die Richter bei der Stimmabgabe bewogen hat, erfahren wir nicht von ihnen selbst, denn sie sind stumme Bühnenpersonen.23 Wir erfahren es auch nicht in Reden anderer. Dass das Argument der Zeugung allein durch den Mann für die Entscheidung der Geschworenen eine Rolle gespielt hat, ergibt sich jedoch aus dem Handlungsablauf: Es wird nicht nur von einer der Prozessparteien vorgetragen, sondern von der als Zeugin benannten Gerichtsherrin Athena aufgegriffen, und es ist das einzige Argument auf Orests Seite, so dass diejenigen Geschworenen, die für Orest gestimmt haben, immerhin fast die Hälfte der Richter, dieser Vorstellung von Zeugung gefolgt sein müssen. Außerhalb des Theaterstücks, im Bürgermilieu der Zuschauer, wären angesichts der entscheidenden Funktion des Gerichtsverfahrens für den Abschluss der Geschichte um Orest die „Eumeniden“ und mit ihnen die gesamte Tragödientrilogie der Lächerlichkeit anheimgefallen, wenn das den Prozess entscheidende Argument nicht der männlichen Lebenswelt entsprochen hätte. Von den „Eumeniden“ als einem Flop kann jedoch angesichts der bezeugten 19 Am Schluss seiner Argumentation für die Zeugung nur durch den Mann preist Apoll Athene, die doch in keinem Mutterschoß herangewachsen ist (665), als besonders edlen Götter-Sprössling: ἀλλ’ οἷον ἔρνος οὔτις ἂν τέκοι θεός (666). Page (Aischylos 1972) ändert, einer Konjektur Weils folgend, θεός zu θεά. West (Aeschylus 1991) behält θεός bei, macht jedoch aus 666 zwei Verse: In 666a ersetzt er οὔτις ἂν τέκοι durch und übernimmt die ersetzten Worte in 666b. Davor setzt er aus Eur. Or. 554 (vgl. Anm. 18 und 26). Als letztes Wort fügt er in 666b ein. Wenn man dem kleinen Eingriff von Page folgt, darf man τέκοι in 666 als Prädikat zum Subjekt „Göttin“ anders als τοκεύς in 659 und τίκτει in 660, beide bezogen auf den Mann, nicht als ‚(Er)zeuger‘ bzw. ‚zeugen‘, sondern muss das Verb als ‚gebären‘ auffassen, um nicht in Widerspruch zu Apolls These von der Zeugung allein durch den Mann zu geraten. Apolls Rede würde dann an ihrem Schluss von der Zeugung zur Geburt überwechseln: Athene ist ja sowohl von einem männlichen Gott (Zeus) allein gezeugt als auch geboren. Wests starker Eingriff betont hingegen nochmals die Zeugungsfähigkeit allein des Mannes. Der überlieferte Text ergibt weder den einen noch den anderen Sinn. 20 Aischyl. Eum. 734–743. 21 Das ergibt sich aus Aischyl. Eum. 752–753 im Kontext. 22 Das übersieht z. B. die von Scheer 2011, 62 zitierte Literatur, die die Vorstellung von der Zeugung allein durch den Mann, der bildlich den Samen in das Saatfeld legt (o. Anm. 18), uneingeschränkt für damals „verbreitete Volksmeinung“ hält. 23 Dass die Richter tatsächlich auf der Bühne auftreten, ergibt sich bereits aus Aischyl. Eum. 566–573.

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Vergabe des ersten Platzes an die „Orestie“ – und an das wie üblich an eine Tragödientrilogie angefügte Satyrspiel – nicht die Rede sein.24 So abwegig, wie es uns heute erscheint, kann die Zeugung ausschließlich durch den Mann vielen Zeitgenossen also nicht erschienen sein.25 In der unmittelbar öffentlich wirkenden dramatischen Dichtung wurde sie zumindest je einmal vor und nach der Orestie in selbstverständlicher Weise vorgetragen: in Aischylos’ „Hiketiden“ und in Euripides’ „Orest“. 26 Man muss annehmen, dass die Zeugung allein durch den Mann damals unter athenischen Männern und gewiss auch darüber hinaus unter griechischen Männern vertreten worden ist. Die Reduktion der Frau auf die Ernährerin eines allein vom Mann geschaffenen Embryos war nicht geeignet, die familiäre und die bürgerliche Position der Frau zu stärken. Damit spiegelt diese Zeugungs- und Vererbungsvorstellung die von Männern als Ehegatten und Vätern dominierte griechische Kleinfamilie und die ebenfalls männlich bestimmte athenische Bürgerwelt wider. Zugleich ist sie samt ihrer gesellschaftlichen Implikation ein Zeichen für eine Geisteshaltung wider besseres Wissen, das man sehr wohl haben konnte. Denn einfache Erfahrung, die Wahrnehmung einer Ähnlichkeit eines Menschen oder einer durch Zucht gesteuerten Ähnlichkeit eines Tieres mit dessen Mutter oder mit einem der Großeltern mütterlicherseits oder der Großmutter väterlicherseits, musste gegen die Weitergabe von Merkmalen an das Kind nur durch den Vater sprechen. Auch ist die einseitige männliche Vererbungsvorstellung bereits innerhalb der „Eumeniden“ nicht ohne Widerspruch geblieben, jedenfalls dann nicht, wenn man in der minimalen Mehrheit der Richtervoten gegen Orest zugleich eine Ablehnung der zugunsten Orests angeführten rein männlichen Vererbungsvorstellung sieht. In der Tat haben teils vor, teils bald nach der Uraufführung der Orest-Trilogie Griechen Vererbungslehren formuliert und mit Argumenten untermauert, die Mann und Frau in gleicher Weise einbinden. Das waren freilich intellektuell aus der Masse ihrer Mitbürger herausragende Männer. Dass einige Theorien dieser sogenannten ‚Vorsokratiker‘ die bürgerliche Welt erreicht haben, steht fest, etwa indem etwa Bürger gegen einen von ihnen, den von mir bereits genannten Anaxagoras, wegen einiger seiner Lehren ein Gerichtsverfahren angestrengt haben.27 Wie wir insbesondere aus der literarischen Überlieferung des Sokrates-Prozesses wissen, waren sehr zum Leidwesen älterer Männer junge Männer für neue Lehren leicht zu begeistern.28 Damit wende ich mich Empedokles und Anaxagoras zu, weil wir für meinen Gegenstand relevante antike Texte dieser beiden besitzen. Beide sind um etwa eine Generation jünger als Aischylos, fallen aber mit ihrem Wirken auch in und sogar vor die Zeit der Uraufführung von

24 Hypothesis zum „Agamemnon“. 25 In gleichem Sinn Duminil 1984, 103. 26 Aischyl. Suppl. 282–283; Eur. Or. 552–554 (vgl. o. Anm. 18 und 19). - In der Geschichtsschreibung sollte noch im späten ersten Jh. v. Chr. Diodor (1,81) dieselbe Sicht der Dinge den von ihm wie von vielen Griechen bewunderten Ägyptern der pharaonischen Vergangenheit zuschreiben. Grmek 1991, 25 hält die Herkunft der Vorstellung von der einseitig männlichen Zeugung und Vererbung aus Ägypten für wahrscheinlicher als aus vorgriechisch-indogermanischer Quelle. Das sei offen gelassen. 27 Die Verspottung des Sokrates in Aristophanes’ Komödie „Die Wolken“ trifft nicht den Sokrates, wie wir ihn vor allem aus Platon kennen, sondern einen Verschnitt aus Naturphilosophen und Sophisten. Auch der Sophist Protagoras wurde gerichtlich verfolgt. 28 Vgl. Plat. apol. passim.

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Aischylos’ Spätwerk „Orestie“. Auf beide und insbesondere auf beider Zeugung- und Vererbungslehren hat vor allem ein weiterer Vorsokratiker eingewirkt, Parmenides, dessen Blütezeit bereits um 500 angesetzt wird. 29 Die Welterklärungen der Vorsokratiker insgesamt und gerade auch der beiden von mir herangezogenen bestehen wesentlich aus biologischen Darlegungen.30 Kosmologie wird von den Vorsokratikern – und auch noch in Platons „Timaios“ – vorzugsweise im Entstehen der Welt und in ihrer Entwicklung bis zum aktuellen, als endgültig gedachten Zustand, mithin als Kosmogonie, geboten. Zeugung und Vererbung ist ein Teil davon. Für die Lehren der Vorsokratiker kann man nicht auf in sich geschlossene literarische Werke zurückgreifen, sondern nur auf anderenorts überlieferte Fragmente. Damit rücken unter anderem Platon und Aristoteles in das Sichtfeld. Letzterer ist der wohl wichtigste Quellenautor für Aussagen und Lehren der Vorsokratiker. Ihre Lehren, auch die über Zeugung und Vererbung, hat er zustimmend oder ablehnend kommentiert und dabei eigene Theorien entwickelt. Daher muss man immer wieder insbesondere auf Aristoteles zurückgreifen.31 Aus der fragmentarischen Überlieferung der Vorsokratiker ergeben sich nicht selten Verständnisprobleme. Auf einige davon gehe ich in Fußnoten ein.32 Innerhalb der sowohl von Parmenides als auch von den Pythagoreern beeinflussten Welterklärung des sizilischen Griechen Empedokles (um 485–425) sind die Antriebskräfte der nicht auf alle Zeit, sondern mit der Zeit, vielleicht auch periodisch wechselnd gedachten Elementeverbindungen und -trennungen Liebe und Hass.33 Empedokles zufolge lässt die Liebe in einem mehrstufigen Prozess Lebewesen entstehen. 34 Zuletzt kommen die nach weiblichem und männlichem Geschlecht getrennten tierischen Lebewesen aus der Erde heraus zum Vorschein. Anders als die laut Empedokles in einem und demselben Individuum zweigeschlechtlichen Pflanzen vermehren sich die Tiere im Zusammenwirken von je einem Individuum beider Geschlechter.35 Beide tragen mit ihrem jeweiligen Samen zur Herausbildung der von

29 Zur Wirkung des Parmenides auf biologische Theorien wie die des Empedokles und des Anaxagoras, der seinerseits das weitere biologische und medizinische Denken der Griechen und im Besonderen des Hippokrates beeinflusst hat, vgl. etwa Mansfeld 1983/86, Kap. 1, 303f., 307f. und Duminil 1984 sowie im Folgenden. 30 Herzhoff 1999, 13, 31–46. 31 Zu Aristoteles vgl. die im Folgenden zu Empedokles und Anaxagoras herangezogene Literatur und Lesky 1950, 1349–1383, Robert/Vinci 2005 (kritisch zu einer Aristoteles von einigen prominenten Biologen in den 1970er bis 1990er Jahren zugeschriebenen gleichsam modernen Genetik), Devin 2006 (mit der Frage, ob Aristoteles ein Evolutionist gewesen ist; dazu bereits Felin/Torrey 1937), Althoff 2006 (bes. 35 ebenfalls mit der Tendenz, Aristoteles’ Lehre zu aktualisieren) und Tipton 2014 (von mir nicht eingesehen) sowie einige Beiträge in Band 13, 2003 der Tagungsreihe bzw. Zeitschrift „Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption“. 32 Für die Vorsokratiker ziehe ich durchgehend Diels/Kranz 1951 und Mansfeld 1983/86 heran. Kirk/Raven/ Schofield 1983 (vgl. auch die französische Ausgabe von 1995) bieten für mein Thema kaum etwas. 33 Zu Empedokles vgl. Mansfeld 1983/86, Kap. 2, 56–67 und Imbraguglia 1991, Band 1 (Band 1 und Band 2 enthalten auch von Gaetano Messina erarbeitete sprachliche Grundlagen: eine kritische Textausgabe der Fragmente, einen Kommentar zu unterschiedlichen Lesarten und einen Index der Konkordanzen). Vgl. auch weiter unten zur Vererbbarkeit erworbener Merkmale. 34 Zur Entstehung der ersten und weiterer Lebewesen nach Empedokles und zu Aristotelesʼ Kritik daran vgl. Timpanaro-Cardini 1960 und Morchio 1991. 35 Zu den Pflanzen Diels/Kranz 1951, 31 A 70 und B 79 = Mansfeld 1983/86, Kap. 7, 94 und 103 (Aët. 5,26,4 und Aristot. gen. an. 1,23,731a1–2).

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ihnen gezeugten neuen Lebewesen bei.36 Ähnlichkeiten mit einem Elternteil ergeben sich aus der „Übermacht“ (ἐπικράτεια) des Samens jeweils des Vaters oder der Mutter.37 Das bedeutet, dass männlicher Samen nicht grundsätzlich stärker in der Vererbung sein kann als weiblicher. Damit herrscht in der biologischen Vererbung ein Gleichgewicht von Mann und Frau. Der etwas früher als Empedokles geborene, aber später als dieser mit eigenen Abhandlungen an die Öffentlichkeit getretene Ionier Anaxagoras (ca. 500–428/27) verbrachte zwei oder drei Jahrzehnte in Athen und war dort sozusagen der erste Philosoph. 38 Allerdings wurde er gerichtlich verfolgt und wohl 437/36 wegen einiger als gottlos gewerteter Lehrmeinungen aus Athen vertrieben, die allerdings nichts mit Zeugung und Vererbung zu tun hatten. 39 Es ist nicht auszuschließen, dass Anaxoras die „Orestie“-Aufführung im Jahr 458 miterlebt hat. Trotz konkret fassbarer Einflüsse früherer ionischer Naturphilosophen und des Parmenides ist Anaxagoras’ Lehre von der Materie von besonderer Art: Es gebe bei der Zeugung von Lebewesen keine Neuschöpfung, sondern nur jeweils neue Zusammenstellung ewiger Materie.40 Die Materie sei in allen ihren Ausformungen nicht nur grundsätzlich gemischt (das hat Anaxagoras unter anderen mit Empedokles gemeinsam), sondern sie sei auch unendlich oft derart teilbar, dass sich die Mischverhältnisse in jeder Teilung und damit unendlich oft wiederholten. Daraus folgt zum einen, dass es keine in sich in sich ungemischte (Ur-)Materie geben kann.41 Zum anderen lässt sich in umgekehrter Richtung herleiten, dass die Samen, 36 Diels/Kranz 1951 31 B 63 = Mansfeld 1983/86, Kap. 7, 110 (Aristot. gen. an. 1,18,722b12): Das Fragment, soweit im Wortlaut von Empedokles, ist Teil eines Hexameters und sprachlich sowie inhaltlich unvollständig: Entsprechend der von Empedokles benutzten Stilfigur „zwar [– aber“] bzw. „einerseits [– andererseits“] muss eine Aussage über den mit dem männlichen Beitrag zum neuen Lebewesen im Prinzip gleichen weiblichen Beitrag in paralleler Formulierung am Anfang des folgenden Hexameters gestanden haben: … ἡ μὲν ἐν ἀνδρός / [σπέρματι, ἡ δὲ γυναικὸς …] oder ähnlich. Vgl. die entsprechend ergänzende Übersetzung von Mansfeld. „Samen“ (σπέρμα, γονή) wird somit von Empedokles auch der Frau zugesprochen. Vgl. Lesky 1950, 1248 unter Verweis auf dasselbe bei Alkmaion von Kroton, Parmenides, Empedokles und Demokrit, jedoch nicht auf Anaxagoras. 37 Diels/Kranz 1951, 31 A 81 = Mansfeld 1983/86, Kap.7, 111 (Aët. 5,11,1). Das oben wiedergegebene Verständnis dieses Fragments ergibt sich aus dem Kontext. In dem Fragment wird sodann Unähnlichkeit des Nachwuchses mit beiden Elternteilen begründet: Sie resultiere aus Wärmeverlust des – weiblichen und/oder männlichen – Samens. Vgl. Anm. 45 und 56. 38 Zu Anaxagoras vgl. Mansfeld 1983/86, Kap. 2, 156–169 und Cappelletti 1980 (mit Schwerpunkt auf der hier nicht weiter interessierenden Bedeutung des νοῦς in Anaxagoras’ Kosmologie) sowie o. bei Anm. 3. 39 Diels/Kranz 1951, 59 A 7, 1, 43, 15, 17, 35 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 1, 2, 3, 7, 9, 10, 11, 12, 13 (Clem. Al. 1,63,2, Diog. Laert. 2,7, Aristot. metaph. 1,3,984a11–12, Plat. Phaidr. 270A, Plut. Per. 32, Plat. apol. 26D, Diog. Laert. 2,12 und 2,14–15). 40 Diels/Kranz 1951, 59 B 10 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 45 (Sch. Greg. Naz. = Migne PG 36, 911). 41 Nach Aristoteles habe Anaxagoras bestimmte Substanzen, die von Aristoteles so genannten ὁμοιομερῆ, die in sich von gleicher Zusammensetzung seien, als Elemente angesehen. Vgl. Diels/Kranz 1951, 59 A 52, A 43, 46, 61 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 18, 19, 46, 20 (Aristot. phys. 1,4,187a20, metaph. 1,3, 984a13–14, gen. corr. 1,1,314a18–19 und 24–25, metaph. 12,2,1069b19–20). Freilich hat Aristoteles nach Mansfeld 1983/86, 166f. den Ausdruck selbst geprägt, und es bleibt fraglich, was Aristoteles’ ὁμοιομερῆ bei Anaxagoras umfasst haben (zu den Folgen der Anaxagoras-Interpretation des Aristoteles vgl. Diels/Kranz 1951, A 46 und B 1 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 47 und 21 [Aët. 1,3,5, Simpl. 155,23]). Anders sieht das Grmek 1991, 17, und nach Herzhoff 1999, 40 seien in Anaxagoras’ „sogenannter Homoiomerienlehre“ die Teilchen zwar einander gleich, indem ein jedes alle möglichen Eigenschaften enthalte, aber die Eigenschaften seien in den einzelnen Teilchen quantitativ unterschiedlich gemischt. Damit entsprächen diese Teilchen, die Anaxagoras „Samen“ (σπέρματα: Diels/Kranz 1951, 59 B 4 = Mansfeld

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aus denen alle Lebewesen hervorgehen, all das enthalten, was sich dann aus ihnen entwickelt, nämlich insbesondere alle einer Gattung eigenen Körperteile und deren jeweilige materielle Zusammensetzung, so dass das Künftige im Bisherigen präformiert ist. 42 Daraus wird gefolgert, dass der Samen aus dem gesamten Körper stammen muss.43 Seit der ersten Zeugung in dem sich herausbildenden Kosmos durch die Erde als Mutter und den Himmel als Vater sind Individuen zweier Geschlechter beteiligt.44 In der biologischen Vererbung setzt sich mal der eine, mal der andere Partner der Zeugung durch, indem der Samen des einen Erzeugers quantitativ den des anderen überwiegt und damit das Aussehen – und wohl auch weitere Eigenschaften – des Kindes bestimmt.45 Wie bei Empedokles so ist auch bei Anaxagoras nicht festgelegt, dass eines der beiden Geschlechter bei der Vererbung grundsätzlich stärker sei, sondern beide können Merkmale weitergeben. 46 In der Gleichwertigkeit von Mann und Frau bei der Vererbung sind Empedokles und Anaxagoras – und überdies Parmenides und Demokrit sowie der etwas spätere Hippokrates47 – im Prinzip, nämlich in der Zwei-Samen-Lehre, also gleich, und sie unterscheiden sich grundlegend von der in Aischylos’ „Eumeniden“ dargelegten These, dass nur der Mann Samen hat, und auch von dem deutlich späteren Aristoteles, bei dem die Frau „gleichsam ein verstümmelter Mann“ ist und daher ebenfalls nur der Mann über Samen verfügt. 48 Empedokles und Anaxagoras stimmen weiter darin überein, dass beide die Festlegung des Geschlechts des Nachwuchses gesondert behandeln, und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass es sich hierbei um ein Entweder–Oder handelt. Darin folgen sie einer für das frühe griechische Denken typischen Vorliebe für Gegensatzpaare.49 Die von Empedokles bzw. Anaxagoras herangezogenen Gegensatzpaare sind damals mehrfach als generelle Gegensätze von Mann und Frau

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1983/86, Kap. 8, 24 = Simpl. 156,1) nennt, den von Anaxagoras ebenso bezeichneten „Samen“ der geschlechtlichen Vermehrung der Lebewesen. Diels/Kranz 1951, 59 B 10 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 45 (Sch. Greg. Naz. = Migne PG 36, 911). Zur Lehre von der Präformation und ihrer allgemeinen Geltung bis Aristoteles, der an ihre Stelle die Epigenesis-Theorie gesetzt hat, vgl. Grmek 1991, 14–16. Zu dieser zuerst von Darwin so genannten „Pangenesis“ des Samens im Unterschied zur seiner Bildung im Gehirn oder im Blut samt Verweis auf Darwins eigene pangenetische Denkweise im Anschluss an Hippokrates vgl. Lesky 1950, 1294–1343 und Grmek 1991, 27–31 (ohne Verweis auf Anaxagoras: dazu Anm. 53), zur Pangenesis bei Hippokrates Anm. 66. Vgl. weiter Lesky 1233–1293 und 1344–1417 sowie Grmek 27–31 auch zu anderen Theorien über Herkunft des Samens sowie über Bedingungen und Orte der Zeugung und Althoff 2006 zur Widerlegung der Pangenesis-Lehre durch Aristoteles. Ich folge der Interpretation Mansfelds 1983/86, Kap. 2, 165 von Diels/Kranz 1951, 59 A 42 und 113 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 60 und 61 (Hippol. haer. 18,12 und Iren. adv. haer. 2,14,2). Diels/Kranz 1951, 59 A 111 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 70 (Cens. 6,6). Zur Fortsetzung dieser Feststellung vgl. o. Anm. 37. Indem Lesky 1950, 1278f. m. 1279 Anm. 1 ausschließlich Aristot. gen. an. 1,17,721a35–36 und 1,19,726a30–31 folgt und sich gegen Cens. 5,4 wendet, hat ihr zufolge Anaxagoras nur beim Mann Produktion von Sperma angesetzt. So lässt denn Lesky 1278 – unter Nichtbeachtung von Empedokles (vgl. o. bei Anm. 36) – erst in der hippokratischen Auffassung von der Zeugung die Frau mit dem Mann gleichwertig sein. Vgl. aber oben und Anm. 50. In den hippokratischen Schriften vgl. genit. 8. Aristot. gen. an. 2,4,738b. Vgl. Grmek 1991, 26f, ausführlich Schürmann 2001 (vgl. Anm. 60) und Föllinger 1996, 138–169, bes. 139f, und 170–181. Vgl. Lloyd 1966 und García Novo 1996. Zugleich steckt im Entweder–Oder eine grundsätzliche Erkenntnis der modernen Vererbungslehre: Brumbaugh 1951, 302f. (vgl. 1949), dessen Differenzierung zwischen

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dargestellt worden; sie müssen als beiden Geschlechtern eigene Merkmale gegolten haben. 50 Die Alternativentscheidung Junge oder Mädchen machen Empedokles und Anaxagoras von einer Alternative in den Umständen des Zeugungsaktes abhängig. Beide unterscheiden sich in alledem von einigen anderen Vorsokratikern, haben jedoch die hippokratische Literatur und – erstaunlicherweise – Aristoteles beeinflusst.51 Empedokles macht die Temperatur des väterlichen und mütterlichen Samens zur Zeit der Zeugung für das Geschlecht des Kindes verantwortlich: Warm macht Jungen, Kalt macht Mädchen.52 Anaxagoras, dessen Mischungstheorie zufolge männlicher Samen auch Weibliches und weiblicher Samen auch Männliches enthalten muss, geht in partieller Anlehnung an Parmenides von einem Lateralitätsunterschied in den Hoden sowie in der Gebärmutter aus: rechts macht Männer, links macht Mädchen.53 Die Theorien beider Philosophen werfen kein Problem auf, sofern die gleichen Seiten des Gegensatzpaares Warm-Kalt bzw. Rechts-Links von Mann und Frau bei der Zeugung zusammen wirken, also Warm und Warm, Kalt und Kalt bzw. Rechts und Rechts, Links und Links. Was aber geschieht, wenn die gegensätzlichen Seiten des jeweiligen Gegensatzpaares aufeinandertreffen, also Warm-Mann und Kalt-Frau, Kalt-Mann und Warm-Frau bzw. analog bei Rechts und Links? Nicht Parmenides, der hier wohl eine katastrophale Situation eintreten sah, und auch nicht Empedokles und Anaxagoras, sondern erst spätere antike Autoren dachten weiter, indem sie zum Geschlechtsgegensatz Mann - Frau ein weiteres alternativ gedachtes Kriterium hinzunahmen und mit dessen Hilfe Resultate zu erklären vermeinten, die sich

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östlicher und westlicher griechischer Medizin in der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung des Entweder– Oder-Prinzips bei der Vererbung ich allerdings nicht folgen kann. Das Denken in Gegensatzpaaren lässt sich nicht mit der von Lesky (o. Anm. 46) für Anaxagoras postulierten Ein-Samen-Theorie vereinbaren. Siehe hingegen Föllinger 1996, die 21–23 auf die von Empedokles und Anaxagoras bzw. Parmenides abweichenden Lehren von Alkmaion, Hippon und Demokrit (Diels/Kranz 1951 24 A 14, 38 A 14, 68 A 134; nicht in Mansfeld 1983/86), 23–33 auf die Frau und Mann zugewiesene unterschiedliche körperliche Konstitution (feucht-trocken und warm-kalt, beides freilich nicht ausschließlich auf Mann oder Frau bezogen) und 33f auf die Lateralität (rechts-links: ausschließlich Mann bzw. Frau zugewiesen) in der hippokratischen Literatur sowie 131–181 auf all dies bei Aristoteles verweist. Vgl. Duminil 1984, 101–112 und Föllinger 1996 wie vorige Anm. Diels/Kranz 1951, 31 A 81, B 65 und 67 = Mansfeld 1983/86, Kap. 7, 102, 112, 113 und 114 (Aët. 5,7,1, Aristot. gen. an. 4,1,764a1–2 und 1,17,723a23–24, Galen in Hippokr. epid. 6,48). Vgl. Lesky 1950, 1255–1262. Parmenides führt die Festlegung des Geschlechts des Nachwuchses auf die Seite der Gebärmutter oder auf den rechten oder linken Hoden oder auf die Stärke des Samens zurück: Diels/Kranz 1951, 28 A 13 und 53, B 17 und 18 = Mansfeld 1983/86, Kap. 5, 29 und 30 [nur für B 17 und 18]). Dazu Lesky 1950, 1264–1274 und Föllinger 1996, 22 m. Anm. 36. Zur Festlegung des Geschlechts bei Anaxagoras vgl. Diels/Kranz 1951, 59 A 42 = Mansfeld 1983/86, Kap. 8, 60 (Hippol. haer. 1,8,12). Dazu Lesky 1275–1280 und kurz Cappelletti 1980, 16 und Föllinger 22. Kember 1973 geht unter Problematisierung der Überlieferung von Aristot. gen. an. 763b30–764a1 (wo Aristoteles sich ausdrücklich auf Anaxagoras bezieht, dies aber nicht tut in der lateinischen Übersetzung der arabischen Version durch Michael Scot im 13. Jh., die auch in anderem von der griechischen Version abweicht) von der pangenetischen Vorstellung als original anaxagoreisch aus (vgl. o. Anm. 43), sieht sie in teilweisem Widerspruch zur Geschlechtsfestlegung durch die Rechts-LinksAlternative und reduziert letztere so weit, dass das Geschlecht des Nachwuchses nur durch die Seite der Gebärmutter entschieden wird, in die der gemischte Samen von Frau und Mann fließt.

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durch Wirkung sowohl parallel als auch über Kreuz der nunmehr zwei Gegensatzpaare ergeben:54 Indem man die empedokleische Festlegung des Geschlechts mit der Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit des Nachwuchses gegenüber Vater oder Mutter kombinierte, glaubte man folgende Ergebnisse herleiten zu können: Warmer Samen beider Eltern erzeugt dem Vater ähnliche und der Mutter unähnliche Jungen, kalter Samen beider Eltern der Mutter ähnliche und dem Vater unähnliche Mädchen; warmer väterlicher und kalter mütterlicher Samen lässt einen Jungen entstehen, der der Mutter ähnelt, dem Vater jedoch nicht, und kalter väterlicher und warmer mütterlicher Samen ein Mädchen, das dem Vater ähnelt, jedoch nicht der Mutter. Analoges ergibt sich bei Anaxagoras.55 Empedokles’ und Anaxagoras’ im Prinzip gleiche Theorien der Geschlechtsfestlegung erscheinen nur auf den ersten Blick als wertneutrale Unterscheidungen zwischen Frauen und Männern. Indem bei Empedokles, wohlgemerkt nicht bei seinen späteren Interpreten, sondern bei ihm selbst, Abkühlung des Samens Unähnlichkeit des Nachwuchses mit beiden Eltern bewirkt, erscheint Kälte eher als Nachteil denn Vorteil, und es ist ja ebenfalls Kälte des Samens, die weibliche Nachkommen entstehen lässt.56 Bei Anaxagoras kann die Lateralität Rechts = Mann und Links = Frau nicht wertneutral sein, weil Links nach griechischer Vorstellung, die seit den homerischen Epen belegt ist, Unglück verheißen kann und dies oft genug auch tut.57 Von daher mochte oder musste weiblichem Nachwuchs etwas Negatives anhaften, das männlichem Nachwuchs grundsätzlich nicht zu eigen war.58 Dem Mann zugewiesenes Warm und Rechts als das Bessere und der Frau zugewiesenes Kalt und Links als das Mindere bestimmten schließlich Aristoteles’ Wertung der Geschlechter:59 Der Mann sollte über die Frau herrschen, diese dem Mann gehorchen – ganz wie in der Alltagsrealität der griechischen Bürgergesellschaft.60 Dass derartig weitreichende Schlüsse in die Gesellschaft hinein bei Empedokles und 54 Nach Parmenides in Diels/Kranz 1951, 28 B 18 = Mansfeld 1983/86, Kap. 5, 30 (Cael. Aurel. morb. chron. 4,9,902 Drabkin) wird das Geschlecht (sexus) des entstehenden Nachwuchses geschädigt, wenn die Samen beider Eltern sich nicht vereinigen, sondern einander bekämpfen. 55 Vgl. die Tabellen bei Lesky 1950, 1261 (im Anschluss an Empedokles) und 1269 (im Anschluss an Parmenides und insoweit auch an Anaxagoras) sowie Formeln, Tabellen und Erörterung bei Brumbaugh 1951. Lesky 1261f. verweist darauf, dass wir hier nicht Empedokles selbst fassen, sondern eine „nachempedokleische … Diskussion über Vererbungsfragen“. 56 Zur Entstehung von Jungen oder Mädchen vgl. o. bei Anm. 52, zu Unähnlichkeit durch Kälte o. Anm. 37. Das Ganze geht, wie bereits von Aristot. gen. an. 4,1,769a17–8 bemerkt, nicht widerspruchsfrei auf. 57 Vgl. etwa Liddell & Scott s. v. ἀριστερός; Hom. Il. 12,240 (weniger deutlich) und Od. 20,242. Zur unterschiedlichen Wertung von Rechts und Links ausführlich Lesky 1950, 1263–1293 und Lloyd 1962. 58 Hingegen scheint, obwohl die Samen, aus denen Männer hervorgehen, als stärker und die, aus den Frauen entstehen, als schwächer qualifiziert werden, die Theorie der Zeugung männlichen oder weiblichen Nachwuchses in der anonymen Schrift de generatione 6,1–2 geschlechtsneutral zu sein: Beide Samenarten, die für künftige Jungen genauso wie die für künftige Mädchen, werden von Männern und Frauen produziert. Das quantitative Überwiegen der einen oder anderen Samenart aus beiden Quellen zusammengenommen bei der Zeugung bewirkt das Entstehen männlichen oder weiblichen Nachwuchses. Vgl. Grmek 1991, 28f., der de generatione mehrfach heranzieht. Mit dem Überwiegen des einen oder anderen Samens gleicht diese Schrift der Vererbungsvorstellung von Empedokles und Anaxagoras, die indes, wie hier dargelegt, davon die Geschlechtsfestlegung des Nachwuchses ausnehmen. 59 Föllinger 1996, 181 zusammenfassend. 60 Föllinger 1996, 182–196, bes. 185f. zum Mann nach Aristoteles als „führendem“ (ἄρχον) und der Frau als „geführtem Wesen“ (ἀρχόμενον). Auch wenn man mit Föllinger 1996, 224 den o. bei Anm. 48 zitierten Ausspruch, die Frau sein ein „verstümmelter Mann“, nicht als Quintessenz des aristotelischen Frauenbildes ansieht, erscheint doch die nunmehrige Relativierung des negativen Frauenbildes des Aristoteles (vgl.

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Anaxagoras nicht belegt sind, mag an Zufällen der Überlieferung liegen; vielleicht aber haben die beiden Vorsokratiker solche Schlüsse auch nicht gezogen – auch wenn sie mit ihren Theorien von der Festlegung des Geschlechts bei der Zeugung gängigen Wertungen von Mann und Frau die wissenschaftliche Weihe gegeben haben mögen.

3. Erworbenes wird zu Vererbtem Erwähnungen von und Geschichten um erworbene und fortan vererbte Merkmale von Individuen, Familien und Stämmen oder Völkern einschließlich intermittierend vererbter erworbener Merkmale sind in der antiken Literatur keineswegs selten.61 Hier sei nur das erbliche Muttermal des Ankers bei den männlichen Mitgliedern der hellenistischen Dynastie der Seleukiden im Zusammenhang mit ihrer Abstammung von Apoll erwähnt. 62 Es kommt nicht auf den Realitätsgehalt derartiger Erwähnungen und Geschichten an, sondern darauf, dass Vererbung erworbener Merkmale von Griechen immer wieder als selbstverständlich imaginiert und gedacht wurde. Insoweit waren Griechen, vielleicht sogar die Griechen Lamarckianer avant la lettre.63 Zum größten Teil mögen diese Erwähnungen und Geschichten naiv und nicht durchdacht sein, doch finden sich auch in philosophischer bzw. wissenschaftlicher Literatur Beispiele für Vererbung erworbener Merkmale, so etwa bei Aristoteles. 64 Empedokles zufolge entstanden die Lebewesen aus vielfältigen Kombinationen einzelner Teile. Bei den verschiedenen Zusammenfügungen der einzelnen Teile zu einem neuen Lebewesen konnte ein Teil wie die Wirbelsäule beispielsweise verbogen werden, und diese verbogene Wirbelsäule hatten dann alle späteren Exemplare dieser Art.65 In Schriften, die von der modernen Forschung dem historischen Arzt und medizinischen Forscher Hippokrates (geb. 460/50) oder einem engen Personenkreis um ihn herum zugeschrieben werden, ist von Krankheiten die Rede, die zunächst erworben und dann vererbt

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den Forschungsbericht bei Scheer 2011, 63) nicht gerechtfertigt. Schürmann 2001 sieht in der Zeugungslehre des Aristoteles unter Bezug auf dessen Kriterien „gemäß der Natur“ (κατὰ φύσιν) und „gegen die Natur“ (παρὰ φύσιν) eine Frontstellung gegen eine im frühen 4. Jh. aufgekommene für die Frauen günstigere Vorstellung von der Geschlechterordnung. McCartney1926 und Herter 1975, 118–125, zur intermittierenden Vererbung 120: vgl. etwa Aristot. gen. an. 1,18,722a 8–11, Ps.-Aristot. hist. an. 7,5,585b 32–34 und 7,6,586a 1–4. Just. 15,4,1–9, dazu McCartney 1926, 27 (der freilich Seleukos Nikator mit Antigonos Monophthalmos verwechselt) und Herter 1975, 121. Vgl. Mehl 1986, 5f. und 97–101. Das ist ein Rückgriff in die mythische Sphäre in – angeblich – aufgeklärter historischer Zeit, wie er bei Alexander dem Großen und in seiner Umgebung häufig festzustellen ist. Marchini 2006/7 ist speziell auf Hippokrates (aer. 14) ausgerichtet, erwähnt aus der Antike aber auch Empedokles (bei Aristoteles), Herodot (3,12,2–4), Aristoteles (part. an. 1,1,640a 19: vgl. Anm. 65) und Eustathios (ad Dionys. Perieg. 31). 217 Anm. 1 bietet Marchini italienische Literatur zu Lamarck (1744–1829) und zitiert 218 das zweite, die Vererbung erworbener Merkmale formulierende Lamarcksche Gesetz (wiedergegeben in Lamarck 1960, 235). Marchini macht wahrscheinlich, dass Lamarck Hippokrates benutzt hat, ohne ihn zu erwähnen. Hierzu und zum Folgenden Grmek 1991, 20–25. Diels/Kranz 1951, 31 B 97 = Mansfeld 1983/86, Kap. 7, 100 (Aristot. part. an. 1,1,640a 20–21: mit Kritik an Empedokles). Vgl. Kranz 1949, 57–58 und Bollack 1965, bes. 74 Anm. 4 sowie danach Herter 1975, 124f.

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werden, so die „Heilige Krankheit“, die Epilepsie. 66 Ich betrachte ein Beispiel für ein erworbenes und dann vererbtes Merkmal im Werk des ‚Hippokrates‘ näher, das gleich zweifach von besonderer Art ist: Erstens findet es sich in einer Schrift, in der – mit einer Ausnahme, eben meinem Beispiel – nur von solchen Eigenheiten die Rede ist, die als erworben beschrieben, indes nicht als vererbbar bezeichnet werden. Zweitens stehen in dem Beispiel Erwerb des Merkmals und seine Persistenz in einem in der antiken Literatur einmaligen Verhältnis zueinander. Das Werk ist die Schrift „Über Lüfte, Wässer und Orte“ (περὶ ἀέρων ὑδάτων τόπων) oder kurz „Über Umwelteinflüsse“.67 Im ersten Teil werden physische Konstitutionen und mit ihnen verbundene Krankheiten von Menschen als Wirkungen bestimmter Umweltbedingungen dargestellt. Im zweiten Teil der Schrift werden Einwirkungen der Umwelt auf das Verhalten und die Mentalität von Menschengruppen vorgetragen. Alle in beiden Teilen benannten Wirkungen resultieren aus Umweltzuständen, unter denen das Klima für Hippokrates der wirksamste ist. Für Erblichkeit ist in diesem Denksystem in der Tat kein Platz. 68 Das ist an einer viel behandelten Stelle im zweiten Teil der Schrift „Über Umwelteinflüsse“ anders:69 Hier wird eine körperliche Besonderheit eines Volkes oder Stammes, die durch mechanische Einwirkung von Menschen auf Menschen besonders geformten Köpfe der von Hippokrates so genannten „Makrokephalen“, also der „Langköpfigen“, vom Resultat eines kollektiven Verhaltens, einer Sitte (νόμος), über Generationen hinweg zu einem beständigen Merkmal. Dieses ist – und das ist der entscheidende Punkt, der erst vor etwas über zehn Jahren klar formuliert worden ist – auch nach Wegfall der Sitte weiter vorhanden gewesen, hat sich in moderner Begrifflichkeit also zu einer genetisch festgelegten Eigenschaft entwickelt: In den Worten des Hippokrates, die mit denen über Erwerb und Vererbung der „Heiligen Krankheit“ identisch sind, ist aus „Sitte“ (νόμος) „Natur“ (φύσις) geworden, aus etwas von Menschen Gemachtem etwas, das im Menschen über Generationsgrenzen hinweg einfach vorhanden ist und deswegen – wie viel später bei Lamarck – als vererbt gedacht wird.70 Entscheidend hierfür ist meines Erachtens, dass Hippokrates, indem er bei den Makrokephalen Sitte und Natur in die gleiche Richtung wirken lässt, anders als andere griechische 66 Hippokr. morb. sacr. 2,4–7 (mit der Übersetzung von κατὰ γένος als „in der Vererbung“ durch Grensemann in Hippokrates 1968, 69). Zur hier von Hippokrates formulierten pangenetischen Vorstellung vgl. Pohlenz 1938, 15f. und bereits Diller 1934, 54–60 unter Betonung der Nähe insbesondere zu Demokrit, die Pohlenz 26f. indes deutlich relativiert, sowie Duminil 1984, 101–112 und o. Anm. 43. – Zu Hippokrates und zum Corpus der Hippokratischen Schriften vgl. Capelle in Hippokrates 1955, 41–54, der sich auf Deichgräber 1933, 146–163 und Pohlenz 1938, passim beruft und 55–57 das zusammenstellt, was sich biographisch-historisch über Hippokrates sagen lässt. An diesem Wissensstand hat sich seither nichts Wesentliches geändert. Vgl. auch Diller 1959/71 und zusammenfassend Golder 2007, 19–26, letzterer freilich mit Jahreszahlen, die unserem unpräzisen Wissen über Hippokrates nicht entsprechen. 67 Einen Vortrag mit dem Titel „Hippokrates über Umwelteinflüsse auf den Menschen“ habe ich am 28. April 2015 auf Einladung der Jubilarin in Bochum gehalten. Dort habe ich freilich über den in aer. einzigartigen Fall eines erworbenen und dann vererbten Merkmals nicht gesprochen. Linda-Marie Günther sei für diese sowie für eine frühere Vortragseinladung herzlichst Dank gesagt! 68 Vgl. McCartneys 1926, 28 Hinweis auf auf aer. 17, wo die Sitte, Mädchen die rechte Brust wegzuschneiden, von Hippokrates nicht als vererbbar geworden bezeichnet wird. 69 Hippokr. aer. 14. Dazu Ayache 2002, vor ihm aber auch schon Lesky 1950, 1294–1343, Herter 1975, 119 (unter Hinweis auf die o. Anm. 43 und 66 sowie u. Anm. 70 erwähnte Pangenesis-Lehre), De Ley 1981 (ebenfalls zur Pangenesis-Lehre bei Hippokrates), Duminil 1984, 101–112 und andere. 70 Hippokr. aer. 14,4–5; vgl. o. bei Anm. 66. Grundlegend ist die Interpretation von Ayache 2002, der freilich die in die gleiche Richtung weisende Übersetzung Dillers in Hippokrates 1962, 118 und 1970, 59

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Intellektuelle ungefähr seiner Zeit, vor allem Sophisten, Sitte und Natur nicht als antithetisch, sondern als komplementär versteht.71 Die im zweiten Teil der Schrift „Über Lüfte, Wässer und Orte“ mitgeteilten kollektiven mentalen Konstitutionen wie Tapferkeit oder sklavische Unterwürfigkeit dürfen als gesellschaftlich und überdies politisch relevant gelten. Auf die deformierten Köpfe der Makrokephalen trifft das nicht zu. Jedoch könnte das Ergebnis, das allgemein darin besteht, dass nicht etwas beliebig Erworbenes, sondern etwas durch gezielten menschlichen Eingriff Bewirktes vererbbar geworden ist, gesellschaftlich und politisch brisant werden: dann nämlich, wenn menschliche Individuen oder gar Gruppen mit solchen Eigenschaften ausgestattet würden, die nicht nur sie, sondern auch ihre Nachkommen manipulierbar und damit beliebig einsetzbar machten. An solche erschreckenden Möglichkeiten dachte der Verfasser der Schrift „Über Umwelteinflüsse“ freilich nicht: Ihm ging es nicht um Wissenserwerb zwecks praktischer Anwendung, sondern um Erkenntnis an sich.

4. Ergebnisse Die von mir behandelten Autoren lassen zusammen mit weiteren von mir punktuell herangezogenen ein durchgehendes Interesse an biologischer Vererbung sowohl bei Intellektuellen als auch bei einfachen Bürgern erkennen. Motivationen dazu konnten die Erkenntnis der Welt um ihrer selbst willen genauso wie Tierzucht und auch, um es analog auszudrücken, Menschenzucht sein. Letztere sollte dazu dienen, um einen Stand einer vertikal gegliederten Gesellschaft rein zu erhalten. Eine weitere, nicht an aristokratische Vorstellungen gebundene Motivation war die Aufrechterhaltung einer von Männern bestimmten Gesellschaftsordnung mit dadurch bedingter und auch bezweckter Unterordnung der Frauen. Zumindest in Athen um die Mitte des 5. Jhs. dürfte unter den Männern eine Debatte über die Rolle der Frau bei Zeugung und Vererbung geführt worden sein. Es ist nicht erkennbar, dass diese Debatte auf gelehrten Theorien beruht hätte.72 Sie betraf die Gesellschaft als Ganzes über ihre beiden vorausgeht. Jouanna in Hippokrates 1996, 224f. m. 225 Anm. 2 geht von einer geschwächten Ausprägung der Langköpfigkeit nach Wegfall der Sitte aus; die Vererbung allein wäre also schwächer als die Sitte bzw. Sitte und Vererbung zusammen. Das ergibt sich aus dem Hippokrates-Text freilich nicht. Einige Autoren, so Nickel 1978 und auch Diller 1934, 34 m. Anm. 61 und 57 sowie Joly 1966, 207, haben den Übergang von Sitte zu Vererbung nicht verstanden. Zu Hippokrates und Lamarck vgl. o. Anm. 63. Pohlenz 1938, 43f. verweist darauf, dass die Begründung der Erblichkeit in morb. sacr. 2 in aer. 14 „wörtlich wiederholt“ wird, und bezeichnet φύσις in aer. 14 als allgemeine kollektive Natur. Dem stimmt Capelle in Hippokrates 1955, 48 zu. 71 Nach Heinimann 1945, 28 dient das Begriffspaar νόμος-φύσις zunächst noch „nicht dem aufklärerischen Zweck der Entwertung des nomos zugunsten der physis“. In Kap. I „Nomos-Physis in der Ethnographie“ (13–41) behandelt Heinimann eingehend den zweiten Teil von aer. Hier verwendet Hippokrates νόμος teils für sich allein, teils zusammen mit φύσις. Heinimann 1945, 28 stellt dazu richtig fest, dass die mit beiden Begriffen ausgedrückten Sachverhalte „nicht durchweg in Antithese“ zueinander stehen und „dass ein nomos zur physis werden kann“. Letzteres beruht darauf, dass νόμος und φύσις – darin sei Heinimann ergänzt – z. B. in aer. 14 in gleicher Richtung wirken. 72 Scheer 2011, 62 beschreibt einen Widerspruch zwischen „naturphilosophischen Argumenten“ und der oben genannten „Volksmeinung“ in den „Eumeniden“, ohne diesen als solchen auszudrücken. Die Rede von „naturphilosophischen Argumenten“ ist nach dem Argumentationsverlauf in den „Eumeniden“, wie er weiter oben wiedergegeben ist, viel zu hoch gegriffen.

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Hälften, die männliche, die diese Debatte führte und damit ihre Richtung bestimmte, und die weibliche, die Gegenstand dieser Debatte unter Männern war und wohl als Folge unter anderem dieser Diskussion weiterhin in männlicher Abhängigkeit verblieb, obwohl bereits das Alltagswissen um Vererbung ein anderes Verhältnis zwischen Mann und Frau hätte begründen können.73 Wieweit Alltagswissen und Volksmeinung Überlegungen und Spekulationen forschender Intellektueller angeregt und wieweit andere Menschen intellektuelle Theorien übernommen und für den eigenen Gebrauch vielleicht vereinfacht haben, wissen wir nicht. Allerdings griffen Intellektuelle Theorien anderer Intellektueller über Zeugung und Vererbung auf und entwickelten auch an ihnen ihre eigenen begründeten Ansichten. Zumindest einige Vorsokratiker lehrten die Vererbung von Merkmalen durch Vater und Mutter. Damit konnten sie allerdings den später lebenden einflussreichen Philosophen und Gelehrten Aristoteles nicht überzeugen. Indem in vorsokratischen Theorien die Festlegung des Geschlechts aus der allgemeinen Vererbung abgesondert und als eigener Vorgang bei der Zeugung beschrieben wurde, gelangte man zu Erklärungen, die die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen – scheinbar – hätten begründen können. Einerseits reichte schlichtes Alltagswissen um biologische Vererbung aus, um gesellschaftspolitische Überlegungen anzustellen. Dabei konnte die richtige Auffassung von biologischer Vererbung durch beide Geschlechter mit einer konservativen oder gar reaktionären gesellschafts- und verfassungspolitischen Position verbunden sein und die falsche, nur dem Mann Vererbungsfähigkeit zusprechende mit fortschrittlicherer, freierer politischer Verfassung. Andererseits zogen Forscher aus ihren Theorien gerade nicht gesellschaftspolitische Folgerungen. Das gilt auch für die in ihrer Anwendung potentiell gefährliche Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften. Diese Theorie diente nur der Erklärung des Vorhandenseins solcher Merkmale, die man an einem Individuum oder einer Gruppe als neu wahrgenommen hatte und auch bei deren Nachkommen sah. Sie ermöglichte es auch, anstatt in der Erklärung von Merkmalen in den Generationen ad infinitum zurückzugehen, für jedes beliebige Merkmal einen Anfang festzustellen oder anzunehmen, so, wie man in den Kosmogonien einen Anfang setzte, hinter den nicht zurückzugehen war.

73 Die gesellschaftliche Lage der dem Mann unterworfenen Frau schloss Freiräume und Aufgaben in der Öffentlichkeit oder jedenfalls außerhalb des Hauses ein, wie das etwa für das hellenistische Milet die Jubilarin (Günther 2014) herausgearbeitet hat: Bürgerinnen der städtischen Honoratiorenschicht geben Geld für städtische Belange, ehren andere mit Statuen und werden selbst durch Statuen geehrt, sie nehmen Stiftungen in Heiligtümern vor und sind an der Ausübung von Kulten beteiligt bzw. Priesterinnen, und sie stehen auf Grabinschriften – mehr aber auch nicht.

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Griechische Vorstellungen von biologischer Vererbung

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Small but perfectly formed? Das Verhältnis von Fuß- und Beckendurchmesser bei den „kleinen“ Schalen des Töpfers Euphronios* Bernd Lehnhoff

In seiner 1985 erschienenen Bochumer Dissertation, die das Verhältnis von Malerei und Gefäßform bei attischen Schalen thematisierte,1 untersuchte Takashi Seki zunächst die absoluten Größen der Beckendurchmesser dieser Schalen (mit Ausnahme der Schalen mit einem Fuß des Typus „C“). Dabei stellte sich heraus, dass diese – abgesehen von extrem kleinen und extrem großen Schalen, bei denen es sich um seltene Sonderanfertigungen handelt – in zwei Größenordnungen fallen: eine „große“, die etwa zwei Drittel der untersuchten Schalen ausmacht, mit einem Maximum („peak“) im Bereich von ungefähr 33 cm und in eine „kleine“, die etwa einem Drittel der untersuchten Schalen entspricht, mit einem Maximum im Bereich von ungefähr 23 cm (Abb. 1),2 mit einem ausgeprägten Einschnitt zwischen diesen beiden Größenordnungen bei 25 cm. Wie in Sekis Arbeit3 sollen hier die Schalen mit einem Beckendurchmesser kleiner als ungefähr 25 cm als „klein“ (mit den Anführungszeichen), die mit einem größeren als „groß“ bezeichnet werden. Die Grenze wird dabei – ebenso wie es wohl auch T. Seki getan hat4 – bewusst nicht scharf gezogen, sondern eine Art „Übergangszone“ von ±5 mm zugelassen.

* Mit Dankbarkeit und Vergnügen erinnert sich der Verfasser an das von der Jubilarin regelmäßig in jedem Semester veranstaltete altertumswissenschaftliche Kolloquium, dessen Vorträge, vor allem aber die anschließenden langen Diskussionen stets voller Anregungen waren. Es erschien dem Verfasser daher angemessen, mit diesem Beitrag eine kleine Ergänzung zu einem Vortrag zu liefern, den er im Sommersemester 2016 im Rahmen dieser Veranstaltung halten durfte. Damit sei ausdrücklich die Hoffnung verbunden, dass die Tradition dieses Kolloquiums auch weiterhin gepflegt werden wird. 1 Seki 1985. 2 Der gesamte Größenbereich, der von etwa 12 cm bis 52 cm reicht, wird in Gruppen von jeweils 1 cm Breite unterteilt. Die BDm werden nun auf volle Zentimeter gerundet und für die entsprechende Gruppe gezählt. Ein BDm von 30,4 cm fiele z. B. in die Gruppe „30 cm“, einer von 30,6 cm in die Gruppe „31 cm“. Um die Breite der Abbildung in Grenzen zu halten, werden die extrem kleinen (BDm < 18 cm) und die extrem großen (BDm > 40 cm) Schalen jeweils in einer Gruppe zusammengefasst. Abb. 1 entspricht im Prinzip der Abb. Seki 1985, Tab. 1 [sic!]; die offensichtlichen Abweichungen sind vermutlich auf andere Kriterien für die Gruppenzugehörigkeit zurückzuführen. Am generellen Trend, auf den es hier ankommt, ändert dies aber nichts. 3 Seki 1985, 99. 4 Seki 1985, 99; vgl. auch ebd., Tab. 2,3 (welche die „kleinen“ Schalen auflistet), wo gleich die zuerst aufgeführte Schale des Kachrylion (Bonn 315) einen BDm von 25,1 cm hat.

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Abb. 1: Größenverteilung der Beckendurchmesser attischer Schalen auf der Grundlage von 447 Werten (Maße nach Seki 1985, 19–98).

Die beiden Maxima sind nun nicht im Sinne einer „Norm“ zu verstehen, sondern zeigen lediglich an, dass die Schalen überwiegend in zwei bestimmten Größen produziert werden sollten, sie stellen also eher einen Richtwert dar. Viele Abweichungen, vor allem die stärkeren, sind sicherlich beabsichtigt (möglicherweise sogar für bestimmte Werkstätten charakteristisch), sie sind aber relativ selten. Daneben gab es aber auch zufällige Abweichungen, die durch die Unwägbarkeiten des Herstellungsprozesses bedingt sind. Dass die Maxima überhaupt so ausgeprägt sind, spricht dafür, mit welcher Meisterschaft die attischen Töpfer ihr Handwerk beherrschten. Das Maximum der größeren Kategorie hat bereits T. Seki zu Recht als einen beabsichtigten Beckendurchmesser von einem dorischen Fuß (knapp 32,7 cm) interpretiert.5 Schwieriger zu deuten ist das Maximum der kleineren: mit den beiden damals in Attika üblichen Fußmaßen, neben dem dorischen auch der attisch-kykladische Fuß von etwa 29,4 cm, ergeben sich keine überzeugenden Werte. Bereits T. Seki hatte aber festgestellt, dass das Verhältnis der beiden Maxima ungefähr 7 : 10 beträgt.6 Dies ist ein wichtiger Hinweis auf eine mögliche Interpretation: Setzt man die Quadrate der Beckendurchmesser in Relation zu einem Quadratfuß und stellt die Verteilung der Resultate graphisch dar (Abb. 2), so fallen auf den ersten Blick zwei sehr ausgeprägte Maxima auf: eines bei 1,0, das natürlich u. a. den Richtwert der „großen“ Schalen umfasst, ein zweites bei 0,5, das wiederum den Richtwert der „kleinen“ Schalen beinhaltet. Damit dies geschehen kann, muss sich der Richtwert der „kleinen“ Schalen zu dem der „großen“ wie √2 : 2 ≈ 7,07107 : 10 verhalten, was gut mit Sekis Beobachtung übereinstimmt. Nun sind die Quadrate der Beckendurchmesser ein Maß für die Aufsichts- bzw. Unteransichtsfläche, die wiederum für das Innenbild bzw. die Außenbemalung einer Schale von Bedeutung sind. Einfach ausgedrückt, gab es also im Wesentlichen normale und „halbe“ Schalen. Neben anderen Proportionen untersuchte T. Seki in seiner Arbeit auch die zwischen dem Fußdurchmesser einer Schale und ihrem Beckendurchmesser, wobei er sich allerdings

5 Seki 1985, 99. 6 Seki 1985, 99.

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Abb. 2: Verhältnis der Quadrate der Beckendurchmesser attischer Schalen zum Quadrat eines dorischen Fußes auf der Grundlage von 447 Werten.

Abb. 3: Das Verhältnis von Standplatten- und Beckendurchmesser „großer“ attischer Schalen auf der Grundlage von 257 Werten.

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auf die „großen“ Schalen beschränkte. Für jede „große“ Schale seines Kataloges mit erhaltenem Fuß berechnete er das Verhältnis von Fuß- zu Beckendurchmesser und untersuchte die Verteilung der Ergebnisse. Zu diesem Zweck teilte er das Gesamtspektrum der Werte, das von 0,33 bis 0,44 reicht, in Gruppen mit einer Schrittweite von 0,01 ein, also 0,33, 0,34 usw., und zählte, wie viele der Verhältnisse jeweils in die einzelnen Gruppen fielen (grafisch dargestellt in Abb. 3).7 Dabei entdeckte er, dass die Verteilung ein ausgeprägtes Maximum bei der Gruppe „0,38“ hat und interpretierte diesen Wert überzeugend als mit dem sog. Goldenen Schnitt zusammenhängend.8 Den Goldenen Schnitt oder „ἄκρος καὶ μέσος λόγος“ definiert Euklid, der hier auf ältere Quellen zurückgreift, in seinen Elementen (6, Def. 2): „Eine Strecke heißt dann nach dem goldenen Schnitt geteilt, wenn sich die Gesamtstrecke zum größeren Abschnitt wie dieser zum kleineren verhält.“9 Bezeichnet der griechische Buchstabe φ das Verhältnis des größeren Teils zur Gesamtstrecke, so folgt aus der Definition rein rechnerisch

Für den kleineren Teil verbleiben dann noch 1 – φ ≈ 0,38197 der Gesamtstrecke, und dieser Wert fällt nun tatsächlich in die größte Gruppe in Abb. 3. Die Verwendung dieser Größe ist überraschend, weil der Goldene Schnitt eine Unterteilung einer Strecke (hier des Beckendurchmessers) in zwei Teile darstellt, nicht aber in drei, nämlich in den Fußdurchmesser und in zwei kleinere Teile, die jeweils die halbe Differenz zum Beckendurchmesser repräsentieren. Warum die attischen Töpfer es dennoch für sinnvoll gehalten haben, Fuß und Becken zahlreicher Schalen nach diesem Verhältnis zu proportionieren, muss Spekulation bleiben. Eine mögliche Erklärung könnte wie folgt aussehen. Die besondere Ästhetik der Unterteilung einer Strecke nach dem Goldenen Schnitt war schon in Archaik und Klassik bekannt.10 Offenbar war die Grundidee der Töpfer die, das Problem der Unterteilung des Beckendurchmessers auf diese „ästhetisch bewährte“ Unterteilung zurückzuführen. Sie teilten somit den Beckendurchmesser nach dem Goldenen Schnitt 7 Diese Grafik ist nach der Zählung des Verfassers entstanden; ein Verhältnis zählt dabei dann zu einer Gruppe, wenn sein auf zwei Nachkommastellen gerundeter Wert in die Gruppe fällt: z. B. zählt 0,384 zur Gruppe „0,38“, 0,386 hingegen zur Gruppe „0,39“. Die Unterschiede, die beim Vergleich mit der entsprechenden Abbildung Seki 1985, Tab. 3 (sic!) auffallen, sind wohl wieder auf unterschiedliche Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zurückzuführen (vgl. Anm. 2 für Abb. 1). Am generellen Trend, auf den es auch hier einzig und allein ankommt, ändert dies jedoch nichts. 8 Seki 1985, 100–105. 9 Ἄκρον καὶ μέσον λόγον εὐθεῖα τετμῆσθαι λέγεται, ὅταν ᾖ ὡς ἡ ὅλη πρὸς τὸ μεῖζον τμῆμα, οὕτως τὸ μεῖζον πρὸς τὸ ἔλαττὸν. – Eine andere Definition geht aus der Aufgabe Eukl. elem. 2,11 hervor, die verlangt, eine Strecke so in zwei Teile zu teilen, dass das Quadrat über dem größeren Teil flächengleich ist mit dem Rechteck, dessen Seiten von dem kleineren Teil und der Gesamtstrecke gebildet werden. Euklids Lösung entspricht im Prinzip der heute noch geläufigen Konstruktion des Goldenen Schnitts mit Zirkel und Lineal, wie sie etwa bei Seki 1985, 102 Abb. 3 dargestellt ist. 10 Siehe die architektonischen Beispiele (die natürlich im Einzelnen überprüft werden müssten, was nicht Gegenstand dieses Beitrages ist) bei Seki 1985, 101–105. Ihre Zahl ließe sich noch vermehren. Zur Bedeutung des Goldenen Schnitts für die Architektur seit der Renaissance siehe z. B. Frings 2002.

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(wobei irrelevant ist, ob geometrisch exakt oder über numerische Näherungen). Der größere Teil, der dabei anfiel, wurde für den Fußdurchmesser als zu groß empfunden: Es bliebe dann zu den Seiten gerade mal ein Fünftel des Beckendurchmessers (die Unterteilung wäre dann ungefähr 1 : 3 : 1). Also wählte man den kleineren Teil, sodass rechts und links die Hälfte des größeren, also etwa drei Zehntel des Beckendurchmessers bleiben (was einer Unterteilung von ungefähr 3 : 4 : 3 entspräche). Um es noch einmal zu betonen: Das Problem einer ästhetisch befriedigenden Teilung einer Strecke in zwei gleiche kleinere und einen größeren Teil (schematisch dargestellt in Abb. 5) wird mittels des Goldenen Schnitts gelöst. Man könnte dies als eine „intuitive Lösung“ bezeichnen, die sie sich mit dem mathematischen Problem an sich nicht auseinandersetzt.

Abb. 4: Das Verhältnis von Standplatten- und Beckendurchmesser „kleiner” attischer Schalen auf der Grundlage von 105 Werten

Nicht alle Töpfer haben sich dieser Lösung angeschlossen. Es sei hier mit Seki auf den Töpfer Python hingewiesen, dessen „große“ Schalen überwiegend in die Gruppen „0,34“ und „0,35“ fallen.11 Er hat also den Beckendurchmesser im Prinzip in drei gleich große Teile unterteilt: ein Verhältnis von Fuß- zu Beckendurchmesser wie 1 : 3 würde in die Gruppe „0,33“ fallen. Dass die Schalen zu den nächsthöheren Gruppen gehören, ist wohl u. a. dadurch zu erklären, dass er den Fuß betonen wollte und ihn daher geringfügig zu Lasten der beiden anderen Teile vergrößert hat, die ja nur rechnerische Größen – die halbe Differenz zwischen Becken- und Fußdurchmesser – sind. Dies ist eine sehr individuelle Lösung des Problems, die zeigt, dass (a) wir es hier eben nicht mit einer „Norm“ zu tun haben und (b) weitere solche Fälle nicht

11 Seki 1985, 37, 77, 124 Tab. 2,1.

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Abb. 5: Das Problem der Teilung des Beckendurchmessers (Linie unten); der heller dargestellte Teil der Linie entspricht dem Standplattendurchmesser.

auszuschließen sind. Zwar ist leider das erhaltene Œuvre der meisten Töpfer nicht groß genug, um zu statistisch belastbaren Aussagen zu gelangen, in einigen wenigen Fällen – wie eben bei Python – ist es aber schon möglich. Ein anderer solcher Fall soll der Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein. Seki hatte, wie bereits erwähnt, seine Proportionsuntersuchungen ohne weitere Begründung auf „große“ Schalen beschränkt. Das von ihm vorgelegte Material reicht aber aus, um auch die „kleinen“ Schalen zu betrachten (Abb. 4). Hier zeigt nun die Verteilung der Werte für das Verhältnis von Fuß- zu Beckendurchmesser einen gänzlich anderen Charakter. Wiesen die Werte bei den „großen“ Schalen ein einziges, sehr ausgeprägtes Maximum bei 0,38 auf, so bei den „kleinen“ Schalen deren zwei. Das schwach ausgebildete des Wertes „0,37“ ist anscheinend als Variante zu dem von den „großen“ Schalen bekannten Wert zu betrachten, zumal bei den kleinen Schalen die Gruppe mit dem Wert „0,38“ mit zehn Exemplaren vergleichsweise stark vertreten ist. Überraschend und entsprechend schwer zu erklären ist das zweite Maximum der Verteilung. Schon Seki war bei seiner Untersuchung aufgefallen, dass der Töpfer (und vorherige Vasenmaler) Euphronios für seine „kleinen“ Schalen relativ große Füße bevorzugte 12 und sogar zu Beginn seiner Laufbahn als Töpfer (ab etwa 500 v. Chr.) einige „große“ Schalen mit einem Verhältnis von Fuß- zu Beckendurchmesser zwischen 0,40 und 0,43 produzierte, bevor er dann später zum „normalen“ Wert von 0,38 zurückgekehrt ist.13 „Kleine“ Schalen hingegen hat er jedoch zeitlebens fast durchweg mit proportional größeren Füßen hergestellt. In diesem Bereich war er offenbar zu seiner Zeit führend und konnte daher seine Vorstellungen von der richtigen Proportionierung dieses Teils der Schale durchsetzen, und dies obwohl der große Fuß bei genauer Unteransicht den unteren Bereich des Außenbildes der Schale überdeckt, weil die Standlinie des Bildes in einigen Fällen einen Durchmesser hat, der geringer ist als der des Fußes.14 Bereits Seki hat darauf aufmerksam gemacht, dass gerade bei den frühen „kleinen“ Schalen des Euphronios häufig Werte von 0,44–0,48 für das Verhältnis zwischen Fuß- und Beckendurchmesser auftreten.15 Erst in einer späteren Phase verwendete er dann Werte zwischen 0,40–0,42, Werte also, die mit dem in Abb. 4 beobachteten Maximum übereinstimmen bzw. zu den beiden direkt benachbarten Gruppen gehören. Anscheinend besaß Euphronios

12 13 14 15

Seki 1985, 71, 127–128 Tab. 2,3. Seki 1985, 63. 123 Tab. 2,2. Seki 1985, 71. Seki 1985, 63.

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für seine Proportionierung kein direktes Vorbild und fand das seiner Meinung nach richtige Verhältnis erst nach längerem Experimentieren. Ist diese Vorliebe für einen Wert von ungefähr 0,41 nun einfach nur eine Marotte dieses Töpfers oder steckt dahinter ein besonders empfindliches Proportionsgefühl, das dazu führte, dass er mit der herkömmlichen Proportionierung unzufrieden war? Oder anders ausgedrückt: Hat der Wert von ungefähr 0,41 irgendeine besondere Bedeutung? Die herkömmliche Proportionierung des Fußdurchmessers, die das Problem der Teilung des Beckendurchmessers in einen größeren (den Fußdurchmesser) und zwei gleiche kleinere (gemäß Abb. 5) auf die Teilung einer Strecke nach dem Goldenen Schnitt in zwei Teile zurückführt, wurde oben als eine intuitive bezeichnet. Kehren wir zu ihrer kritischen Überprüfung daher noch einmal zum Goldenen Schnitt und dessen Definition bei Euklid zurück. Wenn eine Strecke s in einen kleineren Teil a und einen größeren Teil b geteilt wird, so ist sie nach Euklid dann nach dem Goldenen Schnitt geteilt, wenn (in moderner Formulierung):

Diese Definition gilt einzig und allein für den Goldenen Schnitt; sie lässt sich aber leicht auf Teilungen verallgemeinern, bei denen es zwar nach wie vor zwei verschieden große Teile a und b gibt, diese aber durchaus mehrfach auftreten können, wie es beim Verhältnis von Fuß- und Beckendurchmesser der Fall ist, wo der kleinere Teil a zweimal auftritt, d. h. s = 2a + b. Ersetzt man auf der rechten Seite von Gleichung (1) den größeren Teil b durch s – a (was beim Goldenen Schnitt, nicht aber bei anderen Unterteilungen, auf dasselbe hinauskommt), so erhält man mit

eine Verallgemeinerung dieser Gleichung, weil sie unabhängig davon ist, in wie viele kleinere Teile der Länge a und in wie viele größere Teile der Länge b die Strecke s unterteilt werden soll. Mit ihrer Hilfe kann man rechnerisch das Problem lösen, eine Strecke s so zu teilen, dass sich der kleinere Teil a zum Rest der geteilten Strecke verhält wie der größere Teil b zur gesamten Strecke. Im vorliegenden Fall soll die Strecke s (der Beckendurchmesser) in einen größeren Teil (den Fußdurchmesser) und zwei gleich große kleinere Teile unterteilt werden, es ist also s = 2a + b (vgl. Abb. 5). Ersetzt man in Gleichung (2) s durch 2a + b, so erhält man

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und nach Umformen mit

überraschenderweise die Definition des sog. Silbernen Schnitts. Es ist dann

Das Verhältnis von b zu s, hier mit σ bezeichnet, entspricht dem von Fuß- zu Beckendurchmesser und sein Wert fällt genau in die Gruppe „0,41“, dem rechten Maximum in Abb. 4! Euphronios gelangte letztlich also zu einem Ergebnis, das einer mathematischen Lösung entspricht, die der Teilung einer Strecke in einen größeren Teil und zwei gleich große kleinere Teile gerecht wird. Dies bedeutet nun keineswegs zwangsläufig, dass ihm (oder der Antike überhaupt) der Silberne Schnitt als solcher bekannt war. Der lange Suchprozess spricht eher für eine empirische Lösung, wobei man natürlich nicht ausschließen kann, dass der Töpfer in einem fortgeschrittenen Stadium einschlägig bewanderte Bekannte um Rat gefragt hat. An und für sich ist die geometrische – exakte – Konstruktion des Silbernen Schnitts relativ einfach (Abb. 6) und war möglicherweise bereits zu Euphronios Lebzeiten bekannt. Auch hat das Verhältnis σ eine geometrische Bedeutung: so tritt es z. B. am Achteck als Verhältnis zwischen der Länge einer Seite und dem Abstand zwischen zwei gegenüberliegenden Seiten auf. Auch die Kenntnis einer numerischen Näherungslösung ist nicht gänzlich auszuschließen: In seinem Werk „Τὰ κατὰ τὸ μαθηματικὸν χρήσιμα εἰς τὴν Πλάτωνος ἀνάγνωσιν“, das auf ältere pythagoreische Quellen zurückgreift, beschreibt der kaiserzeitliche Mathematiker Theon von Smyrna (frühes 2. Jh. n. Chr.)16 die sog. Seiten- und Diagonalzahlen.17 Hierbei handelt es sich um zwei Zahlenfolgen, die jeweils mit 1 beginnen.

16 Siehe von Fritz 1934 und Folkerts 2002. 17 Theon. Smyrn. 42,10–44,17.

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Abb. 6: Geometrische Konstruktion der Teilung einer Strecke തതതത ‫ ܤܣ‬nach dem Silbernen Schnitt. (1) Auf der Strecke wird zunächst die Mittelsenkrechte ݉ konstruiert, die ‫ ܤܣ‬im Punkt M schneidet. (2) Um den Punkt M wird ein Kreis mit dem Radius ‫ܯܣ‬, also der halben Länge der Strecke ‫ܤܣ‬, beschrieben. Dieser schneidet die Mittelsenkrechte ݉ im Punkt N. (3) Um den Punkt A wird ein Kreis mit dem Radius ‫ ܰܣ‬beschrieben, der die Strecke ‫ ܤܣ‬im Punkt D schneidet, ebenso um den Punkt B ein Kreis mit dem gleichen Radius, der die Strecke ‫ ܤܣ‬im Punkt C schneidet. Die Strecken ‫ܥܣ‬, ‫ ܦܥ‬und ‫ ܤܦ‬teilen dann die Strecke ‫ ܤܣ‬nach dem Silbernen Schnitt.

Theon erklärt, wie man dann die nächste Zahl jeder Folge aus den Vorgängern in beiden Folgen berechnen kann. In moderner Notierung lauten diese Vorschriften:

wobei Si die i-te Seitenzahl und Si+1 ihre Nachfolgerin, entsprechend Di die i-te Diagonalzahl und Di+1 ihre Nachfolgerin ist (i ≥ 1). Damit lauten die ersten sechs Zahlen jeder Folge S1 = 1, S2 = 2, S3 = 5, S4 = 12, S5 = 29, S6 = 70; D1 = 1, D2 = 3, D3 = 7, D4 = 17, D5 = 41, D6 = 99. Für die antike Mathematik waren diese Folgen deshalb von Bedeutung, weil die Verhältnisse Di : Si gegen die Wurzel aus 2 konvergieren und damit beliebig gute Näherungen für diese Zahl liefern. So tritt beispielsweise das schon sehr genaue Verhältnis D6 : S6 = 99 : 70 bei

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einer der Ritzzeichnungen an den Wandsockeln des Didymeions auf 18. In unserem Zusammenhang ist aber viel bedeutsamer, dass für beide Folgen das Verhältnis einer Zahl zu ihrer Nachfolgerin gegen das beim Silbernen Schnitt auftretende Verhältnis σ konvergiert. So stellt z. B. S3 : S4 = 5 : 12 = 0.41͸… bereits eine recht gute Näherung für σ dar. Ob Euphronios nun seine Lösung des Problems der Teilung des Beckendurchmessers empirisch gefunden hat, ob er sie exakt mit Zirkel und Lineal konstruiert oder ob er numerische Näherungen benutzt hat, lässt sich nicht mehr entscheiden. Um zwischen den beiden letztgenannten Möglichkeiten zu unterscheiden, reicht schon die Genauigkeit der modernen Vermessung nicht aus (die günstigstenfalls ±0,5 mm beträgt), geschweige denn die Ausführungsgenauigkeit, auch wenn die attischen Töpfer den schwierigen Herstellungsprozess – wie schon erwähnt – erstaunlich gut beherrschten. Zu konstatieren bleibt aber das bewundernswerte Proportionsgefühl des Töpfers Euphronios: Nicht nur sah er, dass die konventionelle Lösung nicht optimal war, er fand auch nach einigem Probieren eine bessere. Dabei ist unerheblich, ob er sie empirisch fand oder ob er sich durch Bekannte beraten ließ; die Entscheidung, ob die mathematisch korrekte Lösung auch die ästhetisch richtige Lösung ist, musste er schließlich selbst fällen. Dass er trotz des Rückschlags bei den „großen“ Schalen, bei denen er seine Vorstellungen nicht hatte durchsetzen können, wenigstens bei den „kleinen“ Schalen zäh an seiner Lösung festhielt, spricht nicht nur für seine Beharrlichkeit (und im Falle der „großen“ Schalen für einen gewissen Geschäftssinn), sondern auch dafür, dass er von der Korrektheit „seiner“ Lösung überzeugt war. Small but perfectly formed? Wenigstens Euphronios und seine wenigen Nachfolger hätten diese Frage mit einem uneingeschränkten „Ja!“ beantwortet.

18 Haselberger 1980, 203–204, Abb. 1 links. Man machte sich bei der dort verwendeten Konstruktion also nicht „Erfahrungswerte der Geometrie“ (ebd. 204) zunutze, sondern ein um 300 v. Chr. schon lange bekanntes Verfahren zur Näherung der Wurzel aus zwei.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: © B. Lehnhoff. Abb. 2: © B. Lehnhoff. Abb. 3: © B. Lehnhoff. Abb. 4: © B. Lehnhoff. Abb. 5: © B. Lehnhoff. Abb. 6: © B. Lehnhoff.

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Herodot, der Weitgereiste? Eine hoffentlich unterhaltsame Betrachtung Reinhold Bichler

Im reichen Oeuvre der Jubilarin findet sich auch ein prägnant geschriebenes und auf knappem Raum höchst informationsreiches Studienbuch über unseren pater historiae. Bemerkenswerter Weise spricht sie darin dessen mutmaßliche Reisetätigkeit nur sehr zurückhaltend an.1 Damit steht sie im deutlichen Gegensatz zum herrschenden Trend in einschlägigen Sachbüchern. Ein kurzer Rundblick mag dies zeigen. Da tritt uns Herodot wie selbstverständlich in einer aktuellen, an ein breiteres kulturgeschichtlich interessiertes Publikum gerichteten Geschichte des Reisens als exemplarische Persönlichkeit entgegen: „Der ‚Vater der Geschichtsschreibung‘, ist auch der ‚Vater des Reisens‘… Niemand zu seiner Zeit unternahm so viel Reisen wie er, und was das Besondere ist: Als einer der ersten Reisenden schrieb er auf, was er sah …“.2 Was hier anklingt, in Herodot ein Vorbild des Reise-Berichterstatters zu sehen, hat lange Tradition. In besonderer Weise gelang es dem polnischen Reporter und Schriftsteller Ryszard Kapuściński, Herodot als role model des literarisch ambitionierten Reporters zu installieren. Die erste Reise, auf der ihn sein Herodot begleitete, führte den Autor gleich nach Indien. Kapuściński, der davon überzeugt war, dass Herodot nur durch Reisen zu seinem imponierenden Wissen kommen konnte, und der in Herodot „eine verwandte Seele“ entdeckte, erzählte freilich – ganz anders als sein antikes Vorbild – sehr persönlich von den näheren Umständen seines Reisens. Dabei sprach er auch von den Ängsten und von der Freude, die ihn beim permanenten Überschreiten von Grenzen erfüllten. Aus dieser angeeigneten Seelenverwandtschaft konnte er dann sein Urteil über Herodots Werk bestätigt sehen: „Ja, das Buch Herodots entstand aus der Reise heraus, es ist die erste große Reportage der Weltliteratur. Ihr Autor besitzt die Intuition eines Reporters, das Auge und Ohr eines Reporters. Er ist rastlos, er muß über das Meer fahren, die Steppe durchqueren, in die Wüste vordringen – dann berichtet er uns darüber.“3 Das Bild von Herodot, das es Kapuściński ermöglichte, in ihm eine verwandte Seele zu erkennen, scheint weithin Gültigkeit zu beanspruchen. „Heute sieht man in Herodot den wissbegierigen Weltreisenden und Journalisten, der seine Informationen durch Autopsie, durch Befragung der jeweils einheimischen Bevölkerung und durch Benutzung der örtlichen Erzählungen gewinnt und mit eigenen Überlegungen, Urteilen und religiösen Überzeugungen

1 Vgl. dazu unten. 2 Wieland 2015, 21. Als erster Abschnitt figuriert „Hanno der Seefahrer. Unterwegs in Westafrika“, dann folgt der Abschnitt „Herodot. Bei den Ägyptern“; ebd. 21–27. 3 Kapuściński 2007, 334–36.

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anreichert“, konstatiert Rainer Nickel in seiner Erzählung „Der verbannte Stratege. Xenophon und der Tod des Thukydides“.4 Der klassische Philologe und Sachbuchautor, der sich hier „abwechselnd auf den Ebenen des Historischen … und des Fiktiven“ bewegt (und dies durch die Farbmarkierung des Texts unterscheidet), rückt bei seinen spannenden Mutmaßungen über das finale Schicksal von Thukydides und dessen Werk auch Herodot ins Bild. In einer der als fiktional markierten Passagen des Buchs würdigt ein älterer Perser dem jungen Xenophon gegenüber Herodot als einen weitgereisten Mann, der die ganze Welt kannte. Dabei weiß Xenophon, dass Herodot zu diesem Zeitpunkt schon seit rund dreißig Jahren nicht mehr lebte. Doch die Bewunderung Herodots scheint ungebrochen: „‚Der Geschichtenerzähler‘, sagte der Ältere, ‚war ein weitgereister Mann. Er kannte die ganze Welt: Asien, Ägypten, Griechenland und die Schlachtfelder unserer großen Kriege, das Land der Skythen, das Schwarze Meer, Thrakien, unser persisches Reich … In Athen hielt er Vorträge über seine Reisen. Dort konnte ich ihn hören.‘“5 – So bestätigt der alte Perser in einem als fiktiv ausgewiesenen Part die oben zitierte Feststellung, die der Autor im unmittelbar vorangehenden, auf der ‚Ebene des Historischen‘ angesiedelten Part traf. Das in einem langen Rezeptionsprozess verfestigte Bild vom „wissbegierigen Weltreisenden und Journalisten“ wird in eine fiktive antike Realität zurückgespiegelt. In der Tat scheint dieses Bild zumindest im Genre des aktuellen Sachbuchs so gut verankert zu sein, dass es sich auch mühelos im konkreten Detail weiter ausmalen lässt. Dies zeigt die klassische Philologin und Sachbuchautorin Marion Giebel in ihren Betrachtungen über das „Reisen in der Antike“: „Herodot reiste gemächlich, wohl auf einem Maultier, mit Dienern und Packtieren. Sicher schloß er sich bisweilen anderen Reisenden an, die gut Bescheid wußten, wie etwa Kaufleuten. Unterwegs fertigte er Kopien von Inschriften an, notierte Augenzeugenberichte, geographische Maßangaben, Zeittabellen und verfaßte Beschreibungen der Landschaft.“ … „Mit besonderem Interesse erkundete Herodot Babylonien … Er wandte sich zum Euphrat und zog auf der alten Karawanenstraße durch Babylonien.“6 Angesichts dieser so gefestigt wirkenden Urteile über Herodots Reisetätigkeit wirken die Worte, mit denen Linda Marie Günther in ihrem unter der Devise „Das sollten Sie wissen!“ firmierenden7 Studienbuch auf dieses Thema eingeht, recht reserviert: „Aufgrund bestimmter und entsprechend interpretierter eigener Angaben des Autors werden ausgedehnte Reisen ans Schwarze Meer und nach Mesopotamien rekonstruiert … Wer dem Autor glaubt, dass er in eigener Person die beschriebenen Länder besucht hat, ordnet diese Forschungsreisen, vornehmlich diejenigen in den ‚Orient‘, in den Zeitraum zwischen ca. 450 und 440 ein. Vereinzelt wird dabei Herodot als Kaufmann gesehen, der bei seinen Handelsfahrten weit herumkam …“.8 Auf dezente Weise wird damit auf ein Problem der Herodot-Rezeption hingewiesen: Die Neigung, in Herodot ein Vorbild und einen Kollegen als Reisenden und Forscher, als Historiker, Geograph und Ethnologen zu sehen, verleitet dazu, ihm eine weitgespannte Reisetätigkeit zuzuschreiben, auch wenn sich immer wieder massive Zweifel daran entzündet haben. 4 5 6 7 8

Nickel 2014, 85. Nickel 2014, 85. Giebel 1999, 37–38. Zitat: Günther 2012, Rückseite des Buchumschlags. Günther 2012, 13–14.

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Der Disput, der sich diesbezüglich über Generationen zwischen Herodot-Kritik und -Apologetik entspann, ist der Fachwelt sattsam bekannt.9 Er soll hier nicht fortgesetzt werden, zumal es auch die Jubilarin in ihrem Studienbuch vorgezogen hat, sich nicht in diese gelehrten Fehden zu verstricken. Eine Frage aber lässt sich nicht abweisen, ob nämlich die vorsichtige Haltung der Jubilarin angesichts dessen, was wir tatsächlich über Herodots Reisetätigkeit anhand des Texts seiner Historien erfahren, nicht ihre guten Gründe hat. *** In seinen Historien zeigt sich Herodot als auctor/narrator, der zwar mit persönlich gehaltenen Statements nicht geizt, meist aber auf indirekte Weise über die Interaktion der Figuren in seinem Werk spricht. Mit expliziten Angaben über seine Lebensumstände bleibt Herodot dabei äußerst zurückhaltend.10 Das macht es nicht leichter, über seine mutmaßliche Reisetätigkeit zu spekulieren. Da sich die einschlägigen Überlegungen auf die Analyse von Herodots Werk beschränken müssen,11 gewinnt die Frage, für welche Regionen der Oikumene Herodot selbst Autopsie beansprucht hat, eine entscheidende Bedeutung. Als bequemer Ausgangspunkt kann die systematische Zusammenschau dienen, in der John Marincola Herodots ‛autobiographical statements’ erfasst hat. Dabei spielen Hinweise auf seinen persönlichen Augenschein in Herodots Angaben über Sitten und Denkwürdigkeiten in fremden Ländern die zentrale Rolle. Marincola verwies generell auf die Konzentration der AutopsieReferenzen im Ägyptischen Logos und betonte Herodots Bedürfnis, gerade dort die Eigenständigkeit seines Berichts zu untermauern.12 Sieht man insgesamt auf die einschlägigen Fälle, so betreffen diese m. E. vor allem zwei Themen-Bereiche: die chronologische Ordnung in Herodots Erkundung der Vorzeit und seine indirekte Auseinandersetzung mit bestimmten peinlichen Aspekten anthropomorpher und theriomorpher Gottesvorstellungen sowie entsprechender ritueller Praktiken.13 Das muss hier nicht weiter interessieren, da es um die geographische Reichweite dieser Autopsie-Statements geht. Örtlichkeiten, von denen Herodot behauptet, dort habe er dies und jenes gehört, ohne anzudeuten, wie er dorthin gekommen war, müssen hier aus praktischen wie aus methodischen Gründen beiseite bleiben. 14

9 Vgl. dazu etwa das ebenfalls in einem Studienbuch zu Herodot gezogene Fazit Robert Rollingers: „In all diesen Fragen zeigt sich kein wesentlicher Konsens ab“; Bichler/Rollinger 2011, 116. Hingegen zeigte sich etwa David Asheri in seinem großen Kommentarwerk zu Herodot recht sicher, was Herodots weitgespannte Reisetätigkeit angeht; vgl. Asheri/Lloyd/Corcella 2007, 6–7; 15; 54–55. 10 Vgl. Janka 2000, bes. 328: „Herodot gilt – im Gegensatz zu späteren Historikern – zu Recht als ein sich eher verbergender Autor“. 11 Vgl. Asheri in Asheri/Lloyd/Corcella 2007, 6: „In order to understand Herodotus’ intellectual formation and the composition of his work, the most significant event of his life is precisely the one that his ancient biographers never mention: the travels. It is Herodotus himself who gives for his travels direct and explicit evidence.“ 12 „Taken together with what we know of the procedure in Book II, it strongly suggests to me that the use of autopsy or the mention of an encounter with a specific source is reserved for those places where Herodotus is correcting or improving a specific account“. Es sei vor allem Hekataios, von dem sich Herodot dabei absetzen wollte; Marincola 1987, 131. 13 Vgl. die Details dazu bei Bichler 2013a. 14 Vgl. etwa 2,28 zu Herodots Begegnung mit dem famosen γραμματιστής in Saïs oder 4,14,1 zu Herodots Erkundigungen in Prokonnesos und in Kyzikos; zu Letzterem unten.

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Schließlich hat Herodot selbst dem Argument des persönlichen Augenscheins ein besonderes Gewicht verliehen.15 Zunächst fällt auf, dass Herodot Autopsie-Hinweise auf weithin Bekanntes meidet. Entsprechende Referenzen im Bereich Griechenlands sind äußerst knapp.16 Das Gros der Autopsie-Referenzen betrifft ferne Länder. Dabei beschränkt Herodot die entsprechenden Verweise offensichtlich auf Regionen, die zu bereisen für Herodots Publikum kein Ding der Unmöglichkeit darstellte. Dafür spricht, dass er öfters darauf hinweist, dass man sich über die Beschaffenheit weiter entfernter Regionen und deren Bewohner nur aus zweiter Hand oder aufgrund von Spekulationen ein Bild machen könne.17 Die meisten Autopsie-Behauptungen betreffen, wie schon gesagt, Ägypten bzw. das Niltal, wobei Herodot ausdrücklich Elephantine als Grenze der diesbezüglich gesicherten Information markiert (2,29). Dazu kommt die Levante mit Tyros und der Region des Palästinischen Syrien (2,44; 106). Nun beherrscht Herodot auch die Kunst, durch Andeutungen eine eigene Reiseerfahrung zu suggerieren, ohne sich dabei auf die Behauptung einer Anwesenheit vor Ort festzulegen. Im Babylonischen Logos zieht er diesbezüglich alle Register. Sein als Beglaubigung gedachter Kommentar zur merkwürdigen Geschichte von Nitokris’ Flussumleitung beim Ort Arderikka stellt die eigene Reiseerfahrung nur sehr zurückhaltend in den Raum: Noch heute kommen diejenigen, die vom Mittelmeer nach Babylonien reisen und dabei den Euphrat hinab fahren, innerhalb von drei Tagen dreimal beim gleichen Ort vorbei (1,185,2). – Der folgende Passus suggeriert die eigene Reiseerfahrung stärker: Wie hoch Hirse und Sesam wachsen, will Herodot nicht berichten, obwohl er es weiß, weil diejenigen, die Babylon nicht besucht haben, schon seinen Bericht über die Fruchterträge nicht glauben werden [εὖ εἰδὼς ὅτι τοῖσι μὴ ἀπιγμένοισι ἐς τὴν Βαβυλωνίην χώρην καὶ τὰ εἰρημένα καρπῶν ἐχόμενα ἐς ἀπιστίην πολλὴν ἀπῖκται; 1,193,3–4]. – Geschickt benutzt Herodot auch das Mittel der verneinten Autopsie eines Details.18 So erklärt er anlässlich seiner Beschreibung des großen Tempels, ein goldenes Standbild, das Xerxes geraubt haben soll, nicht gesehen zu haben [ἐγὼ μέν μιν οὐκ εἶδον, τὰ δὲ λέγεται ὑπὸ Χαλδαίων, ταῦτα λέγω; 1,183,3]. Unweigerlich entsteht dadurch der Eindruck, er sei in Babylon gewesen, ohne dass Herodot dies hier oder an anderer Stelle explizit behauptet.19 – Wer darin Ironie zu sehen vermag, kann dazu reizvolle Erklärungen des Ägypten-Reisenden stellen: So weiß Herodot zwar aus eigener Anschauung, wie 15 Luraghi 2001, 143 hat die literarisch-argumentative Funktion von Herodots ἀκοή-Referenzen, die nicht als konkrete Quellenangaben missverstanden werden sollten, einer kritischen Betrachtung unterzogen und dabei u. a. festgehalten, dass Herodot selbst die Beweiskraft einer Referenz auf das Hörensagen nicht gerade hoch veranschlagt habe: „… for Herodotus, source references [scil. die auf ἀκοή referieren] are not a very effective instrument for making people believe what he says, his killer arguments rather being γνώμη and ὄψις …“. 16 Sie betreffen Thasos (2,44; 6,47), Theben (5,59,1) und Zakynthos (4,195). Vgl. zu den beiden ersten Bichler 2013a, 139–140. Die Referenz auf Zakynthos dient dazu, die phantastisch anmutende Geschichte von der Goldgewinnung auf der Insel Kyrauis in einem technischen Detail glaubhaft zu machen. Vgl. Marincola 1987, 129. 17 Details bei Bichler 2013b. 18 Bei Marincola 1987 sind die drei im Folgenden oben behandelten Stellen – 1,183; 2,73,1; 156,2 – unter der Kategorie „denial of autopsy“ erfasst. 19 Zur verhängnisvollen Wirkung der Erzählung vom Raub der Statue auf die Erforschung der Geschichte Babylons und seiner archäologischen Hinterlassenschaft vgl. die kritischen Forschungsbeiträge bei Henkelman [u. a.] 2011 und bei Heinsch/Kuntner/Rollinger 2011.

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die Ägypter den Vogel Phönix darstellen. Den Vogel selbst aber habe er nicht gesehen [ἐγὼ μέν μιν οὐκ εἶδον εἰ μὴ ὅσον γραφῇ]. Was Wunders, soll sich dieser Vogel doch nur alle 500 Jahre einmal zeigen (2,73,1). Und, immer genau, stellt er beim Besuch von Buto fest, dass er dort auch die berühmte ‚schwimmende Insel‘ Chemmis gesehen habe, doch schwimmen bzw. sich bewegen sah er die Insel nicht [αὐτὸς μὲν ἔγωγε οὔτε πλέουσαν οὔτε κινηθεῖσαν εἶδον; 2,156,2].20 Doch sehen wir uns nach weiteren Regionen um, die Herodot bereist haben soll. Auch im Falle der Taurischen Chersonesos suggeriert Herodot zwar eigene Reiseerfahrung, legt sich aber nicht dezidiert fest (4,99).21 Was das Innere des von Skythen bewohnten Landes betrifft, so steht ein Fall eines Autopsie-Arguments zur Debatte: Herodots Schilderung des monumentalen Mischgefäßes im Inneren des Landes, das die potentielle Heeresstärke der Skythen veranschaulicht (4,81).22 Doch sprechen einige Argumente dafür, in diesem Falle eher nicht von einer expliziten Autopsie-Behauptung auszugehen.23 Soweit ein kursorischer Überblick über die Regionen, auf die sich die Autopsie-Erklärungen Herodots beziehen. *** Es ist, wie schon gesagt, hier nicht der Ort, im notorischen Streit darüber, wohin nun Herodot ‚wirklich‘ gereist sein dürfte, Partei zu ergreifen. Aber es könnte nicht schaden, daran zu erinnern, dass Herodot mit konkreten Angaben über seine Reisetätigkeit sehr sparsam umgegangen ist. Werfen wird daher einen kurzen Blick auf die relevanten Stellen, die im Ägyptischen Logos konzentriert sind. Sie zeigen zwar eine Varianz in den Verben der Fortbewegung, lassen aber nichts von Mühen und Details des Reisens erkennen. Wohl aber legt Herodot Wert darauf, seine Motive für diese Unternehmungen klarzumachen. So habe er sich auch nach Theben und nach Heliopolis gewandt [ἐτραπόμην], um zu sehen [εἰδέναι], ob man dort mit dem, was ihm die Priester des Hephaistos in Memphis mitteilten, übereinstimmt (2,2,5–3,1). Und er sei eigens zur See nach Tyros gefahren [ἔπλευσα] und auch nach Thasos gekommen [ἀπικόμην], um sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass der von den Phöniziern wie bei den Ägyptern als Gottheit verehrte Herakles Tempel hat, die älter sind als die Lebenszeit des von den Hellenen heroisierten Sohnes des Amphitryon und der Alkmene. Dabei verweist er darauf, was er dort mit eigenen Augen sah und was ihm berichtet wurde. 24 20 Herodots Bemerkung war vermutlich auf Hekataios gemünzt; vgl. etwa Marincola 1987, 126. Thomas 2000, 210 hebt dagegen Herodots spezifisches Erkenntnis-Interesse hervor: „… he seems to be distinguishing the marvels that are visible, clear to see, and those that possibly (if they exist at all) are not. He is as interested in what he cannot see, as modern studies are in what he has seen …“. 21 Im Vergleich von Großem mit Kleinem wird das Gebiet der Taurer auf der Chersonesos mit dem Attikas von Thorikos bis Anaphlystos verglichen und für diejenigen, die Attika noch nie umfahren haben, mit dem Gebiet Japygiens von Brentesion bis Tarent. 22 Vgl. zu dieser Funktion Bichler 2000, 103–104. 23 Vgl. West 2000, bes. 21–23. Vgl. zur Frage von Herodots Autopsie Skythiens generell West 2007, bes. 92: „We have to allow that details which contribute powerfully to verisimilitude may derive from his own assumptions and speculations (to be distinguished from deliberate invention), not from actual observation or the testimony of apparently trustworthy local informants.“ – Betont vorsichtig äußert sich Wheeler 2007 zu Herodots möglichem Aufenthalt in der Schwarzmeer-Region im Landmark Herodotus. 24 καὶ θέλων δὲ τούτων πέρι σαφές τι εἰδέναι […] ἔπλευσα καὶ ἐς Τύρον τῆς Φοινίκης, πυνθανόμενος αὐτόθι εἶναι ἱρὸν Ἡρακλέος ἅγιον. καὶ εἶδον πλουσίως κατεσκευασμένον ἄλλοισί τε πολλοῖσι ἀναθήμασι […] ἀπικόμην δὲ καὶ ἐς Θάσον, ἐν τῇ εὗρον ἱρὸν Ἡρακλέος ὑπὸ Φοινίκων ἱδρυμένον; 2,44,1–2,4. Der Besuch

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Analog dazu ist sein legendärer Bericht über die fliegenden Schlangen strukturiert. Auch er bezeugt Herodots Wunsch, einer Sache auf den Grund zu gehen. Den Ausgangspunkt bilden die heiligen Schlangen, die in Theben verehrt werden (2,74) und mit denen Herodot offenbar einen Mythos verknüpft sah, der von fliegenden Schlangen weiß. Um Näheres über diese geflügelten Schlangen zu erfahren, habe er sich eigens zu einer Passhöhe in Arabien, auf der Höhe von Buto, an der Grenze zu Ägypten, begeben [ἐς τοῦτο τὸ χωρίον ἦλθον πυνθανόμενος περὶ τῶν πτερωτῶν ὀφίων; 2,75,1]. Was er dort zu sehen bekam, soll uns noch beschäftigen. Zunächst geht es nur darum, die wenigen Fälle festzuhalten, bei denen Herodot seine Reisetätigkeit direkt anspricht. Etwas anders liegen die Dinge bei Herodots Auseinandersetzung mit den phantastischen Geschichten, die er in Prokonnesos und Kyzikos über das rätselhafte Verschwinden und Wiederauftauchen des Aristeas gehört haben will (4,14,1). Zwar verknüpft er sie mit einem Bericht über erstaunliche Ereignisse in Metapont: 240 Jahre nach seinem zweiten Verschwinden aus Prokonnesos sei nämlich Aristeas dort aufgetaucht, wie er durch Vergleich festgestellt habe [ὡς ἐγὼ συμβαλλόμενος ἐν Προκοννήσῳ τε καὶ Μεταποντίῳ εὕρισκον; 4,15,1]. Ob er sich aber dazu selbst in Metapont kundig gemacht hat, das lässt Herodot offen. Einen indirekten Bezug zu den Referenzen auf Herodots Reisetätigkeit im Rahmen des Ägyptischen Logos aber kann man auch hier feststellen. Herodot grenzt sich nämlich gegen Aristeas ab, der in seiner Dichtung behauptet hatte, er sei von Apollon ergriffen [φοιβόλαμπτος] bis zu den Issedonen gekommen (4,13,1). Herodot dagegen war sich dessen bewusst, dass es schon schwierig ist, zuverlässiges Wissen über die Region nördlich des Skythen-Landes zu gewinnen. Und das gilt erst recht für die fernen Randgebiete (vgl. 4,6; 25; 27). So wirkt es stimmig, wenn er erklärt, zwar nilaufwärts bis Elephantine als Augenzeuge gekommen zu sein [αὐτόπτης ἐλθών], darüber hinaus aber nur mehr nach dem Hörensagen berichten zu können (2,29,1). Doch hat er sich mit dieser Erklärung, wie wir gleich sehen werden, keinen guten Gefallen getan. Aber ziehen wir zuvor eine erste Bilanz. Jedenfalls hat unser pater historiae nie behauptet, besondere Leistungen als Reisender erbracht zu haben wie vor ihm etwa Euthymenes von Massalia25 und vermutlich auch Skylax von Karyanda,26 geschweige denn, dass er mit späteren Autoren legendärer Fahrten-Berichte wie Pytheas von Massalia oder Eudoxos von Kyzikos verglichen werden könnte, die sich rühmten, die ganzen Küsten Europas bzw. Libyens (Afrikas) befahren zu haben.27 Allein auf die konkreten Mitteilungen über seine Reisetätigkeit bezogen bräuchte Herodot auch den Vergleich mit weithin als seriös geltenden Autoren wie Polybios oder Arrian nicht zu scheuen, die sich ihre politische und militärische Erfahrung zu Gute halten konnten. Exempli gratia sei nur erwähnt, wie Erster bei seinen Darlegungen auf Thasos wird zusätzlich in einem ganz anderen Kontext später nochmals durch einen Autopsie-Verweis bekräftigt: εἶδον δὲ καὶ αὐτὸς τὰ μέταλλα ταῦτα; 5,47. 25 So hat Euthymenes u.a. die Theorie über den Ursprung des Nils im Atlantik durch Augenschein bekräftigt; FHG 4,408–409; vgl. bes. Sen. nat. 4(a), 22: Euthymenes Massaliensis testimonium dicit: ‚navigavi‘ inquit, ‚Atlanticum mare. inde Nilus fluit, maior, quamdiu etesiae tempus observant‘. Zu Herodots mutmaßlichem Bezug auf Euthymenes vgl. Fowler 2006, bes. 34 und 39. 26 Die Frage nach der Beziehung zwischen Herodotsʼ Bericht über Skylax (4,44) und den nur durch wenige Referenzen bezeugten Skylax-Bericht (FGrHist 709) lässt sich schwer eindeutig klären; vgl. dazu und zu den Problemen mit Herodots Bericht überhaupt West 2012. 27 Vgl. bes. Strab. 2,4,1 zu Pytheas und 2,3,4–5 zu Eudoxos; vgl. dazu Bichler 2011 mit weiteren Verweisen.

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über Hannibals Alpenzug einfließen lässt, dass er sich selbst diesbezüglich Kenntnisse vor Ort verschafft und dazu den Weg über die Alpen genommen habe,28 und Letzterer im Vergleich der Nebenflüsse von Indus und Donau auf seine Kenntnis von Inn und Save hinwies. 29 Wenn Herodot trotzdem schon in der Antike mit seinen knappen Reiseangaben ins Zwielicht geriet, so geschah dies, weil man grundsätzlich bezweifelte, was er gesehen haben will, oder dies im Widerspruch zu eigenen Beobachtungen vor Ort stand. So unterzog Aelius Aristides Herodots Schilderung vom Verlauf des Nils und speziell seine kuriose Erzählung über die Nilquellen (2,28) einer gründlichen Kritik (36,46–57).30 Sie mündet im deklarierten Zweifel daran, dass Herodot überhaupt bis Elephantine gekommen sei (36,51).31 Er, Aristides, wisse, wovon er spreche: „For I sailed there myself and I was ‚a more careful observer than necessary‘, as they say“ [ἀνέπλευσα γὰρ οὖν ἔγωγε καὶ αὐτὸς καὶ εἶδον ἀκριβέστερον ἤ ἐδει φασίν; 36,47]. – Dabei geht es Aelius Aristides erklärtermaßen nicht etwa darum, Herodot aus Streitsucht zu tadeln [ἵν’ Ἡροδότῳ πρὸς ἀηδίαν ἐπιτιμήσω].32 Vielmehr zollt er Herodot trotz aller Skepsis in Sachen Nilquellen und Elephantine für die Wirkung, die von dessen Ägyptischem Logos ausging, Respekt: „And I feel grateful for the very love of Egypt which he first inspired in us. … But the truth has not yet been told in this matter (36,57)“.33 So stehen wir am Ende der Betrachtung jener Stellen, an denen Herodot seine Reisetätigkeit explizit anspricht, vor der Frage, ob er hier nicht doch in Ausübung der Kunst, von Gegenden zu berichten, die man nie gesehen hat, einer alten und durchaus bewundernswerten 28 Vgl. Pol. 3,48,12: … τοὺς δὲ τόπους κατωπτευκέναι καὶ τῇ διὰ τῶν Ἄλπεων αὐτοὶ κεχρῆσθαι πορείᾳ γνώσεως ἕνεκα καὶ θέας. – Leider wissen wir nicht genauer, was alles Polybios über seine Fahrt entlang der Westküste Afrikas zu berichten wusste; vgl. 34 F 15 = Plin. nat. 5,9. 29 Vgl. Arr., ind. 14,15–16: Dass von den Nebenflüssen der Donau zumindest Enos und Saos schiffbar sind, wisse er aus eigener Anschauung: … πλωτοὺς δὲ δὴ καὶ κάρτα ὀλίγους, ὧν τοὺς μὲν αὐτὸς ἰδὼν οἴδα, τὸν Ἔνον τε καὶ τὸν Σάον. 30 Vgl. Strab. 17,1,52: Viel Unsinn reden [φλυαρούσιν] Herodot und andere Autoren über die Nilquellen und die Region von Elephantine. 31 Die Verlockung ist groß, hier zum Vergleich aus Detlev Fehlings viel diskutierter Auseinandersetzung mit Herodots ‚Quellen-Angaben‘ zu zitieren: „A man who gives a wildly wrong length of time for the route from Heliopolis to Thebes, who declares that Egypt becomes broader again after four days’ travel up river from Heliopolis (2.8.3), whose measurement for the narrowest part of the Nile valley would make it over fifty percent wider than the actual breadth of long stretches of the valley, who thinks Elephantine is a city and not an island and imagined that the city of Syene is further away, and who, on the other hand, does not offer a single correct detail on any locality whatsoever and says not a word about the monuments of Thebe – this man has never been in Upper Egypt, even if a conceivable explanation can be found for every statement he makes“; Fehling 1989, 241–242. 32 Er könnte dabei an Plutarchs Schrift de malignitate Herodoti gedacht haben. Plutarch will sich in dieser Schrift gar nicht auf all das einlassen, was Herodot zusammengelogen hat, sondern konzentriert sich auf alle die Fälle, in denen seiner Meinung nach Herodot aus böser Absicht, aus Schmähsucht und Parteilichkeit gelogen habe; vgl. bes. 39 p. 870A–B. 33 Eine solche Reverenz, freilich ironisch getönt, stellt schon das Entree seines Traktats dar, in dem Aelius Aristides eine eigene Reiseerfahrung spezieller Art zum Besten gibt: „… I travelled up to the land of Ethiopia and investigated Egypt itself four times in all and left nothing unexamined, not the pyramids, the Labyrinth, no temple, no canals, but I got the measurements of some from books where possible, and where they were not readily available, I measured them myself with the assistance of the priests and prophets of each place, I was unable to preserve this data for you, since the notes which I had ordered my slaves were to make were lost (XXXVI 1)“; Übersetzung nach Charles A. Behr.

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Profession, einen kardinalen Fehler begangen hat. Vielleicht sollten wir, ehe wir dieser Frage nachgehen, zunächst auch dazu ein erfolgreiches Sachbuch konsultieren. *** In seiner Behandlung des Themas Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist, hat Pierre Bayard kein Hehl aus seiner Überzeugung gemacht, „dass es keineswegs unabdingbar ist, sich physisch von der Stelle zu bewegen, um sich ein angemessenen Bild von der Welt zu machen“.34 Aber was, wenn einem dabei peinliche Fehler unterlaufen? Leider hat sich der literaturwissenschaftlich ebenso wie in der Psychoanalyse versierte Autor für seine exemplarischen Studien keine Repräsentanten der Klassischen Antike vorgenommen, doch gleich der erste Fall seiner Untersuchungen gilt einer Persönlichkeit, deren Name in der „Universalgeschichte des Reisens“ von ganz besonderer Geltung ist und nicht selten neben den Herodots gestellt wird: Marco Polo. Es sei nun nicht verschwiegen, dass Bayard daran zweifelt, dass Polo überhaupt bis Konstantinopel gekommen sei, doch bescheinigt er ihm eine „große Einbildungskraft“ und bewundert die kolossale Wirkung seiner Ausführungen über Die Wunder der Welt. Diese würden „noch heute als glaubwürdige Dokumente aufgefasst, während sie ganz offensichtlich mit Imaginärem und Fantastischem nur so gespickt sind. Sie bieten eine Möglichkeit, außerhalb der Zwänge der Wissenschaft einen Raum des gemeinsamen Träumens aufzubauen“.35 Unter den Beispielen, die Bayard anführt, um die erstaunliche Wirkung kurioser Berichte zu illustrieren, findet sich Polos Bericht über die Tierwelt auf der Insel Java. Ich zitiere Bayard, der im Anschluss daran Polos Bericht wiedergibt: „Denken wir etwa an den Abschnitt, welcher der Schilderung der Tiere auf der Insel Java gewidmet ist, insbesondere des Einhorns, über dessen genaues Ansehen sich die Gemüter seit der Antike erhitzten, bis Marco Polo sein Äußeres definitiv festlegt und mit den legendären Darstellungen ein für allemal ein Ende macht.“36 Das Tier, das da geschildert wird, mutet reichlich exotisch an und bildet einen Kontrast zu Einhorn-Vorstellungen der eigenen Welt.37 Zugleich lädt Polos Bericht zum Vergleich mit antiken Zeugnissen über Verwandte dieser Spezies im fernen Indien ein. So bewahrt uns Aelian die Schilderung eines gehörnten Wildesels, die auf Ktesias von Knidos zurückgeht. Das Tier soll so groß wie ein Pferd sein und sein farbenprächtiges Horn ist wegen seiner wundersamen Heilkräfte bei den Indern geschätzt.38 Ob Ktesias, anders als Polo, behauptet hat, ein solches Tier selbst gesehen zu haben, wissen wir nicht. Er war an sich nicht zimperlich in solchen Dingen, wie seine legendäre Erzählung von der schrecklichen Bestie namens 34 35 36 37

Bayard 2013, 17. Bayard 2013, 31–32. Bayard 2013, 27. Vgl. Bayard 2013, 27–28; Marco Polo, Wunder der Welt CLXVII (261): „Auf Klein-Java leben sehr viele wilde Elefanten und Einhörner, die kaum kleiner als Elefanten sind. Ihr Fell gleicht jenem der Büffel, und Füße haben sie wie Elefanten. Mitten aus der Stirn wächst das dicke schwarze Horn. Mit dem Horn verletzen sie niemanden, hingegen mit der Zunge, denn diese ist voll langer Stacheln … Das Einhorn hat einen Kopf wie ein wilder Eber und neigt ihn unverwandt bodenwärts. Mit Vorliebe hält es sich im Morast und im Schlamm auf. Zum Ansehen ist es ausgesprochen häßlich. Diese Tiere haben mit unsern Einhörnern gar nichts gemein, von denen man ja erzählt, sie ließen sich von Jungfrauen einfangen. Von diesen Tieren ist in allem das Gegenteil zu sagen.“ 38 Ael. NA 4,52.

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Martichoras zeigt.39 Wohl aber berichtet uns Philostrat in seiner Vita des Apollonios unter ausdrücklicher Berufung auf vertrauenswürdige Quellen,40 der Wundermann aus Tyana habe in Indien mit eigenen Augen den Esel mit dem Einhorn gesehen und seine Gestalt beschrieben.41 Für eine gebildete Leserschaft dürfte die Ironie einer solchen Versicherung amüsant sein. Aber damit kommen wir zur Frage, wie weit ein Autor gehen kann, wenn er staunenswerte Geschichten über exotische Tiere mit dem Verweis unterbaut, aufgrund eigenen Augenscheins zu sprechen, ohne dass sich ein weniger auf literarische Spiele geeichtes LesePublikum verprellt fühlt. Dabei muss es nicht um Fabeltiere gehen. Ein paar Beispiele können rasch die Spannweite der diesbezüglichen literarischen Usancen vor Augen führen. Beginnen wir mit Berichten über Elefanten. Klarerweise hat Ktesias in seinen Indika auch von ihnen Erstaunliches zu berichten gewusst. So soll der König der Inder dem Hörensagen nach rund 100.000 Kriegselefanten mit sich geführt haben, darunter 3.000 besonders stattliche Exemplare, die mit ihrem Rüssel die Mauern der Feinde niederreißen können. Nach dem Zeugnis Aelians hat Ktesias dazu auch behauptet, in Babylonien selbst gesehen zu haben, wie solche Elefanten ganze Palmbäume samt ihren Wurzeln niederrissen.42 Das klingt leicht übertrieben, wirkt aber im Vergleich mit der angeblichen Autopsie der Martichoras recht harmlos. Dennoch lohnt sich der Vergleich mit einem generell um Seriosität bemühten Historiker. Auch Arrian kommt in seiner Indike nicht darum herum, ausführlicher von den Elefanten zu berichten, und möchte dazu etwas aus eigener Anschauung beitragen: „Wenn nämlich irgendein Tier intelligent ist, dann ist es der Elefant. Einige haben schon ihre in der Schlacht getöteten Reiter aufgehoben und heraus zu Grabe getragen, andere haben Gefallene geschützt, andere kämpften für Gestürzte und einer, der seinen Reiter im Zorn getötet hatte, starb aus Reue und Gram. Ich selbst habe schon einen Elefanten die Becken schlagen und andere tanzen sehen…“. Dieses Schauspiel schildert er nun ausführlicher, enthält sich dabei aber jeglicher Übertreibung.43 – Anders sieht es aus, wenn wir die zwei folgenden Tier-Begegnungen, in diesem Fall mit Löwen, einander gegenüberstellen. So mokiert sich Aulus Gellius darüber, dass der Gelehrte Apion in seinen Aigyptiaka nicht etwa brav die bekannte Geschichte von Androkles und dem Löwen wiedergab, sondern behauptete, er sei selbst im Zirkus in Rom ein Augenzeuge dessen geworden, wie ein gewaltiger Löwe in einem Sklaven, der ihm als Gegner bestimmt war, seinen treuen Helfer und Gefährten wiedererkannte. 44 Wie bescheiden mutet dagegen an, was Polybios über Löwen erzählte, die alt und schwach geworden vor den Städten Afrikas auf Menschenbeute lauern, da sie nicht mehr Tiere jagen konnten: Er selbst habe als Begleiter von Scipio Aemilianus einige solcher Löwen gesehen, die zur Abschreckung ihrer Artgenossen gekreuzigt wurden. 45

39 Ktesias F 45db Lenfant = Ael. NA 4,21. Ktesias bekräftigt, selbst in Persien eine solche Bestie gesehen zu haben. 40 Vgl. zur Problematik der Quellen-Referenzen in Philostrats vita Apollonii Koskenniemi 1991, 9–15. 41 Philostr. Apoll. 3,2: Ἀπολλώνιος δὲ τὸ μὲν θηρίον ἑωρακέναι φησὶ καὶ ἄγασθαι αὐτὸ τῆς φύσεως. 42 Ktesias F 45b = Ael. NA 17,29. 43 Arr., ind. 14,4–5; Übersetzung nach O. von Hinüber. 44 Vgl. Gell. 5,14. 45 Vgl. Pol. 34 F 15 = Plin. nat. 8,47: Tunc obsidere Africae urbes, eaque de causa crucifixos vidisse se (scil. Polybius) cum Scipione, quia ceteri metu poenae similis absterrerentur eadem noxa.

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Die Reichweite zwischen dem Bemühen, Erstaunliches über exotische Tiere berichten zu können, dabei aber möglichst seriös zu bleiben, und der Freude am Fabulieren ist beträchtlich. Letztere könnte dazu verleiten, hier mit dem Schildern von ergötzlichen Beispielen fortzufahren. Aber es ist an der Zeit, mit einem Zwischenfazit zu Herodot zurückzukehren, um zu sehen, wie es bei seinen Berichten über die Tierwelt in fernen Ländern um das Argument der Autopsie steht. Eins haben jedenfalls die soeben betrachteten Beispiele gezeigt: Der Hinweis auf Autopsie lässt sich je nach Fall und je nach Erwartung seitens des (Lese-)Publikums als tatsächliche Beglaubigung oder als verkapptes bis offenes Fiktionalitätssignal auffassen. Einigkeit im Urteil wird sich dabei nicht so leicht erzielen lassen. Das gilt auch für die Interpretation Herodots. *** Bekanntlich haftet am Ehrennamen unseres pater historiae zugleich der Ruf, unzählige fabulae verfasst zu haben.46 Einige antike Autoren sind sogar so weit gegangen, Herodot mit Ktesias auf eine Stufe zu stellen. Strabon jedenfalls hat sich nicht gescheut, zu erklären, „man könnte Hesiod und Homer mit ihren Heroengeschichten oder den tragischen Dichtern leichter Glauben schenken als Ktesias, Herodot, Hellanikos und Anderen dieses Schlags“. 47 – Am Ärgsten trieb es der Spötter Lukian. Dessen Alter Ego, Tychiades,48 reiht nicht nur Herodot unter die Lügenfreunde [φιλοψευδεῖς], sondern nennt ihn und Ktesias von Knidos sogar in einem Atemzug mit Homer als „viel gepriesene Männer, die sich der Lüge in schriftlicher Form bedienten [ἐγγράφῳ τῷ ψεύματι κεχρημένους ], so dass sie nicht nur ihre damaligen Hörer täuschten, sondern ihre Lüge bis in unsere Zeit mittels Überlieferung gelangt ist …“.49 Umso respektloser erweist sich dieser Autor, wenn er ausgerechnet am Gipfelpunkt seiner eigenen Fabulierkünste, den verae historiae, behauptet, bei seinem Besuch auf den Inseln der Seligen habe ihm Homer die Verse für ein Denkmal gedichtet, während er Herodot und Ktesias auf der Insel der Gottlosen Qualen erleiden lässt.50 Ktesias hatte als erster Herodot einen Lügner genannt51 und wurde seinerseits von vielen antiken Autoren selbst als Lügner gescholten. Lukian ist nicht allein, wenn er Ktesiasʼ Indika aufs Korn nimmt: „Ktesias, Sohn des Ktesiochos, von Knidos schrieb über Indien und die dortigen Verhältnisse Dinge, die er weder gesehen noch von anderen wahrheitsgetreu vernommen hatte.“52 Nun mag es ja Ktesias gerade mit seinen phantastischen Schilderungen Indiens und den diesbezüglichen Autopsie-Behauptungen in der Tat zu weit getrieben haben,53 aber darf man Herodot wirklich auf dieselbe Stufe mit ihm stellen? Auch Aulus Gellius 46 Vgl. zu Ciceros diesbezüglichem Statement und der Frage nach dem Ausmaß von Ciceros Kenntnis der Historien Dunsch 2013. 47 Strab. 9,6,3; Übersetzung nach St. Radt. 48 Vgl. dazu Nesselrath 2001, 153–166. 49 Lukian. Philops. 2; Übersetzung nach M. Ebner/H. Gzella. 50 Lukian. ver. hist. 2,28; 31. Vgl. „… Die allergrößten Strafen erduldeten die, die während ihres Lebens gelogen, und die, die als Geschichtsschreiber [συγγεγραφότες] sich gegen die Wahrheit versündigt hatten, unter denen sich auch der Knidier Ktesias befand, Herodot und viele andere“; Übersetzung nach K. Mras. 51 Vgl. Ktesias T 8 Lenfant. 52 Lukian. ver. hist. 1,3; Übersetzung nach K. Mras. 53 Vgl. neben den oben angeführten Beispielen F 45(9); F 45(19) und F 45(47).

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nannte Herodot gelegentlich einen homo fabulator.54 Aber als er einmal im Hafen von Brindisi eine Reihe schäbiger alter Bücher entdeckte und sie ihres geringen Preises wegen erwarb, da nannte er unter den Autoren dieser libri Graeci miraculorum fabularumque pleni Aristeas, Ktesias, Onesikritos und andere mehr, nicht aber Herodot.55 Dazu hatte er gute Gründe. Denn die Geschichten von kuriosen Völkerschaften, die in den Randzonen der Welt, vor allem auch in Indien leben, und die Gellius nun zitiert,56 hätte auch unser pater historiae als zu dubios eingestuft.57 Aber wie hat er es, um beim Thema zu bleiben, bei seinen Berichten über die exotische Tierwelt ferner Ländern mit dem Argument der Autopsie gehalten? Diese Frage führt unausweichlich zu einem der raren expliziten Hinweise auf Herodots Reisetätigkeit zurück: der Reise nach Arabien, zur Erkundung dessen, was es mit den fliegenden Schlangen auf sich hat. Zuvor aber könnten wir zur besseren Einstimmung vielleicht noch kurz auf seine Erzählung von den Gold schürfenden Riesenameisen eingehen, gelten diese Tiere doch als „one of the most famous Herodotean mirabilia!“58 Diese Tiere, die sich am nordwestlichen Rand der Indischen Wüstenzone tummeln, sollen immerhin größer als Füchse sein und man könne einige dieser Exemplare, die dort gefangen wurden, am persischen Königshof sehen [εἰσὶ γὰρ αὐτῶν καὶ παρὰ βασιλέϊ τῷ Περσέων ἐνθεῦτεν θηρευθέντες (3,102,2)]. Um nicht von diesen Tieren angegriffen zu werden, die rasend schnell sein können, müssen die Inder, die auf ihren Kamelgespannen ausreiten, um das Gold zu erbeuten, größte Vorsicht walten lassen (3,102,3; 104,1; 105). Herodot behauptet nun keineswegs, selbst solche Tiere gesehen zu haben. Aber die Geschichte hat immerhin so viel Eindruck gemacht, dass Alexanders Admiral Nearchos bezeugen konnte, er habe zwar keine dieser Ameisen gesehen, „wie sie einige als im Lande der Inder vorkommend beschrieben haben“, wohl aber habe er „viele Häute von ihnen gesehen, wie sie in das makedonische Heerlager gebracht wurden.“ Dabei soll er behauptet haben, das Fell dieser Ameisen gleiche dem von Leoparden. 59 Megasthenes hingegen scheint sich bei seiner dem Anschein nach eher ausführlicheren Erzählung der Geschichte von den goldschürfenden Riesenameisen mit einem Hinweis auf das Hörensagen begnügt zu haben. 60 Herodots Name wird im Kontext der einschlägigen Zeugnisse über Nearchos’ und Megasthenes’ Berichte nicht genannt, doch lässt sich kaum bezweifeln, dass seine Version der Geschichte von den Gold schürfenden Riesenameisen für deren Popularität gesorgt hat. Ähnliches gilt für die fliegenden Schlangen in seinem Ägyptischen Logos. Allerdings hat sich Herodot in diesem Fall nicht mit der Rolle des Erzählers von Mirabilien begnügt. Vielmehr hat er sich, metaphorisch gesprochen, auf dünnes Eis begeben, als er sich in jene merkwürdige Gegend in Arabien [χῶρος τῆς Ἀραβίης] begab, um Näheres über die geflügelten 54 Gell. 3,10. Die Feststellung bezieht sich auf Herodots Bericht über die Auffindung der Gebeine des Orestes in Buch 1 (67–68). 55 Gell. 9,4,1–5. 56 Gell. 9,4,6–11. 57 Vgl. etwa Hdt. 4,27 in Verbindung mit 4,25 zu den Arimaspen und 4,191,4 zu den fabelhaften Menschenwesen in Libyen. 58 Vgl. Asheri in Asheri/Lloyd/Corcella 2007, 498–499. 59 BNJ 133 F 8a–b = Arr. Ind. 15,4; Strab. 15,1,44; Übersetzung von Arrians Indike nach O. von Hinüber. 60 BNJ 715 F 23a–b = Arr. Ind. 15,5–7; Strab. 15,1,44. – Herodots Name wird im Kontext der einschlägigen Fragmente von Nearchos und Megasthenes nicht genannt.

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Schlangen zu erfahren [ἐς τοῦτο τὸ χωρίον ἦλθον πυνθανόμενος περὶ τῶν πτερωτῶν ὀφίων]. Denn dort angekommen, will er ganze Haufen von Knochen und Gerippen von Schlangen gesehen haben [ἀπικόμενος δὲ εἶδον ὀστέα ὀφίων καὶ ἀκάνθας πλήθεϊ μὲν ἀδύνατα ἀπηγήσασθαι; 2,75,1–2]. An diese Autopsie-Erklärung schließt Herodot einen logos von den Ibis-Vögeln an, welche die im Frühjahr aus Arabien heranfliegenden Schlangen töten (2,75,3–4), eine Geschichte, auf die er in der Beschreibung Arabiens noch einmal zurückkommt (vgl. 3,107,2; 109,3). Zuletzt beschreibt Herodot das Aussehen der Ibis-Vögel und die μορφή der geflügelten Schlangen (3,76). Die Geschichte vom Kampf der Ibis-Vögeln gegen die fliegenden Schlangen wurde, wie schon angedeutet, recht populär. Mehrere antike Autoren berichten darüber, ohne dass dabei Herodots Name fiele.61 Dessen Bericht aufgrund eigener Erkundung bleibt ein bemerkenswertes Stück seiner Erzählkunst. Es konnte freilich nicht ausbleiben, dass seine Geschichte in den Augen strenger Wissenschaft Irritationen hervorrief. Zwar sind der mythologische Hintergrund und die ikonographische Evidenz der von Herodot aufgegriffenen Geschichte von den fliegenden Schlangen gut erforscht, 62 doch will sich beim Versuch, die ‚wahre Identität‘ der von Herodot en masse gesichteten Knochen aufzuklären, trotz allen oft skurrilen Bemühens kein überzeugender Erfolg einstellen.63 Damit aber gerät die ganze Geschichte von der Erkundungsreise, die Herodot zu diesem merkwürdigen Ort geführt hat, ins Zwielicht.64 Sieht man indes genau hin, so bekräftigt Herodot seine wundersame Geschichte vom Kampf der Ibis-Vögel gegen die fliegenden Schlangen zwar mit einem Argument der Autopsie, behauptet dabei aber nicht, er habe die Knochen und Gerippe geflügelter Schlangen gesehen. In Kenntnis seines oben schon angesprochenen Geschicks, fallweise auch mit dem Mittel der verneinten Autopsie eines Details zu argumentieren,65 könnte dieser kleine Vorbehalt somit als bewusstes Zeichen der Ironie gewertet werden. Aber sollte Herodot um einer schelmischen Pointe wegen seinen Ruf als Reise-Berichterstatter aufs Spiel gesetzt haben? Zu seinem Glück konnte er noch nicht davon wissen, dass er einst in diesen Ruf kommen werde. Aber vielleicht kann uns dieser sein vermeintlicher faux pas ins Land der zahllosen Schlangenknochen davor bewahren, seine Historien bzw. deren ethnographische Partien in moderne Genre-Kategorien pressen zu wollen, und uns vielmehr dazu ermutigen, seine Erzählkunst in all ihren reichen Schattierungen zu würdigen.66 Eins aber zeigt sich nach diesem 61 Die Bekanntheit der Geschichte ersieht man daraus, dass Plinius sich mit einem kurzen Hinweis begnügen kann; Plin. nat. 10,75. Mela 3,3,82 bringt die Geschichte etwas ausführlicher, nennt aber auch keine Quelle. Ael. NA 2,38, beruft sich für seinen Bericht über die Ibis-Vögel aufs Hörensagen. Josephus Flavius kann sie sogar in die Geschichte von Moses integrieren; Ios. ant. 2,10,2. 62 Vgl. bes. Rollinger 2004; Rollinger betont „das oft erstaunliche Nebeneinander von authentischen Informationen, deren Rationalisierung und Umdeutung“ bei Herodot, der mit guten Gründen gerade die Grenzzone zwischen Arabien und Ägypten zum Schauplatz seiner Autopsie-Behauptung macht; Zitat 943. 63 Zur Skurrilität diverser Bemühungen, die ‚wahre Identität‘ der fliegenden Schlangen zu eruieren, als deren Skelette Herodot seine entsprechenden Beobachtungen missverstandenen hätte, vgl. die Auflistung entsprechender Versuche bei Braun 2004 (der allerdings selbst seine Zuflucht darin fand, letztlich hinter Herodots Geschichte einen ägyptischen Scherzbold zu vermuten). 64 „My conclusion is, that the whole thing is an invention“ hatte hingegen Fehling 1989, 27 auf Herodot selbst deutend diagnostiziert. 65 Siehe oben zu Hdt. 2,183,3; 2,73,1; 156,2. 66 Herodots Ethnographie lässt sich unter keiner der modernen Kategorien von Reiseliteratur, Ethnographie

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kleinen tour d’horizon durch Herodots eigene Hinweise auf seine Reisetätigkeit: Die Jubilarin hat klug gehandelt, als sie in ihrem eingangs zitierten Herodot-Buch die notorisch strittige Frage nach Herodots faktischer Reisetätigkeit nur mit Zurückhaltung gestreift hat.

oder Autobiographie hinreichend erfassen, birgt aber Elemente all dieser Gattungen. Vgl. dazu bes. Dorati 2011.

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„Nachgeben müßt ihr, flüchtig, fremd, bedürftig hie, denn kecke Rede ziemt den Unglückselgen nie.“ Von Schutzflehenden und Schutzbefohlenen Lara Sophie Köcke

50 Mädchen fliehen über das Mittelmeer mit ihrem Vater aus Ägypten nach Griechenland. In Argos angekommen, suchen sie Asyl im Heiligtum des Zeus und bringen die polis samt ihrem König Pelasgos in eine gefährliche Situation: Gewähren sie Asyl, droht Krieg mit den Ägyptern, welchen sich die heiratsunwilligen Mädchen durch die Flucht zu entziehen versuchen. Die Verweigerung des Asyls käme jedoch einem Sakrileg gleich und würde die Stadt dem Zorn der Götter aussetzen, was schließlich den Ausschlag zur Aufnahme der Flüchtlinge gibt. 60 Flüchtlinge, aus unterschiedlichen Ländern nach Europa geflohen, besetzen die Votivkirche in Wien, um gegen die Bedingungen, unter welchen sie als Asylbewerber in Österreich leiden, zu demonstrieren. Nach öffentlichen Diskussionen unter Beteiligung von Politikern, Menschenrechtsorganisationen und -aktivisten, der Kirche sowie Eingriffen seitens Polizei und Justiz, wird die Besetzung beendet und ein Teil der Flüchtlinge abgeschoben. Die seit 2013 anhaltende, sog. Flüchtlingskrise in Europa mit der Berichterstattung über lebensgefährliche, nicht selten tödlich endende Überquerungen des Mittelmeeres, das lange Warten auf die Anerkennung als Flüchtling sowie die Gewährung des Asylanten-Status unter zum Teil menschenunwürdigen Umständen veranlasste Elfriede Jelinek gleichsam von den Ereignissen beeinflusst und auf diese reagierend ihr wortgewaltiges Sprachkunstwerk ‚Die Schutzbefohlenen‘ zu verfassen.1 Jelinek gibt den Namenlosen 60 Asylsuchenden, die im Sommer 2013 in Österreich aus Protest gegen die herrschende Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Notsituation eine Wiener Kirche besetzt hatten, eine Stimme und lässt sie mit aller Schärfe die menschliche Katastrophe analysieren und verurteilen. 2 Der für Jelineks Werke typische „musical flow of voices and counter voices“3 erzählt keine dramatische Geschichte, folgt keiner Handlung und zeichnet nicht die Entwicklung dramatischer Charaktere nach, aber weist dennoch ein Strukturelement auf, welches bereits der abgewandelte Titel verrät: Die Verwebung und Parallelisierung der Ereignisse in Wien mit dem antiken Mythos über die Danaiden, wie ihn Aischylos in seiner Tragödie ‚Die Schutzflehenden‘ dramatisiert.4

Übs. J. G. Droysen. 1 2 3 4

Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen, 14.6.2013 (http://www.a-e-m-gmbh.com/ej/fschutzbefohlene. htm) https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/die-schutzbefohlenen/. http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/index.html. Jelinek 2013: „Aeschylos „Die Schutzflehenden“, Bundesministerium für Inneres, Staatssekretariat für Integration: „Zusammenleben in Österreich“, Ovid: „Metamorphosen“ und eine Prise Heidegger, die muß sein, denn ich kann es nicht allein.“

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Die positive Resonanz auf Jelineks Text, sowie dessen folgende, zum Teil bejubelten Bühneninszenierungen in ganz Deutschland sorgten dafür, dass auch das 2500 Jahre alte Stück, welches abseits der althistorischen und altphilologischen Forschung eher wenig Beachtung fand,5 nicht nur auf der Theaterbühne wieder zum Gegenstand regen Interesses wurde. In den Begleittexten zu den jeweiligen Inszenierungen und Besprechungen im Feuilleton wird Aischylosʼ Tragödie als „Urtragödie über Flucht, Migration und Asyl“6, als „humanistische Utopie aus der Antike“7 oder als „das Stück dieser Tage“8 gepriesen. In Aischylos, so ist zu lesen, werden „aktuelle Fragen paradigmatisch [verhandelt]“, u. a. „warum politisch Verantwortliche gerne die Menschenrechte [vergessen], wenn sie der Ansicht sind, es gebe übergeordnete politische Ziele“9 oder dass die hier dargestellten „‚abendländischen‘ Wurzeln des Asylrechts ein Programm für die Zukunft bereithalten.“10 Vor 2500 Jahren habe es noch den „zentralen Gedanken vorbehaltloser Asylgewährung“ gegeben. Folgte man diesen Darstellungen der Handlung der Schutzflehenden, so müsste Aischylos eine Art zeitlose ‚Blaupause‘ für den moralisch richtigen Umgang mit Menschen verfasst haben, die, unschuldig in eine Notsituation geraten, in der Fremde um Asyl bitten. Die in der Tragödie schließlich gewährte Hilfe stelle die Bedürfnisse der Flüchtlinge über politisches Kalkül und somit könne der vermeintlich humanistische antike Umgang mit der Flüchtlingsproblematik geradezu beispielhaft für die Moderne stehen. Aber war ‚damals‘ wirklich alles besser und können wir beim ‚Mitleiden‘ mit den 50 Danaos-Töchtern wirklich lernen, wie wir mit den Herausforderungen der aktuellen Flüchtlingskrise umgehen sollen? Die folgenden Überlegungen beruhen auf dem Eindruck, dass die eben zusammengefassten Stimmen aus Bereichen des Theaters und der öffentlichen Medien Theatertheorie, Tragödienhandlung und antike Realität unkritisch miteinander vermengen und damit suggerieren, dass bereits Aischylos dem griechischen Publikum des 5. Jahrhunderts ein Lehrstück präsentiert habe, welches die Nöte von Flüchtlingen in den Vordergrund rückte und beim Zuschauer qua aristotelisch verstandenem Mitleid und Furcht zu einer Reflexion über eigenes Verhalten gegenüber Fremden in der Realität führte.11 Gegen diese verkürzende und gefährlich vereinfachende Darstellung soll in der gebotenen Kürze zum einen diskutiert werden, ob die Tragödie tatsächlich als antike Reflexion auf ein aktuelles gesellschaftliches Problem, eben eine Flüchtlingskrise oder zumindest eine vergleichbar herausfordernde migrationspolitische Problematik, verstanden werden darf, wie es der Öffentlichkeit suggeriert wird. Zum anderen sollen explizite Stellen im Text auf einen für die Moderne potenziell ‚mustergültigen‘ Umgang mit Fremden und Flüchtigen betrachtet

5 Vgl. dazu Flashar 2009, 290f. und 322f. 6 Jürgen Berger: „Die Schutzflehenden“ am Mannheimer Nationaltheater: Flüchtlinge als humaner Abfall, Spiegel Online, 22.05.2016 (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/die-schutzflehenden-von-volkerloesch-in-mannheim-fluechtlinge-als-abfall-a-1093511.html. 7 http://www.schauspiel-leipzig.de/buehnen/grosse-buehne/inszenierungen/die-schutzflehenden/. 8 Michael Jäger: Das Stück dieser Tage, Der Freitag Online, 25.08.2015 (https://www.freitag.de/autoren/ michael-jaeger/das-stueck-dieser-tage-aischylos2019-schutzflehende. 9 Vgl. FN 7. 10 https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/schauspiel/stueck_details.php?SID=2273. 11 Die entsprechenden Stellen bei Aristoteles zusammengefasst und kommentiert bei Höffe 2006, 69–76.

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werden und mit den Ergebnissen der althistorischen Forschung über antike Mentalität den Umgang mit Fremden betreffend kontrastiert werden. Zweifelsohne werden in den griechischen Tragödien viele existentielle Fragen der Menschheit bereits behandelt und ihr zeitloser Wert liegt gerade in dem Vorführen menschlichen Verhaltens in Konfliktsituationen und der Darstellung von moralisch verwerflichem wie gutzuheißendem Handeln und dessen Konsequenzen. 12 Dass man aus der dramatischen Handlung auch für das Heute interessante, philosophisch sensible Denk- und Handlungsansätze herausarbeiten kann, führt Ottfried Höffe anhand seiner Untersuchung der möglichen Bedeutung der Orestie für heutige strafrechtliche Fragen und der Antigone unter handlungsethischen Überlegungen vor.13 Doch warnt er zugleich vor gefährlichen Vereinfachungen bei der Beschäftigung mit aktuellen Problemen bzw. dem falschen moralischen Pathos, dem man hierbei all zu leicht verfallen könne.14 Die verlockende moderne Interpretation einer antiken „Willkommenskultur“15, welche Flüchtlinge wider alle negativen Konsequenzen aufnimmt, stellt m. E. nach eine eben solche, vereinfachend-pathetische Vorstellung von Antike und Tragödie dar. Stark von Jelineks artifizieller Parallelisierung der aktuellen politischen Situation mit der Dramenhandlung bei Aischylos beeinträchtigt, wird übersehen, dass wo Jelineks Absicht zweifelsohne die kritische Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsproblematik ist, dies für die ‚Hiketiden‘ nicht ebenso einfach angenommen werden kann und darf. Die ‚Schutzflehenden‘ sind zwar eine Tragödie, in denen Flüchtlinge die Hauptrolle spielen, aber ob vor dem antiken Publikum tatsächlich der richtige Umgang mit selbigen bzw. grundsätzliche – in heutiger Sprechweise – integrationspolitische Fragen verhandelt werden sollten, ist fraglich. Dass weder Flucht und Vertreibung allein oder die – wie später gezeigt werden soll – weder vorbehaltlose, noch freundliche Aufnahme der Flüchtigen in der Tragödie als ‚das‘ Thema der Tragödie taugen, wird auch an den bisherigen Ergebnissen in der althistorischen Forschung deutlich, die zwei ganz andere Themenkomplexe ausgemacht hat:16 Auf einer dramenimmanenten Ebene wurde die Thematisierung des Geschlechterkonfliktes erkannt und zuletzt von Susanne Gödde als metaphorische Parallelisierung der Situation eines jungen Mädchens vor der Eheschließung und der eines Schutzflehenden, in der Fremde auf Aufnahme wartend, gedeutet.17 Für die hier vorgestellten Überlegungen ist jedoch der andere Bereich, nämlich jener der Reflexion der „Polis-Ordnung und ihre[r] strukturelle[n] Grundlage[n] mit den dort enthaltenen Konfliktpotentialen“18 von mehr Belang. Auch wenn in diesem Zusammenhang Christian Meier nicht vorbehaltlos in seiner Deutung der ‚Hiketiden‘ als dramatischer Spiegelung des Konfliktes zwischen Kimon und Ephialtes der 470er Jahre und damit der sukzessiven Entwicklung zur direkten Demokratie in Athen zu folgen ist,19 verweisen die Arbeiten Pierre 12 13 14 15 16 17

Vgl. bspw. Lohse/Malatrait 2006, 7–12. Höffe 2001, 331–351. Höffe 2001, 342. https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/schauspiel/stueck_details.php?SID=2273. Zusammenfassungen der bisherigen Forschungsergebnisse bei Föllinger 2003, 191–204. Vgl. Gödde 2000. Davor Wilamowitz-Moellendorff 1914; Winnington-Ingram 1974; von Fritz 1962; Lloyd-Jones 1974; Stoessl 1979; Levy 1985; Pötscher 1988; Zeitlin 1988. 18 Van Wickevoort Crommelin 2006, 41. 19 Meier 1988, 107–109. Dagegen die Kritik bei van Wickevoort Crommelin 2006, 23 mit Anmerkung 45.

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Vernants, Wolfgang Röslers und zuletzt Christine Rohweders wenn auch mit unterschiedlichem Fokus alle darauf, dass in den Hiketiden die zeitgenössische Entwicklung der athenischen Demokratie mit ihren Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft thematisiert wurde.20 Das zu diesem Diskurs auch damals schon die Frage nach „der richtigen Behandlung von Fremden und Metöken“ gehört haben mag, wie es Peter Spahn betont,21 ist möglich: Doch bezogen sich die überlieferten intellektuellen Auseinandersetzungen wie die realpolitischen Entscheidungen vor allem auf Mechanismen der Abgrenzung und/oder ökonomisch-utilitaristische Überlegungen die fremden Mitbewohner betreffend und nicht auf einen moralisch integren Umgang mit diesen22 und sicher nicht um die humanitäre Bewältigung einer Flüchtlingskrise. Im Sinne der Behandlung elementarer Fragen zeigt die Tragödie, dass sich menschliche Gemeinschaften schon immer mit dem Problem des Umgangs mit Nicht-Zugehörigen, Anderen, eben Fremden auseinandersetzen mussten.23 In der griechischen Staatenwelt führte dies seit archaischer Zeit zur Entwicklung eines komplexen, zunächst auf persönlichen Beziehungen, dann aber vermehrt auf festgelegten religiösen und staatlichen Mechanismen beruhenden Systems, welches zum einen die Zugehörigkeit zur ‚eigenen‘ Gruppe definierte, zum anderen eben, wer ‚anders‘ war und welche Rechte aber auch Pflichten man diesen ‚Anderen‘ zusprach.24 Einen dieser Schutzmechanismen für Nichtbürger stellte das Gewähren von Schutz durch die polis vor persönlicher Verfolgung, die ‚Asylia‘, dar.25 Zum Einen suggerieren diese Einschätzungen, dass in den ‚Hiketiden‘ die historische Realität wiedergeben wird, wobei nahezu sträflich außer Acht gelassen wird, dass es sich doch um die dramatische Aufbereitung eines mythischen Stoffes für das damalige Publikum handelte, dessen Zweck „immer auch moralisch-religiöse“ Aufklärung war.26 Ebenso wie Jelinek in den ‚Schutzbefohlenen‘ dem heutigen Publikum eine zeitaktuelle Thematik mit Mitteln der Dichtung und Fiktion aufbereitet, führte Aischylos dem damaligen Zuschauer ein verfremdetes Asylrecht vor, dessen Befolgung vielmehr den moralischen Idealen der Zeit und den Gesetzen der Tragödie verpflichtet war, denn der Praxis in spätarchaischer und klassischer Zeit.27 Im Gegensatz zu den heutigen Rezensenten war sich Aischylos dieses Sachverhaltes wohl bewusst und so lässt er bereits zu Beginn der Tragödie den Chor der Mädchen betonen, dass

20 Vernant/Vidal-Naquet 1972; Rohweder 1998; Rösler 1980. Vgl. hier auch Föllinger 2003, 192–194 und van Wickevoort Crommelin 2006, 35–37. 21 Spahn 1991, 37–56. 22 Spahns Überlegungen, die ja dem Umgang mit Fremden und Metöken in den Hiketiden besonderen Stellenwert zuordnen, sind jedoch m. E. nach dahingehend zu relativieren, dass sie u. a. der Zurverfügungstellung von Häusern für die Danaiden (Aisch. Hik. 957–961 u. 1009–1011) zu viel Wert beimessen und wenig überzeugend in der notwendigen Unterbringung der Mädchen und ihres Vaters eine Widerspiegelung tatsächlicher ‚Anreizsysteme‘ für Fremde in Athen behaupten (Spahn 1991, 43). 23 Vgl. hierzu Zimmermann 2005, 147–149 oder Malitz 2001, 47 sowie die grundlegende Arbeit von Gauthier 1972. 24 Vgl. hier Gödde 2000, 24f. 25 Hierzu noch immer grundlegend, wenn auch in Teilen veraltet Schlesinger 1933. 26 Dreher 2003, 65. 27 Ebd. sowie Dreher 2005, 111.

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sie eben keine flüchtigen Kriminellen seien, nicht aufgrund einer „Blutschuld“ aus ihrer Heimat verstoßen wurden. 28 Dichter und Publikum erkannten zwar dem Primat des Sakralrechts in diesem Kontext an, waren sich aber dessen zum Teil unvorteilhaften Konsequenzen bewusst. Und auch wenn die konsequente Achtung dieses Rechts für die dramatische Handlung unerlässlich ist, ist der Verweis auf die nicht vorhandene Blutschuld im Text ein Beleg dafür, dass in der Praxis durchaus versucht wurde, nicht jedem ‚Hiketes‘ auch ausnahmslos Asyl zu gewähren.29 Gegen die Annahmen der Feuilletonisten ist mit Angelos Chaniotis sogar festzuhalten, dass es so gesehen „eine Asylgesetzgebung in Griechenland nicht [gibt]“, stattdessen aber eine mit der Zeit immer größere Zahl an profanen Regelungen und Verboten, welche den Zugang zum sakralen Schutzraum, unter Berufung auf den Schutz vor Verunreinigung des religiösen Bereichs, 30 von vornherein beschränkten.31 Die Regelungen besagten zwar in den wenigsten Fällen explizit ein Verbot der Ausführung des Hikesie-Rituals, da aber beispielsweise ein Ehebrecher seiner Bürgerrechte verlustig werden konnte und ihm deshalb der Zugang zu den Kultorten verwehrt wurde oder eine Ehebrecherin grundsätzlich von den öffentlichen Opfern ausgeschlossen war,32 stand diesen Personen die Möglichkeit um Asylsuche somit nicht mehr offen.33 Chaniotis wertet dies überzeugend als Maßnahme, um eben jenen „Personengruppen, die am wahrscheinlichsten in Heiligtümern Zuflucht suchen würden“, den Zugang zu verbieten – und dazu gehörten auch Fremde, über deren moralische Integrität die Politen-Gemeinschaft sich nicht im Klaren sein konnte.34 Wären also historische Flüchtlinge aus Ägypten nach Argos gekommen, so hätten sie es wohl erst gar nicht in den sie zumindest kurzzeitig schützenden heiligen Bereich geschafft. Hieran anschließend ließe sich nun fragen, ob man dem Tragödientext zumindest eine grundsätzlich positive, wenn vielleicht auch nicht vorbildhafte Grundeinstellung seitens der Argiver gegenüber Fremden entnehmen kann, doch auch dies ist nach heutigen Maßstäben nicht der Fall. König Pelasgos verleiht schon bei der ersten Begegnung mit den Danaiden seinem Befremden über die alleinige Anwesenheit dieser „Schar in unhellenischer Tracht, im Prunk barbarischer Kleider und des Stirnbands Schmuck“ Ausdruck.35 Zwar registriert er deren offensichtliche Kenntnis des Ablaufes des griechischen Hikesie-Rituals, doch weist er zugleich auch darauf hin, dass sie ansonsten den üblichen Gepflogenheiten im Verhältnis zwischen Fremden und Gästen nicht entsprächen: „Nicht vom Herold angezeigt und sonder Schutzherrn, ohne Führer euch zu nahn furchtlos gewagt habt.“36 Der Aufforderung zur Rechtfertigung ihrer Anwesenheit folgend, die möglichst knapp gehalten werden solle,37 versuchen die offensichtlich nicht sonderlich willkommenen Mädchen den Griechen zu erklären, 28 Aisch. Hik. 6–8; 197 29 Vgl. Chaniotis 2007, 239, vgl. auch Seibert 1979, 292f, sowie 369. 30 Auf die enorme Bedeutung, die der Reinheit eines Heiligtums, ergo dem Fernhalten von unreinen Personen und/oder Gegenständen, für die polis und die kollektive Identität ihrer Mitglieder zukam, verweist Günther 2012, 131–155. 31 Chaniotis 2007, 239f. 32 [Dem.] 59,87. 33 Chaniotis 2007, 240f. mit weiteren Belegen. Die generelle Problematik von der In- und Exklusion von Fremden und Nicht-Bürgern erläutert Funke 2006. 34 Chanioitis 2007, 240. 35 Aisch. Hik. 234–235. 36 Aisch. Hik. 238–240. 37 Aisch. Hik. 273.

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dass sie dieses Land betreten haben, weil ihre Familie selbst ihren Ursprung hier habe. 38 Der König kann den Flüchtigen ihre Stammesverwandtschaft zunächst nicht glauben, da die „fremden Frauen [seien] den lybischen Frauen bei weitem mehr vergleichbar, keineswegs doch solchen unsres Lands“ seien und vergleicht sie u. a. mit „Inderinnen [...] auf roßgleich trabender Kamele Sättel [hinschweifend], als Nachbarinnen grenzend ans Aithiopierland. Mannlose, fleichverzehrnde Amazonen [...].“39 Diese dem Pelasgos in den Mund gelegten Worte, die heute wohl eher als stereotypenbehaftetes ‚Fremdeln‘ zu bewerten wären, dienten Aischylos sicherlich dazu, die Situation der flüchtigen Danaiden in der Fremde noch hoffnungsloser erscheinen zu lassen und schließlich wird ihnen ja trotz all dieser Vorbehalte geholfen. Und doch darf nicht übersehen werden, dass diese „märchenhafte“40 Entwicklung nur bei oberflächlicher Betrachtung von Tragödie und historischer Wirklichkeit als eine antike Vorführung des Primats der Menschenrechte gegenüber politischer Eigeninteressen verstanden werden kann (s. o.). Denn selbst in der Tragödie müssen die Danaiden die Argiver zunächst langwierig von ihrer mythischen Verwandtschaft überzeugen und erst als sie diese glaubhaft versichern können, sehen sich Pelasgos und die Stadt Argos in der Pflicht sich mit der Notsituation der Flüchtigen auseinanderzusetzen.41 Danach wird in der Diskussion um das Für und Wider der Asylgewährung deutlich, dass die Griechen sich eigentlich nicht in der Zuständigkeit sehen, diesen Konflikt zwischen zwei fremden Gruppierungen zu lösen, bzw. in der Wirklichkeit wohl versucht hätten, zwar bei der Beilegung des Streites bspw. durch Mediation zu assistieren, jedoch nach ägyptischen und nicht griechischen Gesetzbarkeiten: „Ward Macht verliehn Aigyptosʼ Söhnen über euch nach Staatsgesetz mit der Begründung, dass sie nächst verwandt; wer wollte ihnen da wohl widerstehn? Es muss entsprechen euer Fliehn der Heimat Recht, für sie darf Anspruch keiner Art bestehn auf euch.“42 Ohne den ‚unmärchenhaften‘ angedrohten kollektiven Selbstmord wären die 50 Flüchtlinge selbst im fiktiven Kontext ‚abgeschoben‘ und der ägyptischen Gerichtsbarkeit überlassen worden – für die Griechen hätte dies keinen moralischen Konflikt dargestellt. Und auch weitere Textstellen lassen sich als Hinweise auf eine äußerst ‚selbstbewusste‘ Haltung der Griechen sowohl Neuankömmlingen als auch den mit ihnen lebenden Fremden hin lesen, wie sie auch aus anderen Quellen überliefert ist: 43 Bevor die Mädchen überhaupt auf Pelasgos treffen, schwört der Vater sie darauf ein, sich in der Fremde angemessen zu verhalten: „In züchtger, klagender, dringlicher Rede gebt den Fremden Antwort, wie’s Schutzflehenden geziemt, deutlich darlegend eure blutschuldfreie Flucht. In eurer Stimme liege nichts von dreistem Ton, nichts Eitles zeige sich auf dem mit keuscher Stirn geschmücktem Antlitz und im Auge voller Ruh! Werdet nicht vorlaut noch auch zögernd, schleppend

38 Aisch. Hik. 274–276, mit der folgenden Erklärung über die mythische Abstammung von Io (Zusammenfassung des Mythos bei Garvie 2006, 171 sowie Megas 1933). 39 Aisch. Hik. 277–290. 40 Dreher 2003, 72. 41 Vgl. Chaniotis 2007, 236. 42 Aisch. Hik. 386–391. Vgl. hier auch Seibert 1979, 294, sowie Dreher 2003, 79f. 43 Vgl. die u. a. bei Malitz 2001, 1ff. zitierten Stellen [Arist.] Ath.Pol. 26,4; Andok. Orat. 1,144 und [Xen.] Poroi 2,3.

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im Gespräch! Weckt solche Art doch Missgunst nur und Hass. Lernt euch bescheiden! Arm seid, fremd, landflüchtig ihr; Ein keckes Mundwerk ziemt sich für die Schwächern nicht.“44 Nachdem den Mädchen und ihrem Vater schließlich per Volksbeschluss persönliches Asyl gewährt wird und sie fortan als Metöken sowohl vor dem Zugriff von außen wie dem der Bürger von Argos geschützt sind,45 mahnt der Vater wiederum zu Vorsicht: „Dir unbekanntes Volk durchschaun – dazu braucht’s Zeit. Doch jeder probt die Zungen Zugezogenen gern, die böse. Leicht zieht Reden andre dann in Schmutz. Euch nun ermahn ich: Macht ja keine Schnande mir in eurem Alter, das die Augen auf sich lenkt!“46 Auch wenn mit der erstgenannten Passage von Aischylos wohl mehr auf die ‚Strategie‘ der Danaiden hingewiesen werden sollte, ihren potenziellen Asylgebern keine unnötige Angriffsfläche zu bieten und sie ihnen durch zurückhaltendes Verhalten ihrem Anliegen gewogener zu machen, schwingt doch hier ein Unterton mit, den auch Jakob Seibert als möglichen Hinweis darauf wertete, „dass wohl mancher Flüchtling in Athen ein anderes Auftreten an den Tag gelegt hat.“47 Die letztgenannte Stelle und die folgenden Verse wurden von Martin Sicherl plausibel als eigentlicher Grund für die Flucht der Danaiden aus Ägypten gedeutet: Ein Orakelspruch, der dem Vater den Tod durch die Hand eines Schwiegersohnes prophezeite hätte Danaos zunächst dazu gebracht mit seinen Töchtern vor der anstehenden Vermählung zu fliehen und führe nun auch in Argos dazu, die Töchter zur Sittsamkeit zu mahnen.48 Dennoch lässt sich hier vorsichtig ein Abbild antiker Mentalität, insbesondere der Athener Einstellung Fremden gegenüber, erkennen: Die Bürger erwarteten von den mit ihnen lebenden Fremden eine demütige Haltung im Gegenzug für die Möglichkeit in der großen Stadt leben und all die damit verbundenen Vorteile genießen zu dürfen. 49 Dies entspricht den Erkenntnissen über die durchaus ambivalente Haltung gegenüber den Metöken, über deren Situation wir vor allem durch Quellen aus Athen informiert sind. Gerade das nach den Perserkriegen erstarkende Athen zog immer mehr Fremde in die Stadt, die dort die verschiedensten Berufe ausübten, Kriegsdienst leisteten, Steuern entrichteten und das kulturelle Leben der Stadt auf unterschiedlichste Arten und Weisen bereicherten.50 Die Athener waren sich der Vorteile der Anwesenheit der fremden Mitbewohner durchaus bewusst, 51 beschränkten aber gleichzeitig den Zugang zur entscheidenden Teilhabe an der polis, i. e. politischer Betätigung, Grund- und Landerwerb, der Ausübung von Priesterämtern und schließlich auch der Heirat.52

44 Aisch. Hik. 194–203. 45 Aisch. Hik. 609–614. Gegen Spahn 1999, 41, der davon ausgeht, dass die Passage tatsächlich eine Ernennung der Danaiden zu Metöken seitens der Volksversammlung von Argos ausgeht und im Folgenden „merkwürdigerweise allein den Bürgern Pflichten (und potentiell auch Strafen auferlegt)“ sieht, „den neuen Mitbewohnerinnen [...] dagegen nur Rechte“, ist, dass mit dem Metökenstatus an sich schon Pflichten verbunden waren, deren ausführliche Nennung an dieser Stelle nicht von Nöten war. 46 Aisch. Hik. 992–997. 47 Seibert 1979, 293. 48 Sicherl 1986, insbesondere 91–93. Vgl. auch die Diskussion bei Föllinger 2003, 197–204. 49 Vgl. hier auch Roesler 1993, 1–4. 50 Vgl. Adak 2003, 12–14. 51 Vgl. bspw. Aristoph., Ach. 507 oder [Xen.] Ath.pol. 1,2 sowie Xen. Por. 2,1 u. 2,7. 52 Adak 2003, 15f.

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Diese strukturelle Benachteiligung bedeutete nicht, dass Metöken in Athen nicht geachtete Mitglieder der Gesellschaft sein konnten und bessergestellte Athener verkehrten im Alltag wohl eher mit ihnen ebenbürtigen ‚Ausländern‘ denn mit ihren ärmeren Mitbürgern,53 so war doch auch das damalige Miteinander wohl von an heute erinnernde Ressentiments durchzogen, wie sie aus den Aischylos-Passagen erkennbar wird.54 Verfasst und uraufgeführt in einer Zeit der wachsenden „Orientierung, Legitimierung und Selbstvergewisserung der attischen Bürgerschaft“,55 die schrittweise die Zugehörigkeit zu ebene jener Bürgerschaft und damit zur Teilhabe an den relevanten gesellschaftlichen Bereichen exklusiv definierte und beschränkte, stellen die Hiketiden des Aischylos nur eines der Beispiele für die sicher nicht rassistische oder von Fremdenhass geprägte, 56 aber doch bewusst abgrenzende Haltung der Athener wider. Fremde konnten, wie Mustafa Adaks Studie belegt, vor allem in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. durch ihren Einsatz für die polis, seien es Euergesien oder freiwillige Übernahmen von Choregien, gesellschaftlich um einiges mehr erreichen als ein Großteil der Athener Bürger, aber zur Mitte des 5. Jahrhunderts konnten sie nur in den seltenen Fällen zu ‚vollwertigen‘ Mitgliedern werden, wenn der Athener demos sie damit nach außergewöhnlich geleisteten Wohltaten mit dem Bürgerrecht ‚beschenkte‘.57 Dass wie in der Tragödie flüchtige Fremde, ohne der Stadt in irgendeiner Form zum Vorteil, sondern sogar zum Nachteil gereichend, zu Metöken erklärt werden, ist, das sollten die Ausführungen gezeigt haben, „fromme Wunschvorstellung.“58 Festzuhalten ist also, dass den fiktiven Flüchtigen in Aischylosʼ Schutzbefohlenen Asyl gewährt wird, weil sie den Argivern zum Einen ihre Verwandtschaft nachweisen können und zum Anderen diese schließlich damit erpressen, der Stadt durch eine religiöse Verunreinigung wesentlich größeren Schaden zuzufügen, als es der Krieg mit den Ägyptern könnte. Die Vorstellung, den Zorn der Götter, zumal des höchsten Zeus, auf sich zu ziehen, wiegt hier schwerer und nicht, wie oben zitiert, die Voranstellung elementarer Menschenrechte. Und doch kann man die älteste überlieferte Tragödie heute als Anlass zur Reflexion über die gegenwärtigen Verhältnisse nutzen – nur eben in einem ganz anderen Sinn als dem von den Feuilletonisten vorgeschlagenen, plakativen Weg. Liest man Jelineks Text genauer, so scheinen die vielen wörtlichen Zitate aus den Hiketiden auf zweierlei Weise gebraucht zu werden. Einerseits weist sie mit der Wiedergabe der auch hier zitierten Stellen, auf die Parallelen der emotionalen und sozialen Situation damaliger und heutiger Flüchtlinge hin: So sehen sich auch Jelineks Flüchtlinge wie die Töchter des Danaos als „sonnenglutgewohnte Schar“, welche den Herren in diesem Land, „wies Fremdlingen ziemt“ gegenüber treten und „weder vorlaut noch zu breit“ von ihrer „blutschuldlosen Flucht“ berichten, „denn kecke Rede ziemt den Unglückselgen nie“. Doch wo die Erwartungshaltung gegenüber den Fremden und deren Eindruck der Hilflosigkeit sich nicht verän-

53 Ebd. 16. 54 Vgl. Malitz 2001, 47f. 55 Meier 1988, 112. Die Forschungsgeschichte zur Datierung der Hiketiden zusammengefasst bei Föllinger, 183–186. 56 Für eine ‚protorassistische‘ Gesinnung in der Antike argumentiert bspw. Isaac 2010. 57 Vgl. hier Osborne 1981, 5–7. Vgl. Adak 2003, 22f. oder Deene 2011, hier insb. 161–164. 58 Dreher 2005, 110.

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dert haben mag, so verweist Jelinek doch in aller Deutlichkeit auf einen gravierenden Unterschied zur Antike, in Realität wie Fiktion: „O droben ihr Himmlischen, wir falten fromm die Hände, ja, ihr seid gemeint, schaut nur herab! Wir beten zu euch, ja, ihr, denen die Stadt und das Land und die leuchtenden Wasser der Donau wohl und auch ihr Schwerstrafenden in den Behörden noch wohler gehört.“ Die Götter sind heute weder im Drama noch in Europa mehr anwesend und so beten Jelineks Flüchtlinge zu den Menschen und werden nicht erhört. Die Töchter des Danaos hingegen können sich schließlich in ihren Verhandlungen mit den Menschen doch darauf verlassen, dass diese immer noch einer höheren Instanz Rechenschaft schuldig sind und die Angst vor den Göttern ihrer Sache zuträglich sein wird. Ohne der gefährlichen Verwischung antiker Realität und dramatischer Handlung zu folgen, könnte ein philosophisches Nachdenken über das Fehlen der spirituellen Instanzen in unserer heutigen Gesellschaft und dessen moralisch-ethischer Konsequenzen viel eher als Gegenstand der Auseinandersetzung mit der Tragödie des Aischylos taugen. Aischylosʼ Tragödie als ‚Flüchtlingsdrama‘ zu präsentieren, heißt dem heutigen Publikum oder Leser eine moderne Über- wenn nicht sogar Fehlinterpretation zu präsentieren, die sowohl die Realität des Dramas wie der Wirklichkeit auf unangenehme Weise verkürzt und zu der Vorstellung verleiten kann, dass es vor 2500 Jahren einen wie auch immer gearteten, aber dennoch moralisch wertvolleren Umgang mit Menschen und insbesondere Flüchtlingen gegeben habe. Die durch die Anwesenheit der Flüchtlinge angestoßenen demokratischen Prozesse, moralische Entscheidungsdilemmata und deren Konsequenzen sollten dem Publikum vielmehr näher gebracht werden, als ein naiver, nur behaupteter humanistischer Aussagewert der Tragödie.

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112 Literaturverzeichnis

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„Nachgeben müßt ihr, flüchtig, fremd, bedürftig hie …“

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Das rettende Gesetz und die Aporie des Verfügens. Zum Mängelwesen Mensch bei Protagoras und Sophokles Egon Flaig

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Doch seine Mängel behebend wird er zum Überschusswesen im Kosmos. Diese Entdeckung theoretisch eingeholt zu haben, ist eine Leistung der politischen Diskurse der griechischen Klassik. Vor der Frage, wie das Mängelwesen überleben kann, fand man zu unterschiedlichen Antworten. Zwei Antworten scheinen in dieselbe Richtung zu gehen, nämlich die von Protagoras und von Sophokles: Das Mängelwesen ist ein radikal auf Moral gestelltes Wesen und überlebt dank des Gesetzes und dank seiner Moralität. Angesichts der aktuellen Wiederaufnahme des Nachdenkens über die zentrale Rolle von Normen bei der Konstitution von Gesellschaft lohnt es, die Parallelität der Gedankengänge des Dichters und des Sophisten nochmals einer Prüfung zu unterziehen. Im platonischen Dialog „Protagoras“ streiten sich Sokrates und der Sophist Protagoras. Dieser behauptet, politische Tüchtigkeit sei lehrbar, er selbst sei ja schließlich Weisheitslehrer und lehre für teures Geld die athenische vornehme Jugend, damit aus ihnen gute Politiker würden.1 Sokrates bezweifelt, dass diese besondere Tugend lehrbar sei. Der Streit umkreist einen kardinalen Punkt des Politischen. Behielte Protagoras Recht, so könnte man alle Bürger zu hinreichend tauglichen Staatsbürgern erziehen, insofern nämlich, als alle eine zureichende Befähigung erwerben könnten, an den Beschlüssen der Volksversammlung teilzunehmen. Protagoras plausibilisiert seine These durch seinen oft zitierten Mythos der Kulturentstehung.2 Zum Ausgangspunkt seiner im Medium des Mythos vollzogenen Reflexion nimmt er den Umstand, dass der Mensch in umfassender Weise ein Mängelwesen sei, auf Grund seiner physischen Beschaffenheit nicht einmal in der Lage, so zu überleben wie die anderen Lebewesen: Epimetheus, der Bruder des Prometheus, erschafft alle Lebewesen und lässt versehentlich den Menschen hilflos und nackt. Als Prometheus das Werk seines Bruders besichtigt, versucht er, den Mangel zu kompensieren und stiehlt von Athene und Hephaistos die Technik des Webens, des Töpferns und des Schmiedens. Prometheus muss zum Dieb werden und Technologiespionage treiben, damit das Mängelwesen überleben kann. Eine doppelte Dialektik hat eingesetzt: Erstens hat kein geistiger Überschuss die technischen Fertigkeiten entbunden, sondern diese antworten auf eine dringliche Not und bestehen aus übermenschlichen Einhilfen. Zweitens bewahren nicht einmal die neu gewonnenen technischen Fertigkeiten die Menschen davor unterzugehen. Denn für die stärkeren unter den Tieren bleibt das Mängelwesen leichte Beute, weil es den Tieren einzeln und isoliert gegenübersteht. Es muss sich darum zu Gemeinschaften zusammenzuschließen. Protagoras trennt

1 Hierzu: Martin 1976; Buchheim 1986, 108ff. 2 Siehe hierzu: Guthrie 1969, 314ff.; Dietz 1976, 138ff.

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hypothetisch die technischen Fertigkeiten von der sozialen Kommunikation. Diese gedankliche Scheidung erlaubt ihm, ein Gedankenspiel anzustellen: Angenommen der Mensch hätte die wichtigsten Kulturtechniken, aber ihm mangelte es an der Fähigkeit, sich in Gruppen zu organisieren, was geschähe dann? Er wäre dennoch außerstande, seinen Fortbestand zu sichern. Die Bildung von Gemeinschaften ist letztlich für das Überleben wichtiger als der Gebrauch von Techniken. Und die Gemeinschaften bilden sich nicht aus der Arbeitsteilung und auch nicht aus dem Tausch. Gesellschaften sind arbeitsteilig und pflegen Tauschverkehr; und das reicht nicht. Die Menschen müssen sich politisch vereinigen. Der Ursprung der menschlichen Gemeinschaft wurzelt in der Einsicht in die Notwendigkeit, jene Gefahren, denen die einzelnen nicht gewachsen sind, gemeinsam abzuwehren. Die Notwendigkeit ergibt sich aus der lebensgefährlichen Bedrohung, aus einem unaufhörlichen Kriegszustand mit einem schmalen aber hochgefährlichen Segment der Tierwelt. Nun schraubt sich die historische Dialektik um eine Drehung weiter: Die Menschen versuchen, ihre Kräfte zusammenzufassen, sich in Gruppen zu organisieren, um gegen die tierischen Feinde zu bestehen. Der anfängliche Zweck der Vergemeinschaftung ist die Addition von Kräften. Aber reicht die pure Addition? Bereits beim Zusammenstellen einer Phalanx reicht die Addition nicht, obschon alle gleich bewaffnet sind; vielmehr bedarf es der Kombination der Kräfte. Der pure Wille, sich zusammenzuschließen, schafft keine Gemeinschaft, denn die Menschen „so taten sie einander Unrecht, weil sie eben die politische Kunst nicht hatten“ (322b). Die ersten Versuche von Menschen, sich zu vergesellschaften, misslingen. Die Gesellschaft scheitert, weil die Menschen einander Unrecht zufügen. Der stabile Zusammenhalt von menschlichen Gesellschaften verlangt danach, das gegenseitige Unrecht-tun einzudämmen.3 Diese Eindämmung konzipiert Protagoras als politische Leistung. Das ist die erste Kernaussage. Die zweite lautet: Einander Unrecht tun steht in direktem Zusammenhang mit der Anwesenheit oder dem Fehlen der politischen Kunst. Die erste argumentative Verwendung des Begriffs ‚politische Kunst‘ bringt diese in einen funktionalen Bezug zum gegenseitigem Unrecht-tun und zu dessen Eindämmung. Sie muss zu tun haben mit der Negation von Unrecht, also mit Recht und Gerechtigkeit (δίκη). Protagoras übernimmt den Ausgangspunkt, den Hesiod gesetzt hat, nämlich die kardinale Rolle des ‚Rechtes‘, aber es bleibt abzuwarten, ob er der Linie folgt, die Hesiod vorgezeichnet hat. Dieser hat die dauerhafte Existenz von Gesellschaften an die Bedingung geknüpft, ob gerechtigkeitsbasierte Ordnungsverhältnisse dominieren oder nicht. Die zerstrittenen Menschen geraten erneut in die bedrohliche Situation, aus der sie entrinnen wollen. Ihre Ansammlungen lösen sich wieder auf. Sie regredieren auf den Zustand von vereinzelten Lebewesen; also auf jenen Zustand, in dem sie sich nicht behaupten können. Es droht der Untergang der Menschheit. Und nun greift Zeus selbst ein: „Zeus nun fürchtet um unser Geschlecht, es könnte gänzlich hinweggerafft werden, und sendet Hermes, um den Menschen ‚Scheu‘ und ‚Gerechtigkeitssinn‘ (αἰδώς τε καὶ δική) zu bringen, damit diese zu Ordnern und Bande der Städte würden, zu Stiftern von Freundschaft.“ (322c)

3 Siehe: Hoffmann 1997, 59ff.; Dihle 2006, 25; Dreher 1983, 14–17.

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Drei Sachverhalte lassen sich hieraus entnehmen: Erstens. Der oberste Gott, welcher ja über die anderen Götter herrscht, verfügt alleine über die politische Kunst. Demnach gehören politische Tugend wie politische Fähigkeit in die Sphäre des Herrschens, sie entstammen dieser Sphäre. Sie ist demnach nicht zuletzt ein Herrschaftsvermögen – was auch immer zum Gegenstand des Herrschens werden kann. Zweitens. Um den Menschen die ‚politische Kunst‘ angedeihen zu lassen, schenkt ihnen Zeus nicht nur eine Fertigkeit, sondern zwei. Warum noch eine zweite? Vielleicht liegt die Antwort in der ersten. Bei Hesiod ist das menschliche Leben auf Erden solange noch lebenswert, wie die Dike hier waltet. Da es den Menschen des eisernen Zeitalters schwerfällt, rechtschaffen zu sein, hängt die Gerechtigkeit vor allem und hauptsächlich an der gerechten Vergeltung. Aus diesem Grunde rückt die Rechtsprechung ins Zentrum seines politischen Denkens; denn es obliegt den Gerichten und den Richtern, dafür Sorge zu tragen, dass Unrecht korrigiert wird. Das gerechte Richten bedingt den gedeihlichen Bestand menschlicher Gemeinschaften.4 ‚Dike‘ wird zur idée directrice der gemeinschaftserhaltenden Institution ‚Gericht‘. Das ‚gerechte Vergelten‘ ist mithin keine Fähigkeit, sondern ein Prinzip. Desgleichen formuliert Aischylos den Satz der ‚Dike‘ als Prinzip, dem zufolge leiden wird, wer handelt.5 Anders Protagoras. Dike bedeutet bei ihm, dass Menschen in jeglicher Situation Lösungen finden, die andere Menschen als richtig, als gerecht und als rechtlich bindend anerkennen können, weil sie in der Lage sind, diese Lösungen zu beurteilen. Es handelt sich also nicht um ein Prinzip, sondern um ein menschliches Vermögen – wie Sehen, Hören, Verstand oder Urteilskraft. Offensichtlich lässt sich hier ‚dike‘ nicht übersetzen mit ‚Gerechtigkeit‘, denn sie ist keine idée directrice. Dieses Vermögen lässt sich am besten wiedergeben mit ‚Gerechtigkeitssinn‘. Zeus stattet den Menschen also mit dem Vermögen aus, sich Regeln zu ersinnen, die das Zusammenleben ermöglichen und die es erlauben, gemeinsam zu handeln, Regeln mit normativer Kraft. Wir erblicken den Ursprung der Anthroponomie. Um das zu verdeutlichen, ist ein Blick auf die Theonomie zu werfen, etwa auf die göttliche Gesetzgebung für Israel am Berg Sinai. Die Israeliten erhalten von Gott ein komplettes Gesetzespacket. Diese Gesetze sind somit heilige Gesetze, genau wie die islamische Scharia ein Heiliges Gesetz ist. Hier verläuft eine fundamentale Scheidelinie zwischen den theokratischen Ordnungen einerseits und der Autonomie des Politischen anderseits. Im Kunstmythos des Protagoras bekommen die Menschen von Zeus kein Gesetzbuch, sondern sie bekommen eine Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit, sich selbst Gesetze und Gesetzbücher zu machen – wie sie wollen. Drittens. Zeus gibt den Menschen keine politische Ordnung, keine bestimmte Verfassung. Er gibt den Menschen lediglich die Fähigkeit, sich politisch zusammenzuschließen, und zwar auf einer Basis, die von den Menschen selbst bestimmt wird. Deutlicher: Die Menschen müssen sich ihre politische Ordnung selbst geben, keine einzige politische Ordnung ist gottgegeben. Protagoras formuliert damit in aller Schärfe das Programm der Anthroponomie. 6 An dieser Stelle erhebt sich abermals die zunächst ausgesparte Frage, warum der Sophist sich nicht begnügt mit der ‚Dike‘, dem ‚Gerechtigkeitssinn‘. Wozu noch die Aidoos, die Scham oder Scheu? Weil der Gerechtigkeitssinn alleine den Menschen nicht dazu befähigt, gesetzeskonform zu leben. Genauer: Die δίκη ist ein kognitives Vermögen, das sich aus drei 4 Das ist ausführlich dargelegt in Flaig 1998, 97–140, hier: 114–128. 5 Aischyl. Ag. 1563f. 6 Dihle 1995, 117–134; Romilly 1971; Flaig 2013a.

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Komponenten zusammensetzt; diese sind erstens die reflexive Vernunftaktivität, um die Sinnhaftigkeit überkommener Normen einzusehen, zweitens die produktive Einbildungskraft, um neue Normen zu ersinnen, drittens die reflexive Vernunftaktivität, um Normen und deren Konsequenzen gegeneinander abzuwägen, also zwischen Normen wählen zu können. Doch αἰδώς ist das Vermögen, Normen überhaupt praktisch einhalten zu können; es ist eine Komponente der praktischen Vernunft, mithin ein psychisches Vermögen von moralischer Qualität. Übersetzt man αἰδώς mit ‚Scham‘, dann bezeichnet man das Gefühl, eine Norm übertreten oder ihr nicht genügt zu haben. Stellt sich dieses Gefühl in Gegenwart anderer ein, wird daraus ein sozialpsychologischer Sachverhalt. Doch in noch stärkerem Maße meint αἰδώς hier die psychische Disposition, sich unwohl oder schlecht zu fühlen, sobald man eine Norm übertreten soll oder erwägt, sie zu übertreten, egal ob andere anwesend sind oder nicht. In diesem Falle bietet sich an, das Wort mit ‚Scheu‘ zu übersetzen.7 Unter dem Aspekt der Normkonformität gesehen enthält αἰδώς ein zweifaches praktisches Verhalten: Als Scheu agiert sie präventiv wie eine Bremse, die verhindert, eine Norm zu verletzen; als Scham agiert sie kurativ wie ein nachträgliches Bewusstwerden der Verwerflichkeit oder Unrichtigkeit einer schon geschehenen Handlung. Beide praktische Verhaltensformen, die Scheu und die Scham, sind Resultate von Habitualisierung; sie gehören in die habituelle Dimension von Praxis; und sie setzen voraus, dass das Subjekt soziale Normen internalisiert hat. Kai Trampedach unterstreicht, dass man zwischen „einem potentialen und einem aktualen Gebrauch der Begriffe zu unterscheiden“ habe. Das trifft die Sache. Denn ein Vermögen wird durch Übung entfaltet, moralische Vermögen durch Habitualisierungen. In jeder Gesellschaft ist es erforderlich, dass die sozialisierten Individuen mit einem ‚Gewissen‘ versehen sind, wie immer auch dieses geartet sei. Eine moralische Instanz im Subjekt selbst entsteht nur vermittels Normeninternalisierung. Existierte ein solches ‚Gewissen‘ nicht, dann müssten die Individuen unterbrechungslos einer intensiven Sozialkontrolle unterworfen werden; und das könnte keine menschliche Sozialform leisten. Protagoras erweitert somit das Inventar der Problemstellungen beim Thema ‚Gemeinwesen und Gesetz‘: Voraussetzung für menschliche Gemeinschaft ist die moralische Qualität der Menschen. Diese Qualität ist die Resultante aus zwei Fähigkeiten; denn das kognitive Vermögen, Normen zu ersinnen und zu bewerten, bedarf eines komplementären praktischen Vermögens, nämlich der habitualisierten Fähigkeit, vor Normverletzungen zurückzuscheuen und nach Normverletzungen beschämt zu sein – vor anderen oder vor sich selbst. Wer unter den Menschen soll nun die politische Kunst erhalten? Eine nicht unbeträchtliche Frage. Denn wenn die politische Kunst eine Fähigkeit ist, die zum Herrschen befähigt, dann determiniert ihre Verteilung in hohem Maße die Anatomie der sozialen und politischen Ordnung. Denn wer dieses Vermögen nicht besitzt, der ist eo ipso ausgeschlossen aus der Partizipation an den Entscheidungen der Gemeinschaft und der ist a limine dazu verurteilt, nur beherrscht zu werden. Als Hermes fragt, wie er diese Kunst verteilen solle, ob sie etwa wie alle anderen Künste ebenfalls nur an Spezialisten gegeben werden solle, antwortet ihm Zeus:

7 Guthrie 1969, 66 tastet sich vage in diese Richtung: eine „quality combining roughly a sense of shame, modesty and respect for others“. Prägnant hierzu: Trampedach 1994, 176–186. Er schlägt vor „Achtung vor dem Anderen“ oder „Rücksichtnahme“ (179 Anm. 10).

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„An alle... und alle sollen daran teilhaben. Denn Städte könnten nicht entstehen, wenn nur wenige an ihnen teilhätten wie an den anderen Künsten.“ (322d) Das leuchtet ein. Wenn die moralische Qualifikation des Menschen eine Komponente der politischen Kunst ist, dann sind alle Menschen moralisch inkompetent, die dieser Kunst nicht teilhaftig sind. Moralische Inkompetenz innerhalb eines Gemeinwesens heißt aber nichts anderes als dauerhafte und unabänderliche Delinquenz. Was hat nun aber der Befehl des Zeus, allen Menschen die politische Kunst zu geben, mit der Frage zu tun, ob die politische Kunst lehrbar sei oder nicht? Dieser Befehl entscheidet die Streitfrage gegen Sokrates und für Protagoras. Wenn alle Menschen mit der politischen Kunst begabt sind, dann ist in allen die Fähigkeit, diese Kunst auszuüben, grundsätzlich vorhanden, genauso wie alle Menschen sprechen können, weil sie grundsätzlich mit der Sprechfähigkeit begabt sind. Und dann kann man die politische Kunst selbstverständlich lehren. Es bleibt das Problem des nicht sozialisierbaren Menschen. Was tun mit einem Menschen, der unfähig ist, Scheu vor dem Übertreten der Gesetze auszubilden? Diesem Menschen fehlt das elementare Vermögen, sich in einer menschlichen Gesellschaft überhaupt zu situieren. Streng genommen fehlt ihm eine Grundkomponente des Menschseins. Daher dürfen wir uns nicht wundern, dass Protagoras für solche Menschen, die eigentlich keine vollen Menschen sind, sondern Betriebsunfälle, nur eine Lösung vorsieht, nämlich sie total zu eliminieren, sie zu töten (322d). Bezeichnenderweise ist dies das einzige göttliche Gesetz in seinem Mythos. Spräche Zeus hier von der Todesstrafe, dann befände er sich in Übereinstimmung mit wahrscheinlich den meisten Kulturen der Weltgeschichte und den meisten Religionen – bis in die 20er Jahre des 20. Jhs. noch hat Kant die Todesstrafe verteidigt, weil er kompromisslos an der Gerechtigkeit und an ihrem Postulat der äquivalenten Vergeltung festhielt. Doch Zeus geht weiter: Das Gemeinwesen braucht gar nicht zu warten, bis der unverbesserliche Delinquent einem ihrer Mitglieder das Leben nimmt, sondern der oberste Gott autorisiert das Gemeinwesen per göttlichem Gesetz, den unverbesserlichen Delinquenten zu töten, sobald seine Unverbesserlichkeit erwiesen ist, ohne darauf zu warten, dass das Schlimmste geschieht. Der moralisch Inkompetente hat also keinen Anspruch auf die Einhaltung des Postulates äquivalenter Vergeltung. Höher als dieses Postulat steht der Schutz der Gesellschaft. Protagoras schließt seinen Mythos, indem er Sokrates darauf aufmerksam macht, dass in den athenischen Volksversammlungen bei Fachfragen nur die Spezialisten redeten, bei allen anderen Angelegenheiten jedoch jeder Bürger seine Meinung sagen dürfe (332d–323a). Protagoras ist der Meinung, selbst die einfachsten Bürger seien imstande, in der Volksversammlung Argumenten zu folgen und zu einem selbständigen Urteil zu kommen; und er ist überdies der Meinung, selbst die einfachsten Bürger seien imstande, ab und zu das Wort zu ergreifen, um ihre Meinung zu sagen, vielleicht rhetorisch nicht perfekt, aber trotzdem mit knapper Begründung. Das ist ein politikwissenschaftlich heikler Punkt. In der Moderne ist ein Großteil der Demokratietheoretiker der Ansicht, dass die modernen Bürger außerstande seien, begründete Urteile in Sachfragen abzugeben und dass sie lediglich imstande seien, die Entscheidungsträger auszuwählen. Der Umfang und die Qualität der politischen Fähigkeiten von Passivbürgern reichen somit für das Funktionieren der Repräsentativen Demokratie.

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Aber direkte Demokratien verlangen von ihren Bürgern mehr; denn hier sollen die Bürger selbst wichtige Sachentscheidungen treffen. Damit ergibt sich eine beträchtlich andere Leitdifferenz als in repräsentativen Demokratien. Die ‚aktive‘ Fähigkeit, selbst öffentlich politisch zu argumentieren übersteigt die ‚passive‘ Fähigkeit, politischen Argumentationen hörend zu folgen. Diese Differenz sortiert die Bürger danach, ob sie sich auf das Abstimmen beschränken oder ob sie in die Beratung eingreifen. Jedenfalls reicht die erste Fähigkeit vollkommen aus, um eine direkte Demokratie zu tragen. Die Debatte selbst kann man den Rednern überlassen, weil diese unweigerlich – solange die Bürgerschaft nicht polarisiert ist – die relevanten Argumente vorbringen werden, miteinander und gegeneinander. In dieser Hinsicht konvergieren die Erfahrungen in den Schweizer Landsgemeinden mit den Praktiken in der griechischen Polis. Spricht man jedoch dem Bürger auch die Fähigkeit ab, Optionen moralisch und politisch zu bewerten, dann wird er reduziert auf seine beruflichen und sozialen Kompetenzen. Eine nicht unbeträchtliche Quote moderner Demokratietheoretiker befürwortet eine solche Reduktion. Protagoras hingegen sieht im Bürger ein Doppelwesen: Jeder Bürger mag sozial und beruflich definierten Segmenten der Gesellschaft angehören; doch er geht in diesen Rollen nicht auf. Denn er ist zudem noch ein Bürger – im aristotelischen Sinne ein Zoon politikon. Für die Weitmeisten der griechischen Denker war das unzweifelhaft. Nur antidemokratische Diskurse behaupten eine existentielle Eindimensionalität, die bewirkt, dass große Teile der Bürgerschaft vernünftigerweise nicht die schweren Entscheidungen einer Polis treffen sollten. Wenn Protagoras Recht hat, dann kann man mangelndes Wissen und Erfahrung wettmachen durch Erziehung und Übung. Die Konsequenz ist, dass es keinen sinnvollen Einwand gegen die Demokratie geben kann. Freilich ergeben sich aus seiner Argumentation eine Menge von Problemen: Wenn Zeus allen Dike und Aidoos gegeben hat, dann können die Frauen ebenso in der Volksversammlung aktiv werden wie die Männer. Und auch die Sklaven könnten dann ihre Stimme erheben; denn Protagoras hat die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen behauptet. Indes – so könnte Protagoras erwidern –, zwar könnten gemäß ihrer natürlichen Anlage auch Frauen, Fremde und Sklaven politisch partizipieren. Doch die Natur präjudiziert nichts. Wenn die Institution der Sklaverei rechtens existiert, dann sind Sklaven eben rechtens von der Partizipation ausgeschlossen. Genau das ist später die Position des Römischen Rechts gewesen. Und was die Frauen angeht: Selbstverständlich könnten sie von Natur aus politisch partizipieren; doch ihre soziale Rolle verhindert, dass sie in sich die politische Kunst ausbilden. Aber just solche sozialen Rollen stellt Protagoras nicht in Frage. Für Platon war ein solches Auseinanderklaffen von natürlichen Anlagen und sozialen Funktionen ganz und gar unerträglich; er erblickte hierin den entscheidenden Grund für die Instabilität der Staaten. Daher zog er in seiner ‚Politeia‘ die Konsequenz, dass Frauen und Männer dieselben politischen Rechte und Pflichten haben müssen. Protagoras hingegen akzeptiert die jeweilige Ordnung, wie sie ist, handle es sich um eine Demokratie oder um eine Oligarchie. Hätte es eine Polis gegeben, in welcher die Frauen Vollbürger waren, dann wäre es ihm nicht schwergefallen, auch eine solche Ordnung zu akzeptieren. Denn jede Ordnung beruht auf Konvention – nämlich auf Beschlüssen der Polis; und man muss sie akzeptieren, gerade weil sie auf Konvention beruht. Wer danach fragt, ob eine politische Ordnung gut oder schlecht ist, wie Sokrates das tut, der begibt sich auf ein gefährliches Glatteis. Denn die basalen Konventionen antasten, erweckt Streit über die Geltung der Ordnung. Und das kann allzu leicht in den Bürgerkrieg führen. Daher darf es uns

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nicht wundern, dass Protagoras nirgendwo behauptet, die Demokratie sei die beste Ordnung und alle anderen Verfassungen seien schlecht, obwohl man das doch aus der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen schließen könnte. Sein Konventionalismus bewahrt ihn davor, politische Postulate aufzustellen. Und so verhielten sich die meisten Sophisten. Die Stärke des Konventionalismus beruht darauf, dass er sich nicht auf Verfassungsdebatten einlässt; er passt sich jeder Verfassung an,8 weil ihm der Grundkonsens wichtig ist – als Garant für die Stabilität der Polis selbst. Die konventionalistische Position nimmt dafür den Nachteil in Kauf, gegen grundsätzliche Angriffe auf die politische Ordnung keine grundsätzliche argumentative Abwehr zu haben. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der konventionalistische Diskurs lange Zeit erfolgreich war und als herrschende Ansicht waltete. In Griechenland gab es in der praktischen Politik zum Konventionalismus des Protagoras fast keine Alternative.9 Protagoras hielt sich ab der Mitte des 5. Jhs. in Athen auf, also in einer Zeit, als Intellektuelle aller Art nachdachten über das Verhältnis von Mensch und Gemeinschaft, von Gesetz und Polis, sei es im Medium der lyrischen Poesie, der Tragödie, der medizinischen Abhandlung oder auch der Historiographie. Aischylos und Sophokles behandelten das Thema wiederholt, ja unablässig. Die sophokleische Tragödie ‚Antigone‘, aufgeführt am Ende der 40er Jahre des 5. Jhs., enthält einen Gesang, der direkt auf Protagoras zu antworten scheint.10 Es ist das erste Stasimon in seiner ‚Antigone‘, die wohl um 442 aufgeführt wurde, welches mit den vielzitierten Versen anhebt: „Viel Ungeheures ist, doch nichts so Ungeheueres als der Mensch.“ (Übers. Hellmut Flashar) Dieser gewaltige Hymnus auf die Sonderstellung des Menschen im Kosmos hat vielfache und mannigfaltige Interpretationen angelockt. Es geht hier nicht darum, eine weitere hinzuzufügen. Mein Anliegen ist es vielmehr, die Aufmerksamkeit auf eine Aporie zu lenken, die sich just dort auftut, wo die Panazee uns Sicherheit zu versprechen scheint, nämlich beim Gesetz. In diesem Stasimon fehlen die Götter.11 Nur in Vers 369 werden sie erwähnt – θεῶν τ᾿ἐορκον δίκαν –, dabei erscheinen sie – je nach Übersetzung – im Genetiv als Urheber eines bestimmten Rechts.12 Diese weitgehende Zurücknahme der Götter ist erstaunlich. Immerhin hat Protagoras in seinem Mythos der Staatsentstehung zweimal die Götter intervenieren lassen: Ein erstes Mal muss Prometheus dem missratenen Mängelwesen beispringen, indem er ihm Techniken verschafft; ein zweites Mal muss Zeus selbst helfend eingreifen, damit das Mängelwesen überhaupt imstande sei, Gemeinschaften zu bilden. Dagegen setzt Sophokles eine neue Sicht: Weder brauchen die Menschen einen Prometheus, denn sie erwerben sich in einem unaufhörlichen Prozess die notwendigen technischen Fähigkeiten, noch benötigen sie einen Zeus; denn sie selbst besitzen die Fähigkeit (354f.), Städte zu ordnen – sie haben dies 8 Diese Verfassungsindifferenz betont Hoffmann 1997, 64. 9 Trampedach 1994, 183. 10 Diese Bezugnahme bei Ehrenberg 1956, 75–82 scheint opinio communis zu sein. Siehe: Burton 1980, 99f.; Utzinger 2003. 11 Ottmann 2001, 194–196. 12 Flashar 2000, 67 übersetzt den Vers: „das bei den Göttern beschworene Recht.“

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„selbst gelernt“ (καὶ ἀστυνόμους ὀργὰς ἐδιδάξατο).13 Somit ist das Mängelwesen zum Überwesen geworden. Die Geschichte und das kumulative Lernen in ihr – also die Weitergabe von Errungenschaften samt den darauf aufbauenden Fortschritten – ersetzen die göttlichen Einhilfen. Das Ungeheure am Menschen ist nicht bloß, dass er so vieles vermag, sondern dass er sein Können immer weiter steigern kann. Diese Steigerung scheint überhaupt keine absehbaren Grenzen zu kennen. Als Heidegger 1935 nach seiner politischen Verirrung Halt suchte und den Neubeginn des Abendlandes in einen Ursprung verlegen wollte, der immun sein sollte gegen die logozentrische Versuchungen der Metaphysik, da widmete er diesem Hymnus eine fast verzweifelte Aufmerksamkeit.14 Er glaubte in dem sophokleischen Text einen poetisch formulierten Problemaufriss gefunden zu haben, welchen er in eine philosophische Neubestimmung des Menschen überführen wollte. Er hat sich nicht zufällig am Sachverhalt des ‚Ungeheuren‘ und des ‚Unheimlichen‘ festgebissen. Wie sehr Heidegger gegen den Text gelesen hat, in welchem Ausmaß er den Text entpolitisiert hat, davon soll anderswo die Rede sein. Hier sei nur darauf verwiesen, dass Heidegger mit sicherem Gespür die Tragweite des grenzenlosen Könnens erkannt hat. Zwar bleibt die Todverfallenheit ein unaufhebbares Schicksal des Menschen. Diese Grenze ist eine absolute. Doch da die Menschen in Generationen leben, kann die Sterblichkeit das unendliche Fortschreiten in allen anderen Hinsichten nicht begrenzen. Und diese Steigerbarkeit des menschlichen Könnens ohne ersichtliche Grenzen ist atemberaubend und beängstigend.15 Denn der Mensch ist nicht nur zum Guten fähig, sondern auch zum Schlechten und zum Bösen: v 367: τοτὲ μὲν κακόν, ἀλλοτ᾿ ἐπ᾿ ἐσθλὸν ἕρπει. Diesen Sachverhalt kommentiert Christian Meier: „Dem hohen Können korrespondiert also kein Fortschritt im Ethischen.“16 Aus dieser mangelnden Korrespondenz will Meier eine Differenz zum modernen Fortschrittsdenken ersehen. Das trifft nicht zu. Denn diese absolute Inkongruenz besteht in der Moderne genauso wie in der Antike; und spätestens seit den Katastrophen des 20. Jhs. ist das allen nüchtern gebliebenen vollkommen klar. Die mangelnde Korrespondenz ist niemals zu beseitigen oder zu überwinden, weil der Mensch eben – was Sophokles und Protagoras richtig sehen – frei ist, nämlich frei, sogar das Schrecklichste zu verüben. Nur wenn man die menschliche Willensfreiheit eliminierte, ließe sich die besagte Kluft schließen. Vom Menschen geht unentwegt Gefahr aus; und diese Gefahr wächst mit seinen Fähigkeiten. Das allergefährlichste Wesen muss zunehmend gefährlicher werden. Was vermag dieses ungeheure Wesen davon abzuhalten, sich selbst und sich gegenseitig zu zerstören? Wenn das Können ins Maßlose geht, dann muss das Wollen gezähmt werden. Ein Übermaß an Können berechtigt nicht dazu, alles tun zu wollen, was man kann. Der Mensch darf nichts wollen, was ihm selbst und der Gemeinschaft zum Unheil ausschlägt. Welche Macht aber könnte das Wollen bezähmen, begrenzen und einschränken? Denn die Willensfreiheit bleibt ihm erhalten, solange er Mensch ist. Er braucht eine Grenze, damit er mit seinem enormen Können nicht Unheil anrichtet; und diese Grenze kann nur das Gesetz 13 Ehrenberg 1956, 76. 14 Siehe: Heidegger 1998, 88–149, besonders 109–116. 15 Romilly 1966, 179 nimmt an, dass Sophokles dieses Voranschreiten für unaufhörlich halte. Zu Recht. Die Skepsis von Meier 1980, 454–459, bleibt ohne Gründe. 16 Meier 1980, 458.

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sein. Einzig und allein das Gesetz und die Achtung vor demselben vermag die menschliche Willkür innerhalb derjenigen Leitplanken zu halten, die sein Streben sozialverträglich machen: „Achtet er die Gesetze des Landes Und das bei den Göttern beschworene Recht: Hoch in der Stadt (ὑψίπολις)! Verlustig der Stadt (ἄπολις), Wem das Ungute sich gesellt Wegen seines Wagemuts! – Sitze mir nicht am Herd Noch habe Teil mit mir am Rat Wer so tut!“ (367–375, Übersetzung H. Flashar) Durch Gesetzesgehorsam und Normkonformität ist der Mensch überhaupt erst imstande, in Gesellschaft leben. Das Gesetz behütet ihn vor der bösen Versuchung, nach eigenem Belieben das zu tun, was ihm sein Können erlaubt. Sophokles argumentiert demnach parallel zu Protagoras. Das Rettende erwächst dem Menschen aus dem Gesetz; daher müssen die Gesetzestreuen sich abwenden von jenen, die sich über die Gesetze stellen. Dass die Opposition von ὑψίπολις und ἄπολις die semantisch maßgebliche ist, darüber besteht in der Forschung weitgehend Konsens. 17 Das Adjektiv ‚apolis‘ scheint in dieselbe Reihe zu gehören wie jene, mit denen Nestor in der Ilias diejenigen bezeichnet, die den Bürgerkrieg befördern; diese sollen, wie er sagt, ‚ohne Phratrie‘ sein, ‚ohne Gesetz‘ und ‚ohne Herd‘ (Hom. Il. 9,63f.). Die Aufzählung hört sich wie eine Fluchformel an, mit der Übeltäter aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. ‚Apolis‘ fasst das alles zusammen; es bezeichnet jenen Verächter des Gesetzes, den die Polis ausstoßen muss, entweder ihn vertreibend oder ihn tötend, wenn sie selbst bestehen will. Für Protagoras ist das Gesetz ausschließlich ein menschengemachtes. Doch Sophokles operiert mit zweierlei Gesetzen, den νόμους χθονὸς einerseits, dem θεῶν τ᾿ ἔνορκον δίκαν anderseits.18 Oudemans und Lardinois haben darauf hingewiesen, dass der Gebrauch von χθών für ‚Land‘ die Formulierung zweideutig mache, denn der litterale Sinn des Wortes meine die Erde und den Boden, also just den Ort der Bestattung; und bei diesem Thema könne es sich nicht um menschliche Gesetze handeln.19 Die Zweiheit der Normenbereiche verweist darauf, dass es Normen geben muss, die außerhalb aller menschlichen Verfügung stehen müssen. Dazu später. Wenn wir nun fragen, wer von den beiden Kontrahenten die Polis mehr schädigt – Antigone oder Kreon –, dann besteht kein Zweifel, dass Kreons ‚Gesetz‘ direkt und unvermittelt zum Unheil ausschlägt. H. Funke hat deswegen den sophokleischen Text so verstanden, dass der Tyrann Kreon selbst ‚apolis‘ ist.20 Wie die Schule von Jean-Pierre Vernant herausgearbeitet hat, galt im politischen Imaginären der Tyrann an sich als potentieller Pharmakos, als aus der Polis auszutreibender Sündenbock; und selbstverständlich ist ein solcher Pharmakos zugleich ‚apolis‘. Die Rede des Teiresias benennt das Unheil klar: Die Götter akzeptieren die Opfer nicht mehr; und sie senden keine Zeichen mehr. Die vertikale Kommunikation mit den 17 18 19 20

Kamerbeek 1978, 86. Zum Kontrast zwischen beiden siehe Altmeyer 2001, 112–116. Oudemans/Lardinois 1987, 120–131. Funke 1966, 29–50.

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Göttern ist abgerissen und das in beide Richtungen: weder kommen die Opfer in der göttlichen Sphäre an, noch gelangen himmlische Zeichen in die menschliche Sphäre. Der Mantis nennt den Grund (1068–1074; 1080–1083): Kreons Gebot hat eine menschliche Leiche oberhalb der Erde gelassen, was zur Befleckung aller Altäre führt sowie des Lichtes überhaupt; und die von ihm verhängte Strafe hat etwas Lebendiges, das ans Licht gehört, in die Erde versenkt. Dieser strukturale Chiasmus – um mit Lévi-Strauss zu sprechen – ist ein doppelter Verstoß gegen die kosmische Ordnung. Wird die Befleckung nicht eiligst beseitigt, droht der ganzen Polis Unheil. Als Kreon dieses Unheil abwenden will, verliert er den Wettlauf mit der Zeit; die Bestattung der Leichenreste des Polyneikes dauert so lange, dass er zu spät zum ‚Grab‘ der Antigone kommt. Kreon hat mit seinem Gesetz einen guten Zweck im Sinne der Polis verfolgt. Immerhin war Theben soeben knapp einer Niederlage und der Vernichtung ihrer Bürgerschaft entgangen. Es lag nahe, die Feindschaft über den Tod hinaus verlängern, nämlich Eteokles ehrenvoll zu bestatten, Polyneikes aber unbestattet liegen zu lassen. Das entsprach einer politischen Semantik, die einigen griechischen Städten vertraut war. So wurde etwa Tempelräubern und Landesverrätern kein Begräbnis in attischer Erde gewährt; sogar bereits Bestattete wurden ausgegraben, ihre Knochen über die Grenze Attikas geworfen. Nach dem Gesetz des Kannonos erlitten Landesverräter die Todesstrafe und ihre Leichen mussten in das Barathron geworfen werden, freilich ist unbekannt, wo dieser Ort sich befand. Die Athener warfen auch jene Gesandten des Xerxes in das Barathron, die 481 v. Chr. die Unterwerfung forderten.21 In Sparta gab es ein Äquivalent zum athenischen Barathron; dort hieß dieser Ort Keades. Als die Spartaner den sterbenden Regenten Pausanias aus dem Tempel herausholten, wohin er sich geflüchtet hatte, wollten sie ihn zunächst in den Keades werfen; doch dann begruben sie ihn in der Nähe dieses verfemten Ortes.22 Diese Strafe machte nur Sinn, wenn es verboten war, diese Leichen zu bestatten. Den Unterschied zwischen den beiden Gesetzen, welche Xenophon zitiert, sehe ich darin: Das solonische Gesetz kümmerte sich nicht darum, was mit der Leiche des Verräters passierte; es verbot lediglich, dass sie in den attischen Boden gelangte; das Gesetz des Kannonos hingegen sollte sicherstellen, dass diese Leiche überhaupt nicht bestattet wurde; daher war der Ort festgelegt, wo sie zu liegen hatte, nämlich im Barathron. In Kriegen häuften sich solche Fälle. Im Sommer des Jahres 431 töteten die Athener abgefangene peloponnesische Unterhändler, die zum König von Persien unterwegs waren; und zwar warfen sie die Leichen in die „Abgründe“. Sie taten das, weil die Spartaner das ebenfalls mit abgefangenen Seeleuten machten.23 Es ist anzunehmen, dass mit ‚Abgründe‘ jeweils das Barathron und der Keades gemeint ist. Diese Leichen wurden demnach nicht bestattet. An der Nordmauer des Piräus war ein Ort, wo unbestattete Leichen lagen – „beim Henker“. Die Quelle – es ist Platon – belegt, dass diese Leichen offen lagen, nicht zugedeckt.24 Folglich waren sie nicht zur Bestattung vorgesehen. Es ist unklar, ob sie an Ort und Stelle verwesten bzw. von Tieren gefressen wurden oder ob ihre Leichen später über die attische Grenze geworfen wurde, um dort Geiern, Füchsen und Wölfen zum Fraß zu dienen; oder ob sie in das Barathron geworfen wurden. In allen drei Fällen blieben sie unbestattet. 21 22 23 24

Xen. Hell. 1,7,22; Lyk. 113f.; Xen. Hell. 1,7,20; Hdt. 8,133. Thuk. 1,134. Thuk. 2,67. Aristot. Ath. Pol. 439e–440a.

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Die Formulierung „hinauswerfen ohne Grab“ – ἐξω βάλειν ἀθαπτον – lese ich als terminus technicus für ein ausdrückliches Bestattungsverbot. Daraus lässt sich entnehmen, dass das Bestattungsverbot für einen Großteil der griechischen Intellektuellen des frühen 4. Jhs. völlig akzeptabel war. Umstritten scheint gewesen zu sein, ob unbestattete Leichen für das Land ein Miasma, eine Befleckung, darstellten. Wer das glaubte, dem musste das Gesetz des Kannonos Unbehagen bereiten. Viele Altertumswissenschaftler hatten vorausgesetzt, dass in Hellas uralte Bräuche, religiös abgesichert, als unhinterfragte Gewohnheiten das Zusammenleben bestimmten. Doch die Vorstellungen, wann ein Miasma eintritt und wann nicht, veränderten sich erheblich, als sich die Polis institutionalisierte. Immer mehr Bereiche wurden von der Drohung eines Miasmas erfasst; und das bedeutet, Tabus verschwanden nicht, sondern weiteten sich aus. 25 Dass die Bestattung nicht religiös geregelt war, darf nicht verwundern. Die griechische Religion lag nicht in der Hand einer organisierten Priesterschaft; daher war ihr der Weg zu einer systematisierten und darum verbindlichen Theologie versperrt. Eine Religion ohne organisierte Priesterschaft und deswegen ohne verbindliche Theologie lässt den Dichtern einen riesigen Spielraum, sich über heilige Dinge zu äußern und nicht bloß immer neue Varianten des Göttermythos anzubieten, sondern auch religiöse Vorstellungen zu forcieren, die keineswegs von allen Polisbürgern geteilt wurden und sogar umstritten waren:26 daher die divergierenden Vorstellungen über ein Leben nach dem Tode; und daher die politischen Eingriffe in den Kult. Die heiligen Gesetze – z. B. die Opferbräuche – wurden von der Polis beschlossen, beruhten in der Regel auf Beschlüssen der Volksversammlung. Denn abgesehen von den Orakeln gab es keine religiöse Instanz, welche – unabhängig von der Polis – hierüber Verfügungen treffen oder Normen festlegen konnte. Das hat Konsequenzen für unsere Lektüre der sophokleischen Tragödie. Bleibt man innerhalb des textimmanenten Horizontes der sophokleischen Akteure in der Orchestra, dann scheint Kreon in der schlechteren Lage zu sein als seine Widersacherin. Einerseits erhebt der Chor gegen die junge Frau den Vorwurf, sie sei „autonomos“ – sie sterbe radikal isoliert von der Menschenwelt, weil sie sich selbst das Gesetz gegeben habe. 27 Anderseits tritt sie auf als Protagonistin des alten und immer schon geltenden Rechtes, als konservative Hüterin des Überkommenen. Und ihr gegenüber erscheint Kreon als revolutionärer Politiker, der etwas Unerhörtes und radikal Neues ins Werk setzt. Doch die Zuschauer in der Cavea sahen das ganz anders, als es die aus der Orchestra erschallenden Worte behaupteten. Bestattungsverbote wurden regelmäßig praktiziert; was Kreon tat, konnte die athenischen Bürger nicht schockieren. Indes, die Leiche des Landesverräters lag in einer Ebene, wohin sogar ein Wagen hätte fahren können (251f.); vermutlich war sie auf dem Schlachtfeld liegen geblieben, also sehr nahe an der Stadt. Der athenische Zuschauer musste darin ein sakrales Vergehen sehen. Doch Sophokles macht aus dem Bestattungsverbot selbst ein absolutes Novum, eine Ungeheuerlichkeit; der Tragödientext lässt nur die Alternative ‚bestatten‘ oder ‚nicht bestatten‘, kein Drittes dazwischen. Damit wird der Inhalt des Gebotes maßlos in doppelter Hinsicht; einerseits sieht es eine übermäßige Strafe für den toten Landesverräter vor,

25 Parker 1983, 18–32, 191–206, 256–280. 26 Flaig 1998, 117–132. 27 Siehe hierzu Rösler 1983.

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anderseits ist das Strafmaß für die Zuwiderhandlung unverhältnismäßig. Indes, ist dieses Gebot tatsächlich ein Gesetz? Es ist selbst auf irreguläre Weise zustande gekommen. Warren J. Lane und Ann M. Lane bemerkten hierzu: „The prohibition is arbitrary in its foundation. The decree lacks the usual advice and consent of the city elders.“28 Das trifft die Sache. Kreon beabsichtigt zwar, nicht als Tyrann zu herrschen, sondern als König, der sich von einem Ältestenrat beraten lässt und sich davor hütet, gegen dessen Rat zu handeln. Doch er erlässt sein fatales Gebot noch in der Nacht, bevor das Drama einsetzt, deutlicher: bevor er die Ältesten zur ersten Beratung einberufen hat. Gewiss, er beruft diesen Rat just deshalb ein, um nicht unbedacht zu handeln, sondern in „Wohlberatenheit“ (159–69). Doch weil er nicht abgewartet hatte bis der Rat sich traf, um diesem dann das Verbot als zu erörternde Maßnahme vorzulegen, ist er buchstäblich „unberaten“ geblieben. Schlimmer noch: Das Gesetz ist seiner eigenen Willkür entsprungen. Und die Ältesten lehnen es schroff ab, diesem Gesetz nachträglich zuzustimmen. Sie erklären, es stehe Kreon zu, alles zu beschließen, was ihm in den Sinn komme. Mit diesem ungeheuerlichen Satz haben sie nicht nur ihren Konsens verweigert, sondern Kreon a limine zum Tyrannen erklärt: νόμῳ δὲ χρῆσθαι παντὶ, τοῦτ᾿ ἐνεστί σοι καὶ τῶν θανόντων χὡπόσοι ζῶμεν πέρι (213f.) Das Ungeheuerliche ist, dass Kreon diese zugemutete Tyrannis umstandslos annimmt. Dass er die Polis als das einzig Rettende ansieht (189), mag noch als Überpolitisierung durchgehen.29 Doch dass er die Pflicht zum Gehorsam als bedingungslose begreift (666f.), heißt den zivischen Gehorsam in ein sklavisches Verhältnis pervertieren. Polisbürger sollen gewiss auch irrtümlichen Befehlen gehorchen, aber ungerechten nur bedingt, nicht bedingungslos. Kreon entpolitisiert damit die Polis. Wenn Ehrenberg meint, Kreon stelle seinen eigenen Verstand „über das Gesetz“, und begehe eine Art Götzendienst im „Versuch, die menschliche Vernunft auf den Thron zu setzen“,30 dann interpretiert er wohl am Problem vorbei. Denn Kreon lässt sich auf keine vernunfthaltige Kontroverse sein, sondern beruft sich auf seine Befugnis zu befehlen, ohne hören zu müssen. Der Befehl ist in dieser Hinsicht ein Symptom der Abwesenheit von argumentierender Vernunft. Und wenn ein Gesetz letztlich nur noch im Befehl besteht, dann wird es zum geronnenen Ausdruck eines tyrannischen Willens, eines Willens, der auf kein Gemeinwesen mehr Rücksicht nimmt und – im fanatischen Glauben, diesem Gemeinwesen zu dienen –, sich außerhalb des Gemeinwesens stellt. Kreon ist in politischer Hinsicht ebenso „autonomos“ wie Antigone es in sozialer und existentieller ist. Statt sich auf ‚Euboulia‘ stützen zu können, hat er sich von Anfang an in „Aboulia“ begeben, in den Zustand der einsamen Unberatenheit, die jeden Menschen vereinzelt und ihn tendenziell zum asozialen Wesen macht. Die Klimax der Unberatenheit erklimmt Kreon dort, wo er in der Kontroverse mit seinem Sohn Haimon die Notwendigkeit des Beratenseins selbst explizit in Frage stellt. Denn er weigert sich, „zu hören“ – wie Haimon sagt. Daher kann ihn niemand aus seinem Zustand befreien, schlecht beraten zu sein und ohne Euboulia zu bleiben. Denn

28 Lane/Lane 1986, 62–182, hier 169f. 29 Lesky 1972, 195. 30 Ehrenberg 1956, 81.

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er ist buchstäblich ein auto-boulos; ein ‚Selbstberatener‘.31 Das mag bei privaten Sonderlingen eine geraume Weile angehen und von Nachbarn und Mitmenschen kurzzeitig zu ertragen sein. Doch einen Herrscher versetzt die ‚Unberatenheit‘ augenblicklich in die Position eines Tyrannen. Er reagiert erst, als Teiresias ihm ein furchtbares Übel ankündigt; und dann ist es zu spät. Und Antigone? Während Ismene das Gebot Kreons für ein Gesetz der Polis hält (v. 44), identifiziert Antigone das Gebot als willkürliche Maßnahme eines Tyrannen, der sich über göttliche Satzungen hinwegsetzt. Anders als Hegel und gegen seine Interpretation feierten die Brüder Schlegel diese Ödipustochter als Heldin des legitimen Widerstandes gegen die Tyrannei. Indes, lässt sich der Tadel, den der Chor gegen Antigone erhebt, als diese plötzlich – im Angesicht des bevorstehenden Todes – ihr ehelos und kinderlos endendes Leben beklagt, wirklich abtun als unterwürfiger Konformismus? Mindestens drei Sachverhalte erhärten den furchtbaren Vorwurf, sie habe „autonomos“ gelebt. Erstens erklärt Antigone (v. 10) klipp und klar, dass sie den Feind der Polis nicht als Feind ansieht, sondern als den ihr liebsten Menschen. Zu beachten ist, dass Polyneikes eine ungeheure Rache für seine Vertreibung nehmen wollte; er war nicht davor zurückgeschreckt, seine eigene Vaterstadt zu zerstören, die Bürgerschaft zu vernichten und Frauen und Kinder zu versklaven. Antigone löscht das gesamte Geschehen der unmittelbaren Vergangenheit ganz einfach aus. Sie empfindet sich auf radikale Weise nicht als Mitglied der thebanischen Polis. Ihr Bruder bleibt völlig kontextlos schlicht ihr Bruder. Bis hierher könnte man der Hegelschen Interpretation, wonach zwei Rechte kollidieren, dasjenige der Polis und dasjenige der Familie, noch folgen. Zweitens sagt Antigone sich nicht bloß von der thebanischen Bürgerschaft los. Sie erklärt kategorisch, dass sie den Toten mehr gefallen wolle als den Lebenden (v. 75). Im Klartext: Die Normen und Sitten der eigenen Polis gelten für Antigone nur insoweit, als sie nicht deren Nähe zu den Toten stören. Diese Nähe liegt aber vollkommen in der definitorischen Eigenmacht Antigones. Denn die Toten können nicht mehr sagen, was sie von Antigone wünschen. Die Kommunikation mit den Toten ist keine Interaktion; sie ist einseitig und daher willkürlich. Antigone gesteht, dass sie schon lange nicht mehr leben will (vv. 559f.). Das ist verständlich. Sie zieht aus dem fortwährenden Unheil, das im labdakischen Geschlecht autodestruktiv wütet, einen ganz anderen Schluss als ihre Schwester Ismene: Nicht Vorsicht und Besonnenheit sollen vor dem familialen Fluch retten, sondern ein definitiver Schlussstrich, ein Ausstieg aus dem Leben. Antigone hat also die Gemeinschaft mit den Lebenden schon aufgekündigt, als das Drama einsetzt.32 An ihrem Lebensende beschwört sie das Exempel der Niobe (v. 826ff.), womit sie ihren eigenen Wagemut in ein fatales Licht rückt – denn das lautlose ewige Weinen der versteinerten Niobe ruft sowohl die Kinderlosigkeit auf, die ihr alle Zukunft genommen hat, als auch ihre eigene Hybris, die sie in diesen existentiellen Zustand ohne alle Aussicht gestürzt hat.33 Es ist offensichtlich, dass Hegels Interpretation hier nicht mehr greifen kann. Antigone steht nicht für das Recht der Familie. Denn das Recht der Familie enthält zwar immer eine normative Rückbesinnung auf die Vorfahren; doch es dient 31 Flaig 2013b, 81. 32 Als Kreon darauf verweist, dass der gefallene Eteokles sicherlich nicht einverstanden wäre mit einer Bestattung seines brüderlichen Todfeindes, antwortet ihm Antigone, der tote Eteokles könne die Behauptung Kreons nicht mehr bestätigen (v. 515); sie selbst beansprucht aber, die Wünsche der Toten zu kennen. 33 Segal 1964, 55.

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der biologischen Reproduktion und fordert die Sorge für die kommenden Generationen. Es respektiert die Toten memoriell, um die Lebenden zu fördern; und es ist daher prinzipiell auf die Zukunft ausgerichtet. Antigone hingegen ist schon vor Ausbruch des Konfliktes anders gesonnen. Sie dient keiner Familie, sondern ihrem eigenen – radikal subjektiven – Wunsch, den Toten näher zu sein als den Lebenden.34 Drittens verstößt Antigone ihre eigene Schwester als Verwandte. Anfangs will sie Ismene in einen gemeinsamen sicheren Tod hineinziehen (v. 43–77). Als ihr das nicht gelingt, erklärt sie diese zur Feindin, die ihr verhasst sei (v. 84). Damit hat sie alle Brücken abgebrochen, die noch sozial und verwandtschaftlich bestehen. Ihren Verlobten Haimon erwähnt sie nie, da sie sich jeden Gedankens an familiales Fortleben entschlagen hat. Schließlich betont sie in ihrer Klage am Ende ihres Lebens zweimal, dass sie die Letzte des labdakidikschen Geschlechtes sei (v. 895, 941), obschon Ismene noch am Leben ist und nicht hingerichtet wird. Antigone hat ihre Schwester kurzerhand aus der Genealogie eliminiert. Berücksichtigt man diese Serie von Transgressionen, dann verändert sich die Semantik von Antigones Argumenten gegen Kreon. Sie beruft sich auf ungeschriebene Satzungen der Götter, immer schon bestehend – ἄγραπτα κἀσφαλῆ θεῶν νόμιμα –, und immer seiend, wobei keiner weiß, woher sie stammen (v. 454). Den 6000 Richtern unter den athenischen Bürgern, die in der Cavea den tragischen Worten lauschten, dürfte dieses Beschwören ‚ungeschriebener Gesetze‘ nicht behaglich gewesen sein. Denn immer wieder erlebten sie bei Prozessen, dass Ankläger wie Angeklagte sich auf solche „Gesetze“ beriefen. In gewisser Weise war das nicht vermeidbar, da die Polis unmöglich alle Materien durch beschlossene Gesetze regeln konnte und gesetzliche Lückenlosigkeit vollkommen unmöglich ist. Seit 403/402 war das athenische Recht kodifiziert; und ab diesem Augenblick war es Magistraten ausdrücklich untersagt, ungeschriebene Gesetze anzuwenden. Auch der Richtereid sah nun vor, dass nur dann, wenn es kein geschriebenes Gesetz gab, der Richter nach seinem eigenen Rechtsinn urteilen sollte.35 Heben wir das Problem auf eine prinzipielle Ebene: Einerseits war das Beharren Antigones auf der Unabdingbarkeit ungeschriebener Gesetze für die politisch Gebildeten unter den Athenern insofern noch hinzunehmen, als in den Debatten über die Gültigkeit von Gesetzen den Intellektuellen des 5. Jhs. sehr wohl klar geworden ist, dass die Polis nicht alles der menschlichen Willkür unterwerfen darf: Denn eine Gemeinschaft benötigt Residuale – normative Bestände, die der Infragestellung entzogen bleiben;36 und gerade deshalb, weil niemand sie in Frage stellt, fungieren sie als ein allen Bürgern gemeinsames Normengut, eine präreflexive Gemeinsamkeit, die für den Zusammenhalt der Bürgerschaft unterbrechungslos wirkt. Solche Wirksamkeit mag oft und lange Zeit latent bleiben; aber welche kardinale Funktion ihr zukommt, enthüllt sich schlagartig, wenn sie 34 Aus diesem Grunde ändert es auch nichts, ob die Verse 905ff. interpoliert sind oder nicht. Hierzu Rösler 1993. Wie kann Antigone im Ernst glauben, dass der Verlust des Ehegatten und sogar des eigenen Kindes weniger schwer wiegt als der Verlust eines Bruders? Sie begründet es damit, dass Kinder und Ehegatte ersetzbar seien durch einen anderen Ehemann und neue Kinder, wohingegen ein Bruder nicht zu ersetzen ist. Falls diese Verse interpoliert sind, hätte der Interpolator zwar versucht, die schier unerträgliche Intensität der Beziehung zum toten Bruder mit einem rationalen, nachvollziehbaren Grund zu versehen. Doch er hätte damit nur bestätigt, dass dem Familiensinn Antigones die Dimension der Zukunft vollkommen fehlt. 35 And. 1,85–89; Demosth. Or. 10,118. 36 Ehrenberg 1956, 80.

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aufhört, weil man sie unterbrochen hat. Die ‚Gesetze des Landes‘ mögen größtenteils positives, also menschlich gesetztes Recht sein; dennoch ruhen sie nach Auffassung des Dichters auf einer Basis von Selbstverständlichkeiten, über die nicht leichtherzig verfügt werden sollte. Die Warnung ist klar: Am Gesetz der Polis verläuft die Grenze, die es Menschen erlaubt, in Gemeinschaft miteinander zu leben; aber dieses Recht der Polis findet seinen Halt in fraglos akzeptierten Sitten. An diese vorreflexiven Bestandteile des Grundkonsenses einer Gemeinschaft zu tasten ist gefährlich. Deutlicher: Das Gesetz, das die Menschen schützen soll vor sozialem Unheil, verliert diese rettende Wirkung, sobald es selbst ‚Grenzen verletzt‘. Diesen Sachverhalt hat schon Hegel in seiner berühmten Antigone-Interpretation unterstrichen. Und dieses Problem hatte Protagoras nicht in den Blick genommen. Gerade dieser unverfügbare gemeinsame normative Bestand erlaubt es der Bürgerschaft, über andere Materien sehr wohl und ohne Gefahr verfügen zu können. Und noch ein Zweites: Die Polis unterminiert den Glauben an die Normengeltung, wenn sie häufig normative Setzungen revidiert oder wenn sie Setzungen revidiert, die einen hohen Grad von Selbstverständlichkeit oder gar Unantastbarkeit auf ihrer Seite haben. Anderseits fundamentalisiert Antigone diese ungeschriebenen Gesetze in einem Maße, dass keine Bürgerschaft es auf die Dauer ertrüge. Sie postuliert eine absolute Gültigkeit dieser göttlich gesetzten Normen, doch sie kann nicht angeben, wann die Götter diese Satzungen erlassen hätten. Dass sie das nicht tut, ist keine Belanglosigkeit, sondern ein gravierendes Defizit. Denn göttliche Normsetzungen sind im griechischen Kontext stets verbunden mit einem Gründungsmythos. Doch einen solchen vermag Antigone nicht zu erzählen. Ja, sie weist es als Zumutung zurück, überhaupt nach einem solchen befragt zu werden; denn niemand wisse, woher diese Satzungen stammten (v. 457). Wenn diese ungeschriebenen Gesetze ἄγραπτα und ἀεί sind, dann müssten alle Menschen diese Gesetze intuitiv einsehen. Wenn aber nur wenige die imperativische Wirkung derselben in sich verspüren, dann haben sie keine unmittelbare Evidenz mehr. Falls nur eine einzige Person den Imperativ verspürt, dann läuft diese Einzelne Gefahr, eine radikal subjektive und individuelle Moral gegen die traditionale ihrer Gemeinschaft zu setzen. Sie nimmt dann ungefähr die Haltung einer Prophetin ein. Anders gesagt: Sie stellt sich über die Polis. Antigones Gesinnung ist demnach erheblich transgressorischer als jene Kreons. Kreon will kein Tyrann sein; doch er wird immer tyrannischer, je mehr er Widerstand gegen sein Verbot spürt. Er lebt in dem Wahn, er selbst sei die Polis, was ihn eo ipso aus der Polis hinausgleiten lässt. Antigone ist hingegen von Anfang an entschlossen, den Tod zu suchen, befindet sich bereits außerhalb der Gemeinschaft – in vollem Bewusstsein und mit härtestem Vorsatz. Aber in der Cavea bemerkt man weniger die Gesinnung als vielmehr die Folgen des Handelns. Die Zuschauer gewahren, mit welch ungeheurer Wucht die destruktiven Handlungsfolgen auf Kreon zurückschlagen. Das Handeln Antigones hingegen muss ihnen in einem anderen Lichte erscheinen; denn es zielt auf eine rituelle Praxis, die sich ihnen als Selbstverständlichkeit darstellt, als ein ganz und gar traditionales Tun. Was die junge Frau tut, den Toten bestattend, wird an sich – wenn man von den besonderen Umständen absieht – gebilligt und gutgeheißen. Die Tragödie hinterlässt den Zuschauer in einer erschütternden Ratlosigkeit. Wenn dieses ungeheuerste aller Lebewesen nur Rettung findet im Gesetz, dann sollte doch dieses Rettende eine eindeutig erkennbare Landmarke sein. Was aber tun, wenn wir nicht wissen, welches Gesetz gilt? Und welches der konfligierenden Gesetze überhaupt eines ist und welches nicht?

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Am Schluss beschwört der Chor die rettende Besinnung als das kostbarste Gut. Aber was ist das Maß der Besinnung? Das kann der isolierte Einzelne niemals wissen. Letzten Endes bemisst sich die Besinnung am intersubjektiven Erwägen, also an der ‚Euboulia‘, an der Wohlberatenheit. Und die ist nur zu gewinnen um den Preis des Verzichtes nicht nur auf Eigenmächtigkeit, sondern auch auf ‚Selbstberatenheit‘.

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Utzinger, Christian, Periphrades Aner. Untersuchungen zum ersten Stasimon der Sophokleischen ‚Antigone‘ und zu den antiken Kulturentstehungstheorien, Göttingen 2003.

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Antike Demokratie im Experiment – Die Auslosung der Geschworenen in der attischen Demokratie Klaus Scherberich

„No one has ever calculated how long this procedure took“1 Der folgende Beitrag stellt die Ergebnisse eines Projektes vor, in dem im Rahmen einer studentischen Lehrveranstaltung mit Hilfe zweier nachgebauter Losmaschinen das Auslosungsverfahren der Geschworenen in der attischen Demokratie durchgespielt worden ist. 2 Die Geschworenengerichte (δικαστήρια) stellen bekanntlich eins der zentralen Elemente im politischen System der attischen Demokratie dar. In der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. besaßen sie die unbegrenzte Macht, die Volksversammlung, die Nomotheten und die Magistrate zu kontrollieren (sc. wenn ein entsprechender Prozess vor sie gebracht wurde). So wurden durch sie z. B. die Gesetzmäßigkeit von Beschlüssen der Volksversammlung überprüft (gegen die Antragsteller) und Eisangelieprozesse geführt (bes. gegen die Strategen). Außerdem wurden von ihnen die ca. 600 jährlich erlosten Magistrate bei ihrem Amtsantritt, während ihrer Amtszeit und bei ihrer Rechenschaftslegung am Ende ihrer Amtszeit kontrolliert und die Gesetzmäßigkeit der durch die Nomotheten beschlossenen Gesetze überprüft.3 Diese zentrale Bedeutung der Geschworenengerichte wird etwa auch im Aufbau der Athenaion Politeia deutlich. Quasi als Höhepunkt der Darstellung der aktuellen Verfassung Athens schließt die Schrift mit einem langen Abschnitt über die Dikasterien (63–69), ihre herausragende Rolle wird daneben auch noch an anderen Stellen in der Athenaion Politeia hervorgehoben (z. B. 9,1).4 Die Athener haben die Auslosung der Geschworenengerichte mehrfach verändert, in der Tendenz wurde sie dabei immer ausgeklügelter und aufwändiger.5 Ziel dieser Veränderungen war es, Manipulationen bei der Besetzung der Dikasterien und der Urteilsfindung, z. B. durch Bestechung, unmöglich zu machen. Über den genauen Ablauf der Auslosung wussten wir 1 Hansen 1991, 199. 2 Ohne das außergewöhnliche Engagement der teilnehmenden Studenten hätte das Projekt nicht verwirklicht werden können. Mein besonderer Dank gilt Frau Johanna Scherr, meiner damaligen studentischen Hilfskraft. 3 Vgl. z. B. Hansen 1995, 210–232 (auch zur Rolle der Geschworenengerichte bei Privatprozessen). Da die Nomotheten nichts anderes waren als ein „normales“ Geschworenengericht, wurden im letzteren Fall also potentiell aus der gleichen Gruppe von Bürgern diejenigen ausgelost, die ein Gesetz beschlossen, und später diejenigen, die dieses Gesetz überprüften. 4 Stellenangaben ohne Nennung des Verfassers bzw. des Werkes beziehen sich im Folgenden immer auf die Athenaion Politeia. Der griechische Text wird zitiert nach der Ausgabe von Chambers: Aristoteles, ΑΘΗΝΑΙΩΝ ΠΟΛΙΤΕΙΑ, edidit Mortimer Chambers, Leipzig 1986. 5 Einen guten Überblick über die Entwicklung vor dem Zustand, der in der Athenaion Politeia beschrieben wird, bietet Boegehold 1995, 21–36.

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lange Zeit nichts. Dies änderte sich erst durch die Publikation des Londoner Papyrus mit dem Text der Athenaion Politeia durch Frederic Kenyon im Jahre 1891. 6 Innerhalb des bereits oben genannten Abschnitts über die Geschworenengerichte bringt die Athenaion Politeia nämlich eine detaillierte Schilderung des Ablaufs der Auslosung (64–65). In einer zentralen Hinsicht blieb diese Schilderung freilich lange Zeit missverstanden, nämlich was mit den mehrfach erwähnten κληρωτήρια gemeint ist. So verstand etwa Hildebrecht Hommel in seiner auch heute noch mit Gewinn zu lesenden Arbeit unter diesen Kleroteria Räume an den Zugängen zum Gerichtsbezirk, in denen die Auslosung stattfand.7 Es ist dann das Verdienst von Sterling Dow gewesen, in den Kleroteria Losmaschinen zu erkennen. 8 Dow war es auch, der mit Hilfe der erhaltenen Fragmente von anderen Losmaschinen eine Zeichnung der bei der Auslosung der Geschworenengerichte verwendeten Kleroteria erstellte (Abb. 1). Seine Rekonstruktion wird heute allgemein akzeptiert, seine Zeichnung findet sich in zahlreichen Werken zur Athenaion Politeia bzw. zur attischen Demokratie9 und diente auch uns als Orientierung beim Bau der Losmaschinen (Abb. 2).10 Auch von den speziellen Ausweisen (πινάκια), die bei der Auslosung in die Losmaschinen gesteckt wurden, haben sich zahlreiche bronzene Exemplare erhalten. 11 Allerdings waren diese Pinakia zur Zeit des Aristoteles aus Holz, haben aber sicherlich die gleiche oder jedenfalls eine sehr ähnliche Form gehabt wie die aus Bronze. Die Quellenlage für eine detaillierte Rekonstruktion des Losverfahrens ist also insgesamt gut, die Athenaion Politeia nennt die wichtigsten Teilschritte, ihre Darstellung ist aber nicht sehr konzise und einiges wird auch nicht erwähnt und muss ergänzt werden (s. u.). Dabei sollte bei der Rekonstruktion dem Gedanken Rechnung getragen werden, dass es den Athenern offensichtlich sehr wichtig war, dass das Losverfahren möglichst sicher vor Manipulationen war und die Bürger die einzelnen Schritte mitverfolgen und kontrollieren konnten (vgl. 64,4). Aus der Quellen- und Forschungslage ergaben sich für das geplante Experiment folgende Ziele und Fragestellungen: Wie funktionierte der Ablauf des Verfahrens genau? Wie zuverlässig ist die Darstellung des Auslosungsverfahrens in der Athenaion Politeia? Ergeben sich beim praktischen Durchspielen Widersprüche oder Probleme? Wie transparent und manipulationssicher war das Verfahren? Wie lange dauerte die eigentliche Auslosung? Ziel dabei war es, nicht nur eine einmalige Auslosung durchzuführen, sondern im Rahmen des Experimentes Daten zu gewinnen, auf deren Basis man die Dauer beliebiger Auslosungen, d. h. beliebig innerhalb der Rahmenbedingungen der attischen Demokratie hinsichtlich der Zahl der Teilnehmer und der Anzahl und Größe der zu besetzenden Gerichte, berechnen kann. 6 Kenyon 1891. 7 Hommel 1927, passim; vgl. dort auch 140f. Abb. 1 und 2. 8 Vgl. Dow 1937, 198–215; ders. 1939; ders. 1940. Einen knappen Überblick über die in Athen und an anderen Orten (Delos, Paros, Kamarina) gefundenen Losmaschinen bietet Kosmetatou 2013. 9 So z. B. bei Rhodes 1981, 707; Chambers 1990, 420; Bleicken 1995, 316; Boegehold 1995, 33; Santoni 1999, 32. 10 Dow selbst ging davon aus, dass sich die tatsächlichen Losmaschinen des 4. Jhs. in der Form von seinen Rekonstruktionen unterschieden haben könnten (Dow 1939, 1). 11 Vgl. Boegehold 1995, 61–64.

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Auf den ersten Blick erscheint eine praktische Rekonstruktion des Losverfahrens sowohl aufgrund der hohen Teilnehmerzahl ‒ an den ca. 150–200 Gerichtstagen pro Jahr nahmen vermutlich im Schnitt 2000 oder mehr Bürger teil ‒ als auch der benötigten Materialien (alleine 20 Losmaschinen!) völlig illusorisch. 12 Da die Geschworenen aber phylenweise gleichzeitig und in gleicher Form ausgelost wurden (63,1f.), genügt es, das Losverfahren für eine Phyle zu rekonstruieren. Man braucht also „nur“ noch zwei Losmaschinen (und das übrige Equipment) und „nur“ noch ca. 200 Personen für das praktische Durchspielen der Auslosung. Tatsächlich benötigt man gar nicht so viele Teilnehmer; es muss nur gewährleistet sein, dass genügend Personen teilnehmen, um die benötigten Daten zu ermitteln. Bei der Herstellung und Besorgung der erforderlichen Gegenstände ging es uns nicht primär darum, möglichst nur originale Materialien zu verwenden oder uns exakt an die Rekonstruktionszeichnung Dows zu halten. Entscheidend war für uns, dass die Funktionsweise korrekt war und dass alles mit antiken Materialien und Techniken prinzipiell hergestellt werden konnte. Die größte Herausforderung bildete die Fertigung der Losmaschinen. Wir entschieden uns für eine Holzkonstruktion aus MDF-Platten. Die erhaltenen Losmaschinen sind zwar alle aus Stein, es ist aber nicht ausgeschlossen, dass in Athen auch solche aus Holz zum Einsatz kamen,13 und für die Durchführung der Losung ist das Material der Losmaschine auch nebensächlich. Für den Bau bekamen wir sehr hilfreiche Unterstützung von Herrn Prof. Dr. R. Bertig vom Lehrstuhl für Mechanik und Baukonstruktion der RWTH Aachen, der uns freundlicherweise auch seine Werkstatt zur Verfügung stellte. Die Auslosung der Geschworenen fand auf der Agora statt, wahrscheinlich im Nordosten des Platzes, wo für die Zeit der Athenaion Politeia, also etwa 330 v. Chr.,14 vier Bauten archäologisch nachgewiesen sind, die plausibel als Gerichtsgebäude interpretiert werden. 15 Der Ort, an dem die Dikasterien zusammentraten, muss in einem irgendwie dauerhaft (z. B. durch eine Mauer) oder temporär (z. B. durch Seile) abgetrennten Gerichtsbezirk gelegen haben, zu dem es 10 Eingänge gab, einen für jede Phyle (63,2).16 Die Eingänge haben vermutlich soweit auseinandergelegen, dass die parallele Auslosung, insbesondere das namentliche Aufrufen der Bewerber, ungestört ablaufen konnte. Nach unseren Erfahrungen wäre dazu ein Mindestabstand von etwa 20 m zwischen den Eingängen wünschenswert. Damit die Bürger wussten, an welchem Eingang ihre Auslosung stattfand, müssen diese irgendwie gekennzeichnet gewesen sein, z. B. mit den Namen der Phylen. Vielleicht waren die Eingänge zusätzlich in der offiziellen Reihenfolge der Phylen angeordnet, um eine leichtere Orientierung zu 12 Zur Anzahl der Gerichtstage vgl. Hansen 1979; wir wissen nicht, wie viele Athener im Durchschnitt an der Losung teilnahmen, Hansen 1995, 195 vermutet zwei- bis dreitausend; 20 Losmaschinen: 63,2. 13 Dow 1937, 213 schließt aus AP 66,1 (Aufstellen von zwei Losmaschinen im ersten Gericht, mit deren Hilfe die vorsitzenden Magistrate ausgelost werden), dass zumindest diese Kleroterien aus Holz waren. Siehe dagegen jedoch Bishop 1970, 8. Wenn in den Inschriften (Dow 1937, Nr. 79 und 80) explizit Losmaschinen aus Stein erwähnt werden (vgl. insbes. Nr. 80 [= IG II2 972] Z. 11f. εἰς] κληρωτήριον λίϑι/[νον), so legt dies jedenfalls nahe, dass auch solche aus anderen Materialien existierten. Dass es auch Losmaschinen aus Holz gegeben haben kann, vermutet ebenfalls Boegehold 1995, 32 und 231. 14 Zur Abfassungszeit der Athenaion Politeia vgl. Rhodes 1981, 51–58 und – stärker eingrenzend – Chambers 1990, 82f. (83: „zwischen 328 und 325“). 15 Vgl. Boegehold 1995, 14f.; 36f. Anm. 51; 104–113 und Fig. 7 (Gebäude A–D) und 8. 16 Den Schluss, dass die Dikasterien innerhalb eines Gerichtsbezirks tagten, zog bereits Hommel 1927, 53f.; eine permanente oder zumindest temporäre Absperrung nimmt auch Boegehold 1995, 14 an (vgl. auch ebd. 36f. und 206 [„enclosing fence“]); Dow 1939, 1 geht von einer Mauer aus.

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gewährleisten. Auf jeden Fall dürfte jede Phyle immer denselben Eingang benutzt haben, um unnötige Verzögerungen und Verwirrung zu vermeiden. Die Auslosung wurde an den Eingängen von den neun Archonten und dem Sekretär der Thesmotheten überwacht, wobei jeder von ihnen die Aufgabe für seine Phyle wahrnahm (63,1; zur Aufsicht vgl. auch 59,7). 17 Vor jedem dieser Eingänge fand an einem Gerichtstag in gleicher Weise die Auslosung der Geschworenen statt, im Folgenden wird diese für einen Eingang beschrieben und dabei werden die für unser Experiment getroffenen Entscheidungen begründet. Diejenigen Athener, die berechtigt waren, als Geschworene zu amtieren, waren in jeder Phyle in 10 Abteilungen (Alpha bis Kappa) eingeteilt, die ungefähr gleich groß waren (63,4). Jeder von ihnen besaß einen Ausweis (πινάκιον) aus Buchsbaum, auf dem sein Name, der Name seines Vaters, sein Demos und ein Buchstabe von Alpha bis Kappa, also der Buchstabe seiner Abteilung, stand (63,4).18 Für unsere Teilnehmer, die des griechischen Alphabets im Allgemeinen nicht mächtig waren, haben wir die von uns zufällig ausgewählten griechischen Namen und Athener Demen in lateinischer Schrift auf die Ausweise geschrieben (Abb. 6). Jeder bekam zwei Exemplare seines Ausweises, damit er sich leichter seinen Namen merken konnte, nachdem er einen seiner Ausweise abgegeben hatte, und so möglichst keine Verzögerungen beim Aufruf der Namen eintrat. Für jeden Gerichtstag legten die Thesmotheten fest, wie viele Gerichte an diesem Tag tagen sollten und wie viele Geschworene gebraucht wurden (vgl. 59,1). Dies war u. a. wichtig, um die notwendige Zahl weißer Kugeln und „Eicheln“ für die Auslosung bereitlegen zu können (s. u.). Die an einem Tag tagenden Gerichte hatten vermutlich alle dieselbe Größe.19 Für unser Experiment sind wir von drei gleich großen zu besetzenden Gerichten (Lambda, My und Ny) ausgegangen, wobei es für die Dauer der Auslosung weitestgehend irrelevant ist, ob zwei oder mehr Gerichte an einem Tag tagen. Die Athenaion Politeia geht nicht auf den Fall ein, dass nur ein Gericht besetzt werden musste. Vermutlich entfielen dann das überflüssige Ziehen der Eicheln sowie die Ausgabe der bunten Stäbe (s. u.) und die nach dem Ziehen einer weißen Kugel aufgerufenen Teilnehmer gingen direkt durch den Eingang in den Gerichtsbezirk. Die Auslosung würde dadurch erheblich beschleunigt, besonders bei sehr großen Einzelgerichten von 1001, 1501 oder noch mehr Geschworenen. 20 Die Anzahl der auszulosenden Geschworenen haben wir erst am Tag des Experimentes festgelegt, als feststand, wie viele Teilnehmer wir haben würden, und dann etwa gleich viele weiße und schwarze Kugeln für die Losmaschinen genommen, um für beide Fälle genügend Daten zu gewinnen. 17 Der Einfachheit halber wird der die Auslosung leitende Magistrat im Folgenden „Archon“ genannt. 18 Die erhaltenen Pinakia aus Bronze sind ca. 11 cm lang, 2 cm breit und 1,5–2,5 mm dick (Boegehold 1995, 59). Die Maße der hölzernen Ausweise waren vermutlich ähnlich, unsere waren 10 cm lang, 2 cm breit und 2 mm dick (vgl. Abb 6). Allg. zu den erhaltenen Pinakia für Geschworene vgl. Kroll 1972; Boegehold 1995, 59–64. 19 So etwa Hommel 1927, 72 und Chambers 1990, 417; für die Möglichkeit, dass an einem Tag auch unterschiedlich große Gerichte tagten, spricht sich dagegen Rhodes 1981, 714f. aus. Für die Dauer der Auslosung spielt das jedoch keine Rolle. 20 Wenn in 68,1 davon die Rede ist, dass sich in einem solchen Fall bspw. zwei Dikasterien „zusammenschließen“ (συν[έρχεται), dann ist damit natürlich nicht gemeint, dass zunächst zwei Dikasterien in dem sonst üblichen Verfahren (also mit Ziehung der „Eicheln“ etc.) besetzt werden, um sich anschließend zu einem großen Gericht zu vereinen.

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Außerdem loste für jeden Gerichtstag „der Thesmothet“21 für jedes Gericht, das an diesem Tag besetzt werden sollte, einen Buchstaben von Lambda an aus (63,5). Der Balken über jedem Gerichtseingang war mit einer Farbe gekennzeichnet (65,2) und der Diener des Thesmotheten, wohl ein Staatssklave,22 befestigte an jedem Gerichtseingang den entsprechenden Buchstaben (63,5). Erst nachdem den Gerichten ein Buchstabe zugelost worden war, konnten an den 10 Eingängen die erforderlichen „Eicheln“ mit diesen Buchstaben bereitgelegt werden (s. u.). Diejenigen Athener, die berechtigt und an diesem Tag willens waren, als Geschworene zu amtieren, kamen frühmorgens23 auf die Agora, gingen zu dem Eingang ihrer Phyle und legten ihren Ausweis in diejenige der dort aufgestellten 10 Kisten, die den gleichen Buchstaben trug wie ihr Ausweis, also Alpha bis Kappa (64,1). Man darf wohl davon ausgehen, dass die Kisten der Übersichtlichkeit wegen in alphabetischer Reihenfolge aufgestellt waren. Bei unserem Experiment haben wir die Kisten der Bequemlichkeit halber auf Tische gestellt, und zwar je fünf links (Alpha bis Epsilon) und rechts (Zeta bis Kappa) der Lücke, die den Durchgang zu den Losmaschinen etc. ermöglichte (Abb. 2 und 3). Dies hat den Vorteil, dass alle Bewerber zusammen vor „ihrer“ Losmaschine stehen, was die Übersichtlichkeit erhöht und die Auslosung beschleunigt. Vermutlich gab es ein zentrales Signal, das anzeigte, wann keine Ausweise mehr in die Kisten an den 10 Eingängen gelegt werden durften.24 Am praktischsten wäre ein akustisches Signal gewesen,25 und zwar kein einmaliges, sondern ein mehrstufiges, so wie wir es heute z. B. aus Theatern kennen, wenn das Ende der Pause angezeigt wird. Dies hätte es Nachzüglern ermöglicht, sich zu beeilen und ihren Ausweis noch rechtzeitig in die Kisten zu legen. Wenn die Zeit abgelaufen war, gab der Archon vermutlich ein Zeichen, dass die eigentliche Auslosung beginnen sollte.26 Daraufhin schüttelte ein Diener nacheinander die Kisten, um die Ausweise zu mischen. Der Archon27 zog aus jeder Kiste einen Ausweis und bestimmte so einen Einstecker (ἐμπήκτης) (64,1–2).28 Wer rief die Einstecker auf? Die per Losmaschine

21 Rhodes 1981, 705 vermutet, dass damit einer der neun Archonten bzw. der Sekretär der Thesmotheten gemeint ist (zu deren Rolle bei der Auslosung s. u.). 22 Hommel 1927, 60 Anm. 140; Rhodes 1981, 705. 23 Vgl. Aristoph. Vesp. 689. 24 Vgl. Colin 1917, 50 und Hommel 1927, 51 in Analogie zu dem in Aristoph. Vesp. 690 unmittelbar vor Beginn des eigentlichen Gerichtsverfahrens erwähnten Zeichens (689f.: [...] „ὡς ὅστις ἂν ὑμῶν / ὕστερος ἔλϑῃ τοῦ σημείου, τὸ τριώβολον οὐ κομιεῖται“), nach dem kein Geschworener mehr in den Gerichtssaal eingelassen wurde, um sicherzustellen, dass kein später urteilender Geschworener einen Teil des Prozesses verpasste (vgl. zur Interpretation der Stelle in diesem Sinne MacDowell 1971, 226f.; Lenz 2014, 177; Biles/Olson 2015, 303). 25 Dow 1939, 28 vermutet „a blast on trumpets“. 26 Dow 1939, 28 nimmt dagegen an, dass die Auslosung sofort nach Ertönen des Signals begann. Es erscheint jedoch wahrscheinlicher, dass der jeweilige Aufsicht führende Archon mit seiner Autorität als Magistrat für seinen Eingang den eigentlichen Beginn festsetzte, zumal so die Möglichkeit bestand, besondere Umstände und Probleme an einzelnen Eingängen zu berücksichtigen. 27 64,1 spricht ungenau von einem Thesmotheten. 28 Nach Dow 1939, 28 bringt der Diener die 10 Kisten zu dem Archon, schüttelt sie und reicht sie dann nacheinander dem Archon, der jeweils einen Ausweis zieht. In unserer Rekonstruktion ist ein solcher Transport der Kisten zum Archon unnötig. Wenn Hommel 1927, 62 den Archon zunächst nur aus den ersten fünf Kisten einen Ausweis ziehen lässt, so ist dies dem Umstand geschuldet, dass er unter Kleroterion einen Losraum versteht. Bei dem Diener handelte es sich um einen Staatssklaven, vgl. Hommel 1927, 62.

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ausgelosten Geschworenen wurden von einem Herold aufgerufen (64,3), daher liegt die Vermutung nahe, dass er auch die Namen der Einstecker aufrief, d. h. der Archon gab ihm die Ausweise.29 Was passierte mit den Ausweisen der Einstecker, nachdem der Herold sie aufgerufen hatte? Die Einstecker müssen später noch eine „Eichel“ ziehen und der Archon legt dann ihren Ausweis in eine Kiste (s. u.). Eine Möglichkeit wäre, die Ausweise in der Zwischenzeit irgendwo abzulegen, bis sie wieder gebraucht werden. 30 Dies hätte allerdings den Nachteil, dass die Einstecker später erneut namentlich aufgerufen werden müssten. Einfacher ist es, wenn der Herold dem Einstecker seinen Ausweis zurückgibt und dieser ihn später dem Archon gibt, wenn er eine „Eichel“ zieht. Die Einstecker nahmen dann ihre Kisten und steckten die Ausweise von oben nach unten in die entsprechende Spalte einer der beiden Losmaschinen (64,2), also steckte der erste Einstecker die Ausweise aus der Kiste Alpha in die linke Spalte der linken Losmaschine usw.31 Die Ausweise wurden wahrscheinlich mit der Schrift nach oben und dem Buchstaben der Sektion nach hinten eingesteckt, damit sie nach dem Herausnehmen nicht noch umgedreht werden mussten, um den Namen lesen zu können, und um schnell überprüfen zu können, dass sie in der richtigen Spalte steckten.32 Die Maße der benutzten Losmaschinen sind unbekannt. 33 Die von uns gebauten Losmaschinen sind 155 cm hoch (ohne Trichter), 27,6 cm breit (Korpus) und 32,4 cm tief. Die Höhe haben wir so gewählt, dass ein Einstecken der Ausweise im Stehen bequem möglich ist. Genauso gut hätte man natürlich auch ein erheblich niedrigeres Modell nehmen und auf einen Untersatz stellen können. Bei der Breite (2,4 cm) und dem Abstand der senkrechten Schlitzreihen voneinander (2,4 cm), in die die Ausweise gesteckt werden, haben wir uns an den erhaltenen Losmaschinen orientiert, den vertikalen Abstand zwischen den Schlitzen haben wir mit 1,1 cm etwas schmäler gewählt als bei den erhaltenen aus Marmor, bei denen er materialbedingt größer sein musste als es bei hölzernen nötig ist.34 Die Tiefe unserer Losmaschinen ist mehr oder weniger willkürlich festgelegt. In der von uns gewählten Form sind sie

29 Boegehold 1995, 37 geht dagegen davon aus, dass der Archon selbst die Einstecker aufrief. 30 In diesem Sinne wohl Dow 1939, 28. 31 Von oben nach unten: Dow 1939, 28. Gegen die Annahme von Colin 1917, 50f., nicht der Einstecker, sondern der Archon habe die Ausweise aus der Kiste genommen und diesem dann gegeben, vgl. zurecht Dow 1939, 28 Anm. 3. 32 Vgl. Dow 1939, 29 Anm. 1. 33 Dow 1939, 1 geht von einer Breite von ca. 60 cm und Mannshöhe aus. 34 Die Schlitze in den erhaltenen Kleroterien sind nach Dow 1937, 198 2 cm breit (mit geringen Abweichungen), bei Nr. V allerdings mindestens 3,5 cm (Dow 1937, 205). Der Abstand zwischen den senkrechten Schlitzreihen beträgt bei Nr. III 4 cm (Dow 1937, 204 Anm. 1), bei Nr. IV im oberen Fragment 3,5 cm, im unteren 4 cm (Dow 1937, 205 Anm. 1), bei Nr. VI 2,5 cm (Dow 1937, 206 Anm. 1), bei Nr. IX ca. 2,8 cm (Dow 1937, 207 Anm. 2) und bei Nr. X 2 cm (Dow 1937, 208 Anm. 1). Der vertikale Abstand zwischen den Schlitzen beträgt bei Nr. I 1,8 cm (Dow 1937, 198 Anm. 2), bei Nr. IV 2,3 cm (Dow 1937, 205 Anm. 1), bei Nr. V 2,5 cm (Dow 1937, 205 Anm. 2; dort irrtümlich 0.25 m), bei Nr. VI 3 cm (Dow 1937, 206 Anm. 1), bei Nr. VIII 2,3 cm (Dow 1937, 207 Anm. 1), bei Nr. IX 2 cm (Dow 1937, 207 Anm. 2) und bei Nr. X 1,8 cm (Dow 1937, 208 Anm. 1; dort irrtümlich 0.18 m). Bei einem weiteren, 1986 in Athen gefundenen Fragment einer Losmaschine sind die Schlitze 3,5 cm breit, der Abstand zwischen den senkrechten Schlitzreihen beträgt 3,5 cm und der vertikale Abstand zwischen den Schlitzen 2,15 cm (Boegehold 1995, 58).

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sehr stabil und standfest. Falls sie in Athen nicht permanent an den Eingängen standen, sondern an jedem Gerichtstag auf- und abgebaut wurden (was sich zumindest bei Modellen aus Holz schon aus Witterungsschutzgründen empfohlen hätte), waren sie vermutlich niedriger und weniger tief, um Gewicht zu sparen und so den Transport zu erleichtern. 35 Da die Einstecker direkt als Geschworene ausgewählt waren (vgl. 64,3), wurden ihre Ausweise nicht in die Losmaschinen gesteckt.36 Dow ging davon aus, dass die Einstecker nacheinander arbeiteten, d. h. dass der zweite Einstecker erst anfing, wenn der erste fertig war, da zu wenig Platz vorhanden gewesen sei, um die Ausweise gleichzeitig einzustecken.37 Wir haben im Vorfeld des Experimentes verschiedene Varianten für das Einstecken durchgespielt, z. B. nacheinander (Dows Annahme) oder dass die erste, dritte und fünfte und anschließend die zweite und vierte Spalte gleichzeitig mit Ausweisen aufgefüllt werden. Dabei zeigte sich, dass trotz der eng nebeneinander liegenden Spalten durchaus mehrere Einstecker gleichzeitig arbeiten können. Dies gilt sogar für alle fünf Einstecker an einer Losmaschine, was dadurch erleichtert wird, dass sie nacheinander aufgerufen werden, ihre Kiste nehmen und anfangen die Ausweise einzustecken. Daher sind de facto alle fünf nur kurze Zeit tatsächlich gleichzeitig mit Einstecken beschäftigt oder es sind sogar nur vier parallel tätig, falls der erste Einstecker bereits fertig ist, bevor der fünfte beginnt (dies hängt natürlich von der Zahl der Ausweise ab). Für das Experiment haben wir uns für die letzte Variante entschieden, d. h. jeder Einstecker nimmt seine Kiste, geht zu seiner Losmaschine und beginnt sofort mit dem Einstecken der Ausweise. Wo halten sich die Einstecker auf, wenn sie die Ausweise eingesteckt haben? Was passiert mit den Kisten? Die Einstecker ziehen wohl erst am Schluss „Eicheln“ (s. u.). Sie stehen daher in der Zwischenzeit vermutlich irgendwo separiert. Wahrscheinlich gibt jeder Einstecker nach dem Ende der Auslosung mit den Losmaschinen die Ausweise derjenigen aus seiner Sektion, die nicht als Geschworene zum Zuge gekommen sind, zurück (s. u.). Vermutlich liegen diese Ausweise in seiner Kiste (s. u.). Bei unserem Experiment haben wir links neben die linke Losmaschine bzw. rechts neben die rechte Losmaschine eine zweite Reihe von Tischen aufgestellt (Abb. 2 und 3).38 Nach dem Einstecken stellen die Einstecker ihre Kisten in alphabetischer Reihenfolge von links nach rechts auf die Tische neben ihrer Losmaschine und stellen sich hinter ihre Kiste, bis sie die Ausweise der abgelehnten Bewerber ihrer Sektion zurückgeben. Wenn er die Ziehung der Einstecker abgeschlossen hatte, überwachte der Archon wohl zunächst das ordnungsgemäße Einstecken der Ausweise. Er musste auf jeden Fall zumindest so lange warten, bis die Einstecker an der ersten Losmaschine fertig waren, bevor er fortfahren konnte, da er erst dann wusste, wie viele schwarze Kugeln er nehmen musste (s. u.). Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass er das Einstecken der Ausweise an beiden Losmaschinen überwachte, um Manipulationen oder Fehler (z. B. Auslassen eines Schlitzes) zu verhindern.39

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Aristoph. Eccl. 681–683 impliziert, dass die dort erwähnten Losmaschinen transportabel waren. Hommel 1927, 65; Dow 1939, 29; Rhodes 1981, 708; Chambers 1990, 422. Dow 1939, 28f. Die Tische sind natürlich nicht zwingend erforderlich und in Hinsicht auf die Dauer der Auslosung irrelevant, die Kisten stehen so nur in einer bequemeren Höhe und der Auslosungsbereich ist klarer strukturiert. 39 Dow 1939, 29 und Boegehold 1995, 37 gehen ebenfalls davon aus, dass der Archon erst weiter machte, wenn alle Ausweise eingesteckt waren.

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Für die weitere Auslosung mithilfe der Losmaschinen wurden nur volle horizontale Reihen berücksichtigt. Diejenigen, deren Ausweise unterhalb der letzten vollen Reihe steckten, hatten keine Chance, an diesem Tag als Geschworene zu amtieren. 40 Der Archon gebrauchte die beiden Losmaschinen nacheinander, indem er schwarze und weiße Bronzekugeln 41 in die Losmaschinen schüttete und diese einzeln nacheinander wieder herausnahm. War die erste Kugel weiß, so waren die Männer, deren Ausweise in der ersten horizontalen Reihe steckten, als Geschworene ausgelost; war sie schwarz, so waren sie abgelehnt usw. (64,3). Dazu musste der Archon nun zunächst die vollen Spalten in der ersten Losmaschine zählen, um die Anzahl der benötigten schwarzen Kugeln festzulegen. Wenn bspw. in den Spalten der Losmaschine 23, 17, 19, 21 und 24 Ausweise steckten und 9 weiße Kugeln benutzt wurden, waren noch 8 schwarze Kugeln erforderlich, um für jede der 17 vollen Reihen eine Kugel zu haben. Die Anzahl der benötigten weißen Kugeln an einem Eingang berechnete sich dabei wie folgt: (Zahl der in dieser Phyle auszulosenden Geschworenen – 10 Einstecker): 5. Wenn die Phyle 100 Geschworene stellen sollte, wurden also 18 weiße Kugeln benötigt, 9 pro Losmaschine.42 Wo waren die weißen und schwarzen Kugeln, bevor der Archon sie in die Losmaschine schüttete? An dem Eingang jeder Phyle befanden sich 2 Urnen (ὑδρίαι) (63,2).43 Im nächsten 40 Dow 1939, 29–31; Rhodes 1981, 708; Chambers 1990, 421. 41 In 64,3 ist von schwarzen und weißen „Würfeln“ (κύβοι) aus Bronze die Rede. Dow 1937, 213 mit Anm. 2 und 214 nahm diese Angabe wörtlich und ging daher davon aus, dass die Losmaschinen der Athenaion Politeia von den erhaltenen in Hinblick auf das Rohr und den Trichter verschieden waren. Bei der Zeichnung (Dow 1939, gegenüber von S. 1, hier Abb. 1) entschied er sich allerdings für Kugeln (1: „Not knowing yet just how cubes can have been used, I have drawn spheres in the tube.“). Praktische Versuche mit Würfeln unterschiedlicher Größe durch uns zeigten deren Untauglichkeit, da sie sich in dem Rohr sehr häufig verkanteten. Insgesamt erscheint es daher am wahrscheinlichsten, dass in 64,3 Kugeln gemeint sind (so z. B. auch Chambers 1990, 421: „In der Tat waren es wohl Kugeln [...]. Vielleicht hießen sie deshalb Würfel, weil sie in einem Verfahren benutzt wurden, wo das Glück eine Rolle spielte.“). Ansprechend ist die Vermutung von Bishop 1970, 12, dass bei der Auslosung ursprünglich Würfel benutzt und nach der Umstellung auf Kugeln der Begriff κύβοι beibehalten wurde. Zu den auf der Agora gefundenen Bronzekugeln (Durchmesser 1,5–1,7 cm) vgl. Boegehold 1995, 65f., der allerdings bezweifelt (64), dass eine von ihnen den in 64,3 genannten „Würfeln“ entspricht; vgl. aber ders. 1995, 32 Anm. 42: „[...] bronze balls (and two terracotta balls) found in the Agora excavations are of the right size to have been used the same way (sc. wie die „Würfel“)“. 42 Es sei denn, die weißen Kugeln für die erste Losmaschine wurden nach deren Gebrauch auch für die zweite benutzt, dann waren im obigen Beispiel natürlich nur 9 weiße Kugeln nötig. Richtig zur Berechnung der Anzahl der weißen und schwarzen Kugeln Dow 1939, 29 und Chambers 1995, 422; zumindest missverständlich dagegen Hansen 1991, 198: „Beside the kleroterion ran a narrow vertical tube, and into this tube were put black balls and white balls (the white balls numbering exactly a fifth of the total of jurors from that tribe needed for the day)“. [vgl. in der dt. Übersetzung (Hansen 1995, 205): „In die Seite des Kleroterion war eine senkrechte Röhre hineingebohrt, und in diese Röhre waren schwarze und weiße Bällchen getan worden (an weißen Bällchen genau ein Fünftel von der Anzahl der für diesen Tag benötigten Richter).“] und Bleicken 1995, 317: „Wurden also an einem Tag 1000 Richter gebraucht und hatte demnach jedes der 20 Kleroteria 50 Richter zu benennen, mußten zehn weiße und soviele schwarze Kugeln in die Tube gefüllt werden, wie es an den einzelnen Kleroterien volle waagerechte Reihen minus 10 gab.“ 43 Bei der Erwähnung der 10 Eingänge und der Aufzählung der dort für die Auslosung verwendeten Gegenstände in 63,2 setzt die Athenaion Politeia dreimal zur Präzisierung der genannten Zahl „für jede Phyle“ (τῆι φυλῆι ἑκάστηι) hinzu („Es gibt zehn Eingänge zu den Gerichten, einen für jede Phyle, und zwanzig Losmaschinen, zwei für jede Phyle, und hundert Kisten, zehn für jede Phyle, und weitere Kisten, in die die Ausweise der ausgelosten Geschworenen gelegt werden, und zwei Urnen.“). Obwohl bei den Urnen

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Satz werden dann die „Eicheln“ erwähnt, die „in die Urne“ (εἰς τὴν ὑδρίαν) gelegt werden (63,2). Die Frage, ob dies eine dritte Urne oder eine der beiden vorgenannten ist, lässt sich nicht sicher entscheiden.44 Neben der Urne für die „Eicheln“ ist zumindest noch ein weiteres Gefäß für die schwarzen Kugeln nötig, in dem sich wenigstens so viele Kugeln befinden, wie für eine Losmaschine bei maximaler Teilnehmerzahl benötigt werden. 45 Aus diesem Reservoir entnimmt der Archon dann die Anzahl schwarzer Kugeln, die er braucht, um zusammen mit den weißen Kugeln auf die Anzahl voller horizontaler Reihen zu kommen (s. o.). Der Archon benutzte außerdem vermutlich irgendein kleines Gefäß, ein Körbchen oder einen Beutel, um die schwarzen und weißen Kugeln in das Rohr bzw. in den Trichter über dem Rohr an der Losmaschine zu schütten. 46 Hier hinein könnte er schon vor Beginn der Auslosung die abgezählten weißen Kugeln legen, eine dritte Urne zu ihrer Aufbewahrung wäre dann unnötig. Bei unserem Experiment haben wir für diesen Zweck zwei Leinenbeutel 47 genommen, in denen die benötigten weißen Kugeln bereitlagen, und daher nur zwei Urnen benutzt, eine für die schwarzen Kugeln und eine für die „Eicheln“. 48 Ein Leinenbeutel schien uns statt eines offenen Gefäßes zum Mischen und Einfüllen der Kugeln insofern geeigneter, als der Archon die Kugeln nicht sehen kann und somit Manipulationen in Hinblick auf die Reihenfolge der eingefüllten Kugeln ausgeschlossen sind. Die Kleroterien müssen eine Vorrichtung gehabt haben, die es erlaubte, nacheinander immer nur eine Kugel aus dem Rohr unten herauszulassen. Wie diese Vorrichtung beschaffen war, ist unbekannt.49 Wir haben uns für eine unmittelbar unter dem Rohr befestigte drehbare

44

45 46

47 48 49

dieser erläuternde Zusatz fehlt, muss sich die Angabe – wie auch die Erwähnung der „weiteren Kisten“ – ebenfalls auf jede Phyle beziehen (so schon Hommel 1927, 58), zumal weder für die beiden Urnen noch für die „weiteren Kisten“ eine Funktion im Rahmen der Auslosung der Geschworenen erkennbar wäre, wenn sie von allen 10 Phylen gemeinsam benutzt würden (es also insgesamt nur zwei statt 20 Urnen geben würde). Außerdem werden zumindest die „weiteren Kisten“ im Verlauf der Auslosung bei jedem Eingang benötigt (s. u.). Chambers 1990, 417 geht von drei Urnen aus: eine für die weißen Kugeln, eine für die schwarzen und eine für die „Eicheln“, Rhodes 1981, 702 dagegen von zwei und vermutet, dass sie die „Eicheln“ enthielten und bei jeder Losmaschine eine Urne stand (so schon Hommel 1927, 58; in unserem Versuchsaufbau ist nur eine Urne für die „Eicheln“ erforderlich, s. u.). Boegehold 1995, 37 erwähnt in seiner Beschreibung des Losvorgangs nur eine Urne, und zwar die mit den „Eicheln“. Vorausgesetzt, der Archon benutzt nach Gebrauch der ersten Losmaschine die dort verwendeten schwarzen Kugeln auch für die zweite. Ansonsten wird die doppelte Anzahl schwarzer Kugeln benötigt. Dow 1939, 14f. und 29; Chambers 1990, 421f.; Boegehold 1995, 37 und 215. Vgl. Aristoph. Vesp. 673f. (κηϑάριον) mit der Erläuterung Schol. Aristoph. Vesp. 674. – Bishop 1970, 9f. versteht das bei Hesych. s. v. κήτιον erwähnte Ketion als einen mit einem Haken versehenen Stab, der dazu diente, Kugeln, die sich gegenseitig in dem Trichter blockierten, anzustoßen, so dass sie in das Rohr herabrollten. Bei unseren zahlreichen Versuchen trat eine solche Blockade allerdings nie auf, so dass wir auf ein solches Hilfsmittel verzichteten. Vgl. Abb. 4. Falls man doch eine weitere, dritte Urne für die weißen Kugeln nähme, würde sich die Auslosung gegenüber unserer Variante um einige Sekunden verlängern, da die benötigten weißen Kugeln für jede Losmaschine erst aus der Urne genommen werden müssten, während sie bei uns schon in den Leinenbeuteln sind. Vgl. Dow 1937, 199 zu Nr. I: „Above and below the lower cleat cutting are nail-holes, which show that this cutting served for something more than mere support: doubtless for a catch which would release one ball at a time. The simplest form for this catch, though not the only device which is conceivable, would be a hemisphere operated by a crank.“ (vgl. die Diagramme bei Dow 1937, 201 und Dow 1940, 325 sowie hier Abb. 1). Vgl. aber die Einwände von Bishop 1970, 1f. gegen Dows Mechanismus und seinen Vorschlag (2):

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runde Holzscheibe entschieden, die an einer Stelle eine Vertiefung aufweist, die der Größe einer Kugel entspricht (Abb. 5). Bei jeder vollen Drehung fällt eine Kugel in diese Vertiefung. Was machte der Archon mit den Kugeln, nachdem er sie unten aus dem Rohr herausgelassen hatte? Bishop hat die Vermutung geäußert, dass die Kugeln irgendwo sichtbar abgelegt worden sind, um den Archon kontrollieren zu können. 50 Wir waren der Ansicht, dass dem wichtigen Aspekt der Transparenz des Verfahrens ausreichend Genüge getan wird, wenn der Archon bei jeder Kugel, die er aus dem Rohr entnimmt, (auch den schwarzen) laut die Farbe nennt, sie kurz hochhält, damit alle ihre Farbe sehen können, und sie anschließend auf dem Tisch, auf dem die beiden Urnen stehen, irgendwo ablegt. Da bei uns nach jeder Kugel die Ausweise der entsprechenden horizontalen Reihe entnommen wurden (s. u.), brauchten die Kugeln auf dem Tisch nicht in der gezogenen Reihenfolge zu liegen. Die fünf durch das Ziehen einer weißen Kugel als Geschworene ausgelosten Männer wurden von dem Herold aufgerufen,51 und zwar wohl jedes Mal sofort, wenn der Archon eine weiße Kugel gezogen hatte.52 Woher kennt der Herold die Namen? Wer nimmt die Ausweise aus der Losmaschine? Dafür kommen folgende Möglichkeiten in Betracht: 1. Der Herold hat den Ausweis, und zwar, a) weil er ihn selbst der Losmaschine entnommen hat, b) er ihn vom Archon bekommen hat, der ihn der Losmaschine entnommen hat, c) ein (wohl kaum mehrere) Einstecker ihn der Losmaschine entnommen hat (haben),53 2. derjenige, der den Ausweis der Losmaschine entnimmt, liest ihn dem Herold vor und der ruft den Namen dann laut auf, 3. derjenige, der den Ausweis der Losmaschine entnimmt, zeigt ihn dem Herold und der liest den Namen ab und ruft den Namen dann laut auf.54 Nach unseren Erfahrungen gibt es die wenigsten Fehler und

50

51 52 53 54

„The nail holes in [Nr. K.S.] I are not features designed for support, but are merely places to insert projections. The release device consisted of two spikes or spits or nails or wooden pegs running transversely through the tube; [...] The operation is simple. The upper spit supported the column of lots. When it was withdrawn, the column dropped down to the lower spit. When the upper spit was re-inserted, it was pushed between the two bottom lots, thus separating the bottom lot from the rest of the column. Then the lower spit was withdrawn, and the ball dropped out to complete the allotment.“ (vgl. Staveley 1972, 65 Fig. I; zustimmend zu Bishops Rekonstruktion Chambers 1990, 422). Den gleichen Mechanismus nimmt Bishop 1970, 2–5 auch für Nr. X an. Bishop 1970, 13f. geht davon aus, dass die Rohre nur für die Auslosung an den Kleroterien angebracht und ansonsten irgendwo sicher aufbewahrt wurden, um Beschädigungen etc. zu vermeiden. Bei unseren Losmaschinen werden die Rohre durch Klammern gehalten und sind leicht abzunehmen bzw. anzubringen, dieser Aspekt spielt jedoch für die eigentliche Auslosung keine Rolle. Vgl. Bishop 1970, 4: „The visibility of the lot is a prime consideration right up until the pinacia have been disposed of according to the directions of the lot. Thereafter the lot is a historical record of what happened; but for how long a time is it necessary to have a record that the first group was rejected but the second and third accepted, etc? If until the allotment has been completed and all candidates have had their turn, then some sort of receptacle seems indicated, something with a display gallery to contain all the used lots in their order, something which the operator would not touch until his duties were fulfilled.“ Vgl. aber Rhodes 1981, 709: „[...] it seems unlikely that the κληρωτήρια contained a provision for retaining a display of the black and white ballots in the order in which they had emerged [...]“. 64,3. Ungenau Boegehold 1995, 37: „The archon took the validated pinakia one by one and, by calling out the names written on them, summoned the dikasts one at a time [...].“ Dow 1939, 30; Bishop 1970, 7; Rhodes 1981, 709; Chambers 1990, 422. Nach Hommel 1927, 64 nehmen die Einstecker die Ausweise ab (die hängen bei ihm ja an horizontalen Reihen von Dornen oder Stängchen). Er sagt nichts dazu, was sie dann mit den Ausweisen machen, also woher der Herold die Namen kennt. So Dow 1939, 30 (der Archon entnimmt die Ausweise und zeigt sie dem Herold).

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die geringsten Verzögerungen, wenn der Herold den Ausweis selbst hat (Variante 1). Die wichtige Aufgabe der korrekten Entnahme der Ausweise wurde sicherlich von dem Archon übernommen,55 da man bei ihm die Gefahr von Manipulationen des Verfahrens als geringer ansah als bei den Einsteckern oder dem Herold. Von der Ziehung der „Eicheln“ abgesehen war der Archon für alle wichtigen Schritte des Losverfahrens selbst zuständig: für das Mischen und Einfüllen der Kugeln, die Entnahme der Kugeln und Ausweise sowie für das Hineinlegen der Ausweise in die Kiste des jeweiligen Gerichts (s. u.). Er entnimmt daher bei uns die Ausweise und gibt sie dem Herold. Für die Aufgerufenen schloss sich nun unmittelbar eine zweite Auslosung an, mit der sie auf die an diesem Tag tagenden Gerichte verteilt wurden. 56 Zu diesem Zweck zog jeder, der vom Herold aufgerufen wurde, eine „Eichel“ (βάλανος), auf der ein Buchstabe (sc. ab Lambda) der an diesem Tag zu besetzenden Gerichte stand, aus der entsprechenden Urne, 57 zeigte sie dem Archon so, dass er den Buchstaben lesen konnte, und der legte dann dessen Ausweis in eine neben ihm stehende Kiste (κιβώτιον), auf der derselbe Buchstabe stand wie auf der „Eichel“.58 Wir haben für diese zweite Auslosung einen Tisch in der Mitte zwischen den Losmaschinen, leicht nach hinten versetzt, aufgestellt, auf dem sich neben der Urne für die schwarzen Kugeln und den beiden Leinenbeuteln mit den weißen Kugeln die Urne mit den „Eicheln“ und die Kisten für die Ausweise der ausgelosten Geschworenen befanden (Abb. 2–4). Bei uns gibt der Herold, wenn er den Namen aufgerufen hat, dem Archon den Ausweis zurück, 59 der tritt links an den Tisch, der Aufgerufene geht rechts an den Tisch, zieht eine „Eichel“, 55 Dow 1939, 30; Boegehold 1995, 37. 56 Hommel 1927, 66; Dow 1939, 30; Rhodes 1981, 709, Boegehold 1995, 37. Nach Hansen 1991, 198f. (vgl. ders. 1995, 206) und Bleicken 1995, 317 begann diese zweite Auslosung dagegen erst, nachdem die Auslosung mit den Kleroterien abgeschlossen war (bei Chambers 1990, 422 bleibt unklar, welche der beiden Möglichkeiten er präferiert). Der griechische Text legt m. E. aber nahe, dass die vom Herold Aufgerufenen jeweils sofort zu der Urne gingen und eine „Eichel“ zogen. Andernfalls hätten die Aufgerufenen (häufig 100 oder noch mehr Mann!) außerdem irgendwo bis zum Beginn der zweiten Auslosung separiert und überwacht werden müssen, um zu verhindern, dass es zu Bestechungen oder anderen Manipulationen kam. Da war es doch viel einfacher und sicherer, die Aufgerufenen sofort per Los auf die Gerichtshöfe zu verteilen und in den abgegrenzten Gerichtsbezirk eintreten zu lassen (s. u.). 57 Gemeint ist die bereits 63,2 erwähnte ὑδρία. Hansen 1991, 199 spricht ungenau von „basket“ (vgl. Hansen 1995, 206: „Korb“). In der Urne befanden sich für jedes an diesem Tag zu besetzende Gericht so viele „Eicheln“ mit dem jeweiligen Buchstaben des Gerichts, wie die Phyle an Geschworenen stellen sollte (vgl. 63,2). 58 64,4. Wobei es sich bei den „Eicheln“ handelte (sicherlich keine echten Eicheln), ist unklar, vgl. Hommel 1927, 66 („wohl [...] eichelförmige Metallstückchen“); Rhodes 1981, 702 („The βάλανοι are acorns, or (by the time of A.P., more probably) manufactured tokens resembling or replacing acorns.“); Chambers 1990, 422 („wohl ein Kiesel“). Wir haben Holzkugeln genommen (vgl. Abb. 6). Missverständlich zur Prozedur Rhodes 1981, 710: „Each juror, when he has drawn his βάλανοϛ, first shows it to the archon, who takes his πινάκιον from the κληρωτήριον and drops it into the box bearing the same letter as his βάλανοϛ;“ [Hervorhebung K.S.]. Wenn der Archon den Ausweis gezogen hat, gibt er ihn entweder dem Herold (so bei uns) oder er zeigt ihn ihm bzw. liest ihn ihm vor (und der Herold ruft den Namen dann laut auf). Entweder hat also der Herold den Ausweis (und gibt ihn anschließend dem Archon oder dem Aufgerufenen) oder der Archon hat den Ausweis in der Hand, auf jeden Fall steckt der Ausweis nicht mehr in der Losmaschine (und es ist auch nicht einzusehen, warum er wieder dorthin zurückgesteckt werden sollte). 59 Alternativ könnte der Herold den Ausweis auch dem Aufgerufenen geben (so Chambers 1990, 422) und der gibt ihn, wenn er die „Eichel“ zieht, wieder dem Archon.

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zeigt sie dem Archon und der legt den Ausweis in die entsprechende Kiste. Anschließend geht der Archon zurück zu der Losmaschine, entnimmt den nächsten Ausweis, gibt ihn dem Herold etc., bis er den Ausweis des fünften Aufgerufenen in die entsprechende Kiste gelegt hat. Dann zieht er die nächste Kugel aus der Losmaschine. Wenn der Aufgerufene seine „Eichel“ gezogen hatte, zeigte er einem Diener, sicherlich demselben, der am Anfang die Kisten geschüttelt hatte,60 seine „Eichel“ und der gab ihm einen Stab (βακτηρία), der in der Farbe des Gerichts markiert war, das den gleichen Buchstaben wie seine „Eichel“ trug. Anschließend betrat er durch den Eingang den Gerichtsbezirk.61 Bei unserem Experiment haben wir für den Diener einen weiteren Tisch, auf dem die Stäbe lagen, kurz hinter dem Tisch mit den Urnen aufgestellt, und zwar leicht nach rechts versetzt, so dass die Teilnehmer, nachdem sie ihre „Eichel“ gezogen hatten, direkt geradeaus vor ihn traten (Abb. 2–4). Behälter für die Stäbe62 erwiesen sich bei uns als unnötig. Wir haben für den Diener allerdings ein Blatt auf den Tisch gelegt, auf dem die BuchstabenFarben-Zuordnung stand, um die Ausgabe von falschen Stäben zu vermeiden. Wenn die ausgelosten Geschworenen den Gerichtsbezirk betreten hatten, gingen sie zu dem Gericht, das mit demselben Buchstaben wie ihre „Eichel“ und derselben Farbe wie ihr Stab markiert war (65,2). Wir haben ca. 10–15 m hinter dem Tisch des Dieners an drei Stellen farbige Blätter mit den Buchstaben Λ, Μ, und Ν angebracht, die den Eingang der Gerichte symbolisierten (Abb. 2). An diesem Punkt endete unser Experiment, die weiteren Schritte und Losungen bis zum eigentlichen Beginn der Gerichtsverfahren (vgl. 65,2–66,2) haben wir nicht mehr berücksichtigt, da es uns nur um das Losverfahren mit den Kleroterien ging.

60 Vgl. Hommel 1927, 62; Rhodes 1981, 705. Es ist unnötig, hier einen weiteren Diener anzunehmen (so Chambers 1990, 423). 61 So ist jedenfalls m. E. mit Hommel 1927, 66 die Schilderung des Vorgangs in 65,1 zu verstehen: Αὐ[τ]ὸς δὲ δείξ]ας πάλιν τ[ῶι ὑ]πηρέτῃ εἶ[τ᾽] ἐ[ντὸς εἰσέρχετ]αι τῆς κ[ι]γκλ[ί]δος. ὁ δ᾽ ὑπηρέτης [δίδωσιν αὐτῶ]ι [β]ακτηρίαν ὁμόχρων τῷ δικαστ[ηρίωι οὗ τὸ] αὐτὸ [γ]ράμμα ἐσ[τὶν] ὅπερ ἐν τῇ βαλάνωι [...]. Die Athenaion Politeia erwähnt also 1. das erneute Vorzeigen der „Eichel“, diesmal bei dem Diener, 2. das Betreten des Gerichtsbezirks und 3. das Aushändigen des Stabes durch den Diener. Der hier suggerierte Dreiakter – Zeigen der „Eichel“ vor dem Eingang, Durchschreiten des Eingangs, Ausgabe des Stabes hinter dem Eingang (womöglich noch durch einen weiteren Diener) – entbehrt jeder Wahrscheinlich- und Notwendigkeit. Entweder erfolgten das Vorzeigen der „Eichel“ und die Aushändigung des Stabes vor oder hinter dem Eingang, beides ist grundsätzlich denkbar (für die Dauer der Auslosung ist dies belanglos), aber die Formulierung in 65,1 legt doch nahe, dass das Vorzeigen der „Eichel“ (und damit eben auch die Aushändigung des Stabes) vor dem Eingang erfolgte. Von der Ausgabe des Stabes hinter dem Eingang gehen dagegen Dow 1939, 19; Chambers 1990, 423; Hansen 1991, 199 (ders. 1995, 206) und Boegehold 1995, 37 und 199 aus. Bei Rhodes 1981, 711 („at the κιγκλίς each juror is handed a staff [...]“) wird nicht recht deutlich, ob der Geschworene den Stab vor oder hinter dem Eingang bekommt. Falls der Gerichtsbezirk durch eine Absperrung umgeben gewesen sein sollte, die mannshoch war und damit die Sicht auf Vorgänge hinter dem Eingang verwehrte oder doch zumindest stark einschränkte, wäre auch dies unter dem Aspekt der Kontrolle und Transparenz ein Argument dafür, die Ausgabe der Stäbe vor dem Eingang durchzuführen. – Die Anzahl der verschiedenen Stäbe war in gleicher Weise abgezählt wie die Anzahl der „Eicheln“, d. h. es lagen exakt so viele Stäbe in jeder Farbe bereit, wie Geschworene von der Phyle für die einzelnen Gerichte gestellt wurden (vgl. 63,2). 62 Vgl. Hommel 1927, 57: „vielleicht nach ihrer Farbe in verschiedenen Körbchen verwahrt“.

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Was passiert, wenn der Archon eine schwarze Kugel zieht? Werden die entsprechenden fünf Ausweise dann direkt zurückgegeben?63 Dies hätte auf jeden Fall erheblich länger gedauert als eine Rückgabe aller verbliebenen Ausweise zusammen am Ende der Auslosung, die vielleicht auch noch aus anderen Gründen wünschenswert war. 64 Letzteres erscheint daher wahrscheinlicher.65 Wenn die Ausweise allerdings in der Losmaschine stecken blieben, konnte dies zu Verwirrung und Fehlern führen. So war vielleicht, wenn z. B. nach mehreren schwarzen eine weiße Kugel kam, nicht auf Anhieb klar, auf welche horizontale Reihe von Ausweisen sich diese Kugel bezog. Wir haben uns daher dafür entschieden, dass der Archon bei einer schwarzen Kugel die Ausweise aus der Losmaschine herausnimmt und in die jeweilige Kiste legt (also den Ausweis aus der Spalte Alpha in die Kiste mit dem Buchstaben Alpha etc.). Diese Kisten stehen bei uns auf Tischen unmittelbar neben den Losmaschinen, so dass der Archon die Ausweise bequem in sie hineinlegen kann (Abb. 2 und 3). Was ist, wenn die letzte weiße Kugel gezogen wird, aber noch schwarze im Rohr sind? Wird die Auslosung dann abgebrochen und diese werden nicht mehr gezogen?66 Aus Gründen der Transparenz und Kontrolle haben wir uns dafür entschieden, dass alle Kugeln gezogen werden. Anschließend entnimmt der Archon auch die Ausweise unterhalb der letzten vollen horizontalen Reihe und legt sie in die entsprechenden Kisten. Wenn die Auslosung an beiden Losmaschinen beendet war, erfolgte die Rückgabe der Ausweise, und zwar durch die Einstecker (65,3). Der Umstand, dass alle Einstecker (und nur sie) die Ausweise zurückgeben, spricht dafür, dass jeder Einstecker dies für seine Abteilung übernimmt, jedenfalls würde dies die Rückgabe sehr erleichtern und beschleunigen. Diese Überlegung war auch ein Grund dafür, dass bei uns die Ausweise derjenigen, die nicht als Geschworene ausgelost werden, in die jeweilige Kiste zurückgelegt werden (s. o.). Die fünf Einstecker der ersten Losmaschine könnten die Ausweise ihrer Abteilung zwar schon zurückgeben, sobald die Auslosung an ihrer Losmaschine beendet ist. Dies würde allerdings zu Unruhe führen und das Aufrufen der weiteren Ausgelosten erschweren. Wir haben uns daher entschieden, alle Ausweise erst nach dem Ende der Auslosung zurückgeben zu lassen. Die Einstecker nehmen dazu ihre Kisten und stellen sich vor die erste Tischreihe. Um sie herum gruppieren sich ihre Abteilungsangehörigen und es erfolgt die Rückgabe der Ausweise. Die Einstecker müssen nun auch selbst noch „Eicheln“ ziehen etc.67 Sie tun dies in gleicher Weise wie oben beschrieben, nur mit dem Unterschied, dass sie vor dem Ziehen der

63 So Hommel 1927, 64; von Fritz/Kapp 1950, 198; Bishop 1970, 7; Rhodes 1981, 713 (der aber als mögliche Alternative die Rückgabe aller Ausweise zusammen am Ende der Auslosung nennt); Hansen 1991, 198 (ders. 1995, 205f.). 64 Vgl. Chambers 1990, 422: „das Gedränge wäre beträchtlich beschränkt worden, wenn die abgelehnten Bewerber sofort ihre Pinakien zurückbekommen hätten und entlassen worden wären, aber vielleicht sollten sie doch warten, bis die Dikasterien wirklich besetzt wurden, und die Beamten darüber im klaren waren, daß keine zusätzlichen Dikasten gebraucht wurden.“ Für die Rückgabe am Ende der Auslosung spricht auch, dass sie erst in 65,3 erwähnt wird. 65 Die Ausweise bleiben stecken, Rückgabe aller Ausweise erst am Ende der Auslosung: Dow 1939, 30; Chambers 1990, 422; Boegehold 1995, 37. 66 So Hansen 1991, 198 (ders. 1995, 206). 67 Dieser Vorgang wird in der Athenaion Politeia nicht erwähnt.

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„Eichel“ dem Archon ihren Ausweis geben. Wenn der letzte Einstecker sein Gericht erreicht hat, endet unser Experiment. Aus den obigen Überlegungen ergab sich folgendes „Drehbuch“ für unsere Auslosung, wobei noch einmal betont werden muss, dass wir uns an mehreren Stellen für eine uns plausibel erscheinende Möglichkeit entschieden haben, ohne den Anspruch zu erheben, dass das Verfahren so und nur genauso tatsächlich in der Antike abgelaufen ist:68 Nachdem alle Teilnehmer ihre Ausweise in die entsprechenden Kisten gelegt haben, gibt der Archon (steht hinter der Kiste mit dem Buchstaben Alpha) dem Diener (steht neben dem Archon) die Anweisung, mit dem Schütteln der Kisten anzufangen (= Beginn der Zeitnahme für die Dauer der Auslosung). Sobald der Diener die erste Kiste geschüttelt hat, zieht der Archon daraus einen Ausweis und gibt ihn dem Herold (steht neben dem Archon), der den Namen des so als Einstecker Ausgelosten laut aufruft. Währenddessen schüttelt der Diener nacheinander auch die anderen Kisten. Wenn er damit fertig ist, setzt er sich hinter den Tisch mit den Stäben. Der Teilnehmer, der vom Herold aufgerufen wird, kommt nach vorne an die erste Tischreihe, nimmt die Kiste mit dem Buchstaben Alpha, geht weiter zum Herold, nimmt von ihm seinen Ausweis, geht zur linken Losmaschine und beginnt mit dem Einstecken der Ausweise mit der Schrift nach oben und dem Buchstaben der Sektion nach hinten von oben nach unten in die linke Spalte. Wenn er fertig ist, stellt er seine Kiste auf die Tische links neben die Losmaschine auf das dort befestigte Blatt mit dem Buchstaben Alpha (so dass nachher die fünf Kisten in alphabetischer Reihenfolge von links nach rechts dicht nebeneinander neben der Losmaschine stehen; Abb. 2 und 3) und stellt sich hinter dem Tisch hinter seiner Kiste auf. Unterdessen fährt der Archon mit dem Ziehen der Ausweise aus den Kisten fort, gibt die Ausweise an den Herold weiter etc. Wenn er damit fertig ist, geht er zu den Losmaschinen und überwacht das Einstecken der Ausweise. Die neun weiteren Teilnehmer, die vom Herold als Einstecker aufgerufen werden, verhalten sich analog zu dem ersten Einstecker. Wenn der Herold den letzten Einstecker aufgerufen hat, geht er zu der linken Losmaschine. Wenn der letzte Einstecker fertig ist, zählt der Archon in der linken Losmaschine die Anzahl der vollen waagerechten Ausweisreihen, nimmt aus der linken Urne auf dem Tisch zwischen den Losmaschinen so viele schwarze Kugeln, dass sie zusammen mit den weißen Kugeln, die für beide Losmaschinen schon abgezählt in den Leinenbeuteln auf demselben Tisch liegen, der Anzahl der vollen waagerechten Ausweisreihen entsprechen, legt sie zu den weißen in einen der beiden Beutel, zieht ihn zu, schüttelt ihn (zum Mischen), schüttet die Kugeln aus dem Beutel in den Trichter über dem Rohr an der Losmaschine und legt den Beutel zurück auf den Tisch. Dann lässt er nacheinander die Kugeln unten aus dem Rohr heraus. Wenn der Archon als erste eine weiße Kugel zieht, entnimmt er sie, sagt laut ihre Farbe, hält sie kurz hoch, so dass alle ihre Farbe sehen können, und legt die Kugel auf dem Tisch 68 Personen: Archon, Herold, Diener, Teilnehmer (potentielle Geschworene). Material: 10 Kisten mit den Buchstaben Alpha bis Kappa, 2 Losmaschinen, 1 Urne mit schwarzen Kugeln, 1 Urne mit Kugeln (= „Eicheln“), auf denen der Buchstabe Lambda, My oder Ny steht, 2 Leinenbeutel, in denen sich die abgezählten weißen Kugeln befinden, 3 Kisten mit den Buchstaben Lambda, My und Ny, rot, blau oder grün angemalte Holzstäbe in gleicher Anzahl wie die „Eicheln“, Ausweise für die Teilnehmer.

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zwischen den Losmaschinen ab. Dann nimmt er den linken Ausweis (Spalte Alpha) aus der ersten waagerechten Reihe, gibt ihn dem Herold (steht neben ihm), der liest den Namen laut vor und gibt dem Archon den Ausweis zurück, der sich links neben den Tisch zwischen den Losmaschinen stellt. Währenddessen kommt der aufgerufene Teilnehmer nach vorne, tritt rechts neben den Tisch, zieht aus der rechten Urne eine „Eichel“ und zeigt sie dem Archon so, dass er den Buchstaben auf der „Eichel“ sehen kann. Der Archon legt daraufhin den Ausweis des Aufgerufenen in die Kiste, auf der sich derselbe Buchstabe wie auf der „Eichel“ befindet und die links von ihm zusammen mit den beiden anderen Kisten, die die Buchstaben der an diesem Tag zu besetzenden Gerichte tragen (Lambda, My und Ny), auf dem Tisch stehen. Wenn der Teilnehmer dem Archon seine „Eichel“ gezeigt hat, geht er weiter zu dem Tisch, hinter dem der Diener sitzt, und zeigt ihm seine „Eichel“. Der Diener gibt ihm einen Stab in der entsprechenden Farbe (Lambda ≈ grün, My ≈ blau und Ny ≈ rot) und der Teilnehmer geht nach hinten zu seinem Gericht, d. h. zu dem Blatt mit demselben Buchstaben wie auf seiner „Eichel“ und mit derselben Farbe wie sein Stab. Wenn der Archon den Ausweis des ersten ausgelosten Teilnehmers in die Kiste gelegt hat, geht er zur Losmaschine, nimmt den zweiten Ausweis heraus, gibt ihn dem Herold etc. Wenn er den fünften Ausweis in die Kiste gelegt hat, geht er zur Losmaschine und zieht die nächste Kugel. Wenn die erste Kugel schwarz ist, entnimmt der Archon sie, sagt laut ihre Farbe, hält sie kurz hoch, so dass alle ihre Farbe sehen können, und legt sie auf dem Tisch zwischen den Losmaschinen ab. Dann nimmt er die fünf Ausweise aus der ersten waagerechten Reihe nacheinander heraus und legt sie in die entsprechenden Kisten, die links neben der Losmaschine auf den Tischen stehen. Anschließend zieht er die nächste Kugel. In dieser Weise werden alle Kugeln in der linken Losmaschine gezogen. Ist die letzte Kugel weiß, geht der Archon, nachdem er den Ausweis des letzten ausgelosten Teilnehmers in die Kiste gelegt hat, zur Losmaschine, entnimmt spaltenweise die Ausweise aus den nicht vollen horizontalen Reihen und legt sie in die entsprechenden Kisten, die links neben der Losmaschine auf den Tischen stehen. Ist die letzte Kugel schwarz, entnimmt der Archon, nachdem er die Kugel genommen, laut ihre Farbe gesagt, sie kurz hochgehalten und auf dem Tisch zwischen den Losmaschinen abgelegt hat, spaltenweise die Ausweise aus der letzten vollen und aus den nicht vollen horizontalen Reihen und legt sie in die entsprechenden Kisten, die links neben der Losmaschine auf den Tischen stehen. Anschließend wird in gleicher Weise die rechte Losmaschine benutzt. Sobald der Archon den letzten Ausweis in die Kisten gelegt hat, die rechts neben der Losmaschine auf den Tischen stehen, nehmen die Einstecker ihre Kisten, gehen nach vorne vor die vordere Tischreihe und stellen sich dort in einem gewissen Abstand nebeneinander auf. Die Teilnehmer aus derselben Abteilung gehen zu „ihrem“ Einstecker, gruppieren sich um ihn und dieser liest die Namen vor und gibt ihnen ihre Ausweise zurück. Wenn ein Einstecker alle Ausweise zurückgegeben hat, stellt er seine Kiste irgendwo auf der vorderen Tischreihe ab, geht zu dem Tisch mit den Urnen, gibt dem Archon seinen Ausweis, zieht eine „Eichel“, zeigt sie dem Archon, der seinen Ausweis in die Kiste des entsprechenden Gerichts legt, geht weiter zum Tisch des Dieners, zeigt ihm seine „Eichel“, bekommt von ihm einen entsprechenden Stab und geht dann zu seinem Gericht. Ist der letzte Einstecker an seinem Gericht angekommen, ist das Experiment beendet (= Ende der Zeitnahme).

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An dem Experiment nahmen knapp 100 Personen teil. Wir haben zunächst den Ablauf der Auslosung ausführlich erklärt und anschließend zwei Durchläufe durchgespielt. Das gesamte Experiment ist von zwei Kameras gefilmt worden (Abb. 3). Das Experiment bestätigte zunächst einmal die Praktikabilität unserer theoretischen Rekonstruktion, d. h. das Auslosungsverfahren funktionierte in der Praxis problemlos, es könnte in dieser Form in der Antike abgelaufen sein. Die Beschreibung des Auslosungsverfahrens in der Athenaion Politeia erwies sich weitestgehend als zuverlässig, allerdings zeigten sich bei dem Versuch einer genauen Rekonstruktion des Verfahrens zahlreiche Lücken (s. o.). Es war aber natürlich nicht das Ziel der Athenaion Politeia, ein detailliertes Ablaufprotokoll zu liefern. Die wichtigsten Schritte werden genannt, so dass die Beschreibung dem Leser einen hinreichenden Eindruck von dem Verfahren vermittelt. Das Losverfahren ist in der von uns rekonstruierten Version sehr transparent und weitgehend manipulationssicher. Allerdings ist es für die Einstecker relativ leicht möglich, bestimmte Ausweise ganz unten einzustecken und so deren Besitzer von der Möglichkeit auszuschließen, als Geschworene ausgelost zu werden, jedenfalls dann, wenn die Ausweise dadurch unterhalb der letzten vollen horizontalen Reihe stecken.69 Umgekehrt können sie Ausweise gezielt weit oben einstecken und so sicherstellen, dass diese zu vollen horizontalen Reihen gehören und ihre Besitzer so zumindest die Chance haben, als Geschworene ausgelost zu werden. Beides hätte man leicht unterbinden können, z. B. indem die Ausweise nicht in eine offene Kiste, sondern in einen Beutel gelegt worden wären. Dass die Athener anscheinend keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen haben, liegt vielleicht daran, dass für sie entscheidend war, dass die Einstecker keine Möglichkeit hatten, jemanden mit Sicherheit zum Geschworenen zu machen: Letztlich war entscheidend, dass für die betreffende horizontale Reihe eine weiße Kugel gezogen wurde, und darauf hatten die Einstecker keinen Einfluss. Eine weitere Schwachstelle des Verfahrens könnte man in dem Diener sehen: Er könnte ausgelosten Geschworenen gezielt Stöcke in der Farbe eines bestimmten Gerichtes geben und so dessen Zusammensetzung manipulieren. Da die Geschworenen aber ihre „Eicheln“ mit zu dem Gericht nahmen, konnte man dort überprüfen, ob sie tatsächlich für dieses Gericht ausgelost worden waren. Außerdem wäre spätestens bei der Rückgabe der Ausweise nach dem Ende des Prozesses (vgl. 66,3) aufgefallen, dass ein Geschworener fehlte bzw. für einen Geschworenen kein Ausweis vorhanden war. Für die Berechnung der Dauer der Auslosungen sind die bei dem Experiment gewonnenen Daten durch weitere praktische Versuche von uns, die einzelne Aspekte der Auslosung wie z. B. das Einstecken oder die Rückgabe der Ausweise betrafen, ergänzt bzw. leicht modifiziert worden. Man kann das von uns rekonstruierte Losverfahren in einzelne Abschnitte untergliedern, um so zu einer mathematischen Formel zu gelangen, die die Berechnung der Dauer des Verfahrens bei unterschiedlicher Teilnehmerzahl und unterschiedlicher Zahl der von einer Phyle zu stellenden Geschworenen ermöglicht (kursiv gesetzt sind die Abschnitte, bei denen die beiden Variablen eine Rolle spielen):70

69 Diese Manipulationsmöglichkeit durch die Einstecker sah bereits Dow 1939, 31. 70 Die Formel gilt nur, wenn zwei oder mehr Gerichte besetzt werden sollen. Falls nur Geschworene für ein Gericht benötigt wurden, fand wohl ein verkürztes Auslosungsverfahren statt (s. o.).

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1. Diener beginnt mit dem Schütteln der Kisten – 10. Einstecker beginnt mit dem Einstecken: 196 Sek. 2. Einstecken durch 10. Einstecker: 3,5 Sek./Ausweis 3. Vorbereitung der 1. Losmaschine: 35–55 Sek. (Annahme: Durchschnitt 45 Sek.) 4. Ziehung der Kugeln etc. (1. Losmaschine): 105 Sek./weiße Kugel; 18 Sek./schwarze Kugel 5. Vorbereitung der 2. Losmaschine: 35–55 Sek. (Annahme: Durchschnitt 45 Sek.) 6. Ziehung der Kugeln etc. (2. Losmaschine): 105 Sek./weiße Kugel; 18 Sek./schwarze Kugel 7. Einstecker geben Ausweise zurück: 20 Sek. hin und zurück + 9 Sek./Ausweis 8. Einstecker werden den Gerichten zugelost – letzter Einstecker kommt bei seinem Gericht an: 60 Sek. Daraus ergibt sich unter der Voraussetzung, dass in jeder Sektion die gleiche Anzahl Teilnehmer ist, und der Annahme, dass die Vorbereitung der Losmaschinen je 45 Sek. dauert, mit den Variablen a = Anzahl der Teilnehmer in einer Phyle, b = Anzahl der Geschworenen, die eine Phyle stellen soll und der Gleichung: Anzahl weißer Kugeln insgesamt = (Zahl der in dieser Phyle auszulosenden Geschworenen – 10 [Einstecker]) : 5 = (b-10) : 5 Anzahl schwarzer Kugeln insgesamt = (a-b) : 5 Anzahl der Ausweise, die der 10. Einstecker einsteckt = (a : 10) -1 Anzahl der Ausweise, die ein Einstecker zurückgibt = (a-b) : 10 folgende Gleichung (in Sek.; die Abschnitte 3 und 5 sowie 4 und 6 sind schon zusammengefasst): 196 + 3,5 · [(a : 10) - 1] + 90 + 105 · [(b-10) : 5] + 18 · [(a-b) : 5] + 20 + 9 · [(a-b) : 10] + 60 = 366 + 3,5 · [(a : 10) - 1] + 105 · [(b-10) : 5] + 45 · [(a-b) : 10] (auf weitere Vereinfachungen wird hier verzichtet) Daraus ergibt sich z. B. für die Besetzung von 2 Gerichten à 500 Geschworenen (also b = 100) und insgesamt 2000 Teilnehmern (also a = 200) folgende Auslosungsdauer: 366 + 3,5 · [(200 : 10) - 1] + 105 · [(100-10) : 5] + 45 · [(200-100) : 10] = 366 + 3,5 · 19 + 105 · 18 + 45 · 10 = 366 + 66,5 + 1890 + 450 = 2772,5 Sek. = 46 Min. 12,5 Sek. Die mit dieser Formel berechnete Dauer der Auslosungen ist natürlich nicht als hundertprozentig exakt zu verstehen, schon deshalb nicht, weil zwei vereinfachende Annahmen (gleiche Teilnehmerzahl in den 10 Sektionen; fester Wert für die Vorbereitung der Losmaschinen) vorausgesetzt wurden. Der ermittelte Wert dürfte dennoch annähernd, d. h. mit einer Abweichung von vielleicht max. 5 Minuten, für eine Auslosung in der hier rekonstruierten Form

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zutreffen. Aufgrund der hohen Routine, die die antiken Teilnehmer besaßen, dürfte das Verfahren eher noch etwas schneller als bei uns abgelaufen sein. Speziell die Rückgabe der Ausweise durch die Einstecker hat vermutlich weniger Zeit in Anspruch genommen, da die Einstecker viele Mitglieder ihrer Sektion namentlich gekannt haben dürften. Das Auslosungsverfahren ließe sich beschleunigen, wenn man an einzelnen Stellen andere Entscheidungen für die Rekonstruktion trifft. So könnte etwa der Archon bei einer weißen Kugel alle fünf Ausweise zusammen entnehmen und dem Herold geben, der die fünf so Ausgelosten sofort hintereinander aufruft. Diese kommen nach vorne, erhalten vom Herold ihre Ausweise (oder der Herold gibt dem Archon die Ausweise) und gehen weiter zur Ziehung der „Eicheln“. Bei dieser Variante finden sich bis zu fünf Personen gleichzeitig bei dem Archon zur Ziehung der „Eicheln“ ein, was bei uns allerdings in der Praxis z. T. zu Zuordnungsproblemen bei den Ausweisen führte. Auch wenn einige Einzelprobleme weiterhin offenbleiben, so z. B. wie bei den Kollegien von 201, 401, 501 etc. Geschworenen (53,3; 68,1) der eine Geschworene bestimmt wurde, 71 so konnten im Rahmen unseres Experimentes doch einige Fragen rund um die Auslosung der Geschworenen gelöst oder zumindest präzisiert werden.

71 Vgl. dazu Rhodes 1981, 712 und 729; Chambers 1990, 431.

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Literaturverzeichnis Aristophanes, Wasps, edited with introduction and commentary by Zachary P. Biles and S. Douglas Olson, Oxford 2015. Aristophanes, Wespen, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Lutz Lenz, Berlin/Boston 2014. Aristophanes, Wasps, edited with introduction and commentary by Douglas M. MacDowell, Oxford 1971. Aristoteles, Staat der Athener, übersetzt und erläutert von Mortimer Chambers, Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Band 10. Teil 1, Berlin 1990. Aristotle’s Constitution of Athens and Related Texts, translated with an Introduction and Notes by Kurt von Fritz and Ernst Kapp, New York 1950. Bleicken, Jochen, Die athenische Demokratie, 4., völlig überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage, Paderborn u. a. 1995. Boegehold, Alan L., The lawcourts at Athens. Sites, buildings, equipment, procedure, and testimonia, Princeton 1995. Colin, Gaston, Les sept derniers chapitres de l’ ᾽Αθηναίων πολιτεία (organisation des tribunaux, à Athènes, dans la seconde moitié du IVe siècle), REG 30, 1917, 20–87. Dow, Sterling, Prytaneis. A study of the inscriptions honouring the Athenian councillors, Athen 1937. Dow, Sterling, Aristotle, the Kleroteria, and the Courts, HSPh 50, 1939, 1–34 (ND mit geringen Zusätzen in: Rhodes, Peter J. (Hrsg.), Athenian Democracy, Edinburgh 2004, 62–94). Dow, Sterling, s. v. Kleroterion, RE Suppl. VII, 1940, 322–328. Hansen, Mogens H., How Often Did the Athenin Dicasteria Meet?, GRBS 20, 1979, 243–246. Hansen, Mogens H., The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes. Structure, Principles and Ideology, translated by J. A. Crook, Oxford 1991. Hansen, Mogens H., Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis, deutsch von Wolfgang Schuller, Berlin 1995. Hommel, Hildebrecht, Heliaia. Untersuchungen zur Verfassung und Prozeßordnung des athenischen Volksgerichts, insbesondere zum Schlußteil der Ἀθηναίων πολιτεία des Aristoteles, Leipzig 1927. Kenyon, Frederic G. (Hrgs.), ΑΘΗΝΑΙΩΝ ΠΟΛΙΤΕΙΑ. Aristotle on the Constitution of Athens, London 1891. Kosmetatou, Elizabeth, Tyche’s Force: Lottery and Chance in Greek Government, in: Hans Beck (Hrsg.), A Companion to Ancient Greek Government, Malden/Oxford 2013, 235–251. Kroll, John H., Athenian Bronze Allotment Plates, Cambridge 1972. Rhodes, Peter J., A Commentary on the Aristotelian Athenaion Politeia, Oxford 1981 (ND mit Addenda auf S. 767–784 Oxford 1992). Santoni, Anna, Aristotele. La costituzione degli Ateniesi, alle radici della democrazia occidentale, Bologna 1999. Staveley, Eastland S., Greek and Roman Voting and Elections, London 1972.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Dow 1939, gegenüber von S. 1. Abb. 2: © K. Scherberich. Abb. 3: © K. Scherberich. Abb. 4: © K. Scherberich. Abb. 5: © K. Scherberich. Abb. 6: © K. Scherberich.

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Abb. 1: Rekonstruktionszeichnung der an jedem Phyleneingang aufgestellten beiden Losmaschinen. Links neben der linken Losmaschine ist ein aufgeschnittenes Rohr abgebildet, so dass man die zufällig angeordneten weißen und schwarzen Kugeln sehen kann.

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Abb. 2: Im Vordergrund rechts und links die Tische, auf denen die Kisten stehen, in die am Anfang die Ausweise gelegt werden; dahinter rechts und links die beiden Losmaschinen, neben ihnen eine zweite Reihe Tische, auf denen die Einstecker ihre Kisten abstellen, wenn sie die Ausweise eingesteckt haben; in der Mitte zwischen den Losmaschinen, leicht nach hinten versetzt, der Tisch, auf dem sich die Urnen für die schwarzen Kugeln (links) bzw. für die „Eicheln“ (rechts), die beiden Leinenbeutel mit den weißen Kugeln und die Kisten für die Ausweise der ausgelosten Geschworenen befinden; dahinter der Tisch, an dem der Diener die farbigen Stäbe an die ausgelosten Geschworenen ausgibt; hinten an der Empore ein Blatt für das Gericht Λ (grün), rechts an der Wand über der Tür ein Blatt für das Gericht Ν (rot).

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Abb. 3: Der Aufbau der Losmaschinen etc. von hinten: im Vordergrund der Tisch, an dem der Diener die farbigen Stäbe an die ausgelosten Geschworenen ausgibt; dahinter in der Bildmitte der Tisch, auf dem sich die Urnen für die schwarzen Kugeln (rechts) bzw. für die „Eicheln“ (links), die beiden Leinenbeutel mit den weißen Kugeln und die Kisten für die Ausweise der ausgelosten Geschworenen befinden; links und rechts etwas davor die beiden Losmaschinen, neben ihnen Tische, auf denen die Einstecker ihre Kisten abstellen, wenn sie die Ausweise eingesteckt haben; davor links und rechts weitere Tische, auf denen die Kisten stehen, in die am Anfang die Ausweise gelegt werden; an der Rückwand eine der Kameras, mit denen das Losexperiment gefilmt wurde.

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Abb. 4: Der Tisch zwischen den Losmaschinen mit der Urne für die schwarzen Kugeln (links) bzw. für die „Eicheln“ (rechts), den beiden Leinenbeuteln mit den weißen Kugeln und den drei Kisten für die Ausweise der ausgelosten Geschworenen.

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Abb. 5: Der Mechanismus an den Losmaschinen, mit dessen Hilfe jeweils nur eine Kugel aus der Röhre entnommen wird.

Abb. 6: Weiße und schwarze Kugeln für die Losmaschinen; „Eicheln“ mit den Buchstaben der zu besetzenden Gerichte; Ausweise (10 x 2 x 0,2 cm).

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Zwischen Landwirtschaft und Mythos. Motivgeschichtliche Überlegungen zu Münzen mit dem ‚grasenden Pferd‘ Katharina Martin

Pferde als Reit- und Wagentiere sind aus der Lebenswelt der griechischen Eliten nicht wegzudenken. Man brauchte sie im Krieg, bei der Jagd und für den Sport. Ihre Zucht und Erziehung erforderte Zeit und finanzielle Ressourcen; die intensive Beschäftigung mit Pferden gehört(e) daher zum Alltag der aristokratischen Kreise.1 So ist nicht verwunderlich, dass viele antike Münzherren (Herrscher wie Städte) nicht nur Gespanne und Reiterfiguren, sondern auch einzelne Pferde auf ihren Münzen thematisierten. Eine Besonderheit im Rahmen der vielen Pferdebilder auf griechischen Münzen stellt das Motiv ‚grasendes Pferd‘ dar2, denn seine Funktion scheint mit der auf Sieg und Erfolg ausgerichteten aristokratischen Maxime der Arete nicht im Einklang zu stehen, sondern vielmehr ein fast idyllisches Moment bukolischen Landlebens einzufangen und damit eher Muße statt Wettkampf zu suggerieren. Auch in der Gegenwart findet das Motiv innerhalb der breiten Palette an Pferdebildern gelegentlich Verwendung. Dazu gehört das lebensgroße ‚weidende Pferd‘ im Park der Villa Hügel in Essen (Abb. 1) – ein Genrebild aus dem Kontext der Naturimitation, das vollständig dem von vielen antiken Prägeherren verwendeten Bildtypus entspricht. So „befriedigt ‚das weidende Pferd‘ (…) die Wunschvorstellungen eines Pferdefreundes. Von der Villa Hügel aus gesehen wird man die lebensgroße Bronze für ein lebendes Pferd halten, das auf den fernen Wiesen des Hügelparks grast – ein illusionistischer Effekt, der von Myrons Kuh bis zu Duane Hansons Supermarket-Lady seine Bewunderer gefunden hat und weiterhin finden wird“.3

Selbst bei summarischer Sichtung der jüngsten numismatischen Publikationen von Linda-Marie Günther stolpert man – spätestens auf den zweiten Blick – immer wieder über Pferde mit ganz unterschiedlichen Intentionen und Funktionen für die jeweiligen Nutzergruppen des Geldes: Sie begegnen als göttliche Epiphanie in Karthago (Günther 2015, 140–152; Günther 2016b, 21) oder polyvalent lesbares Motiv auf sikulopunischen Prägungen (Günther 2016b). Jüngst beschäftigten sie die Flügelpferde als u. a. äußerliches Erkennungszeichen von Wanderungsbewegungen und Kulturkontakten im ägäischen Raum (Günther 2014, 58–60 oder Günther 2016a). Als nachbohrende und zugleich konstruktiv fördernde Kritikerin habe ich Linda-Marie Günther kennen und schätzen gelernt. Im vermeintlich Offensichtlichen nachzubohren, gilt es auch im Folgenden. Daher scheint es nicht unpassend, ihr die folgende kleine ‚Pferdestudie‘ zu widmen. Für Diskussion und Hinweise danke ich Michael Fehlauer, Wolfgang Fischer-Bossert, Helge Nieswandt und Eva Strothenke. 1 Wiesner 1968, 24; Raepsaet 2000, 696; Gaitzsch 2011, 50. 2 Abb. 1–8, 12, 15–17, 20, 23–26, 28–30. 3 So Trier 1984, 320. Das Standbild ist heute im Besitz der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung; es handelt sich um ein Werk des auf Pferde spezialisierten Tierbildhauers Albert Hinrich Hußmann (1874–1946), von dem mindestens eine weitere Reiterstatuette im Haus selbst steht. Vermutlich stammt

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Diese moderne Sichtweise zeitgenössischer Skulptur und Kunst unterscheidet sich von den Intentionen, die für die Auswahl von antiken Münzbildern ausschlaggebend waren. Genrebilder und Bukolik sind nicht unbedingt Thema für offizielle Münzbilder. Daher sei im Folgenden die Frage gestellt, was es mit der Abbildung von grasenden Pferden auf antiken Münzen auf sich hatte. Wenngleich Detailvarianten unterscheidbar sind, lässt sich ein ‚Normaltypus‘4 beschreiben. Dieser zeigt ein Pferd ohne Zaumzeug mit gesenktem Kopf bei gestreckten Beinen. Geläufig ist die Ausrichtung vom Betrachter aus nach rechts. In diesem Fall stehen die Vorder- und Hinterbeine leicht versetzt, die beiden rechten Beine des Tieres im Bildvordergrund sind leicht nach außen gespreizt, die linken Beine im Bildhintergrund sind in der Mitte unter dem Bauch leicht zusammengezogen. Es handelt sich um ein entspanntes Standmotiv in leichter Schrittstellung, das die für das Grasen notwendige tiefe Beugung des Kopfes ermöglicht. Im Anhang findet sich eine Zusammenstellung der verschiedenen griechischen Prägeherrn, die das grasende Pferd auf ihren Münzen thematisieren; doch lohnt es, zwei Beispiele aus geografisch vergleichbaren Landschaften näher zu betrachten, die beide einen starken Pferdebezug besaßen, diesen auf ihren Münzen aber ganz unterschiedlich umsetzten.

1. Die Troas Natürlich waren Pferde präsent im Epos des trojanischen Krieges; der Kriegsschauplatz war auf beiden Seiten voll mit von Pferden gezogenen Zweiradwagen5. Die ‚rossebändigenden Troer‘6 selbst waren in klarem Standortvorteil, da sie keine Pferde umständlich per Schiff herantransportieren mussten, sondern auf regionale Ressourcen zurückgreifen konnten. Diese gingen schon auf mythische Traditionen zurück und ließen die Troas als ‚Pferdeland‘ erscheinen.7 Die starke Affinität der Troer zum Pferd war eine der Voraussetzungen dafür, dass ein hölzernes Pferd als Weihgeschenk für Athena sofort willig empfangen und in die Stadt gezogen wurde.8

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das weidende Pferd aus der Zeit um 1914, sicher vor 1924 (Trier 1984, 320 und 327); der Guss erfolgte lt. Aufschrift an der vorderen Kante der Basis von der „Düsseldorfer Broncegiesserei GmbH“. Hier Abb. 1–6, 24. Wiesner 1968, 5, 11–23; Simon 2006, 19f.; Gaitzsch 2011, 53f., 58. Τρῶες ἱπποδάμοι; Hom. Il. 4,352. So z. B. Tenger 1999, 175: „Ilion war schon zu Homers Zeiten für seine ausgezeichneten Rosse bekannt und die Troas als Pferdewiese ein Begriff“. Konkreter geht Wiesner 1968, F29–F30 auf einzelne Textpassagen ein, die von Herden in der Troas berichten: z. B. Hom. Il. 5,265–274 (Zeus schenkt die besten Pferde dem eponymen Tros als Gegengabe für dessen Sohn Ganymed; Anchises lässt dann heimlich seine Stuten von den Hengsten decken); die ‚Pferde des Laomedon‘, des zweiten Königs von Ilion und Vater des Priamos, sind mehrfach (z. B. Hom. Il. 5,640) erwähnt; Hom. Il. 22,219–229 nennt die große Herde des Dardanios, Eponym von Dardanos und Großvater des Tros; Hom. Il. 14,279–280 überliefert, dass Priamos die Pferde, mit denen er sich ins griechische Lager aufmacht, um den Leichnam Hektor zu erbitten, selbst aufgezogen hat. So auch Wiesner 1968, 29 und 35. Zum hölzernen Pferd, ἵππος […] δουράτεος bei Hom., Od. 8,492–495; δουρείος ἵππος bei Apollod. epit. 5,14–15. Zu verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Pferdes als Erscheinungsform des Poseidon: Schachermeyer 1950, 189–203; Gaitzsch 2011, 54f.

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Der numismatische Befund in der Troas ist allerdings nicht außergewöhnlich pferdelastig. Es gibt ein springendes Pferd in Gargara; bevor Skepsis zum Hippalektryon wechselte, findet sich auf frühen Prägungen eine Pferdeprotome; die Prägungen von Dardanos und Ophrynion zeigen einen Reiter9; in Ilion selbst spielt das Pferd in der Münzikonografie keine Rolle. Außergewöhnlich pferdebetont sind allein die Münzen von Neandria (Abb. 2–3) und dann von Alexandria Troas (Abb. 4–8). 1.1 Neandria Auf Hemidrachmen und in der Bronzeprägung findet sich im 4. Jahrhundert v. Chr. ein grasendes (oder trinkendes?) Pferd (Abb. 2–3). Das Tier ist im oben so definierten Normaltypus wiedergegeben;10 der Kopf ist gesenkt, zum Teil ganz bis zum Boden, zum Teil nur deutlich geneigt. Es gibt keine stehenden, springenden, galoppierenden oder trabenden Pferde mit erhobenem Kopf in Neandria und nie trägt das Tier ein Halfter. Ist das Pferd hier und später in Alexandria Troas abgebildet, dann immer in dieser Position. Dass die Polis Neandria im Hinterland das grasende Pferd als offenbar wichtigstes Motiv verwendete, ist in der Literatur meist in Zusammenhang mit einer regional bedeutenden Pferdezucht gebracht worden.11 Das erscheint insofern logisch, als der gesamte Motivvorrat dieser Polis ausgerichtet, fokussiert (und fast beschränkt) ist auf Landwirtschaft: Pferd, Widder und Getreidekorn sind die Hauptmotive. 12 Neandria liegt gut befestigt auf dem Höhenrücken des zwar quellenreichen, aber im Sommer trockenen Çiğri Dağ13; die unmittelbare Umgebung außerhalb der Stadtmauern bietet keine ebenen Weideflächen, der Weg hinauf in die Stadt ist steil. Trittsichere und geländegängige Tiere wie Ziegen und Schafe begegnen auch heute täglich auf dem Berg; für Pferdehaltung dagegen scheint dieser Raum wenig geeignet, wenngleich John M. Cook davon spricht, dass zum Zeitpunkt seiner Troas-Reise im Jahr 1959 „the crest was then populated because horses had been brought up from Kayacık to graze on the high summer pasture“.14

9 Pferd in Gargara: BMC Troad 52f. Nr. 2, 5–15; SNG Cop. 20 Nr. 315–328; SNG von Aulock Nr. 1510; SNG Özkan Arıkantürk Nr. 483, 498–520. Pferdeprotome in Skepsis: BMC Troad 80 Nr. 1–2; SNG Cop. 20 Nr. 469; SNG Özkan Arıkantürk Nr. 724–725. Reiter in Dardanos: BMC Troad 48–50 Nr. 1–22; SNG Cop. 20 Nr. 282–304, 307–308; SNG von Aulock Nr. 1504; SNG Özkan Arıkantürk Nr. 446–475, 477 bzw. in Ophrynion: BMC Troad 75 Nr. 1; SNG Cop. 20 Nr. 455; SNG Özkan Arıkantürk Nr. 712. 10 Nur auf einem Exemplar in Paris, Bibliothèque nationale de France BnF 4169160, scheint Passgang angedeutet zu sein, das erste Vorderbein ist zudem leicht angewinkelt. 11 Bellinger 1961, 83: „This very general reference (…) to the excellence of the Trojan plain for horse raising“. Vgl. auch Schwertheim 1994, 25; 27; Tenger 1995, 152; Tenger 1999, 175; Bieg 2009, 224. Bei Drexhage 2007 finden sich allerdings keine Hinweise auf besondere Pferdezucht in der Troas. 12 Head, HN 547; vgl. BMC Troad 73f. Nr. 1–11; SNG von Aulock Nr. 1556–1558, 7627–7629; SNG Cop. 20 Nr. 446–454; SNG Özkan Arıkantürk Nr. 685–711. Auf den Pferdebronzen ergänzt zudem ein Getreidekorn im Abschnitt die agrarwirtschaftliche Ausrichtung. Tenger 1999, 152 vermutet, dass die Stadt, die mit 2.000 Drachmen in den Tributlisten verzeichnet ist, keine außergewöhnlichen Einnahmen verzeichnen kann – höchstens Einnahmen aus der Pferdezucht; vgl. auch Bieg 2009, 224. Potenter stuft Akalın 2008 Neandria ein, denn sie datiert den Beginn des Granitabbaus bereits ins 5. Jh. (ebd. S. 13, 29), vermutet diverse Zölle (ebd. S. 13). 13 Tatsächlich finden sich viele Quellen auf dem Çiğri Dağ, die noch heute die Ortschaften der Umgebung mit Trinkwasser versorgen. 14 So Cook 1973, 205.

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Ausgedehnte für Pferde ganzjährig nutzbare Weidegründe können nur in einer der Stadt zugehörigen Ebene in der Chora gelegen haben. Konkret von Weidegründen für Pferde in der Troas berichtet die Ilias m. W. nur einmal explizit und verortet sie „am Fuß des quellenrauschenden Ida …“;15 das spricht für die Skamanderebene nordöstlich von Neandria. Strabon überliefert viel später, aber mit Rekurs auf Neandria, dessen Erinnerung also durchaus präsent war, eine ‚Samonische Ebene‘, die zu seiner Zeit zu Alexandria gehörte und auf dem ehemaligen Gebiet Neandrias lag (Σαμώνιόν τε ... καὶ πέδιον ἐν τῇ Νεανδρίδι καὶ Ἀλεξανδρέων).16 Von Pferdehaltung dort oder anderer (vieh-)wirtschaftlicher Nutzung spricht er in diesem Zusammenhang nicht. Plutarch berichtet von „den am Idagebirge gehaltenen königlichen Gestüten“, wo Eumenes Pferde für seine Kavallerie rekrutiert hatte.17 Dies scheinen die einzigen literarischen Texte zu sein, die im Kontext von extensiver Pferdehaltung in der nachhomerischen Troas deutbar sind und eher in Richtung Kaz Dağ (= Ida) als auf den Çiğri Dağ weisen.18 Insgesamt ist die Quellenlage für Neandria mäßig und demzufolge für die Frage nach der Bedeutung des ‚grasenden Pferdes‘ in Neandria dürftig.19 Der deduktive Schluss, dass das Münzbild auf regionale Pferdehaltung hinweist, beziehungsweise von solcher zeugt, ist nichtsdestoweniger sinnvoll. Ob das Pferd grast oder trinkt, lässt sich nicht entscheiden, da in Neandria unter/vor dem Maul nichts Gegenständliches sichtbar ist20 – beides, Wasser und Gras, ist essentiell für Pferdehaltung. Unbestreitbar ist die Tatsache, dass das Motiv offenbar so charakteristisch und zentral für das städtische Selbstverständnis war, dass es mit Bürgern und Einwohnern von Neandria nach Alexandria Troas übersiedelte, also auch für die hellenistische und kaiserzeitliche Folgesiedlung identitätsstiftend wurde. 1.2 Alexandria Troas Durch einen Synoikismos von Antigonos Monophthalmos zwischen 311 v. Chr. und 306 v. Chr. als Antigoneia gegründet21 und 301 v.  Chr. von Lysimachos in Alexandreia umbenannt übernahm diese als Nachfolgesiedlung zahlreicher kleinerer Poleis im Hinterland

15 Hom. Il. 20,218–230. 16 Strab. 10,3,20. Die geografische Lage dieser ‚Samonischen Ebene‘ ist unklar; gehen Cook 1973, 208; Tenger 1999, 175 oder Akalın 2008, 13 von der Skamanderebene im Hinterland, nordöstlich von Neandria, deutet Leaf 1923, 231 eher die küstennahe Ebene im Nordwesten in Richtung Alexandria als die von Strabon gemeinte Gegend. Cook 1973, 315; Schwertheim 1994, 27 oder Tenger 1995, 152 lassen die Verortung offen. 17 Plut. Eum. 8,5. 18 Nach Wiesner 1968, 35 zeugt die Präsenz von Pferdeknochen ab Troja VI von der Existenz domestizierter Pferde ab mittelhelladischer Zeit, weitere archäozoologische Untersuchungen sind in der Troas nur begrenzt vorgenommen worden, z. B. von den Driesch 1999, 444. 19 Akalın 2008, 13 sieht darin „ein Zeichen der Aristokratie“. Tenger 1995, 152 und Tenger 1999, 174f. hält die Überlieferung für ausreichend, um von einer ausgedehnten Pferdezucht in der Troas auszugehen: „Vielleicht deutet das Pferd auf den Münzen von Neandria auf eine solche Pferdezucht am mittleren Skamander hin“ (ebd. 175). Ihm folgt Aslan 2011, 45. 20 Eindeutig Gras ist angegeben in Pantikapeion (hier Abb. 25) oder auf den Nerva-Sesterzen (Abb. 30). 21 Zu dieser Datierung Esch 2016, 71; Meadows 2004, 47f. (nach 311/310); Schwertheim 1994, 26 (zwischen 306 v. Chr. und 301 v. Chr.).

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neben deren Bürgern, Göttern und Kulten konsequent auch (spätestens zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr.) einige ihrer Münzbilder. So finden sich auf den Münzen der neuen Stadt unter anderem das Kultbild des Apollon Smintheus von Hamaxitos und das Pferd von Neandria.22 Die frühesten städtischen Prägungen direkt nach der Umbenennung in Alexandria zeigen das grasende Pferd (Abb. 4),23 ab ca. 280 v. Chr. fungierte es als Prägestättenkennzeichen von und für Alexandria Troas auf Alexander-Tetradrachmen, später auch auf seleukidischen Königsmünzen (Abb. 5)24 und blieb im städtischen Typenkanon bis zum Ende der Prägung im 3. nachchristlichen Jahrhundert. Als offizielles, ortsspezifisches Parasemon diente es zudem auf Amphorenstempeln oder Marktgewichten als Garantiezeichen für städtisch geprüfte Qualität.25 In der Kolonialprägung seit Commodus blieb das grasende Pferd zentrales und stadtspezifisches Motiv,26 wobei eine ‚Passgangschrittstellung‘ nun überwog (Abb. 7–8); gelegentlich wurde etwas Gegenständliches am Boden angedeutet, das kann Gras sein oder Wasser. Seine Bedeutung für die Stadt erfuhr (spätestens) jetzt eine Ausweitung beziehungsweise einen Wandel, indem ein lokaler Gründungsmythos (re-)konstruiert wurde, in den man das alte agrarwirtschaftlich konnotierte Motiv Neandrias integrierte und mit dem aus Hamaxitos bekannten Götterbild kombinierte. Alfred R. Bellinger differenziert in seinem Typenkatalog insgesamt sieben Typen, die um das zentrale Pferdemotiv kreisen:27 Die Ausrichtung variiert und dem Pferd konnte ein Baum und/oder ein Hirte mit pedum hinzugefügt werden (Abb. 8). „Damit ist der Rahmen des bloßen Parasemon verlassen“, denn durch die Angabe von Landschaft wurde ein heiliger Raum geschaffen, der auf ein zur Stadt gehöriges Heiligtum verweist.28 So wurde, wie Peter Weiß beschreibt, das Pferd in der Zeit des Commodus offenbar Bestandteil der komplexen Gründungssage um Ordes, den Oberhirten des Apollon, indem es offenbar beim Grasen das Kultbild des Apollon Smintheus witterte, dem Gott so zu einer Epiphanie vor dem Hirten und dem Naturraum zur Transformation in einen heiligen Hain verhalf.29 Beim Kultbild handelte es sich Menander Rhetor zufolge um ein altertümliches, .

22 Zur Übernahme des neandrinischen Bildes Koldewey 1891, 6; Head 1911, 540; Bellinger 1961, 83; Robert 1966, 50–52; Meadows 2004, 50 u. ö.; Akalın 2008, 32f.; Esch 2016, 72. Matthaei 2013, 44–46, 115 behandelt zwar die Hauptgottheit Apollon Smintheus, vernachlässigt aber das städtische Parasemon des grasenden Pferdes. 23 Meadows 2004, 53–55 mit Nr. 1–3 Taf. 3,2–3 (AR) und Taf. 3,4–6 (AE); Esch 2016, 73f. zu alexandrinischen Gegenstempeln auf Münzen aus Neandria. 24 Meadows 2004, 53–59 revidiert die Datierungen von Bellinger 1961, 82f. 25 Robert 1966, 51; Killen (im Druck) hat in ihrem Katalog Gewichte und Amphorenstempel zusammengestellt. 26 Bellinger 1958, Typ 39. 27 Bellinger 1958, 42f. Typen 39–45; dazu auch Boßmann 2004, 273f.; Filges 2014, 281f. mit Abb. 539–545. 28 Zitat nach Weiß 1996, 169. 29 Diese Lokallegende ist in einem Scholion zu Hom. Il. 1,39 Σμινθεῦ… (ed. Preller, S. 63) überliefert, das auf den Periegeten Polemon aus Ilion (vgl. Suidas IV s. v. Πολεμῶν Ἰλιεύς) zurückgeht: dazu Weiß 1996, 165–170. Konkret zur Einbindung des Pferdes in die Gründungssage Weiß 1996, 168–170; ihm folgend Boßmann 2004, 271f. und Filges 2014, 281–283. Die im Homerscholion erwähnte τὴν ἐπιφάνειαν αὐτοῦ bezieht sich zunächst auf die Erscheinung des Gottes beim Mahl mit dem Hirten, möglicherweise im übertragenen Sinn dann auch auf ein Auffinden des göttlichen Bildes, so Weiß 1996, 169f.

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möglicherweise vom Himmel gefallenes,30 also nicht von Menschenhand geschaffenes Xoanon, wie es viele Münzbilder (zunächst in Hamaxitos, dann in Alexandria Troas) zeigen. Die Funktionserweiterung und damit Mehrdeutigkeit galt für die erweiterten Motive im heiligen Hain ebenso wie für das Pferd allein. Das noch agrarwirtschaftlich konnotierte ‚Grasen‘/‚Trinken‘ aus Neandria wurde somit zum ‚Suchen‘ oder vielmehr zum ‚Finden‘ umfunktioniert (oder zumindest um diese Komponente erweitert) und ein allgemeingültiges und auch andernorts nutzbares und genutztes Bild der Nahrungsaufnahme als Chiffre für Pferdehaltung wurde zum zusätzlich mythologisch aufgeladenen Spezifikum für Alexandria Troas, das Geschichte und Mythen der verschiedenen Vorgängersiedlungen in sich vereinte.

2. Thessalien Wie die Troas ist Thessalien als Pferdeland bekannt; die geografischen Bedingungen sind ähnlich, denn auch hier liegt eine fruchtbare wasserreiche Ebene umgeben von Bergen im Hinterland. „Vor allem Pferdezucht und der Getreideanbau machten das Land weit über seine Grenzen berühmt“;31 literarisch ist die Stärke der thessalischen Reiterei überliefert.32 Der numismatische Befund unterscheidet sich deutlich von der Troas, denn hier begegnen überall Pferde im Bildrepertoire städtischer oder föderaler Münzen. Anders als in der Troas sind es in Thessalien viele verschiedene Städte, die das Pferd thematisieren, und die Motive sind vielfältig und variantenreich. Es gibt Pferde in ganzer Gestalt, Pferdeprotome und Pferdeköpfe. Hier springen, galoppieren, traben, gehen und stehen die Pferde – und gelegentlich grasen sie auch. Wie in Neandria war in Thessalien spätestens seit dem frühen 4. vorchristlichen Jahrhundert dieses Motiv des grasenden Pferdes geläufig. Pferde waren hier zum einen Charakteristikum und „Sinnbild der Landschaft“, zum anderen stellten sie „indirekt Zeugnisse einer Poseidonpräsenz in Thessalien“ dar,33 d. h. neben einer agrarwirtschaftlichen Aussage war in den Pferdebildern stets auch eine sakrale Komponente zu lesen. Denn Poseidon war traditionell nicht nur Gott des bewegten Wassers, sondern als Erderschütterer auch verantwortlich für Erdbeben und Bodenbewegung (als solcher

30 Men. rhet. 445,19 τάχα που ἐξ οὐρανοῦ τὸ ἄγαλμα τοῦτ᾿ ἐρρύη. Anschließend bettet er (Men. rhet. 445,21–24) das altertümliche Kultbild ein in einen heiligen Hain mit Gewässern und Quellen. Von der konkreten Auffindung berichtet er nicht. Zum Kultbild zuletzt Weber 2015, 171–173. Gottgeschaffen und ‚vom Himmel gefallen‘ ist auch das Palladion in Troja, dazu Apollod. 3,12,3 oder Apollod. Epit. 5,10: τὸ διιπετὲς παλλάδιον. 31 So Burrer 1993, 21. Ähnlich bereits Martin 1985, 60. Von seiner „rossenährenden Heimat Thessalien“ (πατρὶ Θεσσαλίη πωλοτρόφε) spricht in der Anthol. Gr. 9,21 ein ehemaliges Rennpferd, das nun den Mühlstein drehen muss. Varro rust. 2,7,6 überliefert, dass Pferderassen oft nach ihrer geografischen Herkunft benannt werden und nennt in diesem Zusammenhang für Griechenland die Thessaler. Thessalien sei für die Pferdezucht die beste Landschaft in Griechenland, damit beginnt der Athener Simon (Vorbild Xenophons für seine ‚Reitkunst‘) in seiner Schrift περὶ ἱππικῆς 1 seine Ausführungen (Text bei Widdra 1965, 106–111). Bukephalos, Alexanders Pferd, stammte aus Thessalien (Plut. Alex. 6,1). 32 So z. B. bei Hdt. 5,63,15 (Thessaler unterstützen die Peisistratiden mit 1.000 Reitern); bei Thuk. 1,107,7 oder 2,22,3 wird die thessalische Reiterei als kampfentscheidend charakterisiert oder Plut. Alex. 42,3 (thessalische Pferde für den Feldzug nach Kleinasien). 33 Zitate nach Moustaka 1983, 22.

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hatte er z. B. die thessalische Ebene geschaffen, indem er mit dem Dreizack die Berge aufgerissen und so dem Wasser, das zuvor die Ebene bedeckt hatte, über das Tempetal Ablauf zum Meer verschafft hatte), und er war Meister der Pferde.34 Diese dreifache Verantwortlichkeit überliefern z. B. die homerischen Hymnen. 35 Neben seiner anthropomorphen Gestalt erschien und wirkte er mehrfach selbst als Pferd.36 Gerade in Thessalien stand das Pferd sinnbildlich auch für Poseidon – hier, wo die Bindung zwischen Gott und Tier besonders eng war, wo er als Hippios verehrt wurde37 und wo er als Petraios das Urpferd Skyphios aus dem Felsen geschaffen hatte.38 2.1. Larissa In zahlreichen Emissionen und in diversen Detailvarianten erscheint das Pferd als lokal- und regionaltypisches Motiv auf den Münzen von Larissa. Dazu gehören auch mehrere Bilder, die in der Literatur unter dem Motiv ‚grasendes Pferd‘ subsummiert werden. a. Die frühesten Exemplare (ca. 479/475–460 v. Chr.) auf Drachmen der sogenannten Sandalenserie zeigen ein Pferd im Stand nach links mit gesenktem Kopf, das rechte Vorderbein hält es leicht angewinkelt, vorgestreckt und nahe am Maul (Abb. 9).39 Dieses Motiv muss aus der Liste der grasenden Pferde ausgesondert werden, da hier ein anderes Moment wiedergegeben ist, wie Elisabeth Pendleton herausgestellt hat: Das Pferd scheuert mit dem Maul an einer offenbar juckenden Stelle am Bein. Zwar wird hier ein Moment aus dem Pferdealltag gezeigt, aber kein Grasen.40 b. In Fritz Herrmanns Gruppe IVb (420–395 v. Chr.) findet sich auf Drachmen und Diobolen ein Pferd mit gesenktem Kopf, dessen Hinterbeine einknicken; von den Vorderbeinen ist eins angewinkelt, das andere (im Bildvordergrund) mehrheitlich durchgestreckt. 41 Später, mit Einführung des frontalen Nymphenbildnisses auf der Vorderseite (HerrmannGruppe VII) findet sich dann dasselbe Motiv auf vielen Stempeln in AR und AE (Abb. 10–11).42 Meist wurde der Typus als ‚grasendes Pferd‘ beschrieben, in letzter Zeit

34 Zentral ist die Überlieferung von Philostr. imag. 2,14 zu Thessalien, der die vielfältigen Erscheinungsformen und Eigenschaften Poseidons hervorhebt, von der Spaltung der Berge und dem Ablauf des PeneiosSees sowie von der Pferdegestalt Poseidons berichtet. Hdt. 7,129 nennt die Schwemmebene ebenfalls als Werk des Poseidon; Strab. 9,5,2 spricht von Erdbeben; Pind. P. 4,138 vom Poseidon Petraios. Auf seine Erdbindung und frühe bronzezeitliche Erscheinung als Gatte der Erde, Gaieochos, dann Posidan/ Pot(e)idan, weisen Philippson 1944, 25–46 oder Schachermeyer 1950, 13f. hin. Der Chor in Soph. Oid. K. 711–715 rühmt ihn als denjenigen, der die Pferde domestiziert hat. 35 Hom. h. Poseidon 1–7. 36 Meyer 1902–1909, 2802–2805; Schachermeyer 1950, 14–21; Wüst 1953, 482f.; Moustaka 1983, 22; Gaitzsch 2011, 54–56: Zahlreiche Pferde sind u. a. als Kinder aus seinen pferdegestaltigen Auftritten hervorgegangen. 37 Paus. 8,14,4. Dazu Moustaka 1983, 21f.; Burrer 1993, 51f.; Simon 2006, 10; 15f. 38 Dazu Meyer 1902–1909, 2803; Schachermeyer 1950, 42 u. ö.; Nilsson 1955, 33, 447; Münzen zeigen das Herausspringen des Pferdes aus dem Fels: Moustaka 1983, 21–23, 70; Burrer 1993, 51f.; Pendleton 2004, 28; Berthold 2011, 76. 39 Herrmann 1908, 3–9; zur Datierung Kagan 2004, 82f. 40 Pendleton 2004, 23. 41 Herrmann 1908, 36. 42 Hermann 1908, 41–49; Lorber 2015, 117–145 (alle Pferde der Serien 1–10 in dieser Pose).

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scheint sich mit dem „chrouching horse“ eine Beschreibung als ‚sich hinlegendes Pferd‘ durchzusetzen.43 c. Ebenfalls in Herrmanns Gruppe VII erscheint schließlich das grasende Pferd im ‚Normaltypus‘ (Abb. 12): ein stehendes Tier mit gesenktem Kopf und gestreckten Beinen auf Silber- und Bronzeprägungen, wobei hier in Larissa meist ein am Passgang orientiertes Standmotiv wiedergegeben ist, d. h. beide Beine einer Seite sind parallel zueinander entweder vor- oder zurückgestellt. Im 4. Jahrhundert v. Chr. gehörten beide letztgenannten zu den Hauptmotiven larissäischer Münzikonografie und liefen parallel nebeneinander.44 Bei der Frage nach der Bedeutung der einzelnen Pferdemotive für die Stadt Larissa ist wichtig zu betonen, dass es sich nicht um einzelne Ausreißer handelt, sondern um ein Reihenphänomen, das sich über einen langen Zeitraum nachweisen lässt. 45 Die beiden hier interessierenden Pferdemotive (‚grasendes‘ und ‚sich hinlegendes‘ Pferd) finden sich in mehreren Serien, z. T. gekoppelt mit jeweils demselben Vorderseitenstempel. 46 Offenbar war das ungewöhnliche „chrouching horse“ das frühere Motiv und erst später kam das grasende Pferd im Normaltypus dazu. Beide Motive fanden nicht nur in Larissa, sondern auch in anderen thessalischen Städten Verwendung.47 Ein ‚sich niederlegendes‘ Pferd würde noch deutlicher als ein grasendes als Münzmotiv einer Erklärung bedürfen.48 Was gegen ein ‚Hinlegen‘ spricht, ist die einfache Beobachtung, dass auf fast allen Stempeln eins der beiden Vorderbeine durchgestreckt ist. Legt sich ein Pferd hin, knickt es mit beiden Vorderbeinen ein. Ich möchte daher im Folgenden eine andere Deutung vorschlagen, die sich darauf stützt, die Motive von Vorder- und Rückseite in eine inhaltliche Beziehung zueinander zu setzen, denn auffällig ist, dass es stets die Quellnymphe Larissa auf der Vorderseite ist, die mit einem ‚grasenden‘ Pferdebild auf der Rückseite kombiniert wurde. 49 Diverse Münzmotive verweisen explizit auf ihren Charakter als Wassernymphe: So sind ihrem Bildnis vielfach Wassergefäße beigefügt, die Nymphe kann auf einer Hydria sitzen, ein Löwenkopf-Wasserspeier ist am Bildrand angegeben oder die Nymphe hält oder spielt

43 Dazu Lorber 1992, 259: „The familiar but enigmatic crouching horse …“; ähnlich Pendleton 2004, 26; Lorber 2008, 126; Lorber 2015, 117. 44 Herrmann 1908, 41–49; Lorber/Shahar 2007 cat. 1. 45 Alle Facetten von Bewegungs- und Standmotiven bei Lorber 2008, Taf. 42–45; zum ‚sich hinlegenden Pferd‘ Lorber 2015, Taf. 1–7. 46 Lorber 1992, 262 (auch wenn „reverse die links between different head types are the exception rather than the rule“); Lorber/Shahar 2007, cat. 1 und Lorber 2015. 47 Alle thessalischen Städte, die das echte grasende Pferd verwendeten (Atrax, Gyrton, Larissa, Pharkadon), prägten auch das mit eingeknickten Hinterläufen; in Kierion findet sich offenbar nur das „crouching horse“ (vgl. Anhang). 48 Ein Pferd legt sich z. B. zum Schlafen hin oder um sich zu wälzen, beides aber nur dann, wenn es sicher ist, dass keine Gefahr droht (Xen. Equ. 5,3 spricht vom Wälzplatz, zu dem der Pferdepfleger das Pferd führen soll. Frühe Elektronstatere und -triten zeigen ein sich wälzendes oder liegendes Pferd: Weidauer 1975, 31 Nr. 136–137 Taf. 15). Wäre diese Beobachtung auf die Bildaussage zu übertragen? Das scheint gewagt. 49 Imhoof-Blumer 1908, 69–72 Nr. 184–200; Liampi 1992, 214 Nr. 23–26, 28, 30–36.

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mit dem Ball, was auf den Mythos anspielt, dass sie beim Ballspiel in den Peneios gestürzt und ertrunken ist.50 Oben ist bereits betont worden, dass hinter dem Pferd immer auch Poseidon zu denken ist. Abgesehen von einer familiären Bindung zwischen Larissa und Poseidon51 ist auch der starke Wasser- und Quellbezug beider vergleichbar: Quellen entsprangen dort, wo Poseidon mit dem Dreizack aufstieß oder wo ein Pferd mit den Hufen auftrat. 52 Münzbilder, die u. a. in Larissa nur den Pferdehuf zeigen, scheinen in abgekürzter Form schon früh auf diese Fähigkeit und Eigenschaft des Gottes zu verweisen.53 Drachmen aus Krannon54 zeigen ein aufstampfendes Pferd mit erhobenem Kopf, hinter ihm ist schräg ein Dreizack positioniert: Hier wurde mit dem Poseidon-Attribut explizit auf genau dieses Phänomen verwiesen.55 Einige außerthessalische Prägeherren zeigen kein Pferd, sondern Pegasos in exakt derselben Haltung; d. h. Pegasos hält seine Hinterbeine angewinkelt, ein Vorderbein durchgestreckt, das andere (im Bildhintergrund) angewinkelt; der Kopf ist gesenkt. Gedeutet wird das Bild stets als trinkender Pegasos bzw. als Anspielung auf den Mythos, dass Pegasos beim Aufstampfen mit dem Huf die Hippokrene sprudeln ließ, die ‚Pferdequelle‘, die ihren Ursprung im Namen trägt.56 Besonders prominent ist das Motiv bei Mithradates VI. von Pontos,57 denn es war bis zum Sommer 85 v. Chr. das Hauptmotiv seiner Tetradrachmen (Abb. 13), das weiterwirkte auf die athenischen Tetradrachmen neuen Stils und das schließlich von seinem Sohn Ariarathes IX. von Kappadokien übernommen wurde. 58 Auch in Korinth kommt es auf

50 Liampi 1992, 213–215 Taf. 102–103 zu Münzen mit der ganzfigurigen Larissa mit Ball (Nr. 5–8, 11, 13–17), mit einer Hydria (Nr. 7, 9–12) und mit Löwenkopfwasserspeier (Nr. 9); zum Mythos: Moustaka 1983, 48–51. 51 Die literarischen Quellen ergeben kein einheitliches Bild, eine Bindung beider zueinander steht aber außer Frage: Als Tochter des Pelasgos ist Larissa Enkelin des Poseidon; nach anderer Überlieferung entstammt Pelasgos der Verbindung zwischen Poseidon und Larissa, vgl. Moustaka 1983, 48; Liampi 1992, 213. 52 Schachermeyer 1950, z. B. 141f. macht diesen altertümlichen Zug des Poseidon stark: „Quellen schlug das Poseidonroß nach altindogermanischem Brauch mit den Hufen aus dem Boden“ (ebd. 142). 53 Hemiobolen in Larissa: Moustaka 1983, 136 Nr. 174 Taf. 4; Bronzen Alexanders in Pherai: Rogers 1932, 165 Nr. 520–522 Abb. 284–285 und Moustaka 1983, 137 Nr. 178 Taf. 9. Pendleton 2004, 24 mit Taf. 1,3 sieht darin nur einen Hinweis darauf, dass sich im Huf die Konstitution der Pferde spiegelt. 54 Κρήνη dor. κρᾱνᾱ = Quelle, Brunnen: schon der Name ist Programm. 55 Dazu Forrer 1924, 208 Nr. 2800 Taf. 108 in seiner Beschreibung; s. auch Pendleton 2004, 28 mit Taf. 2, 15b–c. 56 Vgl. Paus. 2,31,9 (zur Hippokrene in Troizen) oder Paus. 9,31,3 (zur Hippokrene auf dem Helikon). Zum Mythos: Meyer 1902–1909, 2818; Wüst, 1953, 492; Nilsson 1955, 447 und 450; Gaitzsch 2011, 55. 57 Als Gründe für die Wahl von Pegasos als Münzmotiv wird in der Literatur unterschiedlich gemutmaßt (vgl. die Zusammenstellung und Diskussion bei Michels 2009, 210–212). Pegasos wird oft mit Perseus und damit mit östlich-persischen Traditionen in Verbindung gebracht. Zuletzt geht Ramsay 1999 davon aus, dass Pegasos als Hinweis auf ein Himmelszeichen zu lesen ist, das einen großen König und Retter ankündigt. Die Frage allerdings, warum man – egal welche Deutung man präferiert – nicht einen galoppierenden Pegasos, sondern einen trinkenden Pegasos mit merkwürdig wackeligen Hinterbeinen auswählte, scheint in diesem Zusammenhang bislang nicht gestellt worden zu sein. 58 De Callataӱ 1997, 8–16 Taf. I–VII; Bendschus (in Druckvorbereitung) PON13–14; zum Beizeichen der New Style-Tetradrachmen in Athen: de Callataӱ 1997, 305 Taf. 53, H; zu Ariarathes IX.: de Callataӱ 1997, Taf. 43, R1b–R2c und 44, B sowie Bendschus (in Druckvorbereitung) KAP35.

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einigen wenigen Stempeln vor (Abb. 14).59 Ein einzelner korinthischer Stempel zeigt Pegasos mit lose hängendem Zügel und Halfter 60: Hier ist der Bezug auf das von Pindar überlieferte Moment eindeutig, in dem es Bellerophon gelang, dem am Bach trinkenden Pegasos das ihm von Athena geschenkte Zaumzeug umzuwerfen und ihn damit zu zügeln.61 Das spielt auf ein weiteres Moment im Pegasos-Mythos an, das sich mit dem „crouching Pegasos“ assoziieren lässt und möglicherweise auch für die halfterlosen Pegasoi mitzudenken ist. Da die Wiedergabe des „crouching horse“ exakt diesem Motiv des Pegasos entspricht, können wir davon ausgehen, dass auch das thessalische „crouching horse“-Motiv verschiedene Momente vereint. Statt eines Pferdes, das dabei ist sich hinzulegen, haben wir m. E. ein Pferd vor uns, das mit einem Vorderhuf gescharrt bzw. den Huf zuvor auf den Boden geschlagen hat. Dieser Hufschlag löst etwas aus, das das Fluchttier Pferd veranlasst, wachsam (daher die angewinkelten Hinterbeine) bereit zum Davongaloppieren zu sein. Der gesenkte Kopf steht sowohl für das Wittern von Wasser als auch für anschließendes Trinken. Aus dem ‚sich hinlegenden‘ und dem ‚grasenden‘ Pferd werden somit ein Pferd, das eine Quelle fließen lässt (Abb. 10–11) und – in der Folge – ein trinkendes Pferd (Abb. 12). Ein Motiv spiegelt die Kraft Poseidons, eine wasserreiche und damit fruchtbare, ‚rossenährende‘ Landschaft62 zu schaffen und zu gestalten, das andere zeugt vom seinem Erfolg für die thessalische Agrarwirtschaft. Wie erwähnt finden sich Nymphenbildnis und trinkendes Pferd auch in anderen Städten Thessaliens (Abb. 10–12, 17–18);63 in der wasserreichen thessalischen Ebene ist diese Kombination auch andernorts sinnstiftend.

3. Resümée In klassischer und hellenistischer Zeit findet das Motiv des ‚grasenden Pferdes‘ vielfach und vielerorts in der Münzikonografie Verwendung64, in der Kaiserzeit taucht es dagegen mit Ausnahme von Alexandria Troas kaum und wenn, dann nicht als Reihenphänomen auf.65 Meist reflektieren grasende Pferde die landwirtschaftliche Ausrichtung der verschiedenen griechischen Prägeherren (Städte, Bünde, Könige). Die naturräumlichen und agrarwirtschaftlichen Bedingungen in der Troas und in Thessalien ähneln sich; im numismatischen Umgang mit dem ‚grasenden Pferd‘ allerdings unterscheiden sich die beiden von Pferdehaltung geprägten Landschaften. Mal sind das eine Quelle findende (oder freilegende) und das trinkende Pferd eins von vielen Pferdemotiven (in Thessalien: Abb. 10–12, 17–20 und 23–24),

59 Ravel 1948, 160f. Nr. 455–457 Taf. 30 (n. l.); 166f. Nr. 495–499 Taf. 32 (n. r.); 167f. Nr. 500–502 Taf. 33 (n. l.) und 202 Nr. 698–702 Taf. 43 (n. r.). Die Stempel stammen aus verschiedenen Serien der vierten Periode (415–387 v. Chr.). 60 Ravel 1948, 167f. Nr. 500–502 (Rs.-Stempel P249) Taf. 33 sowie Vergrößerung auf Taf. 73. 61 Pind. O. 13,61–86. 62 Vgl. Anm. 31. 63 Nur in Kierion ist es ein Krieger (BCD Thessaly II 63 Nr. 96). 64 Siehe Anhang. 65 Zu den Kolonialbronzen aus Alexandria Troas kommen eine den ‚castulonischen Minen‘ zugewiesene hispanische Prägung, eine pseudo-autonome Prägungen des thessalischen Bundes und Sesterzen des Nerva mit zwei grasenden Maultieren (Nachweise im Anhang).

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mal scheint das Grasen66 und später das Kultbild-Finden zentral und als Alleinstellungsmerkmal für eine einzige Polis, für Neandria (Abb. 2–3) und in der Folge für Alexandria Troas (Abb. 4–8), charakteristisch. Sowohl in Thessalien als auch in der Troas spielt das Pferd als Reittier auf Münzen kaum eine Rolle, es geht hier in der Regel um das Pferd selbst, nicht (zumindest nicht augenscheinlich) um seine dem Menschen dienende Funktion. Das spricht dafür, dass hinter dem vordergründigen Motiv des Grasens auch andere – sakrale – Bedeutungsebenen impliziert sein können. So lassen sich in beiden Landschaften Bezüge zu regionalen Gottheiten und Kulten herausarbeiten: in der Troas zu Apollon Smintheus, in Thessalien zu den lokalen und vielfach eponymen Nymphen und dem allgegenwärtigen (traditionell pferdegestaltigen) Poseidon.

66 Oder sind es konkret die Frischwasserquellen auf dem Çiğri Dağ, die für Neandria ortspezifisch waren/sind und hier daher zu einem ebenfalls trinkenden Pferd führten?

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Anhang: Liste von Prägeherrn mit dem ‚grasenden Pferd‘ Vorbemerkungen: Eine äsende Hirschkuh findet sich bereits früh auf den bekannten Elektronprägungen mit der ΦΑΝΗΣ-Legende, vgl. Weidauer 1975, 18f. Nr. 39–40 Taf. 5; später findet sich die Hirschkuh äsend auf hellenistischen Bronzen aus Ephesos (z. B. SNG von Aulock Nr. 1842; SNG Muharrem Kayhan Nr. 292–317) oder in der Nachbarstadt Magnesia am Mäander (SNG von Aulock Nr. 2041). Der ‚grasende Pegasos‘ (Abb. 13–14) ist oben im Zusammenhang mit dem „crouching horse“ in Thessalien diskutiert. Die zahlreich in der Münzprägung vorhandenen Pferde der Makedonischen Könige grasen nicht; Ausnahmen sind unbestimmte der thrako-makedonischen Region zugewiesene Hemiobolen mit quadratum incusum auf der Rs. und eine makedonische Bronze unter Philipp V. oder Perseus (Vs. Poseidon: CNG E-Auktion 250 [23.2.2011] Nr. 38). SPANIEN ‚Castulonische Minen‘ (Abb. 15): Ein möglicherweise in der Nähe von Castulo im Kontext der Blei- und Silberminen geprägtes As (ein Exemplar, BM, Inv. Nr. 1911,0906.1, wurde in El Centenillo gefunden) zeigt ein grasendes Pferd: RPC I 132 Taf. 10. Auch wenn Pferde insgesamt häufiges Motiv in der hispanischen Münzprägung sind, in Castulo fehlt das Pferd im Repertoire sonst. Kese-Tarraco (Abb. 16): Wie überall in Spanien waren hier die Münzen besonders des 2. Jahrhunderts v. Chr. geprägt von Pferde- und Reiterbildern. Als Ausnahme findet sich hier auf Bronzen auch ein grasendes Pferd (Villaronga 1994, 161 Nr. 25; 163 Nr. 41 und 165 Nr. 52); eine andere Variante zeigt ein Pferd mit gesenktem Kopf und nach hinten austretendem Vorderhuf (Villaronga 1994, 160 Nr. 13): Dieses Motiv gibt ein anderes Moment wieder als friedliches Grasen, es erinnert an die Protome aus dem thessalischen Skotussa (vgl. dort mit Abb. 21). THESSALIEN Atrax (Abb. 17): Das grasende Pferd ist die Ausnahme und findet sich wenn, dann meist in Bronze (Rogers 1932, 64 Nr. 167 Abb. 69, Vs. Nymphe); gängiger ist hier ein stehendes Pferd mit erhobenem Kopf. Ein Obol (BCD Thessaly II 39 Nr. 54) zeigt ein „crouching horse“, dessen Stempel von dem zuvor in Larissa verwendeten Motiv beeinflusst zu sein scheint. Gyrton (Abb. 18): Ungewöhnlich war hier die offenbare Nähe von Mensch und Tier, wiedergegeben mit einer ‚Staffelbüste‘ auf spätklassischen Bronzen, die im Vordergrund den lokalen Heros Gyrton zeigt, dahinter einen Pferdekopf (Rogers 1932, 80 Nr. 227–228 Abb. 101–102, hier Abb. 18); auch weitere Pferdebilder sind präsent. In gleicher Weise wie in Larissa wurde hier auf Hemidrachmen der Typ des „crouching horse“ geprägt, nach rechts oder links ausgerichtet und mit dem Nymphenkopf auf der Vs. kombinert: Abb. 18 (BCD Thessaly I Nr. 1050 oder BCD Thessaly II 53 Nr. 77 und 55 Nr. 82/1).

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Kierion (Abb. 19): Die verschiedenen Pferdemotive wurden hier meist mit einem gerüsteten Krieger auf der anderen Münzseite kombiniert. Die Pferde gehen, traben oder galoppieren, sie sind immer nach rechts ausgerichtet und in der Regel aufgezäumt. Ein seltener Typ zeigt – wie in Larissa und anderen Poleis – das „crouching horse“. Larissa (Abb. 10–12): Zentrale Themen sind hier die eponyme Nymphe Larissa und das Pferd – beide erscheinen in verschiedenen Posen. Im 4. Jahrhundert v. Chr. wurden beide Hauptakteure auf Vorder- und Rückseite miteinander kombiniert (Vs. Nymphenkopf – Rs. ‚grasendes Pferd‘); beide Varianten, sowohl das ‚Quelle findende‘ Pferd mit einknickenden Hinterbeinen (Abb. 10) als auch das klassische grasende/trinkende Pferd im Normaltypus (Abb. 12) finden sich dann in der Drachmenprägung. Auf Bronzemünzen (Abb. 11) erscheint lediglich das „crouching horse“ (Rogers 1932, Nr. 282f. Abb. 136, Nr. 288–293 Abb. 140–141, Nr. 294–298 Abb. 143). Daneben betonen andere Pferdedarstellungen die Bedeutung für die Stadt, u. a. auch ein Stute mit Fohlen. Anders als in Ekabatana (s. u.) wird in Larissa ein ‚Staffelbild‘ gezeigt: im Vordergrund das Muttertier, das Jungtier im Hintergrund mit leicht gesenktem Kopf. Auch dieses Motiv mag mehrdeutig lesbar sein: als Beleg für thessalische Pferdezucht sowie als Hinweis auf die zahlreichen sexuellen Eskapaden Poseidons in Pferdegestalt. Neben dem Pegasos zeugte er dergestalt u. a. mit (Demeter) Erinys das Rennpferd Areion (Meyer 1902–1909, 2803; Wüst 1935, 492; Schachermeyer 1950, 16, 40 u. ö.; Nilsson 1955, 214 und 448; Gaitzsch 2011, 55). Pharkadon (Abb. 20): Trabende (seltener galoppierende) Pferde und Pferdeprotome (im Sprung begriffen) sind in der (Klein-)Silberprägung geläufig; der Typ ‚grasendes Pferd‘ wurde in spätklassischer Zeit/Mitte des 4. Jhs. v. Chr. nur in Bronze geprägt (Rogers 1932, 151 Nr. 462–463 Abb. 254–255). Auffällig ist, dass das Schrittmotiv des Pferdes hier in der Regel am Passgang orientiert ist. Bislang nur in Ausnahme überliefert ist auch hier die Variante mit eingeknickten Hinterbeinen (BCD Thessaly II 261 Nr. 622/1–622/2). Skotussa (Abb. 21–22): Auf Kleinsilbermünzen (Vs. bärtiger Herakles) findet sich die nach rechts gerichtete Protome eines aufstampfenden Pferdes (der linke Vorderhuf ist erhoben), das den Kopf gesenkt hält, eine aufgestellte Mähne hat und ein Halfter (!) trägt. Dieses Tier kann nicht friedlich grasen und scheint erregt (Abb. 21). Pendelton 2004, 23f. mit Taf. 1, 2a–b sieht in den aus dem Münzbild herausführenden Zügel einen Hinweis darauf, dass das Pferd von einem nicht im Münzbild befindlichen Menschen geführt oder gezogen wird. In der Bronzeprägung (Vs. jugendlich unbärtiger Herakles: Rogers 1932, 171 Nr. 539 Abb. 297 oder 171f. Nr. 541 Abb. 299) ist die Pferdeprotome nicht aufgezäumt und entspannter (Abb. 22); sie hält zwar einen Vorderhuf vorgestreckt, mitunter steht dieser jedoch am Boden auf. BCD Thessaly II 300 Nr. 743/2 zeigt das Pferd mit dem Nasenrücken am vorderen Mittelfuß scheuernd wie auf den frühen Larissa-Prägungen. Thessalischer Bund (Abb. 23): Im Hellenismus war das bewegte Pferd deutlich präsent, allerdings ist eine Abbildung des grasenden Pferdes äußerst selten (Rogers 1932, 26f. Nr. 57 Abb. 10 = BCD Thessaly II 375 Nr. 909/2–4); Bundesprägungen der Kaiserzeit thematisierten mehrheitlich Gottheiten und Heroen, das Pferd spielte quantitativ eine geringere Rolle. Pseudo-autonome Kleinbronzen unter Hadrian (Rogers 1932, 40f. Nr. 93 Abb. 33 und Burrer 1993, 195 Nr. 142–143, ‚Gruppe 2‘ = RPC III 464) zeigen ein etwas ungelenkes grasendes Pferd.

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ACHAIA Pheneos (Abb. 24): Wie in Neandria fokussieren die Münzen die Landwirtschaft, gleichzeitig sind die abgebildeten Tiere bestimmten Gottheiten auf der Vorderseite zugeordnet und stehen damit auch in sakralem Kontext. Das grasende Pferd gehört zu Artemis Heurippa (300–240 v. Chr.: Hoover 2011, 249 und 251 Nr. 988), die vor Ort ein Heiligtum besaß, in dem auch Poseidon Hippios verehrt wurde; Tempel und Kultbild waren der Legende nach von Odysseus gestiftet, zum Dank, als er auf ihrem Territorium seine Pferde wiedergefunden hatte (Paus. 8,14,5, dazu Meyer 1902–1909, 2825 und 2838f.; Wüst 1953, 484, 499 und 519; Pretzler 1999, 47 und Tausend 1999, 366f.). Pausanias überliefert eine Inschrift an der Statue des Poseidon, die Anweisungen an die Pferdehirten enthält und die Tausend 1999, 367 als „Aition für die Existenz der Pferdezucht in der Pheneatike“ ansieht. Des Weiteren lobt Strabon die arkadische Zucht und hebt ihre Weideplätze hervor (Strab. 8,8,1). Funde von Pferdeknochen sind in der Gegend besonders zahlreich (Tausend 1999, 367). BOSPOROS Pantikapaion (Abb. 25): Auf einer städtischen Emission aus der Zeit 355–340 v. Chr. grast ein Pferd mit struppiger Mähne und angedeutetem Gras auf der Bodenlinie (MacDonald 2005, 20 Nr. 49 [Tetradrachmen mit Apollon] und Nr. 50 [Didrachmen mit Satyr]). Später unter dem König Asander (47–16 v. Chr.) erscheint Pegasos, der einen Vorderhuf schlagend und die Hinterbeine angewinkelt hält – wie bei Mithradates VI.: MacDonald 2005, 52 Nr. 218. TROAS Neandria (Abb. 2–3): Hier finden sich verschiedene Motive aus dem landwirtschaftlichen Milieu, dazu gehört das Pferd, das in AR und AE stets nach rechts grasend gezeigt wird. Im späten 4. Jh. v. Chr. wurde die Stadt verlassen und ging in der Neugründung Alexandria Troas auf; das Münzbild wurde transferiert. Alexandria Troas (Abb. 4–8) war die Nachfolgesiedlung von Neandria und übernahm von dieser das grasende Pferd für ihre Münzen. Wie in Neandria gilt auch hier: wenn Pferd, dann grasend. Das Motiv wurde in der Kaiserzeit von der römischen colonia weitergeprägt und nun gelegentlich in Kombination mit Baum und/oder Hirte gezeigt (Bellinger 1958, Typen 39–45): Neben der Verortung in einen Landschaftskontext erfolgte damit eine Einbindung des alten agrarisch ausgerichteten Motivs in den städtischen Mythos des Smintheus-Kultes (Weiß 1996, 169f.). KAPPADOKIEN Ariaramnes (ca. 255–225 v. Chr., Abb. 26) prägte ausschließlich Bronzemünzen mit Pferdemotiven auf der Rs., darunter ist auch ein grasendes Pferd im Normaltypus (Simonetta 1977, 16f.; Michels 2009, 212f. 311; Bendschus [in Druckvorbereitung] Typ KAP3). Er führte griechische Legenden ein; ob die Pferdemotive entsprechend in griechischem Kontext zu lesen sind, muss offenbleiben. Das Porträt des Königs mit Bashlik auf der Vorderseite ist traditionell ‚östlich‘ gehalten; die Lederkappe ist Bestandteil der medischen Reitertracht. Das konkrete Motiv des grasenden Pferdes erschließt sich im Rahmen königlicher Münzikonografie

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höchstens über die Ebene ‚Statussymbol‘ und die Möglichkeit, dass große Pferdeherden eine starke Kavallerie ermöglichen (vgl. auch Ekbatana). ARMENIEN Tigranes II. der Große (95–55 v. Chr., Abb. 27): Die Münzprägung Tigranes’ II. ist vielfältig und verteilt sich über den langen Zeitraum seiner Herrschaft. Die Bronzemünzen scheinen in vielen verschiedenen Prägestätten herausgegeben worden zu sein. Auf einigen wenigen findet sich mitunter ein nach rechts gewandtes „crouching horse“ mit gesenktem Kopf und angezogenem Vorderhuf (Nercessian 1996, 9 Nr. 20; Bendschus [in Druckvorbereitung], Typ ARM47). Die Aussage des Münzbildes mag vergleichbar sein mit dem Pegasos unter Mithradates VI. und Ariarathes IX. MEDIEN Ekbatana (Abb. 28–29) fungierte als herrscherliche Prägestätte; eine eigene städtisch-autonome Prägung fehlt. Auf postumen Alexanderprägungen in allen drei Metallen und auf seleukidischen Herrschermünzen findet sich als Beizeichen ein nach links stehendes Pferd mit gesenktem Kopf, das so hinter dem eigentlichen Hauptmotiv platziert ist, dass es wie eine Pferdeprotome erscheint (Abb. 28). So ist es klar zu unterscheiden von dem stets in Gänze und frei im Raum wiedergegebenen grasenden Pferd von Alexandria Troas. Die Zuweisung des ‚mint mark‘ zu Ekbatana wird von Newell 1978, 167f. ausführlich begründet. Dazu kommen königliche Bronzen Antiochos’ III. in vier Nominalen mit dem nach links grasenden Pferd als Hauptmotiv (SC I 1264–1267 Taf. 96, hier Abb. 29) sowie eine Stute mit Fohlen (SC I 1268–1271 Taf. 96). Anders als in Larissa werden hier nicht beide Tiere im Staffelschema gezeigt, sondern eine säugende Stute. Diese Komposition erinnert an illyrische Münzen aus Apollonia und Dyrrhachion mit einer säugenden Kuh (vgl. Maier 1908, 1–33; Ceka 1972) und andernorts. Die parallele Präsenz beider Motive – grasende Pferde und Stute mit Jungtier – auch hier in Medien spricht für die Existenz von guten Weidegründen und bedeutender Zucht (so Pol. 5,44,1 oder 10,27. Strab. 11,13,7 bezeichnet das beste Weidegras als ‚medisches‘). RÖMISCHE REICHSPRÄGUNG Nerva (Abb. 30): Zwei Sesterztypen (RIC II 93 und 104) zeigen zwei gegenpaarig stehende Maultiere, die ihren Kopf gesenkt halten und entspannt grasen, während hinter ihnen eine nicht benötigte Deichsel mit Geschirr aufragt. Bild und Legende VEHICVLATIONE ITALIAE REMISSA verweisen wohl auf eine Entspannung, die für die italischen Gemeinden eingetreten ist, weil Nerva ihnen die (finanziellen und tierischen) Belastungen für das Transport- und Postwesen im Rahmen des cursus publicus erlassen hat. Diese Schlussfolgerung beruht allein auf der Deutung von Bild und Text der Münzen; schriftliche Quellen zu einem kaiserlichen Erlass scheinen nicht überliefert zu sein (Holmberg 1933, 42–44). Das Motiv des grasenden Pferdes (oder Maultiers) ist sonst in der römischen Reichsprägung unbekannt.

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Abbildungsverzeichnis Mein herzlicher Dank für die freundliche Gewährung der Bildrechte gilt Richard Beale (Roma Numismatics Ltd., London ), Karsten Dahmen (Münzkabinett Berlin), PaulFrancis Jacquier (Numismatique antique, Kehl am Rhein), Achim Lichtenberger (Archäologisches Museum der WWU Münster), Hans-Christoph von Mosch (Gorny & Mosch, München), Dale Tatro (Classical Numismatic Group Inc. ), Jesús Vico (Jesús Vico S.A., Madrid) und Alan Walker (Nomos AG, Zürich). Alle Münzen sind im Maßstab 1:1 wiedergegeben; z. T. die Pferdeseite auch in 2:1-Vergrößerung. Abb. 1: ‚Weidendes Pferd‘ im Essener Hügelpark; Foto: Verf. Abb. 2: Hemidrachme aus Neandria, Gorny & Mosch, Auktion 200 (10.10.2011) Nr. 1678. Abb. 3: AE aus Neandria, CNG, E-Auction 360 (30.9.2015) Nr. 140. Abb. 4: Halbsiglos aus Alexandria Troas, Münzsammlung des Archäologischen Museums der WWU, Inv. M 5352, Foto: Robert Dylka. Abb. 5: Tetradrachme des Antiochos Hierax aus Alexandria Troas, grasendes Pferd als Beizeichen: CNG, Auction 96 (14.5.2014) Nr. 537. Abb. 6: Hellenistische AE aus Alexandria Troas, Münzsammlung des Archäologischen Museums der WWU, Inv. M 5348, Foto: Robert Dylka. Abb. 7: Kaiserzeitlich-koloniale AE aus Alexandria Troas: Pferd allein, Slg. BF, Foto: Robert Dylka.

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Abb. 8: Kaiserzeitlich-koloniale AE aus Alexandria Troas: Pferd mit Hirte und Baum, Münzsammlung des Archäologischen Museums der WWU, Inv. M 1045, Foto: Robert Dylka. Abb. 9: Drachme aus Larissa, sog. Sandalenserie, CNG, Triton XVI (8.1.2013) Nr. 327. Abb. 10: Drachme aus Larissa mit dem „crouching horse“, CNG, E-Auction 389 (18.1.2017) Nr. 126. Abb. 11: AE aus Larissa mit dem „crouching horse“, Roma Numismatics Ltd., Auktion 3 (31.3.2012) Nr. 109. Abb. 12: Drachme aus Larissa, Normaltypus; Münzsammlung des Archäologischen Museums der WWU, Inv. M 739, Foto: Robert Dylka. Abb. 13: Tetradrachme des Mithradates VI. mit „crouching Pegasos“, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Objektnummer 18204034, Foto: Dirk Sonnenwald. Abb. 14: Stater aus Korinth mit dem „crouching Pegasos“, Nomos, Auktion 13 (7.10.2016) Nr. 189. Abb. 15: As, ‚Castulonische Minen‘, Jesús Vico, S.A., Auktion 132 (14.11.2012) Nr. 558. Abb. 16: AE aus Kese-Tarraco, CNG, E-Auction 322 (12.3.2014) Nr. 35. Abb. 17: AE aus Atrax, Gorny & Mosch, Auktion 195 (7.3.2011) Nr. 1446. Abb. 18: Hemidrachme aus Gyrton, CNG, E-Auction 352 (3.6.2015) Nr. 80. Abb. 19: Obol aus Kierion, CNG, Auktion 90 (23.5.2012) Nr. 15. Abb. 20: Dichalkon aus Pharkadon, Jacquier, Auktion 39 (12.9.2014) Nr. 66. Abb. 21: Hemidrachme aus Skotussa, CNG,Triton XV (3.1.2012) Nr. 740. Abb. 22: Dichalkon aus Skotussa, CNG, E-Auction 263 (31.8.2011) Nr. 64. Abb. 23: Thessalischer Bund, CNG, Triton XV (3.1.2012) Nr. 953. Abb. 24: AE aus Pheneos, Münzsammlung des Archäologischen Museums der WWU, Inv. M 898, Foto: Robert Dylka. Abb. 25: Tetradrachme aus Pantikapaion, CNG, Auktion 102 (18.5.2016) Nr. 324. Abb. 26: AE des Ariaramnes, CNG, Mail Bid Sale 72 (14.6.2006) Nr. 838. Abb. 27: AE des Tigranes II. aus Damaskos, CNG, E-Auction 294 (16.1.2013) Nr. 189. Abb. 28: Alexander-Tetradrachme aus Ekbatana, Protome eines grasenden Pferdes als Beizeichen, CNG, E-Auction 351 (20.5.2015) Nr. 357. Abb. 29: AE des Antiochos III. aus Ekbatana, CNG, E-Auction 342 (14.1.2015) Nr. 342. Abb. 30: Sesterz des Nerva, Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, Objektnummer 18204404, Foto: Dirk Sonnenwald.

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Philipp II. von Makedonien, Athen und der Plan eines Perserkrieges Michael Zahrnt

Obwohl er selbst nicht gerade für Vertragstreue bekannt war, konnte Philipp II. sehr unangenehm reagieren, wenn er sich betrogen wähnte. Erste nachweisbare „Opfer“ waren die thrakischen Chalkidier und der Molosserkönig Arybbas, der Onkel von Philipps Frau Olympias und deren Bruder Alexandros. Bald nach seiner Eheschließung mit Olympias hatte Philipp den jungen Alexandros nach Pella geholt und als Arybbas’ Nachfolger aufgebaut. Noch vor Mitte 349 vertrieb er diesen und setzte Alexandros in Epeiros als Herrscher ein. Möglicherweise hatte Arybbas die Tatsache, dass Philipp sich im Sommer 352 an den Thermopylen zurückziehen und wenige Monate später seinen Thrakienfeldzug wegen Erkrankung abbrechen musste, ausnutzen wollen, eine etwas unabhängigere Politik zu betreiben, und wohl auch Verhandlungen mit den Athenern angeknüpft. Als Philipp aus Thrakien zurückgekehrt und gesundet war, war mit derartigen Eigenmächtigkeiten Schluss.1 Was für Arybbas nur zu vermuten war, ist für die thrakischen Chalkidier eindeutig bezeugt: 357/6 hatten diese einen Vertrag mit dem Makedonenkönig geschlossen, der einen gemeinsamen Friedensschluss der Vertragspartner vorsah, dann aber einseitig den Kriegszustand mit Athen beendet.2 349 brach der Olynthische Krieg aus, ein Jahr später waren die Stadt zerstört, der Chalkidische Bund aufgelöst und die gesamte Halbinsel im makedonischen Königreich aufgegangen. Das nächste „Opfer“ war der Thrakerkönig Kersobleptes, mit dem Philipp mehrfach zusammenstieß. Ein erster Schlagabtausch könnte im Jahr 356 stattgefunden haben, als die Bewohner der thasischen Gründung Krenides den Makedonenkönig zu Hilfe riefen; allerdings berichten unsere Quellen von keiner Schlacht. Zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam es jedoch gut vier Jahre später, als Philipp nach seiner Umkehr an den Thermopylen in Kersobleptes’ Reich einfiel, ihn zu Gebietsabtretungen zwang und zu einem Vasallenfürsten degradierte.3 Erneut zog Philipp im Frühjahr 346 während der Friedensverhandlungen mit den Athenern gegen Kersobleptes und nahm dessen Hauptfestung Hieron Oros ein, musste dann aber nach Pella zurückkehren, weil dort zahlreiche Gesandtschaften auf ihn warteten.4 Im

Die mit dieser Festschrift Geehrte weiß, warum ich nach 2011 erschienene Literatur nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte. 1 Vgl. Errington 1975; Heskel 1988; das entscheidende Zeugnis ist Demosth. 1,13, der im Sommer 349 von einem Feldzug Philipps gegen Arybbas spricht. 2 Vgl. StV 308 bzw. 317. 3 Vgl. StV 319; Griffith 1979, 281–285. Zwar sind seit 1979 einige neuere Darstellungen, darunter auch brauchbare, über Makedoniens bedeutendsten König erschienen, doch reicht keine von diesen auch nur entfernt an Griffiths Beitrag im zweiten Band der „History of Macedonia“ heran; es genügt daher zumeist, nur diesen zu zitieren. 4 Vgl. Griffith 1979, 339, 341, 554f.

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Sommer 342 brach Philipp zu seinem letzten Thrakienfeldzug auf; ab jetzt verschwindet Kersobleptes aus unseren Quellen.5 Der skythische König Ateas, dessen Reich auch die Dobrudscha umfasste, schloss wohl im J. 340 gegen feindliche Nachbarn mit Philipp ein Bündnis, das er allerdings schon 339 aufkündigte, als die äußere Bedrohung fortgefallen und Philipp vor Perinth und Byzanz erfolglos geblieben war. Einzelheiten des nun folgenden Feldzugs bis an die Donau sind nicht bekannt, wir wissen nur, dass Philipp siegte und Ateas fiel.6 Mit den Thebanern schließlich hatte Philipp wahrscheinlich im Frühjahr 353 ein Bündnis geschlossen,7 für das zwar keine Einzelheiten überliefert sind, das aber einerseits zu einer Hilfeleistung für den nach Kleinasien entsandten thebanischen Feldherrn Pammenes, andererseits in den Jahren 353/2 zum vorübergehenden und im Jahr 346 zum endgültigen Eingreifen Philipps in den Krieg gegen die Phoker führte. Somit verdankten die Thebaner dem Makedonenkönig die Niederwerfung der Phoker und die Wiederherstellung des Boiotischen Bundes im alten Umfang, doch mussten sie bald erkennen, dass Philipp der eigentliche Sieger des im Jahr 346 beendeten Krieges war. Sie waren durch die mehrjährigen Kämpfe stark mitgenommen, während ihr Verbündeter mit sehr viel geringerem Einsatz durch deren Beendigung noch größer geworden war und in Mittelgriechenland jetzt die beherrschende Stellung einnahm, die sie in ihren besten Tagen innegehabt hatten. Diese Abkühlung des Verhältnisses zu Philipp führte schließlich zum Bruch mit dem Makedonenkönig: Im Sommer 339 marschierten die Thebaner gegen Nikaia, das die Thermopylen beherrschte, vertrieben die dort stationierte makedonische Besatzung und nahmen den Platz in Besitz. Wenige Monate später kam es zum Abschluss eines Bündnisses zwischen den Rivalen Athen und Theben; im August 338 besiegte Philipp beim boiotischen Chaironeia die vereinigten und durch die Aufgebote einiger weiterer griechischer Staaten verstärkten Truppen der Athener und Boioter.8 Aufschlussreich ist die Behandlung der beiden Verbündeten.9 Philipp versprach, sein Heer nicht über die attische Grenze zu führen, die Gefangenen gleich nach der Annahme des Friedens durch die athenische Volksversammlung in Freiheit zu setzen und die sterblichen Reste der bei Chaironeia Gefallenen nach Athen überführen zu lassen. Nicht nur Attika, sondern auch die athenische Verfassung sollten unangetastet bleiben, obwohl Philipp mit dieser Demokratie und ihren Repräsentanten wahrlich keine guten Erfahrungen gemacht hatte und sonst eher oligarchische Systeme unterstützte. Wie wenig sich der Makedonenkönig um die Vorgänge in Athen kümmerte, zeigt die Tatsache, dass wenige Wochen später Demosthenes die Rede auf die bei Chaironeia Gefallenen halten durfte. Dass einer der erbittertsten und entschiedensten Gegner des Makedonenkönigs damals für diesen Staatsakt ausersehen werden konnte, zeigt deutlich, wie wenig dieser in die inneren Verhältnisse der Stadt eingriff. Außerhalb Attikas wurden die Athener allerdings weniger schonend behandelt: Von ihren auswärtigen Besitzungen durften sie zwar Samos sowie die auf der Route zum Hellespont

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Vgl. Griffith 1979, 555–557. Vgl. Griffith 1979, 560–562, 582f. Vgl. Griffith 1979, 266f. Vgl. Griffith 1979, 587–603. Vgl. Griffith 1979, 604–613.

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gelegenen Inseln Skyros, Lemnos und Imbros behalten, mussten aber die thrakische Chersones an Philipp abtreten. Da die Athener von der Getreideeinfuhr aus dem Schwarzmeergebiet abhängig waren, musste ihnen die Wegnahme dieser Halbinsel die Möglichkeit der Sperrung des Hellespont vor Augen führen und sie so zum Wohlverhalten Philipp gegenüber verpflichten. Ferner wurde der Zweite Athenische Seebund, bzw. was von ihm noch übrig war, aufgelöst. Wie gnädig die Athener behandelt wurden, zeigt aber erst der Vergleich mit den Bedingungen, die Philipp den Thebanern auferlegte. Anders als die Athener mussten diese ihre Gefangenen freikaufen, außerdem scheint das makedonische Heer noch für Wochen nach der Schlacht im Lande geblieben zu sein. Der Boiotische Bund wurde nicht aufgelöst; auf diesem Wege sollten die Thebaner, die jetzt ihre führende Stellung in Boiotien verloren hatten, neutralisiert werden. Diesem Zweck diente auch die Wiederherstellung der Städte Orchomenos, Plataiai und Thespiai, welche die Thebaner in der Zeit ihrer Herrschaft zerstört hatten und deren zurückgekehrte Bürger nun eine Art Gegengewicht gegen die Thebaner bilden würden. Auf der Kadmeia wurde eine makedonische Besatzung stationiert und den Verbannten die Rückkehr gestattet. Das brachte Philipps Parteigänger ans Ruder; seine Gegner wurden hingerichtet bzw. in die Verbannung getrieben. Alle diese Maßnahmen hatten ein und dasselbe Ziel: Theben sollte als Landmacht vernichtet und der Kontrolle feindlicher Nachbarn unterstellt werden. Dabei kam die Stadt noch glimpflich davon: Die Chalkidier waren nach einem minder schweren Vertragsbruch sehr viel härter bestraft worden, und die Athener hätten in ihren Seebundzeiten möglicherweise in Theben die Männer umgebracht und Frauen wie Kinder versklavt; beides blieb dem „großen“ Alexander vorbehalten. Die schonende, ja wohlwollende Behandlung der Athener sollte daher zu denken geben – und hat es natürlich auch. So lag nach K.J. Belochs Ansicht in der Endphase des Phokischen Krieges „die Vernichtung der athenischen Macht gar nicht in Philipps Interesse, sondern im Gegenteil die Anbahnung guter Beziehungen und, wenn möglich, der Abschluss eines Bündnisses mit dem bisherigen Gegner“, habe er doch damals schon die „Einigung Griechenlands unter makedonischer Führung“ und die „Eroberung des Perserreiches“ geplant. „Für beides aber war die Beherrschung des Meeres die notwendige Voraussetzung; und diese war nur zu gewinnen, wenn Athen sich an Makedonien anschloss.“ Auch für F. R. Wüst gehörten „die Gewinnung des Balkanrumpfes, die Hegemonie in Griechenland und der Kampf mit Persien zu Philipps frühen Plänen“, die er „mit größter Konsequenz verfolgt“ und „nur die Mittel seiner Politik … geändert und der jeweiligen Lage angepasst“ hat. Für G. T. Griffith schließlich wollte Philipp die athenische Flotte erhalten, um sie für einen Krieg gegen das Perserreich einzusetzen. Das erkläre auch sein stetes Werben um die Athener, das seit dem Jahr 348 eindeutig feststellbar sei.10 Die letztgenannte Tatsache ist unbestreitbar, ja eine gewisse Schonung Athens ist, wie wir noch sehen werden, bereits in den vorangegangenen Jahren zu beobachten. Das führt uns zur Frage, ab wann Philipp ernsthaft mit dem Gedanken eines Zuges gegen das Perserreich gespielt und nach diesem Ziel seine Politik auf der Balkanhalbinsel ausgerichtet hat. In unseren Quellen taucht dieser Gedanke zum ersten Mal für das Jahr 346 auf, allerdings in einer späteren Quelle. Diodor (16,60,4–5) schließt den Bericht über die Beendigung des Phokerkrieges folgendermaßen ab: 10 Beloch 1922, 502; Wüst 1938, 33, 35; Griffith 1979, 460f., 467f., 493f., 512f., 516, 595, 619.

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„Nachdem Philipp den Amphiktyonen geholfen hatte, ihre Beschlüsse in die Tat umzusetzen, und sich allen gegenüber entgegenkommend erwiesen hatte, kehrte er nach Makedonien zurück. Er hatte nicht nur den Ruf der Frömmigkeit und einer großen feldherrlichen Befähigung erworben, sondern auch wichtige Vorbereitungen für den ihm bestimmten Machtzuwachs getroffen. Denn er wünschte, zum bevollmächtigen Feldherrn Griechenlands ernannt zu werden und den Krieg gegen die Perser zu führen. Und so sollte es auch geschehen.“ Diodor oder sein Gewährsmann wussten natürlich, dass dieser dem König für das J. 346 zugeschriebene Wunsch später Wirklichkeit geworden war, und könnten ihn zu Unrecht in dieses Jahr hinaufdatiert haben. Andererseits, hatte der Plan eines Krieges gegen den Großkönig auch im Jahr 346 nichts Unrealistisches, wenn wir die Lage im Perserreich betrachten, wie sie beispielsweise Isokrates in seinem in diesem Jahr verfassten Philippos schildert, mit dem er den Makedonenkönig für einen Feldzug gegen das Perserreich gewinnen wollte. Isokrates konnte Philipp einen solchen Plan nur dann vortragen, wenn er damit rechnen durfte, dass dieser diesen Vorschlag nicht als weltfremde Spinnereien eines athenischen Rhetorikprofessors abtun, sondern aufgrund der damaligen Machtverhältnisse und der Lage im Perserreich für durchführbar halten würde. Das war offensichtlich auch anderen aufgefallen, und so konnte der Tyrann Iason von Pherai gegen Ende der 70er Jahre mit seiner Ankündigung, er werde gegen das Perserreich ziehen, Glauben finden. Xenophon hat dem Tyrannen von Pherai folgendes in den Mund gelegt: „Dir ist ja sicherlich bekannt, dass auch der Perserkönig dank der Einkünfte nicht von den Inseln, sondern vom Festland, der reichste Mann der Welt ist. Diesen zu meinem Untertanen zu machen, ist ein Plan, den ich glaube leichter verwirklichen zu können, als mir Hellas zu unterwerfen. Denn ich weiß, dass im Perserreich alle Menschen mit Ausnahme eines einzigen mehr Übung darin haben, sich sklavisch zu benehmen, als sich wie freie Männer zu wehren. Und ich weiß andererseits, durch was für Streitkräfte – und das gilt sowohl für das Heer des Kyros bei seinem Marsch ins Landesinnere wie für das des Agesilaos – der Perserkönig bereits an den Rand des Verderbens gebracht wurde“.11 In der Tat waren seit dem erfolgreichen Rückzug der 10.000 griechischen Söldner und mehr noch seit den Operationen der Spartaner im westlichen Kleinasien Schwäche und militärische Unterlegenheit der Perser unübersehbar geworden – und dabei hatten sich diese nur gegenüber einem Teil der potentiellen griechischen Streitkräfte blamiert. Erst recht bot das Perserreich in den ersten Jahren von Philipps Regierung ein Bild, das noch mehr als zu Beginn des Jahrhunderts zu einem Einfall verlocken musste,12 zumal einen Mann wie den Makedonenkönig, der sein Reich bis zum Jahr 346 zur weitaus größten Macht auf der Balkanhalbinsel gemacht hatte. Jetzt hatte eine solche Unternehmung erst recht realistische Aussicht auf Erfolg. Schließlich konnte Philipp sich ausrechnen, welche Streitkräfte er zusammenbringen könnte und wieviel geringere in der Vergangenheit die Perser das Fürchten gelehrt hatten. 11 Xen. Hell. 6,1,12. 12 Vgl. Zahrnt 1983, 252f., 276–281.

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Der Plan eines Perserkrieges kann folglich bei Philipps Überlegungen schon recht früh eine Rolle gespielt haben. Das ist auch die Ansicht derjenigen englischsprachigen Forscher, die in den 70er Jahren mit ausführlichen Darstellungen der Geschichte Philipps an die Öffentlichkeit getreten sind und offensichtlich unabhängig voneinander ähnliche Überlegungen entwickelt haben: J. R. Ellis, G. Cawkwell und der schon genannte G. T. Griffith. So hält letzterer es für sicher, dass Philipp sehr bald erkannt habe, dass ein erobertes Kleinasien ganz andere Einnahmen bringen musste als Griechenland und Thrakien zusammen, wenn es überhaupt gelänge, sie tributpflichtig zu machen. Zweifelhaft bei all dem sei nur, wie weit seine Pläne im Jahr 346 gereift waren. Der einzige Hinweis sei seine Politik gegenüber den Athenern seit dem Jahr 348, die vermuten lasse, dass er die Stadt jetzt als Bundesgenossin habe gewinnen wollen. Das einzige Ziel, für das Athen wirklich ein unerlässlicher Bundesgenosse war, sei ein Krieg gegen Persien gewesen, für den er die athenische Flotte benötigt habe. So seien jetzt zumindest die ersten Grundlagen für einen Perserkrieg gelegt worden. Die Ausführung dieses Plans habe aber davon abgehangen, dass der Zustand in Europa, also in Illyrien, Thrakien und bes. Griechenland, eine sichere Basis für diesen Zug bot. So habe er diese Pläne auch bis in die Zeit nach der Schlacht bei Chaironeia geheim gehalten. Vorsichtiger ist Cawkwell, der zum Philokratesfrieden des Jahres 346 feststellt, Philipp habe ein Bündnis mit den Athenern gesucht, weil er zu diesem Zeitpunkt schon entschlossen gewesen sei, das Perserreich anzugreifen. Hierfür sei die athenische Flotte unverzichtbar gewesen. Unsicher sei nur, wann genau der Plan eines Angriffs auf das Perserreich entstanden sei.13 Die Entstehung dieses Planes sieht Ellis deutlicher. Die Erfolge des Thebaners Pammenes, in dessen Haus Philipp einige Zeit als Geisel gelebt hatte und der 353 erfolgreich in Kleinasien operierte, sowie die Flucht des aufständischen Satrapen Artabazos und seines Söldnerführers Memnon nach Makedonien seien für Philipp sozusagen wichtige Denkanstöße gewesen.14 Die letztgenannten hätten ihn ohne Zweifel um Hilfe gebeten, und wohl noch vor 349 habe er sich entschlossen, ihren Wünschen nachzugeben, sowohl wegen der in Asien zu erwerbenden Reichtümer als auch wegen des in Griechenland zu erlangenden Prestiges, wenn er die kleinasiatischen Griechen von der Perserherrschaft befreie. Diese Idee habe dann zu keimen begonnen und allmählich seine gesamte Politik bestimmt. Zwischen 348 und 346 habe er versucht, eine Regelung der Verhältnisse auf der südlichen Balkanhalbinsel herbeizuführen, die zweierlei garantierte: das Mitwirken der Athener bei einem Zug gegen das Perserreich und die Stabilität des griechischen Festlandes in seinem Rücken. Die Griechen hätten ihn also nur insoweit interessiert, als er deren See- und in geringerem Umfang Landstreitkräfte für seine Pläne im Osten einsetzen wollte und nicht zulassen durfte, dass sie während seiner Abwesenheit gegen ihn verwandt wurden. Aber diese Pläne habe Demosthenes infolge seiner Kurzsichtigkeit zunichtegemacht, und so habe Philipp das, was er bereits 346 geplant hatte, erst nach dem Sieg bei Chaironeia durchsetzen können.15 13 Cawkwell 1978, 111f. 14 In diesem Zusammenhang ist wohl auch Amminapes zu nennen, ein vornehmer Parther, der zu einem nicht mehr zu bestimmenden Zeitpunkt und aus uns unbekannten Gründen von Ochos verbannt wurde und an den Hof Philipps ging. Von hier scheint er nach Ägypten gelangt zu sein, wo er im J. 332 erfolgreich für den Anschluss des Landes an Alexander tätig war. 15 Ellis 1976, 11f., 92, 127, 144f., 233f.

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Eine derartige Übereinstimmung verschiedener Forscher konnte natürlich nicht unwidersprochen bleiben, und so hat R. M. Errington alle drei zeitlichen Ansätze verworfen und Philipp erst kurz vor der Schlacht bei Chaironeia den Gedanken eines Perserkrieges fassen lassen. Nachdem seine Diplomatie in Mittelgriechenland gescheitert sei, habe er die Griechen dadurch mit der makedonischen Macht versöhnen wollen, dass er sich mit „some dramatic ‚Greek‘ gesture“ ein nationales Anliegen zu eigen machte.16 Das ist eine originelle Vorstellung, auch wenn ich sie nicht nachvollziehen kann; m. E. wäre Philipp der letzte gewesen, der sich auf ein Abenteuer der Art eingelassen hätte, wie Errington es ihm unterstellt. Wenige Jahre später hat H. Klees versucht, Ellis, Cawkwell und Griffith zu widerlegen, und hat zu diesem Zweck ausführlich „Die Expansion Makedoniens unter Philipp II. und de(n) Philokratesfrieden“ untersucht. Für die Beantwortung der Frage, „ob die Griechenlandpolitik Philipps in dieser Zeit unter dem Vorzeichen eines bereits von ihm gefassten Planes, das Perserreich anzugreifen, zu sehen sei“, beschränkt er sich auf die Zeit bis zum genannten Friedensschluss und auf diejenigen Fakten und Nachrichten, die seine These stützen, und kommt zum Ergebnis, Philipp könne kaum gehofft haben, mit seinen Erfolgen in der ersten Hälfte der 40er Jahre „eine solide Grundlage für eine makedonisch-griechische Verständigung erreichen zu können, wie die Durchführung eines Krieges gegen Persien sie vorausgesetzt hätte“.17 Das haben die von ihm nicht sorgfältig gelesenen Forscher so auch gar nicht behauptet, sondern sie haben mehr auf die von Philipp den Athenern gegenüber betriebene Politik geschaut als auf das, was infolge der engstirnigen Verweigerungshaltung der Athener aus Philipps Bemühungen wurde. Schließlich hat der Verfasser ausdrücklich darauf verzichtet, die weiteren Ereignisse bis zum Wiederausbruch des Krieges zwischen Philipp und den Athenern zu verfolgen, und folglich von Philipps Versuchen, die Athener doch noch für sich zu gewinnen, überhaupt keine Notiz genommen. Auch J. Buckler ignoriert sie und erklärt Philipps „ambitions in Persia“ zum „subject of numerous conjectures“. In seinen Augen war Philipp ein Aggressor und ein Opportunist, der schon ziemlich früh daran gedacht habe, seinen Einfluss nach Mittel- und Südgriechenland auszudehnen, der sich aber erst relativ spät dazu entschlossen habe, in Griechenland direkt einzumarschieren. Folgerichtig interpretiert Buckler die nach dem Abschluss des Heiligen Krieges in Phokis getroffenen Regelungen als gegen die Athener gerichtet: Philipp habe seine Anwesenheit südlich der Thermopylen deutlich machen und die Athener einschüchtern wollen, aber noch keine genaueren Pläne zur Unterwerfung ganz Griechenlands entwickelt. Auch in den folgenden Jahren seien sein eigentliches Ziel die Athener gewesen, die sich vom Beginn seiner Regierung an seinen Ambitionen hindernd in den Weg gestellt hätten. Erst in seinem Krieg gegen die Athener sei Philipp die Möglichkeit bewusstgeworden, sich der Herrschaft über Griechenland zu bemächtigen.18 Auch hier kann ich nicht folgen: Erstens können wir mehrfach beobachten, dass Philipp die Athener geradezu schonend behandelt hat, und zweitens hat er auch dann, als es ihm möglich gewesen wäre, keine unmittelbare Herrschaft über Griechenland aufgerichtet. Das soll zur Widerlegung genügen, und wir können uns wieder den Ausführungen Erringtons zuwenden.

16 Errington 1981, 74f., 77, 79, 81–83; Zitat: 83. 17 Klees 1987, 132, 150–159, 184, 190 (Zitate: 132, 190). 18 Buckler 1996, 77f., 84f., 90–92.

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Dieser ist ehrlich genug zuzugeben, dass seine Erklärung „also has no positive support in the sources“. Mit „also“ bezieht er sich auf die genannten Forscher, von denen Ellis die genauesten zeitlichen Vorstellungen entwickelt hat. Es muss also im Folgenden darum gehen, die von diesem und anderen Forschern vorgeschlagenen Daten als realistisch zu erweisen. Dabei können wir noch weiter hinaufgehen als Ellis. Die ersten Kontakte zwischen Philipp und den Athenern ergaben sich aus deren Hilfeleistung für den Prätendenten Argaios bald nach Philipps Regierungsantritt, als Philipp die athenischen Gefangenen ohne Lösegeldforderung zurückschickte und den Abschluss eines Friedens (oder sogar eines Vertrags) anbot,19 doch mag beides der Situation des neuen Herrschers geschuldet gewesen sein. Zwei Jahre später hatte sich diese grundlegend verändert und konnte sich Philipp der Stadt Amphipolis bemächtigen, um deren Rückgewinnung sich die Athener vergeblich bemüht hatten. Wenig später eroberte Philipp auch das an der Küste Pieriens gelegenen Pydna, und spätestens jetzt erklärten ihm die Athener den Krieg. Philipp antwortete mit dem Abschluss eines Bündnisses mit den Chalkidiern, denen er die unweit Olynths gelegene athenische Kleruchie Poteidaia zu verschaffen versprach. Nach deren Einnahme durften die athenischen Kleruchen die Stadt unversehrt verlassen, obwohl Philipp seit einiger Zeit mit Athen im Krieg lag und notorisch knapp bei Kasse war. Die Freigabe der Gefangenen war eine Geste gegenüber den Athenern, wie Philipp sie in ähnlicher Form wiederholen sollte: Er wünschte Frieden mit ihnen, ohne ihn notwendig zu haben, während die Athener immer mehr in die Lage kamen, einen Friedensvertrag mit Philipp notwendig zu haben, den sie nicht wünschten. Wir kommen zu Pammenes, von dem für Ellis der erste Denkanstoß ausgegangen war; Philipp wusste von dessen Truppenstärke, da er ihm im J. 353 den Durchzug durch Makedonien und Thrakien erleichtert hatte. Desgleichen erfuhr er von dessen Erfolgen über die Satrapen des Großkönigs, spätestens nachdem Artabazos, in dessen Dienst Pammenes gestanden hatte, zu ihm nach Makedonien geflohen war. Es ist also gut vorstellbar, dass Philipp jetzt schon mit dem Gedanken eines Perserkrieges spielte. Aber für diesen und für die durch ihn bedingte Abwesenheit waren die Verhältnisse noch nicht günstig. Mit der Seemacht Athen lag er im Krieg, und wenn die Athener ihm auch bislang nicht hatten schaden können, sondern einen Stützpunkt nach dem anderen an ihn verloren, als mögliche Verbündete des Großkönigs konnten sie durchaus ein Ärgernis werden. Auch hatte er zwar im Sommer 352 Thessalien gegen die Tyrannen von Pherai und die vordringenden Phoker gesichert, nicht aber die Thermopylen besetzen können; damit war die Möglichkeit einer entscheidenden Einflussnahme in Mittelgriechenland noch nicht gegeben; erst recht war immer noch nicht die wohlwollende Neutralität der Athener, geschweige ihre Kooperation gesichert. Aber einen Perserkrieg konnte Philipp auch auf anderem Wege vorbereiten. Unmittelbar nach dem Rückzug von den Thermopylen führte er sein Heer in Eilmärschen nach Thrakien und bis an die Propontis. Natürlich sollte dieser Zug in erster Linie eine Demonstration gegenüber den Athenern sein, ein deutlicher Hinweis darauf, dass er jederzeit ihre Kornzufuhr und ihre Besitzungen auf der Chersones bedrohen könne. Aber die Unterordnung des Kersebleptes als Vasall und Philipps Bündnisse mit Byzanz und eventuell Perinth und Kardia sicherten gleichzeitig ein Gebiet, das er für den Marsch eines Landheeres gegen Kleinasien dringend benötigen würde. Wieweit die Vorbereitungen gehen sollten, bleibt unbekannt, da

19 Vgl. StV 298.

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Philipp erkrankte und die Unternehmung abgebrochen werden musste.20 Natürlich sollte es jetzt noch nicht gegen das Perserreich gehen; das war schon angesichts der bisherigen Haltung der Athener unmöglich. Der Plan eines solchen Zuges, der jetzt sicher schon eine Rolle in Philipps Überlegungen spielte, musste wenig später noch attraktiver erscheinen, als dem Großkönig nicht nur die Rückeroberung Ägyptens misslang, sondern als infolge dieser Niederlage auch in den an Ägypten angrenzenden Satrapien Unruhen ausbrachen.21 Es scheint kein Zufall zu sein, dass wir vom Herbst 351 an für eineinhalb Jahre von keinerlei Unternehmungen Philipps gegen die Athener oder ihre Verbündeten hören, dass diese erst im Zusammenhang mit seinem Vorgehen gegen den Chalkidischen Bund wieder aufgenommen wurden und dass der Makedonenkönig den Athenern selbst in dieser Zeit Friedensvorschläge unterbreitete.22 So spricht m. E. vieles dafür, dass Philipp den Plan eines Krieges gegen den Großkönig schon am Ende der 50er Jahre gefasst hatte und dass er nach diesem Plan seine Politik in Griechenland ausrichtete. Diese dürfte auf folgender Überlegung aufgebaut gewesen sein: Für einen Perserkrieg benötigte er die Griechen, wenn schon nicht als Mitkämpfende, so doch als wohlwollend Neutrale; und er musste sicherstellen, dass sie nicht vom Großkönig aufgestachelt in seinem Rücken Schwierigkeiten bereiten konnten. Letzteres galt in erster Linie für Athen, wo Stadt und Hafen eine schwer einzunehmende Festung bildeten und auf keinen Fall ein persischer Stützpunkt auf dem europäischen Festland werden durften. Nach dem Fall Olynths machte Philipp den Athenern ein erneutes Friedensangebot, aber erst gut eineinhalb Jahre später kam es zum Abschluss eines Friedens und eines Bündnisses, und zwar auf der Grundlage des gegenwärtigen Besitzstandes.23 Die Athener mussten also auf Amphipolis und andere an der makedonisch-thrakischen Küste verlorengegangene Plätze verzichten; dafür garantierte Philipp aber den Besitz der für die Athener lebensnotwendigen thrakischen Chersones. Dass das seinerseits ein echtes Entgegenkommen war, hat er den Athenern noch während der Friedensverhandlungen demonstriert: Während in Athen über die von ihm in Pella vorgeschlagenen Bedingungen beraten wurde, führte er einen Blitzfeldzug gegen Kersebleptes und zwang diesen erneut zur Anerkennung der makedonischen Oberhoheit. Von hier aus wäre es ein Katzensprung auf die Chersones gewesen. Trotz seiner erneut demonstrierten Überlegenheit hat Philipp den Athenern im J. 346 einen verhältnismäßig günstigen Frieden gewährt. Wie die Athener zu diesem Vertrag standen, zeigte sich wenige Wochen später, als Philipp zum entscheidenden Schlag gegen die phokischen Tempelräuber ausholte und die Athener aufforderte, sich mit seinen Streitkräften zu vereinen, doch beschränkten sich die neuen Verbündeten auf die Entsendung einer Gesandtschaft und schickten auch keinen offiziellen Vertreter in den Amphiktyonenrat, der über das Schicksal der Phoker entscheiden sollte. Schließlich versuchten sie bei den Pythien des Herbstes 346, die erstmals unter Philipps Vorsitz stattfanden, durch Nichtentsendung einer Festgesandtschaft eine weitere Provokation.

20 Vgl. zum Feldzug, zu Philipps Absichten und zu den Vertragsabschlüssen StV 318f.; Griffith 1979, 282–285. 21 Vgl. Zahrnt 1983, 278–280. 22 Vgl. Griffith 1979, 312–314, 329. 23 Zu Vorgeschichte, Abschluss und Inhalt des Philokratesfriedens von 346 vgl. StV 329; Griffith 1979, 329–345.

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Wenig später erschienen jedoch Abgesandte Philipps und der Thessaler in der Stadt und forderten im Namen der Amphiktyonie von der athenischen Volksversammlung, die Aufnahme des Makedonenkönigs in den Amphiktyonenrat offiziell anzuerkennen. Die Athener mussten notgedrungen einlenken. Allerdings blieb es bei dieser Demütigung; hätte Philipp es darauf angelegt, wäre angesichts der phokerfreundlichen Haltung der Athener während des Heiligen Krieges und der allgemeinen Stimmung unter den Amphiktyonen die Entfachung eines erneuten Heiligen Krieges, jetzt gegen die Athener, ein leichtes gewesen.24 Auch in den folgenden Jahren hat sich Philipp um ein gutes Verhältnis zu Athen bemüht, ja sogar für einen Beschluss der Amphiktyonen gesorgt, der Athens Aufsicht über das Apollonheiligtum von Delos bestätigte.25 Das änderte nichts an der Tatsache, dass ein gutes Einvernehmen mit den Athenern nach den in den letzten Jahren gegen sie geführten Schlägen sicher nicht leicht zu erreichen war, während die gleichzeitigen Versuche, den eigenen Einfluss südlich der Thermopylen auszuweiten, die Beziehungen zu den Athenern noch mehr trüben bzw. eine Annäherung erschweren mussten. Anfangs hoffte Philipp, durch Entgegenkommen etwas zu erreichen, und bot den Athenern im Winter 344/3 Verhandlungen über eine Revision des Friedensvertrages von 346 an; die Athener brachten diese Verhandlungen durch überzogene Forderungen zu Fall. Philipp reagierte, indem er im J. 343 erneut in die inneren Angelegenheiten griechischer Städte verwickelt war, wobei diese jetzt teilweise schon in größerer Nähe Athens lagen.26 Nach dieser Warnung trat er im Frühjahr 342 mit einem erneuten Angebot, die gegenseitigen Beziehungen zu verbessern, an die Athener heran; als er wieder auf Ablehnung stieß, war ihm klar, dass weitere Versuche, ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden Mächten herzustellen, zum Scheitern verurteilt waren.27 Aber die Bedingungen, unter denen ein Ausgleich hergestellt würde, wollte er selbst festlegen. Denn nun schritt er im Sommer 342 zur Eroberung Thrakiens, das bisher nur in losem Abhängigkeitsverhältnis zu Makedonien gestanden hatte, um das gesamte Gebiet bis hin zu den Meerengen seinem Reich einzuverleiben. Mit ihrem Besitz war es möglich, die Athener in die Knie zu zwingen, ohne es zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen zu lassen.28 In der Tat hatten die Athener nicht nur die Angebote des Makedonenkönigs, den im Jahr 346 geschlossenen Vertrag zu revidieren, zurückgewiesen, sondern diesen sogar vorsätzlich verletzt. 343/2 führte der Stratege Diopeithes Kleruchen auf die thrakische Chersones, um diesen für die Athener so wichtigen Besitz zu sichern. Dabei versuchte er, sein Siedlungsprogramm auch auf das Gebiet des im Norden der Halbinsel gelegenen Kardia auszudehnen, obwohl die Stadt mit Philipp verbündet war. Als dessen Vorschlag, die Streitfrage durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen, in Athen abgelehnt wurde, entsandte er Truppen nach Kardia. Diopeithes fiel daraufhin in das angrenzende inzwischen von Philipp beherrschte thrakische Gebiet ein, zog sich dann aber bei dessen Herannahen auf die Chersones zurück; ferner erpresste er von einem Gesandten Philipps, der zwecks Auslösung von Gefangenen 24 25 26 27

Zur Verweigerungshaltung der Athener und Philipps Hinnahme vgl. Griffith 1979, 345–347, 455f. Vgl. Griffith 1979, 468. Ausführliche Behandlung und Wertung durch Griffith 1979, 489–504. Zu Philipps Verhandlungsangebot des Frühjahrs 342 und zur Reaktion der Athener vgl. Griffith 1979, 510–516. 28 Vgl. die Überlegungen bei Griffith 1979, 569f.

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gekommen war, ein hohes Lösegeld. Philipp hatte damals in Thrakien alle Hände voll zu tun und beschränkte sich auf einen Protest in Athen.29 Hier war es im Frühjahr 341 zu einem Bündnis mit Chalkis gekommen und hatte dessen führender Politiker Kallias Schiffe erhalten, mit denen er im Golf von Pagasai Plünderungen durchführte.30 Philipp reagierte nicht unmittelbar auf diese Provokationen, sondern wandte sich zunächst gegen Byzanz und das westlich davon gelegene Perinth. Um sich ihrer zu bemächtigen, benötigte er auch seine Seestreitkräfte. Aber am Hellespont lag Chares mit einer athenischen Flotte. Um die Durchfahrt seiner eigenen Schiffe zu sichern, marschierte Philipp mit seinem Heer in die thrakische Chersones ein. Er ließ dabei zwar nach Möglichkeit das Eigentum der athenischen Kleruchen schonen, enthielt sich jedes Angriffs auf die festen Plätze und räumte das athenische Gebiet sogleich, nachdem er seine Flotte glücklich in die Propontis gebracht hatte; dennoch war dies ebenso ein Friedensbruch wie seinerzeit der Einfall des Diopeithes. Aber anders als die Athener versuchte Philipp, den seinen zu entschuldigen, und richtete ein Schreiben an die Athener, das im Corpus der Demosthenischen Reden überliefert ist.31 Die Belagerung Perinths erwies sich als ausgesprochen schwierig, zumal die Stadt durch die Byzantier und die persischen Satrapen auf der Ostseite der Propontis unterstützt wurde. Daraufhin versuchte Philipp im Herbst 340 mit einem Teil seiner Truppen einen Überfall auf Byzanz. In seiner Nähe kreuzte der athenische Feldherr Chares, der die Aufgabe hatte, die aus dem Schwarzmeergebiet eintreffenden Getreideschiffe in und durch die Ägäis zu geleiten, und der, während sich diese Flotte sammelte, mit den persischen Feldherrn zu einer Besprechung zusammentraf. Die griffbereit vor ihm liegende Flotte war zu verlockend, als dass Philipp auf eine solche Gelegenheit noch ein ganzes Jahr hätte warten wollen. Jedenfalls kaperte er sie während Chares’ Abwesenheit und handelte sich zusätzlich zur reichen Beute die athenische Kriegserklärung ein. Dass diese erfolgen würde, muss ihm klar gewesen sein. Es fragt sich nur, ob er tatsächlich die Athener im Krieg niederringen oder ob er sie nicht durch den Schlag gegen die Getreideflotte von ihrer Unterlegenheit auch zur See überzeugen wollte.32 Jedenfalls hat er sich um die Athener fürs erste nicht gekümmert, sondern seine Operationen gegen Byzanz fortgesetzt. Dieses wurde jetzt aber erfolgreich durch die Athener unterstützt, und im Frühjahr 339 musste Philipp seine Operationen abbrechen. Aber statt gegen die Athener zog er gegen die Skythen nahe der Donaumündung, um seine Neuerwerbung Thrakien auch von dieser Seite her zu sichern, und dann durch das Gebiet der Triballer nach Makedonien zurück.33 Hier erreichte ihn bald ein Hilferuf seiner Freunde in Mittelgriechenland. Hier war während Philipps Abwesenheit im Norden der sogenannte Vierte Heilige Krieg ausgebrochen, den die Mitglieder der Delphischen Amphiktyonie gegen Amphissa beschlossen hatten, den sie aber nach kurzer Zeit abbrechen mussten, weil die Thebaner nicht nur den Amphissaiern den Rücken stärkten, sondern durch die Besetzung der Thermopylen es den nördlich davon wohnenden Amphiktyonen unmöglich machten, ihre Truppen nach Süden zu 29 30 31 32

Vgl. zu Diopeithes’ Provokationen und Philipps Reaktionen Griffith 1979, 563–566. Vgl. zum Bündnis und zu Kallias’ Provokationen Griffith 1979, 548–554. Vgl. Griffith 1979, 567. Vgl. etwa Sealey 1978; 311; Errington 1986, 79f. sowie insgesamt zu den Vorgängen Griffith 1979, 575–578. 33 Vgl. Griffith 1979, 581–584 zu „Philip’s Scythian Expedition“.

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führen; im Herbst 339 mussten sie den Makedonenkönig herbeirufen.34 Noch im Winter gelang diesem der Durchbruch nach Elateia, von wo aus er Theben und schließlich auch Athen bedrohte. Vor diesem Hintergrund kam es zum Abschluss eines Bündnisses zwischen Theben und Athen. Philipp ließ sich dadurch nicht schrecken, sondern setzte im Frühjahr 338 seine Operationen fort, die ihn schließlich bis in das Gebiet des boiotischen Chaironeia brachten.35 Philipp, der für die Schnelligkeit seiner Operationen bekannt war, hat für diesen Marsch, der über Amphissa und eventuell Naupaktos führte, erstaunlich viel Zeit gebraucht. Offensichtlich versuchte er, eine Schlacht zu vermeiden; dafür sprechen auch die Gesandtschaften, die er – allerdings vergeblich – mit Friedensvorschlägen nach Theben und wohl auch nach Athen schickte.36 Schließlich war die militärische Entscheidung nicht mehr zu umgehen; sie fiel im August 338 bei Chaironeia eindeutig zugunsten des Makedonenkönigs. Jetzt konnte dieser erneut darangehen, sein Verhältnis zu den Griechen zu regeln und endlich den schon lange geplanten Perserkrieg in Angriff zu nehmen. Hat man diese Intentionen Philipps erfasst, dann wird auch seine Politik gegenüber verschiedenen griechischen Staaten verständlicher, die so ganz anders war als gegenüber den Barbaren Illyriens und Thrakiens, gegen die er des Öfteren zu Felde zog und denen gegenüber er sich auch nicht als zimperlich erwies. Bei den Griechen hat er nur zugeschlagen, wenn es nötig war, dann aber auch so effektiv, dass ein Schlag genügte. Nach dem Sieg konnte er jedoch wohldosierte Milde zeigen. Noch besser aber war es, wenn – wenigstens den Griechen gegenüber – aufs Zuschlagen überhaupt verzichtet werden konnte. Letzteres hatte sich leider als illusorisch erwiesen, aber nach dem Sieg bei Chaironeia konnte Philipp darangehen, endgültig die Weichen für eine schon lange anvisierte Zukunft zu stellen. Diesem Ziel, der Schaffung der Voraussetzungen für eine ungefährdete längere Abwesenheit und für einen erfolgreichen Angriff auf das Perserreich, dienten daher auch eindeutig die unmittelbar nach dem Sieg durchgeführten Regelungen, die ich anfangs schon vorgeführt habe und die vor dem inzwischen erarbeiteten Hintergrund verständlicher werden. Die weitgehende Schonung der Athener entsprach ebenso Philipps Interessen wie die harte Behandlung der Thebaner. Letztere waren trotz der bei Chaironeia erlittenen Niederlage immer noch die stärkste griechische Landmacht und Philipp seit seinem Aufenthalt als Geisel daselbst und der gemeinsamen Kriegführung gegen die Phoker wohlbekannt; aufgrund ihrer machtpolitischen Ambitionen konnten sie auch jetzt noch gefährlich werden, sollten sie in Philipps Abwesenheit die Ruhe in Mittelgriechenland stören.37 Das aber musste unbedingt verhindert werden. Kehren wir abschließend zu den Athenern zurück, deren jahrelange auffallend schonende Behandlung durch Philipp von manchen Forschern als Hinweis darauf genommen wird, dass Philipp ihre Flotte in einem geplanten Feldzug gegen das Perserreich habe einsetzen wollen.38 34 Ob und inwieweit dieser für den Ausbruch des Krieges, der dann einen ganz anderen Verlauf nahm, verantwortlich war, ist in der Forschung umstritten und kann hier nicht erörtert werden. 35 Vgl. zum Ausbruch des Vierten Heiligen Krieges, seinem Verlauf und dem Eingreifen Philipps Griffith 1979, 585–603. 36 Zu den Gesandtschaften – auch nach Athen – vgl. Gehrke 1976, 53–57; Griffith 1979, 594–595. 37 Anders Cawkwell 1978, 167f., demzufolge Philipp die Thebaner wegen ihrer Mithilfe bei der Rückeroberung Ägyptens bestrafen, und Worthington 2008, 154 für den sich Philipp für seine Behandlung als Geisel in Theben rächen wollte. 38 Für Griffith 1979, 619 wollte Philipp auch jetzt noch die athenische Flotte für einen Krieg gegen Persien erhalten.

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Tatsächlich hat weder bei der Entsendung von Philipps Vorauskommando im Frühjahr 336 noch beim Übersetzen Alexanders nach Kleinasien die athenische Flotte eine Rolle gespielt. 39 Das mag damit zusammenhängen, dass im ersten Fall die persische Flotte gar nicht und im zweiten eindeutig zu spät im Kampfgebiet erschienen war (Alexander lag schon vor Milet). Möglicherweise hatten aber auch beide Herrscher die Hoffnung aufgegeben, in einem geplanten Perserkrieg die athenische Flotte einsetzen zu können. Das ist verständlich: Schon Philipp hatte feststellen müssen, wie schwierig es war, ein gutes Verhältnis zu den Athenern nicht nur herzustellen, sondern auch zu erhalten; so dürfte er sich wohl mit ihrer wohlwollenden Neutralität begnügt haben, weil dann ihre bedeutende Flotte nicht zugunsten der Perser eingesetzt worden wäre. Alexander wiederum hatte nicht nur die Probleme seines Vaters mit den Athenern beobachten, sondern auch selbst in der Zeit bis zum Aufbruch gegen den Großkönig mehrfach ihre Unzuverlässigkeit feststellen können; folglich begnügte er sich mit der Mitnahme von zwanzig athenischen Schiffen – sozusagen als Geiseln. Das genügte für den Beginn eines Feldzugs, der ihn schließlich bis Indien führte.

39 Was Errington 1981, 74 als Argument gegen Ellis, Cawkwell und Griffith anführt.

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Literaturverzeichnis Beloch, Karl J., Griechische Geschichte III 1: Bis auf Aristoteles und die Eroberung Asiens, Berlin/Leipzig 1922. Buckler, John, Philip II’s Designs on Greece, in: Robert W. Wallace (Hrsg.), Transitions to Empire. Essays in Greco-Roman History 360–146 B. C., in Honor of E. Badian, Norman/London 1996, 77–97. Cawkwell, George, Philip of Macedon, London/Boston 1978. Ellis, John R., Philip II and Macedonian Imperialism, London 1976. Errington, Robert M., Arybbas the Molossian, GRBS 16, 1975, 41–50. Errington, Robert M., Review-Discussion: Four Interpretations of Philip II, AJAH 6, 1981, 69–88. Errington, Robert M., Geschichte Makedoniens: Von den Anfängen bis zum Untergang des Königreiches, München 1986. Gehrke, Hans-Joachim, Phokion. Studien zur Erfassung seiner historischen Gestalt, München 1976. Griffith, Guy Th., The Reign of Philip the Second, in: Guy Th. Griffith / Nicholas G. L. Hammond (Hrsgg.), A History of Macedonia II: 550–336 B. C., Oxford 1979, 201–646, 675–726. Heskel, Julia, The Political Background of the Arybbas Decree, GRBS 29, 1988, 185–196. Klees, Hans, Die Expansion Makedoniens unter Philipp II. und der Friede des Philokrates, in: Wolfgang Will / Johannes Heinrichs (Hrsgg.), Zu Alexander d. Gr. Festschrift G. Wirth zum 60. Geburtstag am 9.12.86, Amsterdam 1987, 131–91. Sealey, Raphael, Philipp II. und Athen 344/3 und 339, Historia 27, 1978, 295–316. Worthington, Ian, Philip II of Macedonia, New Haven/London 2008. Wüst, Fritz R., Philipp II. von Makedonien und Griechenland in den Jahren von 346 bis 338, München 1938. Zahrnt, Michael, Hellas unter persischem Druck? Die griechisch-persischen Beziehungen in der Zeit vom Abschluss des Königsfriedens bis zur Gründung des Korinthischen Bundes, AKG 65, 1983, 249–306.

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Der Krieg, die Götter, die Frauen. Zur Herrschaftsrepräsentation des Demetrios I. Poliorketes Benedikt Eckhardt

Idealtypen Demetrios Poliorketes steht, so ist unlängst formuliert worden, „exemplarisch für die allgemeinen Entstehungsbedingungen des hellenistischen Königtums“. 1 Aufstieg und Fall einer stets prekären Herrschaft finden sich hier gleich mehrfach durchgespielt; das Bemühen um Legitimität in einer im Entstehen begriffenen Welt, die sich auf allgemein geteilte Erwartungen noch nicht geeinigt hatte, führt hier zu besonders bemerkenswerten Ergebnissen. In seinen Antworten auf die drängende Frage, wie ein König nach Alexander zu sein habe, erscheint Demetrios als „eine nahezu idealtypische Verkörperung des hellenistischen basileús“.2 Man kann hier viel lernen. Was man aber lernt, hängt davon ab, was man wissen will. Plutarch etwa verspricht sich von Demetrios eine Lektion dazu, wie ein Mensch nicht sein sollte – ein ‚Antimodell‘ also, an dem entlang man dann erschließen kann, was eigentlich richtig wäre. 3 Die zitierte Position nutzt den Antigoniden ebenfalls als Modell, um eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zu bestätigen. ‚Der hellenistische basileús‘ ist ja selbst ein Idealtyp; genau besehen wäre also Demetrios die idealtypische Verkörperung eines Idealtyps, was ihn gewiss als Paradigma umso wichtiger macht, aber doch auch Fragen aufwirft – denn der Idealtyp hat gegenüber dem Realtyp den bekannten Nachteil, dass er in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Was aber, wenn man über ‚den hellenistischen basileús‘ gar nichts wissen, sondern sich Demetrios selbst nähern möchte? Dass die Karriere des Demetrios gängigen Erwartungen an das ‚hellenistische Königtum‘ in vielen Punkten nicht entspricht, ist gelegentlich herausgestellt worden. 4 Es sollte sich daher lohnen, auch seine Herrschaftsrepräsentation auf die Frage hin zu untersuchen, was vielleicht gerade nicht typisch, sondern recht speziell ist. Angesichts einer früh einsetzenden, uns aber nur noch fragmentarisch erhaltenen historiographischen Verarbeitung, die einerseits antigonidische Positionen speziell des Hieronymos von Kardia, andererseits aber auch beißende Kritik bewahrt hat,5 ist dabei mit Deutungskontroversen zu rechnen, die den Blick verstellen, aber auch eine Chance sein können. Unter Umständen lassen sich die ‚symbolischen Kämpfe‘ wenn nicht immer der Diadochenzeit selbst, so doch der historiographischen Deutung des 1 2 3 4 5

Diefenbach 2014, 36. Ebd. 41. Plut. Demetr. 1,3–6. Dazu jetzt ausführlich Scuderi 2014. Besonders von Bosworth 2002, 246–268. Zwei der wichtigsten Autoren, Hieronymos und Duris, sind einführend bei Knoepfler 2001 besprochen. Zur Verarbeitung von Hieronymos bei Diodor siehe Hornblower 1981, 18–75.

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Demetrios so rekonstruieren, dass zumindest einige Aspekte der ursprünglichen ‚herrscherlichen Inszenierungen‘ etwas schärfer in den Blick geraten. 6 Drei kurze Studien sollen im Folgenden diese Möglichkeit austesten.

Der Krieg Die Wiedereinführung des Königstitels im Jahr 306 v. Chr. war unmittelbares Resultat des Scheiterns traditioneller dynastischer Ansprüche und anschließender kriegerischer Auseinandersetzungen. Diese Tatsache hat wesentliche Aspekte der Herrschaftsrepräsentation zumindest der Diadochenzeit zweifellos geprägt. Ein agonales Element kennzeichnet insbesondere die Inszenierung der Königsproklamation von Antigonos und Demetrios; 7 es ist der Sieg des Demetrios vor Salamis, der das Königtum der Antigoniden offiziell begründet. Auch die anderen Diadochen mögen auf (echte oder vermeintliche) Siege verwiesen haben, bevor sie das Diadem – das dazu passend in der jüngeren Debatte wieder verstärkt aus den griechischen Siegerbinden abgeleitet wird – anlegten und zum βασιλεύς ausgerufen wurden.8 Zumindest für die Zeit von 306 bis 281 v. Chr. lässt sich der mit dem Königstitel verbundene Herrscheranspruch deshalb als ‚charismatisch‘ im Sinne Max Webers bezeichnen. 9 Er entstand aus einem Machtvakuum heraus, das eine Fortsetzung traditionaler Herrschaftsansprüche unmöglich machte und insofern als Notsituation verstanden werden kann, und beruhte zuallererst auf der persönlichen Bewährung im Kampf. Dass nach 281 dann Dynastien entstanden, die ein zutiefst traditionales Herrschaftsverständnis etablierten und deren Bestand von persönlicher Bewährung des Herrschers offenbar ganz unabhängig war, entspricht ebenfalls einer von Weber idealtypisch modellierten Entwicklung. 10 Diese Beobachtung mag für Metadebatten und vergleichende Ansätze von Nutzen sein.11 Wenn es um die konkrete Frage nach der Herrschaftsbildung und -repräsentation etwa des Demetrios geht, ist indes die Antwort, sie sei ‚charismatisch‘ gewesen, bestenfalls ungenau und womöglich sogar irreführend – insofern sie von spezifischen Elementen absieht und ‚das hellenistische Königtum‘ als einheitliches Konzept unhinterfragt voraussetzt. Hinzu kommt, dass in diesem Erklärungsmodell die Strategien herrscherlicher Inszenierungen nur partiell 6 Mehr kann der Verf. auf einem Gebiet, das er sonst nicht bearbeitet, kaum erhoffen. Da Linda-Marie Günther ihn stets dazu angeregt hat, sich auch Dingen zuzuwenden, denen aus dem Weg gehen zu können er gehofft hatte, trägt auch sie eine Mitschuld am nachfolgend Gebotenen. Die ‚symbolischen Kämpfe‘ sind eine Reminiszenz an den ursprünglich geplanten Titel seiner MA-Arbeit, der auf wenig Begeisterung stieß (L.-M. G.: „Mit ‚symbolischen Kämpfen‘ fang’ ich nicht an“). Am Ende ließ sich das Gemeinte auch schlicht als ‚Kampf um die Macht‘ umreißen. Die ‚herrscherlichen Inszenierungen‘ diskutiert auch Günther 2015. 7 Vgl. Mileta 2012; zur Inszenierung am Hof des Antigonos (Plut. Demetr. 17) auch Gruen 1986, 255–257. 8 Zum langen ‚Jahr der Könige‘ vgl. Müller 1973; Mileta 2012 (mit Quellenanhang). Zu Diadem und Tänien siehe Lehmann 2012; Mileta 2012, 324. Dass bereits die Athener Demetrios und Antigonos zu βασιλεῖς ausgerufen haben, wie Plut. Demetr. 10,3 behauptet, ist unwahrscheinlich: Paschidis 2013, bes. 124–126. 9 So Müller 1973, 108–121. Das Modell bei Weber 2009, 217–225. 10 Weber 2009, 224f. Dagegen will Gehrke 1982 den von Müller für die Diadochenzeit erreichten Befund auf die ganze hellenistische Zeit ausweiten. So dann auch – trotz einiger wichtiger Kritikpunkte am Modell – Gotter 2008. Die Trennschärfe und damit der Erklärungswert des Konzepts gehen dabei aber verloren. 11 Letzteres aber wohl nur mit erheblichen Modifikationen, für die Gotter 2008, 181–185 Vorschläge macht.

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berücksichtigt werden können. Die Betonung eigener Sieghaftigkeit und Kriegsbefähigung ist wohl keiner vormodernen Herrschaftsform fremd; gerade die Mischung von meritokratischen und dynastischen Argumenten macht aber womöglich das Spezifikum der Diadochenzeit aus.12 Es ist so richtig wie banal, dass – in der Formulierung einer Sudanotiz unklaren Ursprungs – bei der Annahme des Königstitels durch die Diadochen die Frage nach „Recht und Natur“ gegenüber der „Fähigkeit, ein Heer zu führen“, in den Hintergrund geriet. 13 Doch was das für die Frage der Herrschaftsrepräsentation bedeutete, ist damit nicht entschieden und muss fallweise geklärt werden. Demetrios profitierte nach Ipsos von rasch veränderlichen politischen Konstellationen, in denen gleich mehrere Parteien ein Interesse daran hatten, ihn als Verbündeten – oder auch nur als Störfaktor – im Spiel zu halten. Voraussetzung dafür war gerade die gravierende Niederlage des Jahres 301. Verbunden mit der durchaus richtigen Einschätzung Plutarchs, wonach Demetrios seine hohe Stellung im Wesentlichen dem väterlichen Erbe verdankte,14 bleibt zunächst wenig Raum für charismatisch-sieghafte Ideologien. Dennoch wird auch Demetrios in der Überlieferung als Mann des Krieges beschrieben und Plutarch selbst betont nur wenig später, Demetrios sei αὐτουργός seines Erfolges gewesen, während Antonius seine Siege allzu oft durch Feldherren habe erringen lassen, ohne selbst anwesend zu sein.15 Die Ambivalenz des Charakterbildes, das Plutarch von Demetrios erstellt, lässt sich hier einmal mehr greifen, doch ist mit diesen späten Urteilen noch nichts für zeitgenössische Legitimitätsfragen gewonnen. Demetrios selbst betonte den Aspekt der Sieghaftigkeit vor allem in den ab 301 entstandenen Münzen, die eine trompetende Nike auf einem Schiff zeigen. Den Bezug zur Seeschlacht bei Salamis im Jahr 306 suchte er also gerade in dem Augenblick, in dem er als großer Verlierer von Ipsos vor einer unsicheren Zukunft stand – gewiss kein schlechter Moment, um die eigenen Flottenbesatzungen daran zu erinnern, dass mit diesem König Schlachten gewonnen werden konnten. Die Motivwahl ist dabei durchaus innovativ: Nike und Schiff gehörten zwar zum Bildrepertoire auch der Münzen des Ptolemaios; Demetrios verband jedoch beide zu einer neuen, die Sieghaftigkeit konkret zur See betonenden Darstellung. 16 Die zuletzt verschiedentlich versuchte Wiederbelebung der alten These, die Nike von Samothrake sei ein von Demetrios gestiftetes Siegesmonument, würde den Hinweisen auf die herrscherliche Inszenierung des Demetrios einen bedeutenden hinzufügen, scheint allerdings auch in ihrer Neuformulierung nicht konsensfähig zu sein.17 Auf Kriegskunst und -erfolg weist schließlich der Beiname Poliorketes hin. Die technischen Aspekte der Kriegführung stehen in der Überlieferung stark im Vordergrund, ohne dass die Ereignisgeschichte einen derartigen Fokus nahelegt. Die Belagerung von Rhodos musste 304 12 Zur Bedeutung genealogischer Argumente vgl. Müller 2009. 13 Suda s. v. βασιλεία. Die Stelle wird seit langem als regelrechte Definition des ‚hellenistischen Königtums‘ hoch geschätzt (siehe etwa Kaerst 1898, 59f). Schlagende Argumente für eine hellenistische Datierung kenne ich nicht. 14 Plut. comp. Demetr. Ant. 1,1. 15 Plut. comp. Demetr. Ant. 5,2. 16 Siehe zu den Parallelen Bernhardt 2014, 59–67. 17 Miedico 2010, 37–45 (294–288 v. Chr.); Bernhardt 2014, 49–94 (301/0 v. Chr.). Die kunstgeschichtlichen Einwände gegen diese Deutung vermag ich nicht kompetent zu beurteilen; sie finden sich gesammelt in den durchweg ablehnenden, teils allerdings polemischen Rezensionen zu Bernhardt. Miedico gelangt jedenfalls zu einer partiell identischen Rekonstruktion der Statue (mit Diadem oder Tänie in der offenen Hand).

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abgebrochen werden und überhaupt ist das Bild des innovativen Genies, das die Belagerungstechnik revolutioniert, in jüngerer Zeit hinterfragt worden. Der Gigantismus im Einsatz von Material und Menschen scheint den Belagerungskampf nicht effektiver gemacht zu haben und ist von späteren Belagerern auch nicht fortgeführt worden.18 Auch unabhängig davon, wie man das taktische Geschick des Demetrios beim Einsatz seiner Kriegsgeräte beurteilt, muss festgehalten werden, dass die Helepolis mindestens in gleichem Maße eine herrscherliche Inszenierung gewesen ist, wie sie ein praktisches Belagerungsinstrument war. Die ungewöhnliche Größe des Geräts, verbunden mit der Vielzahl von Menschen, die zu ihrer Positionierung notwendig waren, war auch eine ostentative Zurschaustellung von Ressourcen; Plutarchs Bemerkung, die Maschinen seien den Belagerten „wie ein Spektakel“ (ὡς θέαμα) erschienen, beschreibt dies sicher zutreffend.19 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Demetrios – und dann die antigonidische Historiographie – die Belagerungstechnik als einen Aspekt der Herrschaftsrepräsentation herausstellte und auch der Name Poliorketes hier seinen Ursprung hat. Diodor nennt ihn erstmals im Kontext der Belagerung von Rhodos, und zwar in einem Zusammenhang, der zumindest nahelegt, dass die Rhodier selbst den Namen erfunden hätten. 20 Doch auf so eine historiographische Zuschreibung ist nicht viel zu geben; ebenso gut und wohl noch eher kann man sich vorstellen, dass das Demetrioslager den Namen verbreitete und in der historiographischen Inszenierung dann den ehrfürchtigen Rhodiern in den Mund legte. Daraus folgt natürlich auch, dass der Name nicht ironisch zu verstehen ist, sondern eine positive Qualität des Demetrios herausstellen sollte.21 Als βασιλεὺς εὐμήχανος passt Demetrios auf den ersten Blick in eine ‚hellenistische Königsideologie‘ gut hinein, die der militärischen Befähigung besondere Bedeutung zuwies. Die theoretische Beschäftigung mit dem Kriegswesen verhalf etwa auch Pyrrhos zu Ansehen,22 und die organisatorischen Leistungen des Demetrios werden in keiner Quelle bestritten. Und doch scheint es alternative Deutungsmöglichkeiten gegeben zu haben, die die Obsession des Königs mit Belagerungswaffen und ihrer Verbesserung in ein gar nicht so königliches Licht rückten. Wenn ein unbekannter Komödiendichter Lamia wegen ihres aufwändigen Lebensstils in Athen als „wahrlich eine Helepolis“ bezeichnet haben soll, 23 lässt sich das noch als billiger Spott begreifen. Auch auf die moralische Verurteilung des Namens Poliorketes durch Plutarch sollte man nicht viel geben;24 sein Ideal des ‚gerechten‘ Königs schließt an mehreren Stellen die Legitimität von Kriegshandlungen überhaupt aus und ist damit von 18 Pimouguet-Pédarros 2003, 381 stellt daher fest, dass „Démétrios avait conduit la poliorcétique grecque dans une impasse“. Viel positiver urteilt Lo Presti 2010, 321: Demetrios „abbia saputo fare della poliorcetica una vera e propria arte“. 19 Plut. Demetr. 20,4. 20 Diod. 20,92,2: εὐμήχανος γὰρ ὢν καθ’ ὑπερβολὴν ἐν ταῖς ἐπινοίαις καὶ πολλὰ παρὰ τὴν τῶν ἀρχιτεκτόνων τέχνην παρευρίσκων ὠνομάσθη μὲν πολιορκητής … 21 Ironie: Heckel 1984; dagegen etwa Lo Presti 2010, 318. 22 Plut. Pyrrh. 8,2. 23 Plut. Demetr. 27,2: διὸ καὶ τῶν κωμικῶν τις οὐ φαύλως τὴν Λάμιαν Ἑλέπολιν ἀληθῶς προσεῖπε. Angesichts der sonst von Plutarch (gerade auch in Kap. 27) gepflegten Zitationspraxis verwundert das Fehlen des Autorennamens. Vielleicht hat er das ungekennzeichnete Zitat aus dem unmittelbar zuvor genannten Werk des Lynkeus von Samos entnommen, doch man kann auch nicht ausschließen, dass er das Wortspiel selbst erfunden hat. 24 Plut. Demetr. 42,6.

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den Vorstellungen der Diadochenzeit weit entfernt. Von größerem Interesse sind einige Partien bei Plutarch, die die Konzentration auf die technischen Seiten der Kriegführung in einen impliziten Gegensatz zum tatsächlichen Kampf stellen. Wenn es heißt, Demetrios sei besser darin gewesen, ein Heer zu rüsten, als es zu brauchen, klingt Kritik an der kriegerischen Eignung des Städtebelagerers ebenso an wie im Bericht über Ipsos, der Demetrios aufgrund seines unbeherrschten Vorgehens als Mitverursacher der verheerenden Niederlage darstellt.25 Bei der Belagerung von Theben 290 v. Chr. versagt nicht nur die Helepolis, sondern Demetrios riskiert auch unnötigerweise das Leben seiner Soldaten; erst die Kritik unter anderem des Antigonos Gonatas bringt ihn dazu, wenigstens selbst in den Kampf einzugreifen.26 Wenn die Größe eines von ihm konstruierten Schiffs mit dem Hinweis herausgestellt wird, nur ein Schauschiff des Ptolemaios IV. habe ähnliche Dimensionen erreicht,27 steht bei allem Lob doch auch die Frage im Raum, wieviel Schauspiel der Krieg verträgt. Dem Löwenkampf des Lysimachos steht bei Demetrios nur der Kampf gegen Lamia gegenüber.28 Besonders im Vergleich zu Pyrrhos erscheint Demetrios als dezidiert ‚uncharismatisch‘: Der Aiakide wird dafür bewundert, seine Erfolge „per Hand“ (τῇ χείρι) – d. h. nicht mit Maschinen? – erreicht zu haben; in der direkten Konfrontation 288 v. Chr. laufen die Soldaten des Demetrios zu Pyrrhos über, weil der aufgrund seiner kriegerischen Fähigkeiten der „königlichste“ (βασιλικώτατος) Kandidat ist.29 Die antigonidische Geschichtsdarstellung mag auf solche Einwände reagiert haben, indem sie betonte, dass Demetrios etwa bei der Schlacht um Salamis „von allen am glänzendsten gekämpft“ habe.30 Jedenfalls scheint aber die innovative Präsentation des Demetrios als Ingenieur und Taktiker eine Umwertung hervorgerufen zu haben, die ihm im Gegenzug die Befähigung zum ‚eigentlichen‘ Kampf in der Nachfolge Alexanders absprach.

Die Götter Einen festen Platz hat Demetrios in der Geschichte des hellenistischen Herrscherkults. In keiner Darstellung hellenistischer Religionsgeschichte fehlt der ithyphallische Hymnos, mit dem die Athener wohl im Jahr 291/0 v. Chr. Demetrios als Sohn des Poseidon und der Aphrodite empfingen: Der gegenwärtige Gott Demetrios wird hier effektvoll mit „anderen Göttern“ kontrastiert, die entweder weit entfernt sind oder gar nicht existieren. 31 Reiches Anschauungsmaterial für die Konsequenzen der Ernennung von Menschen zu θεοὶ σωτήρες liefern bereits die Berichte über die erste Eroberung Athens durch Demetrios im Jahr 307; zu denken ist an das angeblich von Dromokleides veranlasste Dekret, wonach das Volk einen Mann wählen solle, um von Demetrios ein Orakel einzuholen, an die Umbenennung von

25 26 27 28 29 30 31

Plut. Demetr. 20,1; 29,3. Plut. Demetr. 40,1–3. Plut. Demetr. 43,3–5. Plut. Demetr. 27,3. Plut. Demetr. 41,3; 44,5. Diod. 20,52,1. Duris FGrH 76 F 13 (Athen. 6,253d–f); zusammenfassend Demochares FGrH 75 F 2 (Athen. 6,253b–c). Vgl. aus der Literatur nur Chaniotis 2011.

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Gesandten an Antigonos und Demetrios in θεωροί oder an die Einarbeitung ihrer Portraits in den bei den Panathenäen getragenen Peplos.32 Die Überlieferung ist dabei ganz auf Athen zentriert und durchweg polemisch (gegen Athen), was vorschnellen Verallgemeinerungen im Wege steht. Natürlich ist der von Städten an einen Herrscher herangetragene Kult nicht unmittelbar mit einer vom Herrscher selbst gewählten ‚Propaganda‘ zu verbinden. Städtische Herrscherkulte waren ein von beiden Seiten zu gestaltender Kommunikationskanal, der nicht zuletzt dazu diente, die Machtstellung hellenistischer Könige in einen auf Polisebene verhandelbaren Rahmen zu überführen.33 Demetrios hat aber offenkundig seinen Teil zur religiösen Inszenierung seiner Person beigetragen. Neben den Veranstaltungen im Parthenon, auf die noch zurückzukommen ist, steht etwa die regelwidrige Initiation in die eleusinischen Mysterien stellvertretend für die bewusste Manipulation lokaler Kulttraditionen vor dem Hintergrund des eigenen, übermenschlichen Anspruchs.34 Demetrios stand als Gott in Kontakt mit Göttern – Poseidon und Dionysos, Aphrodite und Demeter tauchen prominent in der Überlieferung auf. Ein Gott hingegen fehlt, obwohl man ihn erwarten könnte: Alexander III. Bereits Antigonos hatte zwar weiter im Namen Alexanders Münzen geprägt, allerdings keine eigene Variante der göttlichen Verehrung Alexanders angeboten und sich auch nicht am Rennen um die verbliebenen weiblichen Verwandten des verstorbenen Königs beteiligt. 35 Dieselbe Tendenz zur Eigenständigkeit findet sich nach 301 bei Demetrios. Während andere Diadochen noch mit verschiedenen Versionen eines Alexanderportraits experimentierten und die Frage ihrer Herrschaftseignung und -berechtigung damit eng an ihr Verhältnis zum letzten selbstständig agierenden Argeadenkönig banden, prägte Demetrios – wie auch Ptolemaios – sein eigenes Portrait auf Münzen.36 Gerade in Makedonien dürfte dies andere Assoziationen hervorgerufen haben als in Ägypten. Auch wenn bereits Philipp II. auf Münzen eine Zeusdarstellung mit Aspekten seiner eigenen Physiognomie verbunden haben mag, waren die Münzen ein Novum: Demetrios stellte nicht einen Gott mit seinen Gesichtszügen dar, sondern sich selbst mit göttlichen Attributen.37 Die Hörner dienen wohl der auch literarisch belegten Angleichung an Dionysos.38 Wenn man als Inspiration für das Portrait die Alexanderdarstellung auf den Münzen des Lysimachos sieht, 39 wird die Abweichung noch deutlicher: Gerade da, wo man Alexander erwartet, wird man mit einem Bild des göttlichen Demetrios konfrontiert.

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Plut. Demetr. 13,1–2; 11,1; 10,4. Siehe dazu Diefenbach 2015, 115–117. Plut. Demetr. 26; siehe dazu Thonemann 2005, 74–76. Den Sonderweg der ersten Antigoniden in dieser Hinsicht betont Günther 2015, 238–242. Alexanders Schwester Kleopatra befand sich über Jahre im Einflussbereich des Antigonos, ohne dass es zur Ehe gekommen wäre. Antigonos hatte daran offenbar kein Interesse, konnte aber 308/7 auch ihre Verbindung mit Ptolemaios nicht zulassen und ließ sie deshalb hinrichten; für einige Überlegungen siehe Carney 1988, 401–403; Meeus 2009, 82–84. Günther 2015, 237 betont diese Gemeinsamkeit. Umstritten bleibt allerdings die Frage nach einem zeitgenössischen Portrait des Seleukos I. auf in Susa geprägten Tetradrachmen; siehe dafür Hoover 2002. Zum numismatischen Kontext siehe Günther 2011, 100–103. Ehling 2000 zieht eine Deutung auf Poseidon vor. Zur Dionysosangleichung siehe Diod. 20,92,4. Weiteres bei Thonemann 2005, 82–84. So etwa Thonemann 2016, 21.

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Das wirft die Frage auf, wie wichtig die doch vermeintlich allgegenwärtige imitatio Alexandri für Demetrios tatsächlich gewesen ist. Dass die Form der von Demetrios eingesetzten geflügelten Nike an diejenige Alexanders angelehnt ist, muss man angesichts der übrigen Innovationen jedenfalls nicht als – dann doch sehr verklausuliert formulierten – Anspruch auf die Alexandernachfolge werten.40 Die weitgespannten Ambitionen in den frühen 280er Jahren erklärt Plutarch als Versuch der Rückeroberung nicht des Alexanderreiches, sondern der von Antigonos kontrollierten Gebiete, also des väterlichen Erbes.41 Ein Gemälde in Athen hat offenbar Demetrios in Verbindung mit der Oikumene gezeigt und auch sein berühmtes Sternengewand sowie – vielleicht – eine kurzlebige Prägung in Theben formulierten einen Anspruch auf ‚Weltherrschaft‘.42 Aber brachte man diese Aspekte angesichts der behaupteten Göttlichkeit des Königs noch zwingend mit Alexander in Verbindung? Die extreme Personalisierung, verbunden mit einer eben nicht nur von außen herangetragenen Divinisierung, stand einem engen Anschluss an Alexander und die Argeadentradition im Wege. Eine weitere ‚Umwertung‘ herrscherlicher Inszenierung kann man daher in der mehrfach und in unterschiedlichen Kontexten begegnenden Feststellung sehen, Demetrios sei kein angemessener Nachfolger Alexanders gewesen. Bereits die Neugründung des Hellenenbundes 303 v. Chr., die ihn scheinbar klar in die Tradition Philipps II. und Alexanders stellt, wird bei Plutarch mit dem Hinweis versehen, Demetrios habe sich ihnen gegenüber überlegen gefühlt; auch seine Arroganz gegenüber den anderen Diadochen habe ihn klar von Alexander unterschieden.43 Vor Ipsos ist es Demetrios, nicht Antigonos, dem Alexander im Traum verkündet, er werde sich den Gegnern zuwenden, die ihn gewiss besser empfangen würden; der anekdotisch zugespitzte Bericht über seine Unnahbarkeit als König von Makedonien wird ergänzt durch die Erinnerung an das gegensätzliche Verhalten Philipps II.44 In den Auseinandersetzungen mit Pyrrhos schließlich sollen die Makedonen zu dem vernichteten Urteil gekommen sein, nur dieser komme Alexander nahe, während die anderen Könige, „und vor allem Demetrios“, wie auf einer Bühne dessen Pomp zur Schau stellten, ohne über seine Qualitäten zu verfügen.45 Wie schon vor Ipsos kommt es zu einer Traumerscheinung Alexanders, doch diesmal verkündet er Pyrrhos den Sieg über Demetrios. 46 Das Beispiel der einander in gewisser Weise ergänzenden Traumvisionen von 301 und 288 macht wahrscheinlich, dass zumindest einige der bei Plutarch in fragmentierter Form begegnenden Notizen zu Demetrios und Alexander einer gemeinsamen Tradition entstammen. Dass sie ihren Ausgangspunkt in einem Unverständnis gegenüber den von Demetrios gewählten Repräsentationsformen gerade in Bezug auf die Selbstvergöttlichung hat, kann 40 So aber Bernhardt 2014, 63f, 66f. 41 Plut. Demetr. 48,1. 42 Das Gemälde nennt Duris FGrH 76 F 14 (Athen. 12,536a). Weinstock 1971, 42 rekonstruiert aus der unklaren Formulierung eine Bewegung auf die personifizierte Oikoumene hin. Zum Gewand siehe Duris ebd. und Plut. Demetr. 41,4–5; Pownall 2016, 55 sieht auch darin eine Alexanderimitation. Die Münze aus Theben (Newell 1927, 125) diskutiert Miedico 2010, 49f. Ob hier wirklich Poseidon nicht – wie in allen anderen Exemplaren des Typs – auf einem Felsen, sondern auf einem Globus steht, scheint mir gegen Miedico sehr zweifelhaft zu sein; womöglich ist die Deutung durch den von ihr selbst gesuchten Vergleich mit römischen Typen geprägt. 43 Plut. Demetr. 25,3. 44 Plut. Demetr. 29,1; 42,3. 45 Plut. Demetr. 41,2. 46 Plut. Pyrrh. 11,2.

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naturgemäß nicht bewiesen werden; denkt man aber an die Umwertung des Bilds von Demetrios als Belagerungshelden, lässt sich ein strukturell paralleler Vorgang annehmen.

Die Frauen Die literarische Tradition zu Demetrios ist stark von seinem Verhältnis zu Frauen bestimmt. Plutarch greift gleich zweimal zu Superlativen: Wegen seines ausschweifenden Liebeslebens hat Demetrios in dieser Sache den schlimmsten Ruf aller Könige; Lanassa jedoch wendet sich gerade deshalb an ihn, weil er von allen Königen am bereitwilligsten heiratet. 47 Dass die Heiratspolitik des Demetrios wie diejenige der anderen Diadochen von strategischen Interessen bestimmt war, geht dabei leicht unter. Phila, die Tochter Antipaters, war ihm noch von Antigonos vermittelt worden, doch auch die Wahl der späteren Ehefrauen – Eurydike, Deidameia, Ptolemais und Lanassa – zeigen das zu erwartende Bewusstsein für politische Vorteile.48 Gerade weil die Überlieferung aber die Ungewöhnlichkeit seines Vorgehens herausstellt, ist auch hier nach möglichen Inszenierungen zu fragen. Weder die Polygamie an sich noch ihr Ausmaß unter Demetrios können als Neuerungen gelten.49 Plausibel erscheint aber die Annahme, dass Demetrios seine Frauen in besonderer Weise in die eigene Herrschaftsrepräsentation eingebunden hat. Phila ist die erste hellenistische Ehefrau, für die der Titel βασίλισσα bezeugt ist,50 und auch wenn das Wort im weiteren Gebrauch nur allgemein die Zugehörigkeit zum königlichen Haushalt bezeichnet, lässt sich dahinter doch die Vorstellung vermuten, dass eine Frau an der Königsherrschaft Anteil haben konnte. Das mag – bei allen von den Quellen herausgestellten Qualitäten Philas – keine Auswirkungen im Sinne konkreter Handlungsspielräume gehabt haben (wobei wir davon angesichts der auf Demetrios selbst konzentrierten Überlieferung auch kaum etwas wüssten). Zweifellos war es aber eine bewusste Inszenierung königlicher Herrschaft, zu der auch die Leibwache Philas und ihre Verehrung als Aphrodite gehörten. 51 Vermutlich entschied der König auch strategisch, wann er sich wo mit welcher Frau zeigte.52 Demetrios erscheint hier als Vorreiter einer Form der Herrschaftsrepräsentation, die dann besonders von den Ptolemäern unter freilich speziellen Voraussetzungen weiterentwickelt worden ist. Das Repräsentationspotential von Frauen scheint Demetrios klarer als andere erkannt zu haben, und man darf annehmen, dass dies bereits im zeitgenössischen Kontext nicht unbemerkt blieb. Die Vorgeschichte der 290 v. Chr. geschlossenen Ehe mit Lanassa kann diese These stützen. Dass sie Pyrrhos verlassen haben soll, weil er ihr zwei andere Frauen vorzog,

47 Plut. Demetr. 14,3 (μάλιστα δὴ περὶ τὴν ἡδονὴν ταύτην κακῶς ἀκοῦσαι τῶν τότε βασιλέων); Plut. Pyrrh. 10,5 (μάλιστα τῶν βασιλέων εὐκόλως ἔχοντα πρὸς γάμους γυναικῶν). 48 Siehe dazu Harders 2013 und Richter in diesem Band. 49 So schon Plut. comp. Demetr. Anton. 4,1; vgl. Ogden 1999, 3–40. 50 IG XII 6,1,30 = SIG³ 333 (Samos, 305/4 v. Chr.?); vgl. Carney 2000, 165–169. 51 Alexis frg. 116 (Athen. 6,254a); Dionysios apud Athen. 6,255c. 52 Die in Plut. Demetr. 32,3 geschilderte Rochade spricht dafür, auch wenn die genauen Erwägungen unklar bleiben.

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hat Verwunderung hervorgerufen – für eine eifersüchtige Frau war der bekanntermaßen polygam lebende Demetrios auf den ersten Blick keine einleuchtende Alternative. 53 Aber Plutarchs Notiz handelt nicht nur von Eifersucht, sondern enthält auch eine ethnisch-hierarchisierende Komponente. Die Tochter des Agathokles sah sich offenbar vor allem durch die Herkunft der jüngsten Erwerbungen des Pyrrhos – die Illyrerin Birkenna und die Tochter des Paioniers Autoleon – beleidigt. Anstatt Lanassa anachronistisch als Verfechterin der Monogamie zu deuten, bietet es sich daher an, die Inszenierung der Eheschließungen des Antigoniden als das gegenüber Pyrrhos bessere Angebot aufzufassen. In eine Reihe mit Phila und Eurydike (Deidameia war bereits verstorben, Ptolemais noch nicht am Hof) stellte sich Lanassa offenkundig bereitwillig. Die Auswahl der Frauen und die Kenntlichmachung ihres hohen Status spielten also auf mehreren Ebenen eine Rolle. 54 Lanassa sah für sich selbst die Möglichkeit, ihr Kapital (die Verbindung mit Syrakus und den Besitz von Kerkyra und Leukos) gewinnbringend einzusetzen und in gesellschaftlichen Status umzuwandeln. An dieser Front war Demetrios nicht nur Pyrrhos überlegen, der diese zusätzliche Dimension der Heiratspolitik zugunsten der strategisch günstigsten Option vernachlässigte. 55 Von den Ehefrauen unterscheidet man traditionell die Hetären, doch auch hier fügt sich Demetrios nicht leicht in bestehende Modelle ein. Zwar muss man mit Hierarchisierungen bei Nachfolgefragen rechnen, doch eine grundsätzlich unterschiedliche Behandlung der beiden Frauengruppen ist nicht leicht zu zeigen. Eine Vergöttlichung als Aphrodite erfuhren Lamia und Leaina in Athen und Theben (wirklich gegen den Willen des Königs?) ebenso wie Phila, und aus den Berichten über Lamia und Demetrios im Parthenon hat man vielleicht zurecht auf die Inszenierung einer ‚heiligen Hochzeit‘ 304 v. Chr. geschlossen.56 Insbesondere Lamia soll den König „für alle sichtbar beherrscht“ haben; 57 Plutarch erwähnt sie häufiger als irgendeine der Ehefrauen des Demetrios. Die literarische Funktion der bekannten Hetäre ist dabei natürlich zu beachten. Gerade um Lamia ranken sich diverse Anekdoten, deren historische Verortung im Leben des Demetrios wenig aussichtsreich erscheint.58 Dass sie bei Plutarch eine viel größere Rolle spielt als bei Diodor, hat zweifellos auch mit dem Format der Doppelbiographie zu tun, das ein Gegengewicht zu Kleopatra wünschenswert erscheinen ließ. Doch hier sollte man nicht stehenbleiben – und das nicht allein deshalb, weil Plutarch in seinem abschließenden Vergleich gerade nicht die vermeintliche Herrschaft der Lamia über den König, sondern dessen klare Trennung zwischen Krieg und Privatleben betont, während

53 Plut. Pyrrh. 10,5; vgl. Ogden 1999, 176: „Why did she then give herself to a prince who was already in a state of polygamy and who she knew was all too ready to marry?“ 54 Das wirft die Frage nach dem Status der in Plut. Demetr. 53,4 genannten Illyrerin auf. Gegen ihren Status als Ehefrau kann – mit Ogden 1999, 176 – sprechen, dass Plutarch den Namen nicht kennt. Harders 2013, 46 rechnet sie dagegen unter die Ehefrauen. 55 Plut. Pyrrh. 9,1 erklärt die Ehen des Pyrrhos πραγμάτων ἕνεκα καὶ δυνάμεως. 56 Lamia und Leaina: Demochares FGrH 75 F 1 (Athen. 6,252f–253a); Polemon frg. 15 Preller (Athen. 6,253b). Heilige Hochzeit: Clem. Alex. protr. 4,48; dazu passend Philippides frg. 25 (Plut. Demetr. 26,3; zur Datierungsfrage siehe O’Sullivan 2009, 64–66); Ogden 1999, 263; vgl. auch Müller 2010; Pownall 2016, 56. 57 Plut. Demetr. 19,4: Λαμίας ἀναφανδὸν ἤδη κρατούσης ... 58 Anders Wheatley 2003, der selbst noch die Masturbationsphantasie bei Machon F 13 (Athen. 13,577e–f) für plausibel und datierbar hält.

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sich Antonius allzu oft von Kleopatra habe entwaffnen lassen. 59 Es muss, wie die Zitate bei Plutarch und Athenaios zeigen, eine frühe Tradition zur bedeutenden Rolle der Lamia gegeben haben, die sich dann zu der von Plutarch einmal unbedacht übernommenen, später aber explizit bestrittenen Behauptung entwickeln ließ, Lamia habe den König beherrscht. Diese Tradition dürfte ihren Ursprung bei Inszenierungen wie derjenigen in Athen genommen haben und ein wichtiges Element der herrscherlichen Repräsentation durchaus richtig wiedergeben: Lamia (oder auch Phila) als Aphrodite zu präsentieren, war nicht nur eine Theaterposse. Es verband sich damit eben auch eine Teilhabe der Damen an der βασιλεία, die kein anderer Diadoche in dieser Form realisiert zu haben scheint. In diesen Zusammenhang lässt sich auch ein seltener beachteter Text stellen. Ein Fragment aus der Universalgeschichte des Nikolaos von Damaskus berichtet, Demetrios habe in der Hetäre Myrrhine von Samos „mit Ausnahme des Diadems eine Teilhaberin am Königtum gehabt“.60 Myrrhine ist nur hier belegt; Plutarch kennt sie nicht. An ihrer Historizität muss deshalb nicht gezweifelt werden. Die Spezifizierung mit Blick auf das Diadem lässt an eine haltlose Skandalgeschichte eher nicht denken. Wie aber ist die Einschränkung zu verstehen? Dass nur der König selbst zum Tragen des Diadems berechtigt sei, 61 ist eine naheliegende, mit Blick auf die numismatische Evidenz für Diadem tragende Königinnen bereits ab 272/1 v. Chr.62 allerdings nicht hinreichende Erklärung. Man wüsste gern, ob womöglich schon Phila ein Diadem getragen hat – Demetrios könnte auch hier am Anfang einer Entwicklung stehen. Dann wäre die Einschränkung der Teilhabe Myrrhines am Königtum nicht mit ihrem Geschlecht, sondern mit der hierarchischen Unterscheidung zwischen Ehefrau und Hetäre zu erklären: Alle Frauen waren in die βασιλεία eingebunden, manche aber dann doch mehr als andere. Dass eine solche Strategie für Umwertungen entlang klassischer Topoi anfällig war, ist im Rückblick evident; womöglich war auch die argeadische Tradition für derartige Inszenierungen weniger offen als andere. Erneut zeigt sich aber, dass die Herrschaftsrepräsentation des Demetrios keineswegs einen Idealtyp der hellenistischen basileia widerspiegelte, sondern eigenen, durchaus idiosynkratrischen Akzentsetzungen verhaftet war.

Schluss Jüngst ist Frances Pownall anhand einer Analyse der Überlieferungen zu Demetrios in Athen zu dem Ergebnis gekommen, dass „the hostile tradition on Demetrius Poliorcetes is the most detailed and blatant example of the Greek sources’ deliberate misrepresentation of the Successors’ royal selffashioning, in which their conspicuous displays of wealth and power are transformed into the stereotypical topoi of tyranny, their efforts to legitimize their rule with divine

59 Plut. comp. Demetr. Anton. 3,2–3. 60 FGrH 90 F 90 (Athen. 13,593a): Μυρρίνην δὲ τὴν Σαμίαν ἑταίραν Δημήτριος εἶχεν ὁ βασιλεὺς ὁ τῆς διαδοχῆς τελευταῖος, καὶ ἔξω τοῦ διαδήματος κοινωνὸν εἶχε τῆς βασιλείας. 61 So der Kommentar bei Parmentier/Prometea Barone 2011, 166 Anm. 244. 62 Siehe dazu Martin 2012; vgl. auch Iust. 24,3,2 zu Ptolemaios Keraunos und Arsinoe II.

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authority are characterized as impiety, and the new royal image (modeled on Alexander) is mocked as effeminate and flamboyant.“63 Dass die Literatur in der Tat Aspekte der Herrschaftsrepräsentation des Demetrios aufgreift und umwertet, war hier an einigen Beispielen zu zeigen. Dabei hat sich aber ergeben, dass andere Teile der Aussage auf Annahmen beruhen, die zu hinterfragen wären: Die konstruierte Funktion des Demetrios als Stellvertreter für die Diadochen und ihr „self-fashioning“ ist zwar verbreitet, verkennt aber die Tatsache, dass manche Kritik sich gerade an dem zu orientieren scheint, was andere Könige an Modellen vorgaben. Und auch die universale Orientierung an Alexander ist bei Demetrios bisher wohl eher behauptet als bewiesen worden. Hier könnten sich Ansatzpunkte ergeben, die eine Neubewertung des Demetrios jenseits des ‚hellenistischen Königtums‘ erlauben. Gewiss: Alles erscheint einzigartig, wenn man es sich nur lange genug anschaut. Der völlige Verzicht auf Ordnungskriterien und Modellbildung führt ins Ahistorische. Es gab andere Herrscher, es gab gemeinsame Herausforderungen und gemeinsame Antworten. Vielleicht kann aber eine moderne Biographie beides leisten: Die angemessene Berücksichtigung von Rahmenbedingungen und Parallelen auf der einen und die Herausarbeitung spezifischer, ja sogar persönlicher Entscheidungen auf der anderen Seite. Davon wäre jedenfalls mehr Erkenntnis zu erwarten als von dem erneuten Nachweis der idealtypischen Verkörperung von Idealtypen.

63 Pownall 2016, 56.

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Überlegungen zum ‚kosmischen‘ Herrscherornat des Demetrios I. Poliorketes Christoph Michels

Von Linda-Marie Günther hat der Verfasser nicht nur eine seit langem anhaltende Begeisterung für die Epoche des Hellenismus vermittelt bekommen, sondern auch die Wertschätzung einer historischen Ausdeutung und Einbettung von ikonographischen Elementen antiker Bildträger – von der Münze bis hin zum Staatsmonument. In diesem Sinne werden die folgenden, kurzen Überlegungen zu der eng mit der Gestalt des Demetrios, für Johann Gustav Droysen der „hellste Stern“ unter den Diadochen,1 verbundenen Astralsymbolik angestrengt, über die sich die Jubilarin hoffentlich freuen wird, auch wenn die Interpretation vielleicht nicht immer mit dem übereinstimmt, was sie bereits andernorts zur Repräsentation des Städtebelagerers angemerkt hat.2 Astralsymbolik erscheint in der Überlieferung in verschiedener Hinsicht als besonderes Kennzeichen des Demetrios, und er wurde deswegen mitunter als erster „Sonnenkönig“ angesprochen.3 Das berühmteste Element ist dabei ohne Zweifel sein „Himmelsgewand“ oder „Weltenmantel“, beschrieben zum einen von Plutarch und zum anderen von Athenaios. Im Folgenden wird untersucht, wie dessen Bedeutung im Kontext der Repräsentation des Demetrios und zeitgenössischer Parallelen sowie möglicher Vorbilder zu beurteilen ist. Da sich die beiden Beschreibungen des Ornats, und dies wird häufig übersehen, jedoch grundsätzlich unterscheiden, sind sie im Folgenden zunächst kurz nebeneinander zu stellen. Denn um überhaupt weitergehende Überlegungen anzustrengen, ist es an dieser Stelle Voraussetzung, die Berichte als auf ein real existierendes Gewand (oder auf mehrere Gewänder) zurückgehend und nicht, wie jüngst etwa von Mossmann erwogen, als spätere Konstruktion zu dem in vielerlei Hinsicht als exzessiv in Erinnerung gebliebenen Demetrios zu deuten.4 Plutarch berichtet über das Gewand im Kontext einer Passage der Demetriosvita, in der er Demetrios von Pyrrhos abgrenzt. In Letzterem glaubten die Makedonen „allein von allen Königen (…) ein Abbild der Kühnheit Alexanders vor Augen“ zu haben, während die anderen Könige und besonders Demetrios „nur wie auf der Bühne die Würde und Majestät des Mannes“ nachäfften.5 Für diesen führt Plutarch das dann näher aus: 1 2 3 4

Droysen 1952, 416. Günther 2015. O’Sullivan 2008, als charakteristisch für das Bild des Demetrios auch bei Mikalson 1998, 96. Die Frage offenzulassen, wie dies Mossmann 2015, 157 Anm. 28 („Whether there is any historical foundation for Demetrius’ heavenly cloak seems moot.“) bei ihrer Untersuchung des Einsatzes von Kleidung durch Plutarch für die Charakterisierung des Demetrios tut, ist hier keine Option. 5 Plut. Demetr. 41,5: Καὶ πολλοῖς ἐπῄει λέγειν τῶν Μακεδόνων, ὡς ἐν μόνῳ τούτῳ τῶν βασιλέων εἴδωλον ἐνορῷτο τῆς Ἀλεξάνδρου τόλμης, οἱ δ’ ἄλλοι, καὶ μάλιστα Δημήτριος, ὡς ἐπὶ σκηνῆς τὸ βάρος ὑποκρίνοιντο καὶ τὸν ὄγκον τοῦ ἀνδρός.

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„Tatsächlich umgab sich Demetrios mit einem gewaltigen Theaterprunk. Er trug nicht nur auf dem Haupte einen mit doppelten Binden prächtig geschmückten Makedonenhut (kausia) und kleidete sich in goldumsäumte Purpurgewänder, sondern hatte sich auch für seine Füße Schuhe aus reinem Purpurfilz mit Goldstickerei machen lassen. Auch wurde während langer Zeit ein Mantel für ihn gewebt, ein außerordentliches Werk, enthaltend eine Darstellung des Weltalls und der Himmelserscheinungen. Es blieb, als seine Macht zusammenbrach, halbvollendet liegen, und keiner seiner Nachfolger wagte es zu benützen, obschon später nicht wenige prunkliebende Könige in Makedonien geherrscht haben.“6 Die Beschreibung des Gewands bei Athenaios wird nicht im Rahmen der Darstellung historischer Ereignisse geboten, das Gewand ist vielmehr der Höhepunkt in einer Aufreihung von Übernahmen persischer Tracht durch griechische und makedonische Könige.7 „Duris überliefert im zweiundzwanzigsten Buch seiner ‚Geschichte‘: Pausanias, der König der Spartaner, legte den traditionellen ‚tribon‘ ab und nahm die persische ‚stole‘. Dionysios wiederum, der Tyrann von Sizilien, übernahm die ‚xystis‘ und einen goldenen Kranz. […] Ferner machte Alexandros, als er die Herrschaft über Kleinasien antrat, von persischer Kleidung Gebrauch. DEMETRIOS jedoch übertraf sie alle; denn er ließ das Schuhwerk, das er trug, mit großem Aufwand anfertigen. Seiner Form nach, in der es hergestellt wurde, war es ja fast ein Halbstiefel mit einem Filzbesatz von kostbarstem Purpur. In diesen webten die Künstler hinten und vorn noch ein weitverzweigtes Goldmuster hinein. Seine Mäntel hatten einen bräunlichgrauen Farbglanz. Das Gewebe war in seiner ganzen Ausdehnung mit dem Himmelsgewölbe und mit goldenen Sternen und den zwölf Tierkreiszeichen überzogen. Sein Stirnband (mitra) war mit Gold durchwirkt und gab einem purpurnen breitkrempigen Hut (kausia) Halt. Die auslaufenden Faden des Stirnbandes reichten ihm bis zum Rücken hinab. Wenn das Demetrios-Fest in Athen stattfand, wurde er auf der Bühnenwand abgebildet, wie er im Wagen der Oikoumene entgegenfährt.“8 6 Plut. Demetr. 41, 6–8: Ἦν δ’ ὡς ἀληθῶς τραγῳδία μεγάλη περὶ τὸν Δημήτριον, οὐ μόνον ἀμπεχόμενον καὶ διαδούμενον περιττῶς καυσίαις διμίτροις καὶ χρυσοπαρύφοις ἁλουργίσιν, ἀλλὰ καὶ περὶ τοῖς ποσὶν ἐκ πορφύρας ἀκράτου συμπεπιλημένης χρυσοβαφεῖς πεποιημένον ἐμβάδας. (7) ἦν δέ τις ὑφαινομένη χλαμὺς (Mossmann 2015, 155 bevorzugt Sintenis’ Konjektur χλανίς) αὐτῷ πολὺν χρόνον, ἔργον ὑπερήφανον, εἴκασμα τοῦ κόσμου καὶ τῶν κατ’ οὐρανὸν φαινομένων· (8) ὃ κατελείφθη μὲν ἡμιτελὲς ἐν τῇ μεταβολῇ τῶν πραγμάτων, οὐδεὶς δ’ ἐτόλμησεν αὐτῇ χρήσασθαι, καίπερ οὐκ ὀλίγων ὕστερον ἐν Μακεδονίᾳ σοβαρῶν γενομένων βασιλέων. (Übers. Ziegler). 7 Zum Phänomen des „Persianismus“ in der Antike siehe nun Strootman/Versluys 2017. 8 Athen. 12,535e–536a: Δοῦρις δ’ ἐν τῇ δευτέρᾳ καὶ εἰκοστῇ τῶν Ἱστοριῶν ‘Παυσανίας μέν, φησίν, ὁ τῶν Σπαρτιατῶν βασιλεὺς καταθέμενος τὸν πάτριον τρίβωνα τὴν Περσικὴν ἐνεδύετο στολήν. ὁ δὲ Σικελίας τύραννος Διονύσιος ξυστίδα καὶ χρυσοῦν στέφανον ἐπὶ περόνῃ μετελάμβανε τραγικόν. Ἀλέξανδρος δ’ ὡς τῆς Ἀσίας ἐκυρίευσεν Περσικαῖς ἐχρῆτο στολαῖς. ΔΗΜΗΤΡΙΟΣ δὲ πάντας ὑπερέβαλεν τὴν μὲν γὰρ ὑπόδεσιν ἣν εἶχεν κατεσκεύαζεν ἐκ πολλοῦ δαπανήματος ἦν γὰρ κατὰ μὲν τὸ σχῆμα τῆς ἐργασίας σχεδὸν ἐμβάτης πίλημα λαμβάνων τῆς πολυτελεστάτης πορφύρας· τούτῳ δὲ χρυσοῦ πολλὴν ἐνύφαινον ποικιλίαν ὀπίσω καὶ ἔμπροσθεν ἐνιέντες οἱ τεχνῖται. αἱ δὲ χλαμύδες αὐτοῦ ἦσαν ὄρφνινον ἔχουσαι τὸ φέγγος τῆς χρόας, τὸ δὲ πᾶν ὁ πόλος ἐνύφαντο χρυσοῦς ἀστέρας ἔχων καὶ τὰ δώδεκα ζῴδια. μίτρα δὲ χρυσόπαστος ἦν, καυσίαν ἁλουργῆ οὖσαν ἔσφιγγεν, ἐπὶ τὸ νῶτον φέρουσα τὰ τελευταῖα καταβλήματα τῶν ὑφασμάτων. γινομένων δὲ τῶν Δημητρίων Ἀθήνησιν ἐγράφετο ἐπὶ τοῦ προσκηνίου ἐπὶ τῆς Οἰκουμένης

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Gibt es bei den Beschreibungen Gemeinsamkeiten, vor allem die Betonung des Prunks, der sich gerade in der reichen Verwendung von Purpur materialisiert,9 so treten die Unterschiede ebenso deutlich hervor: Bei Plutarch ist nur von einem Mantel die Rede. Dieser wurde zudem nie fertiggestellt. Es kann so der Eindruck entstehen, als habe Demetrios ihn nie getragen.10 Mossmann schlussfolgert denn auch, es könne nicht dieser prunkvolle Mantel gewesen sein, den Demetrios dann Plutarch zufolge später ablegte und durch einen schwarzen ersetzte, als er gezwungen war, vor Pyrrhos zu fliehen.11 Eisler sah die Unfertigkeit indes als sagenhaftes Element.12 Plutarch betont jedenfalls, dass keiner der Nachfolger des Demetrios es wagte, das Gewand zu tragen. Bei Athenaios ist dagegen von mehreren Mänteln die Rede. Die Beschreibung des Musters ist detaillierter als diejenige bei Plutarch. Wir erfahren, dass es das Himmelsgewölbe, goldene Sterne und die zwölf Tierkreiszeichen zeigte (τὸ δὲ πᾶν ὁ πόλος ἐνύφαντο χρυσοῦς ἀστέρας ἔχων καὶ τὰ δώδεκα ζῴδια). Akzeptiert man dies, handelt es sich um die älteste in einer griechischen Quelle erwähnte Darstellung des ganzen Zodiakos.13 Der Himmelssymbolik wird zudem in gewisser Weise ein Kontext gegeben, indem ein gleich noch zu thematisierendes Gemälde von Demetrios genannt wird, das offenbar mit der Darstellung der Oikoumene einen inhaltlichen Bezug zu den kosmischen Gewandmustern hatte. Die Beschreibung der einzelnen Elemente des übrigen Ornats ist im Bericht (abgesehen von der nur bei Plutarch zu findenden Angabe, Demetrios habe eine Doppelmitra getragen) des Athenaios ebenfalls deutlich detaillierter. Die Information scheinen aber in beiden Fällen auf Duris von Samos zurückzugehen, wobei sich Plutarch sowohl sprachlich als auch hinsichtlich des Einsatzes des Materials von seiner Vorlage löste;14 denn er nutzt die Kleidung hier wie an verschiedenen anderen Stellen seiner Demetrios-Biographie zur Charakterisierung des Protagonisten.15 Eine weitere Überformung der aus Duris gewonnenen Informationen scheinen die für Plutarch ebenfalls besonders wichtigen theatralen Elemente in der Vita des Demetrios ebenso wie in der Vita des mit ihm verglichenen Marcus Antonius zu sein.16 Dies war bei Duris wohl schon angedeutet, an dieser Stelle etwa durch die Nennung des Gemäldes im Theater.17 Die Darstellung bei Athenaios, in der von einem unfertigen Gewand nicht die

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ὀχούμενος. (Übers. Friedrich mit Änderungen). Zur Übersetzung von γινομένων δὲ τῶν Δημητρίων Ἀθήνησιν ἐγράφετο ἐπὶ τοῦ προσκηνίου ἐπὶ τῆς Οἰκουμένης ὀχούμενος s. u. Zu dieser Textstelle vgl. Pownalls Kommentar zu BNJ 76 F 14. Zur Bedeutung von Purpur in der griechischen Welt siehe Blum 1998. Vgl. in diesem Sinne entschieden Mossmann 2015, 155f. „It is important to stress that Demetrius can never have worn this item.“ Plut. Demetr. 44,9. Mossmann 2015, 156 Anm. 22. Eisler 1910, 40 Anm. 1. Gundel 1992, 48. Dafür, dass Duris für Plutarch wohl Quelle gerade der Beschreibung des Luxus des Demetrios ist, hat sich Sweet 1951 ausgesprochen; dem folgend Mastrocinque 1979, 274f.; Landucci Gattinoni 1997, 130; vgl. jetzt auch Pownall 2013. Bosworth 2002, 205 Anm. 132 hält das Ausmaß der Abhängigkeit von Duris für ungeklärt, gesteht jedoch zu, das „sensational detail“ möge aus Duris stammen. Die sprachlichen Unterschiede zwischen Plutarchs Beschreibung des Ornats und der Duris-Passage aus Athenaios betont Mossmann 2015, 155 Anm. 18. Mossmann 2015. Pelling 1988, 21f. Diese Elemente gehen dabei im Kern freilich zurück auf die theatrale Selbstinszenierung des Demetrios; vgl. Thonemann 2005. Die „theatricality“ von Demetriosʼ Erscheinungsbild wird durch dessen Beschreibung; vgl. Pownall 2013, 49, m. E. noch nicht deutlich.

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Rede ist, scheint somit der ursprünglichen Information näher zu stehen. 18 Dass es ein Himmelsgewand oder mehrere Mäntel dieser Art gab, muss daher nicht bezweifelt werden. Möglich ist, dass Plutarch von einem dieser Gewänder berichtete, das unfertig in einer Schlacht erbeutet wurde. Woher er diese Information hatte, ist jedoch unklar. Somit ist es legitim, nun nach der Bedeutung, den Vorbildern und dem Kontext „des Gewandes“ zu fragen, die in beiden Beschreibungen nicht direkt angesprochen werden. Ein grundsätzliches Problem ist dabei, dass die zentralen Bezüge zur Astralsymbolik des Demetrios dabei alle aus Athen stammen und nicht klar ist, ob dies ein Zufall der Überlieferung ist oder ob die Sonnen- und Sternsymbolik nur im Kontext der zahlreichen Ehren eine bedeutende Rolle spielte, die Demetrios und sein Vater Antigonos von Athen im Laufe ihres wechselvollen Verhältnisses mit dieser Polis erhielten.19 Demetrios scheint sich in der Verwendung von Astralsymbolik jedenfalls nicht am Vater orientiert zu haben. Das einzige hier relevante Quellenzeugnis, zwei kurze Passagen in Plutarchs moralia, betont, dass Antigonos die Ansprache als Sohn des Helios durch einen Dichter namens Hermodotos zurückwies. 20 Die Vorbilder für das Muster des Gewands sind von der Forschung durchaus unterschiedlich gesehen worden. Mossmann fühlt sich etwa an ein in Euripides’ Ion beschriebenes Zelt erinnert.21 Zu fragen ist aber nach konkreten Vorläufern im Herrscherornat, und hier ist zu Recht auf orientalische bzw. achaimenidische Vorbilder hingewiesen worden. 22 Welche Bedeutung das ‚Himmelsgewand‘ in den verschiedenen orientalischen Reichen hatte, ist jedoch durchaus unsicher.23 Das Gewand Dareios’ III. ist im Alexandermosaik mit vier- und fünfzackigen Sternen verziert, es finden sich jedoch Elemente in der Gewandung des Perserkönigs, die daran zweifeln lassen, dass es sich um eine ‚authentische‘ Darstellung des persischen Herrscherornats handelt.24 Unbestreitbar ist jedoch die große Bedeutung, die die Astralsymbolik und die Verehrung der Sonne bei den Persern hatte.25 Oft vermutet wurde, dass Demetrios mit dem Gewand Alexander imitierte, doch ist eine vergleichbare Symbolik für Alexander nicht bezeugt; bei Athenaios wird Demetrios zwar in einer Reihe nach Alexander genannt, aber nur deswegen, weil er diesen bei der Rezeption persischer Herrschaftssymbole noch übertrumpfte.26 O’Sullivan hat vor kurzem angemerkt, dass es kaum das Ziel des

18 Diesen m. E. entscheidenden Umstand erwähnt auch Mossmann 2015, 157 Anm. 28, allerdings ohne daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen. 19 Siehe Mikalson 1998, 75–104 zu den Ehren Athens für die beiden Antigoniden; vgl. Kotsidu 2000, KNr. 9–12 sowie Thonemann 2005. 20 Plut. mor. 182b (= Regum 29): Ἑρμοδότου δὲ αὐτὸν ἐν τοῖς ποιήμασιν Ἡλίου παῖδα γράψαντος, ‘οὐ ταῦτά μοι,’ ἔφη, ‘σύνοιδεν ὁ λασανοφόρος.’ vgl. 360d (= Plut. Is. 24): ὅθεν Ἀντίγονος ὁ γέρων, Ἑρμοδότου τινὸς ἐν ποιήμασιν αὐτὸν Ἡλίου παῖδα καὶ θεὸν ἀναγορεύοντος, ‘οὐ τοιαῦτά μοι’. 21 Mossmann 2015, 156: „Euripides’ Ion (1141–58), where Ion creates a tent for his feast out of tapestries from the treasury at Delphi. The ceiling of the tent is made from a tapestry dedicated by Herades after his victory over the Amazons with a design of the night sky.“ Vgl. auch von Lorentz 1937, 201. 22 Calmeyer 1992, 120. 23 Ebd. 24 Die Sterne sind immer noch am deutlichsten zu erkennen bei Andreae 1977, 43 (Abb.). Zu den Elementen des Mantels sowie der übrigen Ausstattung des Dareios siehe Pfrommer 1998, 59f., 92. 25 Briant 2002, 550–554; Kuhrt 2007, 562–566. 26 Athen. 12,535f. Eine Alexanderimitation sieht etwa Pownall 2016, 55. Eisler 1910, 39 nimmt an, das Gewand des Demetrios sei das bei Plut. Alex. 32 erwähnte kyprische Gewand Alexanders des Großen

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Demetrios gewesen sein konnte, vor einem griechischen Publikum an orientalische Vorbilder anzuknüpfen und so als Autokrat zu erscheinen. Vielmehr habe er Rücksicht auf Athener Sehgewohnheiten nehmen müssen, wenn er diese nicht gegen sich aufbringen wollte – gerade Plutarch betont nun aber an verschiedenen Stellen, dass Demetrios diese Rücksicht nicht walten ließ.27 Sein Gewand blieb in der – Demetrios gegenüber generell feindlich gesonnenen – Überlieferung auf jeden Fall als Ausdruck von Hybris in Erinnerung.28 Das zeigt natürlich nicht, dass Demetrios die Symbolik so verstanden wissen wollte. Aber es illustriert, dass die Bilder so interpretiert werden konnten.29 Hierzu passt, dass Plutarch betont, kein späterer König Makedoniens habe das Gewand getragen, und in der Tat scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein.30 Ein vielleicht vergleichbarer Bruch in der Herrschaftsrepräsentation ist in der antigonidischen Münzprägung zu verzeichnen, in der das Königsporträt nach Demetrios bis zur Regierung Philipps V. verschwindet.31 Ein konkreter Bezug der Herrschaftsrepräsentation des Demetrios wird bei Duris bzw. Athenaios aber nicht zum persischen Königtum hergestellt, sondern zu einem Gemälde von Demetrios, das im Athener Dionysostheater vor dem Proskenion immer während der Demetrieia, die zusammen mit den Dionysien als einheitliches Fest mit doppeltem Namen abgehalten wurden, zur Aufstellung kam.32 Diese im Kontext von Festen eingesetzten temporären Bildwerke sind eine Form der Herrschaftsrepräsentation, die, wie Henner von Hesberg gezeigt hat, gerade für den Frühhellenismus charakteristisch ist.33 Der Kontext der Entstehung des Gemäldes wird nicht erwähnt, daher ist unklar, ob Demetrios es in Auftrag gab und den Athenern ‚schenkte‘ oder ob es von diesen (in Absprache mit dem König?) bestellt wurde. 34 Beides ist im Kontext von städtischen Ehrungen für hellenistische Könige vorstellbar.35 Rechnet man das Gemälde zu den in der Zeit des Frühhellenismus aufkommenden

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(oder eine Nachbildung); siehe dagegen Calmeyer 1992, 120 Anm. 177. Generell kritisch gegenüber einer allzu dezidierten Alexanderimitatio des Demetrios ist Eckhardt in diesem Band. O’Sullivan 2008, 81f.: „The emphasis on eastern influences and on the lack of cult worship in classical Athens has tended to obscure possible resonances of Demetrius’ sun-imagery with Greek literature and religious practices. It is worth emphasising, after all, that this was imagery deployed in a Greek context, for a Greek audience and (we might assume) generated by Greek artists. The adoption of a distinctively eastern guise of monarchy would, moreover, have been a politically inept move by Demetrius, who could scarcely style himself as an absolute potentate among the free and independent Greek city-states under his aegis; the establishment and recognition of his status as a monarch called for a more subtle and nuanced negotiation of his image.“ Landucci Gattinoni 1997, 130; Pownall 2013, 49. Die Missverständlichkeit der innovativen Selbstdarstellung des Demetrios betont Müller 2010 hinsichtlich seiner Assoziation mit Aphrodite. Ehrenberg 1965, 517 begründet dies damit, dass „gerade ihre Herrschaft nicht auf kultisch-magischen Voraussetzungen gegründet war.“ Für Eisler 1910, 40 Anm. 1 ist das ein weiterer Sagenzug. Smith 1988, 13. Duris FGrH 76 F 14 (Athen. 12,536a): Γινομένων δὲ τῶν Δημητρίων Ἀθήνησιν ἐγράφετο ἐπὶ τοῦ προσκηνίου ἐπὶ τῆς Οἰκουμένης ὀχούμενος. Zum Fest der Demetrieia vgl. Habicht 1970, 52f. Von Hesberg 1989; ders. 1999. Strootman 2014, 43 geht von einer durch die Athener veranlassten Ehrung aus. Dass es sich um „a painting we know the historical Demetrius to have commissioned“ (Mossmann 2015, 156) handelt, geht aus γινομένων δὲ τῶν Δημητρίων Ἀθήνησιν ἐγράφετο ἐπὶ τοῦ προσκηνίου ἐπὶ τῆς Οἰκουμένης ὀχούμενος eben nicht hervor. Grundlegend nun die Sammlung von Ehrungen für hellenistische Herrscher von Kotsidu 2000.

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temporären Bilder, so könnte dies dafür sprechen, dass Demetrios der Auftraggeber war, denn die hiermit befassten Künstler sind, von Hesberg zufolge, im Umkreis der Herrscher zu verorten.36 Das Gemälde zeigte somit die „offizielle“ Repräsentation des Demetrios. Was aber war in dem möglicherweise mit beweglichen Elementen ausgestatteten Gemälde dargestellt?37 Die kurze Beschreibung, Demetrios sei ἐπὶ τῆς Οἰκουμένης ὀχούμενος abgebildet, lässt mehrere Interpretationen zu, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können. 38 Die jüngere Forschung tendiert dazu, die „oikumene“ nicht als Darstellung eines Globus (auf dem dann Demetrios dahinreitet oder mit dem Streitwagen fährt) zu deuten. Denn dieser erhielt erst in römischer Zeit eine entsprechende politische Bedeutung. 39 Vielmehr scheint Demetrios im Streitwagen und Oikumene als (gelagerte?) Personifikation dargestellt gewesen zu sein.40 Die Gemeinsamkeit zu dem kosmischen Ornat lag somit wohl weniger in den dargestellten Gestirnen als in der Aussage. Daher scheint mir auch die von O’Sullivan vorgeschlagene Darstellung des Demetrios als Helios in diesem Gemälde wenig plausibel.41 Die Aussage des Gemäldes ist nun sicher darin zu sehen, dass Demetrios als Weltherrscher gezeigt wird.42 Der Weltreichsgedanke war in den orientalischen Reichen bereits seit dem späten dritten Jahrtausend verbreitet (Sargon von Akkad), er ist in der Herrschaftsrepräsentation der Achaimeniden feststellbar und prägte schließlich auch Alexander den Großen.43 Für die hellenistischen Könige muss dieser Anspruch jedoch, auch wenn sich nach Kurupedion eine balance of power in der Staatenwelt des Ostmittelmeerraums herausbildete, ebenso veranschlagt werden.44 Ob man dies für Demetrios bereits von seiner außergewöhnlichen purpurnen Kausia ableiten kann, ist sicher fraglich.45 Für den Vater des Demetrios, Antigonos Monophthalmos, liegt nun mit einem auf einem Kölner Papyrus erhaltenen Fragment einer historischen Darstellung ein Zeugnis vor, das dem Makedonen dieses Ziel bei der Annahme des Königstitels zumindest zuschreibt: „Antigonos, Sohn des Philippos, proklamierte als erster sich selbst zum König, da er überzeugt war, dass er diejenigen, die sich in den Machtstellungen befanden, ohne

36 Von Hesberg 1989, 76. 37 Schwingenstein 1977, 19, 106, gefolgt von Kotsidu 2000, 52; zu solchen inszenatorischen Effekten siehe von Hesberg 1989, 77f. 38 Vgl. Canciani 1994, 17 (Nr. 6). Die Rekonstruktion von Blum 1998, 214f. „auf der Οἰκουμένη reitend und Huldigungen der Bevölkerung empfangend im Theater von Athen zeigt“ geht zu weit. Zu weit vom Text entfernt ebenso Mossmann 2015, 156: „bestriding the known world like a colossus“. 39 Weinstock 1971, 42, 45 (gegen Weinstock 1957, 232); Canciani 1994, 76 (Nr. 6). 40 Weinstock 1971, 42, 45; Canciani 1994, 17 (Nr. 6). 41 O’Sullivan 2008, 79f. 42 Vgl. nur Hölscher 1967, 13f.; Strootman 2014, 43. 43 Vgl. Strootman 2014 mit Literatur, der die Reihe von Weltreichen allerdings erst im frühen zweiten Jahrtausend beginnen lässt. 44 So zu Recht Strootman 2014, bes. 43–45. Für die Ptolemäer wird dies etwa durch Papyri deutlich, in denen den Königen gewünscht wird, Sarapis und Isis mögen ihnen die Herrschaft über die ganze Welt geben. 45 So jedoch Ritter 1965, 59.

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Mühe beseitigen werde, selbst aber seine Herrschaft über die gesamte Oikumene aufrichten und wie Alexander die Reichsmacht an sich bringen werde…“46 Auch wenn nicht klar ist, wieviel Autorität diese Quelle für sich beanspruchen kann, liegt hiermit doch, wie Lehmann zu Recht hervorgehoben hat, ein Zeugnis vor, das Deutungen der jüngeren Forschung, Antigonos und Demetrios hätten nicht an das Weltreich Alexanders anknüpfen wollen, entgegensteht.47 In der Münzprägung des Demetrios finden sich jedoch keine Hinweise auf die astrale Symbolik des Gewands wie auch der übrigen Elemente des außergewöhnlichen Herrscherornats und/oder Anspielungen auf den Weltherrschaftsgedanken. 48 Was denkbar gewesen wäre, illustriert Alexarchos, der jüngere Bruder Kassanders, der sich als Helios darstellte, und für das von ihm gegründete Uranopolis (‚Himmelsstadt‘) Münzen mit dezidiert astraler Symbolik prägen ließ.49 Das einzige Element auf den Münzen, das als ‚astral‘ zu bezeichnen ist, sind die mit Sternen geschmückten Schilde auf Bronzeprägungen des Demetrios. Dass es sich um Darstellungen realer Schilde handelt, illustrieren die jüngst gemachten Funde von Schilden in Dion und im makedonischen Staro Bonče, die eine entsprechende Verzierung und die Inschrift Βασιλέως Δημητρίου aufweisen.50 Daraus sind gewiss nur schwer weitergehende Schlüsse abzuleiten. Doch zeigt der Umstand, dass auch der für Demetrios’ Selbstdarstellung auf Münzen zentrale, den Dreizack haltende Poseidon auf den Schilden erscheint, dass deren Ikonographie nicht zu vernachlässigen ist. 51 Die Bedeutung des Gewands erschöpft sich aber sicher nicht in der Verkündung einer Weltherrschaft. O’Sullivan hat vor einiger Zeit ikonographische Bezüge zu Helios stark gemacht und auf Parallelen zu vergleichbaren Ehrungen für den Demetrios als Machthaber in Athen vorangehenden Demetrios von Phaleron hingewiesen. 52 Unter den Göttern, mit denen Demetrios assoziiert wurde, stechen nun allerdings Dionysos und Poseidon sowie Aphrodite und nicht Helios hervor.53 O’Sullivan überbrückt dies mit dem Verweis auf synkretistische 46 P. Köln VI 247, col. II Z. 18–27: [Ἀντί]|[γονοϲ] ὁ Φιλίππου προϲ|20[ηγόρε]υϲεν ἑαυτὸν βαϲι|[λέα πρ] ̣ ̣ ῶτ̣ οϲ ̣ πεπειϲμένοϲ | [τοὺϲ μ]ὲ ̣ν ἐν τοῖϲ ἀξιώμα|[ϲιν ὄν]τ ̣αϲ ἀρ̣εῖϲθαι ῥ ̣αι̣|[δίωϲ, αὐ]τὸϲ ̣ δ’ ἡγήϲεϲθαι |25 [τῆϲ οἰκο]υμένηϲ ἁ̣πά̣ ϲ̣ ̣η ̣ϲ ̣ | [καὶ καθ]ά[[περ]] Ἀλέξανδροϲ π̣[α]|[ραλήψεϲ]θαι τὰ πράγματα (Übers. und Text nach Lehmann 1988). 47 Lehmann 1988, 2f. mit der älteren Literatur und maßgeblichen, weiteren Quellen. 48 Eine Münze aus Theben (Newell 1927, 125), die darauf deuten könnte, diskutiert Miedico 2010, 49f. Das von ihr als Globus identifizierte Objekt (S. 50 Abb. 12a) ist aber sicher ein Fels. Die einem Globus ähnelnde Form erklärt sich daraus, dass bei dem entsprechenden Stück der untere Teil des Felsens fehlt (dass dies so ist, ergibt sich klar aus dem ebenfalls fehlenden, linken Fuß des Gottes); dass es Darstellungsformen des Fels in zwei Segmenten gab, zeigt sich etwa bei Nomos AG, Auktion 14 (17.05.17), 100. 49 Zu Alexarchos siehe Mørkholm 1991, 60; Bergmann 1997, 42f.; O’Sullivan 2008, 78 Anm. 2; Versnel 2011, 440f. 50 Pandermalis 2000; Juhel/Temelkoski 2007; BE 2008, Nr. 106; Juhel/Temelkowski 2011. Grundsätzlich zum makedonischen Schild Liampi 1998. 51 SEG 53, 523. 52 O’Sullivan 2008. 53 Zur Assoziation des Demetrios mit verschiedenen Gottheiten Tondriau 1949. Eine zentrale Rolle spielte auf den Münzen nach 301 Poseidon, da er mit dem Seesieg von Salamis verbunden war; auch hervorgehoben bei Günther 2015, 250. Auf den Münzen erscheint der sonst offenbar sehr wichtige Dionysos nicht. Auch die Hörner im Porträt des Demetrios sind nicht mit ihm, sondern mit Poseidon zu verbinden, wie Ehling 2000 gezeigt hat; dagegen allerdings Thonemann 2005, 94; gefolgt von Chaniotis 2011, 185 Anm.

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Tendenzen in dieser Zeit, die gerade bei Helios besonders zum Tragen gekommen seien, der mit diversen Gottheiten (vor allem Apollon) assoziiert worden sei. Während sie aber sicher zu Recht betont, dass sich bei diversen Göttern, so etwa auch bei Dionysos, astrale Assoziationen finden, sind andere Verbindungen eher spekulativ, so dass Helios kaum als ‚Klammer‘ der verschiedenen göttlichen Bezüge gesehen werden kann.54 Ein weiterer konkreter Bezug zur Astralsymbolik findet sich aber in einem der zentralen Texte für den hellenistischen Herrscherkult – von der Forschung vielbehandelt und in seiner Deutung bis heute umstritten ist –, der von Duris festgehaltene und bei Athenaios überlieferte ithyphallische Hymnos, welcher von den Athenern wohl 291 oder 290 zur Begrüßung des Demetrios Poliorketes gehalten wurde. 55 „Die größten Götter und auch die beliebtesten / sind in unsrer Mitte. / Denn Demeter sowie Demetrios zugleich / führte her die Stunde. / Die eine kam, die heiligen Mysterien / Kores hier zu feiern, / und dieser, wie es einem Gott geziemt, ist da: / heiter, herrlich, fröhlich. / In ernster Stimmung alle Freunde rings im Kreis / und er selbst inmitten. / Ein Bild, in dem die Freunde gleich der Sternenschar, / er jedoch die Sonne. / Sohn Poseidons, des mächtigsten der Götter, und / Aphrodites’, dir zum Gruße! / Denn andre Götter sind, mag sein, sehr weit entfernt / oder haben keine Ohren, / mag sein, sie gibt’s nicht, oder sie mißachten uns, / du bist uns vor Augen, / nicht Holz, nicht Stein, nein in wahrhaftiger Gestalt, / dir gilt unser Beten. / An erster Stelle: Mache Frieden, liebster Freund, / du hast ja das Sagen! / Es ist die Sphinx, nicht die von Theben, welche drückt / alles Land der Griechen, / Aitoler-Streitmacht ist’s, die auf dem Felsen hockt / Wie die Sphinx von früher, / reißt alle Männer uns hinweg und bringt sie fort, / und ich kann nicht kämpfen. / Das ist aitolisch, ja, zu rauben Nachbars Gut, / jetzt noch das der andern. / Am besten, du bestrafst sie selbst, wenn aber nicht, / schaffe uns Oidipus, / der diese Sphinx entweder in die Tiefe stürzt / oder brennt zu Asche!“56 112. Zu Demetrios und Aphrodite siehe Müller 2010. Dass Demetrios im gleich zu besprechenden Hymnos als Sohn von Poseidon und Aphrodite erscheint, erklärt Chaniotis 2011, 185; entgegen der landläufigen Hinweise auf die amourösen Abenteuer des Königs, vgl. z. B. O’Sullivan 2008, 87, mit einer Verbindung zum Seesieg bei Zypern, der Insel der Aphrodite, ermöglicht durch Poseidon. 54 Zu weit geht m. E. etwa O’Sullivan 2008, 92 (zu der im ithyphallischen Hymnos an Demetrios gerichteten Bitte, Athen. 6,253f, gegen die Aitoler vorzugehen): „As the new Apollo, Demetrius is called upon to liberate Greece and to reclaim the freedom of the Panhellenic shrine; Demetrius the sun is to oust the Sphinx, the solar king triumphing over a beast whose associations are strongly chthonic.“ 55 An Untersuchungen zum Hymnos seien hier nur Ehrenberg 1965; Bergmann 1997; Chaniotis 1995; ders. 1997; ders. 2007 und vor allem ders. 2011 sowie Versnel 2011, 444–456 (und passim) genannt. 56 Duris von Samos FGrH 76 F 13 (Athen. 6,253d–f): Ὡς οἱ μέγιστοι τῶν θεῶν καὶ φίλτατοι / τῇ πόλει πάρεισιν / ἐνταῦθα Δημήτριον / ἅμα παρῆγ’ ὁ καιρός. / χἠ μὲν τὰ σεμνὰ τῆς Κόρης μυστήρια / ἔρχεθ’ ἵνα ποιήσῃ, / ὁ δ’ ἱλαρός, ὥσπερ τὸν θεὸν δεῖ, καὶ καλὸς / καὶ γελῶν πάρεστι. / σεμνόν τι φαίνεθ’, οἱ φίλοι πάντες κύκλῳ, / ἐν μέσοισι δ’ αὐτός, / ὅμοιος ὥσπερ οἱ φίλοι μὲν ἀστέρες, / ἥλιος δ’ ἐκεῖνος. / ὦ τοῦ κρατίστου παῖ Ποσειδῶνος θεοῦ, / χαῖρε, κἀφροδίτης. ἄλλοι μὲν ἢ μακρὰν γὰρ ἀπέχουσιν θεοὶ / ἢ οὐκ ἔχουσιν ὦτα / ἢ οὐκ εἰσὶν ἢ οὐ προσέχουσιν ἡμῖν οὐδὲ ἕν, / σὲ δὲ παρόνθ’ ὁρῶμεν, / οὐ ξύλινον οὐδὲ λίθινον, ἀλλ’ ἀληθινόν. / εὐχόμεσθα δή σοι / πρῶτον μὲν εἰρήνην ποίησον, φίλτατε / κύριος γὰρ εἶ σύ. / τὴν δ’ οὐχὶ Θηβῶν, ἀλλ’ ὅλης τῆς Ἑλλάδος / Σφίγγα περικρατοῦσαν, / Αἰτωλὸς ὅστις ἐπὶ πέτρας καθήμενος, / ὥσπερ ἡ παλαι, / τὰ σώμαθ’ ἡμῶν πάντ’ ἀναρπάσας φέρει, / κοὐκ ἔχω μάχεσθαι / (Αἰτωλικὸν γὰρ ἁρπάσαι τὰ τῶν πέλας, / νῦν δὲ καὶ τὰ πόρρω)· / μάλιστα μὲν δὴ κόλασον αὐτός εἰ δὲ

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Vorausgesetzt, wir verstehen den Text nicht als gänzlich ironisch,57 liefert er vielfältige Bezüge, die jenseits unseres Themas von großem Interesse für die religiöse Entwicklung im hellenistischen Griechenland sind. Die Astralsymbolik wird explizit mit einem kurz vorgetragenen Bild aufgenommen, in dem der von seinen „Freunden“ umgebene König mit der Sonne und die Freunde mit den Sternen gleichgesetzt werden. Der Vergleich ist wohl nicht nur als rhetorische Floskel zu sehen, sondern ein Reflex königlicher Selbstdarstellung.58 Unterschiedlich wurde der Verweis auf die Freunde gedeutet. Eric Csapo bezog sich bei seiner Deutung auf den von Athenaios für die Schilderung der Aufführungssituation des Hymnos zitierten Bericht des Demochares: „‚Als Demetrios aus Leukas und Kerkyra nach Athen zurückkehrte, empfingen ihn die Athener nicht nur mit Weihrauch, Kränzen und Weinspenden, sondern ihm begegneten auch Prozessionen und Phallosträger mit Tanz und Gesang, stellten sich unter den Menschenmassen auf, sangen, tanzten und wiederholten den Kehrreim, dass er allein der wahre Gott sei, dass aber die anderen schliefen oder auf Reisen seien oder dass es sie gar nicht gebe, dass er aber von Poseidon und Aphrodite abstamme, durch Schönheit ausgezeichnet und aufgrund seines freundlichen Umgangs mit allen herzlich verbunden sei. Sie trugen ihm flehentlich ihre Bitten vor‘, schließt er, ‚und beteten ihn an.‘“59 Csapo sieht nun in den hier erwähnten Ithyphalloi, dem Chor, die im Hymnos angesprochenen philoi: „We find the chorus of ‚friends‘ (probably the ‚Athenians‘) ‚danced and sang‘, presumably in a circle around Demetrius/Dionysus, likening itself to stars and Demetrius to the sun.“60 Das steht für ihn in einer Tradition von ‚star-choruses‘, die mit Dionysos verbunden sind, trifft hier jedoch sicher nicht das richtige, ist es doch wesentlich naheliegender, unter den Freunden Träger des entsprechenden Hoftitels und damit Funktionäre in Diensten

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μή, / Οἰδίπουν τιν’ εὑρέ, / τὴν Σφίγγα ταύτην ὅστις ἢ κατακρημνιεῖ / ἢ σποδὸν ποιήσει. Der griechische Text folgt Chaniotis 2011, die Übersetzung der von C. Friedrich (mit Änderung). Versnel 2011, 480–484. Dass der Hymnos „spöttisch“ gemeint war, aber real dargeboten wurde, wie dies Bechtold 2011, 124 vermutet, erscheint mir schwer vorstellbar. Dass Passagen des humoristisch gemeint waren, ist jedoch verschiedentlich vermutet worden, vgl. Bergmann 1997, 32, 43f., ohne dass dies den religionsgeschichtlichen Aussagewert beschneiden würde. Mikalson 96 sieht hier die „playfulness of symposiastic literature“ am Werk die zum Genos des ithyphallischen Hymnos gehört habe. So Bergmann 1998, 53 (vgl. jedoch anders Bergmann 1997, 43); zu Recht dagegen Chaniotis 2011, 166 Anm. 31. Bei Green 1990,126 hat dies gar zur Folge, dass Bildschmuck des Gewands und rhetorisches Bild durcheinandergeraten: „a robe that represented him as a sun among stars“. FGrH 75 F 2 (= Athen. 6,253c): ‘Ἐπανελθόντα δὲ τὸν Δημήτριον ἀπὸ τῆς Λευκάδος καὶ Κερκύρας εἰς τὰς Ἀθήνας οἱ Ἀθηναῖοι ἐδέχοντο οὐ μόνον θυμιῶντες καὶ στεφανοῦντες καὶ οἰνοχοοῦντες, ἀλλὰ καὶ προσοδιακοὶ χοροὶ καὶ ἰθύφαλλοι μετ' ὀρχήσεως καὶ ᾠδῆς ἀπήντων αὐτῷ καὶ ἐφιστάμενοι κατὰ τοὺς ὄχλους ᾖδον ὀρχούμενοι καὶ ἐπᾴδοντες ὡς εἴη μόνος θεὸς ἀληθινός, οἱ δ’ἄλλοι καθεύδουσιν ἢ ἀποδημοῦσιν ἢ οὐκ εἰσίν, γεγονὼς δ’ εἴη ἐκ Ποσειδῶνος καὶ Ἀφροδίτης, τῷ δὲ κάλλει διάφορος καὶ τῇ πρὸς πάντας φιλανθρωπίᾳ κοινός. δεόμενοι δ’αὐτοῦ ἱκέτευον, φησί, καὶ προςηύχοντο.’ (Übers. Friedrich) Csapo 2008, 272.

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des Demetrios zu sehen, die offenbar in dieser Zeit wie ihr König reiche Ehren empfingen. 61 Konkret könnten hier Adeimantos, Oxythemis und Burichos angesprochen sein.62 Darüber hinaus finden sich zahlreiche Anspielungen auf die Göttlichkeit des Königs. Dazu gehört auch sein Aussehen: Wie es einem Gott geziemt, ist er heiter, herrlich und fröhlich (ὁ δ’ ἱλαρός, ὥσπερ τὸν θεὸν δεῖ, καὶ καλὸς καὶ γελῶν πάρεστι). Die Charakterisierung ist oft auf Dionysos bezogen worden, könnte aber auch mit der folgenden, angesprochenen Umschreibung als Sonne zusammengebracht werden, zeigt sich doch bei Demetrios von Phaleron die enge Verbindung zwischen Schönheit und Bezug zu Helios.63 Nach Plutarch war Demetrios Poliorketes mit einem außergewöhnlich schönen Gesicht gesegnet.64 Für wie wichtig das Erscheinungsbild gehalten wurde, illustriert der Umstand, dass er neben Ptolemaios und (vielleicht) Seleukos65 der einzige Diadoche war, der sein Porträt auf Münzen setzte: jugendlich zwar wie Alexander, aber dabei doch realistisch, da die Darstellung dem Lebensalter des Dargestellten entsprach. 66 Angelos Chaniotis hat zudem auf die große Bedeutung des rechten Momentes (kairos) im Hymnos und in der durch eine Kalendermanipulation erreichten kultischen Rahmung der Ankunft des Demetrios in Athen hingewiesen und dies mit dem Gewand des Demetrios verbunden. Denn dieses zeigte den Zodiak, der dazu diente, das Jahr in zwölf Abschnitte zu gliedern. Mit dieser Darstellung sei eine „allusion to control of the annual cycle, control of seasons, control of time“ zu verbinden, so dass Demetrios als „master of time“ erschienen sei.67 Es ist nun zwar nicht sicher, dass Demetrios das Gewand bei dieser Situation trug, die Anspielung auf die Sonnensymbolik im Hymnos im Angesicht des Herrschers spricht jedoch dafür.68 Auch die Herrschaft über die Zeit mag somit eine Dimension der, wie gesehen, vielfältigen Bedeutungsebenen der Astralsymbolik des Gewands gewesen sein, die nicht auf eine Aussage zu reduzieren ist. Zentral scheint mir aber vor allem die in allen überlieferten konkreten Bezügen greifbare Verbindung zu einer theatralischen Selbstinszenierung des Demetrios zu sein, die für dessen Repräsentation als besonders charakteristisch zu sehen ist.69 Vor diesem Hintergrund erinnert der Ornat des Demetrios dann an eine weitere griechische 61 Buraselis 2003, 190f., mit dem Hymnos m. E. zu Recht in Verbindung gesetzt von Chaniotis 2011, 186; vgl. O’Sullivan 2008, 88 mit Anm. 34. 62 Mikalson 1998, 96. Zu diesen Athen. 6,253a: Καὶ Βουρίχου καὶ Ἀδειμάντου καὶ Ὀξυθέμιδος τῶν κολάκων αὐτοῦ καὶ βωμοὶ καὶ ἡρῷα καὶ σπονδαί. τούτων ἑκάστῳ καὶ παιᾶνες ᾔδοντο, ὥστε καὶ αὐτὸν τὸν Δημήτριον θαυμάζειν ἐπὶ τοῖς γινομένοις καὶ λέγειν ὅτι ἐπ‘αὐτοῦ οὐδεὶς Ἀθηναίων γέγονε μέγας καὶ ἁδρὸς τὴν ψυχήν. Vgl. Habicht 1970, 55–58. 63 O’Sullivan 2008, 87. 64 Plut. Demetr. 2,2: „Demetrios erreichte nicht die Körpergröße seines Vaters, obschon er auch groß war, aber seine Gesichtsbildung war von so erstaunlicher, ungewöhnlicher Schönheit, dass kein Bildhauer und kein Maler ihn ganz zu treffen vermochte; denn sein Antlitz besaß zugleich Anmut und Ernst, Furchterregendes und Anziehendes, und mit der jugendlichen Kühnheit verband sich eine schwer wiederzugebende, gleichsam heroische Erscheinung und königliche Majestät.“ 65 Vgl. Hoover 2002. 66 Von den Hoff 2007, 55; Stewart 1994, 278 betont, dass das Bildnis ihn „as his own man, beholden to noone“ zeigt. Deutlich ist der Gegensatz zum Vater Antigonos Monophthalmos; vgl. Troncoso 2010, 23. Zu den Münzen des Demetrios siehe Mørkholm 1991, 77–81. 67 Chaniotis 2011, 165. 68 Zur Verbindung siehe auch Ehrenberg 1965, 516f. 69 Mastrocinque 1979; Chaniotis 1995; ders. 1997; ders. 2007. Dass das Gewand bei Festanlässen zum Einsatz kam, vermutete von Lorentz 1937, 201f.; vgl. ohne Begründung auch Pownall 2016, 55.

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Bildtradition, den sogenannten „Theaterkönig“, der in der Folge der Perserkriege im athenischen Theater ausgezeichnet durch reich verzierte Gewänder, βαρβάρων ὑφάσματα, auf der Bühne zum Inbegriff des Königs wurde. 70 Ein direktes Anknüpfen des Demetrios an diese Tradition ist wenig wahrscheinlich, wichtig ist aber die durch die Kostüme erzeugte Distanz zum normalen Polisbürger. Diese Erhöhung ist auch für Demetrios als zentral zu sehen, und die Astralsymbolik wird damit zu einem Element, das als dezidiert charismatisch zu bezeichnen ist. Der Charisma-Begriff Webers hat in den Altertumswissenschaften gerade bei der Erforschung von Monarchien in den letzten Jahrzehnten ungebrochen Konjunktur. 71 Die Forschung versucht dabei, sich über das Weber’sche Konzept der charismatischen Herrschaft den Charakteristika der unterschiedlichen Herrschaftsformen zu nähern. Bei diesem Idealtyp besitzt der Herrscher seine Autorität aufgrund außeralltäglicher, fortwährend durch Leistung unter Beweis zu stellender Qualitäten, die ihn als von den Göttern unterstützt erweisen.72 Für ‚das‘ hellenistische Königtum ist dies nach einem einflussreichen Artikel von Hans-Joachim Gehrke primär der Aspekt der Sieghaftigkeit. 73 Eine einfache Zuordnung zu diesem Typ ist freilich nicht möglich.74 Dies ist ebenso wenig beim römischen princeps der Fall, auf den das Charisma-Konzept in jüngster Zeit primär angewendet worden ist. Doch finden sich auch hier entsprechende Aspekte wie etwa (aber keineswegs ausschließlich) das Ideologem des princeps als Sieger und Triumphator in seiner Rolle als erster Feldherr des Reiches, die vor der Folie des Typs der charismatischen Herrschaft gegenüber anders gelagerten Aufgaben und Bildern präziser identifiziert werden können. 75 In diesem von Gotter als „Beschreibungsmodus“ bezeichneten Rückgriff auf die Weber’sche Verfassungstypologie ist ihr hauptsächlicher Nutzen zu sehen.76 Im Falle des kosmischen Herrscherornats des Demetrios hilft die Kategorisierung als charismatisches Element, die Ikonographie nicht als abstrakten Ausdruck einer Reichsideologie zu verstehen, sondern vielmehr als ein ‚Kostüm‘, das seine Bedeutung primär durch die Einbindung in die performative Herrschaftsrepräsentation des Königs erhielt.

70 Von den Hoff 2017, 277–284. Zum Begriff der barbarōn hyphasmata siehe von Lorentz 1937, 199f. 71 Vgl. zur Rolle der ‚charismatischen Herrschaft‘ in der Alten Geschichte in jüngerer Zeit Hatscher 2000, 19–69; Näf 2015. Vgl. auch Gotter 2008 72 Weber 1922, 140–142. 73 Gehrke 1982. 74 Primär in diese Richtung geht die Kritik an der Anwendung des Modells von Günther 2015, 25; vgl. auch den Beitrag von Eckhardt in diesem Band. 75 Besonders stark Sommer 2011 76 Gotter 2008, 180.

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Demetrios I. Poliorketes. Historisches Scheitern auf hohem Niveau? Sonja Richter

1. Einleitung „Demetrios I. Poliorketes: Historisches Scheitern auf hohem Niveau“ – unter diesem plakativen wie programmatischen Titel ließ Linda-Marie Günther im WiSe 2007/8 im Rahmen eines Hauptseminars an der Ruhr-Universität Bochum ihre Studierende Einblick in das nehmen, was in der Forschung gängigerweise als ‚work in progess‘ bezeichnet wird. Demetrios, ein „facettenreicher und zeitlebens im ‚interkulturellen Milieu‘ mobiler Protagonist der frühhellenistischen Zeit“ – so stellte Günther ihn bereits im Veranstaltungskommentar vor und deutete damit bereits die vielen verschiedenen Aspekte an, die Politik und Herrschaft der frühen Diadochenphase prägten, wie etwa die veränderte Wahrnehmung und Bedeutung des Titels βασιλεύς, die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen gegen immer wieder andere Kontrahenten, die geographische Mobilität aller Beteiligten oder auch die zahlreichen, neu gestalteten und teilweise nur äußerst kurzlebigen, dynastischen Verbindungen. Besonders der letzte Aspekt lässt sich als ein herausragendes Kriterium der Diadochengeschichte ausmachen, sollten doch nach dem Tode Alexanders III. und der fehlenden Nachfolgeregelung die etablierten Ansätze zur Legitimation und Etablierung von Herrschaft außer Kraft gesetzt werden und neue Thronaspiranten auf den Plan treten. Mit dieser Entwicklung einher ging eine deutlich veränderte Sicht auf die Bedeutung der weiblichen Familienangehörigen, die in späterer Zeit die feste Etablierung einer βασίλισσα1 begünstigte. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden ausgehend von der bei Plutarch überlieferten Anekdote2 um Demetrios und Kratesipolis gefragt, welche Rolle den dynastischen Allianzen3 des Demetrios zugesprochen werden kann und wie sich diese Heiratsverbindungen in seine Herrschaftsauffassung integrieren lassen. Daher wird zunächst die Demetrios-Darstellung bei 1 Bereits Demetriosʼ Gattin Phila wurde als βασίλισσα bezeichnet; SIG³ 333. 2 Gerade die frühere Forschung hat versucht, dieser Anekdote einen gewissen Wahrheitsgehalt zuzusprechen und aus den geographischen und zeitlichen Umständen Hinweise auf die antigonidische Griechenlandpolitik abzuleiten. So etwa Beloch 1925, 444. Während andere Arbeiten zu Demetrios keinerlei Bezug auf diese Anekdote nehmen, hat sich unlängst Wheatley 2004, 1–9 wiederholt gegen eine Historizität der Angaben bei Plutarch ausgesprochen bzw. versucht, alternative zeitliche und regionale Verortungen nachzuweisen. 3 Bereits 1967 hat sich Jakob Seibert mit der Bedeutung der dynastischen Allianzen in hellenistischer Zeit beschäftigt und dabei die Bedeutung der Frauen bzw. Töchter – wie etwa Phila – der Weggefährten Alexanders unterstrichen (11–13/18). Abschließend urteilt Seibert 1967, 33 noch, dass Demetriosʼ Heiratsverbindung mehr von ziellosen und „überspitzten Plänen“ zeugten, denn von einer „klugen, planenden Heiratspolitik“. Ann-Cathrin Harders hat in jüngerer Zeit dieser Ansicht bereits zu Recht widersprochen; Harders 2013.

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Plutarch in Hinblick auf mögliche Verzerrungen untersucht, um dann im Zuge nach der Suche eines ‚historischen Kerns‘ Demetriosʼ Handlungen in den Kontext der frühen Diadochenzeit einzubetten,4 da m. E. nicht die Verortung dieser Anekdote in die historischen Abläufe Ziel der Interpretation sein sollte, sondern der Kern der Überlieferung vielmehr in Plutarchs Charakterisierung seines Demetrios zu finden ist.5

2. Der zügellose Demetrios – Plutarch und sein Protagonist Bereits in den einleitenden Worten seiner Demetrios-Vita, wenn Plutarch Demetrios Poliorketes und Marcus Antonius als Viten-Paar dem Leser präsentiert, nimmt er Bezug auf die Zügellosigkeiten seiner beiden Protagonisten. So seien beide „groß in der Liebe wie im Trunk“ gewesen, „tüchtige Soldaten, freigebig, prachtliebend und frevlerisch“.6 Ebenso sei Demetrios von „größter Liebenswürdigkeit im Umgang und […] beim Trunk und in schwelgerischer Gesellschaft der lebenslustigste aller Könige gewesen“, der es vorzüglich verstanden habe, „wenn der Krieg vorbei war, den Frieden alsbald in Freude und Lust zu verwandeln.“7 Die Anekdote8 um Demetrios und Kratesipolis9 ist nur wenig später dann das erste Beispiel, an dem Plutarch Demetriosʼ wechselhaften Charakter zu verdeutlichen sucht. So habe 4 Auch wenn nun deutlich verspätet, gelingt es mir hoffentlich an dieser Stelle die Hausaufgabe vom 29.10.2007 – in hoffentlich ansprechender Form – nachzureichen. 5 Die Problematik in der Arbeit mit und Interpretation von Plutarchs Darstellungen – besonders hinsichtlich der bioi paralleloi –, die auch die Forschung (etwa Pelling 1986, 92–93; Duff 1999; 125, 279) schon in vielerlei Hinsicht beschäftigt hat, drückt Plutarch selbst zu Beginn seiner Alexander-Vita (Alex. 1,2) aus: So (be-)schreibe er keine ἱστορίας, sondern βίους. Und da er in erster Linie den Charakter der Person darlegen wolle, seien hierfür Nebensächlichkeiten und Anekdoten deutlich zweckdienlicher. Der Autor bewegt sich somit zwischen mehreren literarischen Genres, so dass durch den Fokus auf die moralisierenden Elemente die Interpretation seiner Werke, besonders in Hinsicht auf historischen die Zusammenhänge und Abläufe, deutlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Vgl. hierzu besonders Binder 2008, 1–26, der in jüngerer Zeit die Probleme und Besonderheiten in der Arbeit mit Plutarch zusammengestellt und analysiert hat. 6 Plut. Demetr. 1. 7 Plut. Demetr. 2. Diese Darstellung entspricht der Ansicht, dass Plutarch und Diodor in ihrer Darstellung Demetrios als einen zweiten Dionysos interpretieren bzw. ihn dem Gott angleichend beschreiben. Siehe hierzu Diod, 20,92,4; Plut. Demetr. 2,3; 19,3; Müller 2010, 562–566. In seiner herrschaftlichen Selbstdarstellung, etwa auf Münzen, assoziiert sich Demetrios selbst hingegen mit Poseidon; Weber 1995, 288; Ehling 2000, 159–160; Müller 2010, 565. 8 Zeitlich ordnet Plutarch die Anekdote an den Beginn der Belagerung von Megara im Sommer 307 v. Chr. Hierzu äußern sich ebenfalls Diod. 20,46,3; Diog. Laert. 2,115; Dion. Hal. Din. 3 (Philochoros FGrH 328 F 66). Besonders Wheatley 2004 hat sich jedoch schon mehrfach gegen diese zeitliche Verortung ausgesprochen und die grundsätzlichen Unsicherheiten in der Datierung und den Abläufen der antigonidischen Feldzüge gegen Griechenland herausgestellt. 9 Bereits die sprechenden Namen der Protagonisten dieser Episode laden zum Schmunzeln ein, wenn die „Herrscherin über die Stadt“ den „Städtebelagerer“ zu einem heimlichen Rendezvous bittet. Heckel 1984 hat sich in anderer Weise zu Demetriosʼ Beinamen geäußert. So sei die Bezeichnung als Poliorketes eine von seinem ärgsten Feind Lysimachos initiierte Schmähung seiner Leistungen gewesen – als Antwort auf Demetriosʼ Verunglimpfungen der übrigen Diadochen und Lysimachos selbst als gazophylax (Plut. Demetr. 25,7–8) – und spiele darauf an, dass Demetrios Städte ausschließlich belagern, aber nicht erobern könne. Hoffmann 1906, 219 geht zudem davon aus, dass Kratesipolis nicht der tatsächliche Name gewesen sei, sondern Kratesipolis auf Grund ihrer Herrschaftsausübung über Sikyon und Korinth so genannt

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Demetrios I. Poliorketes. Historisches Scheitern auf hohem Niveau?

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Kratesipolis, die nicht nur die Schwiegertochter des Polyperchon gewesen sein soll, sondern zugleich eine „wegen ihrer Schönheit berühmte Frau“, um eine Zusammenkunft mit dem ‚Städtebelagerer‘ gebeten. Demetrios sich habe mit dieser Aussicht daraufhin selbstverständlich sofort zu Kratesipolis begeben, wobei er darauf achtete, sein Lager so aufzuschlagen, dass Kratesipolisʼ Besuch bei ihm von seinen Soldaten nicht bemerkt werden würde. Der Plan zur heimlichen Zusammenkunft war jedoch seinen Feinden bekannt, die ihn nun angehen wollten, so dass Demetrios voll Furcht und nur spärlich bekleidet fliehen musste. Am Schluss dieser Anekdote nimmt Plutarch selbst Stellung und resümiert, dass Demetrios wegen seiner eigenen Zügellosigkeit beinahe den Feinden in die Hände gefallen wäre und selbst verschuldet habe, sein Zelt und sein gesamtes Hab und Gut an diese verloren zu haben. 10 Die Anekdote fügt sich sehr gut in weitere Sequenzen ein, in denen Plutarch Demetriosʼ Verhalten gegenüber Frauen berichtet und daraus einen Teil der Charakterdarstellung des Poliorketes ableitet. So habe zwar Phila, Demetriosʼ erste Gattin, als Tochter des Antipatros das höchste Ansehen genossen, doch habe er sich grundsätzlich schnell verheiratet und zudem mehrere Gattinnen gleichzeitig gehabt. Während seiner Zeit in Athen ehelichte er Eurydike – Plutarch deutet hier als Grund nahezu eine gewisse Form der ‚Langeweile‘ an –, wobei die Athener diese Eheschließung als besondere Gunst und Ehre wahrgenommen hätten. 11 Zudem habe es sich vor allem bei der Ehe mit Phila um eine nicht von Demetrios gewünschte, sondern von Antigonos arrangierte Ehe gehandelt, da Phila mindestens zehn Jahre älter war als der junge Demetrios.12 Seine dritte Ehe schloss Demetrios 303 v. Chr. mit Deidameia, einer Tochter des Königs Aiakides von Epirus. Ihre Tante Olympias hatte sie als Kind bereits mit ihrem Enkel Alexander IV. verheiraten lassen, wobei die Ehe nur kurz Bestand hatte. Plutarch ordnet die Eheschließung in die Feierlichkeiten zu Ehren der Hera in Argos ein, deren Leitung Demetrios in Verbindung mit ausgiebigeren Feiern ebenfalls übernommen haben soll. 13 Im Rahmen seiner Pyrrhos-Vita berichtet Plutarch zudem davon, dass Demetrios, nachdem sich Pyrrhosʼ Gattin Lanassa von ihm auf Grund der Bevorzugung seiner nichtgriechischen Gattinnen vom Epiroten getrennt hatte, Lanassas Hochzeitsangebot 291 v. Chr. angenommen habe.14 Nach Philas Freitod durch Gift vermählte sich Demetrios 287 v. Chr. schlussendlich noch mit Ptolemais, einer Tochter der Eurydike, der Schwester der Phila, und Ptolemaiosʼ I., nachdem durch die Vermittlung des Seleukos bereits 298 v. Chr. die Verlobung arrangiert worden war.15 Durch die Nennung des gemeinsamen Sohnes Demetrios Leptos erwähnt Plutarch noch die weitere Ehe mit einer ansonsten nicht weiter bekannten Illyrerin.16

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worden sei. Zwar sind nur spärliche Informationen über Kratesipolis bekannt, doch lässt sich ihr Name grundsätzlich finden. Plut. Demetr. 9. Plut. Demetr. 14. Plut. Demetr. 14/27. Plut. Demetr. 25. Plut. Pyrrh. 9–10. Plut. Demetr. 32/46. Plut. Demetr. 53.

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Plutarchs abschließendes Urteil zu Demetriosʼ Heiratspolitik17 ist vernichtend: Die Ehre, die Demetrios seinen Gattinnen habe zukommen lassen, sei es nämlich gewesen, dass er sich auch hemmungslos mit vielen weiteren Frauen (Hetairen und freie Bürgerinnen) eingelassen habe, so dass er in dieser Hinsicht von allen damaligen Herrschern den schlechtesten Ruf gehabt hätte.18

3. Zur Bedeutung politischer Heiratsallianzen Der plötzliche Tod Alexanders III. in Babylon im Juni 323 v. Chr. und die nicht regelte Nachfolge in der Herrschaft zogen ein Machtvakuum nach sich, das sich deutlich in den mehr als vierzig Jahre andauernden Diadochenkämpfen widerspiegelt. Besonderes Kennzeichen dieser Epoche war eine Vielzahl schnell wechselnder Bündnisse und Koalitionen, in denen sich eine Mehrheit gegen den vermeintlich Stärksten fand, die nach einem Sieg jedoch augenblicklich wieder auseinanderbrach. Die durch die Argeaden bisher etablierten Mechanismen zur – dynastischen – Herrschaftslegitimation19, -etablierung und -sicherung griffen somit nicht mehr und bereiteten den Weg für neue Legitimationsmodelle.20 In den Vordergrund traten nun neben den wenigen verbliebenen Mitgliedern der Aregadendynastie weitere traditions- und einflussreiche Familien, insbesondere die Antigoniden und Antipatriden, die in früherer Zeit in enger Verbindung zu Philipp II. und Alexander III. standen. Zudem bekamen dynastische Allianzen eine größere Bedeutung, da familiäre Verflechtungen und Netzwerke das wirksamste Mittel zu sein schienen, um vor dem Horizont der zahlreichen, einen Herr-

17 Abgesehen von seinen Gattinnen hatte Demetrios laut Plutarch noch zahlreiche Beziehungen zu Hetairen – angeblich mindestens zehn können nachgewiesen werden –, die das Bild des „von seinen Erfolgen korrumpiert[en]“ und von seiner „lasterhaften Seite“ (Müller 2010, 559) beeinflussten Städtebelagerers noch vertiefen. Eine solche Sichtweise findet sich etwa noch bei Wheatley 2003, der in Lamia die Hauptschuldige für Demetriosʼ schlussendliches Versagen sieht. Müller 2010 hat jedoch überzeugend gezeigt, dass Demetriosʼ Hetairen Teil seiner monarchischen und herrschaftlichen Repräsentation waren, die „bewusst oder unbewusst missverstanden und fehlinterpretiert“ (560) wurden. Im Fokus dieses Beitrags stehen jedoch die dynastischen Verbindungen, also die tatsächlichen Eheschließungen, so dass die weiteren Hetairenverbindungen nicht diskutiert werden. 18 Plut. Demetr. 14. 19 Den schlussendlichen Bruch mit der argeadischen Herrschaft stellt das sog. ‚Jahr der Könige‘ 306 v. Chr. dar, in dem zunächst Antigonos sich und seinen Sohn zu Königen erheben ließ; Plut. Demetr. 17,2–18,1; Diod. 20,53,3–4. Das antigonidische Königtum stand in keinerlei Verbindung mit argeadischen Traditionen, doch gilt der dort formulierte Herrschaftsanspruch als universal. Die fortgesetzte Münzprägung des Alexandertyps bezeichnet Müller 1973, 93 daher als „Fiktion einer Kontinuität des Alexanderreiches“. In den Jahren bis 304 v. Chr. folgten die übrigen Diadochen dem antigonidischen Vorbild, doch ist hier jeweils der ihr Königtum umfassende Raum nicht genau zu definieren. Nach Carney 1988 zeigt die Ermordung der Schwestern Alexanders III. das Ziel der Diadochen, sich von den Argeaden lösen zu wollen. 20 Vgl. Gehrke 1982. Zwar für das Beispiel der Ptolemäer, aber dennoch übertragbar macht Müller 2011a sieben neue legitimatorische Strategien aus. Für die hier diskutierte Zeit gelten ebenfalls: 1. Militärische Erfolge, 2. Inszenierung des Herrscherpaares bzw. des Herrschers und seiner Gattin als Wohltäter, 3. Sakrale Überhöhung des Königtums und Anknüpfung an olympische Gottheiten (158–159); in ähnlicher Weise bereits Weber 1995, 284–285.

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schaftsspruch anmeldenden Diadochen und der immer wieder in neuen Konstellationen ausgefochtenen Diadochenkriege die eigene Position abzusichern; 21 in diesem Zusammenhang bildeten die weiblichen Familienangehörigen eine Gruppe, der im Kontext der herrschaftlichen Etablierung nun eine weitreichendere Funktion – aktiv wie passiv – zugesprochen werden konnte.22 Ein erstes Beispiel hierfür stellen Alexanders Schwestern dar: An seine Vollschwester Kleopatra sollen in der Folgezeit zahlreiche Heiratsgesuche herangetragen worden sein, da ihr potenzieller Gatte durch eine gemeinsame Vermählung eine Traditionsanbindung an die bisher vorherrschende Argeadendynastie und damit eine traditionsgebundene Legitimation hätte vorweisen können, die vor allem der Legitimation gegenüber den Makedonen gedient hätte.23 Gleiches lässt sich für seine Halbschwester Thessalonike festhalten, wobei Diodor ihre Vermählung mit Kassander auch direkt mit Herrschaftsansprüchen in Makedonien verbindet.24 Daneben rückten die Töchter25 des Antipatros, Phila und Nikaia, in den Fokus des Interesses, woran deutlich wird, dass bereits früh von einer Abkehr von der Argeadendynastie ausgegangen werden kann bzw. die potenziellen Gatten und Herrschaftskandidaten schon stark nach weiteren Möglichkeiten suchten, herrschaftliche Legitimation und Akzeptanz durch neue oder andere verwandtschaftliche Netzwerke zu etablieren. 26 Zudem ist bereits hier festzustellen, dass das Werben um eine Ehe nicht ausschließlich in der Initiative des potenziellen Gatten lag, sondern die Frau selbst aktiv um einen Ehepartner werben konnte.27 Im Folgenden sollen daher die politischen Heiratsverbindungen des Demetrios hinsichtlich ihrer Motive und Zielsetzungen untersucht werden. Die Analyse erfolgt nicht in chronologischer Abfolge, sondern in systematischen Kategorien, die sich aus der Position der Frauen und ihrer genealogischen und geographischen Herkunft ergeben. So bilden die erste 21 Seibert 1991, 88 hat das Handeln der einzelnen Diadochen bereits als „Idiopragia“ gekennzeichet: „Ihren Egoismus verbrämten sie manchmal durch die Vorgabe, sie handelten im Interesse des makedonischen Königshauses. Tatsächlich ging es aber allen Diadochen nur um die Sicherung und Ausdehnung ihrer persönlichen Machtstellung.“ Zudem unterstreicht Seibert 1991, 91–92 für die frühen Jahre, dass für alle Diadochen zunächst die Legitimierung gegenüber den Makedonen im Vordergrund gestanden haben muss. 22 In der Forschung hat sich in den letzten Jahren das Interesse verstärkt, die Bedeutungen, Rollen sowie Grenzen und Möglichkeiten der weiblichen Angehörigen hellenistischer Könighäuser in den Fokus nehmen. Vgl. hierzu etwa den Beitrag von Müller 2007, die in ihrem Forschungsüberblick die Probleme in der Forschung, ein emanzipiertes Frauenbild für die makedonischen ‚Königinnen‘ zu etablieren, darlegt. In der Assoziierung der hellenistischen Königin mit Gottheiten wie Aphrodite erkennt Müller 2010, 567 einen wichtigen Einschnitt in der herrschaftlichen Selbstrepräsentation im Kontext der steigenden Bedeutung der weiblichen Dynastieangehörigen. 23 So etwa Leonnatos (Plut. Eum. 3,5); Perdikkas (Diod. 18,23,1–3; Arrian FGrHist 156 F 9, 26); Lysimachos; Ptolemaios; Kassander (Diod. 20,37,3–6). Vgl. hierzu Macurdy 1932, 36–38, 46; Seibert 1967, 19–24 mit der These, dass das Werben um die Kleopatra synonym für den Anspruch auf die Gesamtherrschaft zu verstehen sei; Carney 1988; 394–403; Meeus 2009; Müller 2011a, 163–164; Müller 2011b, 103–106 mit Handlungsräumen für Kleopatra bereits unter Alexander III. 24 Kassander (Diod. 19,52,1; 19,61,2); vgl. Marcurdy 1932, 44, 47, 52–55; Carney 1988, 386–392. 25 Seine dritte Tochter Eurydike hatte Antipatros bereits 320 v. Chr. mit Ptolemaios vermählt; Paus. 1,6,8. 26 Nikaia wurde zunächst mit Perdikkas vermählt (Diod. 18,23,1–3) und heiratete nach dessen Tod Lysimachos (Strab. 12,4,7). 27 So soll Kleopatra die Absicht gehabt haben, sich mit Ptolemaios zu vermählen, wovon sie jedoch durch Antigonos abgehalten wurde; Diod. 20,37,3. Zur Vermählung des Perdikkas berichtet Diodor (18,23,1) ebenfalls, dass Nikaia – eventuell auf Anraten des Antipatros – und Kleopatra dem Reichsverweser jeweils die Ehe anboten.

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und wichtigste Kategorie Eheschließungen, die zu Allianzen innerhalb des Diadochengefüges führten. Hierzu zählen seine Ehen mit Phila, Deidameia (im weitesten Sinne) und Ptolemais sowie die Vermählung seiner Tochter Stratonike mit Seleukos. Zur zweiten Kategorie zählen Ehen zur Absicherung lokaler Interessen. Hier sind vor allem die Ehen mit der Athenerin Eurydike und die Ehe mit Lanassa – sofern historisch – zu nennen. Zu fragen bleibt, ob davon abgegrenzt eine dritte Gruppe an Ehen unterschieden werden kann, die Interessen außerhalb des griechisch-makedonischen Raums betrafen, so etwa die von Plutarch angedeutete Ehe mit einer ansonsten unbekannten Illyrerin. 3.1 Dynastische Allianzen innerhalb des Diadochengefüges 3.1.1 Die Frühphase der Diadochenauseinandersetzungen – Phila Vermutlich 321/20 v. Chr. wurde die Ehe zwischen Phila 28 und Demetrios geschlossen. Wie bereits angedeutet, soll nach Plutarch Antigonos, der selbst keine eigenen Töchter hatte, Drahtzieher dieser Vermählung gewesen sein. Zudem sei es ebenfalls notwendig gewesen, den jungen Demetrios auf Grund des Altersunterschieds von etwa zehn Jahren zu der Ehe mit Phila zu überreden.29 Vor diesem Hintergrund könnte die Leistung, eine politisch motivierte und profitable Heiratsallianz zu schließen, natürlich zunächst Antigonos zugeschrieben werden. Auffällig ist jedoch, dass sich Demetrios bis zu ihrem tragischen Selbstmord in keiner Weise von Phila distanzierte. Ganz im Gegenteil – Demetrios hielt vehement an der Ehe mit der Frau, deren politische Klugheit bereits ihr Vater Antipatros erkannt haben soll, 30 fest und Philas Anwesenheit scheint bei wichtigen Anlässen für ihn unerlässlich gewesen zu sein. So benennt Plutarch dezidiert Philas Anwesenheit bei den Hochzeitsfeierlichkeiten, die Demetrios und Seleukos zur Vermählung zwischen Stratonike und Seleukos abhielten. 31 Später übernahm Phila die Rolle der Vermittlerin, als Demetrios sie zu ihrem Bruder Kassander schickte, um dessen Verständnis in Demetriosʼ Konflikt mit Pleistarchos um Kilikien zu erbitten.32 Auch im Kontext seiner Eroberung Makedoniens scheint Demetrios von seiner Ehe mit Phila profitiert zu haben. So soll Philas Einfluss und der durch sie gegebene Rückbezug auf Antipatros Demetrios die notwendige Akzeptanz verschafft haben, als er in den Bruderkonflikt zwischen Alexander und Antipatros eingriff und schließlich Alexander, nachdem dieser seinen Bruder hatte umbringen lassen, ebenfalls ermorden ließ. Plutarchs Bericht erwähnt an dieser Stelle jedoch noch einen weiteren wichtigen Aspekt, der Demetrios half, die eigene Herrschaft zu stabilisieren: den mit Phila gemeinsamen Sohn Antigonos Gonatas, den er als potenten Nachfolger präsentieren konnte. 33 Abgesehen von den lobenden und verehrenden Phila-Darstellungen, die uns Diodor und Plutarch – hier vor allem als Positiv für Demetrios gestaltet – überliefern, erweitern auch Inschriften den Blick auf die älteste Tochter des Antipatros. So trug sie als erste hellenistische Königin – und anscheinend auch als einzige der Gattinnen des Demetrios – den Ehrentitel 28 Vgl. allgemein Wehrli 1964 ; Seibert 1967, 12–13. 29 Plut. Demetr. 14/27. 30 Diod. 19,59,4–5. Seibert 1967, 27 geht fälschlicherweise noch davon aus, dass die Ehe zwischen Phila und Demetrios keinerlei positive Wirkung gehabt habe, was er auch im frühen Tod Antipaters begründet sieht. 31 Plut. Demetr. 32. 32 Plut. Demetr. 32. 33 Plut. Demetr. 37.

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βασίλισσα, wie es die Ehrinschrift über die Bürgerrechtsverleihung an den Lykier Demarchos in Samos erwähnt.34 In Athen und Lampsakos wurden Phila kultische Ehren zuteil, in denen sie mit Aphrodite assoziiert wurde.35 Das tragische Ende dieser Ehe besiegelte schlussendlich Philas Selbstmord, da sie es nach Demetriosʼ Vertreibung aus Makedonien „nicht [habe] ertragen [können], den unglückseligsten der Könige wieder als einfachen Mann und Flüchtling vor Augen haben zu sollen“. 36 Zunächst ist die herausragende Rolle, die Phila innerhalb des Diadochengefüges spielte, herauszustreichen und die Vermutung liegt nahe, dass in den Positiv-Negativ-Schablonen, die besonders Plutarch, aber in gewisser Weise auch Diodor, auf die Ehe zwischen Phila und Demetrios legen, das in den Quellen angelegte Unverständnis durchscheint, wieso der unfähigste aller Herrschaftsprätendenten durch dynastische Allianzen mit Phila das beste Kapital für den Aufbau und die Absicherung der eigenen Herrschaft erhalten konnte – und dieses Unverständnis bedingt schlussendlich das verzerrte Bild, durch das uns Demetrios in den Quellen entgegentritt. Davon losgelöst lässt sich jedoch konstatieren, dass, sollte dieses Ehearrangement auch auf Antigonosʼ Weitblick zurückzuführen sein, Demetrios dennoch die Bedeutung dieser dynastischen Allianz erkannt hatte und in den folgenden Jahren ihr Potenzial vorausschauend einsetzte.37 3.1.2 Der vierte Diadochenkrieg vor der Schlacht bei Ipsos – Deidameia Die zweite Vermählung, die im weiteren Sinne innerhalb des Diadochengefüges geschlossen wurde, war seine Ehe mit der aus Epirus stammenden Deidameia 303 v. Chr. Plutarch erwähnt diese Hochzeit zwar nur in einem Nebensatz – so sei Demetrios in Argos angekommen, als dort die Heraklesspiele stattgefunden hätten, deren Leitung er übernommen und im Kontext dieser Feierlichkeiten dann auch Deidameia geheiratet habe38 –, doch lagen in der Person der Deidameia weitere Vorzüge, von denen Demetrios profitieren konnte. 39 Auf Veranlassung der Olympias war die Schwester des Pyrrhos bereits 317 v. Chr. mit Alexander IV. Aigos, dem Sohn Alexanders III., verheiratet worden.40 In ihr verbanden sich somit zwei weitere dynastische Verflechtungsstränge, die Demetrios zur Verwirklichung seiner politischen Ziele nutzen konnte. Einerseits, legitimatorisch jedoch vermutlich eher zweitrangig, stand sie durch ihre Ehe mit Alexanders Sohn für eine Verbindung zu den Argeaden; andererseits bot sie Demetrios eine Anbindung an das epirotische Königshaus, woraus sich

34 IG XII 6,1,30 = Syll³ 333. Siehe auch IEph 2003. Zu Phila vgl. auch Macurdy 1932, 58–69. 35 Athen. 6,254a; 6255c. Vgl. hierzu etwa Müller 2010, 567, die die Bedeutung der hellenistischen Königin und ihre Assoziierung mit Aphrodite darlegt. 36 Plut. Demetr. 45. 37 Wehrli 1964 hat bereits herausgestellt, dass Phila zwar auch vor der Schlacht bei Ipsos politisch agierte, jedoch ebenfalls danach, etwa bei der Vermählung von Stratonike mit Seleukos oder im Zuge ihres Engagements bei Pleistarchos, so dass sich an dieser Stelle kein Versagen des Demetrios nach Ipsos verorten lässt oder eine Zurückweisung der Phila durch Demetrios, die dessen Versagen nach sich gezogen hätte. 38 Plut. Demetr. 25. 39 Wehrli 1964, 142 erkennt besonders in der Ehe mit Deidameia eine enorme Steigerung des Ansehens des Demetrios innerhalb des Diadochengefüges. Vgl. auch Macurdy 1932, 63. 40 Plut. Pyrrh.4,2.

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schlussendlich eine gegen Kassander gerichtete Allianz zwischen Demetrios und Pyrrhos ergeben sollte, die Demetriosʼ Herrschaftsanspruch auf Makedonien deutlich stärkte. 41 Zwar galt Pyrrhos42 nicht als eigentlicher Diadoche, doch stellte das epirotische Königshaus spätestens seit Olympias einen nicht zu unterschätzenden politischen Machtfaktor innerhalb der Herrschaftsausübung über den griechisch-makedonischen Raum dar. Zwar sollte sich die Allianz zwischen Demetrios und Pyrrhos sowohl durch die historisch umstrittene vierte Ehe des Demetrios mit der früheren Gattin des Pyrrhos, Lanassa, als auch durch von beiden Seiten formulierte Herrschaftsansprüche auf Makedonien entzweien, doch profitierte Demetrios zunächst deutlich von dieser Verbindung. Bei der Schlacht von Ipsos 301 v. Chr. kämpfte Pyrrhos auf antigonidischer Seite. Nach der dortigen Niederlage und der Flucht auf das Meer übergab Demetrios ihm das Kommando über die restlichen Truppen in Griechenland. Im Kontext der Friedensverhandlungen mit Ptolemaios I. schickte Demetrios Pyrrhos schließlich als Geisel nach Ägypten.43 3.1.3 Nach der Niederlage bei Ipsos – Stratonike und Ptolemais Die Niederlage in der Schlacht bei Ipsos gegen das antiantigonidische Militärbündnis zwischen Seleukos, Ptolemaios und Lysimachos sowie der daraus resultierende Tod seines Vaters Antigonos hatten für Demetrios weitreichende Konsequenzen, da er im Diadochengefüge nun zunächst völlig isoliert war. Doch erneut zeigte sich an dieser Stelle die Kurzlebigkeit von Allianzen in dieser Zeit, da direkt nach dem Sieg die Koalition der übrigen Diadochen durch Ptolemaiosʼ Nichtteilnahme an der Schlacht mit gleichzeitiger Besetzung von seleukidisch beanspruchten Gebieten zerbrach und das Zerwürfnis zwischen Seleukos und Lysimachos eine Allianz zwischen Letzterem und Ptolemaios nach sich zog. Seleukos, nun ebenfalls in gewisser Form isoliert, wandte sich daraufhin auf der Suche nach anderen Verbündeten an Demetrios. Da Seleukos jedoch keine Tochter hatte, über deren Verheiratung mit Demetrios eine potenzielle Allianz abgesichert werden könnte, fanden die beiden Diadochen eine andere, für beide Seiten akzeptable Lösung. Etwa um 300 v. Chr. ehelichte nun Seleukos selbst Stratonike, die einzige Tochter des Demetrios, ein Bündnis, von dem beide Seiten profitieren sollten. Nach dem Bericht Plutarchs ging die Initiative zu diesem Bündnis vom Seleukiden aus, der sich nach der Allianz zwischen Lysimachos und Ptolemaios ins Abseits gedrängt sah. So sei Seleukosʼ Anfrage für Demetrios ein „unverhoffter Glücksfall“ gewesen.44 Demetrios erhielt über diese Verbindung erneut einen potenten Partner innerhalb des Diadochengefüges, der über den größten Teil des ehemaligen Alexanderreiches und daher eine sehr große militärische Streitmacht verfügte. Zudem schien es für den Moment eher unwahrscheinlich, dass sich Seleukosʼ politische und militärische Ambitionen auf Makedonien erstrecken würden, da sich die Entwicklungen innerhalb des Seleukidenreiches bisher 41 Deidameia war bereits 316 v. Chr. zusammen mit ihrem Mann Alexander IV. Aigos von Kassander gefangen genommen worden; Letzteren ließ er 310 v. Chr. töten, um dessen Herrschaftsanspruch auf Alexanders Erbe zu unterbinden; Diod. 19,35,5. Zudem hatte Antipatrosʼ Sohn bereits Pyrrhos aus Epirus vertrieben, so dass das gemeinsame Feindbild Kassander diese Allianz begünstigte; Plut. Pyrrh. 2–3. Vgl. auch Seibert 1967, 28–29. 42 Plutarch (Pyrrh. 8,1; 11,2) stilisiert ihn zu einem „zweiten Alexander“. 43 Nach Plutarch verließ Pyrrhos „den Demetrios […] in seinem Unglück nicht“, nachdem er bei der Schlacht von Ipsos „sich unter den Kämpfenden glänzend hervor“ getan hatte (Plut. Pyrrh. 4). 44 Plut. Demetr. 31. Vgl. auch Macurdy 1932, 63–64, 78–82; Seibert 1967, 48–50.

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schwerpunktmäßig auf die östlichen Gebiete bezogen hatten.45 Unter den noch an den Kämpfen beteiligten Diadochen konnte Seleukos somit als derjenige Kontrahent gelten, dessen Interessen die geringste Schnittmenge mit denen des Demetrios aufweisen würden. Vor diesem Hintergrund war Demetrios zuvor zwar vielleicht in der schwächeren Position, doch war er für Seleukos dennoch ein akzeptabler Bündnispartner.46 Die Hochzeitszeremonie in Rhossos, an der auf Demetriosʼ Wunsch Stratonikes Mutter Phila teilnahm, stellt Plutarch als prunkhaften und herrschaftlichen Akt dar: „Dieses Treffen gestalteten sie wahrhaft königlich, ohne Hinterlist und Argwohn, und zwar bewirtete zuerst Seleukos den Demetrios in seinem Zelt innerhalb des Lagers, und dann bereitete Demetrios dem Seleukos einen Empfang auf seinem Dreizehnruderer. Es gab Zusammenkünfte, Unterredungen und gemeinsame Lustbarkeiten ohne Waffen und Leibwächter, bis Seleukos Stratonike zu sich nahm und mit Glanz und Pracht nach Antiocheia reiste.“47 Diese Beschreibung der Vermählung ist einzigartig bei Plutarch. Beiden Parteien unterstellt der Autor hier ausschließlich ehrbare Motive und während zahlreiche andere dynastische Allianzen vornehmlich mit dem Etikett der eigennützigen, politischen Motivation belegt werden – so ja auch Demetriosʼ Ehe mit Phila –, erweckt dieser Bericht den Anschein einer echten, auf Langlebigkeit angelegten und gemeinnützig geschlossenen Verbindung.48 Zudem zeigt diese Verbindung, dass bereits Demetrios als ‚Zwischengeneration‘ zwischen Diadochen und Epigonen die Bedeutung langfristig angelegter dynastischer Allianzen erkannt hatte und die zweite Generation in dieses Netzwerk zu integrieren suchte.49 Auch wenn Seleukos das eher unehrenhafte Ende des Demetrios in seleukidischer Gefangenschaft maßgeblich mitbestimmen sollte und bereits um den Herrschaftsanspruch auf Kilikien und Phönikien die enge Verbindung der beiden zerbrach, erwuchsen Demetrios zunächst weitere tiefgreifende Vorteile aus seiner Verbindung mit dem Seleukidenhaus. In militärischer Hinsicht gelang es Demetrios nach der Niederlage bei Ipsos seine Seeherrschaft zu festigen und im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner Ptolemaios Küstengebiete wie Samaria und Gaza zu besetzen. Diese Vorkommnisse schwächten Ptolemaiosʼ Position gravie-

45 Zur seleukidischen Herrschaftspolitik in den östlichen Satrapien vgl. Plischke 2014, eine Arbeit, an deren Konzeptionierung die Jubilarin maßgeblichen Anteil hat. 46 Zur Bedeutung der Ehe mit Stratonike für das Seleukidenhaus vgl. Plischke 2016. 47 Plut. Demetr. 32. 48 Vermutlich im Jahre 293 v. Chr. löste Seleukos seine eigene Ehe mit Stratonike auf und verheiratete sie der Anekdote nach auf Grund dessen unsterblicher Verliebtheit mit seinem Sohn Antiochos. Zudem ernannte er das Paar zu Mitregenten in den östlichen Satrapien. Plutarch (Demetr. 38) kennt diesen Vorgang auch, doch nimmt keine weitere Bewertung hinsichtlich eines dadurch veränderten Verhältnisses zwischen Demetrios und Seleukos vor. Tatsächlich ist in dieser Handlung des seleukidischen Herrschers auch keine Abwertung und Geringschätzung des Demetrios zu vermuten, sondern dieser reagierte vielmehr auf die seine eigene Dynastie eventuell gefährdende Situation von zwei Gattinnen und somit potenziellen Nachfolgern aus zwei dynastischen Zweigen; ausführlich diskutiert bei Plischke 2016. 49 Verdeutlicht wird diese mehrfach abgesicherte Allianz zwischen Antigoniden und Seleukiden durch die vermutlich 275 v. Chr. abgeschlossene Ehe zwischen Antigonos II. Gonatas und Phila, der Tochter des Seleukos aus seiner Ehe mit Stratonike; Iust. 25,1,1; Memnon FGrH 434 F 10. Zur Beurteilung dieser Verbindung vgl. Seibert 1967, 33–34.

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rend. Abgesehen von seiner nach Ipsos durch mehrfache Verschwägerung abgesicherte Verbindung zu Lysimachos sah er sich nun seinerseits genötigt, neue politische Allianzen zu suchen, woraus schlussendlich die im Rahmen des Friedenabkommens zwischen Seleukos, Ptolemaios und Demetrios geschlossene dritte dynastische Allianz des Antigoniden resultierte, als er 298 v. Chr. (oder erst 296/5 v. Chr.?)50 – laut Plutarch durch die Vermittlung von Seleukos – die Verlobung mit Ptolemais vereinbarte, der Tochter Ptolemaiosʼ I. und der Eurydike, der Schwester der Phila.51 Besonderes Kennzeichen dieses Eheversprechens war es, dass es als direkte Reaktion auf politische und militärische Ereignisse zu werten ist und nicht, wie es die beiden anderen Eheschließungen vermuten lassen, vorausschauend für zukünftige und als Grundlage für langfristige Handlungsoptionen geschlossen wurde. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass Demetrios, obwohl sich die Allianzen innerhalb des Diadochengefüges deutlich geändert hatten – erneut hatte sich ein gegen den Antigoniden gerichtetes Bündnis zwischen Seleukos, Ptolemaios und Lysimachos gebildet, dem sich in diesem Fall auch Pyrrhos angeschlossen hatte 52 – und obwohl seine eigene Position nach dem Verlust Makedoniens, seiner Flucht nach Kassandreia und dem Selbstmord seiner Gattin Phila deutlich geschwächt war,53 sein Eheversprechen Ptolemais gegenüber 287/6 v. Chr. einlöste und sie in Kleinasien ehelichte.54 Dies hat in der Forschung dazu geführt nach positiven Effekten für Demetrios zu suchen, denn einerseits scheinen diesem keine wirklichen Vorteile mehr aus dieser Verschwägerung mit Ptolemaios erwachsen zu sein, da der Herrscher über Ägypten 287 v. Chr. mit der Ernennung Ptolemaiosʼ II. zu seinem Nachfolger die Kinder aus der Ehe mit Berenike I., einer Großnichte des Antipatros, seinen älteren Nachkommen aus der früher geschlossenen Ehe mit Eurydike vorzog. Somit verlor auch Ptolemais ihre wertvolle Position als Tochter des Dynastiebegründers und Schwester des potenziellen Nachfolgers; Eurydike scheint sich daraufhin nach Kleinasien zurückgezogen zu haben.55 Andererseits war sich die ältere Forschung einig darin, dass Demetrios jede Frau ehelichte, „die ihm ein Stück Land, den Anspruch auf ein Land oder eine andere politische Möglichkeit bot“56. Daher schlussfolgert etwa Buraselis, dass auch diese eheliche Verbindung Demetrios 50 So etwa Kaerst 1901, 2782–3. 51 Zu den Konsequenzen dieses Bündnisses für die übrigen Diadochen vgl. etwa Landucci Gattinoni 1992, 196–197. Für das frühere Datum plädieren etwa Bengtson 1950, 362; Hölbl 1994, 24 und Dreyer 2000, 63–64. 52 Plut. Demetr. 44. 53 Plut. Demetr. 45. 54 Siehe hierzu Dreyer 1996, 67. Vgl. auch Macurdy 1932, 65–66. Nach Seibert 1967, 31–32 verhinderte Ptolemaios die Eheschließung, da seiner Ansicht nach Pyrrhos nach dem Tod seiner Schwester Deidameia keine ausreichende Sicherheit mehr für Ptolemaios dargestellt habe. Buraselis 1982, 95 sieht die tatsächliche Eheschließung als Ausgangspunkt für Demetriosʼ Plan die von Lysimachos beherrschten Gebiete seiner Herrschaft einzuverleiben. 55 Zur Eheschließung: Paus. 1,6,8; App. Syr. 62; vgl. auch Seibert 1967, 16–17. Inwieweit man im Falle der Eurydike tatsächlich von einer Verstoßung durch Ptolemaios I. sprechen kann, lässt sich nicht abschließend klären. 287/6 v. Chr. ist die Mutter der Ptolemais zu deren Eheschließung mit Demetrios in Kleinasien nachweisbar. Ptolemaiosʼ Entscheidung in der Nachfolgefrage gibt zumindest deutlichen Aufschluss über die Position der Berenike als wichtigste Gattin und Königin Mutter; Plut. Pyrrh. 4,4; Theokr. eid. 17,34–35. Zur Stellung der Eurydike 287/6 v. Chr. vgl. auch Buraselis 1982, 99–103, der davon ausgeht, dass die Eheschließung zur Bekräftigung der zuvor geschlossenen Verständigung zwischen Ptolemaios und Demetrios dienen sollte. 56 Seibert 1967, 33.

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Vorteile verschafft haben muss, weshalb er nach der Art der „Mitgift“ fragt, die Ptolemais mit in die Ehe brachte. Er vermutet auf Grund der Eheschließung in Milet eine Absicherung der antigonidischen Position in Kleinasien.57 Zudem geht Buraselis davon aus, dass auch zu diesem späteren Zeitpunkt die Ehe mit Ptolemaiosʼ Einverständnis geschlossen wurde; Ptolemaios griff nicht in Demetriosʼ Eroberungszug in Kleinasien ein, so dass sich durch die dynastische Verbindung zwischen Demetrios und Ptolemais eher eine Bestätigung der antigonidisch-ptolemäischen Beziehungen einstellte denn eine Verschlechterung. 58 Wenn diese Sichtweise zutrifft, hätte Demetrios auch aus dieser zu Beginn nur als Verlobung bezeichneten, etwa 12 Jahre später mit einer tatsächlichen Eheschließung bestätigten politischen Verbindung weitreichende Vorteile erhalten, nämlich die ptolemäische Duldung seines Kampfes in Kleinasien, auch wenn er in diesem schlussendlich an seinem zahlenmäßig überlegenen Gegner scheitern sollte.59 Losgelöst davon ergibt sich ein klares Bild für Demetriosʼ politische Heiratsallianzen im Kontext des Diadochengefüges. Trotz seiner militärischen Niederlagen und der darauf begründeten Isolation innerhalb der Diadochen gelang es ihm, seine eigene Position durch dynastische Allianzen immer wieder zu stärken und sich selbst erneut in den Kampf um Macht und Herrschaft einzubringen. Seine erste Ehe mit Phila stellte diesbezüglich sein wichtigstes Bindeglied in der Streitfrage um Makedonien dar. Sie verlor erst an Bedeutung, nachdem es Demetrios 294 v. Chr. gelungen war unter Bezugnahme auf die Familien der Antipatriden in den Bruderzwist in Makedonien einzugreifen und sich dessen zu bemächtigen. Die Eheschließung mit Deidameia setzte Demetrios in engen Kontext zu Pyrrhos, wodurch es ihm gelang, den Epiroten zunächst auf seiner Seite zu wissen und nicht an die gegen die Antigoniden gerichtete Diadochenkoalition zu verlieren.60 Die Verbindungen zu den Seleukiden und schließlich auch zu Ptolemaios verschafften Demetrios zu einem in herrschaftlicher Hinsicht gedachten absoluten Tiefpunkt die Möglichkeit wieder in den Kampf um Makedonien und die Herrschaft im ägäischen Raum einzugreifen. Die von Demetrios geschlossenen Allianzen bezeugen jedoch auch, dass trotz der häufigen und akzeptierten Kurzlebigkeit dieser Bündnisse über bestimmte Dissonanzen nicht hinweggegangen werden konnte. So lassen sich in keiner Weise Absprachen oder Anfragen nachvollziehen, die Demetrios und Lysimachos in engere Beziehung zueinander gesetzt hätten. Im Gegenteil: Literarisch beschrieben als der ärgste und bitterste Feind des Demetrios61 soll Lysimachos62 Seleukos, als alle übrigen den

57 Vgl. Buraselis 1982, 99. Die übrigen Kinder aus der Ehe zwischen Eurydike und Ptolemaios I. waren in dynastischen Verflechtungen mit Lysimachos und dessen Sohn Agathokles verbunden, den eigentlichen Erzfeinden des Demetrios. Der Bruch zwischen Vater und Sohn im Hause des Lysimachos erfolgte erst später, so dass sich Demetrios auch in dieser Hinsicht keine weitere Unterstützung durch die Ehe mit Ptolemais hatte erhoffen können. 58 Vgl. Buraselis 1982, 101. 59 Plut. Demetr. 46–47. 60 Harders 2013, 46 sieht die Ehe mit Deidameia in einer Doppelfunktion. So habe sie einerseits als Epirotin eine externe Allianz gesichert, andererseits durch ihre frühere Vermählung mit Alexander IV. Aigos einen traditionellen Wert in der Frage um die Alexandernachfolger dargestellt. 61 Plut. Demetr. 20/27. 62 Im Rahmen meiner Masterarbeit unter dem Titel „Lysimachosʼ Ambitionen auf die Makedonische Königswürde“ förderte und forderte die Jubilarin schon früh mein eigenes Forschungsinteresse an den herrschaftlichen Ansprüchen und politischen Allianzen der Diadochen im frühen Hellenismus.

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Herrscher im Osten um Gnade für seinen inhaftierten Schwiegersohn baten, eine große Geldsumme angeboten habe, wenn er Demetrios in der Gefangenschaft umbrächte. 63 Zwar verortet Plutarch seiner schriftstellerischen Zielsetzung entsprechend diese Feindschaft zwischen Demetrios und Lysimachos an vielen Stellen auf der persönlichen Ebene, doch lässt sich diese deutlich einfacher durch die identischen Interessen der beiden Diadochen erklären. Beide bemühten sich um die Herrschaft über Athen64, beide sahen in den kleinasiatischen Küstenstädten65 wertvolle Ressourcen im Kampf gegen die übrigen Diadochen und beide konzentrierten ihren Machtanspruch auf das makedonische Kernland 66. Die äußerst ähnlich gelagerten herrschaftlichen Interessen verhinderten somit ein potenzielles Bündnis zwischen Demetrios und Lysimachos67 und führten potenzielle Konkurrenten zusammen, was eine plausible Erklärung für Demetriosʼ letzte Ehe mit Ptolemais darstellen würde. 3.2 Politische Heiratsverbindungen zur Sicherung lokaler Interessen 3.2.1 Athen und Eurydike In zeitlicher Hinsicht schloss Demetrios 307/6 v. Chr. seine zweite Ehe mit der Athenerin Eurydike. Plutarch misst dieser Vermählung für Demetrios keine größere Bedeutung zu. Lediglich die Athener hätten die Eheschließung als außerordentliche Gunst wahrgenommen und Plutarch setzt seinen Bericht mit einer kritischen Würdigung der Heiratspolitik des Demetrios im Allgemeinen fort.68 Die genealogische Abstammung und ihre bisherigen familiären Verbindungen stellen Eurydike jedoch in ein bedeutenderes Licht. So war sie in erster Ehe mit Ophellas, dem Herrscher von Kyrene verheiratet, bevor sie nach dessen Tod 308 v. Chr. nach

63 Plut. Demetr. 51. 64 HGIÜ 281; IG II² 657; 662; 808; 1485A; Plut. Demetr. 8; 10; 24; 33–34; Paus. 1,25,7; 29,10. So stellt auch etwa Dreyer 2000, bes. 57–60 heraus, dass Demetrios auch nach Ipsos zu keiner Zeit von seinem Ziel, die Herrschaft über Athen innezuhaben, abließ. Interessanterweise basiert Plutarchs Darstellung vom athenischen Parthenon, den Demetrios in ein Freudenhaus verwandelt haben soll, auf dem Bericht des Komödiendichters Philippides, der wiederum ein enger Vertrauter des Lysimachos war; Plut. Demetr. 12,5; 23; 26,3. Siehe auch Bosworth 2002, 273; Müller 2010, 560–562 mit Hinweisen zu weiteren Quellenverzerrungen. Weber 1995 sieht im Verhältnis zwischen Demetrios und Athen einen klaren Beweis dafür, dass seine Legitimationsstrategie, von sich als Herrscher ein eigenes Bild zu schaffen, besonders bei den Makedonen und Griechen fehlschlug. So war dieses stärker an den asiatischen Alexander angelehnt, denn an den griechisch-makedonischen. Für Seibert 1991, 96 misslang Demetriosʼ Versuch der Herrschaftsgewinnung, da er nicht über die notwendigen Eigenschaften eines akzeptierten Herrschers verfügte, wie „persönliche Bewährung im Krieg“ oder „herausragende Feldherrnqualitäten“. Buraselis 1982, 92–93 macht daran auch Demetriosʼ Niederlage im Kampf um Makedonien 287 v. Chr. und das Überlaufen seiner Soldaten fest. Zur eigenen herrscherlichen Repräsentation des Demetrios vgl. Eckhardt in diesem Band. 65 Zum antigonidischen und lysimacheischen Anspruch von ἐλευθερία καὶ αὐτονομία vgl. etwa OGIS 480; HGIÜ 306; 309; Syll³ 372; Diod. 19,61,4; Strab. 14,1,4. 66 Plut. Demetr. 37; 44; Plut. Pyrrh. 6. Vgl. auch Landucci Gattinoni 1992, 176. Buraselis 1982, 60 erkennt an dieser Stelle noch einmal den politischen Erfolg des Demetrios, der nach der Niederlage bei Ipsos zunächst als „Seekönig“ hatte agieren müssen, sich jedoch durch die Herrschaft über Makedonien auch als „Landkönig“ zu erkennen gab. 67 Zum Verhältnis zwischen Demetrios und Lysimachos und ihrer sich seit 301 v. Chr. verstärkenden Feindschaft vgl. auch Bosworth 2002, 247–248. 68 Plut. Demetr. 14.

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Athen zurückkehrte.69 Ophellas hatte sich, nachdem er nach Alexanders Tod zunächst in Ptolemaiosʼ Diensten agiert hatte, in den Jahren vor seinem Tod mit Unterstützung des Tyrannen von Syrakus Agathokles faktisch unabhängig gemacht.70 Für Demetrios vermutlich jedoch deutlich wichtiger war die Tatsache, dass sie von Miltiades abstammte, dem Sieger der Schlacht bei Marathon, so dass ihrer Familie innerhalb der Stadt Athen noch immer eine führende Rolle zugesprochen werden konnte. Da Athen innerhalb der antigonidischen Herrschaftspolitik von Anfang an eine sehr wichtige Rolle gespielt hatte, ist dieser Vermählung eine dezidiert vorausschauende und auf die lokalen Interessen in Athen ausgerichtete Intention zu unterstellen, die Demetrios hier verfolgte. 71 3.2.2 Lanassa und Korkyra Bei Plutarch findet sich ein Hinweis, dass sich Demetrios um 290 v. Chr.72 in vierter Ehe mit Lanassa, der Tochter des Agathokles von Syrakus und der einstigen Gemahlin des Pyrrhos, vermählt habe.73 Die Umstände vor dieser Eheschließung weichen jedoch stark von den bisherigen bzw. eher üblichen Vorgängen bei Heiratsabsichten ab und unterstreichen noch einmal deutlich, wie sehr sich die Rolle der weiblichen Angehörigen der Herrscherdynastien verändert hatte und wie selbstständig Frauen eigene Interessen zu verfolgen suchten. 74 Im Kontext seiner weit verzweigten und ausgreifenden Heiratspolitik hatte Agathokles 295 v. Chr. seine Tochter mit Pyrrhos verheiratet, der zwei Jahre zuvor mit ptolemäischer Unterstützung den epirotischen Königsthron hatte zurückerobern können, und ihr die Insel Korkyra als Mitgift mitgegeben. 75 Nach Plutarch akzeptierte Lanassa jedoch nicht die Polygamie ihres Gatten, trennte sich 291 v. Chr. von Pyrrhos und kehrte nach Korkyra zurück.76 Dadurch zeigt sich deutlich, dass Pyrrhos während der Ehe zwar Zugriff auf Korkyra hatte, die Insel aber grundsätzlich unter Lanassas Herrschaft stand und auch dort verblieb. Durch ihren günstigen Standort an der Straße von Otranto hatte die Insel in der griechischen Geschichte durchaus eine wichtige Bedeutung, so dass Lanassa damit eine attraktive Grundlage anbot, um einen neuen potenten Gatten zu finden, was für sie unerlässlich war, wenn sie weiterhin in das hellenistische Herrschaftsgefüge eingebunden sein wollte. Daher sei sie eigeninitiativ an Demetrios herangetreten und habe diesem ein Heiratsangebot verbunden mit dem Zugriff auf Korkyra gemacht. Grundsätzlich ergab sich für Demetrios mit dem Zugriff auf Korkyra die Möglichkeit durch die Stationierung einer Garnison in Leukos von der Meerseite aus die Kontrolle über Epiros auszuüben.77 Ob es schlussendlich auch zu einer tatsächlichen Eheschließung kam, ist 69 Diod. 20,40; Plut. Demetr. 14. 70 Diod. 20,40; Iust. 22,7,4. Seibert 1967, 28 postuliert, dass Demetrios durch die Ehe mit Eurydike zwar auch Athen enger an sich binden, doch vor allem Zugriff auf Kyrene haben wollte. 71 Zur antigonidisch-ptolemäischen Konkurrenzsituation um die ‚Befreiung‘ Griechenlands vgl. Buraselis 1982, 47–53. 72 Zur Problematik der Datierung vgl. etwa Wehrli 1964, 144–145. 73 Plut. Pyrrh. 10. 74 Harders 2013, 46 hat diesbezüglich zurecht auf Lanassas selbstbestimmtes Handeln hingewiesen, das ihrer Ansicht die „Erhöhung ihres Status“ zur Folge haben sollte. 75 Diod. 21,4; Plut. Pyrrh. 9. 76 Plut. Pyrrh. 10. 77 Plut. Pyrrh. 10. Siehe auch Haake 2005, 159–160. Seibert 1967, 30 unterstreicht zudem Demetriosʼ Hoffnung auf ein Bündnis mit Agathokles, der jedoch bald darauf den Tod fand.

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in der Forschung zum Teil umstritten, da sich hierzu keine weiteren Berichte und Hinweise in der Quellenüberlieferung finden. Nicht zu übersehen ist jedoch der Widerspruch, in dem Demetriosʼ Ehe mit Lanassa zu seinem Bündnis mit Pyrrhos durch seine Vermählung mit Deidameia stand, da er wie gesagt nicht nur die Ehe mit Pyrrhosʼ ehemaliger Gemahlin schloss, sondern auch in (außen-)politischer Hinsicht den Druck aus Epiros erhöhte. Das politische Bündnisgefüge hatte sich in den vergangenen zehn Jahren jedoch auch auf Grund anderer Faktoren bereits so stark verändert, dass in den ausgehenden 290er Jahren Pyrrhos als ptolemäischer Protegé und erstarkter Herrscher in Epiros zum ärgsten Rivalen des Demetrios im Kampf um Makedonien avanciert war und das ehemalige Bündnis keine Bedeutung mehr hatte.78 3.2.3 Kratesipolis und Sikyon und Korinth? Die Vermählungen mit Eurydike und Lanassa, sofern sie historisch sind, zeigen deutlich lokale bzw. regional begrenzte Interessen auf, die Demetrios in diesen Fällen verfolgte oder von denen er profitierte. Zudem unterstreichen sie die veränderte Rolle, die Frauen einnehmen konnten, indem sie einerseits lokale Herrschaft eigenständig ausüben oder als Garant für die Treue einer Stadt – wie im Falle der Eurydike und Athen – fungieren konnten, andererseits ihr Status und ihre langfristige Absicherung weiterhin von einem potenten und intensiv vernetzten Gatten abhängig waren. Gerade das Beispiel der Lanassa weist zudem zahlreiche Parallelen zu den durch die Anekdote überlagerten Absichten der Kratesipolis auf. Es liefert eine plausible Erklärung für Kratesipolisʼ Anfrage bei Demetrios und dessen Überlegungen, auf Kratesipolisʼ Angebot einzugehen. Verheiratet war Kratesipolis79 zunächst mit Alexander, dem Sohn des Polyperchon, den Antipatros anstelle seines eigenen Sohnes Kassander zu seinem Nachfolger als Herrscher über Makedonien bestimmt hatte. 321 v. Chr. hatte Antipatros Alexander zudem zum Leibwächter des unmündigen Königs Philipp Arrhidaios bestellt; die Familie war somit eng sowohl mit den Argeaden wie auch den Antipatriden verbunden. 314 v. Chr. wurde Alexander im Zuge einer Verschwörung der Sikyonier ermordet, doch gelang es Kratesipolis durch Polyperchons Unterstützung ihre Herrschaft über den Machtbereich ihres Mannes auf der Peloponnes mit Sikyon und Korinth als Zentren zu sichern. 80 Diodor nennt als Begründung für ihren Erfolg Kratesipolisʼ großes Ansehen beim Heer, da sie nach Alexanders Tod sogleich als erfolgreiche Heerführerin agierte und sich somit den Respekt der Soldaten verdiente. 81 Somit verfügte sie ebenfalls über ein lokales Herrschaftszentrum, doch fehlte ihr nun ein Gatte, der diese Herrschaft und Kratesipolisʼ Status langfristig absichern und stärken würde. 78 Plut. Pyrrh. 5. 79 Daraus schlussfolgert Macurdy 1929, 273, dass Kratesipolis einer angesehenen makedonischen Familie entstammen musste, da Polyperchon – analog zu Antigonos –sie sonst nicht als Gattin für seinen Sohn gewählt hätte. 80 Diod. 19,67,1. An späterer Stelle erscheint in Diodors Bericht (19,74,2) wieder Polyperchon als Herrscher über Sikyon und Korinth, was die grundsätzlich androzentrische Sichtweise der antiken Autoren bestätigt. Harders 2014, 361–362 nennt Kratesipolis in diesem Zusammenhang eine „wehrhafte“ Witwe, die durch den Tod ihres Mannes das „entstandene Machtvakuum“ zu füllen versteht und viel Lob von den antiken Autoren für ihr Verhalten erhält. 81 Diod. 19,67,2. Nach Macurdy 1929, 273 stellte Kratesipolis somit die ideale „macedonian royal woman“ dar.

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In diesem Zusammenhang stellte Demetrios für Kratesipolis eine adäquate Wahl dar, um ihre eigene Position zu sichern und sich zugleich von ihrem Schwiegervater zu lösen, dessen Position innerhalb des Diadochengefüges mehr und mehr abnahm. Die schwierige Situation, in der sich Kratesipolis befand, wird noch dadurch unterstrichen, dass Demetrios nicht der Einzige war, an den sie sich wand. Auch Ptolemaios schien für sie ein potenter Gatte zu sein. Doch schlussendlich war auch diese Anfrage nicht von Erfolg gekrönt, wenn sie auch Sikyon und Korinth82 der ptolemäischen Oberhoheit übereignete. 83 Aus diesen Entwicklungen ergibt sich als Schlussfolgerung, dass Kratesipolis nicht über die zu dieser Zeit notwendigen und akzeptierten dynastischen Netzwerke verfügte und gleichzeitig ihr lokaler Herrschaftsbereich nicht im regionalen Fokus des politischen Diadochengefüges stand, dass ein Zugriff auf diese für Demetrios lukrativ gewesen wäre. 3.3 Heiratsverbindungen zur Sicherung externer Allianzen? Am Ende seiner Demetriosvita zählt Plutarch abschließend die Heiratsallianzen und die daraus hervorgegangenen Nachkommen des Antigoniden auf und nennt in diesem Zuge einen Sohn Demetrios Leptos, den Demetrios aus der Ehe mit einer Illyrerin 84 bekommen haben soll.85 Weitere Informationen zu dieser Heiratsverbindung, eine zeitliche oder inhaltliche Verortung fehlen völlig, so dass die Frage nach den Ambitionen und Motiven dieser dynastischen Allianz kaum zu beantworten ist. Sofern auch diese Ehe historisch ist, kommt ihr jedoch ein Alleinstellungsmerkmal zu, da Demetrios an dieser Stelle die erste und einzige dynastische Verbindung geschlossen hätte, deren regionale Verortung in keinerlei Verbindung zu den führenden Familien oder den politisch wie militärisch herausragenden bzw. umkämpften Gebieten stand.86 82 Bezeichnenderweise entriss Demetrios 303 v. Chr. die Städte aus der ptolemäischen Herrschaft. Nach der Zerstörung Sikyons erbaute er die Stadt als das neue Demetrias, deren Namen sich jedoch noch kurz gehalten haben soll; Diod. 20,102,2–103,3. 83 Diod. 20,37; Plut. Demetr. 9 ; Polyain. 8,58. Macurdy 1929, 275 sieht noch als Grund für Kratesipolisʼ Zurückweisung, dass sie nicht aus der Argeadenfamilie stammte, doch diese Annahme steht in großem Widerspruch zu den weiteren Ehen des Ptolemaios oder der anderen Diadochen. 84 Ein direkter Aufenthalt in Illyrien oder eine herausragende Bedeutung dieser Region für Demetrios lässt sich anhand der Quellen nicht nachweisen. Am Beispiel Eurydikes I., der Mutter Philipps II., und ihrer illyrischen Herkunft, haben Carney 2000, 69 und Müller 2007, 263–266 jedoch basierend auf Polyainos (8,60) und Polybios (2,2–12) zu zeigen versucht, dass besonders in militärpolitischer Hinsicht die illyrische Frau in ihrer Eigenständigkeit und Machtausübung ein Alleinstellungsmerkmal innehatte, das einerseits für Eurydike I. der Ausgangspunkt war, bereits im beginnenden 4. Jhd. v. Chr. für sich ein Mitspracherecht einzufordern, und andererseits eine – quellentechnisch natürlich nicht belastbare – Vermutung zuließe, warum Demetrios ausgerechnet eine illyrische Frau ehelichte. 85 Plut. Demetr. 53. 86 In abgeschwächter bzw. zweitrangiger Hinsicht lassen sich auch in Demetriosʼ Ehen mit Deidameia (als Epirotin) und Lanassa (als Syrakusanerin) Heiratsmotive vermuten, denen die Absicherung externer Interessen zugrunde lagen. Eine Definition des „Externen“ im Kontext der sich stark in Bewegung und im Wandel befindenden hellenistischen Staatenwelt gestaltet sich einerseits jedoch grundsätzlich schwierig, andererseits waren gerade Epirus, verstärkt noch einmal durch Pyrrhos, und in gleicher Weise auch Syrakus so eng in die politischen, militärischen, dynastischen und herrschaftlichen Verflechtungen der Diadochen eingebunden, dass sie m. E. den Charakter eines ‚externen‘ Gebietes nicht erfüllten und die bereits diskutierten anderen Aspekte der beiden Vermählungen deutlich stärker im Fokus standen. Anders Harders 2013, 46.

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4. Fazit Es hat sich gezeigt, dass das von Plutarch übermittelte Bild des Demetrios als ausschweifendem Liebesabenteurer der moralischen Darstellungsabsicht des Autors zu verdanken, jedoch nicht in den historischen Entwicklungen zu verorten ist. Schlussendlich ist zwar Demetrios I. Poliorketes gescheitert – in seleukidischer Gefangenschaft verweichlicht gestorben87 – doch alle Heiratsverbindungen, die Demetrios einging, dienten politischen Motiven, herrschaftlichen Absichten und dem Ausbau dynastischer Netzwerke. Zudem bezog sich diese dynastische Politik nicht allein auf den Antigoniden selbst, sondern er verstand es, seine Tochter zielführend in das familiäre Diadochengefüge einzubinden. Zwar lassen sich auch Heiratsverbindungen feststellen, die in Kontrast zueinander standen oder Gefahren für bisherige Allianzen darstellten, doch sind diese Ehen kein Ausdruck eines planlosen, hormongesteuerten Herrschers, sondern verdeutlichen noch einmal ein allgemeines, auf alle Diadochen zutreffendes Kennzeichen der Diadochenphase, die hinsichtlich politischer Bündnisse und Allianzen von einer Schnelllebigkeit geprägt war, die ihresgleichen in der griechischen und römischen Geschichte sucht. Mit Recht lässt sich also von einem „facettenreichen Protagonisten“ sprechen, der eine herrschaftliche Verflechtungspolitik auf zweifelsohne „hohem Niveau“ betrieb und dessen weitere Handlungen sich in Zukunft hoffentlich weiterer historischer Erforschung durch die Jubilarin erfreuen.

87 Plut. Demetr. 52.

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Demetrios von Phalerons pompe und Demochares’ Kritik Sabine Müller

In seiner verlorenen zeithistorischen Schrift soll sich der athenische Politiker und Redner Demochares äußerst kritisch über Athens Situation unter dem Einfluss von Kassanders Protégé Demetrios von Phaleron zwischen 317–307 v. Chr. geäußert haben.1 Dies bezeugt Polybios – in Auseinandersetzung mit Timaios’ Demochares-Bild – en passant: οὗ ᾽κεῖνος οὐ τὴν τυχοῦσαν πεποίηται κατηγορίαν ἐν ταῖς ῾Ιστορίαις, φάσκων αὐτὸν γεγονέναι τοιοῦτον προστάτην τῆς πατρίδος καὶ ἐπὶ τούτοις σεμνύνεσθαι κατὰ τὴν πολιτείαν, ἐφ᾽ οἷς ἂν καὶ τελώνης σεμνυνθείη βάναυσος. ἐπὶ γὰρ τῶι πολλὰ καὶ λυσιτελῶς πωλεῖσθαι κατὰ τὴν πόλιν καὶ δαψιλῆ τὰ πρὸς τὸν βίον ὑπάρχειν πᾶσιν, ἐπὶ τούτοις φησὶ μεγαλαυχεῖν αὐτόν· καὶ διότι κοχλίας αὐτομάτως βαδίζων προηγεῖτο τῆς πομπῆς αὐτῶ, σίαλον ἀναπτύων, σὺν δὲ τούτοις ὄνοι διεπέμποντο διὰ τοῦ θεάτρου, διότι δὴ πάντων τῶν τῆς ῾Ελλάδος καλῶν ἡ πατρὶς παρακεχωρηκυῖα τοῖς ἄλλοις ἐποίει Κασσάνδρῳ τὸ προσταττόμενον, ἐπὶ τούτοις αὐτὸν οὐκ αἰσχύνεσθαί φησιν. In seinen Historien kritisierte er ihn nicht gerade wenig, indem er über ihn sagte, er habe sich als προστάτης der Heimatstadt mit einer Politik gebrüstet, auf die sonst nur ein gewöhnlicher τελώνης (Steuerpächter) stolz gewesen wäre. Denn gemäß seiner Behauptung war alles, dessen sich Demetrios rühmte, dass der Markt in der Stadt reichlich beliefert gewesen sei, dass die Preise niedrig gewesen seien und es genügend Versorgungsgüter für alle gegeben habe. Zudem sagte er, dass Demetrios sich nicht einmal schämte, dass seine pompe eine Schnecke anführte, die sich wie von selbst bewegte und Schleim absondern konnte, und überdies, dass Esel mitten durchs Theater geführt wurden, und dass die Heimatstadt allen Ruhm Griechenlands an andere abgegeben habe und den Befehlen Kassanders gehorchte. 2 1 Das Werk soll Ereignisse um 322–289 v. Chr. behandelt haben: Muccioli 2012. Zu Demochares’ Haltung zu Demetrios von Phaleron: Muccioli 2015, 20–25; Pownall 2013, 46; Lehmann 2004, 21; Billows 1990, 337–229; Marasco 1984, 99–109. Zu Athen unter Demetrios von Phaleron: O’Sullivan 2009, 241–287; Haake 2007, 60–82; Landucci Gattinoni 2003, 112–123; Dreyer 1999, 180–184. Zur Verknüpfung zwischen Privatmann und Politiker in hellenistischer Diplomatie: Günther 2013, 222–223. 2 Polyb. 12,13,9–11 (= BNJ 75 F 7; BNJ 228 F 28): Timaios habe Demochares fälschlich der Unsittlichkeit beschuldigt (ἡταιρηκέναι – im athenischen zeitgenössischen Diskurs eine häufige Schmähung). Vgl. Champion 2016, 111–112; Pédech 1961, 94–96. Nicht einmal Demochares’ Gegner wie Demetrios von Phaleron hätten ihm Vergleichbares unterstellt; Timaios, der sich nur auf den „unbedeutenden“ athenischen Komödiendichter Archedikos stützte, habe Unrecht. Vgl. Marasco 1984, 181–184. Zur Identifizierung mit Archedikos, dem anagrapheus von 320/19 v. Chr., Phokions faction zugehörig, deren Agenda Demochares nicht schätzte: Habicht 1993, 254–256. Akzeptiert von Nervegna 2013, 31; Paschidis 2008, 39; Lape 2004, 59, A. 73.

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Demnach prangerte Demochares scharfzüngig die „Brot und Spiele“-Politik an, mit der es Demetrios von Phaleron auf die Korruption der Athener und Schwächung ihres Freiheitswillen angelegt habe. Mittels der Zuschaustellung von Überfluss habe er deren Akzeptanz der makedonischen Oberhoheit und zum Rückzug aus außenpolitischen Handlungsräumen erlangen wollen. Als einen besonders anstößigen Marker dieser „Überzeugungsarbeit“ im Dienste der Fremdherrschaft erwähnt Demochares das Wunderwerk einer Schnecke an der Spitze einer von Demetrios von Phaleron ausgerichteten Festprozession. Mehrheitlich wird angenommen, diese pompe sei im Rahmen der Großen Dionysien erfolgt, die Demetrios von Phaleron als Archont 308/07 v. Chr. kurz vor seinem Sturz organisierte.3 Trotz Demochares’ Tendenz gilt dieses – in der Forschung eher marginal zur Kenntnis genommene – Spektakel einer offenbar riesigen, künstlichen Schleim absondernden Schnecke als Zug-Galionsfigur als historisch,4 auch wenn vereinzelt Verwunderung über bizarre Gestaltung und unklaren dionysischen Bezug geäußert wurde.5 Im Folgenden wird Demetrios’ Schnecke im Kontext von Demochares’ Kritik als rhetorische Symbolfigur gedeutet, in der sich seine Hauptbeschwerden über Demetrios’ Politik sinnbildlich bündelten. Demochares’ harsche, durchdachte Worte mögen illustrieren, in wessen politisch-rhetorische Tradition er sich stellte: die seines Onkels Demosthenes.6 Zu betonen ist, dass weder zu dessen noch zu Demochares’ Zeit die häufig verwendeten Labels „anti-makedonisch“ und „pro-makedonisch“ oder „Makedonenfreunde“ und „Makedonenfeinde“ zutrafen. Diese schematisierenden Kategorisierungen reflektieren zeitgenössische Parolen, ohne den komplexen Strukturen der politischen factions Athens gerecht zu werden.7 Es ging um die für Athen günstigste politische Haltung im Umgang mit Makedonien. Bei aller Uneinigkeit hatten athenische Belange stets Priorität. Sicherlich hätte kein athenischer Politiker freiwillig

3 Vgl. Bur 2016, 67; Muccioli 2015, 24; Pownall 2013, 46; Banfi 2010, 189; O’Sullivan 2009, 29, 44, 182, 193, A. 83, 213; Stork/Ophuijsen/Dorandi 2000, 171, A. 1; Marasco 1984, 187 (309/08 v. Chr.); Walbank 1967, 359; Pédech 1961, 98. Zu seinem Exil: Diod. 20,45,3; Paus. 1,25,6; Plut. Mor. 69 C (in Theben). Zur Zerstörung seiner Statuen in Athen: Azoulay 2009. Die Anzahl (300: Nep. Milt. 6; Plut. Mor. 820 E; mehr als 300: Strab. 9,1,20; 360: Plin. NH 34,27; Diog. Laert. 5,75; 1500: Dio Chrys. Korinth. 37,41) erscheint ebenso übertrieben wie die Anekdote ihrer Verarbeitung zu Nachttöpfen (Plut. Mor. 820 F). 4 Authentisch: Bur 2016, 66–71; Lowe 2016, 29, A. 63; Muccioli 2015, 25; Hanink 2014, 127–128; Pownall 2013, 46; Banfi 2010, 189–190; Ambrosetti 2009/10, 44–45; O’Sullivan 2009, 194; Petrovic 2007, 59; Pugliara 2003, 44; Sonnabend 2002, 189; Chaniotis 1997, 243; Schürmann 1997, 357; Walbank 1996, 120, A. 12; Köhler 1996, 98–99; Weber 1993, 328, A. 3; Schürmann 1991, 239–242; von Hesberg 1989, 81–82, A. 141; Mikalson 1988, 57, A. 37; von Hesberg 1987, 52; Marasco 1984, 186–187; Rice 1983, 65; Walbank 1967, 358–359; Pédech 1961, 98; Austin 1959, 18, A. 4a; Rehm 1931, 317–319, 323, 329. 5 Vgl. Mikalson 1988, 57, A. 37; Rehm 1931, 319: „An Beziehungen zu Dionysos (…) glaube ich nicht“. Die These von Bur 2016, 71, „there is something particularly Dionysian about spontaneous movement“, erscheint konstruiert. 6 Vgl. Worthington 2012, 2, 334; O’Sullivan 2009, 193, A. 83; Billows 1990, 149, 170, 337–339; Tritle 1988, 5, 7; Swoboda 1901, 2863–2867. 7 Auch Demochares, als kompromissloser „radikaler Demokrat“ geltend (Dreyer 1999, 109, A. 439, 117, 146), fand als Exilant und aktiver Politiker nichts dabei, gute Beziehungen zu Lysimachos zu pflegen, Geldgeschenke von ihm zu erwirken und eine Gesandtschaft an Ptolemaios zu beantragen. Vgl. Dmitriev 2016, 7; Paschidis 2008, 124, 154–155; Dreyer 1999, 228, 231; Landucci Gattinoni 1992, 140, 226. Paschidis 2008, 154 vermutet, er sei im Exil bei Lysimachos gewesen.

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Demetrios von Phalerons pompe und Democharesʼ Kritik

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die makedonische Oberhoheit gewählt. Zu unterscheiden ist vielmehr zwischen den Dimensionen der Kooperationsbereitschaft und Konzessionen an makedonische Machthaber.8 Demochares’ politische Stunde schlug kurzzeitig nach Demetrios von Phalerons Flucht aus Athen 307 v. Chr. infolge von Demetrios Poliorketes’ Machtergreifung. Seine kritische Haltung gegenüber den athenischen Dankesbezeugungen für den neuen Oberherrn 304/3 v. Chr. führte zum Exil.9 Nach der Rückkehr um 286/85 v. Chr. engagierte er sich für Athens Verteidigungsfähigkeit und Erweiterung der Handlungsfreiräume gegenüber der makedonischen Obrigkeit.10 Dabei knüpfte er an das Image seines Onkels als selbsternannter Vorkämpfer für die athenische (und griechische) eleutheria in dessen Hochzeit zwischen dem Kampf um Olynthos und der Schlacht bei Chaironeia an. 11 Die Erfolge unter Alexander III. hatten Demosthenes indes zum Umdenken in Richtung einer Appeasement Politik bewogen, deren Zugeständnisse bei Kollegen wie Hypereides auf Missfallen gestoßen waren. 12 Demosthenes’ Verwicklung in die Harpalos-Korruptionsaffäre 324 v. Chr., bei der er kein gutes Bild machte,13 tat ein Übriges, um seine Reputation als unbestechlicher Kämpfer für Athens Rechte zu trüben. Um ihn als politische Lichtgestalt instrumentalisieren zu können, musste Demochares sein Bild idealisierend nachformen und problematische Phasen ausblenden oder umdeuten.14 Demosthenes’ unrühmliche Darstellung bei Demetrios von Phaleron wird ihm 8 Als Voraussetzung für Demochares’ Zeit gilt allerdings: „a close and personal connection with the royal courts was a sine qua non for any aspiring statesman“: Paschidis 2008, 159. 9 Athen. 6,253 B–C; Plut. Demetr. 24,5. Zu den Ehren für Demetrios Poliorketes: Günther 2015, 245–248; Dreyer 1999, 181, A. 271: Sie hätten ihn auf die Demokratie verpflichten sollen. Zu Demochares’ Exil: Muccioli 2012; Paschidis 2008, 154; Landucci Gattinoni 1992, 140, A. 54; Smith 1962, 114–115. Zum Bruch mit Stratokles, der sich in Anträgen zu Demetrios Poliorketes’ Ehren anscheinend überschlug: Dmitriev 2016, 6; Muccioli 2015, 8; Asmonti 2010, 134; Paschidis 2008, 81, 97; Grieb 2008, 79; Lape 2004, 58; Lehmann 1997, 14; Pédech 1961, 97; Habicht 1956, 213–216. Eventuell war das Exil selbst auferlegt. 10 Vgl. Dmitriev 2016, 5–9; Paschidis 2008, 153–159; Dreyer 1999, 58, A. 194, 226, 241, 270. Zur Rückkehr 286/5 v. Chr.: Muccioli 2012; Paschidis 2008, 154; Dreyer 1999, 222; Dreyer 1996, 67; Habicht 1993, 254. Dagegen 287 v. Chr.: Grieb 2008, 82; 287/86 v. Chr.: Dmitriev 2016, 6. Zuletzt ist eine politische Tätigkeit 279 v. Chr. bezeugt, zuerst 322 v. Chr. ([Plut.] Mor. 847 D), was jedoch strittig ist: Paschidis 2008, 153. Chronologisch ist seine Identifikation (so Dmitriev 2016, 12; Muccioli 2012; Pédech 1961, 96) mit dem groben Gesandten Demochares Parrhesiastes suspekt, der Philipp II. auf die Frage, was er für die Athener tun könnte, geantwortet haben soll, er möge sich aufhängen (Sen. de ira 3,23,2–3). Entweder war ein Namensvetter gemeint oder die Anekdote entstand retrospektiv. 11 Vgl. Worthington 2012, 50–251; Lehmann 2004, 65–180. Zum historischen Hintergrund: Günther 2011a, 247–252. 12 Hyp. 14, 17–19, 30. Vgl. Worthington 2012, 275–325; Lehmann 2004, 38, 129, 204; Eder 2000, 206; Wirth 1999, 81–98. 13 Hyp. 5,9–10, 25; Plut. Demosth. 25,2–5; Athen. 6,245 F–246 A; Just. 13,5,9–10; Diod. 17,108,7–8. Vgl. Worthington 2012, 285–287; Lehmann 2004, 208–216; Eder 2000, 205–215; Sealey 1993, 208. Hintergründe der Harpalos-Affäre (Diod. 17,108,4–7; Plut. Demosth. 25,1): Günther 2011a, 255; Heckel 2006, 130. 14 Zu Demosthenes’ Ende: Heckel 2006, 110–111. Gemäß Landucci Gattinoni 1996, 93, 106 schwieg Demochares zur Harpalos-Affäre. Laut seiner Apologie zum Tod seines Onkels starb dieser nicht durch Gift, sondern Entrückung der gnädigen Götter (Plut. Demosth. 30,4). Im Jahr 280/79 (traditionelle Datierung: Archont Gorgias) beziehungsweise 281/80 v. Chr. (neuere Datierung: Archont Ourias) beantragte Demochares für Demosthenes’ Verdienste die Aufstellung seiner Ehrenstatue auf der Agora: [Plut.] X Orat. Vit. 847 D; 850 F–851 C; Plut. Demosth. 30,5. Vgl. Dmitriev 2016, 2–3; Roisman/Worthington 2015, 23–27; Worthington 2012, 2; von den Hoff 2009, 197–213; Landucci Gattinoni 1996, 93; Habicht 1993, 254; Marasco 1984, 156–157.

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ein besonderer Dorn im Auge gewesen sein. Demetrios, der just im Jahr von Demosthenes’ Diskreditierung im Harpalos-Prozess in die Politik eingetreten sein soll,15 stellte ihn mit Anleihen an Aischines’ Polemik in punkto Politik als feigen, heuchlerischen Angeber und Versager dar, in punkto Rhetorik als talentfreien Effekthascher, der dank eines Übermaßes an Training und Pose extrem manieriert und übertrieben auftrat. 16 In untrennbarer Verflechtung von Rhetorik und Politik trugen Demochares und Demetrios ihre Diskrepanzen bezüglich Athens Agenda gegenüber Makedonien somit auch über Demosthenes’ Angedenken aus. 17 Demochares, der sich anscheinend mit Demetrios’ rechtfertigenden Schriften wie περὶ τῆς δεκαετίας auseinandersetzte und dessen Selbstprofilierung zerpflückte,18 stylte ihn wohl als „neuen Eubulos“,19 einen einstigen Antagonisten seines Onkels, der zugunsten Athens innerer Konsolidierung Demosthenes’ Anträgen auf Ausgaben für Militärinterventionen gegen Philipp II. kritisch gegenübergestanden hatte. Die von Polybios zitierte Passage über Demetrios’ pompe ist vor diesem Hintergrund der retrospektiven literarischen Auseinandersetzung zu verstehen.20 Die Schnecke, die Demochares erwähnt, hat in der Forschung nur partiell Interesse geweckt, wenn es um antike technische Kuriositäten und „Automaten“ ging,21 etwa als ultimative Merkwürdigkeit unter den „größten und seltsamsten mechanischen Puppen“. 22 Solche Wunderwerke wurden im Hellenismus üblicherweise im höfisch-monarchischen Kontext vorgeführt, θαυματοποιική zur Profilierung des Herrschers als progressiv und innovativ vor den beeindruckten Zuschauern.23 Daher wird hinter der Konstruktion teilweise Kassander als Sponsor vermutet.24 Wenngleich meist von einer „mechanischen“ Schnecke gesprochen wird,25 bedeutet αὐτομάτως lediglich, dass sich die Figur aus Sicht der Zuschauer wie von selbst bewegte. Moderne Rekonstruktionen sehen vor, wie der „Schneckenwagen“26 durch ein Tretradlaufwerk, betrieben von in der Schneckenhaushülle verborgenen Personen, zum 15 Diog. Laert. 5,75. 16 Politik: Plut. Demosth. 14,2. Vgl. Lehmann 2004, 20; Marasco 1984, 185–186. Die Einschätzung basiert auf Aischines: 3,152, 181, 187, 210, 244, 253 (feige bei Chaironeia); 3,161 (feige angesichts Thebens Revolte); 2,34–35 (Versager vor Philipp II.); 3,238–240 (korrupter Heuchler). Vgl. Worthington 2012, 251. Rhetorik: Plut. Demosth. 9,3; 11,1–3; Dion. Hal. De Demosth. 53; Philodem. Rhet. 1,197,24. Vgl. Cooper 2009, 313, 315–316, 321. Hingegen schätzte Demetrios Aischines als rednerisches Naturtalent: Cooper 2009, 312; Harris 1998, 28. Dies basiert auf Aischines’ Selbsteinschätzung: 3,228. 17 Vgl. Cooper 2009, 311, 318. 18 Vgl. Tritle 1988, 5; Walbank 1967, 258. 19 Vgl. Asmonti 2004, 28, 42. 20 Vgl. Cooper 2009, 320; Marasco 1984, 185; Walbank 1967, 358; Rehm 1931, 317. Marasco 1984, 90 zufolge habe Demochares die Entbehrungsphase seiner politischen Ära verteidigen wollen. Vgl. O’Sullivan 2009, 194. 21 Vgl. Bur 2016, 66–71; Sonnabend 2002, 189. 22 Klynne, 2003, 117. Vgl. Ambrosetti 2009/10, 44: „a carnival float“ (der Schleimfluss als mechanische Besonderheit). Vgl. Weber 1993, 328, A. 3: Die meisten anderen „mechanischen“ Kunstwerke seien kleinformatiger gewesen. Auflistungen: Bur 2016, 66–172; Lowe 2016, 29, A. 62–63; Rice 1983, 63–65; Austin 1959, 17–18. 23 Vgl. Petrovic 2007, 59; Sonnabend 2002, 189; Schürmann 1997, 357; Walbank 1996, 119–120; Weber 1993, 328; von Hesberg 1989, 81–82; Rice 1983, 62. 24 Vgl. von Hesberg 1989, 81–82, A. 141. 25 Vgl. Banfi 2010, 189–190; Klynne, Klynne 2003, 117; Chaniotis 1997, 243. 26 Vgl. Weber 1993, 328, A. 3; von Hesberg 1989, 81–82, A. 141.

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Demetrios von Phalerons pompe und Democharesʼ Kritik

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Laufen gebracht wurde.27 An der Historizität der gigantischen, künstlichen Schleim absondernden Schnecke als Festattraktion wurde bislang nicht gerüttelt. Sie wird sogar als „vertrauensbildende Maßnahme“ betrachtet.28 Dabei ist grundsätzlich von einer „interpretative symbiosis between the automaton and the festival“29 auszugehen. Die Schnecke an der Spitze der pompe war sogar von herausgehobener ideologischer Bedeutung. Doch die Frage, inwiefern die Assoziationen von Demochares’ Zeitgenossen mit dem Weichtier zur Repräsentation von Demetrios von Phalerons Wirken in Athen passten, ist ungeklärt. Wurde die Gestaltungsform überhaupt zu erklären versucht, dann mit dem praktischen Grund, nur ein Schneckenhaus habe erlaubt, „den Bewegungsmechanismus unsichtbar unterzubringen“.30 Vergleicht man die Schnecke mit anderen antiken Imponierstücken, scheint sie noch mehr aus dem Rahmen zu fallen. Aus der großen pompe Ptolemaios’ II. in Alexandria in den 270er Jahren ist eine Sitzstatue der Personifikation von Dionysos’ Geburtsstadt Nysa auf einem Festwagen bekannt. Sie konnte sich erheben, ein Libationsopfer darbringen und sich wieder setzen.31 Pausanias erwähnt für Olympia einen bronzenen Adler, der sich bei Rennwettbewerben als Startsignal erheben konnte, während ein Delphin abtauchte.32 In beiden Kontexten machten die Figuren Sinn: der Adler als Symboltier des Zeus und die Personifikation der Geburtsstätte des ptolemäischen Urahnen als Element der ideologischen Repräsentation der Dynastie.33 Dies verdeutlicht, dass neben der Intention, die Zuschauer durch ein „Wunderwerk“ zu erstaunen, die Form dieses Wunders und seine Kompatibilität mit dem ideologischen Rahmen wichtig waren. 27 Vgl. Rehm 1931, 317–319, 329, m. Abb. 3. Akzeptiert von Ambrosetti 2009/10, 45; Sonnabend 2002, 189; Schürmann 1991, 240, Abb. 60, 248; Marasco 1984, 187; Rice 1983, 65; Walbank 1967, 358–359. Vgl. Pugliara 2003, 44. 28 Sonnabend 2002, 189. 29 Bur 2016, 60. 30 Rehm 1931, 319. Vgl. Bur 2016, 60; Ruffell 2016: „wheels would be problematic for anything with obvious legs, while other creatures that crawl (e. g. snakes) offer little height for any kind of mechanism“. Banfi 2010, 190 verweist nur auf „tale magnificenza“ als Demetrios’ Demonstration, dass den Bürgern alles zur Verfügung stand. Ähnlich: Muccioli 2015, 24–25 (mechanisches, beeindruckendes Spielzeug). Dreyer 1999, 182, A. 277 spricht allgemein von Kritik an Demetrios’ Verschwendung, besonders durch Festzüge. Unklare Symbolik der Schnecke: Bur 2016, 70; Walbank 1967, 359 („part of the grandiose show (…) and not of any other significance“. Jüngste Zweifel beziehen sich nur auf Rehms Rekonstruktion: Ruffell 2016. Bur 2016, 70–71 erwägt zwar, dass die Schnecke literarisches Stilmittel sein könnte, „to insult the ‚idleness‘ of Demetrius as a ruler“, sortiert sie aber doch als realen „Automaten“ ein. Ebenso Ambrosetti 2009/10, 45 (Demochares könnte metaphorisch gesprochen haben, doch seine und Polybios’ mangelnde Verwunderung belege die Historizität). Indes wird Polybios Demochares’ Seitenhieb verstanden und entsprechend zitiert haben. Zu einem anderen Fall exaltierter Festkunst bei Polybios vgl. Günther, Günther 2003. 31 Athen. 5,198 F. Vgl. Bur 2016, 72–80; Müller 2009, 193; Rice 1983, 62–68. Als Konstrukteur gilt häufig Ktesibios. Sonnabend 2002, 190 vermutet, Demetrios von Phaleron habe Ptolemaios II. mit der Erzählung von der Schnecke zur Statue von Nysa inspiriert – noch bevor Ptolemaios II. ihn wegen seiner Befürwortung von Ptolemaios Keraunos’ Thronfolge inhaftieren ließ (Diog. Laert. 5,78–79; Cic. Rabir. Post. 23). Dies ist indes spekulativ. Demetrios unterstützte bereits vor der Mitregentschaft Ptolemaios’ II. offen Keraunos; ein gespanntes Verhältnis ist nicht erst in die Zeit des Thronwechsels zu datieren: Müller 2009, 24, 70, 105, 107. 32 Paus. 6,20,12. Vgl. Austin 1959, 18; Jacquemin 2002, 258: hellenistische Konstruktionen. 33 Symbolik des Adlers: Jacquemin 2002, 258. Der Delphin stünde für Poseidon als Herr der Pferde. Symbolischer Kontext der Nysa-Statue: Müller 2009, 191–198.

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Demochares macht klar, dass die Schnecke als eines der „symbols of the degradation of Athens“34 ein weiterer Beweis für Demetrios’ Bestreben war, die Bürger durch leibliche und sinnliche Übersättigung zu korrumpieren, anstatt ihre politischen und militärischen Tugenden zu stärken. Der Terminus προστάτης gilt zumeist nicht als Reflex von Demetrios’ tatsächlicher Amtsbezeichnung – entweder ἐπιστάτης, ἐπιμελητής oder νομοθέτης –,35 sondern als Demochares’ mokante Ironie. 36 Da er Demetrios im gleichen Atemzug „the mentality of a shopkeeper“37 zuschrieb, lautete die Botschaft wohl, dass ein Politiker, der nur für Leibeswohl und Spektakel sorgte, auch noch mit dem Hintergedanken, den solcherart saturierten Athenern die makedonische Oberhoheit schmackhaft zu machen, der entartete προστάτης der – ironischerweise – platonischen Reflektion war.38 Diese Gedankenfigur beschrieb den προστάτης, Hüter und Hirte der Polisgemeinschaft, als Gegenbild: den Wolf (im Schafspelz), befleckt mit dem Blut seiner Mitbürger, ein gefährlicher, zersetzender Fremdkörper und somit eine weitere Darstellungsform des Tyrannen.39 Mit dem Anprangern des Feindes im Inneren rekurrierte Demochares auf ein bevorzugtes Argument seines Onkels, das dieser seit Olynthos’ Fall und verstärkt seit den Konflikten um den Philokrates-Frieden bemüht hatte.40 Lara O’Sullivan sieht die Kritik, dass Demetrios die Produktion nutzloser technischer Spielereien wie der Schnecke statt Festungen oder Kriegsmaschinen gefördert habe. 41 Doch dahinter wird mehr stecken. Mit κοχλίας wurde eine der bekanntesten europäischen Landschnecken, die Schnirkelschnecke, bezeichnet.42 Sie galt als besonders furchtsam und als in ihrem Haus gefangen, in das sie sich beim leisesten Anzeichen von Bedrohung zurückzog.43 Zudem stand sie für

34 Walbank 1967, 359. Vgl. Bur 2016, 68–69; O’Sullivan 2009, 193, A. 83; Swoboda 1901, 2864. Die Erwähnung der Esel im Theater ist auch aufgrund der strittigen Lesung debattiert: O’Sullivan 2009, 182; Marasco 1984, 187–188; Walbank 1967, 359; Pédech 1961, 98. Esel gehörten zur dionysischen Sphäre (Athen. 2,52 E; 5,200 F), konnten jedoch auch Dummheit, Sturheit und Triebhaftigkeit symbolisieren (Apul. Met. 11,6; Diog. Laert. 7,170; Cic. Pis. 73). 35 Vgl. Walbank 1967, 358. Zu ἐπιστάτης: Strab. 9,39,8; Diod. 20,45,5; ἐπιμελητής: Diod. 18,74,3; 20,45,2 (vgl. O’Sullivan 2009, 41); νομοθέτης (Mar. Par. B ep. 13; Canevaro 2011, 64–66); Ael. VH 3,17 (irrig: νομοθέτης in Ägypten bei Ptolemaios I.). Zur Problematik generell: Landucci Gattinoni 2003, 112; Banfi 1998/99, 531–537; Marasco 1984, 184–185. 36 Vgl. Dmitriev 2016, 37; Asmonti 2004, 27; Pédech 1961, 97. 37 Habicht 1993, 254. Vgl. Asmonti 2010, 136; Lape 2004, 2, A. 2, 53; Lehmann 1997, 71 (Demochares bestritt die finanzielle Blüte unter Demetrios von Phaleron nicht, kritisierte allerdings den Preis dafür); Marasco 1984, 90. Zur Wortbedeutung: LSJ s. v. τελώνης; Schimpfwort im zeitgenössischen Athen: Dmitriev 2016, 38; Marasco 1984, 186; Pédech 1961, 97. Laut O’Sullivan 2009, 220 bezogen Zeitgenossen βάναυσος auch auf „vulgar display of wealth“ (Arist. Pol. 1319 A). 38 Vgl. Asmonti 2004, 27. Siehe auch Asmonti 2010, 136; Marasco 1984, 185. 39 Plat. Rep. 565 E. Vgl. Plut. Sol. 23,2. Vgl. Petraki 2011, 144, 191–192, m. A. 160, 245–246; Kunstler 1991, 193–194 („The tyrant is transformed from prostrates into the final remove from the philosophicalruler, a werewolf“); Buxton 1988, 63. Demetrios von Phaleron als Tyrann: Strab. 9,1,20; Paus. 1,25,6; Phaedr. Fab. 5,1. 40 Demosth. 18,61; 19,135–136. 300–301. 320–321. Vgl. Roisman 2006, 118–119, 126; Wirth 1998, 61. 41 Vgl. O’Sullivan 2009, 194. 42 Vgl. LSJ s. v. κοχλίας. 43 Aristot. Hist. An. 523 B; 525 A; 527 B; 528 A; Anaxil. F 34 (sie nehmen ihr Haus mit aus Angst, es zu verlieren).

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Demetrios von Phalerons pompe und Democharesʼ Kritik

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sprichwörtliche Langsamkeit,44 war als Schädling in Gärten und Feldern unbeliebt,45 diente Tieren als Futter – ihre Hauptdarstellungsart in griechischer Kunst – und Menschen als Aphrodisiakum.46 Die Assoziationen, die Demochares’ Zeitgenossen mit einer Schnecke haben konnten, waren demnach: extrem langsam, furchtsam und eingesperrt, Symbol für verzagten Kleinmut, Trägheit, Faulheit und Furcht, unbeliebter Schädling, Tierfutter und als Aphrodisiakum mit Erotik verknüpft, eventuell auch mit Tafelluxus. Dazu passt, dass seine Kritiker Demetrios von Phaleron einen üppigen, ausschweifenden Lebenswandel vorwarfen.47 Vor diesem Hintergrund erscheint Demetrios’ Schnecke als metaphorisches Sinnbild von Demochares’ Kritik an dessen Politik, jeglichen athenischen Widerstand gegen den äußeren (makedonischen) Feind durch furchtsamen Rückzug ins Innere und Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse zu ersticken. Es ist nicht anzunehmen, dass tatsächlich eine (pseudo-)mechanische Riesenschneckenfigur die pompe anführte. Zeigte Demetrios von Phaleron ein „automatisches“ Wundergerät, hatte es vermutlich dem Anlass entsprechend Bezug zu Dionysos. Das Argument, Demochares rekurriere auf Demetrios’ eigene Schrift und adressiere sein Publikum so, als würde es sich an die Schnecke erinnern, die damit „so gut bezeugt wie nur möglich“ sei,48 überzeugt nicht. Erstens fehlt der Parallelbeleg aus Demetrios’ Feder. Zweitens wandte Demochares ganz in der Tradition der attischen Redner wohl die rhetorische Strategie des suggestiven „you all know“-Topos an: Er appellierte an Empfindungen kollektiver Identität und Konsens, ohne dass das angesprochene Wissen zwangsläufig abrufbar oder existent war.49 Ausgehend von Ciceros Charakterisierung, Demochares’ Historien seien eher rhetorisch als historiographisch, 50 folgert Larry Tritle: „Demochares’ work attacks, distorts, and ignores facts and substance and in effect presents a biased narrative“.51 Die Anspielung auf Demetrios’ schleimende Schnecke ist derart plakativ, dass der informierte Rezipient sie als Sinnbild seiner Kritik erkannt haben wird. Zusätzlich mag das Schneckensymbol eine Spitze gegen Demetrios von Phalerons philosophischen Hintergrund beinhaltet haben. Demochares’ Haltung dazu wird anhand seiner (vergeblichen) Verteidigung des Sophokles von Sunion 307/6 v. Chr. klar: Er ging gegen die Anfechtung von Sophokles’ Antrag auf stärkere Kontrolle von Philosophenschulen in Athen 44 Plaut. Poen. 531; Rhet. Her. 4,62. 45 Theophrast. Hist. Plant. 4,14,3; Plin. NH 17,223. Die These von Bur 2016, 70, die Schnecke verweise als landwirtschaftliches Symbol auf Frühling und Ernte überzeugt daher nicht. Als Schädling mochte sie eher die faktische Widerlegung der Lebensmittelfülle darstellen, derer sich Demetrios rühmte. 46 Tierfutter: Aristot. Hist. An. 621 A (Vögel; Schweine); Plin. NH 8,141 (Eidechsen); in der Kunst: Gossen, Steier 1921, 593. Aphrodisierend: Athen. 2,64A; Theokr. 14,17; Alexis (F 175 K.–A.); Petron. 130,7. Menschenspeise: Hünemörder 2001, 198. 47 Athen. 12, 542 C–D; Diog. Laert. 5, 75; Phaedr. Fab. 5,1. Vgl. Lape 2004, 53; Wheatley 2000, 31; Dreyer 1999, 182, A. 277. Bei der Prozession sollen Chorgesänge Demetrios in sakraler Überhöhung als heliomorphos gepriesen haben (Athen. 12,542 E). Vgl. Banfi 2010, 189; O’Sullivan 2009, 44, 213: Zeichen von Demetrios’ Selbststilisierung; dagegen plausibel Pownall 2013, 46–47, 56, A. 17: Element von Duris’ und Demochares’ Negativtopik (ähnlich: Mikalson 1988, 57). Der solare Aspekt erinnert (verdächtig?) an den von ihnen bezeugten ityphallischen Hymnos der Athener für Demetrios Poliorketes (Athen. 6,253 E). Vgl. Mari 2016, 161–163; Günther 2015, 245–248; Chaniotis 2011; O’Sullivan 2008, 78–99. Zu dessen Selbstdarstellung als Sohn Poseidons: Günther 2011b, 103. 48 Rehm 1931, 318. Ebenso: Schürmann 1991, 249. 49 Vgl. Ober 1989, 149, 163–165. Siehe Aristot. Rhet. 1408 C. 50 Cic. Brut. 286. Vgl. Asmonti 2010, 135–137. 51 Tritle 1988, 5.

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als illegal vor und soll dabei Aristoteles und dessen Schüler – bekannt für Verbindungen nach Makedonien – als prädisponiert für die Zusammenarbeit mit Tyrannen charakterisiert haben.52 Nun brachte der Komödiendichter Amphis seinen Zeitgenossen Platon in Deximenides in Beziehung zu einer Schnecke: ὦ Πλάτων, ὡς οὐδὲν οἶσθα πλὴν σκυθρωπάζειν μόνον, ὥσπερ κοχλίας σεμνῶς ἐπηρκὼς τὰς ὀφρῦς. Oh Platon, du weißt nichts weiter als mit gewichtiger Miene deine Augenbrauen wie eine Schnecke hochzuziehen.53 Erhobene Brauen, hier mit Schneckenfühlern verglichen, 54 galten als Zeichen von Überheblichkeit, „commonly associated particularly with philosophers, as a way of expressing their deep meditation and arrogance“.55 Später wandte etwa Lukian diesen Topos für wichtigtuerische Schmalspur-Philosophen an.56 Amphis’ Spott wird entweder so gedeutet, dass Platon weltfern an seinen Schülern und ihren Belangen vorbeigeredet habe, oder dass ein grotesker Kontrast zwischen Philosoph und freiem Denken aufgezeigt wurde. 57 Sollte Demochares die Schnecke ähnlich eingesetzt haben – als Hinweis auf Demetrios von Phalerons arrogante, ignorante Missachtung der athenischen Belange und auf makedonische Fremdsteuerung – verliehe dies ihrer Symbolik an der Spitze seiner Machtdarstellungsprozession zusätzliche Brisanz. Zusammenfassend ist Demetrios’ Schleim absondernde Schnecke als Demochares’ bissiges Gedankenbild in seiner Abrechnung mit Demetrios’ Politik unter Kassanders Ägide zu deuten. Sie versinnbildlichte deren Auswirkungen für Athen: Feigheit, Kriegsuntüchtigkeit, Rückzug ins Innere, zum wehrlosen Fraß für den äußeren Feind werdend – kurzum ein Verrat an den athenischen Idealen.

52 Antrag: Diog. Laert. 5,38 (Einflussbeschränkung); Pollux 9,42 (Verbot). Verteidigung: Athen. 11,508 F; 13,610 E–F. Vgl. Dmitriev 2016, 12–14; Dreßler 2014, 334–346; Haake 2008, 89–107; Haake 2007, 16–43; Banfi 2001, 342; Tritle 1988, 168, A. 75; Habicht 1993, 254; Wehrli 1949, 64. Intention war wohl Zustimmung von boule und demos zu Gründung und Leitung neuer Philosophenschulen: O’Sullivan 2002, 252, 260–262 (zudem Kontrolle der Eigentumsrechte der Schulen); Kamp 2001, 79. Demochares als Mastermind des Antrags: Nervegna 2013, 43; Paschidis 2008, 153; Habicht 1993, 254. Beziehungen athenischer Philosophen zu Makedonen: Plut. Alex. 7; 76,2–3; 77,2; Speus. Phil. 12; Athen. 11,506 F 508 E; Diog Laert. 5,11, 13; Just. 12,14,7. 53 Diog. Laert. 3,28. Vgl. Czebe 1918, 179. 54 Vgl. Handley 1985, 406; Czebe 1918, 178–179. 55 Papachrysostomou 2008, 54. Vgl. Pirrotta 2009, 109 (Verweis auf Aristoph. Ra. 625); Erler 2006, 25 (Element des zeitgenössischen Gelehrtentypus; betone Platons Außenseiterrolle); LSJ s. v. ὀφρύς. 56 Etwa Luk. D. M. 10,8 (Typus des arroganten Philosophen: ὁ τὰς ὀφρῦς ἐπηρκώς); 10,9. Vgl. noch Lupicinus (supercilia erigentem ut cornua) bei Ammian. 20,1,2. 57 Weltfern: Handley 1985, 406. Kontrast: López Cruces 2008, 162–163.

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Der Schiedsspruch des Satrapen Struses: Prozedur und Politik* Norbert Ehrhardt

Im Zuge der 1899 von den Berliner Museen unter Leitung Theodor Wiegands begonnenen Ausgrabungen in Milet wurde bereits in der ersten Grabungskampagne ein theaterförmiges Gebäude weitgehend freigelegt, das sehr bald als hellenistisches Buleuterion erkannt wurde. Aufgrund der zweifach, aber wortgleich angebrachten Bau- bzw. Weihinschrift ergab sich der Zeitraum zwischen 175 und 164 v. Chr. für dessen Errichtung.1 Im Grabungsareal wurden zudem einige Inschriften gefunden, die erkennbar älter waren und in keinem baulichen Zusammenhang mit dem Buleuterion standen. Unter diesen Texten fand sich auch ein Stelenfragment von rund 80 cm Höhe und 50 cm Breite (später als Fragment b bezeichnet), das 33 weitgehend erhaltene Zeilen enthält; die stoichedon geschriebene Inschrift umfasst pro Zeile 28 Buchstaben. Oben und unten ist die Stele gebrochen. Inhaltlich geht es um einen Grenzkonflikt zwischen Milet und seiner Nachbarstadt Myus, der vom Ionischen Koinon zugunsten der Milesier entschieden und von Struses, dem Satrapen von Ionien (Z. 30),2 förmlich bestätigt wurde. Die Datierung ergibt sich aus dessen Amtszeit, nämlich 392/91 bis 388 v. Chr. (dazu unten). In der folgenden Grabungskampagne wurde ein weiteres Fragment mit 12 Zeilen Text gefunden, das aus sachlichen Gründen oberhalb des größeren Stücks zu platzieren war und später als Fragment a bezeichnet wurde. Diese Zeilen sind weitgehend zerstört; nur jeweils am Ende der Zeilen haben sich zwischen fünf und zehn Buchstaben erhalten. „Oben ist ein Rest freien Raumes“ (Fredrich); möglicherweise stand davor noch Text. Unten ist der Stein gebrochen. Nachdem die beiden Fragmente in den ersten vorläufigen Grabungsberichten – auf Angaben des Epigraphikers Carl Fredrich basierend – publiziert und knapp kommentiert worden waren,3 erfolgte im Band „Das Rathaus von Milet“ (1908) die abschließende Veröffentlichung jetzt beider, nicht anpassender Fragmente durch Carl Fredrich. 4 Daraus ergibt sich, dass die Stele eine Höhe von mehr als 1,14 m hatte und ca. 50 cm breit war. Die Dicke betrug ca. 22 cm. Sie muss mehr als 45 Zeilen enthalten haben. Auf Textergänzungen in Fragment a sowie einen wirklichen Kommentar verzichtete Fredrich, wiederholte aber noch einmal den Hinweis auf die Datierung der Inschrift. Wo die Stele ursprünglich stand, ist nicht bekannt;

* Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise danke ich Wolfgang Günther (München) und Matthias Haake (Münster). 1 Milet I 2, 1 und 2. 2 Zu seinem Amtsbereich vgl. hier Anm. 23. 3 Kekulé von Stradonitz 1900, 111–115 (113 Photographie, 114 griechischer Text); Wiegand 1901, 904f. (905 griechischer Text). Die Fragmente befinden sich in Berlin. 4 Milet I 2, 9.

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zu denken ist an das Heiligtum des Apollon Delphinios, in dem bereits im 6. Jh. v. Chr. staatliche Urkunden aufgestellt wurden.5 Sofern die Stele erst im Zusammenhang mit der Erbauung des Rathauses abgeräumt wurde, hätte sie mehr als zweihundert Jahre gestanden. Denkbar ist aber auch, dass sie bereits zwischenzeitlich anderswo verbaut worden war. Im selben Jahr 1906 nahm Friedrich Hiller von Gaertringen den milesischen Text in seine Publikation der Inschriften von Priene auf, hier in seiner Zusammenstellung der Zeugnisse für Priene und für das Ionische Koinon. 6 Für das weitere „Schicksal“ der milesischen Inschrift war es dann aber entscheidend, dass Hiller den Text 1915 auch in die dritte Auflage der „Sylloge Inscriptionum Graecarum“ aufnahm (Nr. 134) und hier eine fast vollständige Ergänzung der Zeilen 2–12 in Fragment a vornahm, die beträchtliche Folgen für die historische Interpretation der Inschrift hatte (dazu unten). Hillers Versuch war durchaus plausibel und reizvoll, da aufgrund der Stoichedon-Ordnung die Zahl der Buchstaben pro Zeile feststeht. Allerdings gab und gibt es für die milesische Inschrift keine direkte Parallele, so dass schon deshalb die Ergänzungen von Anfang an problematisch waren. Aufgrund ihrer historischen Bedeutung fand die milesische Inschrift sehr bald die Aufmerksamkeit der Forschung: Sie stellt ein frühes inschriftliches Beispiel für einen zwischenstaatlichen Schiedsspruch dar,7 ist ein Zeugnis für Existenz und Aktivität des schon in archaischer Zeit bezeugten Ionischen Koinon im frühen 4. Jh. v. Chr.8 sowie eine bemerkenswerte Quelle für die politischen Verhältnisse im westlichen Kleinasien im Vorfeld des Königsfriedens und die persische Politik.9 Schließlich ist auch die Nennung eines persischen Satrapen in einer griechischen Inschrift eine Seltenheit. 10 Aus diesen Gründen wurde die Inschrift in den Sammlungen zu griechischen Schiedsgerichten berücksichtigt bzw. abgedruckt, 11 zuletzt 1973 von Luigi Piccirilli, mit Kommentar und Literaturangaben.12 In der historischen Forschung zur Vorphase des Königsfriedens wird die Inschrift sehr häufig erwähnt, wenn auch nicht intensiv diskutiert. 1996 erstellte Peter Herrmann bibliographische Nachträge, druckte Hillers Textergänzungen in Fragment a ab (aus der Sylloge)) und legte eine deutsche Übersetzung vor.13 Eine solche erschien im selben Jahr auch in den HGIÜ.14 5 Milet I 3. Die ältesten Zeugnisse stellen Opferkalender dar. 6 IvPriene S. 202 Nr. 458. Zuvor war die Inschrift bereits von Bechtel in seine Sammlung griechischer Dialektinschriften aufgenommen worden (SGDI 5493). 7 Laut Piccirilli 1973, 158 handelt es sich um das älteste derartige epigraphische Zeugnis. – Zu zwischenstaatlichen Schiedsgerichten unter anderem Martin 1940, 487–576; Steinwenter 1971, 172–198; Adcock/Mosley 1975, 210–214 und passim; Harter-Uibopuu 1998; Harter-Uibopuu 2002, 184–189; Baltrusch 2008, 34; 124f.; 191. 8 Neuere Literatur: Tausend 1992, 90–95 (archaische Zeit); Debord 1999, 176–178 (176 Anm. 81 bibliographische Angaben); Smarczyk 2000, 57–62; Herrmann 2002 (mit Schwerpunkt Hellenismus und Kaiserzeit); Edelmann-Singer 2015, 40–43 (Schwerpunkt Kaiserzeit). 9 Unter letztgenanntem Aspekt behandelt von Wiesehöfer 1996, 51f.; Frei 1996, 96f. 10 Hier in der Form ἐξαιθράπης; zu dieser Form Schmitt 1976, 379f.; Robert 1983, 98; Blümel, IvMylasa II (1988) 7. Vgl. Herrmann, Milet VI 1, S. 157. 11 Ræder 1912, 45f. Nr. 17; Tod 1913, 47 Nr. 70. Beide drucken den griechischen Text nicht ab und geben auch keine Übersetzung. 12 Piccirilli 1973, 155–159 Nr. 36. 13 Milet VI 1, S. 157. Die erste Zeile von Fragment a, an deren Ende ΔΙΟΝΥΣ erhalten ist, ließ Herrmann weg, da er nur die von Hiller ergänzten Zeilen 2–12 abdruckte. Folglich erscheint auch der erhaltene Rest der ersten Zeile nicht in seiner Übersetzung. 14 HGIÜ II 210, unter Berücksichtigung des Namensrestes in Z. a 1. – Text auch bei Tod 1948, 36–39

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Der Schiedsspruch des Satrapen Struses

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In diesem Beitrag soll die bisherige Literatur, die aufgrund unterschiedlicher Ansätze und Forschungsfelder (Rechtsgeschichte, politische Geschichte) recht verstreut ist, kritisch resümiert werden. Insbesondere geht es um eine erneute Prüfung prozeduraler Fragen, eine stärkere Einbettung der Inschrift in das politische Geschehen und auch um das Verhältnis zwischen Milet und Myus. Der griechische Text – mit Hillers Ergänzungen – lautet:15 a) vacat . . . . . . . . . . 20 . . . . . . . . . . Διονυσ [. . . . . . . . . . . 22 . . . . . . . . . πέ]μπων, ἃ χ-[αρίζονται ὁ βασιλεὺς καὶ ὁ] ἐξαιτρ-[απεύσας τῆς Ἰωνίης Στρού]σης· διεφ-[έροντο περὶ τῆς γῆς τῆς] ἐμ Μαιάνδρ- 5 [ο πεδίωι, ὥστε παμπόλλα]ς γενέσθαι [ταῖς πόλεσι περὶ αὐτῆς] ἀμφισβητή-[σεις· νῦν δὲ καὶ ἑκατέρ]ας τῆς πόλεω[ς ἐπιτρεψαμένης τῶι β]ασιλεῖ, καὶ σ-[τείλαντος τō βασιλέο(ς) Στ]ρούσην, ὅπ- 10 [ως οἵ τε τῶν Ἰώνων δικασταὶ συ]ν̣ελθό[ν]- [τες . . . . . . . . . . 20 . . . . . . . . . .]ν̣ι . . . b) multa desunt . . 5 . . . δη[ς . . . . . . . . . . 20 . . . . . . . . . .] . . 5 . . . μήδης Α̣ . . . . . . . . 17 . . . . . . . . . . . 4 . . λωνος. Ἐρυθραί[ων· . . . . . 10 . . . . .] . 3 . . ά̣νεος, Διχόλεως Πεδι[έος, . . 5 . . .] . 2 . ς Ἀπολλᾶδος, Ἐπικράτης Ἀ . . . 6 . . . 5 . 2 . εος, Πυθῆς Ἀνακρίτο. Χίων· Σώσ[τρα]- [τ]ος Κλεινίω, Ἀγγελῆς Ἱππώνακτος, [Κ]- ̣ τήσιππος Εὀπτολέμο, Φάνων Ἑρμομά-̣ χο, Ἀλέξανδρος Ἱκεσίο. Κλαζομενίων ̣· Ἰσθμέρμιος Θεομβρότο, Ἀρτέμων Ἀπ- 10 ολλωνίο, Ἀθηναγόρης Πολυάρχο, Ζῆν- ις Εὐάνδρο, Ἡρογείτων Ἀναξιτίμο. Λεβεδίων· Νυμφόδωρος Καλλίω, Ἀρισ- τιππίδης . . 5 . . . λεω, Δήϊκλος Ἀπολλ- ωνίο, Κλεινίας Ἡγησίωνος, Δημοκρά- 15 της Ἐγδήλ[ο. Ἐφε]σίων· Πολυκλῆς Θευδ- ώρο, Πυθο[κλεί]δης Διονυσίο, Εὔερμ- [ο]ς Ἀθηναίο, [Εὐ]αίων ̣ τῆς δίκη ̣- ς ̣ ὑπὸ Μιλησίων καὶ Ἑρμίω, Θεύδωρο[ς] Ἡρακλείδεω, καὶ τε]θείσης Μυησίων καὶ τῶμ ̣ 20 [μ]αρτύρωμ μαρτυρησάντων ἀμφοτέρ- [ο]ις καὶ τῶν οὔρων ἀποδεχθέντων τῆ- [ς] γῆς, ἐπεὶ ἔμελλον οἱ δικασταὶ δικ- ᾶ ̣ν τὴν δίκην, ἔλιπον τὴν δίκημ Μυή[σ]- [ι]οι. οἱ δὲ προδικασταὶ ταῦτα γράψ[α]- 25 [ν]τες ἔδοσαν ἐς τὰς πόλεις αἵτινε[ς] τὴν δίκην ἐδίκαζομ, μαρτυρίας εἶν ̣- αι. ἐπεὶ δὲ Μυήσιοι τὴν δίκην ἔλιπο- ν, Στρούσης ἀκούσας τῶν Ἰώνων τῶν [δ]- [ι]καστέων, ἐξαιτράπης ἐὼν Ἰωνίης, [τ]- 30 [έ]λος ἐποίησε τὴγ γῆν εἶναι Μιλησ[ί]- ω̣ν. προδικασταὶ Μιλησίων Νυμφ . . . . . εΛ̣Λ̣εΟ̣νίο, Βάτων Διοκλ ̣[ε . . . 7 . . . .] Der Text in der Übersetzung von Peter Herrmann lautet wie folgt: Fragment a (mit Übersetzung der Textergänzungen von Hiller) „ [ - - - - - - ] Dionys[ - - - - - - ?schickend, was der (Groß-)König und der als ] Satr[ap eingesetzte Stru]ses [gewähren. Sie hatten Differenzen bezüglich des Landes] in der Mäander[ebene, so daß den Städten um dieses] Auseinandersetzungen [in großer Zahl] entstanden. [Jetzt aber übertrug jede der beiden] Städte (die Entscheidung) dem Nr. 113 (griechischer Text und Kommentar); Wickersham/Verbrugghe 1973, 28 Nr. 14 (englische Übersetzung); Harding 1985, 38 Nr. 24 (englische Übersetzung); Rhodes/Osborne 2003, 70–74 Nr. 16 (griechischer Text und englische Übersetzung); Kuhrt 2007, 380 Nr. 45 (englische Teilübersetzung). Tod übernimmt nur einige von Hillers Ergänzungen; Rhodes und Osborne verzichten in Fragment a auf fast alle Ergänzungen und verweisen im kritischen Apparat lediglich summarisch auf Hiller mit der Bemerkung „a speculative reconstruction“. 15 Den von Herrmann nicht berücksichtigten Rest von Z. a 1 (vgl. Anm. 13) füge ich ein.

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König, und [der König entsandte St]ruses, auf daß [die von den Ioniern gestellten Richter] zusammenkämen [ - - - - .“ Fragment b: „- - - -; aus Erythrai: [ , Sohn des ?Pryt]anis, Dicholeos, Sohn des Pedi[eus; - ,] Sohn des Apollas, Epikrates, Sohn des A[ ], Pythes, Sohn des Anakritos; aus Chios: Sostratos, Sohn des Kleinias, Angelos, Sohn des Hipponax, Ktesippos, Sohn des Euptolemos, Phanon, Sohn des Hermomachos, Alexandros, Sohn des Hikesios; aus Klazomenai: Isthmermios, Son des Theombrotos, Artemon, Sohn des Apollonios, Athenagores, Sohn des Polyarchos, Zenis, Sohn des Euandros, Herogeiton, Sohn des Anaxitimos; aus Lebedos: Nymphodoros, Sohn des Kallias, Aristippides, Sohn des [?Hegesi]leos, Deiklos, Sohn des Apollonios, Kleinias, Sohn des Hegesion, Demokrates, Sohn des Egdelos; aus Ephesos: Polykles, Sohn des Theodoros, Pythokleides, Sohn des Dionysios, Euermos, Sohn des Athenaios, Euaion, Sohn des Hermias, Theodoros, Sohn des Herakleides. Und als der Rechtsstreit von den Milesiern und den Myesiern eingebracht worden war, die Zeugen für beide Parteien ihre Aussagen gemacht hatten und die Grenzen des (strittigen) Gebietes aufgezeigt worden waren, als die Richter im Begriff waren, den Streit zu entscheiden, da zogen sich die Myesier aus dem Verfahren zurück. Die Vertreter (Milets) schrieben dies nieder und händigten es den Städten aus, die den Streit entscheiden sollten, damit es zum Zeugnis diene. Nachdem die Myesier sich aus dem Verfahren zurückgezogen hatten, hörte Struses, der Satrap von Ionien, die Richter der Ionier an und entschied definitiv, daß das (umstrittene) Land den Milesiern gehören solle. Vertreter der Milesier waren Nymph[ - - , Sohn des - - ], Baton, Sohn des Diokl[es? - - - - .“ Die Prozedur ergibt sich im Wesentlichen aus Fragment b. Am Anfang stehen die Namen der Richter aus Städten des Ionischen Koinon, die mit der Prüfung des Sachverhalts und der Entscheidungsfindung beauftragt waren. Erhalten haben sich die Einträge von Erythrai, Chios, Klazomenai, Lebedos und Ephesos. Aus jeder dieser Städte werden fünf Personen geschickt, die jeweils mit dem Vatersnamen verzeichnet sind. In den verlorenen Passagen oberhalb von Fragment b werden sehr wahrscheinlich die Namen der übrigen Städte des Ionischen Koinon16 gestanden haben, also Teos, Phokaia, Samos, Priene und Kolophon. Zwar ist nicht ganz auszuschließen, dass einige Städte nicht dabei waren, aber da man im Koinon sicherlich auf die formale Gleichrangigkeit geachtet hat, ist dies unwahrscheinlich. 17 Sofern also diese zehn Poleis vertreten waren und alle dieselbe Zahl von Richtern geschickt haben, ergibt sich ein Gremium von fünfzig Männern, die mit der Prüfung und Entscheidung beauftragt waren.

16 Im Koinon waren zu diesem Zeitpunkt 12 Städte vertreten. Die Zahl von 13 Städten (mit Smyrna) erscheint erstmals inschriftlich im Ehrendekret des Koinon für Hippostratos, den Strategen des Lysimachos, aus dem Jahr 289/88 v. Chr. (IvSmyrna 577, 1: „Beschluss des Koinon der Ionier der dreizehn Städte.“ Im milesischen Exemplar der Hippostratos-Inschrift [Milet I 2, 10] fehlt der Zusatz „der dreizehn Städte.“). Vgl. Herrmann 2002, 223 Anm. 1. 17 Tod 1913, 131 meint, dass man nicht entscheiden könne, ob sämtliche Städte vertreten waren.

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Der Schiedsspruch des Satrapen Struses

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Es ist bemerkenswert, dass diese Richter nach der förmlichen Einbringung des Rechtsstreits eine Beweisaufnahme vornahmen. Dazu gehörten die Anhörung von Zeugen der Konfliktparteien und anscheinend auch eine Begehung vor Ort, also Autopsie. Derartige Praktiken bzw. Beweisführungen kennen wir recht gut aus vergleichbaren hellenistischen Inschriften.18 Vor der Entscheidung des Gremiums verweigern die Myessier 19 ihre weitere Teilnahme am Verfahren, vermutlich deshalb, weil bei den Anhörungen schon eine Tendenz zugunsten der Milesier deutlich geworden war. Ein entsprechendes Schreiben über das Verhalten der Myessier schickten die Milesier daraufhin offenbar an alle Städte des Koinon, mit der Aufforderung, den Streit nun (unverzüglich) zu entscheiden. Danach wird der Satrap eingeschaltet: Er hört die Vertreter des Koinon an und entscheidet zugunsten der Milesier. Der Text endet mit den Namen der milesischen Rechtsvertreter 20 in diesem Verfahren, die nicht vollständig erhalten sind. Auch wenn das Verfahren in der Inschrift klar beschrieben wird, bleibt doch die Frage, ob bereits das Koinon einen Schiedsspruch gefällt hat oder ob es erst der Satrap war. Es sieht so aus, dass nur letzter den eigentlichen Schiedsspruch erließ. Nach der Beweisaufnahme waren die milesischen Ansprüche offenbar anerkannt worden – und deshalb hatten sich die Myessier zurückgezogen –, aber einen förmlichen Beschluss gab es noch nicht. Nach dem Schreiben an die Poleis trugen die 50 Richter dem Satrapen den Fall vor und plädierten für die milesische Sache. Erst dann erfolgte der Schiedsspruch durch den Satrapen. 21 Schwieriger ist zu entscheiden, wie und wann das gesamte Verfahren eingeleitet wurde. Dabei geht es auch um die Rolle des Großkönigs, den nach Hillers suggestiven Textergänzungen der Zeilen 8 und 9 die beiden Städte angerufen haben und der dann den Satrapen Struses beauftragte. Sollte dies zutreffen, wäre der Vorgang mehrfach delegiert worden, also von „ganz oben“ über den Satrapen bis zum Ionischen Koinon. Die Sache verhält sich aber wahrscheinlich anders. Wenn man zunächst nur von den erhaltenen Zeilenenden ausgeht, dabei auch die historische Konstellation der Jahre einbezieht und nach dem formalen Charakter der Urkunde fragt, so lassen sich einige Überlegungen anstellen, die einen zumindest partiell anderen Sachverhalt denkbar erscheinen lassen. Am Ende der ersten Zeile steht der Rest eines Personennamens, nämlich Διονυσ-; dies könnte zur Bestimmung des formalen Charakters der Inschrift wichtig sein (dazu unten). Auch am Ende von Zeile 2 stehen Buchstaben. Hiller hat hier πέ]μπων ἃ χ[αρίζεται ὁ βασιλεύς ergänzt, aber zumindest die ersten Buchstaben können auch auf einen Personennamen führen, der auf -μπων endet. In IvPriene hatte Hiller selbst dies als Alternative 18 Dazu einiges bei Tod 1913, 109–131; Harter-Uibopuu 1998, 19–21. 155f.; Harter-Uibopuu 2002, 188 mit Anm. 44. Vgl. auch Daverio Rocchi 1988, passim. Zahlreiche Grenzbeschreibungen in Staatsverträgen kennen wir aus dem hellenistischen Kreta; dazu Chaniotis 1996, 153–159. 19 Zur Form des Ethnikons, das so in der Struses-Inschrift erscheint (Fragment b 20. 24. 28) und auch sonst gut belegt ist, vgl. Ruge 1935, 1430f.; Robert 1946, 71; Risch 1957, 64 mit Anm. 3. Bol 2008, 145 spricht unpassend von „Myusiern“. 20 In Z. b 25 und 32 als προδικασταί bezeichnet. Zu diesem Begriff Wilhelm 1905, 290 (= Kleine Schriften II 1, 258). Die Bearbeiter von HGIÜ II 210 übersetzen mit „Prozessvertreter“; Herrmann, Milet VI 1, 157 mit „Vertreter der Milesier“. Sonst wird meist von Anwälten gesprochen: so Tod 1913, 47; Harding 1985, 24; Piccirilli 1973, 157. 21 So schon Martin 1940, 551, Frei 1996, 96f. und Wiesehöfer 1996, 51, der von einer Ratifizierung durch den Satrapen spricht.

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angeführt.22 In den folgenden Zeilen 4/5 erscheint der Satrap [Στρού]σης, also im Nominativ, gefolgt von διεφ- und am Ende der nächsten Zeile ]ἐμ Μαιάνδρ[ο πεδίωι Es ist gut möglich, dass hier von strittigem Land in der Mäanderebene die Rede war, wie Hiller es sprachlich rekonstruiert, zumal am Ende von Z. 7 eine Form von ἀμφισβήτησις, „Streit“, steht. Bemerkenswerterweise erscheint die Mäanderebene aber auch in einem anderen historischen Kontext: Aus Xenophon (hell. 4,8,17–19) und Diodor (14,99,1–3) kennen wir nämlich das Geschehen dieser Jahre. Demnach wurde Struses – bei Xenophon und Diodor die Namensform Struthas – 392/91 als Nachfolger des Tiribazos von Artaxerxes II. in der Satrapie Lydien/Ionien eingesetzt.23 Wohl 39124 wandte er sich von Ephesos aus militärisch gegen den spartanischen General Thibron und operierte in der Mäanderebene25, und zwar im Gebiet von Priene, Leukophrys und Achilleion. Hier, in der Ebene – so Xenophon –, griff er den spartanischen General Thibron mit Reitern an und besiegte ihn (Thibron fiel), und zwar in der Mäanderebene. Unabhängig davon, in welchem Kontext die Mäanderebene in der Struses-Inschrift genannt war, könnte man vermuten, dass sich die Konfliktparteien bereits unmittelbar nach Strusesʼ Sieg über Thibron an den Satrapen gewandt haben, also vielleicht noch im Mäandertal, der dann das Ionische Koinon einschaltete. Die Einleitung des Verfahrens könnte also ganz am Beginn der Amtszeit des Struses oder kurz danach stattgefunden haben.26 Aufgrund dieser historischen Konstellation sind Hillers Ergänzungen des Inhalts, dass auch der Großkönig von den Städten angerufen wurde, wenig wahrscheinlich. Derartiges wäre zeitaufwändig gewesen, da erst eine Gesandtschaft nach Susa hätte geschickt werden müssen, und sie war auch unnötig, da mit Struses ein Ansprechpartner vor Ort bzw. nicht weit entfernt – Mäanderebene oder Sardeis27 – war. Übrigens wurde der dritte Vertrag zwischen Spartanern und Persern von 412/11 in der Mäanderebene28 geschlossen; dies sei nur erwähnt, auch wenn es für die hier diskutierte Problematik ohne Beweiskraft ist. Freilich kommt man nicht daran vorbei, dass der Großkönig in Z. b 3 (im Dativ) genannt war, denn mit einem Basileus kann in diesem Kontext und in dieser Zeit nur er gemeint gewesen sein.29 Möglicherweise hat man bei der abschließenden Formulierung des Textes den 22 IvPriene, S. 202. 23 In der Forschung herrscht Konsens, dass der Struthas bei Xenophon und Diodor mit dem Struses der milesischen Inschrift identisch ist. Zu seiner Amtszeit Fiehn 1931, 384 und Welwei 2001, 1057. Im übrigen geht man davon aus, dass es trotz der expliziten Angabe in der milesischen Inschrift keine eigenständige Satrapie Ionien gab; Struses war Satrap von Lydien und verwaltete Ionien mit: so Petit 1988, 309–312 und, mit breiterer Diskussion, Jacobs 1994, 128–133. Zustimmend Klinkott 2000, 89 mit Anm. 270. Anders Chaumont 1990, 598 (zumindest Struses nur Satrap von Ionien). Wahrscheinlich erklärt sich die Bezeichnung des Struses als Satrap (nur) von Ionien zwanglos daraus, dass der Sachverhalt nur die Ionier betraf. 24 Das Datum bei Funke 1980, 94 mit Anm. 81 und Urban 1991, 82 mit Anm. 298, beide mit Diskussion der Alternative 390. 25 Zu diesen Ereignissen unter anderem Judeich 1892, 85–87; Funke 1980, 94; Urban 1991, 77, 82f.; Debord 1999, 254–256; Welwei 2004, 289; Marek 2010, 200f. Hingewiesen sei auch auf die Quellensammlung von Kuhrt 2007; die Zeugnisse für die Jahre von 394 bis zum Königsfrieden hier 377–382. 26 So auch Piccirilli 1973, 159. 27 Jacobs 1994, 131: „Wen auch immer die Inschriften Satrap Ioniens nennen, hatte seinen Amtssitz in Sardis.“ 28 Thuk. 8,58,1 (StV II 202). 29 Zwar besaß auch das Ionische Koinon basileis genannte Amtsträger (IvPriene2 399; zweites Viertel des 4. Jhs.), aber wegen des Kontextes können diese nicht gemeint gewesen sein.

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Der Schiedsspruch des Satrapen Struses

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Großkönig als „Chef“ mit einbezogen und damit Wert auf die Feststellung gelegt, dass Struses im Namen des Königs handelte.30 Dies hätte eine gewisse Parallele in den drei Perserverträgen der Spartaner von 412/11, in denen auch immer der Großkönig erscheint, obwohl nur Tissaphernes die Verhandlungen vor Ort geführt hatte. 31 Damit stellt sich endlich auch die Frage, welchen förmlichen Charakter die Inschrift eigentlich besitzt. Nach meiner Kenntnis hat sich dazu noch niemand geäußert, auch Hiller nicht, der auf eine Ergänzung der Zeile 1 in Fragment a verzichtete. Auch aus Piccirillis Bemerkung, „initio Μιλησίων καὶ Μυησίων nomina desideramus“32, wird nicht recht klar, an welche Art von Urkunde er denkt. Aufgrund des Wortlauts der Inschrift kommt ein Brief des Satrapen nicht in Betracht, und so bleibt zu prüfen, ob es sich um ein Dekret des Koinon oder einen milesischen Beschluss handelt. Unter formalem Aspekt ließe sich am Anfang von Fragment a eine Beschlussformel des Koinon ergänzen. Welche Formulierung das Ionische Koinon im frühen 4. Jh. verwendete, ist zwar unbekannt, aber die nächste Parallele stellt die schon erwähnte Hippostratos-Ehrung von 289/88 dar.33 Hier lautet die erste Zeile: Ἔδοξεν Ἰώνων τῶι κοινῶι. Dies ließe sich in der ersten Zeile der Struses-Inschrift problemlos unterbringen. Wenn man diesen Text etwas umstellt, käme man sogar auf genau die 28 Buchstaben, die die Stoichedon-Ordnung erfordert. Die Zeile könnte gelautet haben: [ΕΔΟΞΕ ΤΩΙ ΚΟΙΝΩΙ ΤΩΝ ΙΩΝΩΝ], ΔΙΟΝΥΣ Diese beiden Möglichkeiten, die erste Zeile sachlich und sprachlich sinnvoll zu ergänzen, haben allerdings den Schönheitsfelder, dass der sich anschließende Name recht nahe an der Datierungsformel steht, ohne dass er dazu gehört, denn das Koinon hatte keinen Oberbeamten. Die Hippostratos-Inschrift bietet auch keine passende Parallele; hier folgt auf die Beschlussformel ἐπειδή, da es sich um ein Ehrendekret handelt. Ein milesisches Präskript ließe sich in den ersten beiden Zeilen von Fragment a nicht unterbringen. Wir kennen die milesischen Stephanephoren der Jahre 392/91 bis 388/8734, und hier erscheint kein Dionys-. Hinzu kommt, dass die Milesier im frühen 4. Jh. noch ein demokratisches Formular verwendeten;35 dieses ist zu lang für den hier zur Verfügung stehenden Raum. Unter sachlichem Aspekt kämen sowohl ein Dekret des Koinon als auch ein milesischer Beschluss in Frage. Nach Abschluss des Verfahrens könnte das Koinon den Bericht der Richter den Mitgliedsstaaten zugestellt haben; wäre es so, hätten wir diesen Text mit der Strusesinschrift in wohl unveränderter Form. Für ein milesisches Dekret spricht allerdings der Tenor in Fragment b. Hier wird massiv auf das „Fehlverhalten“ der Myessier abgehoben und die milesische Rechtsposition betont. Möglicherweise haben die milesischen Anwälte, die das gesamte Verfahren begleitet hatten, einen eigenen Abschlussbericht verfasst, der dann

30 Zurückhaltend Frei 1996, 97: „Irgendwie war der König an der Sache beteiligt“. 31 Thuk. 8,18; 37;58 (StV II 200–202). Im dritten Vertrag erscheint der Großkönig als Element der Datierung. 32 Piccirilli 1973, 156, im Apparat. 33 Angaben hier Anm. 16. 34 Milet I 3, 122 II 23–26. 35 Milet VI 3, 1220; 380/79 v. Chr.

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Grundlage für einen milesischen Beschluss geworden sein könnte. Eine Entscheidung hinsichtlich der hier aufgezeigten Alternative scheint mir nicht möglich. Sicher ist aber, dass die Strusesinschrift nur in Milet aufgestellt wurde. Wie ordnet sich unser Text in die Geschichte der zwischenstaatlichen Schiedsgerichte ein? Die beiden zeitlich frühesten Fälle, die Piccirilli in seine Sammlung aufgenommen hat, betreffen Schiedsgerichte zwischen griechischen Poleis und fallen in das 8. und 7. Jh. v. Chr.36 Sie sind aber erst spät bezeugt, durch Plutarch und Pausanias, und es ist sehr fraglich, ob sie historisch sind. Im 5. Jh. erscheinen Schiedsgerichte dann aber in zwischenstaatlichen Verträgen. So waren unter anderem im athenisch-spartanischen Vertrag von 446 (sog. Dreißigjähriger Friede) und im athenisch-spartanischen Friedensvertrag von 421 Klauseln enthalten, nach denen bei Streitfällen schiedsgerichtliche Klärungen vorgenommen werden sollten.37 Bekanntlich hat das nicht funktioniert, da es neben den Großmächten keine Instanz gab, die derartiges hätte durchsetzen können. Anders war die Situation im Perserreich, genauer gesagt im Verhältnis zwischen Persern und griechischen Poleis in Kleinasien. So berichtet Herodot (6,42,1), dass der Satrap Artaphernes nach dem Ende des Ionischen Aufstands die griechischen Städte dazu verpflichtete, sich in Zukunft bei Streitfällen friedlich zu einigen. Der rund hundert Jahre jüngere Schiedsspruch des Struses stellt sich so als Konkretisierung dieses verordneten Verfahrens dar. Sowohl die Herodot-Passage als auch den Spruch des Struses haben Wiesehöfer und Frei zu Recht als Beispiele für persische Verwaltungspraxis und Herrschaftstechnik interpretiert.38 Man wird aber noch weiter gehen dürfen: Die Praxis, Schiedsgerichte zu installieren, war weder genuin griechisch noch genuin persisch, sondern ergab sich aus den Strukturen: Sowohl in hegemonialen wie in föderalen Systemen (Staatenbünde und Bundesstaaten) bestand ein Interesse daran, im Innern Ruhe und Frieden zu sichern. Dafür boten Schiedsgerichte ein geeignetes Mittel. Im besprochenen Fall ergibt sich aufgrund der Situation zusätzlich, dass mit der Anrufung des Satrapen Milet bzw. Milet und Myus die persische Oberhoheit faktisch anerkannten; zudem war klar, dass der Satrap die Entscheidung würde durchsetzen können, wie immer sie auch ausfiel.39 Die Entscheidung des Satrapen, das Ionische Koinon einzuschalten, war herrschaftstechnisch geschickt, da er damit auf das Autonomie-Denken der Griechen Rücksicht nahm; dass er sich die letzte Entscheidung vorbehielt, zeigte dann wieder die persische Machtstellung. Im übrigen hatte die Delegierung an das Koinon auch den Vorteil, dass sich der Satrap inhaltlich nicht mit der Sache befassen musste. Abschließend sei ein Blick auf das Verhältnis zwischen Milet und Myus geworfen, das in den Grundzügen gut bekannt ist.40 Im 3. Jh v. Chr., und zwar zwischen 289/88 und 212/11, verlor Myus seine Selbständigkeit und wurde in den milesischen Staat integriert. Wir wissen 36 Piccirilli 1973, 1–6 Nr. 1 (Messenier und Lakedaimonier; ca. 740); 7–11 Nr. 2 (Chalkis und Andros; ca. 655/650). Die Datierungen so bei Piccirilli. 37 Vertrag von 446: verschiedene Stellen bei Thukydides, vgl. StV II 156. Die Passage über anzuwendende Schiedsverfahren ist Thuk. 1,140,2. Friedensvertrag von 421: Thuk. 5,18–19 (StV II 188). Schiedsgerichte: Thuk. 5,18,4. Weitere Beispiele für Staatsverträge des 5. Jh., in denen schiedsgerichtliche Lösungen vorgeschrieben wurden, nennt Harter-Uibopuu 2002, 186 Anm. 39. 38 Wiesehöfer 1996, 51f.; Frei 1996, 96f. 39 So schon Martin 1940, 551. 40 Überblicke über die Geschichte von Myus bieten vor allem Ruge 1935, Günther 1995 und Lohmann 2002, 226–229.

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das aus einer in Milet gefundenen und von Herrmann veröffentlichten Inschrift, die einen Beschluss der Myessier darstellt.41 Es ergibt sich daraus aber, dass die Myessier nicht mehr unabhängig waren, sondern als Demos von Milet oder in einer ähnlichen Rechtsstellung agierten. Seit einigen Jahren kennen wir sehr wahrscheinlich auch den urkundlichen Beleg aus Milet über die Einbürgerung: Eine milesische Bürgerrechtsurkunde aus dem frühen 3. Jh. v. Chr., die nur fragmentarisch erhalten ist, muss mehrere hundert Personen verzeichnet haben, und zwar familienweise und durchgängig ohne Ethnika; nach der überzeugenden Interpretation von W. Günther dürfte es sich dabei um die Bürger von Myus handeln. 42 Als Ortslage verschwand Myus dann in der frühen Kaiserzeit. Laut Pausanias (7,2,11) siedelten die noch verbliebenen Einwohner aufgrund einer Mückenplage, also wegen Verlandung und Versumpfung des Gebiets, nach Milet über. Dabei nahmen sie alles Tragbare mit, einschließlich der Götterbilder. Zu seiner Zeit, so der Perieget, habe es dort nur noch den Marmortempel des Dionysos gegeben.43 Soweit erkennbar ist diese Entwicklung friedlich verlaufen, auch wenn die Milesier im 3. Jh. möglicherweise Druck auf Myus ausgeübt hatten.44 Wir wissen nicht, ob die Schwächung von Myus schon um 390 begann, als man im Streit mit Milet unterlag. Ganz ohne Bedeutung kann das umstrittene Land nicht gewesen sein, denn sonst hätte man nicht den Satrapen eingeschaltet. Möglicherweise ist das schon kleine Myus damals noch kleiner geworden.

41 Herrmann 1965, 90–96 Nr. 2a (Ehrung des milesischen Stephanephoros Apollodoros, Sohn des Metrophanes; 212/11 v. Chr.). Die Inschrift jetzt Milet VI 3,1029, mit Kommentar von W. Günther, der sich Herrmanns Interpretation anschließt. Die Inschrift Milet VI 3,1040, ebenfalls zuerst von Herrmann publiziert (1965, 96–117), aus der Zeit um 158 v. Chr. stellt ebenfalls einen Demenbeschluss der Myessier dar. Die Eingemeindung als solche ist auch aus Strabon (14,1,10) bekannt, der von Sympolitie spricht. – Zum terminus post quem vgl. hier Anm. 16 (Hippostratos-Inschrift). 42 Günther 2009, 173–177 Nr. 3. Die These von Mazzucchi 2008 (vgl. SEG 59, 2009, 1354), dass die Sympolitie in die ersten Jahre nach 234/33 zu datieren ist, dürfte hinfällig sein, da die von Günther publizierte Neubürgerliste aus dem frühen 3. Jh. stammt. 43 Zum archäologischen Befund und zur Verbringung von Baugliedern nach Milet Lohmann 2002, 227; zum Dionysostempel Weber 2002 (Säulenordnung). In augusteischer Zeit existierte Myus noch, denn Strabon gibt an (14,1,10), dass man den Ort noch mit Ruderbooten erreichen könne. – Rätselhaft bleibt die Erwähnung eines „Neu-Myus“ in einem fragmentarisch erhaltenen Epigramm aus Smyrna (IvSmyrna 859; Merkelbach/Stauber 1998, 501 Nr. 05/01/03), 1: - τὴν νέαν Μυησίην πόλιν. Dazu Merkelbach/Stauber mit der Bemerkung: „Das Fragment bezeugt nun den Versuch, eine 1έα Μυοῦς an anderem Ort zu gründen.“ 44 Bol hat in zwei Aufsätzen (2005 und 2008) die These vertreten, dass es sich bei dem sog. Torso von Milet um das Kultbild des Apollon Termintheus aus Myus handelt und dass dessen Aufstellung im Theater von Milet als Demonstration der Vereinnahmung von Myus zu deuten sei. Das passt aber weder zur epigraphischen noch zur literarischen Überlieferung. Sofern der Torso wirklich das Kultbild darstellt, kann dessen Aufstellung im Theater auch positiv gedeutet werden: Gerade die Aufstellung im Theater könnte eine Würdigung dargestellt haben. Missverständlich ist die Formulierung von Bol 2008, 145, dass die Bewohner von Myus aus ihrer Stadt geflohen seien.

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Historia als Waffe. Zu den politischen Möglichkeiten der griechischen Geschichtsschreibung im Imperium Romanum* Ernst Baltrusch

„Historia als Waffe“ – mit den folgenden Überlegungen möchte ich an einen aktuellen Diskurs zur Geschichtsschreibung, die „intentionale Geschichte“ anknüpfen. Geschichtsschreibung kann bekanntlich Gruppen-Identität durch grundlegende Mythen konstruieren, ist also „politisch“. Kann sie auch dazu beitragen, eine Gruppe innerhalb eines größeren Systems zu stärken? Als Modell dafür kann das Imperium Romanum dienen. Der Kosmos „Mittelmeerraum“ war seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. ein vielgestaltiges, politisch vereintes Universum, in dem vor allem die Sprachen Latein und Griechisch Welten öffneten. Ungeachtet einer tatsächlichen oder vermeintlichen „virtual connectivity“ dieses Raumes an sich1 hat es jedenfalls einen politischen Einigungsprozess unter den Römern seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. gegeben, der eine Einheit in Vielfalt für viele Jahrhunderte herstellte und die zentrale Frage aufbrachte, wie man sich als Unterworfene integrieren und dabei doch seine Identität im Imperium Romanum wahren konnte. Mit solchen Fragen beschäftigen sich grundsätzlich schon lange die Sozialwissenschaften. Danach gibt es eine „Kunst der Schwachen“2 auch in den internationalen Beziehungen. Diese Kunst umfasst Verfahren und Strategien, dem eigenen, im Wortsinne ohnmächtigen Gemeinwesen in einer übermächtigen Umwelt einen festen Standpunkt zu verschaffen.3 Meines Erachtens kann zu diesen Verfahren auch die Geschichtsschreibung gezählt werden, wenn man ihre Stoßrichtung ausfindig machen kann. Hans-Joachim Gehrke hat eine bestimmte Form der Geschichtsschreibung als „intentionale Geschichte“ definiert: „Als intentionale Geschichte würde ich […] diejenigen Vorstellungen von Vergangenheit bezeichnen, die gerade für die Identität einer Gruppe wesentlich, ja konstitutiv sind.“4 Diese Identitätskonstruktion schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl und grenzt gleichzeitig von „Anderen“ ab. Wichtig für diese Form der Geschichtsschreibung ist auch, dass die Identität einer Gruppe auch über die Beziehungen zur Außenwelt mittels der historischen Rekonstruktion hergestellt wird. So könnte man griechische Geschichtsschreibung, die unter römischer Herrschaft entstand, befragen, wie sie zur römischen Herrschaft steht und den Bezug der Griechen zu den Herrschenden, zu Rom, (re-)konstruiert hat. Lassen sich darin Konzepte ausmachen, durch die der eigenen Gruppe ein besonderer Platz in der * Mein Beitrag greift wichtige Themenfelder Linda-Marie Günthers wie Geschichtsschreibung, Hellenismus und Judentum der Antike auf. Es ist mir eine Ehre an dieser Festschrift teilhaben zu dürfen. 1 Nach Braudel 1949. Vgl. dazu jetzt Faber/Lichtenberger 2015. 2 So nach de Certeau 1980. 3 Für die Juden hat Steven Weitzman vor einigen Jahren verschiedene Verfahrensmöglichkeiten herausgearbeitet, um das kulturelle Überleben zu sichern: Weitzman 2005. Dazu unten. 4 Gehrke 2004, 21–36, hier: 22. Vgl. zuletzt Gehrke 2014, 1–8.

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Ernst Baltrusch

Geschichte oder gegenüber Rom zugewiesen wird? In gleicher Weise können wir mit der jüdischen Geschichtsschreibung seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. verfahren. Seit den Makkabäerbüchern, Erzeugnissen der vorchristlichen Jahrhunderte, befassten sich jüdische Geschichtsschreiber mit Rom, der immer dominanter werdenden Vormacht im Mittelmeerraum. Griechen und Juden waren zwei Völkerschaften mit drei Gemeinsamkeiten im Imperium Romanum. Erstens wurden sie beide von den Römern ihrem Reich eingegliedert, zweitens haben beide Texte in griechischer Sprache hinterlassen, die wir befragen können, und drittens möchte ich im Folgenden zeigen, dass beide auch ähnliche Wege beschritten, um von den Römern akzeptiert zu werden. Damit enden freilich die Gemeinsamkeiten, denn bekanntlich agierten die einen mehr, die anderen weniger erfolgreich. Beide versuchten den Weg „von der Peripherie ins Zentrum“ des Imperiums zu gehen, aber nur die Griechen kamen dort auch an. Am Anfang steht die Frage, wie der Kosmos Imperium Romanum, der immer größer wurde und die unterschiedlichsten Regionen und Völkerschaften zu integrieren hatte, dauerhaft funktionieren konnte. Dieser Kosmos war bekanntlich kein „Staat“ im heutigen Sinne mit einer klaren territorialen Grenzziehung, politischen Struktur und Einbindung in eine „Staatengemeinschaft“. Es handelte sich vielmehr um ein diffuses Gebilde mit unterschiedlichen Substrukturen, die im Osten andere als im Westen waren. Der Idee nach war es räumlich überhaupt nicht begrenzt, weder naturräumlich noch durch selbst gesetzte Grenzen. Folgerichtig prophezeite Jupiter – von den Römern als ihr höchster Gott verehrt – im „Nationalepos“ der Römer, in Vergils Aeneis, Rom ganz am Anfang, dass ihm „keine Grenzen, weder nach Ort noch nach Zeiten“ gesetzt seien, ein imperium sine fine sei ihm beschieden.5 Und in der Tat ist „Imperium“ an sich kein räumlicher Begriff; vielmehr definierte es die umfängliche „Befehlsgewalt“ eines römischen Beamten, sei es eines Konsuls, sei es eines Prätors, sei es eines Diktators. Erst mit der Zeit kam der räumliche Aspekt hinzu, weil die höchsten römischen Beamten zwar grundsätzlich überall „befehlen“ konnten, im Zuge des Reichsbildungsprozesses aber ihre Aufgaben ganz pragmatisch räumlich (freilich ohne formale „Begrenzung“) aufteilten. Die Beziehungen der Zentrale zu den Regionen des Reiches waren sehr ausdifferenziert und gerade diese Ausdifferenzierung ermöglichte beides – eine intensive herrschaftliche Durchdringung des Reiches und gleichzeitig eine wechselseitige Durchdringung. Rom bediente sich dazu militärischen Druckes, rechtlicher Formen (Verträge), informeller Beziehungen (Freundschaft), politischer Bindungen (Bürgerrechtspolitik), sozialer Abhängigkeiten (Klientelverhältnis) und integrativer Rituale (beneficia), die in ihrer Gesamtheit und wegen ihrer Flexibilität langfristig integrierend wirken konnten – und diese Beziehungen konnten von den „Untertanen“ mitgestaltet werden. Dies war die entscheidende Voraussetzung für eine strategische Geschichtsschreibung. In einem derart komplexen System mussten nämlich auch Griechen und Juden ihren Platz finden, die Griechen seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. (Höhepunkt war 146 v. Chr. die Einrichtung der Provinz Achaia), die Juden seit 63 v. Chr. als abhängiges Klientelfürstentum, seit 6 n. Chr. als Provinz. Beide waren militärisch unterworfen worden. Um den Prozess ihrer Integration geht es hier nicht, sondern um die Frage: Was erreichten sie und welche Rolle spielte dabei die Geschichtsschreibung?

5 Verg. Aen. 1,278f.

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Geschichtsschreibung war, das ist eine Binsenweisheit, auch in der Antike politisch, auch damals wollten Historiker die Deutungshoheit über ihr Thema gewinnen und verfolgten damit politische Ziele unterschiedlichster Art. Thukydides sagt explizit: Als ein Besitz für alle Zeit solle sein Werk der Nutzung kommender Generationen zur Verfügung stehen. Er war Athener in einer autonomen, international vernetzten und verwickelten Polis-Welt, und sein Werk über den Peloponnesischen Krieg spiegelt diesen historischen Hintergrund wider. Für seine Methode ist der athenische Historiker oft genug gar nicht als Historiker, sondern als Politikwissenschaftler gedeutet worden.6 Ganz anders war der politische Hintergrund des Polybios, des Geschichtsschreibers aus Megalopolis auf der Peloponnes (ca. 200–120 v. Chr.). Er schrieb, für uns unschätzbar, eine Römische Geschichte aus der Perspektive frisch gewonnener Untertanen. Die griechische Autonomie war nach der Schlacht bei Pydna 168 v. Chr. faktisch dahin, Rom bildete jetzt für Polybios, so können wir nachlesen, den Höhepunkt, wenn nicht den Endpunkt der Weltgeschichte, das heißt: Er akzeptierte die römische Herrschaft. Das war nicht selbstverständlich, denn er hätte auch eine andere Version darbieten können, etwa das Gegenbild von der barbarischen, gewalttätigen römischen Herrschaft, die es für die kulturell hochstehenden Griechen abzuschütteln gelte.7 Der wichtigste Punkt und Ausgang für die ihm auch in Rom zuteilwerdende Akzeptanz seiner Sicht der Dinge war es deshalb, dass er die römische Dominanz anerkannte, sie als Kulminationspunkt einer historisch darauf zulaufenden Entwicklung darstellte. Zu seiner Methode gehört aber auch, dass er den griechischen Anteil am Weltgeschehen und auf dem Weg zur römischen Herrschaft hervorhob; Athen und Sparta z. B. werden weltgeschichtlich in eine Reihe mit den Assyrern, Medern und Persern gestellt. Er lenkt damit von Beginn seines Werkes an das Augenmerk seiner Leser auf eine privilegierte griechische Position in der Geschichte. Gleich zu Beginn seines Werkes formuliert Polybios sein Konzept: „Das Nebeneinanderstellen (παράθεσις) und Verknüpfen (συμπλοκή) sämtlicher Teile miteinander dagegen, die Betrachtung ihrer Ähnlichkeit und Verschiedenheit kann einzig und allein dazu führen, und wer die Geschichte in diesem Sinne sorgfältig erforscht, vermag dann sowohl den Nutzen wie den Genuss, den sie zu bieten vermag, aus ihr zu ziehen.“8 Das ist ein bemerkenswert moderner Ansatz: In den heutigen Post-colonial-Studies und der Globalgeschichte sind ja gerade der Vergleich und die Verflechtung Kernbegriffe. Sie dienen dazu, ein Jahrhunderte eingeübtes „Kolonialverhältnis“, wie es aus eurozentrischer bzw. westzentrischer Perspektive auch nach Beendigung des Kolonialismus in die historische Forschung einfloss, aufzubrechen und historische Prozesse stärker relational und verflechtungsorientiert neu zu untersuchen.9 Dass dieser Ansatz keineswegs neu ist, beweist der Geschichtsschreiber aus Megalopolis, denn Polybios bringt diese Perspektive ein, weil er zu den Unterworfenen gehört, aber auch die Sieger sehr gut kennt. Geschichte ist daher für Polybios im wahrsten Sinne des Wortes „Verflechtungsgeschichte“ (Symploke). Er, die Führungsfigur das Achäischen Bundes, lebte ja als Geisel in Rom in der räumlichen und geistigen Nähe zum Scipionenkreis und wurde allmählich zu einer „hybriden“ Persönlichkeit, römisch und griechisch zugleich denkend und 6 Vgl. jetzt Wendt 2016, 21–25; ferner: Thauer/Wendt 2016. 7 Polybios und sein Verhältnis zu Rom ist seit Jahrzehnten diskutiert worden, zumeist in Verbindung mit der Imperialismus-Problematik, vgl. für die ältere Forschung Musti 1978. 8 Pol. 1,4,11. 9 Vgl. Conrad/Eckert 2007, 7.

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fühlend, aber mit seinem Werk auch auf eine Hybridisierung seiner römischen Gastgeber hinwirkend. Ursprünglich ein dezidierter Gegner Roms, ist seine Geschichtsdarstellung aber nicht aus einer solchen antirömischen Sicht geschrieben, vielmehr akzeptiert sie die römische Vormacht als Ergebnis eines unumkehrbaren historischen Prozesses eindeutig. Dabei bleibt Polybios aber nicht stehen, denn er sucht nach dem Platz für seine Landsleute im Verhältnis zu den übrigen Regionen unter römischer Herrschaft. Er zielt mit seiner Geschichtsdeutung darauf, diese Vormacht einzuhegen, ja vielleicht sogar zu domestizieren, indem er sie an die Geschichte machtvoller Vorgänger wie Sparta, die Perser und Alexander anbindet. Deren Fehler dürfe Rom nicht wiederholen, sonst bleibe das „Paradoxon der Ereignisse“10 ohne lang anhaltenden Effekt. Mit dem Verweis auf die „Symploke“, auf die Verflechtungsgeschichte, ist bei Polybios also eine strategisch zu verstehende Mahnung verbunden: Ein volles Verständnis der Geschichte erringe man nicht über den romzentristischen Blick auf das tatsächliche Herrschaftsverhältnis, d. h. auf Rom als Vormacht und auf die Völker der Welt ohne Unterschied als Untertanen, sondern nur unter Berücksichtigung auch der Regionen selbst in vergleichender Perspektive.11 Das klingt sehr modern, fast wie ein Prototyp des Postkolonialismus, aber es macht – wie sein ganzes Werk – auf eine eigentümliche Weise deutlich, was der Reichsbildungsprozess an den Rändern (aus römischer Perspektive) bewirken konnte. Sehr selbstbewusst gibt ja Polybios der Geschichtsschreibung neue Gesetze, die über die bloße „Wahrheit“ der Ereignisse hinausgehen: Er möchte von einer „nur“ Römischen Geschichte wegkommen und zu einer „Geschichte von unten“, oder besser: zu einer Universalgeschichte gelangen.12 Möglicherweise war dieses Konzept strategisch darauf ausgerichtet, für die Griechen einen privilegierten Platz im römischen Imperium zu beanspruchen. Dieser Perspektivenwechsel in Verbindung mit der Anerkennung des „Paradoxons“, in nur 53 Jahren die Weltherrschaft gewonnen zu haben, könnte Polybios unter „seinen“, den griechenaffinen Römern Anerkennung verschafft haben. Denn mit diesem Konzept war Polybios, wie man weiß, erfolgreich, und sicher hat auch er mit seiner Geschichtsschreibung dazu beigetragen, den Griechen ihren angestrebten Platz erreichen zu helfen. Polybios hatte, wie man weiß, auf die antike Geschichtsschreibung eine starke Ausstrahlung.13 Appian etwa vollendete das polybianische Konzept einer „Geschichte von unten“ oder Universalgeschichte, indem er dreihundert Jahre später Römische Geschichte als eine Darstellung regionaler Geschichten, die sich später zu einem großen Ganzen zusammenfügen sollten, präsentierte. Besser ließ sich das polybianische Konzept der Symploke nicht umsetzen. Plutarch aus Chaironea (ca. 45–125 n. Chr.) war die Verflechtung (Symploke) alleine allerdings noch nicht genug, er wählte den Vergleich (Parathesis). Der kaiserzeitliche Biograph vereinnahmte nämlich nicht nur Alexander den Großen für seine Griechen (was Polybios nicht tat), sondern verweigerte sich überhaupt einer annalistischen oder monographischen Geschichtsschreibung, die letztlich doch die römische Dominanz hätte anerkennen müssen, und die Biographie schien ohnehin mit dem System des Prinzipats besser zu harmonieren als 10 Pol. 1,1,4: τὸ παράδοξον τῶν πράξεων. 11 Pol. 1,4,11: Verflechtung und Vergleich, dazu die differenzierte Betrachtung der verschiedenen Regionen und Völker (ἐκ) ὁμοιότητος καὶ διαφορᾶς. 12 In diesem Sinne auch Meister 1990, 159f.: „Diese Verflechtung der Ereignisse auf den verschiedensten Schauplätzen und die Ausrichtung des gesamten historischen Geschehens auf Rom hin erfordere eine universalgeschichtliche Darstellung, da nur sie eine befriedigende Erklärung des Ganzen vermitteln könne.“ 13 Vgl. Meister 1990, 165.

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die Annalistik oder historische Monographie. Also schreibt Plutarch Biographien, aber Biographien der besonderen Art: Nämlich in der Form der Parallelbiographie wird immer ein Grieche mit einem Römer verbunden und verglichen, und das von der frühesten griechischen und römischen Geschichte (also von Theseus, Lykurg, Romulus und Numa) bis zur „Neuzeit“. Beide Geschichten verschmelzen auf diese Weise zu einer Universal-Geschichte und haben auch äußerlich und vom Umfang her gleichen Anteil daran. Das bedeutet aber gleichzeitig auch, dass andere Akteure der Geschichte nicht an diesem Konzept partizipieren dürfen, sie sind ausgegrenzt, und das mit vollem Bewusstsein. Dazu nimmt Plutarch im Vorwort seiner Alexander-Vita dezidiert Stellung: οὔτε γὰρ ἱστορίαν γράφομεν ἀλλ᾽ βίους („ich schreibe nicht Geschichte, sondern Biographien“) sagt er, und zwar um der δήλωσις ἀρετῆς ἢ κακίας („Hervorhebung von Tugend oder schlechtem Charakter“) willen. Unabhängig von ihrer wahren politischen Bedeutung hebt er die handelnden Personen auf eine einzige Ebene, die der moralischen Qualität. Als Grieche, der er war, machte er sich (und die Seinen) auf eine gewisse Weise gleich mit den römischen Herren mittels dieses literarischen Kniffs. Man erkennt daraus, wie politisch aussagekräftig, wie ausgrenzend (alle Nichtgriechen und Nichtrömer) und gleichzeitig erhebend (die Griechen) die bloße Form der Geschichtsschreibung, hier das biographische Konzept, sein kann. Das funktioniert selbst bei der Paarung Caesar und Alexander, da Alexander ja die griechische Rolle ausfüllt. Beabsichtigt ist dabei natürlich, dass durch diese Form der Geschichtsschreibung Ungleichheiten und Grenzziehungen aufgehoben werden, die sich aus der Machtsituation ergeben müssten. Denn Vergleiche auf der Ebene des Charakters von Einzelpersonen können die ungleichen Machtverhältnisse einfach ausblenden, können kleine Episoden und Banalitäten zur Verdeutlichung der Gleichheit in den Mittelpunkt rücken. Griechen sind dann wirklich genau gleich im Verhältnis zu den Römern, auch wenn ihre Schlachten, die sie schlugen, oder ihre Reformen historisch „geringer“ und weniger folgenreich waren; die annalistische Geschichtsschreibung hätte gewiss stärker nach der historischen Relevanz fragen müssen und dann wäre eben doch eine Ungleichheit zwischen Pompeius und Agesilaos, zwischen den Gracchen und spätspartanischen Königen in den Blick geraten, wenn sie verglichen worden wären. Die Lebensbeschreibung als Gattung kann aber darauf verzichten, weil sie grundsätzlich, nicht historisierend arbeitet – Agesilaos kann deshalb nach der biographischen Methode genau so viel Raum beanspruchen wie Pompeius, auch wenn seine historische Bedeutung global geringer war. Diese Gleichstellung zieht sich übrigens durch das gesamte Schrifttum Plutarchs, er ist – übertragen – so etwas wie der Gleichstellungsbeauftragte für Griechen. Seine Geschichtsschreibung richtet sich, wie schon Nietzsche erkannte, subtil an die Zukunft: „Sättigt eure Seelen an Plutarch“, schreibt Nietzsche 1874 in seinem „Vom Nutzen und Nachteil der Historie“-Traktat, „Sättigt eure Seelen an Plutarch und wagt es, an euch selbst zu glauben, indem ihr an seine Helden glaubt“. Damit konnten sich die Griechen der Zeit identifizieren und über die Sättigung an ihren Helden Selbstbewusstsein tanken, während sich die Römer, wenn sie Plutarch lasen, in diesen Schriften wiederfinden konnten, heroisch, aber auf gleicher Ebene wie die Griechen. Wir lesen die Parallelbiographien Plutarchs ganz selbstverständlich aus dem Geist der Antike, die für uns nun einmal griechisch-römisch geprägt ist, aber im Imperium Romanum stellten sie ein Mittel dar (neben anderen selbstverständlich), um den Griechen diese Stellung überhaupt sichern zu helfen.

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Hatte die griechische Geschichtsschreibung mit ihrem Modell Erfolg, sei es mit dem Symploke-Gedanken, sei es mit dem Vergleich in der Parallelbiographie? Sicherlich, der Erfolg liegt ja auf der Hand – die Griechen wurden in ihrer Besonderheit bekanntlich von Rom und seiner Elite akzeptiert und hellenophile Kaiser wie Nero oder Hadrian hatten ihre liebe Mühe, politisch diese Vorlieben nicht offen auszuspielen, was den unverzichtbaren Gleichheitsgrundsatz unter den Untertanen gefährdet hätte; ein Gegenbeispiel bietet gerade Nero, der den politischen Streit zwischen Juden und Griechen in Caesarea eindeutig zugunsten der Griechen entschied und damit im Jahre 66 den Jüdischen Krieg auslöste. 14 Aber die Griechen erhielten einen besonderen Platz: Sed tuus hic populus, sapiens et iustus in uno te nostris ducibus, te Grais anteferendo („aber dein Volk, das darin so weise und gerecht ist, Dir [angesprochen ist der princeps] den Vorzug zu geben vor Roms Feldherren, vor den Feldherren Griechenlands“).15 Horaz lässt in seiner berühmten Epistel 2,1 an Augustus, in der er gegen eine Überbewertung alter Literatur zum Nachteil der Gegenwart polemisiert, ganz en passant (und darum umso gewichtiger) den zitierten Vers einfließen: Allein Augustus habe das Glück, dass ihn alle den großen römischen, den großen griechischen Feldherren vorziehen. Die Gleichstellung, die Plutarch im Blick hatte, war also schon längst erreicht! Hier ist der Erfolg greifbar, das Griechische ist auf eine Ebene mit dem Römischen gehoben, sogar auf deren ureigenstem Feld, dem Militär. Wenig später ist sogar davon die Rede, dass das eroberte Griechenland selbst den wilden Sieger eroberte und ihm Kultur beibrachte. 16 Beispiele wie diese ließen sich beliebig vermehren. Sie zeigen, dass Polybios und seine Kollegen erfolgreich waren und den Griechen eine Ehrenstellung im Reichsgefüge einbrachten. Sie hatten mittels des Verflechtungsgedanken und des Vergleichs in der historischen Analyse die historische Rolle der Griechen aufgewertet, und es war ihnen auch gelungen, eine Deutungshoheit für die historischen Entwicklungen der vorrömischen Zeit zu gewinnen. Geschichtsschreibung wurde als politische Waffe erfolgreich genutzt. Wie stand es mit den Juden? Sie lebten aus römischer Sicht in ihrem Kernland zwar noch weiter an der Peripherie als die Griechen, aber gleichzeitig auch im Herzen des Reiches selbst. 5 oder 6 Millionen mögen es gewesen sein, die sich, wie Strabon, Philo und Josephus einmütig sagen, in jede Stadt des Reiches ausgebreitet hatten. Für all diese Juden muss das Jahr 70 n. Chr. mit der Tempelzerstörung dramatisch gewesen sein, wie eine Stunde Null: Der jüdische Krieg hatte zunächst einer gewaltigen, nach Josephus in die Millionen gehenden Zahl von Juden das Leben oder die Freiheit genommen, das Land gehörte fortan nicht mehr der Bevölkerung, Jerusalem und viele andere Städte lagen in Schutt und Asche. Und dann die ungewissen Aussichten für die Zukunft: Die Religion, das Fundament jüdischen Selbstverständnisses und der politischen Autonomie bis dahin17, war ihres wichtigsten Symbols und Identifikationszentrums, des Tempels, amputiert mit noch gar nicht abzusehenden Konsequenzen gerade für die priesterliche Elite, zu der Josephus ja gehörte. Denn wie konnte man sich jetzt religiös und politisch neu formieren? Das Jahr 70 muss also für die jüdischen Zeitgenossen der „Super-Gau“ gewesen sein, die größtmögliche Tragödie für jeden Juden,

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Ios. bell. Iud. 2,284: Die Entscheidung Neros „wurde der Anlaß zum Ausbruch des Krieges.“ Hor. epist. 2,1,18f. Hor. epist. 2,1,156f.: Graecia capta ferum victorem cepit et artis intulit agresti Latio. Dazu Baltrusch 2011.

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für jeden jüdischen Priester18 – militärisch, politisch, wirtschaftlich, religiös. Anders können die Zeitgenossen kaum empfunden haben. War das das Ende einer respektierten Stellung in der Welt? Dieser Respekt im gesamten Mittelmeerraum, im Imperium Romanum, überall da, wo Juden lebten, hing ja spätestens seit den Privilegien, die Caesar und Augustus Juden erteilt und die eine besondere Form von Respektierung mit sich gebracht hatten, an der Religion und an ihrem Zentrum, dem Tempel. Hatten die im jüdischen Krieg siegreichen Römer den Tempel vielleicht sogar darum zerstört, um das Judentum als γένος, wenn schon nicht als ἔθνος (wie es einst griechische Berater dem seleukidischen König Antiochos VII.19 oder wie es Haman dem persischen König Achaschwerosch geraten hatten 20) auszurotten? Wer nun sollte und konnte sich zu diesen existenziellen Fragen eher und kompetenter äußern als ein jüdischer Priester, der gute Beziehungen zur imperialen Macht unterhielt? Der in der Lage war, eine Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen und sich dabei der Geschichtsschreibung zu bedienen? Aus der priesterlichen Gruppe konnten und mussten schließlich der Judenheit im ganzen Reich Auswege aufgezeigt, Perspektiven für das Weiterleben eröffnet werden. Josephus versuchte sich an Antworten mit einer Literaturgattung, die ein neues Fundament auf den Trümmern des alten Gebäudes legen sollte. Der amerikanische Religionswissenschaftler Steven Weitzman hat in seinem Buch von 2005 „Surviving Sacrilege“ für die Zeit der Fremdbestimmung zwischen 586 v. Chr. bis 70 n. Chr. verschiedene jüdische Überlebensstrategien zur Erhaltung der Identität in fremder Umgebung herausgearbeitet, pragmatische Strategien wie Anpassung, Täuschung oder Guerilla-Kriegführung, aber auch solche, die er im Anschluss an den Soziologen Michel de Certeaux21 die „arts of the weak“ nennt (wie z. B. die sprachliche Überhöhung des jüdischen Tempels, um ihn zu einem ästhetischen Meisterwerk werden zu lassen, oder die Beschwörung von nicht vorhandener Macht wie in der „Kriegsrolle“, die in Qumran gefunden wurde).22 Das kulturelle Weiterleben des Judentums war nach dem desaströsen Krieg mehr als in Gefahr, das wusste niemand besser als Flavius Josephus. Was konnte er aber tun, um den Juden nach dem Krieg einen Platz unter den Völkern im Imperium Romanum sichern zu helfen? Meines Erachtens konnte für Josephus die „Übersetzung“ jüdischer Geschichte in die römische Vorstellungswelt dabei helfen, dem Judentum nicht nur den vermeintlichen Schrecken einer menschenfeindlichen Lebensweise zu nehmen, sondern es durch Alter, Größe und Philosophie auszuzeichnen und an die Seite der (schon privilegierten) Griechen zu stellen. Dieses historiographische Verfahren möchte ich an zwei Beispielen kurz erläutern: seiner autobiographischen Selbstpräsentation und dem Prooemium des jüdischen Krieges.23 Erste Hinweise auf die josephische Methode liefert die Darstellung seines Lebens in seiner „Autobiographie“.24 Das über 60-jährige Leben des Josephus war klar strukturiert in eine 18 Zu Recht betont von Parente 2005, 45–69. 19 Der sizilische Autor Diodor (34/35,1,1–5) berichtet darüber; dezidiert gibt er als Rat der Berater des Königs wieder, er solle die Juden μάλιστα μὲν ἄδην ἀνελεῖν, εἰ δὲ μή, καταλῦσαι τὰ νόμιμα καὶ συναναγκάσαι τὰν ἀγωγὰς μεταθέσθαι („möglichst komplett vernichten, oder, wenn das nicht möglich ist, ihre Gesetze verbieten und sie zu zwingen ihre Lebensweise zu ändern“). 20 So im jüdischen Buch Esther 3,9. 21 De Certeaux 1980. 22 Weitzman 2005. 23 Baltrusch 2015, 369–390. 24 Dazu ausführlicher Baltrusch 2015, 375–377.

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jüdische Phase (37–70) und eine römische Phase (70–ca. 100), im wahrsten Sinne des Wortes war Josephus eine „hybride“ Persönlichkeit, und diese Hybridität trug er bereits im Namen. Am Ende seines Lebens, als er seine Autobiographie schrieb, war ihm daran gelegen, seine „jüdische Phase“ einem römischen Publikum mit sprachlichen Mitteln zu vergegenwärtigen. Nicht eine ferne Vergangenheit, die für Römer unverständlich war, präsentierte er, sondern Herkunft, frühe Erziehung und erste Karriereschritte konstruierte er in einem universellen, nicht spezifisch jüdischen Verfahren. Er schrieb auf Griechisch, und er verwendete vertraute Begriffe, wie Adel, Polis oder Paideia, seine religiöse pharisäische Ausrichtung vergleicht er bewusst mit der stoischen Philosophie. Diese autobiographische Darstellung25 der Jugend ist ein Musterbeispiel zielgerichteter sprachlicher Gestaltung – Josephus verschweigt nicht, ja rechtfertigt nicht einmal seine frühere Anti-Rom-Haltung, auch nicht seine dezidierte Neigung zu den radikalen Frommen, aber er formuliert das in der Sprache und mit dem Habitus der römisch-griechischen Elite26, macht sich damit auf eine gewisse Weise seinem Leser „gleich“, aber er formuliert diese Gleichheit selbstbewusst und gleichsam „in Übersetzung“, passt sich gerade nicht der herrschenden Kultur schmeichlerisch an, verändert also nicht nachträglich seine Identität, sondern übersetzt sie nur in den griechisch-römischen Diskurs. Damit hebt er seine eigenen Prägungen in der jüdischen Gesellschaft buchstäblich von einer regionalen, „barbarischen“ Stufe auf die Ebene der Reichselite empor – ein diskursives Verfahren, um unter dem dominanten griechisch-römischem Dach eine eigene, gleichberechtigte Rolle einnehmen zu können. Josephus adaptiert also selbstbewusst den „kolonialen Diskurs“, um sich verständlich zu machen und seine Kompatibilität mit der Elite auszudrücken. Er als Person wäre, könnten die Leser dieses Verfahren akzeptieren, nicht weniger „wert“ als die doch Juden gegenüber so überheblichen Griechen. 27 Josephus hatte dieses Verfahren bereits 20 Jahre früher auf sein zentrales Metier, die Geschichtsschreibung, angewendet. Damit hatte er diese als eine literarische Überlebensstrategie eines einzelnen jüdischen Priesters etabliert, als eine jener Strategien, die in einer für Juden immer bedrohlichen, ja feindlichen Umwelt die „cultural persistence“ sichern halfen. 28 Hier ging es jedoch nicht um ihn als Person, sondern um die Juden als Volk und Religion. Josephus hat sich in verschiedenen Formen historiographisch mit dem Judentum und seiner Umwelt befasst: Zunächst mit dem „Jüdischen Krieg“, über dessen Ausbruch und Verlauf er die Deutungshoheit gewinnen musste, um ihn aus der Schmuddelecke eines Aufstandes gegen die römische Herrschaft herausbringen zu können; als zweites mit einer umfassenden Jüdischen Geschichte (in den Jüdischen Altertümern) und drittens mit einer Analyse der Judenfeindschaft (Gegen Apion), deren Kern die Entlarvung falscher Vorannahmen und der Nachweis fehlender Kenntnis des Judentums war.

25 Ios. vita 1–29. 26 Vgl. zu dieser Strategie im kolonialen Diskurs besonders Bhabha 1997, 152–162. 27 Nach Josephusʼ Contra Apion 1,2f. ist es auch die Aufgabe jüdischer Autoren, gegen die hochmütige Missachtung seitens der gerühmten griechischen Schriftsteller, die alle Autorität auf sich vereinen, anzuschreiben; vgl. dazu Barclay 2005, 29–43. 28 Dazu Weitzman 2009.

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An dieser Stelle soll zur Verdeutlichung das Ergebnis meiner Überlegungen zum Prooemium des Jüdischen Krieges genügen;29 zunächst der Text:30 „(1) Der Krieg der Juden gegen die Römer erweist sich als der größte im Vergleich nicht nur mit den Kriegen unserer Zeit, sondern auch mit all denen, von denen wir Kunde überkommen haben, sei es daß Städte gegen Städte oder Völker gegen Völker losbrachen. Nun haben Leute, die nicht bei den Ereignissen zugegen gewesen sind, sondern sie nur nach dem Hörensagen zusammengestellt haben, diesen Krieg in planlosen und widersprechenden Berichten ‚sophistisch‘ beschrieben. (2) Andere aber, die zwar Augenzeugen waren, haben aus Schmeichelei gegen die Römer oder aus Haß gegen die Juden die Tatsachen verfälscht; deswegen enthalten ihre Bücher einerseits Anklage, andererseits Lob, nirgends aber genaue geschichtliche Darstellung. (3) Aus diesem Grund habe ich mir vorgenommen, denen, die unter römischer Herrschaft leben, in griechischer Übertragung das, was ich schon früher für die innerasiatischen Barbaren in der Muttersprache zusammengestellt und übersandt habe, darzulegen, ich Josephus, Sohn des Matthias, aus Jerusalem, ein Priester, der ich anfangs die Römer bekriegt und bei den späteren Ereignissen zwangsweise dabei gewesen bin.“ Eine Vielzahl von Anspielungen, Erklärungen, Kompetenzzuweisungen, Traditionslinien und Kritik an anderen enthält dieser Prooemiumsbeginn. Jeder zeitgenössische Leser, der auch nur einigermaßen mit der Gattung der Historiographie vertraut ist, dürfte die Anlehnung an Thukydides verstanden haben. Damit sind mehrere Konsequenzen verbunden, insbesondere aber der universalhistorische Ansatz, der einem regional begrenzten jüdischen Aufstand (der er eigentlich war) den Status eines globalen Weltereignisses zuerkennt. Könnte Josephus besser die historische Einordnung des Judentums als einer starken Minderheit propagieren, die, wenn man aus der Geschichte lernen soll, „auf Augenhöhe“ zu integrieren sei? Dazu kommt, dass das historiographische Konzept31 des Josephus an Thukydides, und das heißt: an die griechische Form angelehnt ist. Er verwendet die zentralen Begriffe „Historia“ 32 (Herodot) oder „Kinema“ (Thukydides) und beansprucht selbstbewusst gleich zu Beginn die alleinige Deutungshoheit des Kriegsgeschehens. Was bezweckt er damit? Zunächst einmal weckt er, der jüdische Autor, „wohlwollendes Interesse“ bei seinem griechisch-römischen Publikum. Sodann geht es ihm offenbar darum, ein Konzept zu entwickeln, die griechische kulturelle Tradition durch seine Adaption von den zeitgenössischen (und judenfeindlichen) Griechen gewissermaßen abzuspalten.33 Damit transformiert er aber die griechisch-römische Historiographie allein durch ihre Nutzung durch ihn selbst und für die jüdische Geschichtsschreibung in einer Weise, dass er seinen zeitgenössischen Kollegen das Monopol streitig zu 29 Vgl. auch Baltrusch 2015, 377–381. 30 Ios. bell. Iud. 1,1,1–3. Nach der Übersetzung von Michel/Bauernfeind 1959–1969, § 3 habe ich, entsprechend dem griechischen Text, umgestellt, weil es hier auf die Reihenfolge zentral ankommt. 31 Zur jüdischen Geschichtsschreibung in hellenistischer Zeit vgl. Sterling 2007. 32 Hdt. Prooem. ἱστορίης ἀπόδεξις, was wörtlich „Darlegung seiner Forschung“ heißt. Der Begriff taucht dann wieder bei Aristoteles in der Poetik 9,3 definitorisch auf: διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ' ἱστορία τὰ καθ' ἕκαστον λέγει (Deswegen ist die Poesie auch philosophischer und ernsthafter als die Geschichte. Denn die Poesie stellt mehr das Allgemeine, die Geschichte das Einzelne dar). 33 Ähnlich auch Rajak 2001, 137–146.

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machen scheint. Dieses Vorgehen ist sehr subtil auf eine Gleichstellung der Juden hin ausgerichtet und kann natürlich so auch für andere Ethnien in der mediterranen Gesellschaft Vorbildcharakter erhalten.34 Dennoch werde er keineswegs sine ira et studio schreiben, was angesichts seiner persönlichen Betroffenheit nicht glaubwürdig wäre, sondern bisweilen auch seinen Gefühlen als Jude freien Lauf lassen. Das macht die Darstellung nicht nur „lesbarer“ (im Vergleich etwa zum Vorbildhistoriker Thukydides, der darauf keinen Wert legte), sondern auch umfassender, weil sie die aristotelische Scheidung zwischen Dichtung und Historie aufhebt und die Darstellung um die Perspektive des persönlich Betroffenen erweitert. 35 Und ein dritter Aspekt kommt hinzu, den der Paragraph 3 des Textes anspricht: die Multiperspektivität. Da es Josephus um Betonung seiner hohen Kompetenz in dem Anspruch ging, den Jüdischen Krieg monopolistisch behandelt zu haben, hat er in diesen einen Satz alle möglichen Richtungen und Perspektiven eingezwängt. Der griechische Text lautet (mit gliedernden Ziffern und Buchstaben): προυθέμην ἐγὼ 1. τοῖς κατὰ τὴν Ῥωμαίων ἡγεμονίαν 2. Ἑλλάδι γλώσσῃ μεταβαλὼν ἃ 3. τοῖς ἄνω βαρβάροις τῇ πατρίῳ συντάξας ἀνέπεμψα πρότερον ἀφηγήσασθαι Ἰώσηπος Ματθίου παῖς a) ἐξ Ἱεροσολύμων ἱερεύς, b) αὐτός τε Ῥωμαίους πολεμήσας τὰ πρῶτα καὶ c) τοῖς ὕστερον παρατυχὼν ἐξ ἀνάγκης. Drei Gruppen, die das Universum bilden, sind benannt – Römer, Griechen, Barbaren. Für alle gilt, so Josephus, seine Deutung, die allein wahrhaftige; sie ist nicht „Romzentristisch“, aber auch nicht „Jerusalemzentristisch“, nicht apologetisch-jüdisch. Die Kompetenz ergibt sich aus seinem persönlichen Weg – ein jüdischer Priester (a), Gegner Roms (b) und Teilnehmer an allen Geschehnissen (c). Eine solche Konstruktion mit einer weitgespannten Leserschaft und der Herausstellung der eigenen Kompetenz schafft Glaubwürdigkeit. Dass Josephus damit auch der flavischen Dynastie und ihrer politischen Nutzung des Krieges entgegenkam, war sicher nicht von Nachteil. Dass Josephus das Ziel hatte, das „System“ Imperium Romanum so zu verändern, dass es auch „seinen“ Juden einen darin gesicherten und akzeptierten Platz geben könnte, gewinnt vielleicht gerade durch den oft in seinem Werk durchscheinenden kompetitiven, bisweilen sogar „anti-griechischen“ Charakter an Wahrscheinlichkeit. Bisweilen scheint uns Josephus sagen zu wollen: „Die Griechen sind doch auch nicht besser als wir: Warum stehen die so gut im römisch beherrschten Mediterraneum?“ Josephus scheint sich geradezu vorgenommen zu haben, es dahin zu bringen, dass „seine“ Juden es mit den Griechen aufnehmen könnten, um eine ähnliche Akzeptanz bei den Römern erreichen zu können. Hieraus erklärt sich die Spannung zwischen seinem bisweilen antigriechischen Wettbewerbskonzept und seiner gleichzeitigen Hochschätzung griechischer (Geschichts-)Kultur. Diese Konstruktion also, die auf die gleichberechtigte Einbeziehung der jüdischen Gemeinden abzielt (denn wenn auch Palästina und Jerusalem im Mittelpunkt stehen, so lässt doch Josephus auch die Diaspora-Gemeinden nicht aus dem Blick), hat eine zentrale Voraussetzung: Sie geht von einer (durch die Zäsur erzwungenen) Akzeptanz der aktuellen Verhältnisse aus, ja mehr noch: sie geht von einer Idee der aktiven Integration in diese Ordnung aus.

34 Einige dieser Aspekte hat auch Barclay 2005 in einem sehr gedankenreichen Aufsatz vor wenigen Jahren herausgearbeitet. 35 Vgl. auch Parente 2005, 45–69.

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Das Imperium Romanum wird jetzt als unbestreitbare, im Wortsinne: „unbekämpfbare“ Realität angenommen,36 Josephus selbst kommentiert diese Realität aber nicht, schon gar nicht, wie Tessa Rajak meint, negativ.37 Er lässt allerdings namhafte, politisch handelnde Persönlichkeiten an verschiedenen Stellen in seinem Werk darüber reden, und er nutzt auch in dieser Hinsicht traditionelle Ausdrucksmöglichkeiten der griechischen Historiographie. Und erneut wird man an Thukydides erinnert, für den Reden ein historiographisch bedeutsames Mittel waren, um Authentizität herzustellen, selbst wenn jeder Leser wissen mochte, dass sie so, wie sie aufgeschrieben wurden, nicht gehalten worden sind. 38 Alte Geschichte ist Zeitgeschichte. Und insofern Historiker den Brüchen der eigenen Zeit auch für die vergangenen Epochen nicht entgehen können, ist das sicher wahr. Nicht von ungefähr nimmt ja auch die im Moment so attraktive Globalgeschichte ihren Ausgang von einer epochalen Beseitigung des Vertrauten, nämlich von der Auflösung der „drei Welten“ 1989. Sie ist ja ein Kürzel, ein Kürzel für Verflechtung, Vergleiche, wechselseitige Beziehungen, gerade nicht euro- und west-zentristisch, nicht nationalgeschichtlich. Auch für Polybios und Josephus müssen Welten zusammengebrochen sein. Sie reagierten darauf, nicht einfach resignierend, erklärend, sondern programmatisch-selbstbewusst. Josephus ist m. E. unter diesem Blickwinkel zu lesen, in seinem Bestreben nämlich, die jüdische Religion und das Judentum im Imperium Romanum nach einer schrecklichen Katastrophe zu bewahren. Jedes seiner vier Werke hatte dabei eine spezifische Funktion in diesem Projekt, das Judentum „gleich“ und kompatibel zu machen, „gleich“, weil es am Krieg keine Schuld trug, weil es uralt (älter jedenfalls als die zu seiner Zeit vorherrschenden mediterranen Kulturen), stabil und zuverlässig war, und weil es die Kardinaltugenden verkörperte, und „kompatibel“, weil es sich in vielerlei Hinsicht nicht von den prägenden Ideen der griechischrömischen Kultur unterschied und deshalb einen gleichberechtigten Platz in der mediterranen Gesellschaft beanspruchen konnte. Gewissermaßen eine römisch-jüdische Symploke war es, was Josephus in Analogie zu dem griechisch-römischen Vorbild von Polybios im Sinne haben musste. Mit diesem Verfahren konnten sich die Autoren neue Handlungsmöglichkeiten erschließen. Die frühere politische Vielfalt des Mittelmeerraumes war definitiv, das wussten sie, zu einem römisch dominierten Universum geworden. Aber es war ein Universum, das in vielerlei Hinsicht seine Vielfalt bewahrt hatte, und in diesem Universum konnten sich alle verschiedenen Teile ihren Platz erstreiten. Josephus selbst z. B. repräsentierte diese Vielfalt in seiner Person, und diese nutzt er für seine Ziele. Im Mittelpunkt blieb sein Jude- und Priester-Sein, daran rüttelt er ebenso wenig wie Polybios an seiner griechischen Identität; aber sie erhöhten damit ihre Kompetenz und Autorität als Historiker, auch weil es ihnen gelingt, sich persönlich mit dieser Herkunft und Erziehung auf die Ebene der „kolonialen“ Elite zu heben. Möglicherweise hatte Josephus das von den Griechen selbst und ihren Erfahrungen bei dem

36 Diesen Aspekt bringt insbesondere die umfängliche, das Imperium minutiös in seinen Machtmitteln beschreibende Rede Agrippas II. bei Ios. bell. Iud. 2,345–404 zum Ausdruck. 37 Vgl. Rajak 2001, darin v. a. Teil II: Josephus, 137–255. 38 Thuk. 1,22,1: „Wie aber meiner Meinung nach jeder einzelne über den jeweils vorliegenden Fall am ehesten sprechen musste, so sind die Reden wiedergegeben unter möglichst engem Anschluss an den Gesamtsinn des wirklich Gesagten.“ So könnte auch Josephus seinen Umgang mit Reden im Werk kommentiert haben. Das thukydideische Vorbild gab ihm die Rechtfertigung für sein Vorgehen und gleichzeitig sicherte es ihm die Akzeptanz seiner Leser.

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erzwungenen Eintritt in das Imperium Romanum seit 168 v. Chr. gelernt: Denn auch die griechischen Autoren wie Polybios, oder später Plutarch argumentierten selbstbewusst mit ihrer „höheren Kultur“, mit dem Alter ihrer Politeia, mit ihrer Geschichte und mit dem Einbringen ihrer Kompetenz, und diesem Konzept war ja ein Erfolg beschieden gewesen, ein so großer Erfolg, dass selbst römische Kaiser wie Nero oder Hadrian zu „Philhellenen“ wurden. Vielleicht erstrebte Josephus etwas Vergleichbares. Dass die jüdische Religion und Kultur anders war, bestreitet Josephus nicht, aber sie war nicht völlig wesensfremd, schon gar nicht menschenfeindlich.39 Im Gegenteil, er versuchte die Kompatibilität zwischen der mediterranen und der jüdischen Politeia zu vermitteln. Das Medium war die griechische Sprache, sie sollte für ihn den Zugang zur Anerkennung eröffnen. Damit hatte Josephus eine Strategie entwickelt, die, wie die folgenden Jahrzehnte zeigten, die Parameter der Realität – denn die Herrschaft der Römer auch über die Juden war ja eine Realität – teilweise aushebelte und auch nicht ganz erfolglos war; bekanntlich lebte ja das Judentum trotz der Tempelzerstörung weiter. Josephus war nicht so erfolgreich wie Polybios, aber er kann doch zufrieden sein.

39 Diesem Nachweis ist die Schrift „Gegen Apion“ in zwei Büchern gewidmet. Darin setzt er sich bezeichnenderweise mit den absurden Vorwürfen der griechischen Judenfeinde auseinander, um dann im Abschluss seine Vision einer perfekten Theokratie als Idealtyp antiker Verfassungsdiskurse zu präsentieren.

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Altäre auf den Straßen für die „Söhne des Volkes“ Eftychia Stravrianopoulou

Die Poleis in Griechenland und Kleinasien erlebten im 1. Jh. v. Chr. eine Verschärfung der römischen Herrschaft besonders nach den Mithridatischen Kriegen und der damit einhergehenden Schaffung von zwei neuen Provinzen. Zugleich intensivierten die Städte, für die die Freiheit nicht eine ferne Erinnerung, sondern ein konkretes politisches Ziel war, ihre Bemühungen, um von den römischen Machthabern gewisse Zugeständnisse zu erhalten und sogar ihre Autonomie wieder zu erlangen.1 Angesichts dieser Rahmenbedingungen stand die Praxis der Gesandtschaft wie auch die Rolle der Vermittler im Allgemeinen vor neuen Herausforderungen: es galt, ein Maximum an Handlungsraum für ihre Städte in einer neuen Welt, die sich allmählich stabilisierte, herauszuholen. Die Dankbarkeit der Städte gegenüber diesen in engem Kontakt mit der römischen Macht und deren Repräsentanten stehenden Vermittlern zeigte sich in einer Reihe von Ehrungen, darunter auch Ehrungen kultischer Natur.2

An Linda-Marie φιλίας καὶ ἀριστουργιῶν ἕνεκεν ἀξίως τειμῆσαι θέλουσα. 1 Vgl. Bowersock 1965; Schulz 2011. 2 Zur Gruppe dieser Personen, die kultische Ehrungen bekamen, gehören: Herodes und Diodoros Pasparos aus Pergamon (85–73 v. Chr.; IGR IV 292–294; I.Pergamon 256; SEG 48, 1490–1491; vgl. Kienast 1970; Jones 1974; Strubbe 1984–1986, 260f.; Gauthier 1985, 62f.; Musti 1988, 1999 und 2000; Virgilio 1994; Chankowski 1998; Jones 2000; Strubbe 2004, 321–323; Ameling 2007,141–146; D’Amore 2009a; Grandinetti 2010; Genovese 2011; Fröhlich 2013a, 259–261). Theophanes aus Mytilene (62–44/36 v. Chr.; IG XII 2,63 = Labarre 1996a, 276f., Nr. 19; Robert 1969; Gold 1985; Salzmann 1985, 253–255 (numismatische Belege); vgl. Anastasiadis 1995 und 1997; Labarre 1996b; Strubbe 2004, 323; Morales 2010, 129–131; Thériault 2011, 55–58; Ma 2012). G. Iulius Apollonios und G. Iulius Epikrates aus Milet (ca. 58/7 v. Chr. und ca. 6/5 v. Chr.; Herrmann 1994, 234; Thériault 2003, 251f.). Iollas aus Sardeis (erste Hälfte des 1. Jhs. v. Chr.; I.Sardis 7; Habicht 1988; Haake 2007, 213–215; Lakmann 2017, 134f.; 515). Mithradates aus Pergamon (ca. 46 v. Chr.; IGR IV 397; 1682; vgl. Hebding 1909). Asklepiades, Oiniades und Demetrios aus Kyzikos (46 v. Chr.–15 n. Chr.; IGR IV 159; Chiricat 2005, 214–222 = SEG 55, 1329; vgl. Strubbe 2004, 324f.; Fröhlich 2013a, 264–266). Nikias aus Kos (ca. 30 v. Chr.; vgl. Herzog 1922, 189–216; Buraselis 2000). C. Iulius Artemidoros aus Knidos (nach 31 v. Chr.; I.Knidos 59; vgl. Quaß 1984; Thériault 2003, 243; Strubbe 2004, 324; Chiricat 2005, 212f.; Bruns-Özgan 2009, 108–111; 126f. mit allen weiteren Belegen; Fröhlich 2013a, 263f.). Euthydemos und Hybreas aus Mylasa (zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr.; Strabo 14,659; I.Mylasa 534–536; vgl. Habicht 1984, 69–72; Marasco 1992, 37–59; Campanile 1997; Buraselis 2000, 51f.; Strubbe 2004, 325–327; Delrieux/Ferriès 2004; zu der noch unpublizierten Inschrift, in der ein Priester für die Heroen Euthydemos und Hybreas erwähnt ist, siehe Robert 1935, 335; 1973/1974, 533–547). Athenodoros aus Tarsos (ca. 26–14 v. Chr.; Ps.-Lukian., Makrobioi 21; vgl. Engels 2008, 120–127), Xenon aus Thyateira (ca. 24–25 v. Chr.; TAM V 2, 1098; vgl. Strubbe 1984–1986, 299, und 2004, 327; Price 1984, 50; Gauthier 1985, 61f.).

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Eftychia Stavrianopoulou

Die kultische Verehrung der Honoratioren, also jener hellenistischen Bürger, die man auch als „grands evergètes“ zu bezeichnen pflegt3, steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Lange Zeit wurde in den Studien über die Euergeten dieser kultische Aspekt, wenn überhaupt, nur sehr kurz angesprochen, denn er galt als ein „wohlbekanntes Phänomen der hellenistischen Religion“ und der späthellenistischen Zeit4, der in Zusammenhang mit dem Niedergang der hellenistischen Monarchien und der Expansion von Rom im östlichen Mittelmeerraum stand, also eine Art Intermezzo zwischen Herrscher- und Kaiserkult. Dieses Bild ändert sich zunehmend, nicht zuletzt wegen der Arbeiten von J. H. M. Strubbe und G. Thériault: Strubbe hat zum ersten Mal die entsprechenden inschriftlichen Belege aus den Städten von Asia Minor zusammengetragen, während sich Thériault in einer Reihe von Aufsätzen den Kulten für römische Magistrate und bestimmte griechische Euergeten gewidmet hat.5 Neuerdings hat C. P. Jones die Kulte für Honoratioren des 1. Jhs. v. Chr. in seinem Buch „New Heroes in Antiquity“ diskutiert und die Geehrten unter der Kategorie der „warriors and patriots“, die er mit Battos von Kyrene beginnen und mit Zoilos von Aphrodisias enden lässt, klassifiziert.6 Dennoch ist das Phänomen der Kulte für Honoratioren noch lange nicht ausdiskutiert, und der vorliegende Beitrag soll darauf hinweisen, dass dieses Thema für sich und im Rahmen des spezifischen historischen Kontextes des 1. Jhs. v. Chr. untersucht werden sollte7. Ausgehend von der Annahme, dass „der städtische Kult des lebenden Menschen nicht so sehr Symptom eines Wandels der religiösen Anschauungen als vielmehr der politischen Verhältnisse“ und somit „ein allgemein historisches und nur sekundär ein religionsgeschichtliches Phänomen“ ist8, möchte ich die Kulte der Honoratioren als Ausdruck der und Beitrag zu den politischen und sozialen Gegebenheiten der zweiten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. interpretieren. Zunächst werde ich den Inhalt der kultischen Ehren diskutieren: Welche konkreten Kultformen werden in diesen Kulten angewandt? Sind neue Ritualpraktiken zu beobachten

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Potamon aus Mytilene (Ende des 1. Jhs. v. Chr.–1. Jh. n. Chr.; IG XII, 2, 51, 63; IG XII Suppl. 43–44; SEG 3, 694; Charitonidis 1968, Nr. 6; vgl. Parker 1991; Anastasiadis 1995; Morales 2010; Thériault 2011). Menogenes aus Sardeis (Ende des 1. Jhs. v. Chr.–Anfang des 1. Jhs. n. Chr.; I.Sardis 8; 17; vgl. Rowe 2002, 145–148; Strubbe 2004, 315–316; Thériault 2011, 63) fort. Die Liste zeigt, dass sich mit Ausnahme von Diodoros Pasparos alle anderen Fälle in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. konzentrieren. Fälle, wie diejenige von Philonides aus Synnada (2./1. Jh. v. Chr.; Wilhelm 1910, 54–61; Strubbe 2004, 318f.), Parasitas (1. Jh. v. Chr.; I.Knidos 606; Strubbe 2004, 319; BrunsÖzgan 2009, 111; Fröhlich 2013a, 261f.), Polystratos aus Apameia (1. Jh. v. Chr.; SEG 61, 1140; Bresson 2012) oder vom Sohn des Drakon (Ende 1. Jhs. v. Chr.; I.Keramos 9; Strubbe 2004, 320), werden wegen der unsicheren Datierung, aber vor allem wegen der fehlenden Informationen zu diesen Personen nicht weiter berücksichtigt. Zum Kult der Honoratioren Habicht 1970, 195–200; Price 1984, 47–52; Gauthier 1985, 60–66; Strubbe 1984–1986 und 2004; Thériault 2001, 2003, 2011 und 2012; Buraselis 2003; Buraselis/Aneziri, 2004, 174; Aneziri/Damaskos 2004, 268–270; Grandinetti 2010; Fröhlich 2013a; Carvalho 2014; zu den Honoratioren Bowersock 1965, 5–13; Gauthier 1985, 28–39; Quaß 1993 (bes. 138–148); Habicht 1995 und 2001–2002; Wörrle 1995; Brélaz 2009, Schulz 2011; Mann 2012. Aneziri/Damaskos 2004, 268; vgl. Thériault 2011, 55. Siehe oben Anm. 3. Jones 2010a, 22–37. In Anlehnung an Habicht 1970, 236, dass „der städtische Kult des lebenden Menschen nicht so sehr Symptom eines Wandels der religiösen Anschauungen als vielmehr der politischen Verhältnisse“ und somit „ein allgemein historisches und nur sekundär ein religionsgeschichtliches Phänomen“ ist. Habicht 1970, 236.

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Altäre auf den Straßen für die „Söhne des Volkes“

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und welche Funktionen werden dadurch erfüllt? In einem weiteren Schritt soll auf die Bedeutung der Kulte für das Selbstverständnis der Städte eingegangen werden. Welche Rolle kommt dabei den Honoratioren zu und wie wird davon die Interaktion zwischen Städten und Honoratioren beeinflusst?

1. Die isotheoi timai Die desolate Situation, in der sich Pergamon nach dem Ersten Mithridatischen Krieg und dem Verlust seines politischen Status befand, bildet den Hintergrund, aus dem heraus die außerordentlichen Ehrungen für die von Diodoros Pasparos für die Stadt erbrachten Leistungen zu verstehen sind. Hohe Tribute, Vermögenskonfiskationen, Zwangsrekrutierungen, Einquartierungen von römischen Soldaten führten nämlich zu großen politischen wie sozialen Spannungen innerhalb der Bürgerschaft.9 Die Beendigung dieser Krise durch die gelungene Gesandtschaft des Diodoros stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Stadt dar und als solcher sollte sie im kollektiven Gedächtnis gekennzeichnet werden: Der Tag, an dem Diodoros Pergamon wieder betrat, wurde zum Feiertag erklärt 10 und Diodoros selbst mit weiteren kultischen Ehrungen gefeiert: nach ihm sollte eine neue Phyle, die Paspareis, benannt werden11; ihm sollte ein Priester zugewiesen werden, der am gleichen Tag wie die Priester der anderen Euergeten gewählt und dessen Namen direkt nach dem Priester des M. Aquillius in allen Staatsurkunden eingetragen werden sollte; ein ebenfalls nach ihm benanntes Temenos (Diodoreion) sollte konstituiert werden, in dem ein Tempel (naos) samt Kultstatue (agalma) errichtet werden sollten12. Für den Tag der Einweihung des Tempels bzw. der Installation der Kultstatue war eine Prozession der Magistrate, Priester sowie der Epheben und Kinder unter der Beaufsichtigung des Gymnasiarchos und der Paidonomen mit anschließendem Opfer und Wettkämpfen vorgesehen. Das Beispiel von Diodoros wurde nicht nur aus chronologischer Sicht vorangestellt, sondern weil es vor allem ein regelrechtes Feuerwerk an kultischen Ehrungen beinhaltet: Festtag, Priester, Temenos, Tempel, Kultstatue, Prozession, Opfer, Wettkämpfe und die Benennung einer Phyle stellen ein ganzes Repertoire von kultischen Ausformungen dar, die als isotheoi timai bezeichnet werden.13 Dieselbe Bezeichnung tragen die dem Artemidoros aus Knidos verliehenen Ehrungen, die im Vergleich nicht weniger imposant ausfallen. Neben vier goldenen Kränzen, zwanzig bron-

9 IGR IV 292,1–16; Jones 1974, 203–205. 10 IGR IV 292,36–37: εἶναι δὲ καὶ τὴν ὀγδόην τοῦ Ἀπολλωνίου μηνὸς ἱεράν, ἐν ᾗπερ ἀπὸ τῆ[ς] [πρε]σβεί[α]ς εἰς τὴν πόλιν εἰσῆλθεν; vgl. das Ehrendekret für Attalos III. Philometor, I.Pergamon 246,13–15: τὴν δὲ ὀγδόην, ἐν ἧι παρεγένετο εἰς Πέργαμον, ἱεράν τε εἶναι ε ̣[ἰ]ς ἅπαντα τὸν χρόνον καὶ ἐν αὐτῆι ἐπιτελεῖσθαι κατ’ ἐνιαυτὸν ὑπὸ τοῦ ἱερέως τοῦ Ἀσκληπιοῦ πομπὴν ὡς καλλίστην. Zum apantesis-Ritual siehe Robert 1987, 470–474; 523–524; Perrin-Saminadayar 2004–2005 und 2009; Chankowski 2005; Le Guen 2006; Fröhlich 2013b, 450–452. 11 IGR IV 292,37–38. 12 IGR IV 292,38–42. 13 IGR IV 293,38; vgl. Habicht 1970, 200–205; Buraselis 2003. Zum materiellen Kontext des Herrscherkultes zusammenfassend bei Kotsidu 2000, 574–577; Buraselis/Aneziri 2004, 178–180.

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zenen, drei marmornen und drei goldenen Statuen sowie weiteren bürgerlichen Ehrungen (öffentliche Aufrufung, Prohedrie, Bekränzung bei den Agonen; lebenslange Bewirtung im Damiourgeion) sollte der Sohn des berühmten G. Iulius Theopompos nach seinem Ableben ein öffentliches Begräbnis bekommen und im epiphanestatos topos des Gymnasion bestattet werden.14 Darüber hinaus sollte eine goldene Statue von ihm als synnaos im Heiligtum der Artemis Hyakinthotrophos und Epiphanes aufgestellt werden; Artemidoros selbst das lebenslängliche Priestertum im selben Kult bekleiden.15 Abschließend verlieh ihm der Demos die isotheoi timai, die die Errichtung eines Altars sowie die Einführung des Festes der Artemidoreia samt Opfer, Prozession und eines pentaeterikos gymnischen Agons beinhalteten.16 Beide Fälle ragen zweifellos durch die Vielfalt der Ehrungen hervor; vor allem aber spiegeln sie die Verzahnung von Zäsur und Kontinuität wider, die die Kulte dieser Persönlichkeiten auszeichnet. Im Folgenden werde ich auf jene Kultformen und sonstige Ausdrucksformen einer „gottgleichen“ Ehrung fokussieren, die das Neue in diesen Kulten präsentieren. Der eher rudimentäre Charakter der Dokumentation erlaubt zwar keine systematische Analyse des Kultes für Honoratioren, eine Analyse auf vergleichender Basis ist dennoch durchaus durchführbar.

2. Die Einführung neuer Ritualpraktiken und die Begründung einer neuen Tradition Was man mit der Einführung eines Kultes beabsichtigt, ist die dynamis, die Wirksamkeit, einer Gottheit oder eines Heros, so wie man sie erlebt hat und weiterhin erhofft, für sich sicherzustellen. Der Bau eines Tempels oder Altars, die Darbringung von Opfern, das gemeinsame Fest sind Ausdrücke dieser Verehrung und Erwartungshaltung. Im Kontext der Kulte für Honoratioren verhält es sich nicht anders: Verehrungsort, Feste und Agone bzw. (Kult-)Statuen sollten die „Präsenz“ des jeweiligen Geehrten mitten in der städtischen Gemeinschaft markieren und den Anlass seines Kultes und somit seine Wirksamkeit in Erinnerung rufen. Der Tag der erfolgreichen Rückkehr des Diodoros aus Rom sollte jährlich begangen werden, während für den Oikistes Asklepiades aus Kyzikos und seine Mitstreiter „im Krieg gegen Ptolemaios“ „heroische Agone“ (εὐχαριστήριοι ἀγῶνες ἡρῷοι) abgehalten wurden.17 Für 14 I.Knidos 59,1–11. Zum Theopompos siehe Bruns-Özgan 2009, 103–108; 126 (mit der Liste der inschriftlichen Belege). Weil sich alle Ehrungen für Theopompos – Statuen (I.Knidos 51; 57–58) und Monument [I.Knidos 56] – auf der Terrasse rund um den sog. korinthischen Tempel konzentrieren und in direkter Nachbarschaft zum Gymnasium, in dem sein Sohn Artemidoros bestattet wurde, fragt sich Bruns-Özgan 2009, 108, ob nicht schon Theopompos diese besondere Ehrung erhalten hatte, etwa in Form eines Grabes im Gymnasium bzw. innerhalb der Stadt. Zum Privileg der Bestattung im Gymnasium bzw. intra muros in der hellenistischen Zeit siehe jetzt die umfassende Studie von Fröhlich 2013a mit der früheren Literatur. Vgl. auch Aneziri/Damaskos 2004, 257–262; 268–270. 15 I.Knidos 59,11–15: ἑστάκει δὲ [αὐ]τοῦ καὶ εἰκόνα χρυσέαν σύνναον [τ]ᾶι̣ Ἀρτάμιτι τᾶι Ἱακυνθοτρόφωι [κ]αὶ Ἐπιφανεῖ, ἇς καὶ αὐτᾶς ἱερεὺς [ὑ]πάρχει διὰ βίου. 16 I.Knidos 59,19: τετιμάκει αὐτὸν τιμαῖς ἰσοθέοις. 17 IGR IV 159,11–14; die Inschrift wurde von Chiricat 2005, 214–222 (= SEG 55, 1329) neu ediert; vgl. auch Strubbe 2004, 324f. Bei dem besagten Krieg muss es sich um den sogenannten Alexandrinischen

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den Knidier Artemidoros wurde ebenfalls ein Fest samt Agonen beschlossen. Es fällt auf, dass man alle drei belegten Feste nicht etwa an bestehende Kultfeste „anhängte“, wie es oft bei Kultfesten für hellenistische Herrscher der Fall war18, sondern sie eigens dafür einrichtete. Die dauerhafte Erinnerung an die Wohltaten der Verehrten auf einer regelmäßigen Basis, die durch die Einrichtung von Gedenktagen und Agonen gewährleistet wurde, scheint ein Bedürfnis der Städte gewesen zu sein19. Die enge Beziehung zwischen Stadt und Verehrten lässt sich ebenfalls an den Konnotationen der Lage und der Form des Kultortes ablesen. In vier Fällen wird nämlich ein Temenos gewidmet, das nach dem Namen des Verehrten benannt wird: Diodoreion (nach Diodoros Pasparos)20, Potamoneion (nach dem Potamon aus Lesbos) 21, Xenoneion (nach dem Xenon aus Thyateira)22 und Menogeneion (nach dem Menogenes aus Sardeis)23. Bei Asklepiades aus Kyzikos war wohl sein Grab, das Heroon, das Zentrum seiner kultischen Verehrung und diente als Ausgangspunkt der jährlichen Agone des Gymnasiums 24, während Artemidoros sogar eine Bestattung im Gymnasium zuteil werden sollte25. Durch die individuelle Kennzeichnung, die Lage sowie deren Anbindung in das weitere rituelle und politische Stadtleben erhielten diese Kultorte nicht nur einen festen Platz in der Topographie der jeweiligen Stadt,26 sondern sie wurden vor allem zu Erinnerungsorten. Genauso wie die Feste und Agone sollten

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Krieg von 48/47 v. Chr. handeln, in dem Asklepiades und seine Mitkämpfer, wohl zusammen mit Mithradates aus Pergamon, G. Iulius Caesar beigestanden sind, als letzterer von den ägyptischen Truppen abgeschnitten wurde: Jones 2010a, 35f. und 2010b, 117; zum Mithradates aus Pergamon siehe weiter unten. Die Informationen zu den kultischen Ehrungen für Asklepiades und seinen Sohn Oiniades sind in der Ehreninschrift für seinen Enkel Demetrios, Sohn des Oiniades, überliefert, der wohl ebenfalls kultische Ehrungen erhielt (vgl. weiter oben im Text). Der Titel des Oikistes entspricht demjenigen eines Ktistes: vgl. BE 1966, Nr. 376. Siehe hierzu die Diskussion bei Buraselis 2012. In diesem Sinne ist auch die Übernahme der Finanzierung der Feste durch die Stadt zu erklären. Zur Funktion der Erinnerung in den griechischen Festen siehe Chaniotis 1991. Nur im Fall des Diodoros ist von der Errichtung eines Heiligtums innerhalb seines Temenos die Rede (IGR IV 292,40–42). Zum sogenannten Heroon des Diodoros, das allerdings epigraphisch nicht belegt ist, siehe Radt 1999, 248–251 und zur Problematik dieser Zuweisung siehe Genovese 2011 mit der früheren Literatur. IG XII 2, 51. Price 1984, 50 Anm. 120 hält Potamoneion eher für die Bezeichnung eines Heroons. Zu Potamoneion und den Inschriften (darunter Ehreninschriften für Potamon sowie Fragmente aus zwei oder drei Briefen von Caesar), die wahrscheinlich darin aufgestellt waren, siehe Labarre 1996a, 99–116 (die Inschriften sind auf S. 110 Anm. 13 gesammelt). Vgl. auch die Diskussionen bei Morales 2010; Thériault 2011, 59–63. TAM V, 2, 1098,2; Strubbe 2004, 327. I.Sardis 17,15. Im Fall von G. Iulius Apollonios und G. Iulius Epikrates ist nicht eindeutig, ob das Verb καθιέρωσεν (I.Milet VI, 1,15–16) sich auf die Weihung von Statuen oder auf die Weihung eines Temenos bezieht: Herrmann 1994, 232–234 contra Robert 1966b, 421, der dahinter das Grab-Heroon der Familie beim Bouleuterion von Milet vermutete; siehe auch Cormack 2004, 245f., die die Architekturreste eines Naiskos zwischen Bouleuterion und der nördlichen Agora als Heroon interpretiert, und Fröhlich 2013a, 273. Jones 2010a, 35f. und 2010b, 117f.; Fröhlich 2013a, 263–266. Auszuschließen ist es nicht, dass das Heroon nicht allein Asklepiades, sondern Asklepiades und seinen Soldaten gewidmet war. In dem Fall würde es sich um ein polyandrion handeln. Sein Grab ist nicht als Kultort eindeutig indiziert, was vielleicht mit der Tatsache zusammenhängt, dass Artemidoros noch am Leben war. In dieser Hinsicht ist die Erwähnung des Menogeneion in einer Inschrift um 200 n. Chr. (I.Sardis 17,15) bezeichnend.

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diese Orte für die ständige Erinnerung an die geehrten Personen sorgen. In diesem Sinne war das Heroon des Asklepiades der Referenzpunkt für seine Leistungen, die über die Hilfe für Caesar in Ägypten hinausgingen und eine neue Ära für die Stadt einläuteten.27 Die Jugend sollte die dankbare Erinnerung an den Beginn dieser neuen Ära und deren Gründer, den Oikistes Asklepiades, auf ewig wach halten. Neben der Errichtung von neuen Festen und der Zuweisung von Temene ist eine gewisse Übertreibung bezüglich der Anzahl der pro Person verliehenen (Kult- und Ehren-)Statuen, Porträts und Kränze festzustellen. Diodoros kann auch hier als Modell dieser Tendenz dienen. Fünf Bildwerke (eikones) und vier Kultstatuen (agalmata) hat er insgesamt verliehen bekommen: zwei goldene Statuen, darunter eine Reiterstatue, drei bronzene Statuen, davon eine „kolossale“ Statue, die vom Demos bekränzt wird, und eine weitere Reiterstatue 28; von den vier marmornen Kultstatuen wurden eine im Tempel für Diodoros und zwei im Gymnasium aufgestellt.29 Iollas aus Sardeis wurde mit insgesamt 10 Statuen, vier Bildwerken und zwei goldenen Kränzen geehrt. Die Statuen waren aus unterschiedlichen Materialien, von verschiedenem Typus und verschiedenen Maßen: drei goldene, darunter eine von kolossalen Maßen (χρυσῇ κολοσσικῇ) und eine Reiterstatue, vier bronzene Statuen und drei marmorne.30 Die Anzahl der für Artemidoros beschlossenen Statuen reicht zwar nicht ganz an jene für Iollas heran, doch ist sie nicht weniger beeindruckend: Er sollte vier goldene und drei bronzene Kränze

27 Vgl. Chiricat 2005, 220. 28 IGR IV 292,24–28: στεφανῶσαι αὐτὸν χρυσῶι στεφάν[ωι ἀριστείωι] καὶ ἰκόνι χρυσῆι καὶ ἄλληι ἐφίππωι καὶ ἄλλῃ χαλκῆι κολοσσικῆι στεφανου[μένηι ὑπὸ] τοῦ δήμου καὶ ἄλληι ἐφίππωι καὶ ἀγάλματι μαρμαρίνωι, ὧν καὶ γενέσ[θαι τὰς ἀνα]θέσεις ἐν οἷς ἂν αὐτὸς κρείνηι τῶν ἱερῶν καὶ δημοσίων τόπων, τῶν μὲν χρ[υσῶν ἐπὶ στυ]λίδων μαρμαρίνων, τῶν δὲ χαλκῶν ἐπὶ βημάτων ὁμοίως μαρμαρίνων; I.Pergamon 256,6–7 (Text nach Chankowski 1998, 171): [καὶ στεφανῶσαι αὐ]τὸν ̣ σ[τ]εφάνωι [ἀ]ριστείωι ἀϊδίωι και ε[ἰκόνι χαλκῆι vel χρυσῆι ---- ca. 47–50 ---- και ἀγάλματι εἰκον]ικῶι. Zu „kolossalen“ Statuen vgl. I.Sardis 27,3–4 (: ἰκόνι χρυσῇ καὶ ἄλλῃ χρυσῇ κολοσσικῇ); SEG 33, 10035,2–4 (: εἰκόνα χαλκέαν τῶ Δά[μω κ]ολοσσιαίαν); 55, 1503,3 (: εἰκόνι χαλκῇ κολοσσικῇ); 61, 1140,5–6 (: εἰκόνι χαλκῇ κολοσσικῇ, εἰκόνι χρυ[σῇ ̣ κολοσσικ]ῇ); I.Pergamon 246,7 (: ἄγαλμα πεντάπηχυ). In meinem Beitrag werde ich eikon mit dem neutralen Begriff „Bildwerk“ übersetzen und damit der kritischen Diskussion dieses Terminus bei Price 1984, 176–180 und Bresson 2012, 207–213 folgen; vgl. hierzu auch die Diskussion bei Damaskos 1999, 297f.; 304–309, der für eine Interpretation von agalma innerhalb des kultischen Bereichs argumentiert. 29 IGR IV 292,28; 29,40–41: τοῦ δὲ ἀ[γάλ]ματος ἐν τῶι κατασκευασθησομένωι ναῶι; IGR IV 293a, I,41–45: ἀνατεθῆναι αὐτῶι ἄγαλμα μαρμάρινον, ὅπως [οὗ φιλοτιμότατα πρ]ο ̣ενόησεν τόπου πλε[ι]όνων ἀναδεξάμενος χρημάτω̣ν [ἀνάλωμα τῆς τε ἐπισκ]ευῆς αὐτοῦ καὶ ἐπιθερα ̣πείας ἕνεκεν, ἐν τούτωι κα[ὶ] ̣ ἀγάλματος σύνθρονος ἦ ̣ι τοῖς κατὰ παλα ̣ίστραν [θεοῖς, γενομένης ἔμπροσθ]εν τοῦ [αὐτὸς διὰ τούτου] τοῦ ἀγάλματος ἐπ ̣ιγραφῆς; IGR IV 294,36 = Kotsidu 2000, 469f. Nr. 352E: τῶν δὲ νέων τηρούντων τὸ πρέπον καὶ τὸ πρὸς αὐτὸν εὐχάριστον διὰ τὸ τῆς ἀγ[ωγῆς καὶ παιδείας αὐτῶν ἐπιμεληθῆναι καὶ φιλο]τιμότατα καθιδρυκότων τὸ ψηφισθὲν ὑπ’ αὐτῶν ἄγαλμα ἐν τῆι ἐξέδραι ἐν ἧι τὸ τοῦ Φιλεταίρο[υ ἄγαλμα καθίδρυται]. Der Aufstellungsort der in I.Pergamon 256,7 erwähnten Statue, die wohl die selbe wie in IGR IV 294,32–33 sein dürfte (vgl. hierzu Chankowski 1998, 173f.; 175 mit Anm. 59), ist unklar, dürfte jedoch mit dem ἐπιφανέστατος τόπος des Gymnasiums identisch sein, wo auch die Basis der ebenfalls in I.Pergamon 256,6 angeführten bronzenen Statue gefunden wurde: Radt 1999, 125f.; Chankowski 1998, 166f. 30 I.Sardis 27,2–6.

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sowie drei marmorne und drei goldene Statuen bekommen; eine siebte, goldene Statue sollte im Heiligtum der Artemis Hyakinthrophos und Epiphanes als synnaos aufgestellt werden.31 Diese Praxis, jemanden mit mehr als einer Statue zu ehren, nimmt, soweit ich sehe, ab ca. 120 v. Chr. in Priene ihren Anfang.32 Die Ehrendekrete bezeugen nämlich die Verleihung eines „Statuen-Sets“, das aus einer goldenen, einer bronzenen und einer marmornen Statue bestand und durch ein Bildwerk erweitert wurde.33 Als Aufstellungsorte solcher Statuen und sonstiger Bildwerke sind meistens der ἐπιφανέστατος τόπος bzw. die ἐπιφανεστάτοι τόποι angegeben, die in der Agora zu lokalisieren sind.34 R. Bielfeldt hat neuerdings gezeigt, wie durch die Ausgestaltung der Agora „mehrere verschiedene Topographien realisiert [wurden], in immer wieder neuen Formen des Zusammenwirkens von Zeremoniell, gebauter Architektur und statuarischen Ehrenbildnissen, mit dem Ziel, den Zeichenaustausch zwischen dem Demos und geehrten Idealbürgern zur Evidenz zu bringen.“35 Die Ehrenstatuen sind zweifellos ein Produkt dieses Zeichenaustausches zwischen Demos und Idealbürgern, da sie in erster Linie einen gemeinsam geteilten Konsens bezüglich der Anerkennung der Leistungen bestimmter Personen verkörpern.36 Demzufolge ist die Entscheidung einer Polis, Personen mit mehr als einer Statue und in diversen Materialien und Formen zu ehren, zunächst als eine Änderung in der Ehrenpraxis zu verstehen. Auf den ersten Blick gestaltet sich der Dialog zwischen Polis und Honoratioren etwa auf gleicher Augenhöhe: Diodoros selbst, nicht die Polis, sollte den Aufstellungsort – heiliger oder öffentlicher Ort – seiner ersten vier Statuen bestimmen,37 aber es ist die Polis, die über den auf der Basis seiner Kultstatue einzugravierenden Text entschied. Diodoros durfte bestimmen, bei welcher 31 I.Knidos 59,1; 4,11–14; zum σύνναος vgl. I.Keramos 9,59–50 (: [τ]ῶ[ν δ]ὲ εἰκόνω[ν] αὐτοῦ τὴν μαρμαρίνην στῆσ[αι ἐν τῷ ναῷ σύνναον τῷ] τῆ[ς] πόλεως Ἀρχηγέτηι); I.Pergamon 246,8–9 (: ἵνα ἦ[ι] σύνναος τῶι θεῶι); Wilhelm 1910, 54–61 (Z. 3: [καὶ εἶναι αὐ]τὸν σύνναον καὶ σύνβωμον). Menogenes aus Sardeis (I.Sardis 8,48, 71, 79, 86, 95, 109, 129) bekommt ebenfalls eine Reihe von vergoldeten bewaffneten Bildwerken (eikon enoplos; vgl. hierzu Klaffenbach 1961; Ma 2013, 256). 32 Eine Ausnahme bildet Philopoimen: IG V 2, 432= Syll.3 624,10–15. Zur Verleihung von mehreren Statuen als typisch für die hellenistische Epoche siehe Gauthier 1985, 59–62. 33 εἰκόνι χαλκῆι τε καὶ χρυσῆι καὶ μαρμαρίνῃ: I.Priene 108,5–6; 109,6–7; 240–241 (Herodes; ca. 120 v. Chr.); εἰκόνι γραπτῆι τε καὶ χαλκῆι καὶ χρυσῆι καὶ μαρμαρίνηι: I.Priene 112,5,136–138; 113,5–6,98; 114,3–4,36 (Aulus Aemilius Zosimus; 84/81 v. Chr.); 117,3–4 (Herakleitos Theodorou). Vgl. auch [εἰκόνι χ]αλκῇ καὶ ἄλλῃ μαρμαρίνῃ καὶ ἄλλῃ χρ[υσῇ]: I.Keramos 9,35–36; εἰκόνι χαλκῇ καὶ ἄλλῃ γραπτῇ τελεί[ᾳ κ]αὶ ἀγάλματ[ι μαρμ]αρίνωι: TAM V 1, 374; 421; CIG 3085; I.Kyme 19; [εἰκόνι λιθίνα]ι καὶ ἄλλαι εἰκόνι χρυσέαι, ἀ[ναστᾶσαι δὲ καὶ ἄλλαν ἀργ]υρ[έ αν]: I.Knidos 606,1–3; εἰκόνι γραπτ[ῇ ἐπιχρύ]σωι, εἰκόνι χαλκῇ κολοσσικῇ, εἰκόνι χρυ ̣[σῇ κολοσσικ]ῇ, εἰκόνι χρυσῇ ἐφίππωι, ἀγάλματι ̣ μαρμ[αρίνωι]: SEG 61, 1140,4–6. 34 Siehe dazu Bielfeldt 2012, 94–97; Ma 2013, 113–126. 35 Bielfeldt 2010, 131–137 (Zitat auf S. 137); siehe auch Raeck 1995; Ma 2013, 98–101, 142–148; vgl. auch Krumeich/Witschel 2009 (für Athen). Zur Rolle der Honoratioren-Familien als Patronen der Stadt ab dem Ende des 2. Jhs. siehe Fröhlich 2005. 36 Diesen Punkt haben zuletzt Bielfeldt 2010, 129 („Präsent, will man es prägnant formulieren, wird nicht so sehr der Repräsentierte, sondern der Präsentierende, auch wenn letzterer gar nicht im Bild sichtbar, sondern nur epigraphisch dokumentiert wird“) und Ma 2013, 291 („Monument stands for community, in an act of self-representation, self-affirmation, and role-assignment, in relations with powerful outsiders or eminent citizens. The implications are the primacy of community over individual, no matter what his or her status; the honorific statue is hence not an elitist artefact, but a communitarian one“) zurecht in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen gestellt. 37 IGR IV 292,26–27: καὶ γενέσ[θαι τὰς ἀνα]θέσεις ἐν οἷς ἂν αὐτὸς κρείνηι τῶν ἱερῶν καὶ δημοσίων τόπων.

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seiner Statuen die Stele mit dem Demosdekret aufgestellt werden sollte, aber es war die Polis, die τειμῶν ἔμπροσθεν ναοῖς καὶ ἀγάλμασιν καὶ τῇ καθιερωμένῃ πρὸς ἀθανασίαν τιμῇ ἰς αὐτὸν und überhaupt die isotheoi timai beschloss38. Was sich noch in diesem „Dialog“ manifestiert, wenn auch indirekt, ist die Intention der Polis, sich selbst durch die mehrfache „Präsenz“ eines mustergültigen Bürgers und Euergetes darzustellen. Denn es ging nicht allein darum, durch erhöhte Ehrungen die hervorgehobene Stellung eines Bürgers-Euergetes zu unterstreichen und ihn somit zum „primus inter pares“ oder „Big Man“ nach John Ma „krönen“ zu lassen,39 sondern vor allem darum, die einschneidende Bedeutung seiner Leistungen für die Geschichte der Polis einprägsam zu markieren. So gesehen, lassen sich die multiplen Ehrenstatuen als eine Art didaktisches Mittel zur Konstitution eines historischen Gedächtnisses auffassen. Nicht weniger didaktisch ist eine andere Form der mehrfachen „Präsenz“ eines Idealbürgers, nämlich die Aufstellung von Weihungen zu seiner Ehre. Eine Reihe von 30 solcher Weihinschriften ist für den Antonius-Freund Nikias aus Kos belegt.40 Angebracht auf kleinen Altären und Tafeln weisen sie den selben formelhaften Text auf: θεοῖς πατρῴοις περὶ (oder: ὑπὲρ) τᾶς Νικία τοῦ δάμου υἱοῦ, φιλοπάτριδος, ἥρωος, εὐεργέτα δὲ τᾶς πόλιος, σωτηρίας. Wie bereits Kostas Buraselis aufgezeigt hat, bezieht sich der hier zum ersten Mal belegte Ausdruck „Sohn des Damos“ auf die symbolische und ideologisch hoch besetzte Affiliation des Nikias zum personifizierten koischen Demos (Damos).41 Durch diese offiziell angekündigte Beziehung erhält Nikias die Position eines Heros. Diese Variante der Heroisierung stellt im Vergleich zu jener des „synnaos“ eine innovative Strategie dar, die politische Macht in der Verkleidung einer Abstammung vom höchsten politischen Gott in einer demokratischen Stadt, dem Volk selbst, zu legitimieren und zugleich die Hierarchie zwischen dem personifizierten Demos und Nikias aufrecht zu erhalten. Dazu passt die Anwendung des wohl ptolemäischen „micro-monumental“-Modells42, das von der aktiven Teilnahme der Bevölkerung getragen wird. Die Aufstellung von Altärchen und Täfelchen vor Privathäusern und entlang von Prozessionsstraßen ist nämlich zum ersten Mal im Rahmen einer entsprechenden königlichen Anordnung anlässlich des Festes zu Ehren von Arsinoe Philadelphos belegt.43 Dadurch 38 IGR IV 293,44–45. 39 Ma 2013, 294f. 40 IG XII 4, 2, 682–711; die Weihungen sind ausführlich besprochen von Buraselis 2000, 111–121; 160–162. 41 Buraselis 2000, 33–37. Der Kult des personifizierten Demos von Kos ist seit dem frühen 2. Jh. belegt: IG XII 4, 1, 79,7,24; Habicht 1996, 85. 42 Buraselis 2000, 63. 43 P.Oxy. 27, 2465, fr.2.; vgl. auch das Dekret für das Fest der Artemis Leukophryene in Magnesia (I.Magnesia 100a,7–10; b,38–42), gemäß dem die Bevölkerung Altäre vor ihren Häusern für die Durchführung von Opfern für Artemis aufstellen sollte. Grundlegend Robert 1966a, 202–208; siehe auch Schorn 2001; Iossif 2005; Caneva 2012, 82f. und 2014, 93–96 mit der früheren Literatur und Belegen aus anderen Gegenden (Eretria: SEG 40, 763; Ephesos: SEG 39, 1232, Kotsidu 2000, 477 Nr, 358; Milet: I.Milet 288–289; Zypern: Michaelidou-Nikolaou 2007 mit SEG 57, 1736) und zuletzt bei Meadows 2013, 30 Anm. 45. Während die Altärchen vor den Häusern aufgestellt wurden, die Täfelchen „were used to adapt brick altars, otherwise meant for multiple cultic purposes, to the cult of Arsinoe Philadelphos“ (Caneva 2014, 95). Zu den Altären aus dem Privatbereich im Gegensatz zu den „offiziellen“ Altären siehe auch die Bemerkungen von Kotsidu 2000, 576 Anm. 82. Vergleichbare Altärchen sind für Marcus Agrippa als theos soter aus Mytilene und Larisa sowie für Hadrian aus Athen und Pergamon belegt: Habicht 2005 mit

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wurden die private mit der öffentlichen Sphäre, jede einzelne Familie mit der Gemeinschaft und die offizielle mit der persönlichen Ritualpraxis verbunden.44 Auf diese Weise entstand eine durch eine Institution veranlasste kollektive Performanz von Religiosität und Loyalität, die einerseits den ptolemäischen dynastischen Kult förderte und andererseits zum Bestandteil der kollektiven Identität wurde. Ein ähnliches Szenario dürfen wir ebenfalls hinter den Altärchen und Täfelchen von Nikias vermuten. Der flüchtige Charakter der Ausführung bei einigen der Weihungen, die Formel περὶ τᾶς σωτηρίας, die nicht bei Weihungen, sondern bei Dekreten anzutreffen ist, und nicht zuletzt die hohe Zahl der Belege deuten auf eine diesbezügliche Verordnung sowie auf deren Akzeptanz durch die Bürger hin.45 Die Wahl dieser Art von kultischen Ehrungen, die das ptolemäische Model imitiert, und die Tatsache, dass diese Praxis nicht mit dem Ende des „Tyrannen“ Nikias zu einem Ende kam, sondern sich in der Kaiserzeit fortsetzte, markiert die Stellung seiner Person innerhalb der koischen Geschichte.

3. Isotheos – Isobasileus – Ktistes Die kultischen Ehrungen zeugen von einem dialektischen Verhältnis zwischen der Polis-Gemeinschaft und einzelnen Personen während einer turbulenten Zeit und zugleich vom Bewusstsein einer neuen Ära. Die Anwendung des Titels „κτίστης“ ist hierfür bezeichnend.46 Auf einer kleinen Stele aus Mytilene sind drei Weihinschriften in parallelen Kolumnen eingraviert.47 Sie galten (a) Gnaeus Pompeius, τῶ εὐεργέτα καὶ σωτῆρι καὶ κτίστα, (b) Theophanes, dem Zeus Eleutherios Ähnlichen, und philopatris, τῶ εὐεργέτα καὶ σωτῆρι καὶ κτίστα δευτέρω τῆς πατρίδος, und (c) Potamon, τῶ εὐεργέτα καὶ σωτῆρι καὶ κτίστα τᾶς πόλιος. Die Anordnung der Weihinschriften und die Abstufung zwischen den drei Personen „erzählt“ auf einer eindringlichen und dennoch einfachen Art und Weise den Beginn der neuen Ära auf Mytilene und die Rolle der Hauptakteure: Pompeius ist derjenige, der 62 v. Chr. der Stadt die Freiheit zurückgab und sie „neugründete“; Theophanes als ein anderer Zeus Eleutherios bewirkte für seine Stadt das Privileg der Freiheit durch seine Vermittlung bei Pompeius und wurde dadurch zum „zweiten Gründer des Vaterlandes“ erklärt;48 Potamon war schließlich derjenige, der unter Caesar

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den Belegen; vgl. auch Kajava 2011, 572f., der auf die massive Konzentration von Weihungen von Altären zu den Zeiten des Augustus und des Hadrian und besonders in Athen, Sparta, Milet, Mytilene und Pergamon hinweist. Darauf hatte bereits Robert 1966a, 186–192 hingewiesen. Die Beobachtung zum Duktus geht auf Buraselis 2000, 63f. zurück. Der Duktus der Inschrift auf einem Altärchen (IG XII Suppl. 44) für den εὐεργέτᾳ καὶ κτίστᾳ τᾶς πόλιος Potamon zeugt ebenfalls von Flüchtigkeit: Parker 1991, 121 Anm. 25. Bereits Sherwin-White 1978, 143 sprach von „an official ordinance […] emanating directly or indirectly from Nicias“, während Buraselis 64, eher an eine „genuine (though certainly not unanimous) popularity than some sort of constraint“ denkt. Vgl. hierzu die entsprechende Diskussion bei Kajava 2011, 575–83; 585 im Hinblick auf die Interpretation von Altärchen im Kaiserkult. Zum Titel siehe Erkelenz 2002 mit der früheren Literatur. IG XII 2, 163; Salzmann 1985, 245–260; Labarre 1996a, 276f., Nr. 19; vgl. Robert 1969, 42–64; Gold 1985, 312–327; Thériaux 2011, 55–58. Zum Einfluss des Theophanes über Pompeius bzw. zu den eigenen Motiven des Pompeius siehe Anastasiadis 1995 und 1997 contra Labarre 1996b. Von einer Anerkennung der Leistungen und des Ruhms von

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mit dem Senatsbeschluss von 45 v. Chr. die Erneuerung der amicitia und societas angestoßen hat49 und dafür als „Gründer der Stadt“ gefeiert wurde. Es ist nicht nur interessant zu beobachten, wie die Anwendung des Titels des Κtistes auf die Personen und deren Handlungen abgestimmt wird, sondern auch wie alle drei eine Kontinuitätslinie bilden, deren Mittel- und Höhepunkt der vergöttlichte Theophanes bildet. In eine andere Kontinuitätslinie, die auf den heroischen Stadtgründer Pergamos und den ersten Attaliden Philetairos zurückgeht, wird der als τῆς πατρίδος νέος κτίστης geehrte Pergamener Mithradates eingereiht. Aufgrund seines engen Kontakts zu Caesar und der Unterstützung, die er ihm während des Alexandrinischen Kriegs anbot, erwirkte nämlich Mithradates die Wiederherstellung der Freiheitsrechte von Pergamon,50 eine Leistung, die die Stadt als „Neugründung“ interpretierte.51 Dieser Rückgriff auf die mythische und historische Vergangenheit stellt eine Strategie der Polis dar, die alte mit der neuen Ära zu verbinden und somit jegliche Zäsur zu überbrücken. Bereits am Beispiel von Diodoros ist diese Tendenz zu beobachten: das Temenos für Diodoros sollte innerhalb von Philetaireia, d. h. in der von Philetairos umgestalteten Oberstadt, liegen und eine seiner Statuen sollte bei der Statue des Philetairos auf der im Gymnasium befindlichen Exedra aufgestellt werden.52 Demetrios, Enkel des Asklepiades, sollte sowohl bei dem Heroa-Fest zu Ehren seines Großvaters als auch bei der καταδρομή zu Ehren seines Vaters Oiniades nach seinem Vater bekränzt werden.53 Am Beispiel der Ehrung des Koinon der Lesbier für Potamon als Nachfahre des mythischen Königs der Aioler Penthilos kann man sogar von der Erfindung einer Tradition sprechen.54 So gesehen dienten die Honoratioren nicht nur ihren Städten durch ihre Leistungen, sondern sie boten sich auch als Bezugspunkte für die narrative Konstruktion von neuen städtischen Identitäten an. Selbstverständlich beteiligten sie sich aktiv an diesem Dialog, sei es als

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Theophanes außerhalb seiner Heimat spricht auch die Herstellung von Schalen mit seinem Portrait, die sogar im östlichen Krimaia gefunden wurden: siehe Treister/Vinokurov 2016. IG XII 3, 35 (= Sherk, Nr. 26). I.Smyrna 550 (= Sherk, Nr. 54); I.Pergamon 379–380 (Ehrenbeschlüsse für Caesar); 413 (Ehrenbeschluss für den Prokonsul P. Servilius Isauricus); zum juristischen Status von Pergamon nach 133 v. Chr. vgl. Hepding 1909, 329–340; Chankowski 1998, 183. Es ist nicht abwegig, dass die Verleihung des Titels des Ktistes an Mithradates mit einem entsprechenden Kult einherging, wofür sich bereits Hepding aussprach. Auch die Verleihung der Bezeichnung des Oikistes an Asklepiades (vgl. oben im Text), der wie Mithradates am Alexandrinischen Krieg teilgenommen hat, hängt wohl mit Vergünstigungen Caesars für Kyzikos zusammen. IGR IV 292,41,52; 294,36. Eine weitere Kontinuitätslinie wird durch die ἱερεῖς τῶν εὐεργετῶν (IGR IV 292,37–40) hergestellt: ursprünglich wurden nämlich Priester für die Mitglieder des attalidischen Königshauses eingesetzt (vgl. Michels 2011, bes. 121–124), die offenbar spätestens seit dem ersten römischen Statthalter Manlius Aquillius (129–127 v. Chr.) durch die „Priester für die Wohltäter“ ersetzt wurden. Der Priester des Diodoros was der zweite in der Hierarchie nach demjenigen des Manlius. IGR IV 159,10–14; 22–26; vgl. Chiricat 2005, 217f. Zu καταδρομή siehe BE 1964, 227 („exercice militaire d’entraînement ou parade militaire avec bataille fictive dans les cérémonies, spécialement pour un chef défunt“) und D’Amore 2009b, 170 („un rivista in armi dei giovani del gimnasio“). IG XII Suppl. 7. 1–5: [τὸ κοῖνον τὸ Λ]εσβίων [Ποτάμωνα Λεσβώνακτος] τὸν ἀπύγονον Πενθίλω τῶ [β]ασίλεος [Aἰολέων, τὸν θέων πά]ντων τε καὶ παίσαν λάβοντα κατὰ [γένος αὐτῶ ταὶς ἰρω]σύναις τᾶς τε πόλιος καὶ τᾶς Λέσβω [καὶ νομοθέταν γενόμεν]ον τᾶς πόλιος; vgl. Parker 1991, 116; 120f.; Labarre 1996a, 439f. Man fragt sich, ob diese Abstammung nicht etwa durch den Namen des Vaters von Potamon selbst, Lesbonax („König von Lesbos“), „inspiriert“ wurde. Vgl. auch die Ehrung für Aur. Artemisia, τὰν ἀπύγονον Ποτάμωνος τῶ νομοθέτα καὶ Λεσβώνακτος τῶ φιλοσόφω τοῖ εὐεργέται (IG XII 2, 255,5–6; spätes 2. bzw. 3. Jh. n. Chr.; Parker 1991, 128f.).

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Initiatoren, sei es als Träger. Die von bzw. unter Nikias eingeführte Verehrungspraxis der Altärchen und Täfelchen imitiert monarchische Praktiken, während die Personifizierung von Nikias mit dem koischen Damos von einer bewussten Anbindung an die Polis-Ideologie und den Lokalpatriotismus zeugt.55 Vor allem aber wurde durch diese Praxis eine neue Tradition eingeführt, die, wie die entsprechenden Altärchen und Täfelchen für den G. Stertinius Xenophon, Leibarzt des Kaisers Claudius,56 und den wohl ebenfalls als Arzt tätigen M. Aelius Sabinianus (2. Jh. n. Chr.)57 belegen, über einen Zeitraum von über zwei Jahrhunderten andauerte. Für Xenophon und Sabinianus war die Fortführung dieser bestimmten Verehrungspraxis das Vehikel ihrer eigenen Einreihung in die nun herkömmlich gewordene Tradition.58 Wie schon oben dargelegt, verbirgt sich hinter dem Phänomen der kultischen Verehrung von Honoratioren im 1. Jh. v. Chr. ein Bündel von konkreten Leistungen und Erwartungen sowie, und vor allem, von Interaktionen zwischen einzelnen Personen und deren Städten. Anders als B. Virgilio, der meint, dass „ l’assimilazione dell’evergete quasi nuovo basileus cittadino appare quindi compiutamente definita“59, sehe ich keinen Hinweis für die Herausbildung eines Typus von „bürgerlichem Basileus“ oder im allgemeinen für eine Ohnmacht der Städte den sog. Honoratioren gegenüber. Die verliehenen kultischen Ehrungen bezogen sich einerseits auf Protagonisten und konkrete historische Ereignisse und vermittelten paradigmatisch die Geschichte der jeweiligen Stadt.60 Insofern ging es nicht (nur) um das konkrete historische Ereignis, das durch die kultischen Ehren dargestellt wird, sondern vielmehr gleichsam um die politisch-didaktische Lehre. Die Städte deklarierten diese Wohltäter zu 55 Buraselis 2000, 64 spricht trefflich vom „apparently self-sufficient triangle of Koan patriotism (patroioi theoi – Nikias – dedicating citizens)“, in dem die persönliche Beziehung von Nikias zu Antonius bzw. von Kos zu Rom verschwiegen wird. Letzteres interpretiert Buraselis als eine gezielte Strategie von Nikias im Rahmen der Etablierung seiner Position innerhalb der politischen Tradition von Kos. Angesichts der oben analysierten Strategie der Poleis und des bewussten Rückgriffs auf historische und mythische Vergangenheit könnte allerdings dieses „koische Dreieck“ ebenfalls hierher gehören. 56 IG XII 4, 2, 712–779. 57 IG XII 4, 2, 783–809. Weihungen an die theioi patrooi mit ähnlichem Formular sind auch für M. Spedius Rufinus Phaedrus (2. Jh. n. Chr., wohl nach Sabinianus; IG XII 4, 2, 810–813) belegt. 58 Auch Diodoros Pasparos scheint gewissermaßen in die Fußstapfen seines Vaters Herodes getreten zu sein, der ebenfalls kultische Ehrungen erhalten hatte, wie die Opfer und die Bekränzung seiner im Gymnasium befindlichen Kultstatue (agalma) (I.Pergamon 256,20; Hepding 1910, 409–411, Nr. 3,17–120 = Chankowski 1988, 162f. [Nr. II]; 190 Anm. 22) während des Hermaia-Festes bezeugen: vgl. auch Gauthier 1985, 63; Chankowski 1988, 190; Strubbe 2004, 321. Dass die hervorragende Stellung der großen Euergeten symbolisches Kapital für ihre Nachfahren darstellte, zeigen ebenfalls die Beispiele von M. Pompeius Macrinus Neos Theophanes (PIR² P 628), Suffektkonsul von 115 n. Chr., und von der unbekannten Verwandten „aus der Nachkommenschaft des die vaterländische Freiheit und Steuerbefreiung erlangt habenden Theopompos, Sohnes des Artemidoros“ (I.Knidos 71,2–5; ausgehendes 1. Jh. n. Chr.–beginnendes 2. Jh. n. Chr.; Übersetzung Bruns-Özgan 2009, 113–115), die unter Akklamation des Volkes in der Stadt „bei den Vorfahren“ (Z. 15) begraben wurde. Die Bezugnahme auf Theopompos, Vater des Artemidoros, sowie die Erwähnung eines Grabes der Vorfahren im Stadtbereich berechtigt zu der Annahme, dass auch Theopompos nicht nur ähnliche Ehrungen wie Artemidoros, sondern auch ein Begräbnis innerhalb der Stadt erhielt. Solche „série[s] des tombeaux“, die außer Knidos, auch in Kyme, Milet, Ephesos und Messene zu beobachten sind, konstituierten nach Fröhlich 2013a, 293 mit Anm. 338, 340, „des exempla pour les citoyens, des lieux importants de la mémoire civique, s’ajoutant, sur l’agora, souvent ailleurs, aux tombes de héros, aux sanctuaires, à la forêt de statues honorifiques“. 59 Virgilio 1994, 314. 60 Vgl. Hölscher 2014, 279f.

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historischen Personen und deren „große“ Taten zu einem Teil ihrer Geschichte und somit zu exempla für zukünftige Eliten und Bürger. Die gegenseitige Bezogenheit von Protagonisten und Ereignissen führte andererseits zur parallelen Bildung eines weiteren semantischen Referenzsystems, das sich in seinem Einsatz als symbolisches Kapital für direkte Nachkommen (z. B. Oiniades und Demetrios aus Kyzikos) und indirekte Nachfolger (z. B. Theophanes und Potamon oder Nikias und G. Stertinius Xenophon) manifestierte. Der Glanz einer Bezeichnung als „Sohn des Demos“ hat jedenfalls sehr lange gehalten.

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‚Pastorenstücke‘ und ‚Besucherordnung‘ – eine lex sacra aus dem Heiligtum des Zeus Labraundos von Patara* Klaus Zimmermann

Angesichts der rasanten Fortschritte der archäologischen Erforschung Pataras in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten1 mutet es geradezu paradox an, wie wenig wir nach wie vor über die vorchristliche Kulttopographie der westlykischen Hafenmetropole wissen. Ein einziger Tempel – abgesehen von den Resten eines kleinen naos oberhalb des Theater-koilon2 – hat dank seines fortifikatorischen Wertes die christlichen Transformationen überdauert, und es ist bezeichnend, dass wir nicht einmal die Gottheit kennen, die in diesem prominenten Bau einst residierte.3 Um das facettenreiche religiöse Leben in Patara zu rekonstruieren, sind wir bislang weitgehend auf das Zeugnis der Inschriften angewiesen, in denen Religion und Kult eine zentrale Rolle spielen: Von dem überregional angesehenen Orakel des Apollon Patroos wissen wir mittlerweile immerhin, dass es sich in einem Heiligtum der apollinischen Trias befand, das mitsamt einem Prophetenhaus in einem suburbanen, an Kanäle angeschlossenen heiligen Hain gelegen war.4 Im Gymnasion wachten Hermes Agonios und Herakles Kallinikos über die heranwachsende Jugend.5 Aus einer Ehrung für Tiberius Claudius Eudemos ist uns die Existenz zweier Kaisareia bekannt, die um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. aus den Erträgen seiner Stiftung restauriert wurden. 6 Eine unpublizierte Weihung eines Priesters der Isis und des Serapis bezeugt deren kaiserzeitlichen Kult. Einige weitere Gottheiten begegnen als Adressaten von Weihungen, was ihre kultische Verehrung am Ort nicht unwahrscheinlich macht; besonders die mittlerweile zahlreichen Weihaltärchen für Artemis Kombike7 und die Existenz eines Kultvereins der Artemis Maleitike 8 weisen auf hohe Popularität der regionalen Artemis-Epiklesen. Dass auch der Göttervater Zeus in Patara verehrt wurde, legte bislang neben wenigen problematischen Zeugnissen aus der Stadt selbst vor allem die Häufigkeit seines Kultes im

* Meinen Patareer Mitstreitern A. Lepke (Münster) und Ch. Schuler (München) sowie B. Eckhardt (Bremen) und R. Parker (Oxford) sei für anregenden Austausch herzlich gedankt. 1 Einen aktuellen Überblick bieten die Sammelbände İşkan/Işık 2015 und İşkan 2016. 2 Piesker 2012. 3 Zu dem aufgrund seines Dekors sogenannten „korinthischen Tempel“ Işık 2011, 53–55; zuletzt Nieswandt 2016. 4 Schuler/Zimmermann 2012, 598–603 Nr. 6 (1./2. Jh. n. Chr.); Lepke/Schuler/Zimmermann 2015, 357–376 Nr. 9 col. I Z. 20–22 mit dem Komm. 369f. (nach 150 n. Chr.); SEG 44, 1210 (3. Jh. n. Chr.). 5 Zimmermann 2016b Nr. 2 und 3. 6 Lepke/Schuler/Zimmermann 2015, 357–376 Nr. 9 col. I Z. 20–22 mit dem Komm. 368. 7 Etwa TAM II 407 (Provenienz dieses Stückes unsicher); zum Befund aus Patara Lepke 2016, 104f. mit Abb. 85; zu Beinamen und Verbreitung F. Xanthos VII, p. 19f. Komm 2f.; Frei 1990, 1773. 8 SEG 17, 685 (kaiserzeitl.); vgl. Frei 1990, 1770f.

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übrigen Lykien nahe.9 Doch erst ein glücklicher Fund Helmut Engelmanns lieferte den Beleg, dass im hellenistischen Patara ein temenos des Zeus Labraundos existierte,10 was im Zusammenhang mit einem weiteren rezenten Fund besondere Bedeutung gewinnt: Eine soeben von Christof Schuler präsentierte Künstlerinschrift der frühesten Kaiserzeit, die das Wirken des Bildhauers Bryaxis (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.) in Patara bezeugt,11 entscheidet allem Anschein nach die von Clemens von Alexandria offengelassene Frage, ob zwei Statuen des Zeus und des Apollon im lykischen Patara Werke des Phidias oder des Bryaxis waren, zugunsten des letzteren (wenngleich die Möglichkeit, dass Bryaxis in Patara ein anderes Werk geschaffen hat, nicht auszuschließen ist). Die Formulierung „ebenso wie die mit ihnen aufgestellten Löwen“12 lässt weniger auf zwei räumlich getrennte (und jeweils von Löwen begleitete) Bildnisse denn auf eine Statuengruppe schließen, deren Aufstellungsort freilich ungenannt bleibt. Es kann indessen kein unbedeutendes Heiligtum gewesen sein, in dem das Meisterwerk noch ein halbes Jahrtausend nach seiner Entstehung den Ruhm seines Schöpfers kündete. Der bislang einzige in Lykien bezeugte Kult des Zeus Labraundos würde gut in den Kontext hekatomnidischer Herrschaft über Lykien nach dem Ende des lykischen Dynasten Perikles bis zur Eroberung durch Alexander d. Gr. passen13 – sei es, dass die Hekatomniden selbst oder dass ihre lykischen Parteigänger in Patara einen Kult des Zeus Labraundos eingerichtet haben, um dem politischen Anschluss sakrale Legitimation zu verleihen. Damit befänden wir uns zugleich in der frühen Schaffenszeit des Bryaxis, dessen Name eindeutig auf karische Herkunft verweist. Sollte Maussolos oder einer seiner Nachfolger den einheimischen Künstler mit der Anfertigung eines Weihgeschenks beauftragt haben, das in Gestalt von Zeus Labraundos und Apollon Patroos karische14 und westlykische Identität programmatisch miteinander verband? Die eher seltene Kombination von Zeus und Apollon 15 bedarf jedenfalls der Erklärung, und eine solche Erklärung der Bryaxis-Gruppe gäbe zugleich einen Hinweis, was Patara anstelle von Xanthos16 zum Kultort des hekatomnidischen Schutzgottes prädestinierte: das überregional renommierte Orakel – ein interessantes Schlaglicht auf das Verhältnis der benachbarten Städte in spätklassischer Zeit. Dass mangels näherer Angaben zu Auftraggeber, Aufstellungsort wie Typologie der Statuen 17 die vorstehenden Überlegungen zur 9 10 11 12 13 14

Frei 1990, 1841f. (Zeus in Patara); 1845f. (Zeus in Lykien). Engelmann 2007, 134f. Schuler 2016 mit der im folgenden zusammengefassten Argumentation und den Belegen. Clem. Alex. protr. 4,47,4: καθάπερ τοὺς λέοντας τοὺς σὺν αὐτοῖς (sc. τοῖς ἀγάλμασιν) ἀνακειμένους. Knapp zusammengefasst bei Marek 2010, 209. Zur Bedeutung des Zeus Labraundos für die Selbstdarstellung der Hekatomniden in Münzbildern und Bautätigkeit etwa Debord 2001, 25f.; Karlsson 2015, 77f. 15 Zur Seltenheit gemeinsamer bildlicher Darstellungen verweist Schuler 2016, Anm. 22 auf Lambrinudakis 1984, 282. Die wenigen – zudem sämtlich kaiserzeitlichen – gemeinsamen Priesterämter oder Weihungen aus Lykien scheinen eher die Ausnahmen darzustellen, die die Regel bestätigen, dass die beiden im lykischen Pantheon herausragend vertretenen Gottheiten (zu Apollon Frei 1990, 1765; zu Zeus s. o. Anm. 9) überwiegend getrennt auftreten: TAM II 403 (Patara, 2. Jh. n. Chr.?): Altar für Theos Soter Hedraios Asphales, Poseidon Hedraios und Helios Apollon (dazu Frei 1990, 1822: „Theos soter wird Zeus meinen“); TAM II 130 Z. 3; 148 Z. 5–7 (Lydai, 1./2. Jh. n. Chr. bzw. „kaiserzeitl.“): gemeinsames Priesteramt u. a. des Apollon und des Zeus; IGR III 692 Z. 11f. (Simena, 1./2. Jh. n. Chr.): gemeinsames Priesteramt der Roma, des Zeus und des Apollon. 16 Zu dortigen karischen Kultimporten Hornblower 1982, 120f. 17 Zur Ikonographie des Zeus Labraundos Fleischer 1973, 310–324 mit Taf. 137–143a.

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Deutung des literarisch-epigraphischen Befundes lediglich hypothetischen Charakter besitzen, sei mit Schuler ausdrücklich betont. Gegenstand der folgenden Glückwunschadresse ist denn auch die bislang wenig beachtete lex sacra, die vor ihrer Wiederverwendung an der Ostseite der byzantinischen Befestigungsmauer etwa auf Höhe der Stadtkirche im temenos des Zeus Labraundos zwei Aspekte des Opferbetriebes regelte: Τοὺς θύοντας Διῒ Λαβραύνδωι ἢ τῶν ἐντεμενίων θεῶν τινι διδόναι τῶι ἱερεῖ ἀπαρχὴν ἀφ’ ἑκάστου ἱερεου πλάτα ἴσον·18 ἄλλωι δὲ μηθενὶ ἐξέστω συναγωγὴν ποεῖσθαι μηδὲ καταλύειν ἐμ τῶι τεμένει πλὴν τῶν θυόντων.

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„Wer dem Zeus von Labraunda oder einer der im gleichen temenos verehrten Gottheiten opfert, soll dem Priester als Erstlingsgabe von jedem Opfertier ein der Schulter gleichwertiges Stück geben. Außer den Opfernden soll es niemandem erlaubt sein, im temenos eine Versammlung abzuhalten oder sich zu lagern.“ Trotz eines ansehnlichen und stetig wachsenden Inschriftencorpus wissen wir über die Details des Kultes im karischen Stammheiligtum des Zeus Labraundos nur wenig. Zwei späte Abschriften einer Neuregelung des jährlichen Festes nach dem gescheiterten Attentat des Jahres 355/54 auf Maussollos19 sind zu fragmentarisch, um neben Hinweisen auf eine Zulassung der „anderen Karer“20 (i. e. nicht nur der Mylaseer) zu nunmehr fünftägigen Feierlichkeiten Einzelheiten des Ablaufs und der Organisation zu rekonstruieren.21 Ein Dossier von Texten aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts zum Status Labraundas22 überliefert u. a. die offenbar unbegründete Beschwerde eines Priesters namens Korris an Seleukos II., die Mylaseer hätten Teile des Tempellandes vereinnahmt, ihm die zustehenden Opferanteile verweigert und sich überhaupt „schlecht benommen“23 – doch worin die angeblich vorenthaltenen γέρα τὰ γινόμενα [αὐ]τῶι παρὰ τῶν θυόντων (Z. 4f.) bestanden, erfahren wir nicht. Der Abschrift eines Beschlusses kultischer Ehren für den Dynasten Olympichos entnehmen wir immerhin, dass schon Maussollos im Heiligtum des Zeus Labraundos einen Altar besaß;24 sollte die Hypothese einer hekatomnidischen Initiative in Patara zutreffen, so hätten wir mit ihm möglicherweise auch unter den ἐντεμένιοι θεοί des dortigen Zeus Labraundos zu rechnen.

18 So Chaniotis, EBGR 2007, 45 gegen ed. pr.: πλάτα ἴσον, „ein gleich (großes) Stück der Platas“; zum Opfer passend, doch unsicher überliefert πλαταΐσαι· τὸ ὠμοθετῆσαι Hesych. π 2471 (vgl. ed. Hansen). 19 Syll.3 167 Z. 33–38. 20 Der Ausschluss vom Kult I.Labraunda 5 Z. 14–18 bezieht sich allerdings nicht auf die „übrigen Karer“ (so Schwabl 1978, 1463), sondern auf die Chrysaoreis. 21 I.Labraunda 53 und 54A mit dem Komm. 22 Zusammenfassend Crampa, I.Labraunda I, p. 80f. 23 I.Labraunda 1 Z. 1–6. 24 SEG 58, 1220 (mit den Bemerkungen von Hamon, BE 2012, 373) Z. 9–11; zur Bedeutung dieses Zeugnisses vorhellenistischen Herrscherkults Ameling 2013.

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Ansonsten liefern zur Frage nach der Anzahl und Zusammensetzung des Götterkollektivs in Patara weder die Befunde aus Labraunda und Mylasa noch die spärlichen Zeugnisse für Zeus Labraundos aus dem übrigen Karien und der griechischen Welt brauchbare Anhaltspunkte: Dass im Heiligtum von Labraunda möglicherweise Kybele gemeinsam mit Zeus in Form eines hieros gamos verehrt wurde,25 erlaubt nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf den lykischen Kultexport, wenngleich die Löwen der Bryaxis-Gruppe in gewisser Weise an die Ikonographie der von Löwen umgebenen Kybele erinnern. Mehrere Zeugnisse eines gemeinsamen Priestertums der Hera und des Zeus Stratios (den Herodot und Strabon mit Labraunda assoziieren)26 aus Mylasa27 erscheinen auf den ersten Blick signifikant, doch mahnt das fast völlige Fehlen des Beinamens Stratios in Labraunda zur Vorsicht, der antiken Gleichsetzung unbesehen zu folgen.28 Gemeinsames Auftreten mit anderen Zeus-Epiklesen wie auf einem Altar aus Aphrodisias29 bezeugt lediglich deren religionshistorische Nähe; in der Inschrift eines Altars des Ktesios, des Meilichios und des Kronion aus Milet ist der Zusatz καὶ Διὸς Λαβρενδου (Z. 9f.) nachträglich angefügt,30 und bei dem Text, der ebendort einen Altar dem Apollon Didymeus Soter und dem Zeus Labraiondos Soter zueignet, 31 handelt es sich dem Layout zufolge nicht um eine Doppelweihung, sondern um zwei sukzessive angebrachte, voneinander unabhängige Dedikationen, was auch diesen Stein als Argument für Kultaffinität der genannten Gottheiten hinfällig macht. Verschiedentlich belegt ist dagegen der Begriff der ἐντεμένιοι θεοί, die im Heiligtum einer Hauptgottheit kultische Verehrung in einem eigenen Bezirk oder auch nur an einem eigenen Altar genossen. Opfer für einen ἐντεμένιος θεός des Asklepios – vielleicht Apollon32 –, für die offenbar die gleichen νομιζόμενα zu entrichten waren, erwähnt ein Text der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. aus Amphipolis.33 Um 300 v. Chr. begegnen ἐντεμένιοι θεοί in einem milesischen Gesetz zu priesterlichen Opferanteilen,34 das aufgrund der Nennung von Opfern an Apollon (Z. 6) sowie eines Festes der Apollonia (Z. 8) sicher dem Heiligtum des Apollon Delphinios zugeordnet werden kann,35 wo „the worship of Apollo Delphinios and a plurality of figures, his ‚co-precinct gods‘ (ἐντεμένιοι θεοί), is well-attested and constitutes a characteristic of the cult“:36 Hekate, Zeus Soter, Artemis, Hestia, Herakles und andere waren im temenos des 25 26 27 28 29 30

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Karlsson 2015, 76f. Hdt. 5,119,2; Strab. 14,2,23. I.Mylasa 204 Z. 16; 301 Z. 5f.; 405 Z. 3f. (2. Hälfte 2. Jh. v. Chr.?). Debord 2001, 30 mit Anm. 70. CIG 2750 (McCabe 176): Διὸς Λαβραύν|δου | καὶ Διὸς μεγίσ|στου. Milet VI 3, 1268 mit dem Komm.; zur Erklärung einer Gruppe von Weihungen an Zeus Labraundos aus Milet mit dem Isopolitievertrag des Jahres 215/14 (Milet I 3, 146), in dessen Folge sich zahlreiche Mylaseer in Milet einbürgerten und den karischen Kult mitbrachten, vgl. Herrmann/Günther/Ehrhardt, Milet VI 3, p. 164f.; Popularität des karischen Gottes in Milet bereits um die Wende vom 4. zum 3. Jh. v. Chr. setzt dagegen die Annahme Mikalsons (1998, 260f.) voraus, bei dem durch eine Ehrung des Schatzmeisters von 299/98 bezeugten Kultverein des Zeus Labraundos im Piräus (IG II/III2 1271; vgl. Kloppenborg/Ascough 2011, 78–80 Nr. 13) habe es sich um eine Gründung von Milesiern gehandelt. Milet VI 3, 1269 mit dem Komm. So Lupu, NGSL2, 247f. SEG 44, 505 Z. 14f. Milet VI 3, 1221 mit dem Komm. sowie Carbon 2013a, 28 Anm. 7. Vgl. bereits die Weihung von 323/22 v. Chr. an Apollon Delphinios und die ἐντεμένιοι θεοί durch den Aisymneten der molpoi Leon, Milet I 3, 159 mit Carbon 2013a, 33f. Carbon 2013a, 28.

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Apollon präsent;37 die Einschränkung καὶ τῶν ἄλλων θεῶν τῶν [ἐν]τεμενίων ὅσων ἱερᾶται ὁ ἱέρεως (Z. 3f.) zeigt im übrigen, dass die Zuständigkeit des Priesters für alle Kulte innerhalb des Heiligtums wie in Patara (Z. 3: … ἢ τῶν ἐντεμενίων θεῶν τινι) oder im milesischen Asklepieion des ersten nachchristlichen Jahrhunderts38 keineswegs selbstverständlich war. Wenige Jahrzehnte später weihen die Samier dem ptolemäischen Nauarchen Kallikrates eine Statue im Heiligtum der Θεοὶ Σωτῆρες und der übrigen dort verehrten Götter.39 Auf Delos begegnen um die Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert ἐντεμένιοι θεοί im Zusammenhang mit dem Kult der ägyptischen Gottheiten.40 In einem fragmentarisch erhaltenen Isopolitievertrag mit Milet aus Amyzon vom Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. sind abermals ἐντεμένιοι θεοί des Apollon (Delphinios?) erwähnt.41 Und der Fundort des Ehrenbeschlusses für Dioskurides im prienischen Athenaheiligtum legt nahe, dass der Gymnasiarch sein zu Amtsantritt versprochenes Opfer für ein Festmahl der Gymnasiongemeinschaft den dortigen ἐντεμένιοι θεοί dargebracht hat, bei denen Wolfgang Blümel neben der Hauptgottheit an Zeus Olympios und Poseidon Helikonios denkt.42 Ist das Phänomen derartiger Nebenkulte durch Funde oder Erwähnungen in der gesamten griechischen Welt bestens bezeugt, so weist der Begriff der ἐντεμένιοι θεοί, wenn auch nicht auf eine bestimmte Gottheit, so doch in seiner überwiegenden Verbreitung deutlich auf den südionisch-karischen Raum,43 was zu einem Import des karischen Zeus Labraundos nach Patara zur Zeit hekatomnidischer Hegemonie über die nördliche Nachbarregion44 durchaus passen würde. Es ist dies nicht der Ort, ausführlich auf die Variantenvielfalt der Bestimmungen zum priesterlichen Anteil im griechischen Opferkult einzugehen.45 Ins Auge fällt zunächst, dass der neue Text für das dem Priester zukommende Stück statt des üblichen τὰ γέρα, τὰ νομιζόμενα o. ä. von ἀπαρχή spricht, was gewöhnlich Opfer, Weihgaben, auch Tribute und Abgaben etc. bezeichnet, deren Empfänger die Gottheit ist.46 Im Anschluss an eine Kategorisierung spezifischen Opfer- und Weihevokabulars hat kürzlich Theodora Jim das Überwiegen allgemeiner Begriffe wie ἀπαρχή in den epigraphischen Zeugnissen konstatiert und ge-

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Herda 2011, 67f.; Carbon 2013a, 29. LSAM 52 Z. 6–8: ἱερωσύνην Ἀσκληπιοῦ πρὸ πόλε|ως καὶ τῶν ἐντεμενίων αὐτοῦ θεῶν πάν|των. IG XII 6, 1, 282. IG XI 4, 1215 Z. 6f.; 1239 Z. 3f.; Weihungen der 2. Hälfte 1. Jh. v. Chr. aus Thessalonike an Isis bzw. Osiris καὶ τοῖς ἄλλοις θεοῖς τοῖς ἐντεμενίοις πᾶσι καὶ πάσαις: IG X 2, 1, 83 Z. 6–8; 109 Z. 5–7; vgl. auch 84 Z. 5f.; 116 Z. 2. Amyzon 27 C/D mit den Ergänzungen SEG 47, 1549. I.Priene (2014) 41 Z. 8–10 (1. Viertel 1. Jh. v. Chr.): ἐβεβαίωσεν δὲ τὴν ἐπαγγελίαν παραστή|[σ]ας μὲν τοῖς ἐντεμενίοις θεοῖς τὴν θυσίαν, τὰ δ’ ἀπ’ αὐτῆς κρέ[α] | [διανείμ]ας τοῖς [ἀλε]̣ι̣ψαμένοις (Z. 10 corr. Hamon 2012, 68 Anm. 34) mit dem Komm. zu Z. 9. Carbon 2013a, 29 mit besonderer Betonung Milets: „somewhat of a particular case“. Hornblower 1982, 110–114. E. g. Lupu, NGSL2, 42–44; Jim 2014, 40 Anm. 48. Vgl. Lupu, NGSL2, 377 Komm. 27 A Z. 15f. 19 (Selinus, 1. Hälfte 5. Jh. v. Chr.); Jim 2011 (archaische und klassische Zeit); Patera 2012, 29–40; zuletzt ausführlich Jim 2014, 28–58. 250–[273]. – Geldbeträge als aparchai hatten etwa die Opfernden in Olbia (IGDOP 88 Z. 11f. [ca. 230 v. Chr.] mit dem Komm. p. 140f.) und Thasos (LSCG Suppl. 72 Z. 1–3 [1. Jh. n. Chr.]) εἰς τὸν θησαυρόν zu entrichten – und damit de iure ebenso an die Gottheit wie die aparche für Eleusis (e. g. Clinton 2010) oder die aparchai der athenischen Seebundsbeiträge (Giovannini 1997).

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wiss zu Recht mit fehlendem Bedürfnis der antiken Gläubigen nach terminologischer Präzision erklärt; stets handelt es sich dabei jedoch um „gifts to the gods“.47 Dass die Opferanteile der Götter im Laufe der Zeit dazu tendierten, die Einkünfte des Priesters aufzubessern, zeigt sich etwa, wenn in Milet um 400 v. Chr. die ἱερὰ μοῖρα neben den übrigen priesterlichen Anteilen aufgeführt wird48 oder man im Iasos des frühen 4. Jahrhunderts das Anrecht des Priesters des Zeus Megistos u. a. auf das Lendenstück mit dessen Bestimmung für den Altar begründet (λαμβανέτω … σὺν τ[ῆι] ὀσφύϊ, ὡς ἐ ̣π̣[ιτί]θεται ἡ ὀσφῦς).49 Doch während dort immerhin noch grundsätzlich unterschieden wird, bleibt in Patara die Gleichsetzung von ἀπαρχή und priesterlicher Einnahme unkommentiert: Die Verehrung der Gottheit ist – etwas pointiert formuliert – in der Versorgung ihres Personals aufgegangen. Was der Gottheit und damit ihrem Priester zustand, wirkt auf den ersten Blick geradezu simpel geregelt. Ohne Unterscheidung öffentlichen und privaten Kultvollzugs, für die etwa in Milet abweichende Bestimmungen galten,50 unabhängig vom Status des Opfernden,51 ungeachtet auch der Anzahl der im Rahmen einer Kulthandlung geopferten Tiere 52 erhielt der Priester von jedem Opfertier einen Standardanteil, der indessen nicht – wie sonst üblich – anatomisch vorgegeben ist:53 Die Formulierung πλάτα ἴσον, „ein der Schulter gleichwertiges Stück“ lässt vielmehr das Anliegen erkennen, den Wert des Priesteranteils zugleich allgemeingültig und in Relation zu Art und Größe des betreffenden Opfertiers festzusetzen, wobei die Wahl der tatsächlichen ‚Pastorenstücke‘ offenbar der Aushandlung durch die Beteiligten überlassen blieb. An die Stelle religiös legitimierter Konvention (göttliches/ priesterliches Vorrecht auf ein bestimmtes Stück) ist eine Art relativer Besteuerung des beim Opfer anfallenden Sachwertes getreten, die in der Anwendung so konfliktträchtig gewesen

47 Jim 2012, 336f. – Auf den Ausnahmecharakter des Textes aus Patara verweist Jim 2011, 48; Jim 2014, 37f. und 260: „… priestly perquisites were normally termed ἱερεώσυνα and γέρα, but not ἀ/ἐπαρχή. The Hellenistic lex sacra from Patara in Lycia is unusual in this respect: apparently the priest was to receive a portion termed aparche as his priestly due. This is a rare instance where an aparche, instead of a traditional ‚first offering‘ for the gods or a ‚religious payment‘ (for various cult purposes), went entirely to the priest, so that the word signifies essentially a ‚priestly portion‘“; nur mittelbar zu Priestereinkünften werden pekuniäre aparchai auf Kos (IG XII 4, 1, 319 Z. 10–22 [letztes Viertel 2. Jh. v. Chr.]; 294 Z. 23–25 [frühes 1. Jh. v. Chr.]), wo neben der Finanzierung von Bau- und Renovierungsmaßnahmen resp. der Anfertigung einer Weihgabe jährlich die Hälfte bzw. ein Drittel der Einnahmen an die Priester ausgezahlt wurde (Jim 2014, [273] Tab. 1 [r (i)] und [s]). 48 Milet VI 3, 1219 Z. 4–8: … σπ[λ]|[ά]γχανα καὶ νεφρὸν κα[ὶ] | [σ]κολιὸν καἰερὴμ μοί[ρ]|[η]ν καὶ τὰς γλάσσας πά[σ]|ας. 49 I.Iasos 220 in der Neuedition von Fabiani 2016, 174 Z. 1f. (1. Viertel 4. Jh. v. Chr. oder wenig früher): „he shall take … along with the sacrum, as this is placed on (the altar)“ mit dem Komm. 168–170; zur ὀσφῦς als ἱερὰ μοῖρα Dimitrova 2008; Ekroth 2009, bes. 129–131. 50 Milet VI 3, 1219 (um 400 v. Chr.): Privatleute behalten die Felle, die bei Opfern der Polis neben den in beiden Fällen gleichen Fleischanteilen an den Priester fallen; 1221 Z. 5 (um 300 v. Chr. oder etwas später): ἢν δὲ εὐστὸν θύηι ἡ πόλις … 51 Bürger und Fremde unterscheidet z. B. Milet VI 3, 1221 Z. 6: ἢν ξένος ἱεροποιῆι τῶι Ἀπόλλωνι … 52 So stipuliert I.Iasos 220 Z. 2f. (Fabiani 2016, 174) gleiche Priesteranteile, εἰάν τε πολλὰ ἐξά|γηι ἱερέα εἰάν τε ἕν (mit dem Komm. Fabiani 2016, 176), während Milet VI 3, 1221 Z. 1f. differenziert: ἢν ἓν θ[ύη]ται … ἢν δὲ πλέω θύηται … 53 Erhardt, Milet VI 3, p. 132 Komm. 1219.

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sein mag wie jede andere, in ihrem Bemühen um transparente Einheitlichkeit 54 gegenüber sonstiger Praxis55 aber regelrecht fortschrittlich anmutet. Zum anderen galt die Sorge der Gesetzgeber der Vermeidung von Zweckentfremdung des Heiligtums durch unbefugten Aufenthalt in zweierlei Form: Untersagt war zunächst jede Versammlung ohne Opferhandlung, was weniger an Sitzungen öffentlicher Institutionen denken lässt, die man – wenn sie denn in Heiligtümern tagten56 – kaum auf diese Weise zum Opfer verpflichtet oder hinauskomplimentiert hätte. Gemeint dürften eher Veranstaltungen wie auch immer zusammengesetzter privater Gemeinschaften gewesen sein,57 zu denen Ort und Infrastruktur offenbar einluden. 58 Schwieriger zu interpretieren ist das Verbot des καταλύειν, das parallel zum συναγωγὴν ποεῖσθαι von μηθενὶ ἐξέστω abhängt, also neben der Versammlungsklausel individuelles Verhalten regelt. Ging es darum, Übernachtungen im temenos zu unterbinden, wie eine Parallele aus Knidos nahezulegen scheint, die im Zusammenhang mit der Reinheit des Heiligtums des Dionysos Bakchios Männern wie Frauen generell das καταλύεν ἐν τῶι ἱαρῶι verwehrt?59 Im Hinblick auf die Einschränkung πλὴν τῶν θυόντων müsste der Sinn in Patara dann wohl darin bestanden haben, die Übernachtungskapazität des heiligen Bezirkes anreisenden Festteilnehmern vorzubehalten, kultfremde Nutzung als Absteige dagegen zu verhindern. Zwingend ist ein Verständnis im Sinne von „nächtigen“ jedoch nicht: Betrachten wir die beiden Aspekte der Aufenthaltsbeschränkung ge-

54 Zu Gleichheit (ἰσότης) als Grundsatz politischen und gesellschaftlichen Lebens im hellenistischen Kleinasien Hamon 2012, 59–61. 55 Siehe neben den oben genannten Beispielen etwa die Regelung für verschiedene Opfertiere Milet VI 3, 1219 Z. 10–13: ἢν δὲ [β]õν ἔρ̣[δ]|[η]ι, δύο κρέα καὶ χόλικα̣ | [κα]ὶ αἱμάτιον καὶ κορυ|[φαῖ]α. 56 So wird man sich die συναγωγὰ τῶν συνέδρων in Andania (Gawlinski 2012, 74 Z. 48f. mit dem Komm. p. 158f.) ebenso im Heiligtum vorzustellen haben wie die boule im Anschluss an die Mysterien im Eleusinion Andok. 1,111; das delische ekklesiasterion (Syll.3 662 [ca. 165/64 v. Chr.]) befand sich im Inneren des Apollonheiligtums (I.Delos 1519 Z. 1f. [154/53 v. Chr.]: ἐκκλησί|α ἐν τῶι ἱερῶι τοῦ Ἀπόλλωνος). Zahlreiche Bundesorganisationen tagten an gemeinsamen Kultstätten wie der des Zeus Chrysaoreus, wo nach Strabon (14,2,25) das karische koinon sowohl zum Opfer als auch zur Beratung gemeinsamer Angelegeneiten zusammenkam (McInerney 2015, 212); Heiligtümer in Randlagen dienten als Gerichtsorte in Grenzstreitigkeiten wie Olpai im akarnanischen Grenzgebiet zu Argos Amphilochikon (Freitag 2015, 73). 57 Zwar nutzten Vereine bisweilen eigene Versammlungslokale (Baslez 2013, 248 [Delos]) bzw. temene (Günther 1995, 43 [Milet]), doch ist ihre Präsenz in öffentlichen Heiligtümern ebenfalls gut bezeugt (Steinhauer 2014, 118–126). Aus Athen wissen wir (LSCG 36 Z. 2–12 [4. Jh. v. Chr.]), dass sich die Frauen im Thesmophorion des Piräus zu bestimmten Tagen κατὰ τὰ πάτρια versammelten und dass außerhalb dieser Termine die Nutzung des Heiligtums „ohne die Priesterin“ (ἄνευ τῆς ἱερέας) untersagt war (vgl. Burkert 1972, 164 mit Anm. 41; Stehle 2012, 196) – was in der Sache dem Verbot von Versammlungen und Aufenthalt (zum καταλύειν s. u.) ohne Opfer in Patara recht nahekommt. 58 Inwieweit die Ausgestaltung des Heiligtums von Labraunda nach Art eines persischen paradeisos (Karlsson 2015, 78–81) in Patara nachempfunden wurde, entzieht sich freilich unserer Kenntnis. Allgemein zum griechischen Heiligtum als Ort der Ästhetik, der Integrität und des Friedens Brulé 2012, 193–220 („De téménos en paradis?“) und passim. 59 I.Knidos 160 Z. 7–12 (2. Hälfte 4. Jh. v. Chr.): μὴ ἐ[ξῆ]|[μ]εν καταλύε[ν ἐν] | [τῶ]ι ἱαρῶι τῶν ̣ [Βάκ]||[χων μ]ηδένα, μή[τε] | [ἄρσ]ενα μή[τε θή]|[λεια]ν ̣ („es ist niemandem – weder Mann noch Frau – erlaubt, in dem Heiligtum der Dionysosdiener zu nächtigen“ [Blümel]) mit dem Komm. p. 105.

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meinsam und im Kontext des Gesamtdokuments, so zielte die Regelung darauf ab, unabhängig von Tages- oder Nachtzeit Zusammenkünfte ebenso wie individuelles Lagern60 im Heiligtum auf solche Personen(gruppen) zu beschränken, durch deren Opfer der Priester in den Genuss der zuvor festgesetzten Einkünfte kam. Ob der Ausschluss aller übrigen einen konkreten Anlass hatte und gegen eine spezielle Zielgruppe gerichtet war, verrät der Text ebenfalls nicht. Dass Militär zu den notorischen Störfaktoren hellenistischen Kultbetriebes zählte, wissen wir u. a. von einem Verbot Antiochosʼ III. an seine Truppen, im Heiligtum von Labraunda zu kampieren,61 aber auch aus einer Inschrift des 3./2. Jahrhunderts v. Chr. aus dem Letoon, die zwischen Soldaten im Dienst und solchen in Zivil unterscheidet, indem sie das Betreten des Heiligtums mit jeglicher militärischen Ausrüstung untersagt.62 Mit dem anschließenden Passus, niemandem außer den Opfergästen sei das καταλύειν in den Säulenhallen gestattet,63 stellt letzterer Text zugleich die nächste Parallele zu unserer Vorschrift aus Patara dar; von Inspiration 64 und identischer Bedeutung ist angesichts der geographischen und zeitlichen Nähe auszugehen: ‚Aufenthalt nur für Gottesdienstbesucher‘ – so könnte man die Klausel cum grano salis umschreiben, wobei ein wesentlicher Unterschied darin besteht, dass exklusive Gottesdienstzeiten in heutigen Kathedralen neben der Andachtsruhe kostenfreien Zugang der Gläubigen gewährleisten, während das Ergebnis in Patara eine Reduzierung des Verkehrs im Heiligtum auf ‚zahlende‘ Besucher war. Nicht selten stehen innerhalb des Corpus, das wir üblicherweise als leges sacrae bezeichnen,65 ökonomisch-administrative Aspekte des Kultbetriebes im Vordergrund, was einer der Gründe ist, weshalb die Brauchbarkeit seiner Bezeichnung als „heilig“ immer wieder in Zweifel gezogen wurde. Das Exemplar aus dem temenos des Zeus Labraundos in Patara scheint das schon von Martin Nilsson als „Säkularisierung“ bezeichnete Phänomen66 gleichsam in komprimierter Reinkultur zu bezeugen. Freie Flächen oberhalb und unterhalb der ers-

60 Diese auch von Engelmann 2007, 134 gewählte Übersetzung ist mit den LSJ 900 s. v. καταλύω II angegebenen Bedeutungen durchaus vereinbar, die nur zum Teil den Aspekt des Übernachtens, immer dagegen den des sich Niederlassens enthalten; vgl. bereits Wilhelm 1905, 13, wenngleich dessen Ergänzungsvorschlag μηδὲ σκανοῦν μηδὲ [καταλύειν, „weder zu zelten noch zu lagern“ einer Überprüfung des Steins durch Pomtow nicht standgehalten hat (LSCG Suppl. 43 Z. 3 [Delphi, ca. 218 v. Chr.]). 61 I.Labraunda 46 Z. 8f. (mit der Korrektur der Roberts, Amyzon, 139f.). 62 SEG 36, 1221 Z. 1–11. Mit einer grundsätzlichen Abneigung von Muttergottheiten gegen Krieg und Militär erklärt ed. pr. den bemerkenswerten Befund. Weniger pazifistisch war offenbar die Gottheit eingestellt, unter deren Weihgaben sich einem hellenistischen Inventar aus Patara zufolge ein kothon und ein kausidion (ein Trinkgefäß in Form einer kausia, einer zur makedonischen Militärtracht gehörigen Kopfbedeckung?) befanden: Schuler/Zimmermann 2012, 571. 63 Ebd. Z. 11–14: μηδ’ ἐν ταῖς | στοιαῖς καταλύειν | μηθένα ἀλλ’ ἢ τοὺς | θύοντας; vgl. Blümel, I.Knidos, 105 Komm. 160 Z. 8. 64 Unklar ist allerdings, welches Heiligtum mit seiner Praxis das andere beeinflusst hat, wenn ed. pr. die Inschrift aus dem Letoon zu Recht für eine aktualisierte Abschrift einer früheren Version hält. 65 Zu Begrifflichkeit und Zugang zuletzt Petrović 2015; Zimmermann 2016a. – An dem imperativen Gesetzescharakter des neuen Textes (nach Parker 2005, 63: „true laws“) kann trotz des Verzichts auf eine Strafbestimmung kaum ein Zweifel bestehen; da beide Bestimmungen den Opferkult betreffen, dürften die Kriterien für eine Aufnahme in die „Greek Ritual Norms“ (Carbon/Pirenne-Delforge 2012, 173) erfüllt sein. 66 Nilsson 1967–1974 II, 67: „Die geschäftsmäßige Behandlung des Kultes war ein Teil der Säkularisierung der alten Religion und trug somit zu deren Abbau bei.“

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ten und letzten Zeile lassen ebensowenig wie die Formulierung einen epigraphischen Zusammenhang vermuten; der Text stand allem Anschein nach für sich allein, informiert uns also vollständig über die Intention seiner Urheber, die dank der konsequent grundsätzlichen Formulierung beider Klauseln umso deutlicher zutage tritt: Vereinheitlichung priesterlicher Ansprüche auf der Grundlage eines relativen Wertanteils und Gewährleistung von dessen ausnahmsloser Entrichtung durch alle Nutzer des Heiligtums. Dienstleistungspreis und Ordnungsbestimmung gehen Hand in Hand, um die wirtschaftlichen Interessen in erster Linie des Kultpersonals, aber auch des opfernden Individuums 67 zu sichern. Oder stand mit Pierre Brulé hinter den Ge- und Verboten etwa doch vorrangig die Sorge um „l’harmonie du sanctuaire“,68 die in diesem Falle weder von unwürdigem Feilschen um zustehende Fleischanteile noch vom Getriebe weltlicher Partys gestört werden sollte? Die von Brulé angemahnte Kontextualisierung, durch die sich letztlich jedes Einzelzeugnis in eine Umgebung religiöser Sensibilität einordnen lässt, birgt Chancen und Gefahren zugleich. Indem wir den ‚Fehler‘ isolierter Betrachtung vermeiden, begehen wir jenen der ungesicherten Übertragung religiöser Motive – auch dort, wo davon mit keinem Wort die Rede ist. In unserem Text steht nichts von Heiligkeit, Reinheit, ‚Gottesfrieden‘ u. ä.;69 wir erfahren nur, dass am betreffenden Ort zur betreffenden Zeit hinsichtlich der Opferpraxis die alleinige Sorge den Priesteranteilen galt, das einzige Kriterium für die Berechtigung zum Aufenthalt im temenos die Darbringung eines Opfers war. Das argumentum e silentio ist zugegebenermaßen von begrenztem Wert: Was in einer Inschrift nicht enthalten ist, mag wenige Meter weiter in einer anderen gestanden oder für die Zeitgenossen evident gewesen sein; acht Textzeilen und die hypothetische Verbindung zu Hekatomnidenherrschaft und BryaxisGruppe sind eine schmale Grundlage für Spekulationen über den Charakter eines Heiligtums im Spannungsfeld zwischen politischem Statement, spirituellem Refugium, priesterlicher Einnahmequelle und städtischem Naherholungsziel. Doch gerade deshalb empfiehlt es sich, den Blick auf das zu konzentrieren, was die Quelle erkennen lässt: einen attraktiven Aufenthaltsort in oder nahe der Stadt, dessen Nutzung man zu einem bestimmten Zeitpunkt auf jene zu beschränken beschloss, die entsprechend dem Zweck des Heiligtums mit einem Opfertier erschienen und davon als Standardgebühr ein πλάται ἴσον zu entrichten bereit waren. Halten wir bei aller Prädominanz der geschäftlich-administrativen Aspekte fest, dass es in beiden Bestimmungen wesentlich um das Opfer geht, dessen zentrale Rolle im Kultbetrieb des Zeus Labraundos von Patara damit außer Frage steht.70 Ganz ohne Opfer möge sich dagegen die Jubilarin am 26. November des Jahres 2017 n. Chr. im Kreise zahlreicher durch Gratulation qualifizierter καταλύοντες an einem πλάται ἴσον erfreuen!

67 Jim 2014, 260: „… the common practice of prescribing sacrificial portions in leges sacrae for the officiating priests (and other religious officials), so as to ensure the officials their perquisites, while at the same time protecting the worshippers from being exploited“. 68 Brulé 2012, 196. 69 Brulé 2012, 193–196. 70 Nur en passant sei auf den zu Recht kritisierten Versuch Naidens hingewiesen, die Bedeutung des Tieropfers innerhalb der griechischen Religion zu relativieren (Naiden 2013 mit der Rez. Carbon 2013b, 384–388).

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Gewichte griechischer Städte II. Kontrollstempel mit der Hauptgottheit auf kaiserzeitlichen Stathma Ioniens und Lydiens Peter Weiß

Von den Maßen und Gewichten, die die griechischen Städte von der Spätarchaik bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. als instrumenta publica herausgaben, sind einzig die Stathma bzw. Pondera in erheblichen Zahlen erhalten. 1 Seit etwa drei Jahrzehnten gilt ihnen wegen der rapide steigenden Zahl der Funde wieder ein erhöhtes Interesse. Allein aus der Suna and İnan Kiraç Foundation Collection im Pera Museum Istanbul wurden 2013 im neuen Corpus Ponderum Antiquorum et Islamicorum von Oǧuz Tekin 635 Exemplare aus der Türkei publiziert.2 Insgesamt dürfte die Zahl der bisher veröffentlichten Exemplare bei einer höheren vierstelligen Zahl liegen. In diesem Zeitraum von fast 800 Jahren haben sich auch in diesem grundsätzlich konservativen Genus nicht nur die Gewichtsstandards, sondern auch die Formen und Gestaltungsweisen geändert, zum Teil erheblich.3 Betroffen ist vor allem auch die Art, wie die staatliche Hoheit auf den Gewichten zum Ausdruck gebracht wurde. Während im Ägäisraum und in Kleinasien von der Spätarchaik bis in den späten Hellenismus auf die Oberseiten der einfachen quadratischen Blöcke oder Platten fast überall nur die Parasema als „Wappenzeichen“ und Identitätssymbole gesetzt wurden (mit oder ohne Initialen des Stadtnamens), ähnlich wie auf den Münzen,4 verschwinden sie in Kaiserzeit fast überall. Stattdessen dominiert nun auf den von seleukidischen Einflüssen angeregten, nun großflächigen und oft mit einem Rahmen versehenen Stücken fast ausschließlich die Schrift, unter Verwendung beider Seiten. Bei dieser Entwicklung treten nun neben die oft weiterhin angegebenen Bezeichnungen der Nominale vor allem die verantwortlichen städtischen Amtsträger namentlich in Erscheinung; der Name der Stadt fällt sogar oft weg. Besonders sind diese Phänomene, mittels derer sich die Mitglieder der städtischen Elite präsentierten, im westlichen Kleinasien verbreitet. In der fortgeschrittenen Kaiserzeit beobachtet man bei einer zunehmenden Zahl von kleinasiatischen Gewichten Kontroll- bzw. Garantiestempel verschiedener Art. In Nikomedeia wurden z. B längliche Stempel mit dem Namen des Agoranomen an den inneren

1 Dank gilt Rudolf Haensch und Simone Killen für Hinweise, Joachim Raeder für Hilfe verschiedener Art und Oǧuz Tekin für die Übersendungen von Photos aus CPAI Turkey 3. 2 CPAI Turkey 3,1. Band 3,2 wird die römischen und byzantinischen Gewichte umfassen. 3 Zum Folgenden Weiß 2005. 4 Beispiele: Weiß 2008. Ein vorzügliches Handbuch zu den Gewichten des Ägäisraums bis zum Hellenismus liegt jetzt von Tekin 2016 vor. Eine umfassende Studie von Simone Killen zu den griechischen Parasema, mit dem natürlichen Schwerpunkt auf den Stathma, wird demnächst erscheinen (Killen im Druck).

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Rändern der Gewichte angebracht;5 kleine quadratische oder runde Siegel verschiedener Art sind, wie es scheint, auf Städte der Provinz Asia beschränkt. Die meisten kommen auf Gewichten eines Typus vor, der durch einige sichere Zuweisungen in Ionien und Umgebung fest verankert ist, und der im Folgenden „ionischer Typ“ genannt wird. 6 Diese Gewichte bestehen aus einer meist quadratischen, manchmal runden oder nicht selten herz- bzw. efeublattförmigen Platte mit einem erhöhten, schräg abfallenden Rand auf der Oberseite, auf der in der Mitte das Nominal steht, ausgeschrieben oder bei den Unzen durch eine Zahl ausgedrückt (A, B oder Γ), mit oder ohne eine Handhabe, gegossen aus einer auch später noch verwendbaren Form aus Stein, in der die Angabe des Nominals eingraviert war. Die andere Seite, der flache „Deckel“ beim Guss, war mit den wechselnden Namen der verantwortlichen Magistrate versehen, meist der Agoranomen, und bildete die Unterseite des Stathmon. Solche „Deckel“ mit dem Namen konnte für Stathma verschiedener Größe verwendet werden, denn es kam bei diesem Verfahren nicht unbedingt darauf an, dass der Name auf allen Nominalen einer Serie vollständig zu lesen war, sondern auf die Echtheitsgarantie, die auch bei kleinsten Wortfragmenten durch das Erscheinungsbild verbürgt war. Solche Fälle werden hier noch begegnen. Die runden Kontrollstempel ähneln in Größe und Machart stark Gegenstempeln auf Provinzialprägungen. Sie können einen mehrzeiligen Namen des Verantwortlichen tragen, eine Figur, eine Darstellung im Zentrum, flankiert von den Initialen eines Stadtnamens, oder aber umgeben vom Namen der befassten Person, auch in einem Perlkreis, wie bei einer Münze. Soweit sie Darstellungen zeigen, wurden sie wohl von den spezialisierten Werkstätten geschaffen, die auch die städtischen Münzen produzierten und für einen ganzen Kreis von Städten arbeiteten.7 Wenn das Siegel im Namen des Agoranomos eingeschlagen wurde, war er bei der Wahl der Darstellungen frei, solange sie die Polis repräsentierten: Unter den Motiven sind städtische Gottheiten, aber auch Figuren der mythologischen Gründungsgeschichte. 8 In einigen Fällen, besonders wenn die Initialen des Stadtnamens angegeben werden, stehen aber die alten Hauptgottheiten im Zentrum, die προεστῶτες θεοί, die auch zentrale Gestalten der kaiserzeitlichen Städteprägungen waren und die Stadt in den sog. Homonoia-Prägungen mit anderen Poleis repräsentierten. In den Siegeln kehrten sie in ihrer alten Funktion als Parasema wieder. Die einschlägigen Fälle werden im Folgenden zusammengestellt, ergänzt um einige bisher unpublizierte Stathma. Alle Gewichte sind aus Blei gegossen.

1. Ephesos: Artemis Ephesia, Biene, Hirsch Die Zahl der kaiserzeitlichen Gewichte von Ephesos hat sich inzwischen deutlich vermehrt. Zu ihnen gehört auch das folgende, das nach Angaben des Besitzers in Selçuk gefunden wurde.

5 6 7 8

Zum Beispiel Haensch/Weiß 2005, 461 Nr. 5; 466–475 Nr. 7–12. Ausführlich dazu Weiß 2005, 428–430 mit genaueren Nachweisen zur Verbreitung. Weiß 2005, 427 Anm. 76; Weiß 2013b, 684. Ankaios oder Androklos im Kampf gegen einen Eber, aus Samos oder Ephesos; Hindin säugt Telephos, von Pergamon (Weiß 2004, 196 mit fig. 22, 23; ders. 2013, 684 Anm. 44).

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Gewichte griechischer Städte II

1.1 Diunkion9 des ionischen Typs, mit Handhabe. Sehr gut erhalten. H 4,2 (5,0) cm, B 4,2 cm, D 0,4 cm. Gewicht 51,93 g. BH Oberseite 1,8 cm, Unterseite ungleichmäßig 0,6–1,4 cm. Die Gussform der Unterseite ist etwas schräg aufgesetzt worden, so dass die Zeilen fallen. Die Buchstaben der Unterseite sind bestens erhalten, aber sehr schlampig geschrieben; sie ließen sich bisher nicht entziffern. Auf der Handhabe auf einer 2,4 cm breiten, unvollständigen Einstempelung das Bild der Artemis Ephesia, flankiert von den Buchstaben E–Φ.

Oberseite:

B

Unterseite:

࣭Λ ΑΥΦ + Μ̣OCΠ̣ΛỴ ̣ Ν̣ḤΡ̣ [-]ỌỴ[--]

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β’ (δύο, sc. ὄγκιαι) || Λ(ουκίου) Αὐφ(ιδίου) oder Λ(ούκιος) Αὐφ(ίδιος) +++++++++[--]. Stempel: Ἐ-φ(εσίων). Wegen den weitgehend unverständlichen Buchstaben der Unterseite scheint es fast ausgeschlossen, den vollständigen Namen und die Funktion des oder der Verantwortlichen zu ermitteln, unter dem bzw. denen das Gewicht hergestellt wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wohl, wie bei den kleinen Nominalen üblich, rechts, unten, und wohl auch links Buchstaben fehlen, weil man, wie eingangs gesagt, für diese Seiten oft Gussformen für größere Stathma verwendet und das Fehlen von Textteilen einkalkuliert hat. Nur die Namensbestanteile Λ ΑΥΦ sind auf dem Gewicht verständlich und sicher aufzulösen, zu dem römischen Namen L. Aufidius. Für dieses Gentilnomen gibt es in Ephesos mehrere Belege, darunter zwei für Lucii Aufidii.10 Einer davon, Λ. Αὐφίδιος Εὔφημος, gehörte als Grammateus und Asiarch der städtischen und provinzialen Elite an.11 Es wäre wohl nicht ganz unmöglich, Λ. Αὐφ. [Εὔφ]η̣μος zu lesen.12 9 Abb. 1.1: Süddeutsche Privatslg. Aufgenommen in den 1980er Jahren; erwähnt bei Weiß 2005, 429 Anm. 83; Weiß. 2013b, 681 Anm. 30; 684. 10 IEphesos, Index. 11 Schulte 1994, 153 Nr. 40 („wohl zwischen 198 und 210“). 12 Die überlange Haste bei dem halbrunden Buchstaben würde dann nicht zu einem Epsilon gehören,

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Peter Weiß

Ein von Pernice kursorisch beschriebenes Gewicht mit dem Nominal «B