Von der Lust und der Last mit den Methoden: Leidfaden 2020, Heft 3 [1 ed.] 9783666459214, 9783525459218, 9783801728939, 9783801726713, 9783801730338, 9783801730345, 9783525406892, 9783525406908, 9783525406915, 9783525459164

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Von der Lust und der Last mit den Methoden: Leidfaden 2020, Heft 3 [1 ed.]
 9783666459214, 9783525459218, 9783801728939, 9783801726713, 9783801730338, 9783801730345, 9783525406892, 9783525406908, 9783525406915, 9783525459164

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9. Jahrgang  3 | 2020 | ISSN 2192-1202 | € 20,–

faden Leid

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Von der und der mit den

LAST

Antje Randow-Ruddies  Die Heldenreise  Christiane Pohl  Literatur als Beispiel für eine

»­Methode« in der Philosophischen Praxis  Felix Grützner  Geliebt und geschmäht: Körperarbeit als Methode  Reinhold van Weegen  Ein Klang in mir – Einklang in mir Katharina Kautzsch  Hypno­systemische Krisenintervention

INTERNATIONALE FACHTAGUNG VORANKÜNDIGUNG Tagungsthema «Neubeginn? Bewahren und Verändern» Freitag, 21. Mai 2021 in Naters (Wallis, Schweiz) Die Internationale Fachtagung vom 8. Mai 2020 zum Thema «Vertrauen – die tragende Kraft» musste auf das Jahr 2021 verschoben werden.

1. FACHKONGRESS

„Wir müssen mal REDEN...!“ 60 Vorträge & Workshops vor Ort

Live-Stream & On-Demand im virtuellen Programm

Branchenübergreifendes

Forum mit Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis Austausch und Begegnung

analog und digital INFO-TELEFON: 0421.3505 588 Weitere Informationen zum neuen Konzept, dem Programm usw. unter: www.leben-und-tod.de WWW. CHARTA-FUERSTERBENDE.DE

Wir unterstützen die Charta

Veranstalter:

Die Internationale Fachtagung spricht alle an, die Menschen in Krisen und Trauer begleiten.

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EDITORIAL

Eine Methode ist nur eine Methode. Haltung! Für Beratung und Begleitung stehen inzwischen unzählig viele und vielfältige methodische Zugänge zur Verfügung. Ein guter Grund für uns, diese in einem Leidfaden-Themenheft genauer zu betrachten. Eine Methode ist ein Weg zu einem Ziel, wobei die Art und Weise der Erreichung dieses Ziels, die Mittel und die Umstände bekannt sein und begründet werden müssen. Welche Intervention könnte entsprechend meinem Auftrag und dem aktuellen Thema der Klientin oder des Klienten prozessförderlich sein? Methoden umfassen stets auch Techniken und Instrumente. Ein erweiterter Instrumentenbegriff meint nicht nur handwerkliche Instrumente, sondern auch geistige wie Pläne und Konzepte, Ideen und auch besonders die Sprache. In diesem Sinn wirkt in einer Begleitung ein Mensch stets mit Hilfe eines Instruments auf einen anderen Menschen ein. Eine Methode ist nur eine Methode, und wir wissen aus der Psychotherapieforschung, dass deren Wirksamkeit maßgeblich von der (therapeutischen) Beziehung, vom Kontext und der jeweiligen Atmosphäre abhängt, ja, dass dies alles miteinander wirksamer ist als die eigentliche Methode. Dennoch macht es natürlich Sinn, verantwortungsvoll eine methodische Auswahl zu treffen. Allgemeine Merkmale für diese Wahl sind Zweckmäßigkeit, Handhabbarkeit, Funktionsbreite, Ökonomie, Zugänglichkeit, Wirkung und,

das sei hier noch einmal erwähnt, vor allem ein hohes Maß dieser Verantwortung. All das will bedacht sein, wenn wir in Beratung, Begleitung, Therapie und Behandlung Methoden anwenden.  Aus der Praxis und wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass Zuhören von besonderer und großer Bedeutung ist. Wertschätzendes, Leid anerkennendes und würdigendes Zuhören, das die Trauer respektiert und den Austausch untereinander als einen wesentlichen Wirkungsfaktor berücksichtigt. In diesem Heft stellen wir deshalb das Zuhören und einige, vielleicht nicht so bekannte Methoden für unser Arbeitsfeld vor und beleuchten diese auf ihren möglichen Einsatzbereich und zu erwartenden Nutzen. Thematisch nach Blöcken geordnet finden Sie Methoden aus den Bereichen Sprechen und Schreiben, darstellendes Arbeiten, Körperarbeit, Musik und Klang, Reflexion, Erleben. Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre!

Monika Müller

Petra Rechenberg-Winter

Inhalt Editorial 1

4 Stephanie Witt-Loers

Ein Koffer voller Methoden – wo ist der passende Klient?

SPRECHEN UND SCHREIBEN

10 Antje Randow-Ruddies Die Heldenreise

14 Johanna Vedral und Birgit Schreiber | Journal-Schreiben – ein Weg durch die Trauer und zurück ins Leben

14 Johanna Vedral und Birgit Schreiber

Journal-Schreiben – ein Weg durch die Trauer und zurück ins Leben

19 Christl Lieben

Da, wo Sprache verstummt, beginnt Rilke – Systemische Aufstellungsarbeit mit Lyrik

25 Tanja Chawla

Beratung machtkritisch hinterfragt



28 Sidra Khan-Gökkaya und Eliza-Maimouna Sarr »Empowerment bedeutet, sich die Macht zurückzuholen« – Empowerment als pro­fessionelle Haltung in der systemischen Arbeit mit geflüchteten Menschen



34 Christiane Pohl

Literatur als Beispiel für eine »Methode« in der Philosophischen Praxis

19 Christl Lieben | Da, wo Sprache verstummt, beginnt Rilke – Systemische Aufstellungsarbeit mit Lyrik

DARSTELLENDES ARBEITEN

38 Barbara Trautwein

Die Arbeit am Tonfeld® – Berühren und berührt werden



41 Brunhilde Vest

»Durch die Blumen sprechen« – Ein neuer kreativer Ansatz in der Trauerbegleitung

28 Sidra Khan-Gökkaya und Eliza-Maimouna Sarr | »Empowerment bedeutet, sich die Macht zurückzuholen«

34  Christiane Pohl | Literatur als Beispiel für eine »Methode« in der Philosophischen Praxis

KÖRPERARBEIT

46 Annette Kowa

ERLEBEN

Lass deinen Clown für dich und andere spielen! –

Bühne frei – Psychodramatisches Arbeiten im

Clownesker Zugang in beraterischen Prozessen

Rahmen der Trauerbegleitung

51 Felix Grützner



55 Beate Grabow und Ingelore Bonfert



Geliebt und geschmäht: Körperarbeit als Methode



83 Matthias Schnegg

86 Katharina Kautzsch

Hypnosystemische Krisenintervention

Healing Touch – Die heilsame Kraft der

90 Matthias Richter

Das Ressourcen-Fundament

sanften Berührung

91 Anstelle einer Fortbildung:

Hilfreiche Begegnung am Telefon

MUSIK UND KLANG

58

Wolfgang Teichert Ohn-Macht oder Haltungen in der Trauer – Gezeigt am Beispiel der Bachkantate »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« (BWV 106)





62

Kristine Schneider Der Gong als Tor zur Schwingung unseres Lebens

67 Bernadette Calenberg

Qigong als heilsamer Weg in der Trauer



71 Reinhold van Weegen

Ein Klang in mir – Einklang in mir

REFLEXION

74 Wolfgang Heinemann

»Im Nachhinein ist man immer klüger« – Das Instrument retrospektiver ethischer Fall­ besprechungen



79 Katharina Witte und Inge-Marlen Ropers

Schweigen neu erleben – Psychodramatische Supervision in der ehrenamtlichen Hospiz­ begleitung

96 Aus der Forschung: Medizinstudierende und Kunst – Die Vermittlung von Empathie

99 Rezensionen 102 Verbandsnachrichten 106 Cartoon | Vorschau 107 Impressum 62  Kristine Schneider | Der Gong als Tor zur Schwingung unseres Lebens

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Ein Koffer voller Methoden – wo ist der passende Klient? Stephanie Witt-Loers Das, worum es in diesem Artikel geht, erinnert mich an eine Unterhaltung, die ich mit einem Psychotherapeuten hatte. Es war erst ein paar Monate her gewesen, da hatte er mir nach einer Fortbildung zur Schematherapie noch seine Begeisterung für die Methoden geschildert, die dort eingesetzt werden. Er habe sich sofort einige Mittel angefertigt, die er direkt in der Praxis einsetzen wolle. Nun meldete er sich wieder – sichtlich enttäuscht. Die Schematherapie biete doch, gerade weil sie verschiedene therapeutische Techniken nutze, so viele wunderbare Möglichkeiten, um ungünstige Verhaltensmuster zu unterbrechen und zu überwinden. Sein anfänglicher Enthusiasmus war Frustration gewichen: Er könne nicht verstehen, warum seine Patienten und Patientinnen sich mit der Schematherapie so schwertun und diese so schlecht annehmen würden. Damit sind wir schon mitten in unserem Thema: »Die Lust und die Last mit den Methoden.« Gern möchte ich das Thema sowohl aus der Perspektive der Therapeutin/des Therapeuten und Begleiters als auch aus der des Klienten/der Klientin beleuchten.

dann schauen, wo wir individuelle Prioritäten setzen möchten. Aus meiner Sicht darf es keinesfalls darum gehen, die Methode um der Methode willen oder um der Lust an der Methode willen zu wählen. Die Lust an der Methode Die eigene Lust an der Methode ist sicherlich eine Voraussetzung für einen gelingenden Einsatz in der Begleitung. Unsere eigene Freude kann ansteckend wirken und die Klientin motivieren. Zugleich kann sie sich als Fallstrick erweisen: Denn die eigene Überzeugung, der Klientin etwas Gutes zu tun, sollte nicht dazu führen, dass wir der Klientin die Methode überstülpen oder sie indirekt dazu drängen, unser Angebot anzunehmen. Gleichwohl sollten wir die Methoden theoretisch wie praktisch kennen, verstehen und durchführen können. Setzen wir Methoden ein, mit denen wir uns im Inneren nicht verbunden fühlen, wird dies für den Klienten spürbar sein und die Wirkung eher verfehlen. Zielorientierung bei der Methodenauswahl

Lust versus Last aus der Perspektive des Begleiters mit Blick auf den Klienten und seine Perspektive Generell finde ich es hilfreich, wenn uns in der Arbeit mit Trauernden ein »bunter Koffer vielfältiger Methoden« zur Verfügung steht. Wesentlich erscheint mir, dass diese Methoden zu uns als Begleiterinnen und Begleiter passen. In der Praxis bedeutet das sicherlich, dass wir uns mit verschiedenen Methoden auseinandersetzen und

Beim Einsatz jeder Methode im Verlauf der Begleitung sollten wir die mit dem Klienten vereinbarten Ziele im Blick behalten. Um möglichst genau zu erfassen, was der Auftrag des Klienten ist, was für ihn hilfreich sein könnte, welche übergeordneten Ziele sich aus dem Auftrag des Klienten ergeben und ob diese tatsächlich in unseren Kompetenzbereich fallen, ist das ausführliche Erstgespräch zur Abklärung dieser Fragestellungen unabdingbar. Erst dann kann ich eine erste

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Idee entwickeln, ob etwas aus meinem »bunten Methodenkoffer und Erfahrungsschatz« hilfreich sein könnte, um die mit dem Klienten vereinbarte Wirkung in Gang zu bringen. Flexibel und wach sein Um die vereinbarten Ziele der Klientin im Blick zu behalten, ist es wesentlich, im Prozess der Be­ gleitung mit den Angeboten flexibel zu bleiben. Gerade die Flexibilität im Einsatz der Methoden erhält mir meine Lust an »meinen Methoden«, da diese immer wieder in einem anderen, dem individuellen Licht eines jeden Klienten erscheinen. Ich bin herausgefordert, sie mit Hilfe des Klienten anzupassen, weiter zu differenzieren und individuell zu gestalten. Nur wenn ich mich auf die Klientin einlasse, erspüre, wahrnehme und höre, was in und hinter ihren Reaktionen steckt, kann ich dafür sorgen, dass sie zu eigenen Ideen angeregt und durch eine gezielte und flexible Auswahl an Methoden zu den gemeinsam vereinbarten Zielen der Trauerbegleitung hingeführt wird. So können und dürfen sich Ziele im Prozess der Begleitung durchaus verändern. In der Reflexion und bei der Dokumentation der Sitzungen entwickeln sich gemäß meiner Erfahrung häufig für eben diesen Klienten passende methodische Ansätze der Begleitung.

keit und Selbstwert sowie zu einem »neuen Platz für den Verstorbenen zu finden«, unterstützen können. Mich der Worte zu Beginn der Begleitung erinnernd, zitierte ich sie und sagte, dass ich dennoch wagen wolle, ihr mit dem Abstand zu damals das Angebot zu machen, kreativ etwas für ihren verstorbenen Mann herzustellen. Selbstverständlich könne sie das Angebot ablehnen und müsse sich keinesfalls verpflichtet fühlen. Zugleich ermutigte ich sie, aus einer Angebotsauswahl einfach eins auszuprobieren: Was könne schlimmstenfalls passieren, wenn sie mit dem Resultat nicht zufrieden wäre? Wir einigten uns darauf, dass sie dann das Hergestellte wegwerfen könne. Die Klientin ließ sich auf das Angebot ein, in der nächsten Stunde ein Knopf- und Erinnerungsglas herzustellen (Abbildung 1), und war nachher sehr erstaunt und erfreut darüber, dass sie so etwas Schönes allein hergestellt hatte. Nun wünschte sie sich weitere kreative Angebote.

Erfahrungen aus der Praxis – Reflexion des Einsatzes von Methoden am Beispiel kreativer Methoden Maria (31 Jahre) kam nach dem Tod ihres Lebenspartners mit den Worten zum Erstgespräch: »Ich möchte gern Begleitung. Ich habe gelesen, dass Sie auch kreatives Arbeiten anbieten. Das sage ich Ihnen gleich: Damit brauchen Sie mir nicht kommen, das passt nicht zu mir und das kann ich auch gar nicht.« An einem Punkt des Verlaufs der Begleitung hätte aus meiner Sicht die Wirkung einer kreativen Arbeit die Ziele, zu mehr Selbstwirksam-

Abbildung 1: Knopf- und Erinnerungsglas

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Seither stellt sie Friedhofskerzen mit Serviettentechnik her (Abbildung 2) und gestaltet eigene Kunstplastiken, die sie sogar verkauft. Durch diese Erfahrungen hat sie Selbstvertrauen und den Mut entwickelt, eigene Wege zu gehen. Maria ist nur ein Beispiel von Fällen aus meiner Praxis, in denen nach anfänglicher Ablehnung der kreativen Methode dann doch gerade das kreative Tun den Trauerprozess unterstützte, den Selbstwert stärkte und zu einer Ressource wurde.

schwierigen Aufbewahrung und Weiterverwendung der Kleidungsstücke eine tröstende, platzsparende Alternative, mit der meist alle im System einverstanden sind. Ein weiteres Beispiel stellt »unser Graffitiprojekt« dar, das ich seit sechs Jahren für trauernde Kinder und Jugendliche anbiete (Abbildung 3). Es entstand aus Erzählungen von trauernden Jugendlichen. Die Technik des Sprühens ist gerade im Hinblick auf den Ausdruck von Gedanken und Gefühlen interessant, die sonst niemandem mitgeteilt werden sollen. Denn auf eine gesprühte Schicht, um die später nur der Sprayer weiß, können problemlos weitere Schichten gesprüht werden. Sven, dessen Bruder sich suizidiert hatte, sprühte beispielsweise zunächst seine ganze Wut und Verzweiflung in harten, dunklen Farben. Später bekam sein Werk ein ganz anderes Gesicht und zeigte in weichen, hellen Farben die liebevolle Erinnerung an seinen Bruder. Kreative Methoden sollten jedoch nicht zum »Selbstläufer« werden. Dann kann es nämlich passieren, dass die Kindertrauergruppe zur Bastelgruppe mutiert. Möchten Kinder die Kindertrauergruppe gern weiter besuchen, weil das Bas-

Abbildung 2: Friedhofskerzen

Die kreative Methode zeigt einerseits anschau-

lich, dass Methoden den Klienten zu eigenen kreativen Wegen im Umgang mit der Trauer hinleiten können. Es sind andererseits immer die Klienten selbst, die mich mutig gemacht haben, zu improvisieren, neue Methoden zu entwickeln und bekannte Methoden mit ihnen weiterzuentwickeln. So entstand das Angebot des Erinnerungsglases aus meiner Wahrnehmung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Konflikte, die sich in Familien um den Verbleib der Kleidung des Verstorbenen herausbilden. Knöpfe bieten zur

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teln so schön ist? (Auch wenn dies zunächst eine beabsichtigte Wirkweise im Trauerprozess gewesen sein könnte, um Ressourcen zu stärken.) Zudem sollten wir keine Erwartungshaltung provozieren (»Was basteln wir heute?«). Trauerbegleitung sollte ein individueller Raum bleiben, der die Möglichkeit gibt, sich mit dem Erlebten auf unterschiedliche Weise auseinanderzusetzen, und dabei unterstützt, ganz persönliche Wege im Umgang mit dem Verlust sowie der veränderten Zukunft zu finden. Klienten und ihre Perspektive bestimmen den Weg Es gilt, die Konzentration auf die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen mit seinem persönlichen Schicksal zu richten. Methoden passen sich ihnen und ihrem Trauerprozess an – nicht umgekehrt. Immer wieder sollten wir uns daher fragen: Setzen wir im Prozess der Begleitung möglicherweise Methoden ein, die inzwischen sinnentleert und für den Trauerprozess im Kontext der Begleitung nicht weiter erforderlich sind? Bieten wir in der Gruppenarbeit beim Einsatz kreativer Methoden ein einziges Angebot für alle an, weil das für uns praktischer ist, und lassen wir dabei die Indi-

vidualität des Einzelnen außer Acht? Vermitteln wir unterschwellig, dass alle sich an einem Angebot beteiligen sollten? Haben wir ein bestimmtes Angebot im Kopf für eine Klientin, das wir unbedingt anbringen wollen? Klientinnen und Klienten müssen die Freiheit haben, zu wählen, Wünsche sowie Unbehagen an unseren Methoden zu äußern, Angebote anzunehmen oder abzulehnen. Sie sollten sich nicht verpflichtet fühlen oder nur aus Sorge vor der Entziehung der Fürsorge des Trauerbegleiters zustimmen. Wir dürfen weder den Eindruck erwecken, persönlich verletzt zu sein, noch sollten wir es sein, wenn Klienten auf Angebote, von denen wir selber überzeugt sind, negativ reagieren. Unsere eigene Lust darf uns nicht blind werden lassen. Das erfordert eine Haltung der Flexibilität, Fantasie, Kreativität und Aufgeschlossenheit. Um Klienten möglichst viel Entscheidungsfreiraum zu geben, ist es zum Beispiel sinnvoll, Alternativen in der Gruppe und im Einzelsetting anzubieten oder Angebote offen zu formulieren. Aus der für viele Menschen schwierigen »Lernaufgabe«, »Nein« zu den gut gemeinten Ratschlägen und Hilfsangeboten zu sagen, die sie als Trauernde für sich als nicht passend und hilfreich

Abbildung 3: Graffitibeispiel aus dem Graffitiprojekt

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empfinden, habe ich eine Übung entwickelt: das »Neinkästchen« (Abbildung 4). Im Kästchen befinden sich unterschiedliche, von den Klienten und Klientinnen selbst kreierte Neins, zum Beispiel das sanfte, das resolute oder das wütende Nein. Diese können die Klienten in konkreten Situationen daran erinnern, dass Angebote auch abgelehnt werden dürfen.

Abbildung 4: »Neinkästchen«

Methoden können in einem geschützten Raum

den Entwicklungsprozess in der Trauer stützen sowie helfen, sich in einer von Unsicherheit bestimmten Zeit auszuprobieren, an eine neue Lebenssituation anzupassen und eigene Wege zu entdecken. Voraussetzung ist, dass sie immer den individuellen Zielen der Begleitung und den spezifischen Trauerthemen dienen. Dementsprechend müssen wir keineswegs stringent im Angebot der Art der gewählten Methoden und Übungen sein. Es kann beispielsweise um die Bearbeitung von Emotionen, Gedanken- oder

Verhaltensstrukturen gehen und die angebotenen Methoden dürfen variabel rational, kreativ oder körperorientiert ausgerichtet sein. Methoden können eine Bürde sein, haben ihre Grenzen, ihren Markt und ihr Bezugssystem Methoden können zu einer Bürde des Begleiters und damit zugleich für den Klienten werden, wenn wir uns selbst unter Druck setzen. Glauben wir zum Beispiel, die Methode in reinster Form aus dem »Lehrbuch« anwenden zu müssen, blicken wir in unserer Fixierung mehr auf die Methode als auf die Klientin. Wir dürfen nicht vergessen, dass Methoden und Übungen nur ein Teilbereich in der Trauerbegleitung sind. Vereinbarte Ziele können nicht immer oder ausschließlich über sie erreicht werden. Wir müssen ihre Begrenztheit anerkennen und dürfen nicht den gesamten Begleitungsprozess allein von ihnen abhängig machen. Methoden werden zur Last, wenn sie nicht zu uns gehören, sondern wir mit ihnen einem Trend auf dem Psychomarkt entsprechen oder dem Wunsch des Klienten nach einer bestimmten Methode gerecht werden wollen. Wir sollten stattdessen zu »unseren Methoden« und unserer eigenen Lust auf neue Methoden stehen. Das kann wiederum eine Last im Praxisalltag bedeuten, da wir Zeit und häufig auch finanzielle Mittel investieren müssen, um neue Methoden zu entdecken und uns anzueignen. Sich die eigene Neugier zu erhalten und nicht in Stereotypien bei der Arbeit mit Trauernden zu verfallen, ist jedoch auch eine unserer Aufgaben als verantwortungsvolle Begleiterinnen. Ökonomische Aspekte – der Methodenmarkt Statt um einen qualitätsfördernden Austausch geht es auf dem »Psychomarkt« häufig um die Popularisierung und Vermarktung von Methoden und Konzepten: Immer wieder tauchen

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»optimalere« Methoden und Übungen auf. Oft werden Methoden neu kombiniert, mit einem modernen Konzeptnamen versehen und beim Patent- und Markenamt eingetragen. Es existieren unterschiedliche Geschäftsmodelle bis hin zu Franchise-Systemen. In »Fachschulen« werden kostspielige, (von wem auch immer) zertifizierte Ausbildungen, Fortbildungen, Workshops und Coachings angeboten, die zur Anwendung einer bestimmten Methode qualifizieren sollen. Nicht selten entsteht der Eindruck, dass das, was einen exklusiven Namen, eine gute »Verpackung« hat und etwas kostet, auch effektiver in der Wirksamkeit ist. Dieser »Markt« führt am Ende dazu, dass Begleiter und Therapeuten unsicher werden und meinen, sie müssten, um ein guter Berater/Therapeut zu sein, viele »Zertifizierungen« und »Methoden« im In- und Ausland sammeln. Da werden auch die Klienten irritiert, denn es fällt in einer ohnehin unsicheren Lebenssituation schwer, sich in dem Wust der Qualifizierungen und Titel zurechtzufinden. Soziokulturelle Aspekte Bei der Auswahl der methodischen Angebote und Übungen sollten auch die individuellen Aspekte jedes Klienten in Bezug auf Sprache, Geschlecht, Kultur und Religion berücksichtigt werden. Meine eigene Ausdrucksweise muss für die Klientin verständlich sein, damit eine vertrauensvolle Beziehung entstehen und der Boden für den Einsatz von Methoden oder Übungen geschaffen werden kann. Wir sollten uns zudem kritisch fragen, ob und warum wir geschlechtliche Unterschiede bei der Methodenwahl machen. Aus einem Kleidungsstück des Verstorbenen ein Kissen oder etwas anderes zu nähen, habe ich anfangs nur Frauen und Kindern angeboten. Heute beziehe ich selbstverständlich männliche Jugendliche und Männer ein. Das Angebot wird von allen Geschlechtern gleichermaßen in Anspruch genommen und die angebotene fachliche Unterstützung einer Schneiderin ebenfalls.

Welche Normen für den Klienten im Ausdruck von Gefühlen oder Jenseitsvorstellungen gelten, muss ebenso bedacht werden. In der Begleitung eines muslimischen Jungen, der nach dem Unfalltod beider Eltern bei seinem Onkel und seiner Tante lebte, wurde schnell deutlich, dass der Onkel kreative Methoden, die den Ausdruck von Gefühlen fördern, abwertete und diese für unangemessen für einen Jungen hielt. Für den Jungen führte das Angebot darum zu Scham und Loyalitätskonflikten, die erst durch die Begleitung des Bezugssystems aufgelöst werden konnten. Fazit Methoden und ihre Anwendung haben vielfältige Gesichter. Lust und Last stehen nicht in Divergenz, ihre scheinbare Widersprüchlichkeit ist die fruchtbare Basis einer qualifizierten Begleitung. Es ist dabei wesentlich, dass der »Methodenkoffer« lebendig bleibt. Manchmal fliegt etwas raus, anderes kommt hinzu. Zugleich wird der Koffer für jeden Klienten, jede Klientin sozusagen neu gepackt und bleibt sowohl im Klientenbezug variabel als auch charakteristisch für die Begleiterin. Ich glaube, es ist wie mit so vielem in unserem Leben: Es gilt, achtsam und flexibel zu bleiben. Es geht immer wieder darum, eine »lebendige Mitte« im Umgang mit Methoden zu finden, und zwar inmitten des Spannungsfelds um die eigene Rolle und die Verantwortung jedem einzelnen Klienten gegenüber. Fotos: Institut Dellanima

Stephanie Witt-Loers, Studium der Philosophie, Romanistik, Politischen Wissenschaften, ist Trauerbegleiterin (BVT), Kinder- und Familientrauerbegleiterin (BVT), Fachbuchautorin, Dozentin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie ist in der Hospizarbeit tätig, Leiterin von Kindertrauergruppen sowie Trauerbegleiterin im Auftrag verschiedener Jugendämter und Kinderheime. Sie leitet das Institut Dellanima. In ihrer Praxis bietet sie Einzel- und Gruppentrauerbegleitung für Menschen jeden Alters an. E-Mail: [email protected]

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Die Heldenreise Antje Randow-Ruddies Lebenswendepunkte erfreuen sich meist nicht allzu großer Beliebtheit. Tragen sie doch das Wissen um anstehende unabdingbare Veränderungen in sich. Wendepunkte lassen schon im Vorwege bedeutungsschwanger erahnen, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Meist existenzielle: ein Arbeitsplatzwechsel, eine Heirat, eine Trennung, der Eintritt ins Rentenalter, der sich ankündigende Tod eines nahestehenden Menschen, ein Umzug. Wendepunkte sind Umbrüche in unserem Leben. Sie sind emotionale Großbaustellen. Lässt sich ein Wendepunkt erahnen, befindet man sich bereits an einer Weichenstellung. Und irgendwie schleicht sich das Gefühl ein, an diesem Punkt wird etwas Wesentliches passieren. Etwas, dass das weitere Leben und seinen Verlauf verändern wird. Etwas, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Diese emotionalen Herausforderungen sind uns zumeist bewusst – oder wir erahnen sie leise und still rumorend im Hintergrund. Gleichzeitig versuchen wir sie zunächst einmal zu ignorieren. Wir verdrängen, verleugnen, verschmähen den inneren und äußeren Ruf nach Veränderung. Der Ruf, den wir ganz individuell wahrnehmen, kann von außen auf uns zukommen. Durch ein Gespräch, einen Film, ein Buch, eine Inspiration im Rahmen einer Weiterbildung, die Berührung durch ein Musikstück, eine Erkrankung. Gleichzeitig kündigt sich ein Ruf auch meist auf innerer Ebene an. Eine unspezifische Unruhe sucht sich ihren Raum. Wir spüren eine Sehnsucht nach Veränderung. Nach Wachstum. Nach Heilung. Der Ruf ist die innere Aufforderung nach Weiterentwicklung. Die Aufforderung, der Mensch zu werden, der wir eigentlich sein sollen.

»Wenn ein wirklicher Ruf zu uns durchdringt – ein Ruf der uns von einer Lebensphase in die nächste, von einem Beruf zu einem neuen oder zu einer neuen Liebesbeziehung führen will, dann bringt die Antwort auf diesen Ruf tief in unserem Innersten etwas zum Klingen« (Rebillot und Kay 2016, S. 25). Oftmals ignorieren wir den Ruf nach Veränderung solange, bis wir krank werden oder anderweitig in Not geraten. Wissen wir doch: Veränderung macht Angst. Veränderung braucht Mut und Entschlusskraft. Veränderung braucht Heldentum. Und eben deswegen brauchen Wendepunkte Zeit. Sie benötigen eine innere und äußere Vorbereitung. Eine aktive Zeit des Handels und Gestaltens. Eine Zeit der Integration und Nachbereitung. Wendepunkte sind eine innere und äußere Reise. Eine Heldenreise. Auf ebendieser Reise begeben wir uns in innere und äußere neue Gefilde. Bereiche, die wir zuvor gern vermieden haben. In denen wir uns nicht auskennen. Es ist das Überwinden der inneren Ablehnung. Das Annehmen des Rufes. So beängstigend uns der Transformationsprozess zunächst erscheinen mag, so empfinden wir ihn bald als unumstößlich richtig. Wenn die Reise einmal ernstlich begonnen hat, gibt es keine Möglichkeit der Umkehr. Der Ruf zur Heldenreise kann also als ein Ruf zur persönlichen Entwicklung, zur Reifung und zur Entfaltung sein. Die Dramaturgie einer Heldenreise finden wir in Büchern, Filmen, Theaterstücken. Sie verläuft in den immer gleichen Strukturen. Seit Jahrtausenden. Joseph Campbell stellt sie folgendermaßen dar: Nachdem der Ruf sich hörbar gemacht hat, die Weigerung, ihm zu folgen, erfolgreich überwunden wurde, geht es darum, Verbündete, Mentoren, Helfer für den bevorstehenden Weg zu finden.

Gordon Johnson_Pixaby

D i e H e l d e n r e i s e    1 1

Es handelt sich dabei um Menschen, die erkennen, dass es um Wachstum geht. Menschen, die eine Entwicklung fördern und unterstützen. Menschen, die dem Helden oder der Heldin in Zeiten des Wendepunktes zur Seite stehen. Der Held/die Heldin ist an einem Punkt of no return angelangt. Es um den Kampf mit den inneren Drachen. Den Persönlichkeitsanteilen, die unser Wachstum boykottieren. Die sich weigern, Unsicherheit statt Sicherheit, Neues statt Altes, innere Lebendigkeit statt Stagnation und Freude statt Angst zu leben. Der Held begibt sich in die Auseinandersetzung mit diesen Dämonen. So kann er spüren, wie sie ihren Schrecken verlieren. Allein dadurch, dass sie gesehen werden. Die Reise geht weiter. Der Held trifft dabei auf Neues und Fremdes. Er ist in einer inneren und äußeren Landschaft angekommen, in der er sich nicht mehr auskennt. Frühere Handlungsstrategien greifen nicht mehr. Alte Glaubenssätze verlieren ihre Wirkkraft. Die eigene Identität verändert sich. An diesem Punkt angekommen, gibt es noch einmal eine entscheidende letzte Prüfung. Ein

Ringen mit der grundlegenden Angst findet hier statt. Gelingt es, diese Schwelle zu überwinden, ist der Weg frei für eine neue Lebensetappe. Der Held hat nun die Aufgabe, das neu Erfahrene, die Fülle, die neue Bewusstheit, die neuen inneren Überzeugungen und die veränderten Lebensvisionen in den Alltag zu integrieren. Mit dieser Integration ist die Reise abgeschlossen. Antje Randow-Ruddies, systemische Familientherapeutin (DGSF), Supervisorin und Organisationsentwicklerin (DGSF), Hypnotherapeutin (MEG), NLP-Master (DVNLP), ist in eigener Praxis und im Weiterbildungsteam am Hamburgi�schen Institut für systemische Weiterbildung tätig. E-Mail: [email protected] Website: w  ww.schreibraeumehamburg.de Literatur Campbell, J. (1953). Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M. Rebillot, P.; Kay, M. (2016). Die Heldenreise. Das Abenteuer der kreativen Selbsterfahrung. 2. Auflage. Wasserburg am Inn.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

HELDENREISE Zielgruppe

Ablauf

Menschen, die sich in Wendepunktsituationen oder Krisen befinden. Menschen, die den Ruf nach Veränderung in sich spüren. Menschen, die ihre Komfortzone verlassen möchten. Menschen, die etwas Neues wagen möchten.

Gruppengröße 6–12 Personen

1. Der Ruf: Die Teilnehmenden erinnern sich an ihren Ruf. Wie haben sie ihn gehört? Wie hat er sich bemerkbar gemacht? Wie hat er sich gezeigt? Wie lange schon macht er auf sich aufmerksam? Ș 30 Minuten schreiben. Text reduzieren auf Postkartengröße. Vorlesen. 2. Die Wegbegleiter:

Arbeitsmaterialien

Zeitrahmen

• • • •

4 Stunden. Jede Etappe kann auch für sich allein stehen und bearbeitet werden.

Klemmbretter Buntes Papier Malböcke Filz-, Bunt- und Wachsmalstifte

Welche Menschen haben in der Vergangenheit, in Krisensituationen geholfen? Wer war in Wendepunktzeiten präsent? Wer im Leben hat die Rolle eines wohlwollenden Kritikers? Eines Unterstützers? Ș Dankesbrief an die Mentoren schreiben (15 Minuten) und vorlesen.

Durchführung (20 Minuten) Die Leitung der Schreib­gruppe erzählt die Heldenreise. Unter­stützend wirkt eine zusätzliche visuelle Darstellung. Beispiels­weise können die einzel• Der Ruf nen Etappen der • Die Mentoren Geschichte bild• Die Drachen lich oder szenisch • Die Schwelle auf einem Flipchart • Das Neue ­abgebildet sein:

3. Die Begegnung mit den Drachen: Nimm dir einen Moment Zeit, dich daran zu erinnern, was dich in der Vergangenheit gehindert hat, neue Wege zu gehen. Die eingetretenen Pfade zu verlassen. Neues zu Wagen. Mutig und entschlossen aus der Krise zu gehen, statt darin zu verhaften. Erinnere dich an die Drachen, die dir den Weg blockiert haben. Ș Gib jedem einzelnen eine Gestalt und zeichne die Drachen. Gib ihnen Namen. Ș Und dann stell dir vor, du trittst jedem einzelnen gegenüber. Lern ihn kennen. Geh in Kontakt und beginne aufzuschreiben, was du erkennst, was du fürchtest, wo die Angst ist, wo die Herausforderung liegt. Wende dich schreibend jedem einzelnen Drachen zu. Ș 45 Minuten zeichnen und schreiben. Der Text wird nicht vorgelesen.

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D i e H e l d e n r e i s e    1 3

4. Die Schwelle Die letzte große Prüfung. Du wirst wissen, was der letzte große Schritt sein wird. Die letzte Prüfung, bevor du den Wendepunkt durchschritten hast. Im Märchen ist es der Höhepunkt: Der Prinz besiegt den Drachen. Das Gute siegt über das Böse. Das Neue besiegt das Alte. Die Krise ist durchlebt. Das Neue leuchtet schon von Weitem. Ș Freewriting und anschießend eine Textverkleinerung in lyrischer Form: Schreib ein Gedicht, ein Elfchen, ein Haiku über das Durchschreiten der Schwelle. Ș 20 Minuten schreiben und anschließend vorlesen.

Abschluss (30 Minuten)

5. Das Neue Hilfsverben-Porträt: Ich bin … Ich muss … Ich möchte … Ich habe … Ich darf … Ich werde … Ich will … Ich kann … Ich staune … Ș 10 Minuten schreiben und anschließend vorlesen.

Nimm dir Zeit, alle Texte, alle inneren Erfahrungen, die du auf der Reise gemacht hast, noch einmal nachzulesen, nachzuspüren. Ș Schreib aus all dem Gesammelten eine Geschichte »Meine Helden­reise«. Ș 30 Minuten schreiben und anschließend vorlesen im Stehen. Die Zuhörenden geben eine Resonanz in Form von Applaus.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Journal-Schreiben – ein Weg durch die Trauer und zurück ins Leben Johanna Vedral und Birgit Schreiber Journal-Schreiben bietet eine Vielfalt an Methoden, die Trauernden helfen können, eine neue (System-)Balance zu finden. Beim Journal-Schreiben können Trauernde in Sicherheit probehandeln, Visionen ausloten und Ziele erkunden. Perspektivwechsel, das heißt Schreiben von einem Zeitpunkt in der Zukunft, von einer anderen Warte aus oder aus Sicht einer dritten, wohlmeinenden Person, kann dabei helfen, ins veränderte Leben aufzubrechen (Schreiber 2017). Schreibpausen als Date mit sich selbst (Cameron 1996; Schreiber 2017) können Trauernden Ruheräume bieten und die nötige Zeit zur Erholung.

Da beim expressiven Schreiben Gefühle und Kognitionen zusammen­ geführt werden, hilft das Formulieren der Geschichte dabei, das kritische Lebensereignis neu zu kontextualisieren und im günstigsten Fall zu integrieren.

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Schreiben als Möglichkeitsraum Schreiben bietet den in Krisen dringend benötigten Spiel- und Übergangsraum etwa für Selbstfürsorge, Trauer, Wut etc. Bei Trauer ist dieser Möglichkeitsraum vor allem ein Schonraum, ein Ruheraum, ein Kraftraum und auch ein Entwicklungsraum (Winnicott 1973; Schreiber 2017).   Menschen können sich in diesem Raum neu orientieren und in eigenem Tempo in das veränderte Leben einfinden: »Schreibend lässt sich (…) ein schwankender Boden wieder befestigen« (Rechenberg-Winter 2015, S. 24). Nicht nur für Trauernde, auch für Angehörige, Therapeutinnen und Berater kann Journal-Schreiben eine Hilfe darstellen, um die eigene Rolle in der Trauerphase besser zu bewältigen, sich zu entlasten und starke Gefühle zu ventilieren (Schreiber 2017; Rechenberg-Winter 2015).

Kurt Schwitters, MZ 318 CH., 1921 / Bridgeman Images

Schreiben hilft Eine Basistechnik des zeitgemäßen JournalSchreibens (Adams und Thompson 2015, 2019; Adams und Ross 2016; Thompson 2011) ist das expressive, das heißt selbstöffnende Schreiben nach Pennebaker. Dass expressives Schreiben hilft, ist seit den 1980er Jahren (Pennebaker und Beall 1986) empirisch belegt (vgl. Horn, Mehl und Deters 2015); nur wenige Studien ergaben keine oder kurzzeitige negative Folgen (vgl. Schubert und Hagen 2020). Ziel des expressiven Schreibens ist, eine abgeschlossene Geschichte über ein kritisches Lebensereignis, etwa einen Verlust, zu erzählen und dabei in vier aufeinanderfolgenden Schreibphasen jeweils eine andere Perspektive einzunehmen. Da beim expressiven Schreiben Gefühle und Kognitionen zusammengeführt werden, hilft das Formulieren der Geschichte dabei, das kritische Lebensereignis neu zu kontex­ tualisieren und im günstigsten Fall zu integrieren. Expressives Schreiben kann Leid bezähmbar machen und fördert im Sinne von »naming ist taming« die Selbstwirksamkeit, besonders in Si-

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tuationen, in denen die Fähigkeit zur Selbstregulation aufgrund emotionalisierender Erlebnisse beeinträchtigt ist (Kraft, Lumley, D’Souza und Dooley 2008). Poesietherapeutische Anregungen als Teil des Journal-Repertoires, etwa metaphorisches Schreiben, kann Trauernden helfen, ihre Gefühle zu erkennen, zu benennen und zu regulieren (vgl. Rechenberg-Winter 2015, S. 20). Einen Überblick über internationale poesietherapeutische Forschungen zur Wirksamkeit des Schreibens in Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Gerontologie und Sozialer Arbeit gibt Silke Heimes (2012). Wann ist der beste Zeitpunkt, um nach einem belastenden Ereignis zu schreiben? Pennebakers Methode des expressiven Schreibens wird meist erst Wochen oder Monate nach einem Trauma eingesetzt, damit Schreiben die belastenden Erinnerungen nicht »zementiert« (Adams 2013) beziehungsweise den Schmerz nicht noch tiefer ins Gehirn graviert (Mitchell 2003). Der Unsent Letter Briefe schreiben als Trauerritual ist eine der ältesten und beliebtesten therapeutischen Techniken (Unterholzer 2017, S. 75 ff.; Lange, van der Wall und Emmelkamp 2000): Es wirkt kathartisch, hilft Unabgeschlossenes abzuschließen und schafft Klarheit (Adams 1990, S. 172). K ­ athleen Adams schlägt den Unsent Letter als eine von 18 Basismethoden ihres »Journal to the Self«Konzepts vor, das von zertifizierten Dozenten vermittelt wird. Die Methode des Briefes, der nie abgeschickt wird, ist das Werkzeug der Wahl, um tiefe Emotionen wie Ärger und Trauer auszudrücken, ein Thema für sich abzuschließen und wenn Einsichten festgehalten werden sollen. Briefe, die nie abgeschickt werden, sind auch ein effektiver Weg, die eigene Meinung, tiefste Gefühle, Feindselig-

keit, Irritationen, Zuneigung oder kontroverse Standpunkte zu äußern – in einer sicheren Atmosphäre. Gibt es unerwünschte Nebenwirkungen des Journal Schreibens? Expressives Schreiben kann in akuten Stresssituationen oder klinisch instabile Menschen überfordern, zum Beispiel bei Psychosen, Herzschwäche, massiven chronischen oder akuten Emotionsregulationsdefiziten, einer starken Dissoziationsneigung wie auch in anhaltenden bedrohlichen Situationen (Horn et al. 2015). Aus Erfahrung mit Coaching-Klienten und aus Gesprächen mit Schreibkolleginnen wissen wir, dass Schreiben für manche Menschen zur Flucht werden kann. Die Schreibenden isolieren sich. Der Schreibraum wirkt wie ein Spiegelkabinett: Die eigene begrenzte Innensicht wird ständig reflektiert. Im schlimmsten Fall können sich Menschen so tiefer in eine Depression schreiben. Für das Erreichen der positiven Effekte des expressiven Schreibens ist daher darauf zu achten, dass Personen mit Ruminationsneigung beim Schreiben nicht in Gedankenkreisen stecken bleiben (Nolen-Hoeksema und Davis 1999). Wer Schreiben bei Trauernden einsetzt, kann sich an einigen Erfahrungsregeln orientieren. Wie bei allen Interventionen muss nachgefragt werden, wie sich das Schreiben auswirkt. Grundlegende Aspekte beim Einsatz von Schreiben: Struktur, Schutz und freie Wahl der Dosis Struktur: Die durch Sanduhr oder Wecker ritualisierte Zeitbegrenzung (15 oder 20 Minuten) und klare Schreibanregungen schaffen Struktur. Schutz: Das Setting beeinflusst das Erleben des expressiven Schreibens und sollte daher störungsfrei, geschützt, selbstöffnend, anonym-bewertungsfrei und vertrauenswürdig sein (Safe Space). Überlassen Sie Ihren Klientinnen und

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Klienten, ob, und wenn ja, wem sie ihre Texte vorlesen, und weisen Sie darauf hin, dass sie an einem sicheren Ort aufbewahrt werden. Dosis: Beim expressiven Schreiben ist eine emotionsregulatorische Überforderung zu vermeiden. In den meisten Fällen verfügen Menschen jedoch über einen gesunden Selbstschutz (Horn et al. 2015, S. 221). Wenn Sie Ihre Klientinnen und Klienten biografisch schreiben lassen, beginnen Sie mit freundlichen Kindheitserinnerungen, mit tragenden Familiengewohnheiten

und stärkenden Erfahrungen als tragfähige Basis für die Begegnung mit schwereren Verlusten. Fangen Sie mit einfachen Einladungen zum Schreiben an, die kurz und strukturiert sind, etwa Satzanfänge, die fortgesetzt werden, Listen, Fragen und kurze Impulse. Die Journal Ladder, die von Journal-Writing-Pionierin Kathleen Adams für Berater/Therapeuten (Adams 2013, S. 43 ff.) entwickelt wurde, hilft zu entscheiden, wie viel Containment, Pacing und Struktur die jeweiligen Anregungen bieten und für wen sie sich eignen.

Anleitung für einen Unsent Letter Mögliche Einstiegssätze in den Brief:

»Ich möchte, dass du weißt, wie ich mich gefühlt habe, als …«

»Liebe X, …«

»Was ich mich bisher nicht getraut habe, dir zu sagen, ist …«

Ein Unsent Letter kann ohne Angst vor Verurteilung und ohne jemanden zu verletzen geschrieben werden. Mit dieser Freiheit können Menschen alles sagen, was ihnen auf der Seele liegt. Die Zeit wird auf 10 bis 20 Minuten begrenzt, um ein Hineinschreiben in den Schmerz zu verhindern. Dieser Brief kann jeden Tag für eine bestimmte Zeit weitergeschrieben werden, bis alles gesagt ist. So können sich die Briefe zu einem Trauertagebuch in Form einer Brief­serie entwickeln. Hier kann Penne­bakers Erkenntnis zum Zug kommen, dass nach und nach die Perspektiven gewechselt werden müssen, um nach einem schwierigen Lebensereignis zum Erleben von posttraumatischem Wachstum oder einem Benefit zu kommen. Der erste Brief wird aus der Perspektive der verletzten Person geschrieben. Im zweiten Brief schreibt die Trauernde aus der Sicht des verlorenen Menschen. Der dritte Brief wird aus Sicht der Wunschperson formuliert: Es schreibt die Person, die der Verlorene für die Schreibende hätte sein sollen. Im vierten Brief schreibt die Trauernde an die wütende verletzte Person aus dem ersten Brief. Die Autorin kann durch diese Briefserie erleben, dass sie selbst für ihre Entwicklung und ihr Wohlbefinden sorgen kann (Rohwetter 2018).

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Literatur

Fazit Journal-Schreiben in Therapie und Beratung anzubieten, kann sich gerade bei Trauernden nachhaltig und positiv auswirken: Es ist eine kostengünstige Technik, jede Person kann die passende Dosis und den passenden Inhalt selbst wählen und sich täglich stärken. Menschen finden im Journal einen zuverlässigen Begleiter, so lange und so intensiv, wie sie es wünschen. Mag. Johanna Vedral, Studium der Psychologie und multimedialen Kunsttherapie, bietet Workshops an zu der von ihr entwickelten kreativen TraumarbeitsMethode, ist Dozentin und freie Trainerin für wissenschaftliches Schreiben, kreative Traumarbeit und autobiografisches Schreiben an Universitäten und anderen Institutionen. E-Mail: [email protected] Website: https://schreibstudio.at Dr. Birgit Schreiber, Sozial- und Biografieforscherin, Supervisorin und systemische Beraterin, Poesie- und Bibliotherapeutin, systemische Einzel- und Organisationsberaterin, ­Schreibdozentin an Universitäten und anderen In­sti­tu­ tionen. Sie leitet den ersten deutschsprachigen »Journal Writing Therapy«-Lehrgang (https://writersstudio.at).

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E-Mail: [email protected] Website: https://schreiben-zur-selbsthilfe.com

Adams, K. (1990). Journal to the Self. Twenty-two paths to personal growth. New York, Boston. Adams, K. (2013). The Journal Ladder. In: Adams, K. (Hrsg.), Expressive writing foundations of practice. Expressive writing series (S. 43–51). New York. Adams, K. (2019). Journal to the Self Workbook. Das Begleitarbeitsbuch. Dt. Übersetzung: B. Schreiber. Wien. Adams, K.; Ross, D. (2016). Your brain on ink. A workbook on neuroplasticity and the Journal Ladder. New York u. a. Adams, K.; Thompson, K. (Hrsg.) (2015). Expressive writing, counseling and healtcare. New York u. a. Cameron, J. (1996). Der Weg des Künstlers. Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität. München. Hagen, C.; Schubert, C. (2020). Psychoneuroimmuno­logie des Expressiven Schreibens. In: SchreibRÄUME – Magazin für Journal Writing, Tagebuch & Memoir, 20, 1, S. 80– 94. Heimes, S. (2012). Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Göttingen. Horn, A. B.; Mehl, M. R. (2004). Expressives Schreiben als Copingtechnik. Ein Überblick über den Stand der Forschung. In: Verhaltenstherapie, 14 (4), S. 274–283. Horn, A. B.; Mehl, M. R.; Deters, F. G. (2015). Expressives Schreiben und Immunaktivität  – gesundheitsfördernde Aspekte der Selbstöffnung. In: Schubert, C. (Hrsg.), Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie (S. 208–227). Stuttgart. Kraft, C. A.; Lumley, M. A.; D’Souza, P. J.; Dooley, J. A. (2008). Emotional approach coping and self-efficacy moderate the effects of written emotional disclosure and relaxation training for people with migraine headaches. In: British Journal of Health Psychology, 13 (1), S. 67–71. Lange, A.; van der Wall, C.; Emmelkamp, P. M. G. (2000). Time-out and writing in distressed couples: an experimental trial into the effects of a short treatment. In: Journal of Family Therapy, 22, S. 394–407. Mitchell, J. T. (2003). Major misconceptions in crisis intervention. In: International Journal of Emergency Mental Health, 5 (4), S. 185–197. Nolen-Hoeksema, S.; Davis, C. G. (1999). »Thanks for sharing that«: ruminators and their social support networks. In: Journal Personality and Social Psychololgy, 77, S. 801– 814. Pennebaker, J. W.; Beall, S. K. (1986). Confronting a traumatic event: Toward an understanding of inhibition and disease. In: Journal of Abnormal Psychology, 95 (3), S. 274– 281. Rechenberg-Winter, P. (2015). Leid kreativ wandeln. Biografisches Schreiben in Krisenzeiten. Göttingen. Rohwetter, A. (2018). Seele auf Papier. https://psylife.de/magazin/psychotherapie/briefe-schreiben-der-therapie. Schreiber, B. (2017). Schreiben zur Selbsthilfe. Worte finden – Glück erleben – Gesund sein. Heidelberg. Thompson, K. (2011). Therapeutic Journal Writing. An introduction for professionals. London, Philadelphia. Unterholzer, C. (2017). Es lohnt sich, einen Stift zu haben. Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg. Winnicott, D. W. (1973). Playing and reality. New York.

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Da, wo Sprache verstummt, beginnt Rilke Systemische Aufstellungsarbeit mit Lyrik

Christl Lieben Der Schauende Ich sehe den Bäumen die Stürme an, die aus laugewordenen Tagen an meine ängstlichen Fenster schlagen, und höre die Fernen Dinge sagen, die ich nicht ohne Freund ertragen, nicht ohne Schwester lieben kann. Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit, und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft wie ein Vers im Psalter, ist Ernst und Wucht und Ewigkeit. Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß; ließen wir, ähnlicher den Dingen, uns so vom großen Sturm bezwingen, – wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine, und der Erfolg selbst macht uns klein. Das Ewige und Ungemeine will nicht von uns gebogen sein. Das ist der Engel, der den Ringern Des Alten Testaments erschien: Wenn seiner Widersacher Sehnen Im Kampfe sich metallen dehnen, fühlt er sie unter seinen Fingern wie Saiten tiefer Melodien. Wen dieser Engel überwand, welcher so oft auf Kampf verzichtet, der geht gerecht und aufgerichtet und groß aus jener harten Hand, die sich, wie formend, an ihn schmiegte. Die Siege laden ihn nicht ein. Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte Von immer Größerem zu sein. Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder, 1902

Aufstellungsarbeit in die Tiefe begleiten Ich habe jahrelang Rilke gelesen, mich von seinen Worten erreichen und durchrütteln lassen. Manchmal bin ich still geworden und manchmal bin ich dem Geheimnis näher gekommen, das allgemein mit dem Wort Gott unkenntlich gemacht wird. Rilkes Sprache wurde und wird zu Musik in meinem Herzen. Wir haben keine Worte für die Inhalte, die hinter den Dingen stehen oder tief in uns ruhen. »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss

man schweigen«, sagt Ludwig Wittgenstein am Ende seines Tractatus. Rilke hat ihm nicht zugehört und überschreitet scheinbar mühelos die Grenzen des Sagbaren. Seine Sprachgemälde werden zu Gefäßen unaussprechlicher Inhalte. Und damit geschieht das Wunder. Inhalte, die uns so dargereicht werden, beginnen wir zu spüren und so zu verstehen, dass sie allmählich in uns Wirklichkeit werden. Ich liebe die Systemische Aufstellungsarbeit, sie erklärt mir die Welt, an ihr kann ich immer wieder die feinen und feinsten Innerbewegun-

Hilma af Klint, Group IX / UW, No. 25, The Dove, No. 1. Creator / Heritage Images / Fine Art Images / akg-images

D a , w o S p r a c h e v e r s t u m m t , b e g i n n t R i l k e    2 1

gen der menschlichen Psyche erkennen und bewundern. Diese feinen Nuancen aber bleiben unbenannt. Daher kann es passieren, dass Aufstellungen mehr in die Horizontale und nicht in die Vertikale führen. Das Geschehen wird breiter und inhaltlich flacher statt senkrecht in die Tiefe zu gehen, um die dort verborgenen Schätze zu heben. Eines Tages aber wurde es mir klar: Rilke und seine Lyrik sind die Antwort. Die Lösung, die ich suche. Durch seine Sprachgefäße hindurch können wir in die verdichtende Tiefe gelangen. Ich biete Seminare mit zwei meiner Lieblingsgedichte an. Eines davon ist »Der Schauende«. Die berührenden Worte Die Teilnehmenden sind gebeten, im Vorfeld das Gedicht immer wieder zu lesen und die Worte, die sie berühren, herauszufinden. Im Vorgespräch lasse ich mir das mitgebrachte Thema nennen und bespreche es in Ruhe. Es muss seinen Platz haben. Dann konzentrieren wir das Thema auf möglichst wenig Positionen und nehmen die ausgesuchten Worte aus dem Gedicht dazu. Eine Nacherzählung einer Aufstellung Die Klientin klagt, sich nicht in ihr Leben hinein entfalten zu können. Sie fühlt sich von der Vergangenheit der Familie belastet, als würde ein dunkler Schatten über ihrem Leben liegen. Sie beschließt, gar nicht ihr Thema aufzustellen, sondern ausschließlich mit Rilkes Worten zu arbeiten. (Das kommt relativ häufig vor.) Sie entscheidet sich für folgende Positionen: • Fokus als »ich bin« (Der Fokus ist jener Teil des Klientenbewusstseins, der sich auf die aufgestellte Frage bezieht. Er hat nicht die vollständige Reichweite des gesamten Klientenbewusstseins.) • Gerecht und Aufgerichtet • die Tiefbesiegte • das Immer Größere

Die Klientin wählt aus der Gruppe der Teilnehmenden Repräsentanten für den Fokus und für die einzelnen Worte von Rilke. Anschließend führt sie die Repräsentanten an einen intuitiv gewählten Platz im Raum. Die Choreografie der Aufstellung spiegelt das Innenbild der Klientin von ihrem Thema wider. Dann setzt sich die Klientin in den äußeren Kreis der Gruppe und meine Arbeit beginnt. Die Methode der systemischen Aufstellung geht davon aus, dass wir alle die Antwort auf unsere Fragen in uns tragen, aber auf der alltäglichen Ebene der Kommunikation erreichen wir dieses Wissen nicht. Bei dem Prozess der Aufstellung hingegen wird das innere Wissen der Klientin auf die Repräsentanten übertragen und von ihnen ausgedrückt. Das ist kein Hokuspokus, sondern beruht auf den Resonanzeffekten, ausgelöst durch das von C. G. Jung benannte kollektive unbewusste Wissen. Nun frage ich die Repräsentanten der Reihe nach, wie sie sich auf ihrem Platz fühlen und was sie fühlen. Gleich bei der ersten Abfrage gibt es Schauer der Angst beim FOKUS1. GERECHT UND AUFGERICHTET hat eine Wut auf etwas, was sich scheinbar außerhalb des Aufstellungsbildes befindet. Die TIEFBESIEGTE nennt das Gerecht und Aufgerichtet: »Das Gericht« spricht von Schuld und weiß nicht, wer es selbst ist. Sie sieht nun hinter dem Fokus, außerhalb des aufgestellten Bildes, eine Gestalt. Ein zusätzlicher Repräsentant wird hereingebeten und hinter den Fokus gestellt. Die NEUE GESTALT wird nach ihrer Identität befragt. Sie sagt, sie sei ein alter Mann, aus vergangenen Zeiten, habe sich schuldig gemacht durch Machtmissbrauch und Unterdrückung. Die Wut des GERECHT UND AUFGERICHTET vergeht, das, was außerhalb des aufgestellten 1 In der Nacherzählung sind die Namen der Positionen in Blockschrift und manchmal in normaler Schrift. Die Namen stehen nur in Blockschrift, wenn diese Rolle aktiv wird.

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Systems war, ist jetzt aufgetaucht. (Gehören die beiden zusammen?) Das IMMER GRÖSSERE hat Angst vor Gerecht und Aufgerichtet und kann andererseits wachsen, wenn es Blickkontakt mit dem Tiefbesiegten hat. Das IMMER GRÖSSERE stellt sich provokant vor die Neue Gestalt und blickt ihr direkt ins Gesicht. Davon berührt, bittet die NEUE GESTALT um Vergebung und Erlösung. Vergebung und Erlösung kann nur von dem Immer Größeren kommen, sagt sie. Seit von Erlösung gesprochen wird, entsteht in uns allen ein weicher, weiter Raum. Die außensitzende Klientin wird befragt, ob sie mit dem bisher Gehörten etwas anfangen kann. Sie erzählt, dass sie jüdische Wurzeln hat. Ihre Urgroßmutter ließ ihre Kinder katholisch taufen, um die Abstammung zu verschleiern. Diese Aussage löst Reaktionen bei den Repräsentanten aus: Die NEUE GESTALT hat Gänsehaut. Das GERECHT UND AUFGERICHTET bekommt Angst, die TIEFBESIEGTE sagt, sie könnte eines der Kinder der Urgroßmutter gewesen sein. Es gab Verrat. Hat die Neue Gestalt den Verrat begangen? Die NEUE GESTALT gesteht, eine Religion zu vertreten, ist aber nicht Teil der Religion. GERECHT UND AUFGERICHTET spricht von Verrat und einer großen Schuld. Schließlich sagt die NEUE GESTALT mit Nachdruck: »Ich bin nur hier, um Vergebung und Erlösung zu erbitten.« Die Aussagen der neuen Gestalt sind uns nicht klar genug, daher wird die KLIENTIN gebeten, an Stelle der Neuen Gestalt in die Aufstellung zu gehen. (Da das Klientenbewusstsein über das Fokusbewusstsein hinausgeht, kann so ein Tausch entscheidende Informationen bringen.) Der KLIENTIN wird an der Stelle der Neuen Gestalt schlecht, sie hat einen sehr unsicheren Stand. Befindet sich mitten in einem schrecklichen Gemetzel auf einem Schlachtfeld. Etwas sagt in ihr: »Es soll endlich ein Ende damit sein.« Nun taucht der Großvater vor ihren inneren Augen auf und bittet auch: »Es soll

endlich ein Ende damit sein.« (Wir gehen der Bedeutung des Schlachtfeldes nicht nach, sondern befolgen die Bitte nach einem Ende.) Daraufhin stellt sich GERECHT UND AUFGERICHTET neben die neue Gestalt und gesteht, in diese alte dunkle Zeit zu gehören. Für die Klientin in der Rolle der Neuen Gestalt ist das sehr stimmig. Sie tauscht wieder den Platz mit dem Repräsentanten der Neuen Gestalt. DIE NEUE GESTALT wird immer kleiner und jämmerlicher, seit Gerecht und Aufgerichtet neben ihr steht. DIE NEUE GESTALT wird gefragt, ob sie an Gerecht und Aufgerichtet schuldig geworden ist. Sie bejaht. Damit scheint – dank der Aussagen der Klientin – der Klärungsprozess abgeschlossen zu sein. Es geht in dieser Aufstellung nicht um Aufdeckung, sondern um Beenden, Befrieden und Heilen eines langen Leidensweges. Die KLIENTIN geht in die Rolle des Fokus, um den anstehenden Befriedungsprozess in ihrem Körper mitvollziehen zu können. Dabei verwandelt sie sich Schritt für Schritt in die tiefere Dimension des Fokus – in das »Ich bin«. Der Raum des Lichtes – Die sichtbare Entsprechung der heilenden Liebe Die NEUE GESTALT und GERECHT UND AUFGERICHTET werden gebeten zu spüren, wo im Raum der innere Ort ist, an dem sie beide Frieden finden können. Beide zeigen in dieselbe Richtung. Die Klientin stellt dort Kerzen auf, ein Licht, auf das die beiden zugehen können, und Lichter, die diesen Bereich gegen den übrigen Raum abgrenzen. Anschließend führt die KLIENTIN die beiden liebevoll ins Licht, es ist ein langsames, sehr bewusstes Gehen, das alle im Raum innerlich mitvollziehen. Angekommen im Licht, drehen sich die beiden noch einmal um und sagen mit ganz weicher Stimme: »Hier geht es uns gut. Hier ist Frieden.« Zum Abschluss gibt die KLIENTIN das ganze Leid, das sie bisher getragen hat, auch ins Licht, mit der Bitte, dass es sich dort endgültig

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auflösen möge. Die TIEFBESIEGTE und das IMMER GRÖSSERE begleiten sie dabei. Um das Innere der Klientin völlig zu befreien, fehlt noch etwas. Wir sind noch nicht dort, wo wir hingehören. Ich bitte die KLIENTIN, die TIEFBESIEGTE und das IMMER GRÖSSERE, sich einen neuen Platz zu suchen. Ich sage das im Vertrauen auf das tiefe Wissen der Repräsentanten und der Klientin, welches ihnen im Lauf des Klärungsprozesses der Aufstellung zugewachsen ist. Zielsicher bewegen sie sich auf ihre neuen Plätze. Verwandlung Da geschieht Verwandlung. Das TIEFBESIEGTE ist jetzt Lebensfreude und Begeisterung und das IMMER GRÖSSERE hat sich in eine transpersonale Qualität verwandelt, sagt, sie sei Raum

Die Choreografie der Aufstellung spiegelt das Innenbild der Klientin von ihrem Thema wider.

und Zeit und ein Licht, das alles durchströmt. Die KLIENTIN nimmt Freude, Begeisterung und strömendes Licht in sich auf. Indem sie nacheinander den beiden die Hände reicht, lässt sie deren Qualitäten in sich einfließen. Jetzt ist sie ganz »Ich bin«. Verbindung der persönlichen Geschichte mit den Dichterworten Hier wurde eine sich nur allmählich entwickelnde Aufstellung beschrieben, typisch für Inhalte, die aus vergangenen Zeiten heraufdämmern. Rilkes Worte standen von Anfang an im Dienst des Themas der Klientin. Es gibt

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Hinweise auf ein komplexes Geschehen. Da ist einerseits die Urgroßmutter, mit dem Versuch, die jüdische Abstammung zu verschleiern, ein möglicher Verrat mit schweren Folgen. Andererseits ein vermutlich weiter zurückliegendes Ereignis, bei dem es um auf einem Schlachtfeld Sterbende und Tote geht und das der Ursprung für die Geschichte der Urgroßmutter gewesen sein mag. Aber vielleicht auch nicht. Hypothesen sind erlaubt, aber nur, wenn sie nicht als Tatsachen gehandelt werden. In den Lyrikaufstellungen so wie in allen anderen Text-Aufstellungen verbinden sich die Geschichte des Klienten sofort mit den jeweils aufgestellten Worten. Dabei spielen das geistige Niveau und die menschliche Reife des Klienten eine große Rolle. Dieselben Worte verwandeln sich gehorsam in das, was das Klientenbewusstsein hineinfüllt. Ein Beispiel: Ein Angestellter einer Bank hatte Konflikte mit seinem Chef. Er wählte »das Tiefbesiegte von immer Größerem«. Das immer Größere war sein Boss. Er fand heraus, wie er sich mit seinem immer größeren Boss verständigen könnte, ohne zu verlieren. Er war es zufrieden. Eine Woche später kam er in meine Praxis und bat mich, ihn zu begleiten, ein spiritueller Mensch zu werden. Ich war baff und verbeugte mich innerlich vor Rilke und der spirituellen Kraft seiner Worte, die offenbar auch Betonwände durchdringen kann. Die Arbeit mit Rilke-Texten ist einerseits unglaublich rasch, denn das Thema ist sofort da, und andererseits verlangt es ein ganz subtiles, fast minimalistisches Vorgehen in kleinen, feinen Schritten. Die einzelnen Positionen wechseln ihr Befinden und ihre Einfärbung in dem Maß, in dem das suchende Klientenbewusstsein sich durch komplexe Ebenen und Zeitstrukturen bewegt.

Ebene. Lyrikaufstellungen an sich sind naturgemäß nicht für alle Themen brauchbar. Familienaufstellungen, Forschungsthemen, politische Themen und Fragen wie »Soll ich X oder Y heiraten?« lassen sich mit freien Aufstellungen leichter lösen. Symptomaufstellungen hingegen sind für Lyrikaufstellungen gut geeignet. Rilkes tiefstes Anliegen ist, die Ganzheit des Lebens zu umfassen. Gott spricht in einem anderen Rilke-Gedicht zum Menschen, eh er ihn erschafft: Laß dir alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Laß dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. … Gib mir die Hand. Rainer Maria Rilke, Das Stundenbuch, 1905

Die Welt der Lyrik ist nicht enden wollend und das Glück, damit zu leben, ebenso.

© Josef Poleross

Christl Lieben ist Psychotherapeutin, Supervisorin und Coach und arbeitet im Einzelsetting und mit Gruppen vornehmlich mit der Methode Systemischer Aufstellung in Österreich, Deutschland, Schweiz und manchmal auch in Amerika. E-Mail: [email protected] Website: www.christl-lieben.com

Literatur Rilke, R. M. (1902). Das Buch der Bilder. Berlin. Rilke, R. M. (1905). Das Stundenbuch enthaltend die drei Bücher: Vom moenchischen Leben, Von der Pilgerschaft, Von der Armuth und vom Tode. Leipzig. Wittgenstein, L. (1918/1922). Tractatus logico-philosophicus. London.

Die Lyrik von Rilke führt immer in die Tiefe und beantwortet die Fragen auf einer ganz anderen

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Beratung machtkritisch hinterfragt Tanja Chawla

»Der Begriff der rassismuskritischen Bildungs­ arbeit nimmt die Kritik früher interkultureller und antirassistischer Ansätze auf und konzen­ triert sich auf die aus dieser Kritik entstande­ nen Weiterentwicklungen von Konzepten und Theorien, die pädagogisches Handeln als ein­ gebettet in Kontexte von Nationalstaat, Mig­ ration, Macht und Dominanzverhältnissen begreifen. (…) Rassismuskritik als Perspekti­ ve pädagogischen Handelns betont aber auch die Notwendigkeit, konkrete Erfahrungen sowie Selbst- und Fremdwahrnehmungsmuster zu re­ flektieren. (…) eine kritische Haltung zu entwi­ ckeln, welche dazu befähigt, das eigene Handeln sowohl im Kontext von Strukturen, Diskursen und Dominanzverhältnissen als auch vor dem Hintergrund rassismustheoretischer Implikatio­ nen beständig zu reflektieren und entsprechend widerständige Strategien zu entwickeln sowie Handlungsalternativen zu erarbeiten« (Scha­ rathow 2009, S. 12 f.).

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Beratung und Begleitung machtkritisch und insbesondere rassismuskritisch zu denken ist kein neues Phänomen und auch keine neue Notwendigkeit. Vielmehr ist die Forderung nach einer interkulturellen1 Öffnung der Hilfe- und Unterstützungslandschaft spätestens seit den 1990er Jahren en vogue. Allerdings wurden bisher sowohl in politischen als auch in beraterischen Kontexten Konzepte umgesetzt, die eine Subjektassimilierung an bestehende Systeme vorsah. Hier braucht es einen neuen Wind und einen überzeugten rassismuskritischen Perspektivwechsel. Haltung hält – Rassismus tötet

Wenn wir in unseren beraterischen Praxis über eine rassismuskritische Herangehensweise nachdenken, wird sofort augenscheinlich, dass es nur wenig Referenzen dazu gibt. Einige wenige Publikationen beschreiben vermeintliche Besonderheiten in der Arbeit mit Menschen aus anderen Ländern und rücken Fragen der Differenz in den Mittelpunkt. Weniger hinterfragt wird die Verwobenheit der Berater*in selbst in wirkungsvolle Machtverhältnisse. Das wegweisende Buch von Kalpaka und Räthzel (1990) mit dem bezeichnenden Titel »Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein« analysierte früh die Inkorporation rassistischer Denk- und Handlungsweisen in (Sozialarbeits-)Institutionen, gesellschaftliche Strukturen und Subjekte. Dabei steht die Kritik im Mittelpunkt, dass es oft nicht intendierte Praktiken sind, die Rassismus reproduzieren. Somit stellt die radikale Selbstreflexivität ein Muss in der Arbeit

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mit Menschen, insbesondere mit Menschen mit Rassismuserfahrungen dar. Es geht dabei weniger um einen Vorwurf, sondern um die Einführung von Rassismus als Analysekategorie für jeden Aspekt unserer Tätigkeiten, egal ob ich mein Gegenüber einschätze, meine Hypothese aufstelle oder mich dabei erwische, zu denken, was den anderen eigentlich zu dem Anderen und dadurch als Geanderten konstruiert. In meinen Workshops diskutiere ich zur Verdeutlichung lange über die Facetten jener Frage, die weiß positionierte Menschen gegenüber Ge­ anderten2 immer wieder wie selbstverständlich stellen: »Wo kommen Sie eigentlich her?« Diese Diskussion ist ein gutes Beispiel für die Verinnerlichung von Strukturen. Menschen mit Rassismuserfahrungen sind sensibilisiert für die verschiedenen Subtexte, die diese Frage transportiert: dass ein Interesse vorliegt, ist klar, welche Motivation aber diesem Interesse unterliegt, das ist unklar. Handelt es sich um ein voyeuristisches, ethnologisches Interesse? Muss ich biografische Verortungen kennen, um meine Vorstellungen von (zugeschriebener) Zugehörigkeit zu prüfen? Oder gebe ich zum Ausdruck, dass ich mein Gegenüber als anders wahrnehme und womöglich als nicht dazugehörig? Eine wirkliche Bewandtnis für den Beratungsprozess birgt diese Frage in den seltensten Fällen. Dass diese Frage weniger im Beratungsprozess selbst, sondern vielmehr im Intro oder Outro zur Sprache kommt, unterstreicht die mangelnde Bedeutung für den Auftrag und damit die verbundene Fremdzuschreibung. Zusätzlich wird das Eindringen in die Privatsphäre verstärkt, sobald die erteilte Antwort erneut in Frage gestellt wird. »Aus Deutschland« wird in diesem Kontext nicht als gültige Antwort stehen gelassen, sondern es folgt ein deprimierendes Verhör über Verwandte, Eltern, Großeltern. Es entsteht Stress – Stress, sich zu entscheiden. Stress, der als Mikroaggression gewertet werden muss, denn er wird nicht nur im Beratungskontext produziert, sondern ständig, auf der Straße,

beim Bäcker, auf der Arbeitsstelle. Stress, der in einem Land (re-)produziert wird, das sich erst Anfang der 2000er Jahre als Einwanderungsland bekannt hat, in dem racial profiling an der Tagesordnung steht und in dem ein NSU sich selbst enttarnen muss, damit der existente institutionelle Rassismus deutlich wird – ohne ernsthaft bearbeitet zu werden. Diese diskriminierenden Praktiken haben sich in den Köpfen und Leibern festgeschrieben. Somit muss sich mit der Alltäglichkeit von Rassismus insbesondere in den eigenen Sicht- und Handlungsweisen in der Arbeit mit Menschen auseinandergesetzt werden. Oft höre ich in Fort- und Weiterbildungen das Argument, dass »ich den Menschen mit seinen / ihren Ressourcen in den Mittelpunkt von Beratung und Therapie sehe«. Sicherlich ist dies eine wichtige Herangehensweise und ein wichtiger Aspekt systemischer Haltung. Aber woraus speist sich diese Haltung in Bezug zu rassismuskritischer Praxis? Anders gefragt: Was lernen wir über Rassismus und rassistische Strukturen? Rückblickend kann ich für mich sagen, dass in der Schule die Auseinandersetzungen um den Nationalsozialismus und seine vermeintliche Beendigung im Mittelpunkt des Unterrichts standen. Die Beteiligung Deutschlands am Kolonialismus, seine Konstruktionen von Menschenwürde und die Definitionsmacht über Menschenrechte waren nicht Themen des gängigen gymnasia-

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otocase.de

Steffz / ph

len Geschichtsunterrichts. Aufgewachsen in der BRD wird gelernt, dass die Nazizeit überwunden ist und der Antirassismus zum guten Ton gehört. Rassismus sei nicht existent, die AfD rechtspopulistisch und nicht wählbar – gleichwohl mittlerweile in allen (Landes-)Parlamenten präsent. Es ist dieses gesellschaftliche Klima, in welchem Ratsuchende zu uns kommen und ihren Erfahrungsrucksack befüllt haben. »Wenn man grundsätzlich davon ausgeht, daß Therapie ein Ort ist, wo alle Menschen Unterstüt­ zung und Hilfe erwarten können, dann nehmen Weiße selbstverständlich an, daß sie in der The­ rapie nicht zusätzlichen Verletzungen ausgesetzt werden. Für Schwarze KlientInnen trifft diese Si­ cherheit nicht zu« (Hügel-Marshall 1998, S. 111). In den rassismuskritischen Fachdiskursen sprechen wir von einer unterschiedlichen Positionierung innerhalb eines machtvollen Herrschaftssystems. Menschen erfahren darin aufgrund von Selbst- oder Fremdzuschreibungen diverse Barrieren und Diskriminierungen. Diese unterscheiden sich stark je nach Positionierung als schwarz, of color, indigenous. Diesem auf die Spur zu kommen, bedarf des Rassismus als Analysekategorie. So wird aufdeckbar, warum teilweise wenig bipoc (black, indigenous, peole of color) positionierte Menschen den Zugang zu einer Beratung(-sstelle) oder Einrichtung nehmen (wollen), weder als Ratsuchende noch als Kolleg*innen. Weiterhin wird auch erkennbar, warum Skepsis und Ableh-

B e r a t u n g m a c h t k r i t i s c h h i n t e r f r a g t    2 7

nung in diesem Kontext Institutionen und Organisationen treffen, die sich als antirassistisch begreifen, wobei diese Haltung aber nebulös in ihrer Bedeutung und Realisierung bleibt. Erst wenn die Anerkennung von Rassismus als ein strukturelles und institutionelles Machtverhältnis sichtbar und wahrnehmbar ist, kann ein haltender Raum entstehen, sicher wird er nie sein. Aber zumindest wird über diesen Weg ermöglicht, die besonderen Handlungsrestriktionen, aber auch -optionen empowernd in den Mittelpunkt der Beratung / Unterstützung zu rücken. Tanja Chawla, Diplom-Sozialökonomin, MSc Political Development, Machtkritische Beratung, Supervision und Organisationsentwicklung, arbeitet intersektional, rassismuskritisch und gender­ sensibel. E-Mail: [email protected] Literatur Hall, S. (2013). The spectacle of the »other«. In: Hall, S.; Evans, J.; Nixon, S. (Hrsg.), Representation. Cultural representations and rignifying practices (S. 215–287). London. Hügel-Marshall, I. (1998). Schwarze KlientInnen in Therapie und Beratung bei weißen TherapeutInnen. In: del Mar Castro Varela, M.; Schulze, S.; Vogelmann, S.; Weiß, A. (Hrsg.), Suchbewegungen. Interkulturelle Beratung und Therapie. Tübingen. Kalpaka, A. (2009). Funktionales Wissen und Nicht-Wissen in der Migrationsgesellschaft – Ansatzpunkte für reflexive Bildungsarbeit. In: Lange, D.; Polat, A. (Hrsg.), Unsere Wirklichkeit ist anders. Migration und Alltag. Perspektiven politischer Bildung (S. 176–188). Bonn. Kalpaka, A.; Räthzel, N. (Hrsg.) (1990). Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Leer. Scharathow, W. (2009). Zwischen Verstrickung und Handlungsfähigkeit – Zur Komplexität rassismuskritischer Bildungsarbeit. In: Scharathow, W.; Leiprecht, R. (Hrsg.), Rassismuskritik. Band  2: Rassismuskritische Bildungsarbeit (S. 12 ff.). Schwalbach / Ts. Anmerkungen 1 Der Begriff »interkulturell« unterliegt einer historischen Veränderung. Gestartet als Forderung von Migrant*innenorganisationen, wurde er nach seiner Institutionalisierung zu einem Lippenbekenntnis, das inhaltlich mit Assimilierung und einer statischen Annahme von Kulturen verbunden ist anstatt mit dynamischen Diversifizierungen. Um auf diese gängige Verkürzung hinzuweisen, wird der Begriff an dieser Stelle kursiv geschrieben. 2 Geandert ist hier analog zum angelsächsischen »othering« zu verstehen (vgl. dazu Hall 2013 und Kalpaka 2009).

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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»Empowerment bedeutet, sich die Macht zurückzuholen« Empowerment als professionelle Haltung in der systemischen Arbeit mit geflüchteten Menschen

Sidra Khan-Gökkaya und Eliza-Maimouna Sarr Die Möglichkeit zur beruflichen und damit gesellschaftlichen Teilhabe ist verfassungsrechtlich geschützt und sollte allen Menschen zugänglich sein. Dabei ist der Arbeitsmarkt nicht frei von Barrieren, die nicht allen Menschen den Zugang gleichermaßen ermöglichen. Insbesondere geflüchtete Personen werden auf dem Arbeitsmarkt teils stark benachteiligt und manchen wird durch aufenthaltsrechtliche Bestimmungen grundsätzlich der Zugang hierzu sowie zu Deutschkursen verwehrt. Hürdenreiche berufliche Anerkennungsverfahren, Informationsdefizite und ein Mangel an entsprechenden Angeboten sowie an Wissen über das hiesige Arbeitsmarktund Bildungssystem können ebenfalls als Barrieren erlebt werden. Ein Qualifizierungsangebot umfasst beispielsweise nicht automatisch die Übernahme der Anreisekosten und kann somit ungenutzt bleiben, obwohl die betroffene Person dies gern in Anspruch genommen hätte (Women in Exile). Gewaltvolle und traumatisierende Erfahrungen sowie die Folgen der Flucht können für Menschen mit Fluchtbiografie die Ausübung ihrer Tätigkeit und Sprachlernprozesse erschweren. In Aufnahmeunterkünften mangelt es oft an einem Rückzugsort, um für Prüfungen lernen oder sich regenerieren zu können. Der von vielen erlebte Verlust des Selbstbewusstseins, des Status sowie Diskriminierungserfahrungen, sozialer Ausschluss und das Arbeiten unter prekären Bedingungen (Diekmann und Fereidooni 2019, S. 349) im Aufnahmeland erschweren weiterhin Ankommen und Inklusion in der Gesellschaft.

Arbeitsmarktbezogene Angebote fokussieren darauf, diese Barrieren zu adressieren und die sogenannte Integration von Geflüchteten zu erleichtern. Dabei überwiegt jedoch oft ein defizitärer Blick auf diese, während ressourcenorientierte Ansätze erst schrittweise Akzeptanz finden. Dieser Beitrag widmet sich aus einer diskriminierungskritischen und ressourcenorientierten Perspektive dem Empowerment geflüchteter Menschen und den notwendigen Voraussetzungen, die Berater*innen bei der Arbeit mit Geflüchteten im beruflichen Kontext mitbringen sollten.  Empowerment als Prozess Der Begriff »Empowerment« geht maßgeblich auf die »Schwarze Bürgerrechtsbewegung, die Frauenrechtsbewegung der 1960er Jahre in den USA sowie die Unabhängigkeitsbewegungen in den kolonisierten Ländern Afrikas und der Amerikas« zurück und wird als ein politischer Begriff sowie ein emanzipatorisches Konzept verstanden (Amadeu Antonio Stiftung 2016, S. 7). Das Ziel von Empowerment ist es, Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung von Menschen zu stärken, die von Benachteiligung und Diskriminierung betroffen sind. Übersetzt wird der Begriff mit individueller und kollektiver Selbster- oder -bemächtigung und weist damit bereits auf die ihm zugrundeliegende Haltung hin, dass Menschen sich nur jeweils selbst empowern und für andere Menschen bestenfalls Räume und Anreize für Empowerment-Prozesse schaffen können (Can 2013, S. 8 ff.).

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»Empowerment bedeutet, sich die Macht zurückzuholen, die einem_einer weggenommen wurde. Als Bild lässt sich das so vorstellen, dass die Macht einer weniger privilegierten Person von einer Gruppe privilegierterer Menschen weggenommen wird, indem sie diskriminiert wird. Die diskriminierte Person kann allerdings auch ermächtigt werden oder sich selbst ermächtigen und bekommt so das Gefühl von Macht zurück« (Yaghoobifarah in Amadeu Antonio Stiftung 2016, S. 12). An geflüchtete Menschen gerichtete Empower­ ment-Angebote müssen demnach immer die Reduktion von Abhängigkeiten und das graduelle Lösen aus Hilfesystemen zum Ziel haben. Für Geflüchtete müssen daher die eigenen Ziele, die eigene Freiheit zur Selbstentfaltung und zur Selbstbestimmung noch essentieller als für grundsätzlich alle Klient*innen im Vordergrund stehen. E­mpowerment-Prozesse geflüchteter Personen im beruflichen Kontext sind daher notwendig, um sie bei der Bewältigung der beschriebenen Barrieren zu unterstützen und ihre Ressourcen sichtbar zu machen. Im Folgenden soll nur eine Auswahl zahlreicher Möglichkeiten des Empowerments geflüchteter Personen aufgeführt werden. Da es sich um eine ausgesprochen heterogene Personengruppe handelt, muss Em­power­ment entsprechend kontext- und anliegenspezifisch gedacht werden. Wissen: Ein Bestandteil von Empowerment ist die Erweiterung von Wissen. Dazu gehört in diesem Kontext die Aufklärung über Grund- und Arbeitsrechte sowie insbesondere die Vermittlung, wie diese eingefordert werden können. Geflüchteten Menschen sollte Zugang zu Wissen über das hiesige Bildungs- sowie Ausbildungssystem und über Weiterbildungs- beziehungsweise Aufstiegsmöglichkeiten vermittelt werden, um selbstbestimmt Entscheidungen über ihre Arbeitssituation und Perspektive treffen zu können. Der Hinweis, sich um praktische Erfahrungen wie Probearbeitstage zu bemühen, kann hilfreich sein, um eine selbstbestimmte Berufswahl

zu fördern. So kann es beispielsweise sein, dass Geflüchtete sich gegen eine Ausbildung oder ein Studium und für die Aufnahme einer prekären, aber unmittelbaren Beschäftigung mit geringem Gehalt entscheiden, um Schulden der Flucht abzubezahlen und die Familie zu unterstützen. Dies gilt es zu respektieren, auch wenn es schwerfallen mag, und bei der Lösungsfindung zu unterstützen. Dafür haben Berater*innen bei einer Fülle an Informationen nicht immer das nötige Wissen im jeweilig spezifischen Bereich. Gerade dann ist es wichtig, geflüchtete Klient*innen an qualifizierte Stellen weiterzuverweisen und bestenfalls persönlichen Kontakt herzustellen. Antidiskriminierung: Ein bedeutender Teil von Empowerment ist die Anerkennung von intersektionaler Diskriminierung und der Notwendigkeit einer aktiv und qualifiziert betriebenen Antidiskriminierungsarbeit. Diskriminierung ist für viele eine alltägliche Erfahrung, die belastet und zu psychischen Erkrankungen führen kann (Uslucan und Yalcin 2012, S. 37). Dies wiederum kann sich beeinträchtigend auf die Arbeitsfähigkeit auswirken (The VOICE Refugee Forum). Hier können im Sinne eines kollektiven Ermächtigungsprozesses beispielsweise geschützte Räume für geflüchtete Klient*innen zur Verfügung gestellt werden, in denen sie Erlebnisse, Diskriminierungserfahrungen und Strategien im Umgang damit mit anderen austauschen können, die Ähnliches bewältigen (mussten). In diesem Sinne »enthält Empowerment die Idee, dass Menschen, die bestimmte Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung teilen, sich gegenseitig unterstützen und stärken können. Empowerment passiert also auf Grundlage geteilter Erfahrungen. Wenn die durch (rassistische) Erfahrungen verursachten Schmerzen in einem geschützten Raum zugelassen und thematisiert werden, wird der erste Schritt gegangen: Unrecht, das uns (und anderen) widerfahren ist, zu benennen. Alle weiteren Schritte – die Heilung der Verletzungen, das Entwickeln von Strategien und schließlich die Selbstermächti-

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gung – sind nur möglich, wenn wir anfangs in einem geschützten Raum unsere Erfahrungen teilen können« (Puvogel in Amadeu Antonio Stiftung 2016, S. 17). Ressourcen: Eine weitere Möglichkeit ist es, die bereits implementierten Strategien und das Erkämpfte wertzuschätzen und als eine Ressource immer wieder sichtbar zu machen. Statt sich in Mitleid für auf der Flucht erlebte Schrecken zu verlieren, ist es wichtig, die Bewältigungsstrategien des*der Klient*in hervorzuheben. Diese Haltung lässt sich beispielsweise auch auf die Aneignung von Sprachkenntnissen übertragen. Während in Deutschland die (noch) nicht ausreichenden Sprachkenntnisse im beruflichen Kontext immer wieder als defizitär thematisiert werden, wird Mehrsprachigkeit vieler Menschen mit (familiärer) Flucht- und Migrationsbiografie kaum als Ressource gewürdigt. Diese Beispiele verdeutlichen, wie vielfältig und individuell Empowerment-­Angebote gestaltet werden können und müssen. Dabei ist nicht primär die Art der jeweiligen ­Angebote entscheidend, sondern vielmehr die Haltung, mit der diese konzipiert und durchgeführt werden. Em­power­ ment kann dann als professionelle Haltung verstanden werden (Projekt Kompass F, S. 21). Daher werden wir im Folgenden darauf eingehen, welche Voraussetzungen Berater*innen in diesem Feld mitbringen sollten.   Empowerment als Haltung Die wichtigste Voraussetzung, um in diesem Feld zu arbeiten, ist, eine diskriminierungskritische Haltung zu entwickeln. Dabei wird Diskriminierung über den Einzelfall hinaus nicht notwendigerweise als böse Absicht oder Ausnahme, sondern als strukturelles und institutionelles Merkmal unserer Gesellschaft verstanden, das Machtverhältnisse (re-)produziert. Daher ist es wichtig, die eigene Position, die eigenen Privilegien und den eigenen Zugang zu Ressourcen innerhalb dieser Strukturen zu reflektieren, Verant-

wortung zu übernehmen und daran zu arbeiten, dass Zugänge zu sämtlichen gesellschaftlichen Ressourcen wirklich allen Menschen frei von Barrieren möglich sind. Dabei kann es darum gehen, Macht abzugeben. Macht kann sich beispielsweise auch in dem Glauben äußern, es vermeintlich besser zu wissen als die*der Klient*in und in der

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Amaro Drom / gesellschaftsbilder.de

Folge ihnen gegenüber paternalistisch aufzutreten. Es kann aber auch die Aufgabe der beratenden Person sein, einen Diskriminierungsvorwurf ernst- und anzunehmen. »Vielen Menschen, die nicht selbst von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind, bleibt die Dimension dieser vielfältigen Erfahrungen mit

Antisemitismus und/oder Rassismus meist verschlossen. So gesehen sind alle betroffen. Die einen von Diskriminierung und die anderen von einer (professionellen) Wissenslücke, die manchmal auch als Ignoranz bezeichnet werden muss. (…) Doch Nicht-Wissen entbindet nicht von Verantwortung« (Amadeu Antonio Stiftung 2016, S. 10).

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Teil dessen kann sein, sich über Dankbarkeit zu freuen, statt diese zu erwarten und die Klient*innen damit letztlich in der wenig selbstbestimmten Hilfenahme-Position »klein« zu halten. Das Wissen über und die Sensibilisierung für eigene Privilegien können dann produktiv genutzt werden, eigene Konflikte sowie Themen früher erkannt und nicht auf die Geflüchteten projiziert werden. Dies kann bedeuten, Misstrauen und Ungeduld auszuhalten oder sich zu bemühen, Diskurse über »gute oder schlechte Flüchtlinge« und deren gesellschaftlicher »Verwertbarkeit« nicht zu reproduzieren. Entgegen gesellschaftlichen Tendenzen müssen geflüchtete Menschen immer individuell betrachtet werden und Flucht als biografische Erfahrung, aber keineswegs als (alleingültige) Identität (LesMigraS) wahrgenommen werden. So kann zugleich der Gefahr von Homogenisierung und Kulturalisierung während der Beratung entgegengewirkt werden, die zu Verletzungen bei den Klient*innen und einer wiederum eingeschränkten Wahrnehmung von deren Realität und Ressourcen führen kann. »Ich bin jeden Tag acht Stunden hier (in der Berufsschule, Anmerkung der Verfasserinnen). Und habe ich wirklich schlechtes Gefühl. Weil ich höre jeden Tag, dass ich ein Afghane bin. Und in Deutschland macht man nicht so wie ein Afghane macht. Aber was macht ein Afghane? Das könnte auch ein Deutscher oder Amerikaner machen. Ich kann nicht mehr, wirklich. Jeden Tag so was brauchen« (Schüler im Berufskolleg in: Projekt Kompass F, S. 13). Stigmatisierung, beispielsweise aufgrund einer bestimmten Herkunft, kann defizitorientierten Interpretationen Vorschub leisten und einer klient*innen- und ressourcenorientierten Lösungsfindung im Weg stehen. Das Nutzen einfacher Sprache beziehungsweise die Reflexion des eigenen Sprachgebrauchs, beispielsweise durch die Verwendung von Selbststatt Fremdbezeichnungen, eigene Mehrsprachigkeit oder ein qualifizierter Umgang mit Dolmetschenden sind weitere hilfreiche Aspekte für

die Arbeit in diesem Bereich. Für das Selbstbewusstsein und die erlebte Unabhängigkeit der Klient*innen kann es förderlich sein, wenn sie nicht immer nachfragen, auf wohlwollende Wiederholung hoffen müssen oder Verständnislücken bleiben. Konkret kann dies bedeuten, auf Redewendungen und Abkürzungen zu verzichten sowie beispielsweise konstruktive Fragen auf schwierige Formulierungen hin zu überprüfen. Es bedeutet auch, sich bei der Wahl von Metaphern bewusst zu sein, dass diese vom eigenen soziokulturellen Kontext und gegebenenfalls eurozentrisch geprägt und damit nicht für alle Klient*innen wirksam oder hilfreich sind. Wichtig ist, dass Empowerment immer ein innerer Prozess ist und Berater*innen nur einen Rahmen für das Empowerment schaffen können. »›Echtes‹ Empowerment sollte als Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess verstanden werden und die Veränderung von Machtstrukturen zum Ziel haben« (Kleefeldt 2018, S. 49), das bezieht die jeweilig beratende Person auch im Sinne eines Power­sharings (Can, 2018) unbedingt mit ein. Sidra Khan-Gökkaya hat Kultur- und Religionswissenschaft und Internationale Migrationsforschung und Interkulturelle Beziehungen studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und promoviert zu dem Thema »Berufliche Integration von Geflüchteten in Gesundheitsberufe«. Zudem ist sie systemische Beraterin (DGSF), Moderatorin und arbeitet im Kontext von Diversität, Antidiskriminierung und Empowerment. E-Mail: [email protected]

Eliza-Maimouna Sarr hat neben einem Studium der Rechtswissenschaften und Ethnologie Weiterbildungen unter anderem im Bereich Intersektionalität, Antidiskriminierung sowie Empowerment absolviert und ist systemische Beraterin/Therapeutin in Ausbildung. Derzeit ist sie bei basis & woge e. V. als Fachreferentin für Migration, Diversity und Antidiskriminierung im Teilprojekt migration. works des Netzwerk IQ Hamburg sowie der Antidiskriminierungsberatung »amira« beschäftigt. E-Mail: [email protected]

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Literatur Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.) (2016). »Einen Gleichwertigkeitszauber wirken lassen  …«. Empowerment in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit verstehen. https:// www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/einengleichwertigkeitszauber-wirken-lassen (Letzter Zugriff 24.05.2020). Can, H. (2013). Empowerment aus der People of Color-Perspektive. Reflexionen und Empfehlungen zur Durchführung von Empowerment-Workshops gegen Rassismus. Hrsg. von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS). Berlin. Can, H. (2018). Doing Empowersharing – Handlungsmächtigkeit durch Empowerment und Powersharing gegen Rassismus. In: IQ konkret Fachmagazin, 1/2018, S. 34. Diekmann, D.; Fereidooni, K. (2019). Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen geflüchteter Menschen in Deutschland. In: Z’Flucht. Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung, 3, 2, S. 343–360. Kleefeldt, E. (2018). Resilienz, Empowerment und Selbstorganisation geflüchteter Menschen. Stärkenorientierte Ansätze und professionelle Unterstützung. Göttingen.

LesMigraS. https://lesmigras.de/selbstempowerment.html (Letzter Zugriff 11.01.2020). Projekt Kompass F/ARIC-NRW e. V. (Hrsg.) (2018). Diskriminierungsschutz in der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen. Prävention und Interventionen. Arbeitshilfe. Köln. https://www.kompass-f.de/fileadmin/public/Redaktion/Dokumente/PDF/Kompass_F-Arbeitshilfe_Web. pdf (Letzter Zugriff 24.05.2020). The VOICE Refugee Forum http://thevoiceforum.org/node/ 4106 (Letzter Zugriff 11.01.2020). Uslucan, H.-H.; Yalcin, C. S. (2012). Wechselwirkung zwischen Diskriminierung und Integration  – Analyse bestehender Forschungsstände. Expertise des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Essen. http://www.antidiskri­ mi­nie­rungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publi­ ka­t ionen/Expertisen/Expertise_Wechselwirkung_zw_ Diskr_u_Integration.pdf %3F__blob %3DpublicationFile (Letzter Zugriff 24.05.2020). Women in Exile https://www.women-in-exile.net/empowerment-workshop/#more-5263 (Letzter Zugriff 11.01.2020).

Helmut Hoffmann-Menzel

Statt sich in Mitleid für auf der Flucht erlebte Schrecken zu verlieren, ist es wichtig, die Bewältigungsstrategien des Klienten/der Klientin hervorzuheben.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Literatur als Beispiel für eine »Methode« in der Philosophischen Praxis Christiane Pohl Gibt es methodische Möglichkeiten in der Philosophischen Praxis? Ja und nein. Es gibt sie, sofern man unter »Methode« einen reflektierten Weg versteht, ein Gespräch zu führen, so wie es auch das altgriechische Wort Methode in sich vereint: meta, was hier »über« bedeutet, und ho­ dos, also der »Weg«. Wer eine Methode benutzt, kennt – der Wortbedeutung nach – einen Weg oder ist wegkundig, er weiß über ihn Bescheid. So

m.schröer

In meine Philosophische Praxis kommen häufig Menschen mit existenziellen Problemen: Es geht um Verlusterfahrungen, um psychisch schwerkranke Kinder, um Konflikte, um das Ringen mit dem Lebenssinn und vieles andere. Keinesfalls will die Philosophische Praxis dabei eine Psychotherapie ersetzen, aber sie bietet einen anderen Zugang zu den Problemen an und versteht sich daher als Alternative zur Psychotherapie.

L i t e r a t u r a l s B e i s p i e l f ü r e i n e » M e t h o d e « i n d e r P h i l o s o p h i s c h e n P r a x i s    3 5

gibt es zum Beispiel den Weg des Fragens – anstelle eines raschen Antwortsuchens –, es gibt den Weg der subjektiven anthropologischen Selbstbestimmung als Orientierungsbasis, verschiedene Gesprächsführungen, unter anderen die sokratische, die sprachreflexive Methode, die Einbeziehung von Kunst oder den Weg, Texte aus Literatur oder Philosophie in das Gespräch einzubeziehen. In einem philosophisch basierten Gespräch können die Gesprächswege gewechselt werden, kein Weg kann der »Königsweg« sein. Insofern gibt es keine spezifische oder standardisierte Methode der Philosophischen Praxis. Vielmehr zeigt sich im Gespräch, welcher Weg sich eröffnet, der zudem auch noch in einer Metareflexion bedacht werden kann. Der Gesprächsweg ist also bei jedem Gast nicht nur von anderen Inhalten be-

In einem philosophisch basierten Gespräch können die Gesprächs­ wege gewechselt werden, kein Weg kann der »Königsweg« sein. Vielmehr zeigt sich im Gespräch, welcher Weg sich eröffnet.

stimmt, sondern auch von der Art und Weise, wie die Inhalte bedacht werden – vom Philosophieren bis hin zu einfachem Erzählen ist alles möglich. Jeder Gast geht in gewisser Weise seinen ganz eigenen Weg. Gemeinsam ist allen Wegen, dass sie dazu dienen, die Fähigkeit der Gäste zu stärken, sich selbst zu orientieren. Auf dieser Grundlage beschreitet man in der Philosophischen Praxis einen Weg gemeinsam, man verlässt ihn wieder, man stellt möglicherweise fest, dass er in eine Sackgasse, führt oder man bemerkt, dass er in eine neue geistige Freiheit oder in eine befreiende Gelassenheit führt. Das Wissen über die Wege ist seitens der Philosophin oder des Philosophen dabei viel mehr als eine erworbene Kompetenz, die in gewisser Weise seelenlos angewendet werden könnte. Für Kompetenzen ist die Persönlichkeit des Anwenders nicht relevant, aber für ein philosophisch ausgerichtetes Gespräch ist – neben Erfahrung, Intuition und Wissen – die Persönlichkeit des Philosophen von erheblicher Bedeutung. Wer etwa sehr rational ausgerichtet ist, wird ein Gespräch anders führen als diejenigen, für die die gegenseitige Resonanz im Gespräch besonders wichtig ist. So zeigt auch dieser Aspekt deutlich, dass die Philosophische Praxis sich nicht auf eine bestimmte Methode der Gesprächsführung festlegen lässt. Ich möchte gern an drei Beispielen erläutern, wohin der Weg der Literatur führen kann. Vor einigen Jahren saß mir ein Biobauer gegenüber, der mir mit wenigen dürren Worten zu sagen versuchte, warum er gekommen war, und mir dann stumm gegenübersaß. Es war ihm nicht möglich, sein Leid und Unglück näher zu artikulieren. Auch ich war verstummt und wusste nichts mehr zu sagen. Alles, was ich vorher gesagt hatte, fand bei ihm keine Resonanz. »Hm«, sagte er oder auf Plattdeutsch: »Ik weet dat allens sülben.« So kam es, dass sich Schweigen ausbreitete, bis ich einer Eingebung folgte und wie zu mir selbst sprach:

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

»Und meine Seele breitete weit ihre Flügel aus flog durch die stillen Lande als flöge sie nach Haus.«

»Und meine Seele breitete / weit ihre Flügel aus / flog durch die stillen Lande / als flöge sie nach Haus.« Es war eine Strophe aus Joseph von Eichendorffs Gedicht »Mondnacht« (1837). Er begann zu weinen – ich beinahe auch – und es eröffnete sich aus dem Verstummt­sein für uns ein Weg. Er fing an zu erzählen: von seinen Feldern, seinem Wald und dem See. Auch für Leid und Unglück fand er langsam eine Sprache und fand sich dann auch bereit, seinen üblichen Gedankenrahmen einmal zu verlassen. »Ich saß ja richtig in einem Gedankenkerker«, meinte er später zu mir. Was hier geschehen war, könnte man als eine geistig-emotionale Öffnung bezeichnen. Eine Kluft zwischen den festgefahrenen Gedanken und der Berührung durch etwas ganz Anderes tat sich auf und wirkte hier wie ein befreiender Schock. Das Erleben von Enge und Ausweglosigkeit konnte plötzlich einen Ausdruck im Weinen gewinnen. Im Anschluss daran richtete sich die geistige Aufmerksamkeit bei ihm auf etwas Neues, auf etwas lange nicht mehr Bedachtes oder Empfundenes. Nicht mehr die Problemlösung stand im Mittelpunkt dieses Prozesses, sondern sogar die Abwendung davon und die Hinwendung zu einem ganz anderen Bereich des Lebens und Denkens.

Es war der Beginn einer veränderten Welt- und Selbstbeziehung, was mein Gast in der Metapher vom Gefängnis zusammenfasste. Ein anderer Gast berichtete von seiner permanenten Anspannung, in der er sich mit seiner Lebensgefährtin befand. Er fühlte sich ununterbrochen kritisiert und in allem eingeengt. Bei ihm waren es philosophische Überlegungen, die der Anfang einer veränderten Selbstund Weltbeziehung waren. Nur zwei Sätze waren es, die ich ihm auf ein Blatt Papier aufgeschrieben hatte. Ich hatte sie bewusst mit der Hand geschrieben, um sie von der Flut des Gedruckten abzuheben, schon dadurch verlief das Aufnehmen der Sätze nicht in der üblichen Routine des Lesens. Ich gab sie ihm in unserem zweiten Gespräch: »Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten« (Bieri 2013). Der erste Satz ließ ihn von außen auf sein Leben und das vieler anderer Menschen schauen. Das war ihm möglich, weil er in Bieris Worten einen Halt, vielleicht sogar Trost, fand: Nicht sein Versagen war es, sondern das Leben selbst birgt in sich die Gefährdungen, in die wir ohne unser Verschulden hineingeraten. Das gab ihm in

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ico_daniel / photocase.de

3 6   C h r i s t i a n e Po h l

L i t e r a t u r a l s B e i s p i e l f ü r e i n e » M e t h o d e « i n d e r P h i l o s o p h i s c h e n P r a x i s    3 7

einem weiteren Schritt den Mut, die gedankliche Enge zu überwinden, wobei uns auch weiterhin Bieris Gedanken zur Würde begleiteten. Die »Lebensform der Würde« war für ihn ein neuer Erfahrungsraum, der es ihm ermöglichte, seine Beziehung anders zu bewerten und anders zu gestalten. Als Beispiel für den Weg mit der Literatur möchte ich noch die Besuche einer Frau erwähnen, die vor einer schwierigen Entscheidung stand. Sie fragte sich, ob sie in eine andere Stadt zu ihrem neuen Lebensgefährten umziehen sollte, aber dann hätte sie ihren unbefristeten Arbeitsplatz aufgeben müssen. Um aus diesem Themenkreis herauszukommen, lasen wir zusammen die Parabel von Kafka »Vor dem Gesetz« (1915). In dieser Erzählung bittet ein Mann von Lande um Eintritt in das Gesetz. Es wird ihm vom Türhüter verwehrt. Jahrelang probiert er es wieder, bleibt jedoch erfolglos. Am Ende sei­ ner Tage fragt er, warum niemand außer ihm Eintritt verlangte, worauf der Türhüter in sein »vergehendes Gehör« brüllt: »Hier konnte nie­ mand sonst Einlass erhalten, denn dieser Ein­ gang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Um die starken metaphorischen Bilder kreiste unser Gespräch, so zum Beispiel: Ist die Situation des ›Mannes vom Lande‹ mit ihrer vergleichbar? Gibt es in ihrem Leben auch einen Türhüter, der ihr den Eintritt verwehrt? Wie hätte sie gehandelt? Es ging hier, mit einem Wort von Karl Jaspers gesagt, um »Existenzerhellung«. Einerseits blieben wir bei ihrem Problem, andererseits lösten wir uns immer wieder davon, indem wir unsere Gedanken auf ganz andere Wege schickten, die sie schließlich befähigten, eine Entscheidung zu treffen: Sie zog in die andere Stadt und bejahte sehr selbstbewusst die Konsequenz, keinen sicheren Arbeitsplatz mehr zu haben. Sie hatte keine Angst mehr vor dem »Türhüter« – aber

natürlich hätte ihre Entscheidung auch ganz anders ausfallen können. Wesentlich war hier, dass sie nun wusste, auf welchem Boden sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Ich hatte anfangs gesagt, dass es Methoden in der Philosophischen Praxis gibt und auch wieder nicht gibt. Es gibt sie nicht, wenn man unter Methoden ein standardisiertes Vorgehen versteht. Ein solcher vermeintlicher Königsweg mag für einige Menschen passen, für andere aber überhaupt nicht. Ein wichtiger Arbeitsbereich in der Philosophischen Praxis besteht darin, zu erspüren, welcher Weg weiter führen könnte. Insofern wird in der Philosophischen Praxis immer wieder ein individueller Weg neu erschaffen: der Weg des Gastes. Kein Gespräch ist in seinem methodischen Vorgehen mit dem anderen vergleichbar. Aber wenn man dieses reflektierte Verhältnis zu den Methoden berücksichtigt, dann gibt es natürlich Methoden – Wege –, die dabei unterstützen können, ein neues Selbst- und Weltverständnis zu erlangen. Und so kann beispielsweise der Weg der Literatur, der Poesie oder Philosophie zu einer Befreiung der inneren und äußeren Situation führen – besonders dann, wenn dieser Weg von Vertrauen und Zuneigung begleitet ist. Christiane Pohl ist Philosophin, lebt in Hamburg und führt dort eine Philosophische Praxis. Dazu gehören Seminare und Vorträge, aber das Herzstück ihrer Arbeit besteht in Gesprächen mit Menschen in schwierigen existenziellen Situationen. Philosophisches Denken verbindet sie mit dem praktischen Leben, um so neue Sichtweisen und geistig/seelische Weite zu erlangen. E-Mail: [email protected] Literatur Bieri, P. (2013). Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde (S. 14 f.). München. Eichendorff, J. von (1837 / 2014). Mondnacht. In: Gedichte, die glücklich machen. Hrsg. von C. Paul (S. 173). Berlin. Kafka, F. (1915 / 1976). Vor dem Gesetz. In: Franz Kafka, Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod. Band 4 (S. 120 f.). Frankfurt a. M.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Die Arbeit am Tonfeld® – Berühren und berührt werden Barbara Trautwein Was ist Arbeit am Tonfeld®? Die Arbeit am Tonfeld® als Handlungsstruktur und Entwicklungsgestaltung wurde 1972 von Heinz Deuser begründet und seither erforscht und in Theorie und Praxis entwickelt. »Das Tonfeld ist ein haptischer Gegenstand. Er erfährt im haptischen Gegenstand seine Bedeutung. An ihm realisieren wir, wie wir uns äußern, wie wir uns einlassen, wie wir uns orientieren und wie wir gestaltend und verwirklichend antworten auf das, was uns in diesem Tun begegnet. Die

haptische Organisation in diesem Vorgang gegenwärtigt uns in unserem Weltbezug. Haptik ist der Handlungsvorgang, durch den wir uns mit unseren Händen wahrnehmend äußern und orientieren. Dazu sind die Basissinne von Bedeutung: der Hautsinn, das Gleichgewicht, die Tiefensensibilität mit dem Empfinden von Druck. Die Haptik weist uns in eine Realität, die eine ›absolute‹ Evidenz besitzt, weil sie sowohl psychisch wie auch weltlich ist. Simultan entwickelt sich eine Beziehung nach innen und nach außen. In der Antwort auf beide Herausforderungen entwickelt sich das

Arbeit am Tonfeld® nach Prof. Heinz Deuser

im

GREIFEN sich

Foto: Barbara Trautwein

BEGREIFEN

D i e A r b e i t a m To n f e l d ®   – B e r ü h r e n u n d b e r ü h r t w e r d e n    3 9

seiner selbst bewusst werdende Ich. Haptisches Begreifen umfasst daher immer zwei Erfahrungsbereiche: Indem wir etwas äußerlich berühren, sind wir gleichzeitig innerlich berührt in unserem psychophysischen Sein« (Verein für Gestaltbildung e. V., 2016, S. 14). Das Tonfeld besteht aus einem flachen, rechteckigen Holzkasten, der mit gut formbarer, glatt gestrichener Tonerde gefüllt ist. Das begrenzende Feld bietet den wahrnehmenden Händen Halt. Die ebene Fläche gibt freien Raum. Der weiche Ton, das formbare Material, ermuntert zum Tasten und Ergreifen. Was im Tonfeld Gestalt gewinnt, spiegelt die ganz eigene Weise der Weltwahrnehmung und Welterfahrung wider. Ton ist in seiner Substanz nach fest genug, um Sicherheit zu spüren, und ist doch flexibel genug, um in jeder Bewegung mitzugehen. Er ist fest und weich zugleich. Setting Auf einem stabilen Tisch stehen das Tonfeld und eine Schale mit Wasser. Außerdem gibt es einen Stuhl für den, der am Tonfeld arbeitet, und einen für die begleitende Person. Das Tonfeld bietet sich an als kompetente beziehungsweise therapeutische Begleitung für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Es ist bei Kindern besonders geeignet • • • •

zur Stärkung ihres Selbstwertgefühls, bei Entwicklungsstörungen, beim Aufbau sozialer Fähigkeiten, bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse.

Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen sind traumatherapeutische Erfahrungen der Begleiterin unerlässlich, um Retraumatisierungen zu verhindern. Bei Erwachsenen ist ein wesentlicher Vorteil der Arbeit am Tonfeld®, dass durch die Berührung mit dem Ton ein unmittelbarer Kontakt zu

sich selbst entsteht. Das Streichen, Greifen und Formen der Tonerde stärkt Leibgewissheit und Körperwahrnehmung. Der Tastsinn wird intensiv angesprochen und die Sinne werden in ihrer ursprünglichen Sinnlichkeit wieder erschlossen. Tiefe Schichten der Persönlichkeit werden berührt. Eigene Handlungsimpulse bestimmen das Geschehen. Eigene Wünsche, Sehnsüchte und Freuden werden wach. Im gemeinsamen Nachgespräch werden neue Erfahrungen noch einmal sprachlich nachvollzogen und dadurch wird das Gewonnene ins Bewusstsein gehoben. Es dient zur Betonung und Bezeugung des Geschehenen. Für die Arbeit am Tonfeld® sind seitens der Klientinnen und Klienten keine Vorkenntnisse erforderlich, man braucht weder Erfahrung noch Talent. Es gibt für das Gestalten am Tonfeld keine inhaltliche Vorgabe, keine Anweisung in Bezug auf Gestaltung und keine Erwartungen an Ergebnisse. Wichtig sind vielmehr das Aufspüren und Verwirklichen der eigenen Lebensimpulse. Dabei entsteht nichts Vorgeplantes oder Ausgedachtes. Es ist unser spontaner Greifdrang der Hände, der sich im Material Tonerde abbildet und ausdrückt: Bewegung wird Gestalt (nach Deuser, 2004). Einsatz in der Trauerbegleitung Trauernden eröffnet die Arbeit am Tonfeld® Begleitung und Klärung in Krisen- und Konfliktsituationen, Reflexion von Beziehungsmustern, Stärkung von Beziehungsfähigkeit, Selbsterfahrung, Ich-Bildung, Ich-Stärkung, Unterstützung bei seelischen Belastungen wie Lebenskrisen, Krankheit, Trauer oder Sucht sowie Freude an der eigenen Gestaltungskraft. Erwachsene arbeiten mit geschlossenen Augen, um den Zugang zur eigenen Intuition zu verstärken und den Zugang zu sensomotorischer Wahrnehmung zu erleichtern. Das bewusstseinsnähere, oft kontrollierende Sehen tritt in den Hintergrund. Auf diese Weise werden vorbewusste Schichten angesprochen, schlummernde Ressourcen aktiviert und ursprüngliche Vitalität geweckt, die manchmal in

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

4 0   B a r b a r a Tr a u t w e i n

Fotos: Barbara Trautwein

Das Leben in die eigenen Hände nehmen

und nach einem Verlust verloren scheint. Trauernde können Stabilität, innere Orientierung in den eigenen Lebensbedürfnissen, Verlässlichkeit und emotionalen Halt, soziale Kompetenz, Selbstwertgefühl und Ich-Stärke gewinnen. Festgefahrene Lebenssituationen können wieder in Fluss kommen. Gerade bei depressiven Verstimmungen kann diese Bewegung lockernd wirken, ja sogar die Gefahr der Versteinerung vermindert werden. Körper, Geist und Seele kommen in einen Austausch. Die eigene Mitte wird spürbar und somit in Krisenzeiten erinnerbar. Gleichzeitig ermöglicht die Arbeit am Tonfeld® durch das unmittelbare leibliche Erleben Erfahrungstiefe und eine körperliche Verankerung der Veränderungsschritte. Trauernde können ein tieferes Verständnis für biografisch erworbene Beziehungs- und Handlungsmuster gewinnen. Das Sich-Ausprobieren in der Begegnung mit dem Material ermöglicht den Erwerb von Selbstwahrnehmung und das Erleben von Selbstwirksamkeit,

was gerade in dem Gefühl des Vereinsamtseins nach einem Verlust viel Kraft geben kann. Somit kann die Arbeit am Tonfeld® eine wirksame Methode in der Trauerbegleitung sein. Barbara Trautwein, Heilpraktikerin für Psychotherapie, bietet Fachberatung für Psychotraumatologie, Somatic Experiencing (Peter Levine), Arbeit am Tonfeld® (Heinz Deuser), Trauerberatung, initiatische Wegbegleitung an. Sie ist Qualifizierende und Gründungsmitglied im Bundesverband Trauerbegleitung e. V. E-Mail: [email protected] Website: www.tonfeld.de Literatur Deuser, H. (2004). Bewegung wird Gestalt. Der Handlungsdialog in der Arbeit am Tonfeld®. Bremen. Deuser, H. (2007). Im Greifen sich begreifen. Die Arbeit am Tonfeld nach Prof. Heinz Deuser. Hinterzarten. Verein für Gestaltbildung – Deuser, H. (2016). Der haptische Sinn. Beiträge zur Arbeit am Tonfeld®. Hinterzarten.

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»Durch die Blumen sprechen« Ein neuer kreativer Ansatz in der Trauerbegleitung

Brunhilde Vest Unbewusstes bewusstmachen, Assoziationen wecken, Dialogmöglichkeiten eröffnen, Perspektiven wechseln, Autonomie wiedergewinnen, Schaffensfreude erleben und sich mit der Natur verbunden fühlen. Mit dem neuen, dem Ikebana nachempfundenen Ansatz, den ich Ihnen in diesem Artikel gern vorstellen möchte, ist dies alles möglich. Er erweitert somit die methodischen Möglichkeiten der Begleitung von Trauernden auf ihrem Weg. Zu viel versprochen? Machen Sie sich selbst ein Bild!1

strahlt auf den Umgang mit sich selbst unweigerlich aus. Mithilfe eines selbstgemachten IkebanaArrangements werden Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Fantasien und Naturimpressionen als vergängliche Momentaufnahmen bewusst oder unbewusst zum Ausdruck gebracht und der Wert des Hier und Jetzt verdeutlicht. Diese Merkmale machen Ikebana zu einem wertvollen Ansatz in der Trauerbegleitung.

Was ist Ikebana?

Was genau ist gegenüber anderen kunsttherapeutischen Ansätzen neu?

Wortwörtlich aus dem Japanischen übersetzt bedeutet Ikebana »lebendig gesteckte Blume«. Ikebana beschreibt den Blumenweg (japanisch: KADO), der zur eigenen Mitte, zu Harmonie und Wahrheit führt, vergleichbar mit anderen Zen-Wegen. Über Jahrhunderte hat Ikebana sich aus buddhistischen Opferriten entwickelt und stellt eine lebendige und sich wandelnde Kunstform dar. Sie bewirkt eine Auseinandersetzung des Menschen mit Kunst und Natur und letztlich mit sich selbst. Sie ist gleichzeitig Ausdruck von Freude am eigenen schöpferischen Tun. Beim Blumenstellen entsteht immer ein Dialog mit der Blume oder dem Zweig oder den anderen verwendeten Materialien. Der Mensch, der die Blume stellt, spricht so gewissermaßen »durch die Blume«, je nachdem, wie er sie arrangiert und welchen Eindruck er damit bei sich oder dem Betrachter/der Betrachterin vermittelt. Weil diese lebenden Blumenanordnungen nur einige Tage frisch bleiben, sind die Vergänglichkeit und die Wertschätzung des Augenblicks dem Ikebana immanent. Das achtsame Umgehen mit der Natur

Der Einsatz von kunsttherapeutischen Ansätzen in der Palliativversorgung ist noch relativ neu. Dennoch können sie aufgrund meiner Erfahrung und der ähnlichen Zielsetzung auch Anwendung in der Trauerbegleitung finden. Dieser der Kunstform Ikebana nachempfundene Ansatz erweitert die Palette der bisher bekannten kunsttherapeutischen Ansätze wie etwa das Malen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie durch kreatives Arbeiten innere Prozesse auslösen können und diese jenseits des Bewusstseins und der Sprache sichtbar und erfahrbar machen. Grundsätzlich beinhalten diese kreativen Ansätze die für die Kunsttherapie typische erweiterte Qualität, wonach zur Beziehung »Patient – Therapeut« ein weiteres Element hinzutritt: das künstlerische Medium, das erschaffene Werk. Daraus ergibt sich zwischen den Beziehungspunkten »Klient – Therapeut – Medium (Werk)« ein Beziehungsdreieck, das als kunsttherapeutische Triade bezeichnet wird. So kann sich ein neuer Raum öffnen, der über die begriffliche Definition des Werkes hinausgeht. In der Beziehung zwi-

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schen Klient und Therapeut kann es das »blitzhafte, einmalige, unvorhergesehene und unvorhersehbare Ereignis mit dem Charakter des Widerfahrnisses« entstehen, das Peter Petersen (2011) als »Kairos« oder »Kairos-Moment« bezeichnet. Dieser dem Ikebana nachempfundene Ansatz erweitert die kunsttherapeutische Triade »Klient –

Therapeut – Medium (Werk)« um ein weiteres wichtiges Element: die lebendige Natur, die ihrerseits eigene Impulse geben kann. Es entsteht somit eine Vierecks-Beziehung: »Trauender – Natur – Begleiter – Medium (Arrangement)« (siehe Abbildung). So bieten sich wesentlich mehr Anknüpfungsebenen und Möglichkeiten der Reflexion und des Dialogs.2

Dialogfeld mit dem Eigenen

Dialog mit Materialien

Schaffungsprozess

Betrachtungsprozess

Wie kann dieser neue Ansatz in der Trauerbegleitung wirken? Grundsätzlich können durch das Erschaffen eines Arrangements innere Prozesse, Gefühle und Gedanken beim Trauernden auf verschiedenen Ebenen und verschiedene Weisen ausgelöst werden: • auf der Ebene des Gestaltens durch das eige­ ne, schöpferische Tun • auf der Ebene des fertigen Arrangements durch dessen sich verändernden Ausdruck (zum Beispiel Lebendigkeit beziehungsweise Mehrdimensionalität) • auf der Ebene des stillen Dialogs mit sich oder im verbalen Dialog mit der Begleiterin

Gleichzeitig bietet das Blumenarrangieren die Möglichkeit, sich bewusst oder unbewusst in einer anderen Sprache auszudrücken. Gerade Trauernde empfinden sich kurz nach dem Verlust oft als sprachleer. Es fehlen ihnen regelrecht die Worte. Oder sie fühlen sich von ihrer Umwelt unverstanden, gerade dann, wenn der Trauerfall schon längere Zeit zurückliegt und ihre Trauer unvermindert anhält. Indem die Trauernde sich darauf einlässt, ein Arrangement erschaffen zu wollen, wenden sich ihre Gedanken einer klar umrissenen, konkreten Aufgabe zu. Die Anleitungen der Begleiterin geben ihr einen Rahmen, eine Struktur oder ein Geländer, was ihr hilft, sich selbst besser auf diese Aufgabe fokussieren zu können. So kann sie

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Freude an vielfältigen Möglichkeiten einerseits und der Überforderung aufgrund der Qual der Wahl und der aktuellen Trauersituation andererseits. Die Begleitung sollte einschätzen können, in welcher Situation sich das Gegenüber aktuell befindet. Entsprechend kann sie abschätzen, wie viel Struktur und Anleitung sie vorgeben kann und wie viel Freiraum möglich ist.

Brunhilde Vest

sich für diese Zeitspanne aus den immer wiederkehrenden Gedanken der Trauer, der Wut oder der Schuld herauslösen. Das geistige Chaos kann für diese Zeit zur Ruhe und vielleicht auch zur Klarheit kommen, und die Trauernde wird diesen Prozess als erholsam empfinden. »Für mich war es ein Eintauchen in eine eigene Welt; eine schöne Dynamik des Probierens und Gestaltens, des Versuchens und Veränderns hatte mich erfasst« (Dorothee S.-K.). Wieder etwas selbst zu erschaffen und sich als Handelnde im Chaos zu erfahren, ist oft überraschend und beglückend. »Und schließlich: Freude! Werkstolz! Für mich unerwartet. Es war etwas entstanden, das ich so nicht hatte kommen sehen; der Aspekt des Überraschenden, Unerwarteten war ganz deutlich da« (Dorothee S.-K.). Beim Arrangieren und nach Fertigstellung entsteht immer auch ein Dialog zwischen Jutta E. D. dem Menschen, dem Material und dem Arrangement. Man kann verkürzt sagen, zwischen Mensch und Natur. Dieser Dialog mit den natürlichen Materialien erschließt gleichzeitig die Kraftquelle Natur, ohne sich in die Natur hinaus begeben zu müssen. Das ist wichtig, wenn die Trauernde gebrechlich ist und sich nur noch in ihren eigenen vier Wänden aufhalten will. Falls es möglich ist, kann die Trauernde das Gefäß und das Material, das sie vielleicht selbst in der Natur gesucht hat, mitbringen, je nach Befindlichkeit. Man sollte aber immer auch andere Gefäße und Materialen anbieten. So kann die Trauernde sich spontan anders entscheiden und erhält gegebenenfalls durch das Material Anregungen, die nicht unbedingt in ihr gewohntes Denk-, Erfahrungs- und Gefühlsmuster passen. Es gilt aber, die Waage zu halten zwischen der

Für Trauernde kann dieser Austausch mit der Natur sehr tröstlich sein, da sie oft an eigene Erlebnisse oder an Situationen mit dem Verstorbenen in und mit der Natur erinnert werden. »Als ich das Material für das Gesteck aussuchte und die Kirschblütenzweige sah, hatte ich den blühenden Kirschbaum vor dem Fenster meines Vaters vor mir, der dahinter im Sterben lag. Das Material sollte ihm entsprechen: klar und einfach. Erdverbunden. Lebensliebend. Während des Gestaltens ließ ich meine ER-innerungen aufsteigen und das Gesteck formen« (Jutta E. D. ). Die Vergänglichkeit des natürlichen Materials ist prädestiniert dafür, sich mit der Vergänglichkeit des Verstorbenen und mit der eigenen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung ist

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im Trauerprozess besonders wichtig. So können fruchtbare Wechselwirkungen entstehen. Diese unterstützen die Trauernde dabei, sich selbst bewusster zu erfahren und sich klarer über sich selbst und ihre Situation zu werden – Voraussetzungen, um den nächsten Schritt auf ein neues Leben hin machen zu können. Außerdem nimmt die Trauernde die Gegenwart des Verlorenen (wieder) besser wahr. Sie überwindet das Verharren in der Vergangenheit mit dem Verstorbenen und das Verharren in der Zukunft des Niewieder-mit-ihm. Silvia K.: »Sehr klar suchte ich

meine Materialien zusammen, wobei das Holz das Erste war, und weiß noch, dass ich dachte: Das hätte Frank auch in die Hand genommen und gedreht und gewendet und die Brille vorher auf die Stirne geschoben. Das Grün war dann mein Gruß an meinen Holzwurm von meiner Welt in seine.« Die natürliche Veränderung kann auch Impulse zum Perspektivwechsel geben: Eine Knospe, die erblüht, oder ein Blatt, das verwelkt, können neue Akzente im Dialog mit der Trauernden setzen.

Silvia K.

Brunhilde Vest

Ich habe zum Beispiel nach dem Tod meiner Mutter ein Arrangement gemacht, in dem ich dem Gefühl, den Tod meiner Mutter nicht wirklich begreifen zu können, Ausdruck verliehen habe. Meine Mutter (weiße Rose im Hintergrund) war durch einen gebogenen Ast für mich (orange Blume im Vordergrund) schwer zu sehen. Am nächsten Tag machte mich jemand darauf aufmerksam, wie schön die orange Blüte unter dem Ast aufgegangen war, der mir tags zuvor die Sicht verstellt hatte. Das Arrangement schien mir sagen zu wollen, dass meine Mutter auch nach ihrem Tod eine schützende Hand über mich hält und ich in ihrem Schutz erblühend weiterleben kann. So änderte sich meine Perspektive, und ich war getröstet.

Das geistige Chaos kann für diese Zeit zur Ruhe und vielleicht auch zur Klarheit kommen, und die Trauernde wird diesen Prozess als erholsam empfinden.

Ein Arrangement ist dreidimensional und asymmetrisch. Es beschreibt beziehungsweise umschreibt einen Raum, der sich je nach Blickrichtung und Blickwinkel verändert. Durch Drehen des Arrangements können so verschiedene Eindrücke und damit unterschiedliche Gefühle oder Erinnerungen geweckt werden. Gerade in der Trauerbegleitung geht es häufig darum, dass der trauernde Mensch sich einmal aus seiner festgezurrten Sicht lösen kann und eine neue (Zukunfts-)Perspektive für sich entdeckt. Perspektivwechsel können sich auch dadurch ergeben, dass zwei Arrangements für unterschiedliche Situatio-

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» D u r c h d i e B l u m e n s p r e c h e n «    4 5

nen oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten vergleichend gestellt werden. Dieser Raum sowie das mögliche Geschenk eines Kairos-Moments können sehr erhellend, anregend und tröstlich sein. Sie eröffnen neue Möglichkeiten des Dialogs, des Verstehens der eigenen Situation und des gemeinsamen Erfahrens zwischen Trauernder und Begleiterin. »Und dann gab es noch die kleinen Steinchen, bei denen mir meine Kinder in den Sinn kamen, auch das Kind, das nicht leben konnte. Das kleine Steinchen gabst du mir mit! Ich habe es noch« (Silvia K.). Das sind einige Wirkungen und praktische Anknüpfungspunkte, die in der Trauerbegleitung genutzt werden können und die ich in meiner Abschlussarbeit, einschließlich konkreter Beschreibungen für Einzel- und Gruppensettings, umfassend beschrieben habe. Auf Nachfrage teile ich diese gern.

Trotz des großen Potenzials dieses neuen Ansatzes kann er nicht immer und überall eingesetzt werden, weil er vieler Vorbereitung bedarf und insofern geplant werden muss. Die Anforderungen an den Begleiter sind breit, da er über fundierte Ikebana-Fertigkeiten, umfassende Erfahrungen in der Trauerbegleitung sowie über Grundkenntnisse in der Kunsttherapie verfügen sollte. Bei der Trauernden ist darauf zu achten, dass sie psychisch und physisch in der Lage ist, die notwendigen Arbeitsschritte ohne zu viel Anstrengung oder Frusterlebnisse handwerklich auszuüben. Ohne die Bereitschaft, sich auf dieses Experiment einzulassen, ergibt dieser Ansatz keinen Sinn. »Die Möglichkeit, über Ikebana an seinen Traueranteilen zu arbeiten, ist eine wunderbare! Und ich kann nur vielen Trauernden diese Möglichkeit wünschen. Es entsteht etwas an einer Stelle, an der man nichts vermutete, und das berührt sehr!« (Silvia K.).

Konkrete Einsatzmöglichkeiten und ihre Grenzen

Brunhilde Vest, Studium der Betriebswirtschaft, arbeitet im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Seit 2008 befinde ich mich auf meinem eigenen Blumenweg. Ich arbeite nebenberuflich und ehrenamtlich als Hospizhelferin, Trauerbegleiterin, Referentin und biete Workshops mit dem hier beschriebenen Ansatz an.

Dieser Ansatz kann in der Begleitung von Menschen eingesetzt werden, deren Lebensende sich abzeichnet, bei deren Angehörigen, bei Trauernden, aber auch bei Menschen, die beruflich oder ehrenamtlich in der Pflege, im Hospiz oder in der Betreuung aktiv sind. Je nachdem wen man begleitet, in welcher Verfassung und in welchem Stadium der Auseinandersetzung mit dem Verlust (Müller, Brathuhn und Schnegg 2013, S. 25– 41; Paul 2017) sich diejenige befindet, welche Wünsche sie äußert und wie vertraut man sich ist, stehen unterschiedliche Ziele, Wirkungen und Vorgehensweisen dieser Methode der Trauerbegleitung im Vordergrund: Schutzraum bieten, Kraftquelle erschließen, Stabilisierung ermöglichen, Autonomie gewinnen, Dialogmöglichkeiten eröffnen, Selbstreflexion und Perspektivwechsel anregen sowie Verbundenheit halten. Bei beruflich oder ehrenamtlich tätigen Menschen kann dieser Ansatz als Kraftquelle, zur Selbstreflexion und Perspektivwechsel genutzt werden.

E-Mail: [email protected] Literatur Müller, M.; Brathuhn, S.; Schnegg, M. (2013). Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care. Göttingen. Paul, C. (2017). Wir leben mit deiner Trauer. Für Angehörige und Freunde. Gütersloh. Petersen, P. (2011). Kairos – ein Phänomen der Begegnung in der Therapie. In: Sinapius, P.; Niemann, A. (Hrsg.), Das Dritte in Kunst und Therapie. Frankfurt a. M. u. a. Anmerkungen 1 Drei Teilnehmerinnen meiner Workshops haben mir ihre Erfahrungen schriftlich zur Verfügung gestellt. 2 Die Ebenen werden in meiner unveröffentlichten Abschlussarbeit zur Trauerbegleiter-Ausbildung »Trauerbegleitung in der Inspiration des Blumenweges«, Januar 2018, und im Artikel »Die heilende Kraft des Ikebana«, in: IBV-INFO, Jahrgang 38, Nr. IV, November 2018, S. 17–19, hrsg. vom IKEBANA BUNDESVERBAND e. V., ausführlicher beschrieben.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Lass deinen Clown für dich und andere spielen! Clownesker Zugang in beraterischen Prozessen

Annette Kowa There is a crack in everything, That’s how the light gets in. Leonard Cohen

Der Clown ist eine transkulturelle Figur. Seit Jahrhunderten spiegelt er den Kampf mit dem Alltäglichen. In vielen Kulturen gab und gibt es bis heute Figuren mit dem Auftrag, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu spiegeln und zu konterkarieren. Viele Kulturen bringen Figuren des Clowns hervor, die heilende und beratende Funktion haben. Sie werden wie Heiler und Schamanen aufgesucht, um aus dem Alltäglichen auszutreten und einen neuen Blick auf die Wirklichkeit zu konstruieren. Sie haben und hatten in der Gesellschaft eine ganz besondere Stellung. Heldenhaft rebellieren sie gegen Kälte und Phantasielosigkeit.

»Verliert eine Kultur ihre Spielfähigkeit, kehrt Gewalt ein. Der Clown ist ein großer ­Kulturund Zivilisationskritiker, der sich auflehnt gegen jegliche simple Nützlichkeit als Reali­ tätsprinzip, der fast zärtlich plädiert für die Hingabe an das nur vermeintlich Zweck­lose, Verspielte, statt einer technischen Zielstrebig­ keit, die den Menschen schlicht verkümmern lässt, das Wort zu reden.« Barloewen 2010, S. 12

Ein Clown will nicht nur lustig sein. Er will berühren, sich mit dem Betrachter, der Betrachterin verbinden und Räume des Erkennens und Erkanntwerdens schaffen. Er will eine Komplizenschaft im Menschsein entfachen, durch die wir Makel, Leid, Unzulänglichkeit, Unvermögen und Mangelhaftigkeit hingebungsvoll kreativ erleben, weil wir eben alle nur Menschen sind. In der Begleitung von Menschen kann die Beraterin und der Berater wie auch die Kientin und der Klient von der Figur und der Methodik des Clowns viel lernen. In meinem kurzen Ausflug in die Welt der Clowns lasse ich mich von folgenden Fragen leiten: Was ist die Haltung des Clowns? Welche Interventionen bietet er an? Wie können wir ihn für Beratung und Therapie nutzen? Wo arbeitet der Clown? Warum ist die Beschäftigung mit der eigenen Clownsfigur hilfreich? Ich bin der Überzeugung, dass mehr Clowns im Gesundheitswesen für mehr menschlichen Kontakt und Wohlbefinden sorgen.

    

L a s s d e i n e n C l o w n f ü r d i c h u n d a n d e r e s p i e l e n !    4 7

Die Haltung des Clowns ist im Wesentlichen die eines systemischen Beratenden: authentisch, neugierig und wertschätzend. Der Clown verbindet systemische Grundhaltungen des Nichtwissens und der Neugier mit der Intelligenz des Körpers. Der Clown ist in Vorfreude und nähert er sich seinem Gegenüber auf der Ebene der Emotion. Achtsam in der Gegenwart genießt er die Aufregung und Atmosphäre im Raum. Momente der Leere und des Nichtwissens sind der Ursprung eines neuen Impulses. Er ist immer Optimist und bejaht sich und die Welt. Ich bin gut so, wie ich bin. Ich möchte meine Bedürfnisse jetzt in diesem Moment spüren, wertschätzen und mit anderen teilen.

In einem schöpferischen Prozess findet er Lösungen, die ihn meistens mit dem Problem mehr verstricken, aber am Ende doch zu einem neuen Ausweg führen, mit dem keiner und am wenigsten der Clown selbst gerechnet hat. In diesem Prozess liegt die eigentliche Kraft des Erweiterns des Möglichkeitsraums für den Betrachtenden. Der Betrachtende kann sich mit einem Möglichkeitsraum verbinden, der die Grenzen der Realität nicht anerkennt. Der Clown führt in andere Ebenen, die sich mit der Möglichkeit des Scheiterns verbinden. Der Clown hält keine Emotion zurück, sondern teilt sie. Trauer, Wut, Freude oder Angst werden zu hundert Prozent geteilt und erlebbar gemacht. Die humoreske Übertreibung bietet dabei einen Schutz.

Die Aktion des Clowns – Die Intervention des Clowns

Wie können wir den Clown für Beratung und Therapie nutzen?

Die Haltung des Clowns

»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur ganz Mensch, wo er spielt.«

In beraterisch-therapeutischen Prozessen können wir Übungen des Clownings anbieten, die von großem Nutzen für den Klienten sind.

Friedrich Schiller, 1795

Das Besondere am Menschen ist seine Fähigkeit zum versunkenen Spiel. Im Spiel machen wir uns die Welt zu eigen. Der Clown ist »die Unmöglichkeit eines neugeborenen Erwachsenen« (André Heller in: Barlowen 2010). Er schöpft sein Tun aus seiner Intuition und aus einer unschuldigen Verbindung mit seinem spielfreudigen erwachsenen Kind. Er verbindet sich mit liebgewonnenen Dingen, die plötzlich zum Leben erweckt werden. Eine Klarsichthülle wird zum sprechenden Waschlappen, ein kleines Stück Wolle verwandelt sich in Bello. In seiner Welt ist nichts, wie es scheint, und alles scheint möglich. Er schafft einen Kontakt des Herzens. Sein Körper ist seine Sprache auf der Ebene der Emotion. Er macht die Räume groß, weil er keinen Deutungsmustern folgt. Er lebt im Hier und Jetzt, weder in Erwartungen in die Zukunft noch im Labyrinth der Vergangenheit.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

1 Beispiel 1: Jetzt in diesem Moment Das Ziel dieser Übung ist das Fokussieren auf das Sein im Moment mit der Integration der Körperempfindung. Ich bitte mein Gegenüber, sich auf ein Experiment einzulassen und folgenden Dreischritt zu wagen: Beende bitte folgende Sätze: Ș Jetzt in diesem Moment sehe ich … Ș Jetzt in diesem Moment nehme ich in meinem Körper wahr … Ș Jetzt in diesem Moment habe ich die Fantasie … Wir gehen dabei gemeinsam durch den Raum oder machen einen kleinen Spaziergang. Diese Technik trennt die Aktion von der Reaktion und schließlich von der Bewertung. Durch diese Verzögerung können wir herausfinden, was wirklich das Gefühl bei einer Aktion ist, und uns spielerisch an die echte Reaktion wagen. Sie ist im clownesken Spiel nicht den gesellschaftlichen Regeln unterworfen. Das Potenzial dieser feinen Übungen liegt darin, sich zu zeigen, ohne sozialisatorische Zwänge vergrabenen Bedürfnissen Raum zu verschaffen.

2 Beispiel 2: Das Nichtstun Diese Übung ist für Fortgeschrittene und bedarf einer vertrauensvollen reifen Gruppe. Für therapeutische Zwecke kann sie enorm wirkungsvoll sein. Ein Clown kommt auf die Bühne mit dem Auftrag, nichts zu tun. Er zeigt sich schutzlos ohne Ablenkung. Man möchte meinen, dies sei vielleicht langweilig für den Betrachter, aber erstaunlicherweise beginnt, wenn die Gruppe trägt, ein intensives Wechselverhältnis von Berühren und Sich-berühren-Lassen. In den Worten von Hartmut Rosa treten wir in ein Resonanzverhältnis. Der Clown beginnt mit dem Publikum zu schwingen. Häufig stellt sich in einigen Minuten eine liebevolle Entspannung ein, die aus der eingegangenen Verbindung entsteht. Sehr häufig fließen Tränen der Erleichterung. Für einen anderen kommen Erinnerungen zu Tage, die mit der Gruppe geteilt werden können. Diese Übung birgt die Chance einer Transformation des Selbst- und Weltverhältnisses sowohl für den Clown als auch das Publikum.

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3 Beispiel 3: Arbeiten mit Beschämung – sich neu sehen durch ein Anders-angesehen-Werden Stefan Marks hat in seinen Forschungen über die menschliche Scham ausformuliert, wie wichtig es für therapeutische Prozesse ist, diesem Gefühl Bedeutung zu geben (Marks 2007). Ein schamgebundener Mensch agiert mit Rückzug, weil er erwartet, dass ein neues Betrachtetwerden zu einer neuen unangenehmen Erfahrung der Scham führt. Daher versuchen wir dem Angesehenwerden auszuweichen. Sind die Schamerfahrungen intensiv und/oder häufig, fühlen wir uns unfrei. In einem geschützten Rahmen einer lernenden Clownsgruppe kann die Arbeit am inneren Clown es erlauben, sich neu an-sehen zu lassen und entgegen den Erwartungen einer neuen Beschämung reales Ansehen im Spiel seines Clown zu erfahren. Das Wechselspiel mit dem Publikum spielt hier die entscheidende Rolle. In diesem vertrauensvollen und geschützten Rahmen konnte ich schon häufig daran teilhaben, wie ein neues Angesehenwerden durch die anderen Teilnehmenden bei dem spielenden Clown zu 4 Beispiel 4: Die Arbeit mit dem Inneren Team In der Arbeit mit dem Inneren Team tauchen häufig Mitglieder auf, die närrische, anarchistische oder revolutionäre Anteile zeigen. Diese werden auch als innerer Clown benannt. Es lohnt sich, diesen Anteilen Raum zur Entfaltung zu schenken, da sie sich mit einem weiteren Konzept, dem des Inneren Kindes, wunderbar verbinden lassen und von großem therapeutischen Wert sein können.

einer Aufdeckung der alten Scham führt, die er auf der Bühne teilen kann. Er befreit sich somit im Spiel davon und entdeckt Neues. Diese Momente sind besonders berührend, sowohl für den Clown als auch für das Publikum. Wir lieben den Clown, wenn er den Mut hat, sich mit uns zu verbinden und sich zu zeigen. »Er ist das Sinnbild des un-verschämten Kindes, das seine aggressive Lebensenergie konstruktiv im Sinne einer lustvoll-lustigen Selbstbehauptung nutzen kann« (Titze 2012, S. 210). Diese Verbindung mit dem Publikum vereint die Schamerfahrung des Clowns mit den Schamerfahrungen jedes Einzelnen, denn jeder konstruiert den Moment aus seiner eigenen Erfahrung. In diesen besonderen Momenten entsteht ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit des Einzelnen zu der Gruppe durch das Teilen der Erfahrungen. Darüber hinaus gibt es bestehende Beratungskonzepte, die sich mit der Idee des Clowns besonders gut verbinden: 5 Beispiel 5: Die Arbeit mit dem Inneren Kind Aus der therapeutischen Arbeit kennen wir das Konzept des Inneren Kindes. Wenn wir an unserer eigenen Clownin arbeiten, beginnen wir mit Hilfe von Impulsarbeit, Körperübungen und Improvisation, Kontakt zu unserem Inneren Kind aufzunehmen. Alte Verletzungen, Beschämungen oder Leitsätze unserer Erziehung tauchen auf. Die Genese einer Clownin könnte als umgekehrte Sozialisation beschrieben werden. Wir gehen bis zu dem Punkt zurück, an dem wir ein »unverschämtes« kreatives Kind vorfinden. Dieser Weg bedeutet, dass wir permanent an unseren Grenzen arbeiten. Diese Arbeit ist tränenreich, anstrengend, befreiend und wohltuend. Sie gelingt aber nur durch behutsame Anleitung und eine vertrauensvolle Gruppe mit Mut zum hilfreichen Feedback.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

5 0   A n n e t t e K o w a

Wo arbeitet der Clown?

Vision

Ob auf der Kinderstation, im Altenheim oder im Hospiz, immer mehr Clowns bieten sich hier als Begegnung an. Sie begleiten, führen die Realität in die Irre und schaffen andere Wirklichkeitsräume. Viel Menschen erfahren eine Entlastung durch eine kleine Auszeit von ihrem persönlichen Erleben. Manche erfahren durch die Begegnung mit dem Clown einen Kontakt, der das heilende Gefühl des Nicht-Alleinseins nährt. Im Gegensatz zum Kranken oder betroffenen Angehörigen leidet der Clown nicht, sondern drückt sich entsprechend dem Moment aus. Auch Menschen im letzten Abschnitt ihres Lebens haben das Recht, fröhlich und ausgelassen zu sein. In der Begegnung mit Menschen mit Demenz können Clowns mit allen Sinnen kommunizieren. Sie sind einfach da und erkennen die Wirklichkeit des Gegenübers an. Sie gestalten ihre Begegnung im Wechselspiel gemeinsam, ohne sich von der Realität beeindrucken zu lassen. Es entsteht eine Verbindung durch die schöpferischen Möglichkeiten der Kommunizierenden, getragen durch den emotionalen Moment.

Ich würde mich freuen, wenn die Arbeit mit dem Clown in vielen neuen Ausprägungen Verwendung findet. Die Methode des Arbeitens mit dem Clown hat sich schon einige Felder in der psychosozialen Beratung und Therapie erschlossen. Ich freue mich darauf, wenn immer mehr Clowns das Gesundheitswesen bereichern.

Warum ist die Beschäftigung mit der eigenen Clownsfigur hilfreich? Ich habe die Auseinandersetzung mit meiner eigenen Clownin als enorm hilfreichen Zugang zu meinen eigenen Themen erlebt. Durch den Kontakt insbesondere mit dem Thema Scham und Leitsätze, die aus der Kindheit stammen, habe ich ein neues Gefühl des In-der-Welt-Seins gewonnen, wofür ich sehr dankbar bin. Heute wird meine Arbeit auch von meiner Clownin inspiriert. Ich denke, für viele Menschen kann die Arbeit an seinem eigenen Clown neue Perspektiven eröffnen und der Gefahr eines Ausbrennens entgegenwirken.

»Durch den Humor sehen wir im scheinbar Rationalen das Irrationale, im scheinbar Bedeutenden das Unbedeutende. Es stärkt unsere Fähigkeit zu überleben und bewahrt uns die klare Vernunft. Der Humor sorgt dafür, dass die Bösartigkeit des Lebens uns nicht ganz und gar überwältigt. Er regt unseren Sinn für Proportionen an und lehrt uns, dass in der Überbetonung des Ernstes das Absurde lauert.« Charlie Chaplin in: Fey 2013

Humor ist für mich eine besondere Art des Re­ framings, von dem wir angesichts der drängenden Probleme der Moderne mehr brauchen, wenn wir die Wirklichkeit nachhaltig liebevoll gestalten wollen. Annette Kowa ist Erziehungswissenschaftlerin und Ethnologin, systemische Supervisorin und Coach und als Clownin tätig. E-Mail: [email protected] Website: www.kowa-kuehne.de Literatur Barloewen, C. von (2010). Clowns: Versuch über das Stolpern. Drei Vorbemerkungen von André Heller. München. Fey, U. (2013). Clowns für Menschen mit Demenz. Das Potenzial einer komischen Kunst. Frankfurt a. M. Hoffamp, L. (2016). Der Clown. Das innere Kind im Spielraum des Lachens. Tuttlingen. Marks, S. (2007). Scham – eine tabuisierte Emotion. Düssel­ dorf. Schiller, F. (1795). Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. Titze, M. (2012). Die heilende Kraft des Lachens. München.

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Geliebt und geschmäht: Körperarbeit als Methode Felix Grützner Mit und durch den Körper zu lernen, bietet großartige Chancen. Doch bedarf es einiger wichtiger Vorkenntnisse und Vorbereitungen, um diese Methode wirkungsvoll einsetzen zu können. Signalwörter »Socken« und »Tanzen« Der neue Referent saß am Vorabend unerkannt im Speisesaal des Tagungshauses. Hinter sich hörte er Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer, die er am folgenden Tag unter der Überschrift »Nonver­ bale Kommunikation« unterrichten sollte. Plötzlich änderte sich die Stimmung am Nachbartisch. Mit sorgenvollem Ton sagte jemand: »Morgen kommt dieser neue Referent, und wir sollen Socken anzie­ hen. Der ist Tänzer. Nicht dass wir unseren Namen tanzen müssen!« Wir ahnen, dass dieser Referent keine gute Nacht hatte, und können sicher sein, dass im Vorfeld kommunikativ einiges schiefgelaufen war. Schlüsselworte wie »Socken« und »Tanzen« hatten offensichtlich dazu beigetragen, weniger Vorfreude als Abwehr und Angst auszulösen. Wie bei allen Lernmethoden prägen sich erste Erlebnisse fest ein. Wer einmal ohne gute Vorbereitung und ohne vertrauensvolle Atmosphäre zu Bewegungsübungen, vielleicht sogar zu einem meditativen Kreistanz, freundlich, aber bestimmt genötigt wurde, der hat ein »Trauma« erworben und wird sich künftig mit plötzlich auftretender Migräne oder akuten Rückenschmerzen jeder Bewegungseinheit entziehen wollen. So geschieht es, dass Kursleitungen einen Referenten einladen, damit dieser mit Körper und Bewegung arbeitet, sie aber gleichzeitig starke Zweifel äußern: »Wir wissen nicht so recht. Beim letzten

Mal ging das mit dem Körper so in die Hose …« Ein anderer Referent hatte an einem Nachmittag kurz vor Tagesschluss die Gruppe mit einer Körpererfahrung in tiefe Betroffenheit geführt, sie darin belassen und in den Abend geschickt – dramaturgisch ein GAU. Der neue Referent erklärte den Kursleiterinnen: »Gerade jetzt sollten Sie versuchen, allen ein neues und positives Erlebnis mit Bewegung und Körpererfahrung zu ermöglichen!« Diplomatie der niedrigen Schwelle Die Ankündigung von Bewegungseinheiten bedarf einer sorgsam gewählten Sprache. Der Hinweis auf »bequeme Kleidung«, verbunden mit der Versicherung, dass keinerlei Vorkenntnisse benötigt werden, bereitet sanft auf das vermeintlich Ungeliebte oder Gefürchtete vor. Was aber hemmt die Lust, den eigenen Körper als Lerninstrument zu nutzen? Es ist die Aussicht darauf, sich und seinen Körper in einer Gruppe zeigen zu müssen. Körperliche Bewegung kann darüber hinaus intensive innere Bewegung und starke Gefühle auslösen. Ähnlich wie in anderen kreativen Ausdrucksformen erleben Menschen Leistungs- und Erwartungsdruck sowie die Angst, es mit der Bewegung nicht richtig zu tun oder nicht gut genug. Diese Sorge äußert sich dann gelegentlich darin, dass die Methode insgesamt in Frage gestellt wird: »Was soll dabei rauskommen? Das bringt doch nichts!« Hilfreich ist es, eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen, in der das Ausprobieren schadlos möglich wird. Dazu bedarf es Zeit, eines großzügigen Raums und einer Leitung, die unbefangen und Sicherheit vermittelnd agiert.

Der oben beschriebene Referent erklärt heute zu Beginn einer jeden ­Bewegungseinheit so oder so ähnlich:

»Gern möchte ich etwas mit Ihnen ausprobieren! Ich weiß nicht, ob es allen gefallen wird. Wir werden uns bewegen. Vielleicht wird es manchem auch seltsam vorkommen. Vielleicht mögen Sie es trotzdem versuchen?!« Enorm wichtig ist die Erlaubnis zum Abbruch: »Sollte es Ihnen an irgendeinem Punkt unwohl werden, so dürfen Sie jederzeit abbrechen!« Um dann zu beruhigen: »Das muss gar nicht geschehen. Es kann sein, dass sich starke Gefühle zeigen. Sollte das geschehen, so ist das ganz normal!« Und die mit humorvoller Stimme gewährte Zusicherung: »Ich traue Ihnen zu, dass Sie das unbeschadet überleben!« Der niedrigschwellige Einstieg in die Bewegung selbst geschieht am besten durch einfache Körper- und Fitnessübungen zur Muskellockerung im Rahmen der Selbstsorge. Das ist unverfänglich und ist nützlich für den Alltag.

Worte schaffen Fakten: Unwort Körperarbeit In Lern- und Weiterbildungskontexten hat sich der Begriff der Körperarbeit etabliert. Befürchtungen und Schmähungen der Methode werden hiermit zementiert. In einem Fachmagazin wie dem »Leidfaden« versteht es sich von selbst, den Begriff »Arbeit« kritisch zu sehen, besonders in einem Feld, wo fälschlicherweise lange Zeit »Trauerarbeit geleistet« werden sollte. Der Begriff der Arbeit ist mit Pflicht, Anspruch, Erwartung, Leistung und Bewertung verbunden. Wer ihre oder seine Arbeit nicht schafft, ist minderwertig oder wenigstens ungenügend. Auch die Verbindung von Körper und Arbeit setzt falsche Akzente und vergibt die Chancen der Methode: »Da muss ich was leisten und am Ende muss etwas rauskommen!« Sehr viel passender ist es, schlicht von »Bewegung« zu sprechen: »Wir werden uns bewegen!« oder »Wir werden nicht nur über das Thema sprechen, sondern dazu etwas ausprobieren und selbst erfahren – mit unserem Körper«. Chance Spiel Bewegungseinheiten und Körpererfahrungen vollziehen sich im günstigsten Fall in einer spielerischen Atmosphäre. Das heißt, dass die Leitung

einer Lerngruppe einen vertrauensvollen Rahmen schaffen muss, in dem niemand Hemmungen haben muss. Erfahrungen und Wahrnehmungen kann am leichtesten machen, wer sich frei fühlt und sich spielerisch in sie hineinbegeben kann. Erst im anschließenden Gespräch wird das Erlebte eingebettet in den Kontext des Lernens. Spielleiterin und Spielleiter müssen auch für das Befinden nach dem Spiel Sorge tragen, etwa indem Erlebtes gemeinsam reflektiert wird oder auch Einzelgespräche angeboten werden, wo die Körpererfahrung ungeahnte emotionale Bewegung ausgelöst hat. Der besondere Wert Übungen mit Körpererfahrungen bergen ein sehr hohes Erkenntnispotenzial. Da wir als Menschen Körperwesen sind, erleben wir uns selbst und unsere Mitwelt stets in und mit unserem Körper, so wie es der Embodiment-Ansatz in der Psychologie beschreibt: »Körperhaltungen, die wir einnehmen, haben einen Effekt auf unser inneres Sein, auf Denken und Fühlen« (Tschacher, Munt und Storch 2014, S. 58). Wer sich im Kontext einer Übung zunächst rein äußerlich in die Körperhaltung eines hilflosen Menschen begibt, mit gebeugtem Rücken, hängendem Kopf und schlurfendem Schritt, der wird sehr rasch Hilflosigkeit

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G e l i e b t u n d g e s c h m ä h t : K ö r p e r a r b e i t a l s M e t h o d e    5 3

erspüren können – oder seiner eigenen Hilflosigkeit begegnen: »Ich bin nicht nur stark. Ich bin auch schwach. Ich ahne jetzt, was es heißt, hilflos zu sein. Denn ich habe es gespürt!« Körperübungen stärken auch die Fähigkeit zu Gegenwärtigkeit und Präsenz: Indem ich für einen Augenblick meine Füße in den Schuhen spüre, komme ich zu mir selbst und damit hinein in die Situation, in der ich mich befinde, ich bin da und zugleich bei mir. Positive Effekte Der Einsatz des Körpers als Lernmittel und -ort kann beleben, anregen und auflockern, ein Effekt, der sowohl jede und jeden wie auch eine Gruppe als Ganzes erfassen kann. Führen alle gemeinsam Lockerungs- oder Atemübungen aus, so wird es möglich, einander neu und anders zu erleben. Der Einbezug des Körpers eröffnet auch das Feld der emotionalen Dimensionen eines Themas, da unser Körper nie emotionslos spricht. Bereichernd ist es schon, wenn nur ein Mensch – vielleicht die Leitung der Lerngruppe selbst – mittels eines Rollenspiels in die Verkörperung hineingeht. Da tritt dann ein Mensch leibhaftig auf in körperlicher Präsenz und trotz des Spielcharakters übertragen sich die dargestellten Emotionen auf die Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie werden hinterher etwas erlebt haben – ein signifikanter Unterschied dazu, etwas bloß gehört oder gelesen zu haben. Was es braucht Nur wer selbst Freude und Interesse daran hat, wird mit anderen Menschen gut in Körperübungen und -erfahrungen hineingehen können. Auch braucht es eigene und vielfältige Erfahrungen. Diese müssen sich nicht auf Übungen im Lernkontext beschränken, auch Sport, Yoga, Fortbildungen mit Bewegungsschwerpunkt und anderes können dazu verhelfen, selbst gut Übungseinheiten mit Körper und Bewegung anzuleiten. Die

oder der Anleitende muss mit Unbefangenheit in seiner Körperlichkeit präsent und so Beispiel für die Gruppe sein: »So einfach kann es sein! Trau dich ruhig!« Auch bedarf es der Hinführung zur Methode und der Erwärmung. Vom im Unterricht sonst üblichen Hören und Schauen muss der Fokus auf die ganzheitliche Wahrnehmung gelenkt werden wie zum Beispiel zum Erspüren des Bodenkontakts oder von Luftbewegung auf der Haut. Unbedingt sollten im Vorfeld die Gründe geklärt werden, die für den Einsatz dieser Methode sprechen. Sie muss mit den gewünschten Lern- und Erfahrungszielen in Beziehung stehen. Es wird nicht tragen, die Methode um ihrer selbst willen durchzuführen oder gar weil man gehört hat, wie sinnvoll sie sein soll. Es hilft, vorab mit Widerständen Einzelner zu rechnen und sich Strategien zu überlegen und Spielregeln aufzustellen wie zum Beispiel: »Wer nicht mittut, darf auch nicht zuschauen!«, damit die Gruppe unbefangen agieren kann. Hat die Gruppe keine Bedenken, können »Gäste« zugelassen sein. Ebenso hilfreich ist es, nicht allzu sehr am eigenen Plan festzuhalten. Diese Methode lebt vom Geschehenlassen. Der Ausgang ist meist unkalkulierbar, Flexibilität und Improvisationsgeschick der Spielleitung sind hier gefragt. Wahrung des Unaussprechlichen Da Körperübungen und Bewegung Menschen auf einer vorsprachlichen Ebene erreichen, gibt es häufig Wirkungen und Erfahrungen, die nicht oder nur schwer in Worte zu fassen sind. Darüber hinaus können Körperübungen sehr intime Fragen oder Problemstellungen ins Bewusstsein rücken, die nicht in der Gruppe geteilt werden wollen. Hier bedarf es der Sensibilität, einerseits die Privatsphäre der Teilnehmenden gut im Blick zu halten sowie andererseits den gemeinsamen Austausch zu ermöglichen, wo er gesucht wird. Wer es sich nicht zu leicht macht, der wird mit dem Einsatz von Bewegung und Körperübungen

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

Paul Klee, Der Künftige, 1933 / INTERFOTO /  fine art images

5 4   Fe l i x G r ü t z n e r

als Methode unterschiedlichste Lernwege sehr bereichern können. Diese Erkenntnis konnte auch der oben genannte Referent nach einer Zeit des Lernens gewinnen: »Das, was manche Körperarbeit nennen, ist ein großer Schatz im Koffer der Methoden.« Dr. phil. Felix Grützner arbeitet bei ­ LPHA – Ansprechstellen im Land NRW A zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung in Bonn. Er ist Tänzer, Choreograf und promovierter Kunsthistoriker. Als »Lebenstänzer« gestaltet er seit über dreißig Jahren Gottesdienste und Trauerfeiern tänzerisch mit. Er ist Kursleiter für Palliative Care, hat eine Fortbildung in Spiritual Care absolviert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Palliativmedizin der Universität Bonn in der studentischen Lehre. E-Mail: [email protected] Website: www.lebestaenzer.de

In seinem Buch »Trauer und Bewegung – Von der Kraft der Körperlichkeit« zeigt Felix Grützner, wie Bewegung in allen ihren Formen ein hilfreicher Begleiter durch Krisen und Leiderfahrungen wie durch Zeiten der Trauer sein kann. Darüber hinaus gilt sein Augenmerk den Menschen, die Trauernde begleiten, als Zugehörige oder als professionell Tätige. Literatur Richter, K. F. (2011). Erzählweisen des Körpers  – Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit. Göttingen. Tschacher, W.; Munt, M.; Storch, M. (2014). Die I­ntegration von Tanz, Bewegung und Psychotherapie durch den Embodimentansatz. In: körper – tanz – bewegung, 2. Jg., S. 54–63.

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Healing Touch Die heilsame Kraft der sanften Berührung

Beate Grabow und Ingelore Bonfert Healing Touch ist eine sanfte Biofeld-Energie­ arbeit, die die Gesundheit auf allen Ebenen unterstützt und fördert. Dabei können Har­ monie und Ausgeglichenheit im Energiefeld hergestellt und dadurch die Selbstheilungs­ kräfte des Klienten unterstützt werden. Haben Sie schon einmal erlebt, wie es sich anfühlt, wenn eine Person im Kontakt mit Ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit an die Stelle lenkt, wo sie sanft Ihren Körper berührt? Wie das einen Fluss von Licht und Liebe herstellt, der Sie tief entspannt, inneren Frieden bringt und das System sich an die inhärente Ordnung erinnern lässt? Wenn Sie sich das vorstellen können, bekommen Sie eine Ahnung davon, was Healing Touch (HT) bewirken kann. Janet Mentgen, eine ganzheitlich ausgerichtete Krankenschwester in den USA, suchte nach Möglichkeiten, im Rahmen ihrer Tätigkeit den Patienten und Patientinnen Erleichterung zu verschaffen, den Heilungsprozess zu unterstützen und zu beschleunigen. So stellte sie ein Programm zusammen aus alten, zum Teil östlichen Behandlungsmethoden und kombinierte diese mit modernen Varianten. Einige Methoden entwickelte sie selbst, andere stellten Alice Bailey, Brugh Joy, Daskalos, Reverend Dr. Scudder, Barbara Brennan und andere zur Verfügung. Dieses Programm wurde schon 1989 als Pilotprojekt an amerikanischen Universitäten begonnen und ist seit 1990 bei der AHNA1 in den USA Teil der Ausbildung in Pflegeberufen. In den USA arbeiten viele Krankenhäuser mit HT-Praktikern zusammen, die sich bei Eingriffen oder Erkrankungen um die Genesenden kümmern. So hat unter anderem die Herzchirurgin

Dr. Mimi Guameri im Sripps Center for Integrative Medicine, San Diego bei ihren Herz-OPs HTPraktiker/-innen dabei, um die Kranken energetisch bestmöglich zu unterstützen. Wie funktioniert HT? HT geht von der Annahme aus, dass der Mensch aus einem physischen und einem feinstofflichen Körper, dem Biofeld, besteht. Manche Menschen können diesen feinstofflichen Körper sehen. Barbara Brennan verdeutlicht und verbildlicht in ihren Veröffentlichungen diese Grundlage der Arbeit mit HT. In der Anwendung zielt HT, anders als Massage oder Physiotherapie, in erster Linie auf dieses Biofeld und die Chakren. HT beinhaltet eine Vielzahl spezifischer Methoden bei unterschiedlichen Indikationen, wodurch sich die Wirkung schnell und differenziert einstellt. Der Begriff »Chakra« stammt aus dem Sanskrit und wird mit Rad oder Wirbel umschrieben. Chakren sind Energiewirbel, über die Energie von außen in unsere feinstofflichen und physischen Körper eintreten und die diese versorgen können. Mit den Chakren stehen jeweils bestimmte Organe, aber auch emotionale Zustände und Lebensthemen im Zusammenhang. Die Erkenntnisse der Quantenphysik helfen uns zu verstehen, dass alle Lebewesen komplexe Energiefelder sind, die materielle und wellenförmige Eigenschaften haben. Dr. James Oschman ist ein amerikanischer Wissenschaftler, der in seinem Buch »Energiemedizin« (2006) Erklärungsmodelle für die Wirkungsweise energetischer Behandlungsmethoden aufstellte und sammelte. HT-Anwender/-innen arbeiten mit einem

5 6   B e a t e G r a b o w u n d I n g e l o r e B o n f e r t

seiner Erklärungsmodelle. Seine Definition und Hypothese lautet: »Heilende Energie – ob von einem medizini­ schen Gerät produziert oder vom menschli­ chen Körper ausgehend – ist Energie einer bestimmten Frequenz oder eines Frequenz­ spektrums, von der die Reparatur eines Ge­ webes (…) stimuliert wird.«

Healing Touch konkret

privat

HT ist eine anerkannte Methode mit Zertifizierung. Eine Behandlung unterliegt ganz bestimmten Regeln, die in Kursen unterrichtet werden. Dazu gehören: Anamnese, das energetische Erfassen des subtilen Biofeldes und der Chakren sowie deren Beschaffenheit mit Händen und Pendel, eine gemeinsame Zielsetzung (kurzfristig und langfristig), die spezifische energetische Behandlung, das energetische Nacherfassen und ein Abschlussgespräch.

Wichtig ist die Einstimmung der Behandelnden (Erden, Zentrieren, Intention Stellen) auf den Klienten, sodass dieser in seinem ganzen Sein angenommen wird. HT-Anwendende stellen keine Diagnosen und erheben keinen Heilungsanspruch. Sie sehen sich vielmehr als Unterstützende bei konventioneller medizinischer Versorgung und helfen ihren Klientinnen und Klienten bei der Wiederherstellung der Balance im Energiesystem zur Aktivierung und Stärkung der Selbstheilungskräfte.

Indikationen HT hat sich in den folgenden Bereichen besonders bewährt: • Aktivierung der Selbstheilungskräfte bei akuten und chronischen Leiden • Schmerzlinderung • Behandlung von Knochenbrüchen, Rückenund Nackenproblemen • Stressabbau, Burnout, Angst und Depression • Kraft- und Mutlosigkeit • Unterstützung im Trauerprozess • vor und nach Operationen • Stärkung der Abwehrkräfte • Beschleunigung der Genesung • Begleitung heilpraktischer und schulmedizinischer Therapien • Unterstützung in der Palliativmedizin Naturmedizinisch relevante Charakteristika von HT • Es ist nicht invasiv: HT kommt ohne Injektionen, Medikamente oder chirurgische Anwendungen aus. • Es ist wirksam: Untersuchungen haben gezeigt, dass HT die Entspannung fördert und den Heilungsprozess beschleunigt. • Es ist ungiftig: HT stellt die Harmonie und das Gleichgewicht in unserem natürlichen Energiesystem ohne Verwendung von Arzneimitteln mit deren Risiko von Nebenwirkungen wieder her. • Es ist sparsam: Für HT benötigt man keine Geräte oder andere Materialien. Ein offenes Herz, ein Paar Hände und ein bereitwilliger Geist sind alles, was man braucht. Und es kann in jeder Situation angewendet werden. • Es ist umweltfreundlich: HT verbraucht keine Ressourcen und verursacht keinen Abfall. Zudem kann durch die Behandlung der Gebrauch von Medikamenten reduziert werden. • Es ist eine stille Arbeit: Während der Behandlung müssen weder Therapeut/-in noch

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Klient/-in sprechen – beide können still die eigenen inneren Prozesse beobachten, die Energie auf sich wirken lassen und so die Selbstheilungskräfte unterstützen.

Fazit

Tiefe Entspannung, Linderung von physischen und emotionalen Schmerzen und Unwohlsein sowie ein Gefühl der allgemeinen Zentrierung sind das Ergebnis jeder Behandlung. Dazu kommt das Beispiele aus der Praxis besondere Erleben, für die Dauer der Behandlung Sterbe- und Trauerbegleitung: Frau B. (93 ­Jahre) die ungeteilte Aufmerksamkeit eines liebevoll zubefindet sich beim Eintreffen der Angehörigen gewandten Menschen zu haben. Im Sterbe- und offensichtlich bereits im Sterbeprozess. An- Trauerprozess kann Healing Touch wirksam sein, gesichts der Situation bricht die mit HT ver- um emotional und energetisch das Erlebte in Betraute Tochter in Tränen der Hilflosigkeit aus. wegung zu bringen und so schneller zu »verstoffDann besinnt sie sich darauf, dass sie für die- wechseln«. Auch ist es eine wunderbare Methode, sen tiefen Transformationsprozess die HT-­ sich selbst und anderen schnell und unkompliMethode »Chakrenausbreitung« anwenden ziert zu helfen. Unser Ziel ist es, Healing Touch könnte. Während sie das tut, breitet sich in bekannt zu machen und so vielen Menschen wie ihr und im Raum ein tiefer Frieden aus, und möglich diese Welt der allzeit verfügbaren Hilfe sie kann die Sterbende souverän bis zu ihrem und Selbsthilfe zu erschließen, die ihnen die Verletzten Atemzug und zur Aussegnung beglei- antwortung für ihre Gesundheit zurückgibt und ten. In der Folgezeit, so berichtet sie, habe sie sie auf ihrem Heilungsweg unterstützt. häufig eine Selbstbehandlung mit Chakrenverbindung gemacht und jedes Mal diesen tiefen Beate Grabow ist zertifizierte HT-PrakFrieden erlebt, was sie immer wieder an diesen tikerin und Lehrerin in Nürtingen. kostbaren, intimen Augenblick des Sterbens E-Mail: [email protected] Websites: www.beategrabow.de, ihrer Mutter erinnerte und wodurch sie leichwww.healingtouch-deutschland.de ter mit ihrer Trauer umgehen konnte. Frau F. (50 Jahre) hat ihren an ALS erkrankten Sohn (25 Jahre) verloren. Nach einer Behandlung (Chakrenverbindung und Chakrenausbreitung) fühlte sie sich erleichtert und etwas zuversichtlicher, mit ihrem Schmerz umgehen zu können. Es wurden noch einige Termine verabredet, um sie in diesem Prozess weiter zu unterstützen. Herr K. (65 Jahre) hatte über Jahre seine Frau rührend gepflegt, war auf ihr Ende vorbereitet, litt aber sehr unter dem Verlust. Über mehrere Behandlungen konnte er seine Erschöpfung überwinden und Kraft für diesen kontemplativen Prozess des Trauerns schöpfen, um mit seinem Verlust umgehen und wieder präsenter im Jetzt leben zu können.

Ingelore Bonfert ist HT-Praktikerin im Zertifizierungsprozess, systemische Beraterin und Supervisorin in Mörlenbach. E-Mail:  [email protected] Website: www.gesundheitscoachingbonfert.de Literatur Brennan, B. A. (1994). Licht-Heilung. Der Prozess der Genesung auf allen Ebenen von Körper, Gefühl und Geist. München. Brennan, B. A. (1998). Licht-Arbeit. Das Standardwerk der Heilung mit Energiefeldern. München. Oschman, J. J. (2006). Energiemedizin. Konzepte und ihre wissenschaftliche Begründung. München, Jena. Anmerkung 1 AHNA = American Holistic Nurses Association.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Ohn-Macht oder Haltungen in der Trauer Gezeigt am Beispiel der Bachkantate »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« (BWV 106)

Wolfgang Teichert Wenn man »Nahrung« braucht und Vertiefung, um eigene Trauer zu ertragen und sogar zu gestalten, dann ist Musikhören kein Umweg. Ich selbst habe es mit einer Kantate von Johann Sebastian Bach wiederholt und wiederholend erlebt. Diese Kantate Bachs »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« ist radikale Musik. Sie kulminiert in einem Spannungsverhältnis zu biologischem Leben und zur Welt, über deren Endlichkeit sie im Medium der Trauer aufklärt. Sie ist ohnmächtig, versichert sich aber gerade darin ihrer Macht, weil sie die herrschende Macht mit deren Vitalismus ihrer Ohnmacht überführt. Es geht mir also nicht um ein ästhetisches Ausweichen vor dem, was wir – besonders als Zurückbleibende – erleiden oder erleben, wenn unsere wichtigsten Ergänzer gestorben sind. Wir werden vielmehr fragen müssen, inwieweit solch Sterben und die Trauer darüber zu ertragen sind. Inwieweit finden wir eine Inspiration zu einem anderen, nicht indifferenten Leben, das der Trauer und dem Tod eine geschärfte Sensibilität verdankt, die nicht an den engen Grenzen des eigenen Lebens Halt macht. »Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang«, notiert die Lyrikerin Mascha Kaléko, und sie fährt fort: »Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr, und die es trugen, mögen mir vergeben. Bedenkt den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der andern muss man leben.« Also geht es nicht um den eigenen Tod, sondern beim Tod geht es um die emotionale Erschütte-

rung jener Zurückbleibenden, die ihre intimen und geliebten Ergänzer verlieren. Es geht um Trauer, wenn denn Trauer der Kompromiss ist zwischen dem Kummer über die endgültige Entfernung zu den Verstorbenen und dem Wunsch, sie in einer anderen Form von Nähe dazubehalten. Und so ist Trauer für mich immer ein räumliches Leiden. Überleben heißt eben nicht nur nacheinander in schöner Generationsfolge zu leben, es bedeutet auch nicht, es länger im Leben auszuhalten als andere, sondern es bedeutet »im eigenen Leben den Tod des Anderen zu beherbergen«. Es ginge also darum zu fragen, was es bedeutet, dass wir durch Verletzung und Verlust gezeichnet sind. Es ginge darum, den Verlust sowie die Verletzung, die er bedeutet, zu bewahren wie etwas Kostbares, eben nicht zu Überwindendes, wie einen die Sinne berührenden Sinn. Es gibt eine geheimnisvolle Gastlichkeit der Trauernden, die den Verlust in sich bewahren wie einen sorgsam gehüteten Schatz. Und in diesem Sinn setzt Johann Sebastian Bachs Kantate (BWV 106) »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« mit dem Untertitel »Nach Worten der heiligen Schrift« sich zu unserem Welt- und Zeitgefühl sofort in Spannung. Nein, sie akzeptiert nicht fromm den Tod, selbst wenn es beim ersten Hören der Musik oder beim Lesen der Texte so aussieht. Bach jedenfalls lässt dem Tod nicht das letzte Wort. Denn es gibt zwei Fallen bei diesem Thema. Das eine ist das Gerede. Das andere das Verstummen. Süßliches Reden vom sanften Tod, vom menschenwürdigen Sterben oder Lichtschein am

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Ende des Tunnels verklebt oft die Augen. Manchmal spottet das Sterben jeder Würde. »Das ist das Tödliche unsres Sprechens«, schreibt der todkranke Theologe Henning Luther. »Wir töten die Toten durch unser Gerede ein zweites Mal« (1991, S. 410). Das Verstummen, so edel es sich anfühlen mag, gibt dem Vergessen nach. »Die Toten zu vergessen, setzt diese dem tödlichen Angriff ein weiteres Mal aus.« Also nicht Gerede und nicht Verstummen, was aber dann? Singen vielleicht? Zunächst sehr persönlich. Es betrifft bei mir – dem Theologen – die Situation von Gottesferne oder Abwesenheit oder Fehlen Gottes: Ich erzähle von einer Zeit meines Lebens, die trostlos war und in der ich am meisten Trost erfahren habe. Es war die Zeit nach dem Tod unserer Tochter. Nicht getröstet hat mich, wenn jemand versuchte, meinen Schmerz zu mindern. »Das Leben geht weiter«, haben mir wohlmeinende Leute gesagt. Es gibt abstrakte Richtigkeiten, die zugleich konkrete Falschheiten sind. Das Leben ging eben nicht weiter, den Schmerz darüber konnte mir niemand ausreden, auch nicht mit einem religiösen Satz. Die Sätze des Glaubens haben nichts vom Schmerz genommen. Gott sei Dank. Sonst wären sie nichts als Vertröstung. Bach beginnt mit einer Musik (Sonatina), die sich anhört wie der Rhythmus der Herztöne der Mutter im Mutterleib; eine Art existenzieller Beat (Sloterdijk 2007, S. 11). Dazu dann auch noch der Parlandosopran der Mutter, die wir auch gehört haben im Mutterleib. Bach will – selbst noch sehr jung – bereits im Einstimmen auf den Tod an die Geburt erinnern. Aber so sehr diese Deutung oder dieses Bild besticht: Zwischen dem Geborenwerden desjenigen, der noch nicht war, und der tragischen Vernichtung dessen, der bereits war, kann es – jedenfalls für Zurückbleibende – keine Entsprechung oder Gleichwertigkeit geben (Jankélévitch 2005, S. 226). Denn der Anfang des Lebens sagt ja, indem er ja sagt zu einem ersten Ja, der Tod sagt ja, indem er nein sagt. Also wird man Bach weiter zuhören mit der ersten Fuge, in der er eine ganz andere Zeit als

unsere Uhrzeit komponiert. Er nennt sie in seiner Sprache »Gottes Zeit«. Was ist das für eine Zeit? Sie muss eine Zeit sein, in der menschliches Leben gelingt, nicht dank der Zeit, sondern trotz ihrer oder neben ihr. Es klingt so inmitten unserer Zeit etwas anderes an als Zeit. Dieses »Andere der Zeit« nennt Bach »Gottes Zeit«. Der Komponist bringt also bereits mit der Einstimmung (Sonatina und Chor) und dann mit der gesamten Kantate eine Wendung der Zeit ein. Man kann hören, dass es in der Zeit selbst etwas gibt, das über sie hinausweist. Dem kann man sich hörend »anschmiegen«, um eben das zu entlocken, was die Tradition »Ewigkeit« nennt. Bach befreit sich sozusagen von der Zeit, indem er sich dem in ihr zuwendet, was anders ist als sie und darum über sie hinausweist. Indem die andere von Bach herbeikomponierte Zeit in der gegenwärtigen Zeit als das Andere ihrer selbst mit gegenwärtig ist (das kann man hören), mobilisiert sie zugleich eine Art Aufstand oder Trotz gegen die herrschende chronologische Zeit. Das griechische Wort für diesen »Trotz« heißt »Parusia«, was wörtlich heißt: neben der Zeit sein! Zur Trauer gehört nicht nur das achselzuckende Akzeptieren, sondern auch eine Art Trotz oder Wut. Man steht neben sich und neben der Zeit. Man bricht mit der Zeit. Bach hat die Fähigkeit besessen, seiner Trauer schon in jungen Jahren, eben gerade mit dieser Kantate und ihrer Umwandlung von Zeit, dem »Neben« der Zeit (»Gottes allerbeste Zeit«) Gestalt und Form zu geben. In Klage und in Anerkennung dessen, dass unser Leben endlich ist. Zu hören in »Ach Herr« und »Bestelle dein Haus, denn du musst sterben« – es verblüfft allerdings der flotte Dreiertakt. Daraus folgt: Anerkennung der Endlichkeit ja, aber nicht einfach schicksalshaft. Da wird fröhlich verhandelt, so ebenfalls im Hintergrund der alttestamentlichen Geschichte, die Bach hier herbeizitiert: Die menschlich endliche Seite wird nicht einfach überfahren. Aber dieses Anerkennungsverfahren menschlicher Endlichkeit eröffnet eine neue Perspektive: Die Anerkennung unserer Endlichkeit bedeutet

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

Käthe Kollwitz, Die Klage, 1938 / Photo © Christie’s Images / Bridgeman Images

Im Neuen Testament jedoch begegnet uns noch ein anderer Begriff von Leben, der dem Tod nicht mehr entgegengesetzt ist. Der nicht in der Zeit liegt.

Menschlichkeit, weil sie jedem einzelnen Menschen Lebensraum gibt. Dagegen klingt das Motto unserer Zeit eher nach »Endlichkeit – weg damit«. Darum hat vielleicht zuweilen unsere Beschleunigung der Lebensrhythmen eine Art Suchtkultur. Durch Geschwindigkeit wollen wir unsere Endlichkeit überspringen. Grund für die unausweichliche Konkurrenzsituation, in der Menschen untereinander stehen. Und das trägt ein Gewaltpotenzial in sich, das ab und an zur Eskalation führen kann. Bachs Kantate hingegen beschwört klanglich eine Art Selbsterhaltung (für ihn verstanden als Erhaltung und Anerkennung durch Gott), in der unsere Endlichkeit Würde gewinnt. Sie kann befreien von der Angst, nicht anerkannt oder zu wenig zu sein und zu haben. So ist für den Komponisten, der so viel Tod in seiner jungen Biografie hat erfahren müssen, auf die Frage »Wie kann Leben angesichts der Endlichkeit gelingen?« diese Kantate möglich geworden. Seine musikalische Antwort könnte – etwas pathetisch gesagt – in der Verlockung zu einer Kultur der Anerkennung liegen: »Komm«. Das »Komm« singt der Sopran ohne Begleitung über allem schwebend. Es klingt wie eine Verlockung. Und das ist kein »Lallen eines Säuglings« (Bohren 2012, S. 201). Das ist höchste Form von erotischer Verlockung, sogar (oder vielleicht

nur) in der Trauer. Diese Verlockung versetzt unser Verständnis von Leben (und damit Sterben und Tod) selbst mit sich in Spannung. Denn wo alles »aus« ist und wo wir nichts mehr sehen und denken können, da weht uns zuweilen etwas an, sagt ein Philosoph (!) unserer Tage: »Was uns anhaucht, wenn wir dem Nichts des Denkens offen sind, ist der Heilige Geist.« Für einen Philosophen unmöglich, für einen Bach-Kenner aber naheliegend, weil er sich auf einen (neutestamentlichen) Begriff von Leben bezieht (wie Bach auch), »wie es ihn innerhalb unsres Kulturkreises nie gegeben hat« (Picht 1977, S. 440). Denn normalerweise gilt Leben als Gegenbegriff zum Tod: Leben als Prozess in der Zeit, der mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Die Wissenschaft vom so verstandenen Leben heißt Biologie. Im Neuen Testament jedoch begegnet uns noch ein anderer Begriff von Leben, der dem Tod nicht mehr entgegengesetzt ist. Der nicht in der Zeit liegt. Der sich uns aber erschließt in jenem »Nichts des Denkens«, das wir im Ausblick auf unseren Austritt aus der Zeit vorwegnehmen. Er weht uns sozusagen von der anderen Seite an und lässt sich bereits mitten im Bios erfahren. Picht nennt ihn mit einem weiteren Wort für Leben »Zoe«. »Unser Bios ist ein Gefäß der Zoe …«. In der Kantate wird die »Zoe« (dies »Leben«) Klang, und zwar im »Ja, komm« des Soprans.

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Wie ich darauf komme? Beim Bearbeiten dieser Kantate ließ sich ein Teilnehmer vor einigen Jahren immer wieder dies »Komm« vorspielen. Er konnte es nicht oft genug hören. Warum, wusste er nicht. Wenige Wochen später, bei einer routinemäßigen Reihenuntersuchung, wurde ihm eröffnet, er habe nur wenige Tage noch zu leben. Er ist, wie seine Frau versichert, mit diesem »Komm« im Ohr gestorben. Kein Wunder, dass Bach auf dies »Komm« das zu den letzten Worten Jesu zählende »in deine Hände lege ich meinen Geist« mit warmer Altstimme auskomponiert. Für mich ist das ein ebenso vertrauensvoller wie klarer Hinweis auf menschliche Angewiesenheit und Verletzlichkeit. Und damit klingt aus dieser Kantate eine Haltung heraus, die man gütig nennen kann, wenn denn Güte darin besteht, »hinzugehen, wo kein erhellendes – d. h. panoramahaftes – Denken ihr vorausgeht, sie besteht darin, zu gehen, ohne zu wissen, wohin« (Levinas 1987, S. 444). Die Anerkennung der Güte scheint mir das Geheimnis der schöpferischen Kraft Bachs zu sein. Er nennt sie Güte Gottes, die er dann eben dankend und lobend, also doxologisch, im Schlussteil der Kantate besingt. Solche Güte liegt tiefer. Sie geht aus einem Einspruch dagegen hervor, dass das Nichts, das Absurde, der Tod das letzte Wort haben sollen.

Dieser Einspruch, den man auch Glauben nennen könnte, ist ein Nein zum Nein. Es bedeutet, dass wir uns weder im Beschreibenden noch Vorschreibenden, sondern im Zusprechenden und Ausrufenden befinden! Und ich denke, die Güte auszurufen, ist der abschließende ursprüngliche Lobgesang bei Bach und geheimnisvoll auch irgendwann in der Trauer1 … Wolfgang Teichert, Theologe und Publizist, ist Leiter der Akademie des Vereins Christlicher Hoteliers (VCH e. V.) in Hamburg und Stiftsseelsorger am Augustinum Aumühle. Er gründete an der Evangelischen Akademie Nordelbien das Institut für Trauerarbeit (ITA) e. V. E-Mail: [email protected] Literatur Bohren, R. (2012). Im Paradies. In: Musik und Gottesdienst, 66. Jankélévitch, V. (2005). Der Tod. Frankfurt a. M. Kaléko, M. (1945). Verse für Zeitgenossen. Cambridge, Mass. Levinas, L. (1987). Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Hamburg. Luther, H. (1991). Tod und Praxis: Die Toten als Herausforderung kirchlichen Handelns. Eine Rede. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 88, 3 (September), S. 407–426. Picht, G.; Rudolph, E. (Hrsg.) (1977). Theologie, was ist das? Stuttgart. Sloterdijk, P. (2007). La musique retrouvée. In: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst (S. 8–28). Hamburg. Anmerkung 1 Diese letzten Anstöße verdanke ich dem Philosophen Paul Ricœur (www.taize.fr/de_article1118.html).

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Der Gong als Tor zur Schwingung unseres Lebens Kristine Schneider Nachdem der Gong in der Musik Beachtung erhalten hat, ist er nun auf dem Weg, sich seinen Platz in der Therapie zu erobern. Stellen Sie sich vor: Sie kommen in einen Raum und da steht der Gong. Die Versuchung ist groß zu denken: Da nehme ich den Schlägel und haue mal richtig drauf. Wie das wohl klingt. Die ungehinderte Umsetzung des Gedankens würde eine rauschende, starke Klangexplosion hervorbringen, die mit einem einzigen kräftigen Schlag einen überwältigenden Eindruck hinterlässt.  Aber auch ich könnte Eindruck machen. Ich kann für den Gong hochtrabende Worte finden. Das ist nicht schwierig, weil er, aus einer alten, uns fernen Kultur kommend, noch mit einem Rest von Geheimnis umgeben ist.  Tatsächlich verführt das Ungewöhnliche seines Klangs dazu, ihm etwas Magisches zuzuschreiben. Vielleicht wird sich Wunschdenken melden. Wenn der Gong so machtvoll und mitreißend klingt, kann er da nicht meine Schwierigkeiten meistern, und ich brauche nichts anderes zu tun, als mich seiner Macht anzuvertrauen? Wir wären verführt zu denken, der Gong sei der große Löser aller Probleme. Das Starke und Mitreißende muss etwas an sich haben, das verändert. Alle drei Formen der Bekanntschaft mit dem Gong möchte ich mit einem eindringlichen Fragezeichen versehen. Wir sollten vorsichtig sein, was Happenings, Magie und Wunderklänge angeht.  Sehen wir uns noch eine Situation an. Jemand, der den Gong kennenlernen will, wird von seinen Klängen unvorbereitet überrascht. Würde die Hörerin oder der Hörer vor Schreck zusammenzucken? Oder würden sie ergriffen sein und in sich versinken? Oder macht die Erfahrung des Erstarrens angesichts von Klängen, die so unmit-

telbar auf sie zukommen, dass sich zunächst keine Worte dafür finden lassen?  Ich habe einen Erd-Gong mitgebracht. Er soll uns weder in Gefahr bringen, noch soll er uns berauschen und besinnungslos zu machen. Er ist nicht hier, um missverstanden zu werden. Stellen wir zwei Punkte klar:  • Erstens ist der Gong kein Heiler und kein Erfüller an sich. Er nimmt uns nicht die Arbeit für die Veränderung ab. • Zweitens ebnet er keinen direkten Zugang zur Spiritualität. Eine solche Einbahnstraße, die direkt in die Transzendenz führt, ist eine Illusion. Wer noch nichts mit dem Gong zu tun gehabt hat, wird glauben, ein Gong wäre nur gut für den Anfang eines Films oder wenn man zum Essen rufen will oder wenn man eine östliche Atmosphäre erzeugen möchte. Aber wem der Gong vertrauter ist, der wird unter Umständen andere Erwartungen haben. Kann ich mit seiner Hilfe meine Verspannungen lösen, mich energetisieren und sensibilisieren? Kann er mich träumen lassen und an innere Bilder heranführen? Kann er meine Stimme stützen oder mir Kraft geben? Erfahrungen mit dem Gong werden sehr individuell beschrieben. Häufig wird gesagt, dass er berührt, mitreißt, beruhigt und glättet, dass er birgt, ummantelt und umhüllt und in selten betretene innere Räume führt. Wie gelangen wir zu einer reflektierten Einstellung, aus der wir verstehen, was geschieht? Was fange ich mit einer tiefen Berührtheit an, bei der ich weder weiß, wozu sie gehört, wie ich dahin gekommen bin noch was ich mit ihr anfangen soll? Ist die Gongerfahrung

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den Gong ist ein großer Raum, in dem er seinen zentralen Platz einnimmt. Wir sind die sensiblen Mitspieler, die ihre innere Bühne mitbringen und dem Klang eine Rolle zuweisen in Stücken, die von unserer Geschichte geschrieben wurden.  Wir sind aufmerksam auf Transsonanz. Unter Transsonanz verstehen wir ein Gesamt von leiblichen, seelischen und geistigen Schwingungen, die unter anderem durch Gongs ausgelöst werden. Zu dem Gesamt des Schwingungserlebens zählt das innere Fließen eines Klangs im Körper, der uns mit seiner Schwingung neue Resonanzräume erschließt. Er bringt uns in Kontakt zu unserer ursprünglichen Schwingungsfähigkeit. Wir erleben Allverbundenheit im Klang, ein Mitschwingen mit anderen und der Welt. Wir empfinden uns als Teil eines tragenden schwingenden Ganzen. Die Sinne werden mobilisiert. Das Erlebnis der Transsonanz verlangt außer der Bühne und dem Medium Gong eine sorgfältige Vorbereitung der Sinne. Wir stärken die Sinne durch Wahrneh-

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tief und bleibt sie unbegreiflich, wäre sie genau das, was ich als ein Paradebeispiel für verschenkte Entwicklungsmöglichkeiten bezeichne.   Um dem Gong zu begegnen, werden wir einige vorbereitende Schritte unternehmen. Wir schaffen uns eine innere und äußere Bühne und verhelfen dem Gong zu einem Auftritt, der ihm seine volle Entfaltung abverlangt. So wird eine Geige des berühmten Geigenbauers Stradivari, allein von einem Unerfahrenen in einem kleinen dumpfen Kellerraum gespielt, niemals so klingen, wie sie es verdient. Herausgeholt und vor einen würdigen Hintergrund gestellt, gespielt von einem Geiger, der den Bogen zu führen versteht und aus jeder Note einen beseelten Ton hervorbringt, wird sie die unterschiedlichsten Gefühle und Phantasien anregen, vorausgesetzt, sie findet ihr Auditorium, das bereit ist, Klänge in sich aufzunehmen. Genau unter diesen Umständen erstrahlt das kostbare Instrument in seinem Glanz und ergreift die Herzen der Zuhörer. Unsere äußere Bühne für

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Kristine Schneider: »Teilen wir das, was Ihnen eingefallen ist.«

mungsübungen und durch leibliche Erfahrungen soweit, dass wir sicher sein dürfen: Ich bin bei Sinnen, habe Boden unter den Füßen und kann mich auf mich selbst verlassen. In diesem selbstregulierten Gleichgewicht kann die Begegnung mit dem Gong gelingen. Der Gong stellt sich mit einem Klang vor. Schauen Sie ihn genau an. Eine Bronzescheibe, unendlich mühsam über Wochen geschmiedet, die Oberfläche mit Narben und Pucken versehen, um ihm genau diesen Klang zu geben, der jetzt erklingt. Der Kreis gilt als Symbol für ein Ganzes, auch für das Selbst. Bemerken Sie die verschiedenen Färbungen, die durch die Schmiedung entstanden sind! Horchen Sie. Spüren Sie die Stuhllehne, die Füße auf dem Boden und den Atem. Eindruck und Ausdruck bedingen einander. In einem gesunden Selbstsystem besteht ein Gleichgewicht zwischen dem, was aufgenommen, und dem, was ausgedrückt wird. Menschen, die das, was in ihnen nach Ausdruck drängt, zu sehr zurücknehmen oder es völlig unterdrücken, gefährden ihr leib-seelisches Gleichgewicht und werden nach und nach zu weniger, als sie eigentlich sind. Die Beziehung zur Welt wird zu einer Einbahnstraße, wenn wir festhalten, was eigentlich zum Ausdruck kommen möchte. Wenn Schwingungen auf Sie zukommen, laden sie Sie also zum Mitschwingen und zur antwortenden Gegenschwingung ein. Der Gong hat seine eigene Art, auf Sie zuzugehen und Bereiche, welche die Schwingung verloren haben, anzusprechen. Der Gong macht uns bewusst, welche Schwingung nicht mehr da ist und was in uns ist, das keinen Ausdruck findet. Und wir richten dann die Aufmerksamkeit ganz bewusst auf das Tote und das Dumpfe, so dass wir zu diesen Bereichen einen Zugang bekommen und sie mit Schwingung verlebendigend auffüllen können. Wenn der Klang zum dritten Mal kommt, fragen Sie sich, ob Sie wirklich bereit sind zu sagen: Ja, jetzt hör ich mal hin. Ich überlasse mich und folge dem Klang. (Es erklingt ein länger anhaltender Gongteppich.)

Teilnehmer/-in: »Ich hatte ein Bild … wie ein Wasserfall, der sich ergießt und sich wieder bündelt.« Teilnehmer/-in: »Ich habe den Gong richtig eingeatmet. Das war ganz komisch. Ich habe den Klang als Licht gesehen, das auf meinen Mund- und meinen Nasenbereich zukam, und dann habe ich ihn eingeatmet.« Teilnehmer/-in: »Ich habe zunächst rote Farbe gesehen, die sich dann zu einer zähflüssigen Lava entwickelt und dann gespritzt hat; und nachher waren es eher Farbschattierungen einer rot-grünen Sonne.« Teilnehmer/-in: »Ich habe mich am stärksten hier in der Mitte gefühlt. Es war, als wenn etwas in mir aufging. Ich war froh, wenn die Impulse langsamer wurden. So ganz undramatisch, ganz weich.«

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Kristine Schneider: »Ihr habt Bilder entstehen lassen und Empfindungen entwickelt. Lassen Sie uns versuchen, dem Anklingenden noch mehr auf die Spur zu kommen. In unserer nächsten Begegnung mit dem Gong können Sie, wenn es etwas zu viel werden sollte, einfach den Mund aufmachen und ihm etwas entgegen singen. Ihre Aktivität unterstützt die gewünschte Abgrenzung. Wir werden versuchen, unser Bewegtsein mit farbigen Linien auf Papier auszudrücken. Nehmen Sie ein Blatt und einen Stift in der Farbe, die Ihnen im Augenblick entspricht. Wenn der Gong erklungen ist, gehen Sie in die Stille und spüren sich. Das Malen soll eine Brücke zwischen dem innerleiblichen sinnlichen Erleben, der Ausdrucksbewegung, dem Bild und der Sprache bauen.  Bereiten Sie sich wieder vor. Diesmal auch mit ein paar klärenden Fragen: Wie offen will ich eigentlich sein? Wofür möchte ich mich öffnen? Nehmen Sie ein paar Atemzüge und atmen Sie sich frei für das, was kommt. Was ist noch an Schwingung in Ihnen von vorhin? … Fragen Sie sich, ob es einen Wunsch gibt … Wo möchten Sie sich öffnen? Mehr in der Brust oder eher im Bauch, den Armen und Händen oder im Gesicht? Was auch immer sich öffnen möchte, finden Sie es heraus. Der Gong unterstützt Sie in jede Richtung, die Sie wählen. (Der Gong wird erst leise, dann zunehmend lauter angeschlagen und gipfelt in einem strahlend aufrauschenden Klang.) … Spüren Sie der inneren Schwingung nach … Zeichnen Sie, was in Ihnen schwingt, mit den Händen mit geschlossenen Augen in den Raum … In welcher Linie könnte sich die Schwingung ausdrücken? … Skizzieren Sie sie auf ein Blatt. (Einige Minuten vergehen mit dem Malen.) Finden Sie ein Wort oder einen Satz für das Bild … Tauschen Sie sich aus, was bewegt hat und was mit dem Bild gemeint ist.«

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Nach dem gegenseitigen Austausch lade ich wieder zu einem Gespräch ein. Eine Teilnehmerin erlebte zu dem gewählten Blau eine blaue Schwingung. Sie hatte das Gefühl, sie müsse sich wehren. Eine andere Teilnehmerin fand es eher spannend. Sie spürte, da war innerlich schon Freude an der Kraft. Auf die Frage, wohin es sie führen würde, wenn sie die Freude noch mehr kribbeln ließe und sie sich keine Zügel anlegte, ist ihre Antwort: »zur Lust würde das führen, sich zu trauen«. Eine weitere Teilnehmerin hatte hinterher das Gefühl, sie sei zu weit gegangen. Auf die Frage, welche Unterstützung sie sich vom Gong wünscht, äußert sie, der Gong möge ihr schonende Grenzen setzen, innerhalb derer sie sicher ist. Das Grenzüberschreiten im Sinne von Überforderung kenne sie bereits. Lassen Sie mich zusammenfassen. Wir haben den Gong erfahren und unsere Eindrücke in der Bewegung, im Bild, im Wort und im Austausch aufgefangen. Ich bin der Meinung, es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Gong stark wirkt, solange uns seine Rolle auf der inneren oder äußeren Bühne klar ist, solange wir den Kontakt zum Boden halten und eine stützende und verstehende Begleitung zur Verfügung steht. Gemeinsam haben wir versucht, für das Angeklungene Formen und Worte zu finden, die das Erlebte mit Bedeutung versehen, so dass nichts verschwendet ist.  Wegen des Machtvollen im Gong möchte ich den Therapeuten und jenen, die den Gong für sich zur Selbstfindung einsetzen möchten, sagen: Wendet ihn nicht »drauflos« an. Solange ihr keine gongtherapeutische Ausbildung habt, solltet ihr nicht mit dem Gong behandeln, sondern höchstens mit dem Gong Entspannung unterstützen; also nur leise, leichte Klänge nehmen und sie verbinden mit klaren Anweisungen, sich zu entspannen. In der therapeutischen Arbeit legen wir größten Wert auf die Vorarbeit, die Übungen zum Gründen, zum Gehen, zum Atmen, zur Klangerwartung, zum Horchen. Nicht dass ihr Menschen so unvorbereitet mit dem Gong in Berüh-

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rung bringt. Transsonanz wird nur erlebbar und nachvollziehbar, wenn wir uns sorgfältig der leibseelisch-geistigen Vorbereitung widmen.

Kristine Schneider (gestorben 2001) war Fachpsychologin für Klinische Psychologie und Psychotherapeutin, in privater Praxis in Köln tätig. Begründerin und Leiterin des Instituts AGA für Angewandte Gestaltanalyse.

Gekürzter Beitrag aus: Gestaltkritik – Die Zeitschrift mit Programm aus den GIK Gestalt-In­sti­tu­ten Köln und ­Kassel. Heft 1/1997.

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Wir erleben Allverbundenheit im Klang, ein Mitschwingen mit anderen und der Welt. Wir empfinden uns als Teil eines tragenden schwingenden Ganzen.

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Qigong als heilsamer Weg in der Trauer Bernadette Calenberg Es ist offenkundig, dass der Tod eines geliebten, nahestehenden Menschen schwere Spuren in der Lebensenergie eines Trauernden hinterlassen kann. Das Leben fühlt sich von einem Tag auf den anderen nie mehr so an, wie es einmal war. Am Anfang dieses schmerzlichen Prozesses stehen vielfach Erstarrung, Schock, Lähmung über das Unbegreifliche. Das Qigong-Üben mit Trauernden ist wie eine sanfte Einladung, dem Stillstand des Todes mit ruhigen, fließenden Bewegungen zu begegnen. Qigong kann Trauernden helfen, innerlich in Bewegung zu kommen, wieder Tritt zu fassen, um herauszufinden aus dem tiefen Loch. Man übt in der Hoffnung, dass sich die Erstarrung allmählich lösen kann, und man vertraut darauf, dass die langsamen, sich wiederholenden Bewegungen des Körpers nach und nach auch das Innere, die Seele, erreichen und den Trauerprozess auf positive Weise begleiten. Was heißt nun eigentlich »Qi«? Wer sich mit Qigong beschäftigt, betritt unbekanntes Terrain, das zeigt sich schon in dem fremden chinesischen Wort. »Qi« bedeutet »Energie« oder »Lebenskraft«. »Gong« wird übersetzt mit »beharrliches Üben«. Das heißt, wer sich dem Qigong widmet, »übt beharrlich seine Lebenskraft«. Das ist ein sehr ungewöhnliches Konzept für unsere westlich geprägte Welt. Das Ziel der Übung ist es, die innere Energie sanft zu wecken und zu harmonisieren und so das Qi in Fluss zu bringen. Qigong basiert auf dem Grundgedanken, dass jeglicher Schmerz (auf körperlicher oder seelischer Ebene) ein Zeichen für stockende Energie ist, wohingegen Wohlbefinden Ausdruck von

fließender Energie ist. Somit gilt es, Stockendes ins Fließen zu bringen. Der Ursprung der Übungsform, die auch als »Meditation in der Bewegung« bezeichnet wird, liegt rund zweitausend Jahre zurück, sie ist in daoistischen Klöstern des Alten China entstanden. Qigong ist eine der fünf Säulen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), von denen die Akupunktur hierzulande die bekannteste ist. Die fünfte Säule, das Qigong, betont den Aspekt der Vorbeugung und Gesunderhaltung. Hier geht es darum, aktiv etwas für den Körper und die Seele zu tun und vor allem Selbstfürsorge zu betreiben. Qigong als Selbstfürsorge Die Übung kann als heilsames Ritual in der Trauer gesehen werden, da sie aus immergleichen, sich wiederholenden Bewegungen besteht. Die Sequenz von fließenden Bewegungen wird so lange geübt, bis der Ablauf als intuitives Körperwissen gespeichert ist. Nach einer gewissen Zeit »passieren« Schritte und Bewegungen sozusagen wie von selbst. Das Denken tritt in den Hintergrund, das Spüren in den Vordergrund. Man lässt sich tragen vom Fluss der Übung. Es ist leicht vorstellbar, dass diese Art der ruhigen körperlichen Betätigung einem Trauernden gut tun, Halt und Sicherheit geben kann in einer Situation, in der alles aus den Fugen zu geraten scheint. Insofern kann das Üben eine Möglichkeit bieten, zu sich zu finden, zur Ruhe zu kommen in einer sehr belasteten Zeit. Da sich Trauer oftmals auch auf körperlicher Ebene bemerkbar macht und Betroffene unter vielfältigen gesundheitlichen Beschwerden wie innerer Anspannung, Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit, Kopfschmerzen, Magenproblemen und

Einige Übungsbeispiele

Ruheübung: »Stehen wie eine Kiefer«

»Schiebe den Berg mit beiden Händen«

In meiner Vorstellung leihe ich mir etwas von der Kraft und der Ruhe des Baumes. Ich werde still, entspanne Körper und Geist, spüre die Füße. Die Kiefer gräbt ihre tiefen Wurzeln in die Erde und öff­ net sich für die Weite des Himmels. Ich suche Stabilität in der unteren und ein Gefühl von Leichtigkeit und Flexibilität in der oberen Körperhälfte.

Mit sanfter Kraft trete ich einen Schritt nach vorne und schiebe in meiner Vor­ stellung »einen Berg«. So verschaffe ich mir Raum, ich schiebe belastende Ge­ danken weg von mir und spüre, dass ich auf entspannte Weise etwas bewegen kann. Bei der Gegenbewegung zurück zum Körper hole ich mir eine gute Kraft in meine Mitte, die mein Inneres nährt.

anderen Störungen ihrer Gesundheit leiden, bietet Qigong eine Chance, sich körperlich zu stärken, zu entspannen und bewusst Selbstfürsorge zu betreiben.

wegungen ihre wohltuende, heilsame Kraft entfalten. Neben Bewegung und Atmung spielt die Vorstellungskraft eine wichtige Rolle im Qigong. Charakteristisch ist, dass kraftspendende Bilder aus der Natur das Üben begleiten und als Inspiration für den Geist dienen. Hier ein Beispiel: Ein »Klassiker« des Qigong ist die Ruheübung »Stehen wie ein Kiefer«, eine meditative Standhaltung. Das Stehen wird in der Vorstellung getragen vom inneren Bild eines Baumes mit seinen tiefen Wurzeln (= Fußsohlen), die in die Erde ragen und Halt geben, dem starken Stamm (= Beine), der Standfestigkeit verleiht … und der leichten, flexiblen, sich im Wind wiegenden Baumkrone (= Oberkörper). Das Zusammenspiel dieser »widerstreitenden«

Körper, Atmung und Geist verbinden Die Übung beginnt mit einem meditativen Moment der Ruhe und der Konzentration auf den Körper, die Atmung, den Geist. Man übt sich in Selbstwahrnehmung, und gleichzeitig übt man, alles, was einen sonst bewegt oder belastet, für eine Weile sanft hinter sich zu lassen. Das allein kann eine große Herausforderung sein, nicht nur für Trauernde. Aber gerade aus diesem geistigen Zustand der Achtsamkeit heraus können die Be-

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Q i g o n g a l s h e i l s a m e r We g i n d e r Tr a u e r    6 9

»Der Kondor breitet seine Schwingen aus«

»Pferdschritt – Hände wie ziehende Wolken«

Während ich fest verwurzelt auf dem hinteren Fuß stehe, hebe ich meine Arme in die Weite. Ich stelle mir die Kraft eines mächtigen Vogels vor, der sich in die Lüf­ te hebt. Ich gebe mir selbst und meinem Atem Raum, spüre innere Weite. Ich be­ trachte die Dinge aus einem anderen Blickwinkel und stelle mir die Leichtig­ keit und Freiheit des Kondors vor.

Wie auf einem Pferd sitzend spüre ich eine stabile Kraft in der unteren Kör­ perhälfte, die mich mit dem Boden ver­ bindet. Aus dieser Verwurzelung nach unten entsteht in der oberen Körper­ hälfte Leichtigkeit. Die Hände ziehen sanft wie Wolken am Himmel an mei­ nem Körper vorbei. In meiner Vorstel­ lung lasse ich die Dinge, die mich beschäf­ tigen, vorbeiziehen und lasse sie gehen.

Kräfte macht den Baum aus, in seiner Ruhe und seiner Kraft. Geist und Körper wirken zusammen.

Hier liegt eine tiefe Wahrheit, die für trauernde Menschen hilfreich sein kann, den schmerzlichen Verlust mehr und mehr in ihr Leben zu integrieren und das eigene Schicksal anzunehmen. Zudem kann die Natur in ihrer Schönheit, Erhabenheit und ihrer Kraft etwas sehr Tröstliches sein und Geborgenheit geben. Es ist nicht unbedingt notwendig, Qigong unter freiem Himmel zu üben, um das Gefühl des Eingebundenseins in die Natur entstehen zu lassen. Einen Bezug zu den natürlichen Kräften schaffen vor allem die vielfältigen inneren Bilder, die das Üben begleiten: sei es die Vorstellung von der Ruhe des Mondes, der Verwurzelung des Baumes, der Leichtigkeit der ziehenden Wolken und des Vogels, der sich mit kraftvollen Flügeln emporschwingt.

Rhythmus der Natur Qigong ist tief verwurzelt in der chinesischen Geistesgeschichte, dazu zählt neben dem Buddhismus und dem Konfuzianismus die Vorstellungswelt des Daoismus. Diese über zweitausend Jahre alte Lehre besagt, dass der Mensch eingebettet ist in die Wirkkräfte der Natur und des Kosmos. Die Daoisten haben den stetigen Wandel aller Dinge, den ewigen Rhythmus von Vergehen und Werden in der Natur studiert, und sie ermuntern den Menschen, sich diesen Kräften nicht zu widersetzen und Vergänglichkeit zu akzeptieren.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Yin und Yang In der chinesischen Heilkunde, dem das Qigong entspringt, spielen die polaren Energien des Yin und des Yang eine wesentliche Rolle. Symbolisiert werden diese »widerstreitenden« Kräfte im sogenannten Taiji-Zeichen: Yin steht für Ruhe und Entspannung (auch für Dunkelheit, Nacht, Mond …), Yang steht für Bewegung und Aktivität (auch Helligkeit, Tag, Sonne …). Diese beiden Kräfte sind keine absoluten Größen, sondern sie bedingen sich gegenseitig, sie wandeln sich ineinander. Dieser stetige Wandel von Yin und Yang wird durch die fließenden Übungen des Qigong symbolisiert: ein stetiges In-die-Kraft-Treten und wieder Loslassen. Leben ist Bewegung, pantha rhei (= »alles fließt«). Dies zu spüren, kann trauernde Menschen ermutigen und bestärken, ihr Schicksal anzunehmen. Die Dualität von Yin und Yang verweist darauf, dass es ohne Nacht keinen Tag gibt, ohne Regen keinen Sonnenschein, ohne Ende keinen Neubeginn. Das Innere in Bewegung bringen In der Trauer braucht es Zeit und Geduld, den eigenen Weg zu finden. Jeder Mensch trauert anders. Qigong ist eine von vielen Möglichkeiten, körperlich und seelisch wieder Tritt zu fassen. Die Konzentration auf das Hier und Jetzt lässt die Realität für einen Moment vergessen. Die Übungszeit ist eine Auszeit, in der die übende Person in einen »Dialog mit der eigenen Lebenskraft« treten kann, wie es heißt. Es ist eine sanfte Art, sich selbst näher zu kommen, sich zu spüren und anzunehmen mit allen Gefühlen, Ängsten, Widrigkeiten. Der Begriff der »Selbstfürsorge« spielt im Qigong, wie bereits gesagt, eine große Rolle. Gleichzeitig helfen die Übungen, die inneren Kräfte wiederzuentdecken und so Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Potenziale zu finden. Das Wichtigste aber ist: Im Qigong wird das Fließen betont, das In-Bewegung-Kommen nach dem Stillstand, den der Tod mit sich gebracht hat. Es ist ein Weg über den Körper hin zur Seele, das

heißt, dass über die körperlichen Bewegungen das Innere in Bewegung gebracht werden soll. Nach der Zäsur des Todes und einem Zustand von Starre kann sich so die Lebensenergie wieder entfalten und in Fluss kommen. Vertrauen der Trauernden Natürlich gibt es auch Grenzen. Eine trauernde Person, die sich auf das Meditative, das Langsame, das Nach-innen-Schauen nicht einlassen kann oder möchte, ist hier sicher nicht gut aufgehoben. Diese Bereitschaft kann man weder erzwingen noch kann sie von außen an jemanden herangetragen werden, nach dem Motto »Das würde dir aber gut tun …«. Solch eine Herangehensweise ist unangemessen und läuft ins Leere, nicht nur bei Trauernden. Ein weiterer Punkt: Qigong ist kein Allheilmittel, nichts passiert »auf Knopfdruck«. Die Übung besteht vielmehr darin, sich den fließenden Bewegungen des Körpers anzuvertrauen und mit Ruhe und Gelassenheit zu schauen, was passiert, was sich verändert. Das kann dann viel Freude bereiten. Ein grundlegendes Qigong-Prinzip besagt: Erst aus der Erdung kann Entfaltung entstehen. Beim Üben macht man sich immer wieder die Stabilität des Bodens, das Getragenwerden bewusst, um sich aus dieser Sicherheit heraus in die Weite zu entfalten. Die Teilnehmerin eines Trauerkurses beschreibt ihre Erfahrung folgendermaßen: »Nach dem Tod meines Mannes hat es mir die Erde unter den Füßen weggezogen. Ich fühl­ te mich wie eine treibende Scholle in einem Fluss. Erst durch die Qigong-Übungen hatte ich dann das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu kriegen.« Fotos: Britta Schmitz

Bernadette Calenberg ist Journalistin, Qigong-Lehrerin, Shiatsu-Therapeutin und Heilpraktikerin. Sie ist ehrenamtliche Trauerbegleiterin und in der Erwachsenenbildung tätig. Sie lebt in Köln. E-Mail: [email protected]

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Ein Klang in mir – Einklang in mir Reinhold van Weegen

Wie erlebte ich Klangbehandlung? »Heute bin ich so gut wie 60 Jahre alt. Seit 25 Jahren ist es mir bewusst, dass ich in zwischenmenschlichen Situationen oft ein unangenehmes, manchmal unerträgliches Unwohlgefühl mit viel innerer Unruhe bekomme. In viele Richtungen habe ich nach Hilfe und Rat gesucht. Auf meiner Suche ist mir die Klangmassage begegnet. Seit fast sechs Jahren bin ich bei Reinhold van Weegen in Klangbehandlung. Ich bekomme immer wieder Einzelbehandlungen und nehme regelmäßig an Klangabenden teil. Als ich mal das Bedürfnis hatte, über eine längere Zeit den Schwingungen und dem Klang ausgesetzt zu sein, nahm ich einfach an einem Klangseminar teil, einem Teil der Grundausbildung, die er damals noch gab. Das war sehr wohltuend, zwei ganze Tage gefüllt von Klang zu sein. Nebenbei entdeckte ich, dass Klangmassage zu geben ein Anliegen von mir sein könnte. So bin ich jetzt, auf meinem Weg zur Gesundheit, zur Klangpraktikerin geworden. Als ich anfing zu überlegen, was erzähle ich auf die Frage hin, was Klang mit mir gemacht hat, kam mir die Überschrift. Ein Klang in mir – Ein­ klang in mir. Wenn wir weit genug zurückschauen in unser physisches Dasein, gibt es am Anfang einen körperlichen Zustand, wo vermutlich alles im Einklang miteinander ist, alles gut ist. Für die allermeisten Menschen von uns ist dieser Zustand im Mutterleib noch ganz ursprünglich. Für einige aber gibt es schon dort nicht mehr nur

    

Wohlsein. Je nachdem, wie unser Lebensweg ausgesehen hat, haben sich in unserem Körper, in seiner Gewebestruktur Spannungen aufgebaut, Blockaden. Diese Blockaden bewirken natürlich, dass so manche Stellen in unserem Körper nicht gut im Einklang miteinander sind. Das macht sich irgendwann, mehr oder weniger, als körperliche oder psychische Unausgeglichenheit bemerkbar. In meinem Leben als Mutter von vier Kindern leide ich darunter, dass mein ältestes Kind seit zwölf Jahren eine chronische Erkrankung hat. Er wird eines Tages ein neues Organ brauchen. Heute kommt dieser Tag mit schnellen Schritten näher. Das bedeutet Erleichterung und Sorge zugleich. So lebe ich in all den Jahren in ständiger mehr oder weniger unterdrückter Trauer, dennoch gibt es auch Hoffnung. Als ich an dem Montag nach dem Seminar wieder meine Arbeit aufnahm, die wundervolle Arbeit mit kleinen Kindern, merkte ich zunächst eine Art emotionaler Leere in mir. Als aber das erste Kind fröhlich und frisch auf mich zukam und etwas von mir wollte, ging ich erstaunlich schnell in eine warme zugewandte Stimmung. Ich weiß, ich habe diese Stimmung oft mit Kindern, aber nicht so spontan. Es dauerte einen halben Tag, bis ich wirklich realisierte, hier ist nach dem Seminar etwas geschehen und neu in mir! Ich bin nicht traurig, ich bin still. Es fühlt sich wohl an. →

Wenn die Hoffnung hält und mein Sohn im Frühjahr ein neues Organ bekommen hat, werde ich in einen Frühling gehen, welcher auch der Frühling von einem neuen Abschnitt auf meinem Lebensweg sein wird. Der Abschnitt, wo ich als Klanggeberin weiterschreite, zusammen mit meiner neuen inneren Freiheit. In mir spüre ich durch die Erfahrung mit der Klangarbeit mehr Ausgeglichenheit und damit verbundene Dankbarkeit.« Elsebeth Oeder

Wie wirkt Klangbehandlung? Schwingung, Rhythmus und Resonanz sind grund­ legende Eigenschaften allen Lebens. Verliert der Mensch seine Schwingungs- und Resonanzfähigkeit, gerät er aus der Harmonie und wird krank. Fühlen wir uns unwohl, manifestieren sich Missklänge und Disharmonie sowohl in den Gedanken, aber auch im Lebensgefühl, im Körpergefühl, in der Körper­ haltung und letztendlich sogar in den Organen.1 Klangarbeit, auch als Klangmassage bezeichnet, wirkt über die vier Faktoren Klang, Vibration, Rhythmus und emotionale Resonanz und führt so tiefer und schneller in einen Entspannungszustand mit allen Entspannungsreaktionen, als es andere klassische Entspannungsverfahren können. Doch jeder der vier Faktoren hat einen anderen Wirkmechanismus, deren Summe erst das Besondere an diesem Zustand erklärt. Klang Die obertonreichen Klänge der Klangschalen triggern Empfindungen aus der pränatalen Zeit an. Eine Zeit, in der wir in gewisser Geborgenheit wachsen und groß werden durften. In diesem Entwicklungsstadium des Embryos entstehen oft Ahnungen von Urvertrauen und Glück. Dies funktioniert, weil der Hörsinn der erste Sinn in der embryonalen Entwicklung ist. Diese Emotionen sind gespeichert und über das Unterbewusstsein abrufbar.

Vibration/Schwingung Die Vibrationen der Klangschalen sind sanft und angenehm, ähnlich einem zarten Streicheln. Ihre akustisch hörbaren und physisch spürbaren Schwingungen wirken direkt auf den Körper ein. Dieser besteht zu rund 70 % aus Wasser. Wasser ist zudem das ideale Element, um durch Schwingung in Resonanz zu kommen. Auch über die Knochen werden die Klangschwingungen mühelos durch den Körper geleitet. Sie fördern die Mikrodurchblutung und unterstützen so die Versorgung des Gewebes mit Nährstoffen aus dem Blut. Rhythmus Das Anspielen der Klangschalen erfolgt während der Behandlung in einem immer wiederkehrenden, gleichmäßigen Rhythmus. Mit diesem Rhythmus bestätigt der Klangtherapeut dem Klienten seine ihm zugewandte Anwesenheit und Beständigkeit, seine zuverlässige Begleitung: »Ich bin mit dir«, und mit jedem einzelnen Anspielen der Schalen erfolgt der vom Klienten emotional angenehm besetzte Klang und das wohltuende Gefühl des sanft Berührtwerdens. Die ordnende Kraft der Schwingungen unter­ stützt das Gesunde im Menschen. Sie sind durch den ganzen Körper hindurch spürbar. Sie errei­ chen jede Zelle und »massieren« diese, erinnern sie an ihren ursprünglichen harmonischen Bau­ plan. Das Spüren der Schwingungen lenkt die Auf­ merksamkeit auf den eigenen Körper. Bedürfnisse und Empfindungen werden (wieder) wahrgenom­ men und die Schwingungen als etwas Eigenes (wie­ der)erkannt. Dies ist schon ein therapeutischer und heilender Effekt. In der Tiefenentspannung wird das (neue) Körpergefühl aufgenommen und posi­ tiv verankert; hier können die Selbstheilungskräf­

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Emotionale Resonanz Klient und Klangtherapeut sind während einer Klangmassage in einem gemeinsamen und verbindenden Klangraum. Wie bei dem bekannten Test, bei dem sich die Körperreaktionen einer Pflegeperson und einem zu pflegenden Menschen in Atmung und Puls annähern, so kommt es auch während der Klangmassage zu ähnlichen Reaktionen unter dem Einfluss der drei oben genannten Faktoren. Erst durch das Miteinander dieser Faktoren vertieft sich das entstehende Vertrauen des Klienten zum Klangtherapeuten. Der Klient erfährt während der Behandlung: Er darf sich öffnen und darf seinen Gefühlen – welche auch immer in ihm aufkeimen – Ausdruck verleihen. Die begleiten, die andere begleiten Eine schöne Erfahrung machte ich mit der Familie von Erna G., 79 Jahre. Sie bekam regelmäßige Klangbehandlungen als sanfte Entspannungsmethode während ihres Krankheitsverlaufs mit Morbus Parkinson. Inzwischen konnte sie kaum noch verbal kommunizieren. Der Klang tat ihr aber sichtlich gut. Ihr Ehemann Horst (81 Jahre) und ihre Tochter Sabine mit Mann Norbert pflegten und unterstützten sie neben ihren Berufen rund um die Uhr in ihrem gemeinsamen Haus. Die Familie brachte so viel an Geduld und Liebenswürdigkeit auf, dass es mich sehr erstaunte

Reinhold van Weegen

te des Körpers angesprochen werden. In diesem tiefen Loslassen und Geschehenlassen kann unse­ re Körper­intelligenz eine Neuordnung bewirken.

und mir große Anerkennung und Würdigung abverlangte. Es begab sich dann einmal, dass ich den Ehemann einlud, sich im selben Raum, in dem die Behandlung seiner Frau stattfand, aufs Sofa zu legen, um ebenfalls am Geschehen teilzuhaben. Das nahm er gern an. Zum Ende der Behandlung war er eingeschlafen. Erna G. schaute zu ihrem Mann herüber und zeigte ein leichtes Lächeln in ihrem Gesicht. Es schien, dass sie sagen wollte: »Wie schön, dass du auch etwas davon hattest und nicht nur ich immer alles allein bekomme!« So geschah es, dass Horst und dann auch Tochter Sabine bei den Behandlungen dabei waren und sich durch die Klänge und Schwingungen entspannen ließen. Auch heute, nach dem Tod der Eltern, ist das Ehepaar noch dankbar für die gemeinsamen Zeiten intensiven Erlebens im Klangraum. Wo Worte nicht mehr greifen, rührt Klang an. Reinhold van Weegen ist nach zwölf Jahren Erfahrung mit ­»Klangmassage im Gesundheitsbereich« für gesunde und pflegebedürftige Menschen nun Klangtherapeut in Einzel- und Gruppensitzungen. Er leitet Hospizhelfergruppen und ist in der Palliative-Care-Ausbildung tätig. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1 Die kursiv gesetzten Sätze stammen von http://www.concordare-klang.com/therapeutischer-ansatz.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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»Im Nachhinein ist man immer klüger« Das Instrument retrospektiver ethischer Fallbesprechungen

Wolfgang Heinemann Klug zu handeln – das ist der wesentliche Gegenstand ethischer Reflexion. Und als klug gilt, in einer konkreten Situation sich vor einer Entscheidung ein möglichst genaues und mehrschichtiges Bild einer konkreten Lage zu verschaffen; unterschiedliche Perspektiven wahrzunehmen; verschiedene Handlungsoptionen zu entwickeln; und abzuwägen, welche dieser Optionen den Interessen der beteiligten Personen, der Besonderheit der Situation und den institutionellen Rahmenbedingungen gerecht wird. Genau das ist das Ziel prospektiver ethischer Fallbesprechungen im Gesundheits- und Sozialwesen: sich in schwierigen, komplexen Situationen möglichst gemeinsam mit allen Beteiligten und Betroffenen zu verständigen, welches Handeln am besten geeignet ist, den Willen und das Wohl der Klienten und Klientinnen zu berücksichtigen, dabei Schaden zu vermeiden und gleichzeitig den Interessen anderer Beteiligter gerecht zu werden. Name, shame, blame Dennoch kann es zu Abläufen und Ergebnissen kommen, über die im Rückblick die Betroffenen verwundert oder verärgert staunen: Wie hat das geschehen können? Wer hat was an welchen Stellen übersehen? Wo haben Menschen oder Technik versagt? Was wäre vermeidbar gewesen und was war schicksalshaft? Und es gibt bei Zwischenfällen, ungünstigen Verläufen, ungewollten Ergebnissen einen eher unklugen Automatismus: unter Missachtung der strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen oder der situativen Komplexität einen oder mehrere Verantwortliche zu identifizieren, zu benennen, zu

beschuldigen, möglicherweise auch zu bestrafen. Name, shame, blame – drei beinahe klassische Reaktionen, die Einzelne stigmatisieren und exkommunizieren und gleichzeitig gemeinsames Lernen aus Fehlentwicklungen und Irrtümern verhindern. Ein konkretes und dramatisches Beispiel aus dem palliativ-hospizlichen Kontext mag diesen Prozess verdeutlichen: An einem Samstagnachmittag bringt der Notarzt eine junge, schwerstluftnötige und kurz vor dem Tod stehende Frau in die Ambulanz. Eine Ärztin des SAPV-Teams hat diesen Transport aus dem häuslichen Bereich ins Krankenhaus unter dem Druck des verzweifelten Ehemanns veranlasst. Die Notfallambulanz ist überlaufen. Auf der Palliativstation gibt es kein Bett. Die Normalstationen sind personell knapp besetzt. Mit Mühe kann in der inneren Abteilung durch Verlegung von Mitpatienten in aller Eile ein Einzelzimmer zur Verfügung gestellt werden. Die examinierte Pflegekraft, die zusammen mit einer Schülerin die 35 Patienten der Station versorgt, holt die angeordnete Morphindosis aus dem BTM-Schrank. Beim Austragen des Medikaments kommen ihr plötzlich die Tränen: Sie weiß noch nicht einmal den Namen dieser sterbenden jungen Mutter. Eine Viertelstunde später ist die Frau tot. Sie hinterlässt einen verzweifelten Ehemann und zwei halbverwaiste Kinder. Und eine fassungslose Schichtleitung. Ein höchst unzufriedenes Ambulanzteam, das inzwischen herausgefunden hat, dass in dem stationären Hospiz, das unmittelbar an die Palliativstation angrenzt, ein Bett freigewesen wäre. Und eine

Edvard Munch, Despair, 1894 / akg-images / Album / VEGAP © Edvard Munch / Prisma

Tom Levold

unglückliche SAPV-Ärztin, die sich fragt, warum das ohnehin tragische Sterben dieser jungen Frau unter so desaströsen Umständen zum Abschluss gekommen ist. Verstummen, resignieren, weitermachen? Wie ist es nun möglich, mit einer solchen »unmöglichen Situation« umzugehen? Wie gehen die Mitarbeitenden, die in unterschiedlicher Weise von der Dramatik des Verlaufs traumatisiert sind, mit dieser Irritation um? Wie können sie dem Kontrollverlust und der Ohnmacht begegnen, die dem geschilderten Verlauf anhaften? Klassische dysfunktionale Reaktionen gibt es genug: stummwerden, resignativ weitermachen, gegen sich und andere stille oder halblaute Vorwürfe erheben, warten, dass die unangenehmen Gefühle abebben. Strategien, die eher Frustration, Demotivation, Regression oder Depression fördern. In dem betroffenen Krankenhaussystem gibt es nun ein Ethikkomitee und das Instrument der ethischen Fallbesprechung, das von Zeit zu Zeit bei anstehenden Entscheidungen prospektiv angewendet wird. Ein Mitglied des Ethikkomitees hat den unglücklichen Verlauf mitbekommen und regt bei den Beteiligten eine retrospektive Fallbesprechung an. Trotz einiger Widerstände (»keine

Zeit«, »bringt doch nichts«, »ist doch sowie nicht mehr zu ändern«) obsiegt ein Funke Hoffnung, es könne vielleicht heilsam sein, gemeinsam in ruhiger Atmosphäre eine moderierte und strukturierte Aufarbeitung des Geschehens vorzunehmen. Und es gelingt, drei Wochen nach dem Ereignis einen Runden Tisch zu organisieren, an dem die Ärztin des SAPV-Dienstes und die betroffenen Mitarbeiterinnen aus der Palliativstation, der Ambulanz und der Inneren Abteilung Platz nehmen. Das Gespräch wird geleitet von einem Mitglied des Ethikkomitees und einem dazugebetenen Moderator des Krankenhausträgers. Der Empörung Raum geben In einer ersten Runde werden die Anwesenden gebeten, sich mit Namen, Funktion und einer kurzen Beschreibung der Einbindung in den Prozess vorzustellen. Bereits in dieser Phase des Gesprächs wird ist die emotionale Anspannung und latente Empörung gut spürbar. Eine zweite Runde dient dazu, Anlass und Anliegen des Gesprächs zu klären. Dieser Part ist besonders kritisch, birgt er doch die Gefahr, dass es zu einer eskalierten Anhäufung von gegenseitigen Vorwürfen und zu neuen Verletzungen und Frustrationen führt. Hier ist die Moderation in beson-

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derer Weise gefragt, eine gute Balance herzustellen, in der Emotionen einerseits einen angemessenen Ausdruck finden, andererseits aber eine anschließende differenzierte, sachliche und verständliche Betrachtung nicht verhindern. Es geht darum, der nachvollziehbaren moralischen Empörung Raum zu geben und sie zugleich zu begrenzen, um eine Gesprächsatmosphäre zu fördern, in der so etwas wie ein taktvoller Diskurs möglich wird. Dieser diskursive Takt ist Voraussetzung für eine gelingende ethische Kommunikation. Er lädt die Einzelnen ein, ihre eigene Position darzustellen und zugleich die Perspektive des Anderen einzunehmen. Er fordert auf, auf Vorwürfe, moralische Diskriminierungen und Rechtfertigungen zu verzichten. Er regt an, ein Ereignis nicht nur vom Ende her zu bewerten, sondern in der historischen Entwicklung zu verstehen. Er realisiert, dass unglückliche Verläufe nicht allein auf individuelles Versagen Einzelner zurückzuführen sind, sondern auch immer in systemischen und organisationalen Kontexten eingebunden sind. Verständnis und Konsensfindung Es gelingt in dieser zweiten Phase der Fallbesprechung, einen Konsens in der Gruppe zu finden, dass alle Beteiligten mit dem Ergebnis des Versorgungsprozesses der jungen Patientin unglücklich und unzufrieden waren. Und dass es hilfreich sein könne, diesen Prozess chronologisch noch einmal aufzurollen und dabei zu versuchen, die Komplexität der jeweiligen Situation (etwa Zeitdruck, Ziel- und Interessenkonflikte) und die Restriktionen (zum Beispiel die blinden Flecke, emotionale Betroffenheit, Unvorhersehbarkeit von Entwicklungen) zu würdigen. Mit dieser Klärung von Rahmenbedingungen und methodischem Vorgehen ist es dann möglich, die einzelnen Entwicklungsschritte des Gesamtverlaufs nachzuzeichnen. Die Ärztin kann beispielsweise die häusliche und familiäre Situation vor der Verlegung ins Krankenhaus schildern, die den anderen Anwesenden im Detail unbe-

kannt war. Es wird deutlich, dass die Familie, insbesondere der Ehemann, seit vielen Wochen die fortschreitende Entwicklung der Erkrankung ausgeblendet und sich an jeden noch so zarten Hoffnungs-Strohhalm geklammert hatte. Eine Verlegung ins Krankenhaus war für ihn nur in kurativer Perspektive denkbar, der Gedanke an Palliativstation oder stationäres Hospiz dagegen ein Tabu. Es leuchtet den Gesprächsteilnehmenden ein, dass diese wochenlange Verdrängung eine Form der Krisenbewältigung für die gesamte Familie war, die die Situation einigermaßen erträglich machte, aber die Dramatik der Notsituation am Sterbetag nicht einkalkulieren konnte. Es wird auch deutlich, dass in Sterbeprozessen ohnehin nicht alles planbar ist, vor allem, wenn die Perspektive der Betroffenen durch Verdrängung und Tabuisierung eingeschränkt ist. Aus ethischem Blickwinkel stand die Ärztin über Wochen hin in dem Zwiespalt, einerseits die funktionale Berechtigung der familiären Bewältigungsstrategie anzuerkennen (Respekt vor der Autonomie), andererseits die mangelnde Tragfähigkeit dieses Verhaltens in einem absehbaren Notfall im Auge zu behalten (Pflicht zu Fürsorge für das relative Wohlergehen der Betroffenen). In der retrospektiven Fallbesprechung kann daher die vorwurfsvolle Frage »Warum haben Sie nicht rechtzeitig eine stationäre Palliativ- oder Hospizversorgung veranlasst?« sich wandeln in ein Verständnis für das Verhalten der Familie und für die Reaktion des ambulanten Versorgungsdienstes. In der akuten Notsituation eines drohenden Erstickungstodes, in der der Ehemann nun die Krankenhausverlegung einforderte, war es für die Ärztin eine Lösung, die Patientin auf die Palliativstation einzuweisen. Und damit gelangt die chronologische Aufarbeitung an die zweite Station des Prozesses: die Perspektive der Pflegekraft und Stationsleitung der Palliativ- und Hospizstation. Die Pflegekraft realisierte am Telefon die geschilderte Notsituation. Unglücklicherweise waren aber aller Palliativbetten belegt, doch im angrenzenden Hospiz war ein Platz über das Wochenende frei. Dieser

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Umstand beruhigte die SAPV-Ärztin am anderen Ende der Leitung und sie organisierte den Transport. Derweil kamen der Pflegekraft Zweifel, weil sie sich erinnerte, dass die Verwaltung seitens der Kostenträger in der Vergangenheit unter großen Druck geraten ist, wenn sie Versorgungengpässe im Krankenhausbereich durch Hospizbetten zu lösen versuchte. Daher telefonierte sie, während der Krankentransport bereits unterwegs war, mit ihrer Vorgesetzten und bringt diese in eine Dilemmasituation: Sie hört die Not des Augenblicks und kennt zugleich die strikten und für sie nachvollziehbaren Vorgaben der Verwaltung. Erschwerend kam hinzu, das für den folgenden Montag der freie Hospizplatz bereits vergeben war, so dass sie vor dem Problem stand, den Konflikt von Fürsorge für die sterbende junge Frau einerseits und der Beachtung von Gerechtigkeitsaspekten (zum Beispiel Berücksichtigung von Aufnahmekriterien und Wartelisten, Vermeidung von Fehlbelegungen) zu wahren. Sie entschied daher, die Aufnahme nicht zu erlauben. Die Darstellung dieses organisatorischen Engpasses kann in der retrospektiven Fallbesprechung die zweite vorwurfsvolle Frage (»Warum konnte ein Hospizbett unbelegt bleiben, während in der Notfallambulanz und der Inneren Station die Situation eskalierte?«) entschärfen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Rekapitulation des Verlaufs durch die »Ortsbesichtigung« der Situation in der Ambulanz und auf der Normalstation im Rahmen der retrospektiven Fallbesprechung weiter nachzuzeichnen. Hier mag genügen, die wesentlichen Aufgaben und notwendigen Perspektivwechsel noch einmal gebündelt zusammenzustellen. Resümee Retrospektive ethische Fallbesprechungen können dazu dienen: • Ereignisse nicht nur von ihrem Ergebnis her zu beurteilen, sondern aus ihrem Verlauf her











zu verstehen (von einer Produkt- zu einer Prozessorientierung); Emotionen (zum Beispiel Empörung, Schuldgefühlen, Wut) einen geschützten Raum zu geben, der aber zugleich Grenzen hat und Ausuferungen vermeidet (von der moralischen Intuition zur ethischen Argumentation); die eigene Perspektive darzustellen und die Bereitschaft zu entwickeln, die Sichtweise anderer Beteiligter oder Betroffener probatorisch einzunehmen (von einer Standpunktfixierung zur Multiperspektivität); die Fokussierung auf das Versagen Einzelner zu vermeiden und strukturelle Kontexte unglücklicher Verläufe bewusst zu machen (von der individuellen Engführung zu systemischer Perspektive); die Eskalation von intrapersonalen und interpersonellen Konflikten zu vermeiden und verständnisvolle und versöhnliche Prozesse zu initiieren (vom Schweigen zur Verständigung; von der Polarisierung zur Integration); Zwischenfälle und ungewünschte Verläufe nicht nur defizitär zu betrachten, sondern als Chance, aus der Personen und Organisationen lernen können (vom Defizit zur Ressource).

Möglicherweise ist man manchmal im Nachhinein tatsächlich klüger – wenn es beispielsweise in einer retrospektiven Betrachtung gelingt, auf Vorwürfe und Besserwisserei zu verzichten, den Verlauf sachlich zu analysieren und sich um Versöhnung und die Gestaltung zukünftiger Herausforderungen zu kümmern. Wolfgang Heinemann ist Theologe, Supervisor, Berufsschullehrer, Kranken­ hausseelsorger und klinischer Ethikberater. Er ist viele Jahre tätig in der Ausund Weiterbildung von haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden im Gesundheitswesen. E-Mail: [email protected]

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Schweigen neu erleben Psychodramatische Supervision in der ehrenamtlichen Hospiz­begleitung

Katharina Witte und Inge-Marlen Ropers

Eine Fallgeschichte Wir sitzen zu acht im Kreis. Die Teilnehmenden, fünf Frauen und zwei Männer zwischen 45 und 78 Jahren, ehrenamtliche Hospizbegleiterinnen und -begleiter, kennen sich inzwischen gut. Zwischen zehn und einem Jahr Dauer sind diese bisher in ihrem Dienst tätig. Szenisch-kreative Arbeit ist ihnen vertraut. Nach der Anfangsrunde zur eigenen Befindlichkeit und Benennung der mitgebrachten Themen und Fragen entscheidet sich die Gruppe für das Anliegen von Frau H. Frau H. (72 Jahre) betreut den 84-jährigen krebskranken Herrn O. im Pflegeheim. Seine Frau ist bereits vor einigen Jahren verstorben. Ein Stiefkind aus erster Ehe seiner Frau lebt weiter weg. Eine Tochter wohnt in der Nähe. Diese hat Frau H. einmal bei ihm getroffen. Sie ist Herrn O. wohl auch emotional mehr verbunden. Frau H. besucht ihn nun seit einem Monat zweimal in der Woche. Anfangs hat er noch ein paar Sätze mit ihr gesprochen, doch inzwischen ist keine Unterhaltung mehr möglich. Er schaut sie zeitweise an, hat die Augen jedoch zwischendurch oft geschlossen und spricht seit zwei Wochen nicht mehr. Es kommen keine Reaktionen auf ihre Fragen und Gesprächsangebote. Sie ist unsicher, wie viel er von ihrem Besuch noch mitbekommt. Sie zweifelt inzwischen auch daran, ob es richtig ist, dennoch immer weiter mit ihm zu reden. Sie hat schon überlegt, ob auch sie lieber schweigen soll. Sowohl ihre Ratlosigkeit sowie auch ihre Frustration sind hör- und sichtbar.

Sofort gibt es zwei, drei Reaktionen aus der Gruppe, die bestätigen, dass sie dieses Pro­ blem auch schon gehabt hätten, ebenfalls unsicher gewesen seien und gern heute dazu arbeiten würden. Anhand dieser Fallgeschichte haben wir, zwei Supervisorinnen und Psychodramatikerinnen, uns zusammengesetzt und die folgenden unterschiedlichen Bearbeitungsmöglichkeiten entwickelt und diskutiert. Variante 1 Bearbeitung als Szene Die Supervisorin bietet Frau H. an, das von ihr Erlebte einmal in einer Szene anzuschauen, um so neue Erkenntnisse und Impulse zu gewinnen. Angeleitet durch die Supervisorin stellt Frau H. zwei Stühle als Bett für Herrn O. in den als Bühne abgegrenzten Raum. Daneben stellt sie einen Stuhl für sich. Sie blickt in die Runde der anderen sechs anwesenden Hospizbegleiter und -begleiterinnen und fragt schließlich Herrn M., ob er bereit sei, die Rolle von Herrn O. einzunehmen. Herr M. stimmt zu und kommt auf die Bühne. Nun bittet die Supervisorin Frau H., vorerst selbst die Rolle des kranken Herrn O. zu übernehmen, damit die Teilnehmenden ein Bild von ihm bekommen. Sie fordert   →

Variante 2 Bearbeitung als Gruppenthema Die Supervisorin fordert die Gruppe auf, sich zu Paaren zusammenzutun, sich einander gegenüberzusetzen und zu schweigen, zwei Minuten mit geöffneten Augen und dann weitere zwei Minuten mit geschlossenen Augen. Dann folgt die Anweisung, dass eine spricht und der andere schweigt. Dabei hat der Schweigende zwei Minuten die Augen geöffnet und anschließend zwei Minuten geschlossen. Dann erfolgt ein Wechsel der Rollen. Nach einer kurzen individuellen Besinnung erfolgt ein Austausch im Kreis über das Erlebte und dabei Gefühlte. Unsicherheit, Ungeduld, sich abgewiesen fühlen, aber auch Ruhe, Innigkeit ohne Worte, Entspannung, Erholung, Nähe, … können so erfahren werden.

m.schröer

sie auf, sich Zeit zu nehmen und nachzufühlen, wie es ihm wohl ergeht, auszusprechen, was er denkt und spürt … Anschließend übernimmt Herr M. die Rolle von Herrn O. und wiederholt das Gesagte einschließlich der Körperhaltung. Frau H. hört sich das von ihrem Stuhl aus an und benennt ihre Gefühle dazu. Danach bittet sie eine weitere Ehrenamtliche, sich an ihrer Stelle lediglich still auf den Stuhl am Bett zu setzen. Die Szene wird wiederholt und Frau H. und die Gruppe können jetzt noch einmal von außen aus der Spiegelposition heraus auf die Situation schauen. Bei allen entsteht auf diese Weise eine intensive Einfühlung. In einer anschließenden Auswertungsrunde sprechen sie über ihre Eindrücke und können zu einer eigenen und gegebenenfalls neuen Haltung gegenüber dem Schweigen kommen.

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Variante 3 Symbolarbeit Auf einem Tisch breitet die Supervisorin diverse Symbole aus: Tücher in mehreren Farben, kleine Spielzeugteile wie Play­ mobil-­Figuren, Autos, Tiere aus Holz, bunte Steine, Postkarten. Sie bittet jede der Hospizbegleiterinnen und -begleiter, sich drei Symbole davon zu nehmen, die für das stehen, was sie spontan mit Schweigen und was sie mit Sprechen in einer Begleitung verbinden. Die Männer und Frauen sollten in aller Ruhe auswählen können. Zurück im Kreis legen alle die Symbole vor sich hin und tauschen sich über ihre Wahl und die dahinter liegenden Bedeutungen und Gefühle aus. Die Beiträge werden nicht kommentiert. Jeder schaut im Anschluss, was er aus dieser Runde für sich mitnehmen kann. Variante 4 Biografiearbeit Mit welchen Gefühlen ist das Schweigen und das Nicht-in-Kontakt-Kommen verbunden? Sind diese Gefühle eher angenehm oder unangenehm und gibt es biografische Wurzeln? Die Supervisorin legt ein Seil quer durch den Raum und bezeichnet die Enden mit Ș Schweigen ist eher angenehm, entspannend. Ș Schweigen ist eher belastend, macht Druck. Jetzt bittet Sie die Gruppenmitglieder, sich an konkrete Situationen des Schweigens oder der Nichtkommunikation in ihrem Leben zu erinnern, am Seil entlang zu gehen und für sich einen Platz auf dieser Gefühlsskala zu finden, an dem sie stehen bleiben. Haben alle ihren Platz gefunden, folgt ein Austausch, beginnend mit: »Ich stehe hier, weil …« Der Austausch wird zeigen, dass es keine Objektivität gibt, wird zeigen, wie sehr jede eingebunden ist in die eigene biografische Prägung.

Variation 5 Aufstellung zur Bedeutung der eigenen Rolle In dem als Bühne bezeichneten Raum bittet die Supervisorin Frau H., für sich und für Herrn O. jeweils eine Teilnehmerin zu wählen und beiden einen Platz auf der Bühne zu geben. Wer ist noch beteiligt in dem System rund um Herrn O.? Zum Beispiel die Tochter und Stieftochter, Pflegerinnen und Pfleger, die Ärztin, die Pastorin …? Alle relevanten Personen werden von Frau H. aus dem Gruppenkreis gewählt und bekommen einen Platz auf der Bühne, ohne weitere Erklärung zu den Personen, für die sie Stellvertreter sind, nur jeweils mit einer körperlichen Ausrichtung zu Herrn O. (zugewandt, abgewandt, eventuell eine Handhaltung …) Dann bittet die Supervisorin alle Beteiligten, nacheinander in ihrer Rolle laut zu ­assoziieren: Was fühlen und denken sie? Es wird alle erstaunen, welch eine Vielfalt an stimmigen Eindrücken und Beziehungen da zusammenkommt. Anschließend, wenn alle ihre Rollen wieder abgestreift haben, kommen sie im Kreis zusammen, betrachten den Gesamteindruck und die Rolle von Frau H. in diesem System.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

8 2   K a t h a r i n a W i t t e u n d I n g e - M a r l e n R o p e r s

Variation 6 Inneres Gefühlsteam als Einzelarbeit in der Gruppe Die Supervisorin bittet Frau H., für sich einen Stuhl in den als Bühne definierten Raum zu stellen und sich darauf zu setzen, als »Chefin« ihrer Gefühle. Jetzt bittet sie Frau H., nach und nach für die auftauchenden Gefühle – das könnten sein: Unsicherheit, Leistungsdruck, Pflichtgefühl, Gelassenheit, Verbundenheit, Frustration – jeweils einen Stuhl zu nehmen. Diesen positioniert sie im Abstand, je nach Wichtigkeit, zu ihrem Chefinnenstuhl, anschließend nimmt sie auf jedem Stuhl Platz und beginnt im Rollentausch mit dem Gefühl laut zu denken (»ich als …«). Immer wieder zurück auf ihrem Stuhl als Chefin der Gefühle betrachtet und bewertet sie die einzelnen Gefühle, holt deren Stühle näher ran oder schiebt sie weiter weg. Sie wird vermutlich feststellen, dass Hilflosigkeit bei weitem nicht das einzige Gefühl ist und dass sie bestimmen kann, wie viel Raum und Bedeutung sie den unterschiedlichen Gefühlen geben will. Jede der Teilnehmenden wird währenddessen ihre eigenen Gefühle zum Thema wahrnehmen und bewerten. Diese bekommen im anschließenden Gruppenaustausch ihren Raum.

Kommentar Als Leserin und Leser haben Sie jetzt sechs Varianten der Bearbeitung erlebt. Warum arbeiten wir so? Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass szenisch-kreatives Arbeiten Gruppenteilnehmende dabei unterstützt, sich selbst intensiver zu erfahren. Auch die Einfühlung in andere wird durch den Rollentausch gefördert.

Die Einbeziehung von Körper, Geist und allen Sinnen bringt Einzelne und Gruppen in Bewegung und verhilft zu neuen Erkenntnissen. Die Entscheidung für die gewählte Methode richtet sich dabei immer • nach dem jeweiligen Anliegen und nie umgekehrt (die Methode hat immer eine »dienende« Rolle im Prozess der Beratung); • nach der Tragfähigkeit der Beziehung innerhalb der Gruppe und zur Supervisorin. Daraus folgt, dass jede Methode mit Respekt und Behutsamkeit eingesetzt wird, immer als Vorschlag und Einladung, gemeinsam etwas zu untersuchen. Wichtig bleibt dabei immer, die Bereitschaft der Gruppe zu berücksichtigen und eine ausreichende Phase der thematischen Erwärmung zu ermöglichen. Beim konkreten Vorgehen lässt sich die Supervisorin von ihrer Intuition leiten, die aus ihrer Erfahrung auf der Grundlage einer fundierten Ausbildung gespeist wird. So wird psychodramatische Supervision zur intensiven und bereichernden Erfahrung für jeden Einzelnen und für die Gruppe insgesamt meist als besonders verbindend erlebt. Katharina Witte ist freiberuflich tätig in Supervision (DGSv), Lehrsupervision und Weiterbildung, Psychodramatikerin und Leiterin von Playbacktheater Bremen. Das Playbacktheater spielt gerne im Bereich von Hospiz und Trauerarbeit, Informationen und Kontakt unter www. playbacktheater-bremen.de und www. fehrfeld.de E-Mail: [email protected] Inge-Marlen Ropers ist freiberufliche Supervisorin/Coach (DGSv), Lehrsupervisorin, Psychodramaleiterin (DFP) und Lehrbeauftragte am ISI-Institut für Soziale Interaktion in Hamburg. Sie hat langjährige Erfahrung als Supervisorin im Bereich Ehrenamtlicher Hospizbegleitung und in der Palliativpflege. E-Mail: [email protected] Website: www.inge-marlen-ropers.de

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Bühne frei Psychodramatisches Arbeiten im Rahmen der Trauerbegleitung

Matthias Schnegg Eine Frau trauert um ihren Mann. Ihr fehlen die letzten Worte, die sie brauchte, um sich sicher zu sein, dass ihr Mann sie bis zum letzten Atemzug liebte. Die Frau tut sich schwer, ihren Gefühlen Raum zu lassen. Sie meint, dass es ihr nicht zustünde, anderen ihre Empfindungen aufzudrücken. Sie hätte so gern seine letzten Worte aufgenommen. Aber die kamen nicht mehr. Zurückgelassen beugt sie sich unter die Wucht der Trauer. Ganz anders Herr K., der sich bewusst bei mir gemeldet hat, weil er gehört hat, dass Psycho­ drama so richtig zur Sache gehe. Er wollte alles in Szene setzen – und war sichtlich enttäuscht, dass nur sehr spärlich psycho­dramatische Elemente in die Begleitung seiner Trauer einflossen. Zwei Beispiele aus Begleitungen Trauernder. Im Schicksal der Frau wurde das intensive psychodramatische Arbeiten zu einer Öffnung der Empfindungen und zum Zumutendürfen, anderen diese Empfindungen mitzuteilen. Sie fand über den Weg der Bühne einen Ort der Wiederbegegnung mit ihrem Mann. Sie konnte sich erwärmen in die Situation einer Begegnung. Sie konnte die in ihr lebende Gewissheit zu Sprache bringen. Es ist die Gewissheit jenes nicht ausgesprochenen Satzes, den sie so vermisste. Im Rollentausch während einer psychodramatischen Einheit war es möglich, diesen in ihr lebenden Satz aus der Rolle des verstorbenen Ehemannes zu sagen: »Danke, dass wir uns hatten – in guten und schweren Tagen.« Als Frau M. durch die Übernahme der Rolle ihres Verstorbenen diesen Satz als Gewissheit in

sich wusste, konnte sie die Katharsis erleben: die Aufweichung der Trauererstarrung ermöglichen und die Ermutigung erfahren, aus der Vergewisserung der Tiefe der Beziehung weiterleben zu können. Der letzte Satz ist diese Gewissheit, die sie in sich trug und nach der Bühne des Psychodramas noch gewisser in sich trägt. Herr K. hat auch Elemente des psychodramatischen Zugangs erleben können, aber bewusst sehr dosiert. Es kann nämlich passieren, dass durch aktive Dramatisierung der Zugang zu Empfindungen nicht etwa bereitet, sondern durch Agitation (statt Schöpfung) verdeckt oder überspielt wird. Es lag die Vermutung nahe, dass er seine Not mit dem Verlust seiner Frau auf besonders aktive Dramatisierung letztendlich nicht erfassen lernte. Psychodrama als Methode und Haltung Das Instrumentarium der psychodramatischen Arbeit ist sehr reichhaltig.1 Ziel ist es, Menschen zur Katharsis, zur Heilung dessen zu führen, was unverbunden neben ihnen herläuft. Die Trauer leidet oft unter dieser Verlusterfahrung des Unverbundenen. Der Tod in seiner brutalen Endgültigkeit wird nicht selten als Halbierung der eigenen Persönlichkeit erlebt. Bleibend schöpferisch Das Psychodrama ist eine Methode und als solche vor allem ein Handwerkszeug, das im Dienst einer Haltung, im Dienst eines Menschenbildes steht. Der Erfinder des Psychodramas, Jacob Levy Moreno, hat die Fähigkeit des bleibend Schöpferischen betont. Jeder Mensch ist Geschöpf, aber

Edvard Munch, The Dance of Life, 1925 / akg-images / Album / VEGAP © Edvard Munch / Prisma

auch Schöpfer. Die Fähigkeit, schöpferisch Leben zu gestalten, hört nie auf. Selbst in den begrenzenden Engungen des Lebens bleibt – nach Moreno – ein Spielraum für das Schöpferische. Die Bühne ist Austragungsort des schöpferischen Erfahrens der Protagonisten. Das Spiel bringt Erfahrungen, Anfragen, manchmal auch nur sehr diffuse Ahnungen auf die Bühne, um mit ihnen zu spielen, will sagen: um mit ihnen schöpferisch zu wirken. Ziel dieser Schöpfung ist die Wiederverbindung mit dem Unheilen, dem Verlorengegangenen.

Im Fall der Trauer kann die Rolle helfen, unbewusst gewusste Wirklichkeiten benennen zu können. Die Rolle kann helfen, die Verbindung zu dem Verlorenen wieder aufnehmen zu können. Der schöpferische Akt liegt unter anderem darin, mit dem auf der Bühne Erlebten die neue Art der Verbindung über den Tod hinaus gestalten zu lernen. Manchmal sind es kleine Einsichten, die ganz allmählich dem Weg der Trauer ein kräftigendes Fundament entstehen lassen. Psychodrama in der Gruppe

Methodische Elemente Der Rollentausch ist ein wichtiges Element auf der Spurensuche. Die Protagonistin nimmt eine Rolle ein. Sie wird über die Erwärmung so weit als möglich in die Identität dieser Rolle geführt. Was sie aus dieser Rolle sagt, erlebt, wahrnimmt, das wird ihr helfen können, sich wieder ein Stück ganzer zu schaffen. Aus der Rolle kann sie sprachfähig machen, was sie vielleicht als Gewissheit in sich trug, wofür sie aber keine Öffnung in ihrer Wahrnehmung hatte. Die Rolle kann etwas aussprechen, was in ihr war, wozu sie aber keinen erkenntnisgebenden Zugang hatte. Die Rolle gibt nicht nur kognitive Aussagen frei. Die Rolle hat einen Widerhall an emotionalen Erfahrungen. Am Ende eines jeden psychodramatischen Spiels ist das Abstreifen der Rolle so wichtig, um wieder die eigene Identität anzunehmen. Ebenso wichtig ist die Reflexion über das in der Rolle Erlebte. Das kann helfen, sich Klarheit zu schaffen.

Wenn das psychodramatische Arbeiten in einer Gruppe – etwa auch Trauergruppe – zum Zuge kommt, ist die Gruppe hilfreiches Instrument, um dem Protagonisten eine Katharsis zu ermöglichen. Als sogenannte Hilfs-Ichs übernehmen einzelne Gruppenmitglieder Rollen. Ihre Rückmeldung bei der Reflexion am Ende der Bühnenaktion kann dem Protagonisten sehr hilfreiche Ergänzung seiner eigenen Wahrnehmung sein. Eine Trauernde ist völlig verunsichert, weil sie sich von der Nachbarin schroff abgelehnt fühlt. Das schnürt ihr das Leben ab. Sie erlebt sich schon lauschend hinter der Etagentür, ob die Nachbarin eventuell da sein könnte. Wenn sie sich sicher ist, dann huscht sie schnell aus der Wohnung und ist erleichtert, dass sie der Nachbarin nicht begegnet ist. Die Protagonistin bringt eine Szene auf die Bühne, wie sie hinter der Wohnungstüre lauscht, ob

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die Nachbarin da ist. Die Protagonistin weist der Nachbarin auf der Bühne einen Platz in deren Küche zu. Die Rollenanweisung an das Hilfs-Ich: »Du sitzt ganz entspannt in der Küche, hast keine Ahnung, dass du der Trauernden Angst einjagst. Du bist Nachbarin.« Auf der Bühne werden die Rollen frei ausgespielt: die Nachbarin in der Küche, die Tür, hinter der die Trauernde lauert, die Trauernde selbst. Die Protagonistin gibt Rollenanweisungen zum Anfang. Die Rollenträger/-innen dürfen im Rahmen der Anweisung improvisierend die Rolle ausspielen. Die Protagonistin schaut von der Seite zu. Sie schwankt zwischen Scham und Belustigung, sich auf der Bühne so ängstlich hinter der Tür zu sehen. Sie staunt über die Freiheit der Nachbarin, die offenbar keinen feindseligen Gedanken an die Trauernde verschwendet. Sie ist nicht sehr mitfühlend, aber auf keinen Fall ablehnend. In der Reflexion des Spiels geben die Rollenträger/-innen ihre Empfindungen aus der jeweiligen Rolle wieder. Die Protagonistin erlebt das als eine für sie zunächst völlig neue Einschätzung der Situation, die sie bisher so beängstigt. Mit Humor hört sie der »Wohnungstür« zu, die auch als Rolle auf der Bühne war. Die Protagonistin hört, wie die Wohnungstür sich fremdschämt beziehungsweise lustig machen wollte – wenn es nicht so anrührend wäre, die Trauernde so verängstigt zu sehen. Die Tür spricht auch ihre Hilflosigkeit aus, aber auch ihren tiefen Wunsch, die Trauernde möge diese Selbstdemütigung aufgeben können. Das Erleben eines Psychodramas in der Gruppe hat vielfältige Hilfen für die Protagonistin zur Verfügung. Neben den Rollenrückmeldungen ist das Sharing direkt nach einem Psychodrama so kostbar. Da teilen Gruppenmitglieder mit, was sie von dem kennen, was sie auf der Bühne gesehen haben. Oft schafft dieses Sharing einen Raum der Solidarität des Menschseins und kann das selbsterniedrigende Schamgefühl der Protagonistin mindern.

Die Trauernde erfährt die Möglichkeit einer Erweiterung der eigenen, sehr eingeschränkten und auf Ablehnung fixierten Erfahrung. Sie kann es nun zumindest für denkbar halten, dass ihre Nachbarin sie nicht ablehnt. Das wird ihr – schöpferisch – andere Möglichkeiten der Begegnung mit der Nachbarin und einen eigenen Freiraum eröffnen. Eine Methode unter anderen Das Psychodrama ist eine unter anderen Methoden. Sie ist nicht für jede Situation geeignet. Es gibt Zustände, in denen ein Spiel nicht angezeigt ist – sei es, dass das Spiel dazu beitragen könnte, die eigene Wahrheit zu überspielen, sei es, dass der Zugang zu kreativen Möglichkeiten fundamental blockiert ist. Wenn denn die Bühne als Begleitmethode nicht angemessen erscheint, können Teilaspekte der psychodramatischen Methodenmöglichkeiten als Segment sinnvoll eingesetzt werden – im Erwärmen in Situationen oder von Menschen; oder in der Übernahme von Rollen und in der Reflexion des Rollenerlebens. Das Psychodrama als Methode kann im Denkansatz des Begleitenden die Grundüberzeugung mitnehmen, dass der Mensch immer Schöpfer ist und bleibt. Und dass das Verinnern eines existenziellen Verlustes ein hochschöpferischer Akt ist, das wissen alle, die nach einem oft an die Grenze des Überlebensfähigen durchlittenen Weg zu einer Katharsis, zu einer Neueinladung ins Leben, in einen neuen Schöpfungstag gelangen durften. Matthias Schnegg, Pfarrer zweier Kölner Altstadtkirchen, Mitgründer des Hospiz in Frechen e. V., Dozent im Kontext Palliativ und Hospiz, Psychodramaleiter. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1 Ausführliche und mit Praxisbeispielen untermauerte Ausführungen zum psychodramatischen Arbeiten in der Trauerbegleitung in: Matthias Schnegg, Erwärmen in der Trauer. Psychodramatische Methoden in der Begleitung. Göttingen, 2014.

Vo n d e r L u s t u n d d e r L a s t m i t d e n M e t h o d e n

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Hypnosystemische Krisenintervention Katharina Kautzsch Im Verlauf meiner beruflichen Tätigkeit als systemische Therapeutin und Beraterin sind mir viele Menschen in verschiedenen Krisensituationen begegnet. Mitunter erlebe ich es als wohltuend, wenn sich Menschen an mich wenden, um sich außerhalb von Krisensituationen mit Entwicklungen, Veränderungen oder langanhaltendem Leidgefühl, welches sich eher unterschwellig bemerkbar macht, unterstützen zu lassen. Dennoch ist es natürlich meine Aufgabe, mit Menschen durch ihr Krisenerleben hindurchzugehen und nach Wegen im Umgang damit mit ihnen gemeinsam zu suchen, kommen sie doch in genau in solchen Momenten zu mir, in denen sie selbst nicht mehr weiterwissen. Krisenerfahrungen Während meiner eigenen 51 Lebensjahre habe ich, und das ist irgendwie auch selbstverständlich, selbst einige Krisenerfahrungen durchlebt und mich mitunter dabei auch unterstützen lassen, wenn auch ich nicht weiterwusste. Dabei habe ich viel über die Vielgestaltigkeit von Krisensituationen gelernt. Ich bin kleinen und großen, heftigen und milder verlaufenden, kurzen, aber sehr eindrucksvollen und erschütternden, und länger verlaufenden krisenhaften Situationen begegnet. Eines hatten alle gemeinsam: Sie gingen mit starken Gefühlen von Angst, Wut oder Traurigkeit einher und benötigten die vollständige Aufmerksamkeit. Mit zunehmendem Alter und damit gewachsenen Erfahrungen im Umgang mit schweren Lebenssituationen lernte ich, in vorherigen Krisen gelernte Kompetenzen zu aktivieren und mehr und mehr zu wissen, dass eine Krise vorübergeht.

Mein eigenes Erleben zu reflektieren, um den Krisen der Menschen, die ich begleite, mit Acht­ samkeit, Demut und Respekt vor ihrer eigenen Kri­ senkompetenz in schwierigen und schwersten Momenten im Leben zu begegnen, ist mir damit ein wichtiges Anliegen geworden. Auf der Basis dieser Haltung lassen sich in Krisensituationen viele bereits für etwas innere Ruhe sorgende Fragen stellen: • Was ist das besonders Schwere an diesem Lebensmoment? • Was ist der Unterschied zu meinem sonstigen Erleben? • Reißt es mich fort in tiefes Leiderleben oder gibt es innere und äußere Stimmen, die mir bisher geholfen haben oder mir jetzt helfen könnten, mich durch dieses Erleben zu steuern? • Was bräuchte ich in diesem Moment, um trotz schwerem aktuellem Erleben ein wenig Zuversicht zu spüren? • Wie habe ich ähnliche Situationen bewältigt? • Welche Unterstützung hat sich bisher als krisenabschwächend – oder überwindend als -hilfreich herausgestellt? Eine Frage scheint mir in tiefen Verlusterfahrungen oder anderen als sehr belastend erlebten Momenten sehr wichtig: • Erlebe ich in meiner Krise so tiefen Schmerz, Verzweiflungs- oder Hilflosigkeitserleben, dass nicht weiterzuleben auch eine Möglichkeit wäre?

Paul Klee, Entwurf für einen Mantel, 1931 / akg-images

8 8   K a t h a r i n a K a u t z s c h

Um das eigenen Leiderleben zu differenzieren und sich selbst liebevoll unterstützen zu können, können die Frage nach einer mitdurchlebten Krisensituation bei einem nahen Menschen und die Erfahrungen damit hilfreich sein: • Wie habe ich dieses Krisenerleben erfahren? Wie habe ich mich verhalten, intuitiv oder mit guter Überlegung, um zu helfen oder mit auszuhalten, oder war es nur schwer auszuhalten? Das hypnosystemische Modell Diese und weitere Fragen können die Verbindung zu hypnosystemischen Interventionsspielräumen herstellen. Das hypnosystemische Modell ist von Gunther Schmidt entwickelt worden. Die Notwendigkeit eines solchen Modells hat er definiert über die systemische beziehungs-, interaktionsund wechselwirkungsbezogene Sicht auf die Menschen und die äußeren Systembezüge, in denen sie leben. Es ging ihm darum, einen anderen als den verhaltensbezogenen oder tiefenpsychologischen Ansatz für das intraindividuelle System Mensch zu entwickeln, welchem vergleichbare Grundprinzipien zugrunde liegen wie in der Beschreibung äußerer Systeme und deren Wechselwirkungsbeziehung: • Fokus im Hier und Jetzt • Untersuchung von Interaktionen und Wechselwirkungsbeziehungen • Potenzial-, Ressourcen-, Kompetenzorientierung • erfahrungsbasiertes ganzheitliches Erleben und darin vorhandene Veränderungsmöglichkeiten • Erweiterung der Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten • Veränderung von Wahrnehmungen zur Beeinflussung von Wirklichkeitskonstruktionen • Probleme als Lösungsversuche zu verstehen und anderes mehr

Mit den systemischen Grundideen, den damit verbundenen Systemtheorien und der Grundhaltung von Augenhöhe, Wertschätzung und Ressourcenorientierung hat Gunther Schmidt die hypnotherapeutischen Ideen und Erkenntnisse von Milton Erickson verbunden, die dem Unbe­ wussten im systemischen Raum einen Platz geben. Die systemische Vorgehensweise wird verbunden mit bildhafter und metaphernreicher Sprache und dem symbolreichen Kosmos in uns, den die Psychoanalytiker/-innen bereits beschrieben haben. Es geht um einen Fokus auf die verschiedenen sensorischen Eindrücke in Kombination mit Bildern, etwa sich einen Ort vorzustellen, an dem das Leidgefühl etwas nachlassen kann, weil es an diesem imaginierten Ort warm, hell und sonnig sein könnte und diese innere Information andere optische, akustische, olfaktorische, kinästhetische Sinnesreaktionen hervorruft und ein anderes Körpererleben möglich macht. Dies hat demnach auch ein verändertes emotionales und, so der Verstand liebevoll dazu eingeladen wird, auch ein anderes mentales Erleben zur Folge. Hypnosystemische Krisenintervention Die Grundidee für die hypnosystemische Krisenintervention fußt auf den inzwischen zahlreich neurobiologisch evaluierten Erfahrungen, dass wir in der Lage sind, das Hier und Jetzt mittels innerer Bilder in kurzer Zeit anders zu steuern, zu erleben und neue Umgangsmöglichkeiten mit dem aktuellen Leid zu finden. Dies ist zunächst eine kurze Veränderung, die durch bewusst gesteuerten Einsatz der inneren hilfreichen sensorisch ganzheitlich erlebten Eindrücke und Erfahrungen wiederholt werden muss. Durch die Neuvernetzung im Gehirn wird sie Stück für Stück schneller erlebbar und mitunter auch automatisierbar. Auch wenn das aktuelle Leid zunächst vielleicht für den Moment nur marginal leichter wird, ist doch die Erfahrung, etwas tun zu können und nicht nur vom Leid »geflutet« zu werden, eine wichtige und Hoffnung gebende Erfahrung.

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H y p n o s y s t e m i s c h e K r i s e n i n t e r v e n t i o n    8 9

Dabei ist es für mich immer wieder beeindruckend zu erleben, dass dem Gehirn so gut wie egal zu sein scheint, ob dies reale äußere Erfahrungen oder imaginierte innere Erfahrungen sind. Gemäß der hypnosystemischen Problemdefinition von Gunther Schmidt, dass »ein Problem niemals ein Problem ist, sondern immer die Wahrnehmung der Soll-Ist-Diskrepanz«, die mit diesem Problem einhergeht (2005, S. 60 f.), finde ich es hilfreich, sich auf das Erleben in der Krise und nicht auf die Krise selbst zu konzentrieren. Ein anderer auch aus dem systemischen Arbeiten bekannter wichtiger Aspekt ist der Einbau einer Zielorientierung für den weiteren Umgang innerhalb der Krise: die Frage danach zu stellen, was ein Zielwunsch (Schmidt 2005, S. 80 ff.) für die nächsten Stunden, Tage oder Wochen, vielleicht bis zum nächsten Beratungstermin sein könnte. Bei Verlusterfahrungen wie der Tod eines nahen Menschen (oder auch eines sehr vertrauten Haustieres) oder bei Trennungen sagen Menschen häufig, dass sie sich erst wieder besser fühlen können, wenn der Verlust rückgängig gemacht werden kann oder die Situation wieder so ist wie vor der Krise. Dies ist aus hypnosystemischer Sicht sehr nachvollziehbar und verständlich, macht es doch deutlich, wie schwerwiegend und einschneidend diese Krisensituation wirkt. Wie oft wünschen sich Menschen, dass Helfer/-innen die Realität verändern können und sie befreit werden aus der aktuellen Krise. Was ich als Befreiung für mich selbst in der Rolle der Therapeutin erlebt habe, war, wie entlastend die authentische und einfühlsame Würdigung des Er­ lebens in dieser Phase der Beratung ist. Und meine Erfahrung ist auch, dass die folgende Frage nach dem zweit-, dritt- oder viertbesten Ziel, wenn doch das erste in der äußeren Realität nicht veränderbar ist, dann weitere Schritte möglich macht, wenn das Leid »stimmig« gewürdigt ist. Dies kann ein sehr aufwendiger Arbeitsschritt sein je nach unterstützenden und Trosterfahrungen, die Menschen im Verlauf ihres Lebens gemacht haben.

Handhabbare, umsetzbare und erreichbare Ziele für vielleicht erste kleine »Leidpausen« und Selbstfürsorge mit obengenannten Fragestellungen und imaginiertem entlastenden ganzheitlichen inneren Erleben zu entwickeln, ist die Aufgabe der hypnosystemischen Krisenintervention. Das zweit-, dritt- oder viertbeste Ziel zu konkretisieren, um etwas leichter, etwas besser, etwas hoffnungsvoller die Krise gestalten und steuern zu lernen und im Leid einen Sinn für die Zukunft zu finden, ist mein Anliegen in der Begleitung durch die schwersten und schwierigen Momente im Leben.

Katharina Kautzsch, Diplom-Psychologin, ist systemische Therapeutin, Familientherapeutin, Hypnotherapeutin, Systemische Supervisorin, Coachin, Lehrende für systemische Therapie und Beratung, Heilpraktikerin für Psychotherapie. E-Mail: [email protected] Literatur Kachler, R. (2010). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg. Schmidt, G. (2004). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg. Schmidt, G. (2005). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg.

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Das Ressourcen-Fundament Matthias Richter

christophe papke / photocase.de

Das Ressourcenfundament ist ein erlebnisorientiertes Instrument zur Bewusstmachung und Stärkung persönlicher Ressourcen. Es eignet sich insbesondere für Situationen großer persönlicher Verunsicherung, etwa in Wendezeiten oder nach persönlichen Verlusten. Es ermöglicht eine sinnlich-körperliche Erfahrung der eigenen Ressourcenbasis und kann deshalb zur Stabilisierung in Krisensituationen genutzt werden. Zur Durchführung wird vor allem ein stabiles Material benötigt, aus dem das Fundament gebaut wird. Besonders geeignet sind Holzklötze (Maße ca. 15 × 10 × 3 cm), die in einer Stückzahl von wenigstens 30 zur Verfügung stehen sollten. Alternativ sind auch Materialien mit geringerem Gewicht denkbar, wie zum Beispiel Filzplatten. In jedem Fall muss das Material die Möglichkeit bieten, eine Fläche herzustellen, auf der die Klientin bequem stehen kann. Die Übung wird eingeführt mit dem Angebot, eine stärkende sinnliche Erfahrung mit den eigenen Kräften und Ressourcen zu ermöglichen. Nach der Zustimmung der Klientin wird diese eingeladen, für jede Ressource, die ihr für ihre aktuelle Situation einfällt, bis zu drei Klötze flach nebeneinander auf den Fußboden zu legen, mög-

lichst ohne Lücken. Die Anzahl der Klötze bestimmt die Klientin selbst, entsprechend ihrer subjektiven Empfindung zur Bedeutung dieser Ressource: Besonders bedeutsame Kräfte erhalten drei Steine, die anderen weniger. Häufig erweist sich der Hinweis als nützlich, dass die Klientin sich nicht merken muss, welcher Stein für welche Ressource steht. Wenn Klientinnen sich schwertun, Ressourcen zu benennen, kann mit den systemischen Fragetechniken unterstützt werden. Nach und nach entsteht so eine Fläche, die von der Klientin betreten werden kann. Dazu sollte sie erst eingeladen werden, wenn die Fläche hinreichend groß geworden ist (mindestens 50 × 50 cm). Um einen intensiven sinnlichen Eindruck zu ermöglichen, sollte die Klientin vor dem Betreten die Schuhe ausziehen. Wenn die Klientin auf der Fläche steht, wird sie eingeladen, die Augen zu schließen und über die Fußsohlen ihre Ressourcenbasis wahrzunehmen. Dies darf sie solange tun, wie sie es mag; sie kann sich dabei auch vorsichtig auf der Grundlage bewegen. Die Phase der Wahrnehmung sollte nicht durch Fragen oder Anmerkungen der Beraterin begleitet werden, damit sich die Klientin in Ruhe auf ihre eigene Wahrnehmung konzentrieren kann. Wenn die Klientin den Eindruck hat, ihre Ressourcenbasis hinreichend gespürt zu haben, darf sie das Fundament wieder verlassen. Abschließend kann der Prozess durch eine kurze Metakommunikation abgeschlossen werden. Matthias Richter, Diplom-Psychologe, systemischer Berater, Therapeut, Supervisor und Lehrender, ist Mitinhaber des Hamburgischen Instituts für systemische Weiterbildung (hisw) und Vorstandsmitglied der DGSF. E-Mail: [email protected]

    

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FORTBILDUNG

Anstelle einer Fortbildung In diesen Krisenzeiten, in denen uns die Covid19-Pandemie zu körperlichem Abstand zwingt, fallen vielerorts Trauer-Cafés, offene Trauerge­ sprächskreise und Trauergruppen aus. Hospize und Altenpflegeheime sehen sich gezwungen, Besuche von Angehörigen und Freunden am Patientenbett einzuschränken oder sogar ganz aufzuheben. Die Spitzenverbände raten dazu, den trauernden Men­ schen und irritierten Angehörigen Telefongesprä­ che anzubieten. Das klingt vernünftig und lässt meinen, dass das doch einfach sei, gehört doch das Telefonieren zu unseren täglichen Verrichtungen. Aber das Telefongespräch in einer Krisensituation ist etwas anderes, ist eine hohe Kunst. »Sind Sie noch dran? Warum sagen Sie nichts?« Von die­ sem hilflos-dringlichen Satz im Telefongespräch mit

einer trauernden Frau berichtet mir eine Hospiz­ koordinatorin. Sie konnte mit der Stille und dem möglichen Weinen am anderen Ende nicht umge­ hen. »Sonst habe ich ja ein Gesicht vor mir, eine Mi­ mik, eine Körperhaltung, woran ich erkennen kann, was mit meinem Gegenüber ist«, erklärte sie mir. So haben wir uns für dieses Methoden-Themen­ heft entschlossen, einige förderliche Aussagen zur Krisenbegleitung am Telefon zu vermitteln. Mög­ licherweise lassen sich diese auch in einem Kurs üben, wenn jeweils die Hälfte der Teilnehmenden hinter einem Flipchart oder einer Moderations­ wand sitzt. In diesen Wochen haben wir auch gute Erfah­ rungen mit dem Einsatz von Tools für Online-Be­ sprechungen gemacht. Probieren Sie es aus!

Tony Styger

Ein Telefon ist einfach zu nutzen und ermöglicht eine verlässliche und schnelle Kontaktaufnahme ohne große Hemmschwellen. Somit ist es auch in einer Krise äußerst hilfreich, um sich Unterstützung und Begleitung zu holen. Man kann eine Begegnung am Telefon und ein »Vier-Augen-Gespräch« nicht gegeneinander ausspielen; ein Telefongespräch hat seine eigene Qualität. Gerade weil der Kontakt per Computer und Smartphone über das Internet mit seinen enorm vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten überhandnimmt, ist das Telefon fast schon eine intime Begleiterin1 geworden.

A) Nähe durch Distanz 1. Telefon ist eine »Zaubermaschine« Es ist unbestritten, dass beim telefonischen Kontakt wesentliche Teile einer ganzheitlichen Kommunikation fehlen, wie sie beim »Vier-Augen-Gespräch« möglich sind. Man spricht von Kanalreduktion allein auf die Stimme, die zusätzlich noch über ein technisches Medium übermittelt wird. Sprechen und Zuhören stehen im Zentrum des Geschehens. Die beiden räumlich distanzierten Personen sind einander allein über die Stimme nahe. Weil sie allein ihre Beziehung

one line man / Shutterstock.com

Hilfreiche Begegnung am Telefon

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ter angesprochen werden. Es gibt Gedanken, Gefühle und Probleme, die man keinem Mensch so direkt sagen, aber zugleich nicht für sich behalten möchte. Der Kontakt per Telefon bietet die »Distanz«, die es manchmal braucht, um ein Anliegen zu formulieren; sie gewährt Schutz und erlaubt eine befreiende Offenheit. Das Telefon fördert die »Selbstoffenbarung«, die für eine gelingende Beratung hilfreich ist.

stux / Pixabay

trägt und gestaltet, fallen viele, auch störende Äußerlichkeiten weg. Dies kann dazu beitragen, dass man sehr schnell »zur Sache« kommt. Das Telefon ist eine »Zaubermaschine«. Sie hält die Nähe fern und zieht die Ferne in die Nähe der Intimität. Beim Telefonieren entsteht die scheinbar paradoxe Situation einer Nähe durch Distanz. Diese Distanz bewirkt, dass Scham überwunden werden kann und dass tabuisierte Themen leich-

Mit dem Gegenüber auf einer Bank sitzen. Dieses Bild stellt die Haltung hervorragend dar. Wir sind uns trotz telefonischer Distanz nahe, auf gleicher Ebene und schauen hoffentlich in dieselbe Richtung.

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Beim Telefongespräch liegt die Kontrolle über das Geschehen stark beim Gegenüber. Es kann das Gespräch auch ohne großen Aufwand abbrechen, viel leichter als beim »Vier-Augen-Gespräch«. Diese Kommunikationsform ist einerseits brüchig und andererseits bietet sie viele Chancen. 2. Jedes Wort zählt Die Kanalreduktion beim telefonischen Kontakt erhöht die Chance, dass die Konzentration auf das gesprochene Wort zunimmt. Somit ist es äußerst wichtig, dass möglichst rasch eine tragfähige Beziehung hergestellt wird, die obendrein klar und deutlich verbalisiert werden muss. Für die Beziehungsherstellung stehen ferner paraverbale Elemente (Pause, Schweigen, ein kurzes »Ja« in entsprechender Stimmlage, Räuspern …) zur Verfügung. Für eine vertrauenerweckende Gesprächsbeziehung sind sowohl Inhalt als auch die Sprechweise des Beraters verantwortlich. Damit sich beide Seiten am Telefon richtig verstehen, ist es notwendig, dass die Beraterin ihre Kommunikationsanteile möglichst authentisch gestaltet. Wenn Wort und Stimme des Beraters nicht deckungsgleich sind, kann dies das Gegenüber verunsichern. Echtheit ist gerade bei dieser Gesprächsform besonders gefragt.

verstanden; Gefühle ernst nehmen hilft Spannung abbauen, die eigene und die des Gegenübers. Ebenso aufmerksam bin ich auf Wünsche und Bedürfnisse des Gegenübers und gehe gleich vor wie bei den Gefühlen. Ich bleibe also nicht am sachlichen Inhalt hängen, sondern schaue gewisser­maßen dahinter. Schön, wenn beim empathischen Spiegeln ein »Ja, genau!« als Antwort zurückkommt. Das Gegenüber kann aber auch noch korrigieren, wenn ich das Gefühl, das Bedürfnis oder den Wunsch nicht richtig beschrieben habe. Solches aktives Zuhören ist zu Beginn jeder Begegnung unablässig und braucht genügend Zeit. Später kommen Elemente der klassischen Beratung hinzu. Empathisches Spiegeln ist am Telefon noch wichtiger als beim »Vier-Augen-Gespräch«, weil die nonverbale Ebene wegfällt. Es hilft, Nähe herzustellen sowie Wertschätzung auszudrücken, und verhindert, nicht zu schnell auf die Handlungsebene zu kommen; es befreit mich vom Druck, Ratschläge erteilen zu müssen, denn sie können »übergriffig« sein! B) Elemente für eine Begegnung am Telefon Grundsätzlich gelten alle Regeln einer gelingenden Gesprächsführung auch am Telefon. Darüber hinaus können folgende Elemente hilfreich sein.

3. Mit dem Gegenüber auf einer Bank sitzen Dieses Bild stellt die Haltung hervorragend dar. Wir sind uns trotz telefonischer Distanz nahe, auf gleicher Ebene und schauen hoffentlich in dieselbe Richtung. Trifft das wirklich immer zu? Nehmen wir den Leitsatz »Hilfe zur Selbsthilfe« in unseren Begegnungen ernst? Das Kernstück jeder gelingender und hilfreicher Begegnung ist aktives Zuhören. Dazu gehört das empathische Spiegeln. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Gefühle des Gegenübers und benenne sie mit möglichst wenigen, eigenen Worten. Dadurch fühlt sich das Gegenüber

1. Ich richte mich stilvoll ein Ich mache mich für die Begegnung per Telefon bereit und stimme mich darauf ein. Vielleicht ist sogar ein »Ortswechsel« wie beim »Vier-AugenGespräch« sinnvoll. Ich achte darauf, dass innere und äußere Störungen möglichst ausgeschaltet sind. Ist ein Glas Wasser ist in Griffnähe? 2. Das Gegenüber kann ungestört telefonieren Das Gegenüber ist im Gegensatz zum »Vier-Augen-Gespräch« nach Möglichkeit in den eigenen

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vier Wänden, was Sicherheit und Vertrauen geben kann. Weil aber mit dem Mobiltelefon das Gespräch irgendwo stattfinden kann, kläre ich zu Beginn mit dem Gegenüber, ob seine momentane Umgebung richtig und ungestört ist. Ein Festnetzanschluss ist nach wie vor stabiler als alle mobilen Verbindungen; dadurch gibt es weniger technische Störungen. 3. Ich achte auf meine Körperhaltung Die Körperhaltung ist selbst am Telefon von Bedeutung. Sitze ich aufrecht und mit beiden Füßen auf dem Boden und stehe ich zwischendurch bewusst auf? Wenn ich Bewegung brauche, dann ist ein drahtloses Headset von Vorteil. Damit bin ich auch davon entlastet, immer das Telefon in der Hand halten zu müssen. 4. Stimme schafft Stimmung Meine innere Haltung (Empathie, Respekt, Offenheit, Neugier …) ist entscheidend. Sie und meine Stimmung sind trotz räumlicher Distanz »unüberhörbar«. Eine wertfreie Haltung ist immer angesagt. Verstehen heißt ja bekanntlich nicht immer einverstanden sein. Oft ist es wichtiger, da­­rauf zu achten, wie ich etwas sage, als was sich sage. 5. Weinen zulassen Auch bei einem Telefonkontakt können Tränen fließen. Ich sage, dass ich das höre, dass Tränen Platz haben, denn Weinen ist ja eine eigene Sprache. Ich ermutige das Gegenüber, sich Zeit zu nehmen, bis es wieder weitersprechen kann. Gerade hier wird deutlich, wie am Telefon vieles in Worte gefasst werden muss, was beim »VierAugen-Gespräch« durch die Körperhaltung oder durch eine Geste, indem ich etwa ein Taschentuch reiche, zum Ausdruck gebracht wird.

6. Schweigen zulassen Auch Schweigen ist eine Form von Zuwendung, die ich, im Gegensatz zum »Vier-Augen-­ Gespräch«, in Worte fasse. Ich kann dazu stehen und es auch sagen, dass mir jetzt gerade die Worte fehlen. Gleiches gilt für das Gegenüber; es soll sich Zeit lassen. Wichtig ist, dass ich dann auch die Stille aushalte, was am Telefon recht anspruchsvoll ist. Hilfreich ist, zwischendurch einmal mit einem kurzen »Ja, ich bin da« meine Anteilnahme zu bestätigen. 7. Ohnmacht aushalten In bestimmten Situationen spüre ich meine eigene Ohnmacht, die ich loswerden möchte, noch stärker als beim »Vier-Augen-Gespräch«. Es ist hilfreich, die eigene Betroffenheit paraverbal zum Ausdruck zu bringen; das kann ein kurzer Seufzer sein, ein einfühlsames »Ja«. Worte, aber nur wenige, sind immer hilfreich; so komme ich immerhin wieder ins »Handeln«. Es geht darum, Mitgefühl auszudrücken und der Ohnmacht nicht auszuweichen, indem ich sie weg- oder schönrede. 8. Einladen, etwas zu unternehmen Wenn es die Situation zulässt, kann ich das Gegenüber einladen aufzustehen, ans offene Fenster zu gehen, ein paar Mal tief durchzuatmen oder sich ein Glas Wasser zu holen. 9. Soziales Netzwerk ansprechen Oft ist es hilfreich, das soziale Netzwerk anzusprechen, und zwar als offene Frage: »Wer könnte Ihnen jetzt am ehesten beistehen (Familie, Freunde, Bekannte etc.)?« Wenn ein Mensch in einer Krise steckt, kommt ihm oft das Naheliegendste nicht in den Sinn.

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13. Wunsch zum Abschluss Ich frage das Gegenüber, welchen Wunsch ich ihm zum Abschluss mitgeben kann. Damit wird deutlich, dass dem Gesprächsabschluss große Bedeutung zukommt, denn dieser genießt einen großen »Nachhall«.

C) Goldene Regel

10. Sprachstil dem Gegenüber anpassen Bei der Begegnung am Telefon ist es noch wichtiger, den Sprachstil dem Gegenüber anzupassen. Als Faustregel gilt: Einfache Sprache wählen; kurze Sätze bilden; langsam sowie deutlich sprechen kommt immer gut an. Ebenso ist eine bildhafte Sprache hilfreich. 11. Strukturierungshilfen bieten Ebenso wichtig ist, bei Bedarf Strukturierungshilfen anzubieten. »Ich höre, es stürmt gerade sehr viel auf Sie ein! Was ist für Sie momentan das Wichtigste, denn die Begegnung am Telefon ist beschränkt?« Dies bestärkt die Hoffnung, dass ein »Teilproblem« gelöst werden kann, denn den ganzen Berg auf einmal abtragen zu können ist aussichtlos.

Als Seelsorger kann ich mit dieser Frage den Schlussteil einleiten: »Warum hat Gott uns zwei Ohren und nur einen Mund geschenkt?« Die Antwort ist simpel: »Weil wir mehr zuhören als reden sollten!« Dies gilt für jede Begegnung, sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld. Kann es sein, dass es gerade »professionellen Helferinnen« schwerfällt, wirklich aktiv zuzuhören? Ich lade Sie gern zu einem »Selbsttest« ein, der auf der goldenen Regel beruht: »Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst!« Stellen Sie sich vor, sie stecken selbst in einer kleinen Krise. Sie treffen jetzt auf ein Gegenüber, dem Sie davon erzählen. Was erwarten Sie von ihm? Was auf keinen Fall? Dieser Test ist anspruchsvoll und äußerst lehrreich! Wir können es nicht machen, aber den Boden möglichst gut bereiten, damit bei einer Begegnung am Telefon oder unter vier Augen das Herz des Gegenübers zur Ruhe kommen, die Erschöpfung Trost erfahren und der Verstand sich wieder sammeln kann. Wenn ich mich mit dem Gegenüber auf eine Bank setze, kann es gelingen.

12. Nächste Schritte besprechen Es ist hilfreich, mit dem Gegenüber möglichst konkrete und kleine Schritte zu besprechen, die es nach dem Telefongespräch gehen kann. Ebenso gehört die Abmachung dazu, wann der nächste Kontakt per Telefon stattfindet und wie das Gegenüber in einem Notfall vorgehen kann (Notfalladressen, eigene Notfallnummer …).

Tony Styger war Stellenleiter der Dargebotenen Hand Zürich – Tel 143. Er ist katholischer Theologe, Notfallseelsorger und Projektleiter der Andreas Weber Stiftung Wetzikon im Bereich Spiritual Care. E-Mail: [email protected] Anmerkung 1 Aus Gründen der Lesefreundlichkeit wird zwischen weiblicher und männlicher Schreibweise abgewechselt.

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AUS DER FORSCHUNG

Medizinstudierende und Kunst Die Vermittlung von Empathie

Vorgestellt von Lukas Radbruch Centeno, C.; Robinson, C.; Noguera-Tejedor, A.; Arantzamendi, M.; Echarri, F.; Pereira, J. (2017). Palliative care and the arts: vehicles to introduce medical students to patient-centred decisionmaking and the art of caring. In: BMC Medical Education, 17 (1), S. 257 Ist die ärztliche Tätigkeit eigentlich Kunst, Handwerk oder Wissenschaft? Zumindest in der Palliativmedizin besteht große Einigkeit, dass es nicht nur um die Kenntnisse auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft geht, sondern auch um Fähigkeiten wie zum Beispiel die Gesprächsführung, die man als Handwerk lernen und beherrschen muss. Vor allem aber geht es um Einstellungen und Haltungen, um in der Behandlung und Begleitung von kranken Menschen nicht nur Medizin, sondern ärztliche Kunst auszuüben. Auch nach vielen Jahren im Beruf bin ich immer noch fasziniert davon, dass jeder Patient seine eigene Geschichte hat und dass jede dieser Geschichten interessant sein kann. Man muss nur richtig zuhören. Wie aber vermittelt man die Lust am Zuhören und am Einfühlen in die Welt der Patientin, des Patienten an Medizinstudierende? Haltungen und Einstellungen können nicht so einfach vermittelt werden (getreu dem Zitat von Mark Twain: Einstellungen kann man nicht aus dem Fenster werfen, man muss sie die Treppe runterprügeln, Stufe um Stufe). In einer systematischen Übersicht berichteten Batt-Rawden et al. 2013 über 18 Studien, die Interventionen zur Steigerung der Empathie bei Medizinstudierenden beschreiben, darunter waren Patientengeschichten und Patienteninterviews, kreative Künste, Schreiben, Theaterspielen, Kommuni-

kationstraining, problemorientiertes Lernen, interprofessionelles Lernen, experimentelles Lernen und empathiefokussiertes Lernen. Centeno et al. stellen einen neuen Ansatz für die palliativmedizinische Ausbildung vor. In ihrem Unterricht an der spanischen Universität Navarra war Palliativmedizin bereits seit 2011 als Pflichtkurs im letzten Studienjahr integriert. Dieser Kurs sollte nun ergänzt werden durch eine Einführung in die Palliativmedizin mit den dafür zentralen Haltungen wie Empathie und patientenbezogenem und ganzheitlichem Ansatz. Ein Pilotkurs wurde für eine Woche in den Semesterferien angeboten. Der Kurs wurde nicht in den üblichen Unterrichtsräumen, sondern in dem neu eingerichteten Kunstmuseum der Universität abgehalten. An jedem Tag wurde drei Stunden unterrichtet. In der ersten Stunde wurden von einem Museumskurator ausgewählte Kunstwerke vorgestellt, dann sollten die Studierenden dazu reflektieren, was sie in dem Kunstwerk sahen, was es für sie repräsentierte und welche Emotionen es in ihnen auslöste. Die Mitarbeiter/-innen aus der Palliativmedizin stellten dann einen Zusammenhang zwischen diesen Diskussionen und den klinischen Erfahrungen aus ihrer Arbeit her. Anschließend folgten zwei Unterrichtsstunden in einem Raum des Museums zu grundlegenden Konzepten (Krankheitserleben, Leid, Entscheidungsfindung, Würde, Empathie, Gesellschaft und Lebensende) und zu den Grundlagen der Palliativversorgung (Symptomkontrolle, psychosoziale und spirituelle Begleitung, Todeswünsche). Gelehrt wurde in einem interprofessionellen Team (mit Ärzten, Pflegekräften, Soziologen und Psychologen) und mit unterschiedlichen Methoden.

Ulrike Rastin

Der Kurs war eigentlich für die Studierenden im zweiten Studienjahr gedacht, fand aber großes Interesse auch bei den älteren Studierenden. Letztendlich war nur die Hälfte der 20 Teilnehmenden

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im zweiten oder dritten Studienjahr. Sie waren überwiegend weiblich, es gab nur einen Mann darunter. Die Auswertung erfolgte über die Standardauswertungsbögen für Unterrichtsveranstaltungen und über eine qualitative Auswertung von reflektiven Antworten der Teilnehmenden zu drei Evaluationsfragen (Welche Wahrnehmung oder welches Verständnis hat der Kurs verändert? Was wird in der Patientenversorgung anders werden als Folge des Kurses? Reflexion zu drei Aussagen zur Palliativversorgung) sowie über eine Fokusgruppe nach acht Monaten. Die Rückmeldungen der Studierenden zeigten, dass sie nach diesem Kurs Palliativversorgung nicht mehr als auf das Lebensende beschränkt ansahen. Sie betonten die Bedeutung, die Dinge durch die Augen der Patientinnen und Patienten und ihrer Angehörigen zu sehen, wofür sie Mitgefühl, Zuhören und Dialog voraussetzten. Der Kurs wurde als sehr hilfreich für den Umgang mit Entscheidungsfindung bewertet. Die Teilnehmenden verstanden, dass Entscheidungen personenbezogen und individuell getroffen werden und dass es keine formelhaften, einfachen Wege in der Entscheidungsfindung geben kann. In vielen Antworten spiegelte sich die Reichweite dieser Erfahrungen über die Palliativmedizin hinaus wider, so betonten mehrere Teilnehmende die Bedeutung der Beziehung zu Patienten und Angehörigen, anstatt nur aus der Distanz durch die Linse der Krankheiten und Probleme zu behandeln. In der Auswertung konnte nicht differenziert werden zwischen den Unterrichtsanteilen mit Bezug zur Kunst und anderen Kursbestandteilen. Die interdisziplinäre Zusammensetzung des Lehrkörpers und das Engagement der Unterrichtenden werden ebenso wie der enge Bezug zur klinischen Arbeit in der gelebten Praxis eine Rolle gespielt haben. Außerdem verweisen die Autoren darauf, dass in diesem Pilotkurs sicherlich vor allem hochmotivierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammengekommen waren. Dennoch weisen die Erfahrungen der Autoren auf das hohe Potenzial von Kunst im Medizinstu-

dium hin. Die Reflexionen zu den Kunstwerken ermöglichten für viele Teilnehmende einen ständigen Perspektivwechsel, der das Einfühlen in die Perspektive der Patienten gebahnt und erleichtert hat. Selbst die Teilnehmenden, die solchen Reflexionen eher nicht zugänglich waren, berichteten über den positiven Effekt, wenn sie mit den anderen über solche Perspektivwechsel diskutierten. Die Studie von Centeno et al. bestätigt die positiven Erfahrungen von früheren Studien aus den USA (Zazulak et al. 2015; 2017). Die Beschäftigung mit Kunstgegenständen und -darstellungen kann außerdem einen Weg zur Orientierung in der ärztlichen Ausbildung und danach lebenslang im Beruf bieten, so dass in einem Kommentar einer Harvard-Studentin eine Integration von bildender Kunst, Literatur, Musik und anderen Künsten in das Medizinstudium gefordert wurde (Mullang 2013). Und wenn Ihre Universität kein eigenes Kunstmuseum hat: Vielleicht bietet die Partnerschaft mit einem solchen Museum eine Alternative (Elder et al. 2006)? Prof. Dr. Lukas Radbruch hat den Lehrstuhl für Palliativmedizin an der Universität Bonn inne und ist Chefarzt des Zentrums für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Literatur Batt-Rawden, S. A.; Chisolm, M. S.; Anton, B.; Flickinger, T. E. (2013). Teaching empathy to medical students: an updated, systematic review. In: Academic Medicine, 88, 8, S. 1171–1177. Elder, N. C.; Tobias, B.; Lucero-Criswell, A.; Goldenhar, L. (2006). The art of observation: impact of a family medicine and art museum partnership on student education. In: Family Medicine, 38, 6, S. 393–398. Mullangi, S. (2013). The synergy of medicine and art in the curriculum. In: Academic Medicine, 88, 7, S. 921–923. Zazulak, J.; Halgren, C.; Tan, M.; Grierson, L. E. (2015). The impact of an arts-based programme on the affective and cognitive components of empathic development. In: Medical Humanities, 41, 1, S. 69–74. Zazulak, J.; Sanaee, M.; Frolic, A.; Knibb, N.; Tesluk, E.; Hughes, E.; Grierson, L. E. M. (2017). The art of medicine: arts-based training in observation and mindfulness for fostering the empathic response in medical residents. In: Medical Humanities, 43, 3, S. 192–198.

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REZENSIONEN

Männer in Todesnähe

Monika Müller

Angela Reschke/Martin Kreuels (2019): Männer in Todesnähe. Zehn Gespräche am Lebensende. Norderstedt: Books on Demand, 260 Seiten mit 34 Illustrationen

»(…) das ist meine letzte Aufgabe, (…) dass ich das (Sterben) würdig hinkriege«. Günther K. »Da möchte ich sehen, wer das Licht ausknipst.« Werner B. In dem Buch »Männer in Todesnähe« zeichnen die Psychologin Angela Reschke und der Autor Martin Kreuels zehn Gespräche mit schwer erkrankten Männern auf. Es geht um Lebensbilanz, um Beziehungen, um den Umgang mit Diagnose und fortschreitender Krankheit, Suizidgedanken, Spiritualität und Abschiednehmen. So unterschiedlich das Alter und die Berufe der Männer sind, so unterschiedlich sind auch ihre Gedanken, ihre Einstellungen, ihre Aussagen. Würdig und aufrecht sterben zu können bedeutet, die eigenen Ideale nicht verraten zu haben, sich nicht von Widrigkeiten kleinmachen zu lassen und als der zu sterben, der man war und ist. Das gilt für die Männer, die in diesem Buch zu Wort kommen. Ihre Ansichten sind so individuell wie die Einblicke, die sie gestatten. Sie sind mal dankbar, mal traurig, zuweilen auch wütend und nachdenklich. Sie äußern sich offen, persönlich und mutig. Dabei befinden sie sich in einem unsicheren Such- und Findungsprozess. Und dennoch gelingt nahezu allen ein erfülltes Leben im Abschied. Die Erzählenden möchten keine Rezepte für die Endlichkeit des Lebens anbieten. Die Interviewenden sind weit mehr als Personen in dieser funktionalen Rolle. Als horchen-

de, fragende und auch selbst von sich erzählende Mitmenschen bieten sie genau das an, was Begegnung heißt und möglich macht: Interesse. Es geht hier nicht um exzellente Methoden der Befragung, um geschickte Interviewtechniken. Von lateinisch »inter esse« bedeutet die im Buch gelebte Haltung »dazwischen sein«, »dabei sein«, »von Wichtigkeit sein«. Interesse an einem anderen Menschen führt zum Gefühl des Respektiertseins und Sich-angenommen-Fühlens. Menschen, die dieses Interesse spüren, vermögen sich zu öffnen und Persönliches bis Intimes zu offenbaren. Leser wie Leserinnen werden davon persönlich berührt und motiviert, nicht nur die eigene Vergänglichkeit und die damit verbundenen Wünsche, Sorgen und Hoffnungen zu erkunden und mitzuteilen, sondern darüber hinaus auch die der Nahestehenden zu erfragen. »Männer in Todesnähe – Zehn Gespräche am Lebensende« ist ein dokumentarisches Sachbuch mit Fotos, die die Persönlichkeiten der Gesprächspartner unterstreichen und die Schwere des Themas mit leichten und farbigen Akzenten ergänzen. Ein Buch, dass die Seite der Männer zeigt, die doch allzu oft verborgen ist. Ein spannendes und berührendes Buch, das bisher in diesem Bereich fehlte. Sicherlich keine leichte Kost.

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Trauer als Weg zur Versöhnung

Norbert Mucksch

Andrea Schmolke (2019): Trauer als Weg zur Versöhnung. Die Bedeutung der Spiritualität für Hinterbliebene nach Suizid. Ein Ratgeber für Pfarrer und Pfarrerinnen in der Gemeinde. Berlin, Münster: LIT, VIII, 279 Seiten mit Illustrationen

Suizid, Versöhnung und Spiritualität: Mit diesen drei Kernbegriffen befasst sich die umfangreiche und systematisch sehr gewissenhafte Veröffentlichung von Andrea Schmolke, die von der evangelischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms Universität Münster (Prof. Traugott Roser) im Jahr 2018 als Dissertation angenommen wurde. Herausgegeben wurde die Arbeit in der Reihe »Pastoral Care and Spiritual Healing – Spiritualität interkulturell«. Schmolke, die in der Gemeindeseelsorge als Pfarrerin arbeitet, betrachtet und durchwirkt das Thema von unterschiedlichen Seiten. Ähnlich einem Oszillographen umkreist sie aus ihrer spezifischen Sicht als Theologin die vielfältigen Aspekte rund um dieses schwere und zugleich so bedeutsame Thema. Und so merkt man bereits beim Lesen der umfangreichen Gliederung, dass diese engagierte Arbeit dem zweiten Teil ihres Untertitels mehr als gerecht wird, nämlich ein »Ratgeber für Pfarrer und Pfarrerinnen in der Gemeinde« sein zu wollen. Nach einer Einleitung, in der Schmolke bereits ihr spirituelles Hauptaugenmerk deutlich macht, indem sie formuliert: »Wer sich auf die spirituellen Erlebnisse der Hinterbliebenen nach einem Suizid einlässt, bewegt sich nahe an der Grenze, an der sich die sichtbare und die unsichtba-

re Welt berühren«, macht sie im zweiten Kapitel ihren ganz persönlichen Erfahrungshintergrund transparent. Sodann folgt im zweiten Hauptabschnitt des Buches eine umfangreiche Darlegung des aktuellen Forschungsstands. Zunächst eine praktisch-theologische Grundlegung, gefolgt von kleinschrittigen und sehr gut nachvollziehbaren Ausführungen zum Forschungsstand über Spiritualität in der Trauer und im nächsten Schritt konkret zum Forschungsstand über Trauer nach einem Suizid. Insbesondere dieser Teil des Buches ist für Menschen, die Trauernde nach Suizid begleiten, ein ganz wichtiger Baustein zum Verständnis der Realität »Suizid« und damit ein Schlüssel für den Zugang zu Menschen, die nach einem Suizid in besonderer Weise und Intensität trauern. Der dritte Hauptabschnitt stellt den Lesenden eine Sammlung und Kategorisierung der spirituellen Erfahrungen Suizidhinterbliebener zur Verfügung. Zugleich findet sich hier eine theologische Einordnung und es werden Perspektiven für kirchliches Handeln aufgezeigt. Nicht nur theologisch spannend ist der dann folgende Abschnitt, der sich der Frage nach der Rolle Gottes stellt. Schmolke merkt zu Recht kritisch an, dass der kirchlichen Verkündigung häufig ein zu einseitig positives Gottesbild zugrunde liegt. Und

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sie stellt fest, dass es aufgrund eines solchen Gottesbildes potenziell schwerfallen kann, auch Gott sein Leid zu klagen. Trauerbegleitende wissen nur zu gut, dass Trauernde dieses Moment der Klage unbedingt benötigen und dass dafür auch ein personales Gegenüber wichtig ist, welches in der Lage ist, in Resonanz zu gehen, und in dieser Resonanz empathisch und wertschätzend präsent ist, auch für die Klage eines trauernden Menschen. Bevor das Buch mit einem Fazit und Ausblick sowie mit persönlichen Gedanken endet, bietet es den Lesenden zunächst als Lernfeld ein Negativbeispiel (mahnende und selbstkritische Worte einer evangelischen Theologin) und sodann ein Kapitel mit einem ganz positiven Blick auf die menschliche Fähigkeit zu trauern. Dieses Kapitel greift den Buchtitel noch einmal an prominenter Stelle auf: Trauer als Weg zur Versöhnung. Man merkt dem Buch zwar deutlich an, dass es sich um eine Dissertation handelt. Schon ein erster Blick in die weit aufgefächerte Gliederung macht das deutlich. Gleichwohl ist diese Arbeit auch für Menschen in der Trauerbegleitung mit Gewinn zu lesen, nicht zuletzt, weil sie ein sehr wichtiges Thema aufgreift und sehr verständlich angeht. Schmolke schreibt aus der Sicht einer betroffenen Frau, die während ihres Studiums ihre beste Freundin durch Suizid »verliert«. Dieser

biografische Bezug ist dem Buch positiv deutlich anzumerken. Sie schreibt auch als evangelische Theologin, die aus einer kirchlichen Tradition stammt, in der man sich vor allem intellektuell mit der Frage nach Gott beschäftigt und eben nicht vorrangig spirituell. Und sie schreibt aus ihrer aktuellen Rolle als Gemeindepfarrerin, der sehr bewusst ist, dass das Thema Suizid aus ihrer seelsorglichen Arbeit nicht wegzudenken ist. Sie kann dieses Thema nicht aus ihrer Arbeit wegdenken und noch viel weniger scheint sie es wegdenken zu wollen. Im diesen Sinne handelt es sich bei dem Buch um eine sehr engagierte Arbeit im Sinne der Menschen, die in spezifischer Weise sehr intensiv Trauer erfahren. Den Worten auf der Buchrückseite kann ich mich sehr gut anschließen: »Das Buch führt in Neuland und versucht ein vertieftes Begreifen des Suizids und damit einer Realität, die es menschheitsgeschichtlich schon immer gegeben hat.« Und damit ist dieses Buch sicher eine gute und wichtige Hilfestellung und Handreichung für die im Titel genannte Zielgruppe. Empfehlen möchte ich es aber ausdrücklich nicht nur für die Zielgruppe der hauptamtlich Seelsorgenden, sondern mindestens ebenso für alle Menschen, die in der Begleitung Trauernder nach Suizid engagiert sind.

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VERBANDSNACHRICHTEN

Begleiten, Beraten, Therapieren Vom richtigen Verständnis und Ort von Trauerbegleitung und Trauertherapie

Eine Klarstellung von Norbert Mucksch Im Frühjahr 2020 erschien in der Reihe »Edition Leidfaden« ein Buch mit dem Titel »Anhaltende Trauer – Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden«, verfasst von Urs Münch (DiplomPsychologe und Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin). Der Titel des Buches entspricht der Nomenklatur, der für die in der ICD-11 neu vorgesehenen Ziffer zur Behandlung von Trauer. Der Begriff »Anhaltende Trauerstörung« (Prolonged Grief Dis­order) wird seit Bekanntwerden als Terminus für die ICD-11 in verschiedenen Verbänden kritisch diskutiert. Der Bundesverband Trauerbegleitung hat die Aufnahme einer eigenen Diagnoseziffer für Störungen nach erlittenen Verlusten (gleich welcher Art) weder kritisiert noch in Frage gestellt, wohl aber die irreführende und falsche Begrifflichkeit. Trauer ist nach Überzeugung des BVT grundsätzlich nie eine Störung, sondern Trauer ist nach einer Verlusterfahrung das dem Verlust angemessene Verhalten. Und damit ist Trauer per se nichts Pathologisches, sondern die gesunde, jedem Menschen innewohnende Grundfähigkeit, mit Verlusten umzugehen und sie in das eigene Leben zu integrieren. Damit stellt der Bundesverband Trauerbegleitung nicht in Frage, dass

    

es Verlustsituationen geben kann, bei denen die spezifischen Umstände so gravierend, schockierend oder belastend sein können, dass die Trauer in ihrem Ausdruck und in ihrem Fluss behindert wird oder vollkommen stagniert. Das sind die Situationen, in denen nicht Begleitung die (einzig) richtige und gebotene Hilfestellung ist, sondern Therapie und Beratung. Bislang war es so, dass betroffene Menschen nach einem solchen Verlust auf Basis einer »Verlegenheitsziffer« der ICD-10 (zum Beispiel »Depressive Störung«) behandelt wurden mit der Problematik, dass sie sich selbst überhaupt nicht als »depressiv« erlebt haben. Hier musste also sinnvollerweise eine Lücke geschlossen werden, die bislang in der ICD-10 klaffte. Diesen »Lückenschluss« begrüßt der BVT, nicht aber die Terminologie der neuen Diagnose­ ziffer, die in der Gefahr steht, dass Trauernde allgemein zu schnell pathologisiert werden. Darüber hinaus ist nach dem Grundverständnis des BVT die Bezeichnung der neuen Diagnoseziffer falsch: Trauer ist wesensmäßig andauernd. Der temporäre Aspekt gehört also zu »normaler« Trauer dazu und wird auch von trauernden Menschen selbst so beschrieben. Jedes Memento, auch Jahre nach dem Tod eines verstorbenen Menschen, ist nor-

Tom Levold

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mal, gesund und für trauende Menschen grundsätzlich hilfreich. Und: Trauer an sich ist nie die Störung. Die Störung sind die spezifischen Umstände, die zu einer Trauer geführt haben (Suizid, Tod eines Kindes, dramatische Unfalltode, plötzlicher Herztod …). Dies zunächst als Grundlage zum Verständnis von Trauer, so wie es in den Fortbildungen des Bundesverbandes Trauerbegleitung vermittelt wird. Daraus ergibt sich auch das Verhältnis zu den Heilberufen, die im Gegensatz zum BVT auf einen Diagnoseschlüssel angewiesen sind. Dieses Verhältnis definiert sich durch Unterschiedlichkeit und Abgrenzung, aber auch durch eine sinnvolle und gewünschte Kooperation. Die überwiegende Mehrheit derer, die Trauerbegleitung nutzen und davon profitieren, ist nicht behandlungsbedürftig. Einem Teil derer, die sinnvollerweise in psychotherapeutischer Behandlung sind, kommen komplementäre Angebote deutlich zugute. So können zum Beispiel Trauernde nach Suizid, von denen nicht wenige in psychotherapeutischer Behandlung sind, von einer parallel laufenden Gruppe für Trauernde nach Suizid außerordentlich profitieren. In Münster kooperieren beispielsweise das Psychotherapeu-

tennetzwerk und das Trauernetzwerk, um diese positiven Effekte parallel laufender Begleitungsangebote sinnvoll, verantwortlich und fachlich fundiert zu nutzen. Das ist der Hauptgrund, warum es so wichtig ist, in diesem Arbeitsfeld im wohlverstandenen Sinn zu konkurrieren. Dieser Begriff – nimmt man ihn wörtlich – bedeutet, gemeinsam zu laufen (lateinisch con-currere). Davon abzugrenzen ist der Begriff »Konflikt«, der eine andere Qualität hat. Beim Konflikt geht es um das »Schlagen« (lateinisch fligere). Die Passagen im Kapitel 5 (S. 82 ff.) des Buches von Urs Münch habe ich zu meinem Bedauern nicht im Sinne von positiver und sich wechselseitig achtender Konkurrenz empfunden, sondern als unsachliche »schlagende« Kritik, die den Versuch eines ernsthaften Verständnisses vermissen lässt. Der Beitrag im Kapitel 5 »Umgang mit der Diagnose Anhaltende Trauerstörung« differenziert nicht zwischen qualifizierter Trauerbegleitung und Therapie und auch nicht zwischen hilfreicher und gesunder Trauer als menschlicher Fähigkeit, die eine Lösung im Umgang mit erlittenen Verlusten darstellt, und Trauer in Zusam-

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menhang mit erschwerenden Begleitumständen. Darüber hinaus verwendet der Autor Begriffe in uneindeutiger und missverständlicher Weise. So zum Beispiel an der Stelle, wo der »Behandlungsbegriff« in Zusammenhang gebracht wird mit Trauerbegleitung. An der Stelle ist zu erwidern, dass es Trauerbegleitenden, die unter dem Dach des BVT eine qualifizierte Fortbildung absolviert haben und darüber hinaus sich auch nach der Fortbildung zur Weiterbildung verpflichten, klar ist, dass sie von ihrer Grundhaltung und vom eigenen Selbstverständnis keine »Behandler« und schon gar keine Therapeuten sind. Der belehrende Passus zum Thema Heilerlaubnis und Approbation ist daher überflüssig. Man kann diese Aussage auch als Angriff auf die vom BVT ausgebildeten Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter verstehen. Mindestens aber muss man sie verstehen als klare Abwertung ihrer Arbeit. Ebenso sind Feststellungen wie die, dass Betroffene das Recht haben, mit fachlich fundierten Therapieansätzen behandelt zu werden (S. 83), mehr als obsolet. Natürlich benötigen Menschen, die infolge einer Verlusterfahrung erkranken, adäquate therapeutische Hilfe. Trauer aber ist keine Krankheit und bedarf keiner Therapie. Fragwürdig erscheint mir auch der isolierte Hinweis auf eine einzelne schwedische Studie, die wenig nachvollziehbar zu dem Ergebnis kommt, dass die Teilnahme an Trauergruppen zur Verschlechterung von Trauerverläufen geführt haben soll. Zu drei Kommentaren zur Arbeit des BVT, die Münch in seinem Buch macht, ist es uns wichtig, noch dezidiert Stellung zu beziehen.

1. Der Autor nimmt Bezug auf die Imagebroschüre des BVT und kritisiert, dass das vorhandene Machtgefälle in einem Trauerbegleitungskontakt negiert werde. Er macht dies fest an dem Begriff »Begleitung auf Augenhöhe« und merkt kritisch an, dass »Augenhöhe« Wunsch und Mythos zugleich sei. Dem ist entgegenzusetzen, dass ein Bewusstsein für asymmetrische Beziehungen zentraler und integraler Bestandteil der qualifizierten Fortbildungen in Trauerbegleitung ist. Ebenso zentral ist die Vermittlung von sozialen Kompetenzen in der Kommunikation und Beziehungsarbeit, die durch einen hohen Anteil von Selbsterfahrung in der Gruppe stattfindet. Es gibt ein Dokument des BVT zum ethischen Selbstverständnis, in dem die Themen »Machtgefälle« und »Augenhöhe« explizit bedacht werden. 2. Der Autor nimmt Anstoß an einem Begriff aus der Imagebroschüre, in der es auf Seite 6 heißt, dass Trauerbegleitende die Bereitschaft mitbringen müssen, sich einzulassen und »verwickeln« zu lassen. Münch reißt die Aussage aus dem Zusammenhang und unterstellt eine zu große Nähe und die Abwesenheit der natürlich in einer solchen Beziehung gebotenen Distanz. Der Begriff »Verwicklung« mag vordergründig missverständlich sein – wenn man ihn missverstehen will. Offensichtlich wollte Münch diesen metaphorischen Begriff bewusst falsch verstehen. Gemeint ist mit dem Begriff »Verwickeln« ein empathisches und authentisches sich Einlassen auf eine konkrete Beziehung

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und ein professionelles In-Kontakt-Gehen. Ein solcher Kontakt ist nicht gleichbedeutend mit dem Aufgeben einer professionellen Rolle im Bewusstsein des Spannungsfelds von Nähe und Distanz. 3. Münch stellt in dem Kapitel zur Anhaltenden Trauerstörung die Begriffe »Begleiten« und »Beraten« gegeneinander und präferiert den Begriff »Beraten«. Zugleich kritisiert er den Terminus »Begleitung« und stellt die Begriffe »Begleiten« und »Leiten« in einen schon aus sprachwissenschaftlicher Sicht mehr als fragwürdigen Zusammenhang. In diesem Unterkapitel geht es auch um Haltung und Beziehungsgestaltung. Die Quellen dazu (Wikipedia und Duden) erscheinen relativ dürftig und sind wenig hilfreich, um den zentralen Begriff der Haltung in der Beziehung herauszuarbeiten. Für Trauerbegleitende gehört es zur eigenen Identität, gerade nicht Experte oder Ratgeber zu sein, sondern Begleitende auf Augenhöhe mit dem Bewusstsein, dass die Begleitungsbeziehung eine grundsätzlich asymmetrische ist. Begleitende sind nicht Ratgeber und schon gar nicht Experten. Trauernde sind Experten ihrer selbst. Das zu betonen ist schon deswegen wichtig, weil im Begleitungsbegriff nicht die Lösungsorientierung bestimmend ist. Stattdessen geht es um den Weg, den die/der Trauernde geht. Trauerbegleitung ist Wegbegleitung. Im Gegensatz dazu steckt im Begriff »Beratung« stets die Lösungsorientierung – und auch das »therapeutische« Ziel.

Im Sinne der Betroffenen muss es meines Erachtens um ein gutes und achtsames Konkurrieren gehen im Sinne einer kollegialen Koexistenz, die darum weiß, dass es gut ist, breit aufgestellt zu sein, und deren Protagonisten darum wissen, was wohin gehört, und die auch bereit sind, miteinander zu sprechen und sich im Sinne von Vernetzung auszutauschen. Insgesamt ist der Blick auf Trauer im genannten Kapitel sehr psychologisch und therapeutisch geprägt und nach meinem Empfinden ohne den Versuch der Anerkennung auch anderer etablierter Begleitungsangebote, die zudem keine Absicht haben, den Heilberuflern in die Quere zu kommen oder deren Handeln in Frage zu stellen. Aufs Ganze gesehen ist es ein Beitrag, der aus rein fachlich psychologischer Sicht stammt und es an vielen Stellen vermissen lässt, einen Blickrichtungswechsel und einen erweiterten Blick einzunehmen. Aus meiner Sicht eine verpasste Chance, die unnötigerweise Türen zuschlägt, die im Sinne der Trauernden (und nicht im Sinne eines Richtungsstreits) geöffnet gehören. Norbert Mucksch, Diplom-Theologe, Diplom-Sozialarbeiter, Pastoralpsychologe (DGfP), ist Fachbereichsleiter »Sterbe- und Trauerbegleitung« an der Kolping-Bildungsstätte Coesfeld/Heimvolkshochschule und Lehrbeauftragter an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Münster. Darüber hinaus ist er tätig als Berater, Fortbildner, Moderator und als Supervisor (DGSv). Er ist Mitglied im Vorstand des BVT.

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Neue Wege und Methoden in der Eheberatung

Vorschau Heft 4 | 2020

9. Jahrgang

Leidfaden

Thema: Sinn Philosophische Wanderung

Sinn suchen – nach Hause finden Zur Symbolsprache bei Demenz

Der Körper als sinnstiftende Ressource im Prozess des Sterbens Existenzielles Leid am Lebensende Von der therapeutischen Kraft menschlicher Zuwendung

Logophilosophische Gesprächs­ impulse im Tageshopiz Labyrinthe verwirren nicht, sondern tragen zur BeSINNung bei u. a. m.

Leidfaden

FA C H M A G A Z I N F Ü R K R I S E N , L E I D , T R A U E R

Was ist mit dem WAS IST MIT DEM SINN LOS?

Literatur in Zeiten der Krise – Vom Sinn des Lesens

4 | 2020 | ISSN 2192-1202 | € 20,–

SINN LOS?

Impressum Herausgeber/-innen: Monika Müller M. A., KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach E-Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, Zentrum für Palliativmedizin, Von-Hompesch-Str. 1, D-53123 Bonn E-Mail: [email protected] Dr. phil. Sylvia Brathuhn, Frauenselbsthilfe nach Krebs e. V., Landesverband Rheinland-Pfalz/Saarland e. V./Bundesverband e. V. Bonn Schweidnitzer Str. 17, D-56566 Neuwied E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Arnold Langenmayr (Ratingen), Dipl.-Sozialpäd. Heiner Melching (Berlin), Dr. Christian Metz (Wien), Dipl.-Päd. Petra Rechenberg-Winter M. A. (Hamburg), Dipl.-Pflegefachfrau Erika Schärer-Santschi (Thun, Schweiz), Dipl.-Psych. Margit Schröer (Düsseldorf), Dr. Patrick Schuchter (Wien), Prof. Dr. Reiner Sörries (Erlangen) Bitte senden Sie postalische Anfragen und Rezensionsexemplare an Monika Müller, KAB-Ring 22, D-53359 Rheinbach Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Colin Murray Parkes (Großbritannien), Dr. Sandra L. Bertman (USA), Dr. Henk Schut (Niederlande), Dr. Margaret Stroebe (Niederlande), Prof. Robert A. Neimeyer (USA) Redaktion: Ulrike Rastin M. A. (V. i. S. d. P.), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen, Tel.: 0551-5084-423, Fax: 0551-5084-454 E-Mail: [email protected] Bezugsbedingungen: Leidfaden erscheint viermal jährlich mit einem Gesamtumfang von ca. 360 Seiten. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 70,00 D / € 72,00 A. Institutionenpreis € 132,00 D / € 135,80 A / SFr 162,00, Einzelheftpreis € 20 D / € 20,60 A (jeweils zzgl. Versandkosten), Online-Abo inklusive für Printabonnenten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 01.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen; Tel.: 0551-5084-40, Fax: 0551-5084-454 www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2192-1202 ISBN 978-3-525-45921-8 ISBN 978-3-666-45921-4 (E-Book) Umschlagabbildung: photoschmidt/Shutterstock.com Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer, E-Mail: [email protected] Bestellungen und Abonnementverwaltung: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Servicecenter Fachverlage, Holzwiesenstr. 2, D-72127 Kusterdingen; Tel.: 07071-9353-16, Fax: 07071-9353-93, E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. © 2020 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany

Unsere Buchtipps Freund / Lehr

Henning Freund / Dirk Lehr

Alice Diedrich

Mitgefühlsfokussierte Interventionen in der Psychotherapie

Dankbarkeit in der Psychotherapie

Dankbarkeit in der Psychotherapie Henning Freund Dirk Lehr

Dankbarkeit in der Psychotherapie Ressource und Herausforderung

Ressource und Herausforderung

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Mitgefühlsfokussierte Interventionen in der Psychotherapie

2020, 217 Seiten, inkl. CD-ROM, € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-8017-2893-9 Auch als eBook erhältlich

2016, VIII/152 Seiten, inkl. CD-ROM, € 26,95 / CHF 35.90 ISBN 978-3-8017-2671-3 Auch als eBook erhältlich

Das Thema Dankbarkeit erhält in der Psychologie zunehmend Aufmerksamkeit. Viele Studien belegen die hohe Relevanz von Dankbarkeit für die psychische Gesundheit. Das Buch informiert umfassend über den aktuellen Wissensstand rund um Dankbarkeit und stellt zahlreiche Übungen sowie Arbeitsmaterialien zur Förderung von Dankbarkeit vor.

Das Buch stellt Interventionen zur Steigerung von Mitgefühl in der psychotherapeutischen Praxis vor. Übungsanleitungen, Fallbeispiele und Patient-Therapeut-Dialoge illustrieren das Vorgehen.

Jeroen Hendriksen / Jantine Huizing Jeroen Hendriksen Jantine Huizing

Methoden für die Intervision Ein Fächer mit 20 effektiven Tools

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Ein Fächer mit 20 effektiven Tools

Gijs Jansen

Achtsam durch den Tag Gijs Jansen

Achtsam durch den Tag

Ein Fächer mit mehr als 30 alltagstauglichen Übungen

Ein Fächer mit mehr als 30 alltagstauglichen Übungen

2020, 72 Seiten, Kleinformat, € 16,95 / CHF 21.90 ISBN 978-3-8017-3033-8

2020, 54 Seiten, Kleinformat, € 16,95 / CHF 21.80 ISBN 978-3-8017-3034-5

Für die Arbeit in Intervisionsgruppen stellt dieser Fächer zwanzig effektive Arbeitsmethoden vor. Unterschieden werden dabei lösungsorientierte, kreative, aktivierende und reflexive Arbeitsformen. Die vorgestellten Tools ermöglichen Teilnehmern an Intervisionsgruppen und ihren Begleitern sowie auch Coaches, Supervisoren, Psychotherapeuten, Beratern und Trainern neue Lernerfahrungen, die der Intervision neue Impulse geben können.

Dieser Fächer ist ein praktischer Begleiter für alle, die Achtsamkeit praktizieren und sich selbst und ihre Umgebung neu erkunden wollen. Er enthält mehr als 30 Übungen für den Alltag. Achtsamkeit ist keine Frage der Örtlichkeit, Sie können immer und überall achtsam sein. Mit den Übungen lernen Sie vor allem, Ihre Wahrnehmung zu schärfen und offen zu sein für das, was sich im Hier und Jetzt ereignet.

www.hogrefe.com

EDITION LEIDFADEN – BASISQUALIFIKATION TRAUERBEGLEITUNG

Nicole Friederichsen | Stefan Springfeld Fundraising in der Hospiz- und Trauerarbeit – ein Praxisbuch 2020. 119 Seiten, mit 22 Abb. und Download-Material, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40689-2 E-Book: € 13,99 D | € 14,40 A

Für das Fundraising im Trauerbereich bietet dieses Buch handfeste Unterstützung: Mit einem Praxischeck ist zunächst schnell zu erkennen, was in einer Organisation gut läuft, aber vor allem auch, was noch besser werden könnte. Die Autoren präsentieren eine Menge praktischer Ideen für Veranstaltungen und Kampagnen, die schnell und einfach umsetzbar sind, auch unter Nutzung des dazugehörigen DownloadMaterials.

Marianne Bevier | Christoph Bevier Selig sind die Trauernden Trauer in der Seelsorge 2020. 135 Seiten, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40690-8 E-Book: € 13,99 D | € 14,40 A

Die Autoren geben eine biblische und theologische Grundlegung in Seelsorge und eine psychologische Grundlegung in Trauer. In Kapiteln zu Bestattung, Weisheit und Resilienz, Ritualen, Schuld in der Trauer und Hoffnungs- und Trostbildern werden Aspekte von Trauerseelsorge nahegebracht. Eines der Hauptanliegen dieses Buches ist, seelsorgliche Kompetenzen für die Trauerseelsorge zu vermitteln und zu ermutigen, den Transzendenz- und Gottesbezug in die Beziehung einzubringen.

Urs Münch Anhaltende Trauer Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden

Mit einem Vorwort von Heidi Müller. 2020. 125 Seiten, mit 3 Abb. und 1 Tab., kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-40691-5 E-Book: € 13,99 D | € 14,40 A

Die international kontrovers diskutierte, mit der ICD-11 auf uns zukommende Diagnose der »Anhaltenden Trauerstörung« will für betroffene Menschen eine verbesserte Versorgung schaffen. Eine solche Diagnose bringt aber auch Ängste vor einer Pathologisierung von Trauer mit sich. Umso mehr braucht es Wissen, das hilft, die Betroffenen in ihrer Beeinträchtigung erkennen zu können, ihnen Würde wahrend zu begegnen sowie sie angemessen zu unterstützen.

GUTE TRAUERBEGLEITUNG BEZIEHT WISSENSCHAFTLICHE ERGEBNISSE EIN Heidi Müller | Hildegard Willmann Trauerforschung: Basis für praktisches Handeln Edition Leidfaden – Basisqualifikation Trauerbegleitung 2020. Ca. 128 Seiten, kartoniert € 17,00 D | € 18,00 A ISBN 978-3-525-45916-4 Auch als E-Book/E-Pub erhältlich. Erscheint im September 2020

Professionelle Angebote für Trauernde gibt es seit über drei Jahrzehnten. Viele Fachkräfte verfügen über einen großen Schatz an Erfahrungswissen in der Trauerbegleitung. Doch wie steht es um die Kenntnisse aus der Trauerforschung? Welche Faktoren wirken auf das Erleben posttraumatischen Wachstums ein? In welcher Weise sind Kinder bei der Verlustverarbeitung auf ihre Eltern angewiesen? Welche Funktionen könnte die Komplizierte Trauer in der modernen Gesellschaft haben? Verlustsituationen sind komplex. Verkürzte Darstellungen und vereinfachende Annahmen sind wenig hilfreich. Die Autorinnen stellen Kernthemen der Trauerforschung vor, damit Fachkräfte auf wissenschaftlich fundierter Basis Betroffene besser unterstützen können.

ISBN 978-3-525-45921-8

ISBN 978-3-525-45921-8  www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com  € 20,–

9 783525 459218