Von der KPD zu den Post-Autonomen: Orientierungen im Feld der radikalen Linken [1 ed.] 9783666310997, 9783525310991

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Von der KPD zu den Post-Autonomen: Orientierungen im Feld der radikalen Linken [1 ed.]
 9783666310997, 9783525310991

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Alexander Deycke / Jens Gmeiner / Julian Schenke / Matthias Micus (Hg.)

Von der KPD zu den Post-Autonomen Orientierungen im Feld der radikalen Linken

Alexander Deycke/Jens Gmeiner/Julian Schenke/ Matthias Micus (Hg.)

Von der KPD zu den Post-Autonomen Orientierungen im Feld der radikalen Linken

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Veröffentlichungen stellen keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor/die Autorin bzw. tragen die Autoren/die Autorinnen die Verantwortung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: birdys / photocase.de Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-31099-7

Inhalt

Alexander Deycke, Jens Gmeiner, Matthias Micus, Julian Schenke Orientierungen im Feld der radikalen Linken ......................................

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Grundlagen – Konzepte – Begriffe Wolfgang Kraushaar Linke Militanz: Begriff, Geschichte und aktuelle Gestalt ........................ 31 Maximilian Fuhrmann Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff ...................... 43 Peter Imbusch Die radikale Linke zwischen Protest und Militanz. Hintergründe, Besonderheiten und Perspektiven zu linksextremer Gewalt ....................................................................... 57 Historische Einordnung: Linksradikalismus und linke Militanz Marcel Bois Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik ........... 85 Hubert Kleinert Linksradikalismus und Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1990 ............................................. 107

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Inhalt

Deutsche Fallbeispiele Julian Schenke Ganz Hamburg hasst die Polizei? Die autonome Szene in Hamburg und ihr lokalspezifischer Kontext ......................................... 145 Tom Pflicke Mainzer Straße 1990 – autonomer Aktionsraum im Kontext von Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung und linken (Selbst-)Verständigungsdifferenzen .................................................... 177 Tom Mannewitz Die autonome Szene in Leipzig .......................................................... 203 Matthias Micus, Tom Pflicke, Philipp Scharf Facetten des linken Radikalismus in Göttingen .................................... 223 Europäische Fallbeispiele Barbara Fontanellaz Linksradikalismus in der Schweiz: Historische Entwicklungslinien, Gefährdungspotenziale und Ansätze einer linken Ethnologie............................................................................. 267 Anna Carola König, Anne-Kathrin Meinhardt Die centri sociali als Szeneartikulation der radikalen Linken in Italien ..... 285 Jens Gmeiner Autonomer Linksradikalismus in Schweden – Entwicklungslinien, Netzwerke, Themenkonjunkturen und aktuelle Bündnisstrukturen .............................................................. 301

Inhalt

Kontinuitäten und Wandlungen Carsten Koschmieder Gegen Bilderberger, Hochfinanz und Zionisten. Antisemitismus in der politischen Linken und der radikalen linken Szene .................................................................................... 343 Michael Lühmann Antifaschismus in Ostdeutschland. Eine (noch immer) eigene Geschichte ...................................................................................... 361 Alexander Deycke Postautonomie – organisatorische und strategische Entwicklungen in der undogmatischen radikalen Linken seit den 1990er Jahren ............................................................................ 383 Autor*innenverzeichnis .................................................................... 405

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Alexander Deycke, Jens Gmeiner, Matthias Micus, Julian Schenke

Orientierungen im Feld der radikalen Linken Das Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, das Forschungsfeld der Bundesfachstelle Linke Militanz zu umreißen. Zu diesem Zweck ist hier ein breites Panorama von Beiträgen versammelt, sowohl aus dem Kreis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch vonseiten verschiedener einschlägiger Expertinnen und Experten. Der Impuls, diese Beiträge zusammenzuführen, ist aus einer Auftaktkonferenz am 30. November 2017 im Göttinger Institut für Demokratieforschung hervorgegangen, zu deren Gelingen manche der hier versammelten Autoren bereits einen wertvollen Beitrag geleistet hatten.1 Wie für wissenschaftliche Sammelbände üblich und in diesem speziellen Fall auch bereits durch den Titel unterstrichen, in dem von „Orientierungen im Feld der radikalen Linken“ und nicht etwa von sicheren Erkenntnissen oder Gewissheiten die Rede ist, soll zunächst in gleichsam tastenden Suchbewegungen ein wenig erforschtes Terrain durchschritten und abgemessen werden. Der explorative Forschungsprozess ist zum jetzigen Zeitpunkt noch weitgehend unabgeschlossen, zwar allgemein begonnen, vielfach auch avanciert, aber doch bisher noch nirgendwo an seinem Ziel angelangt – was, wie an dieser Stelle eingewandt werden kann, für Forschung generell und immer gilt, da Resultate abgeschlossener wissenschaftlicher Arbeiten durch kommende Untersuchungen stets revidierbar bleiben, ja bleiben müssen. Nicht alle Beiträge reflektieren dabei notwendigerweise die – ohnehin nicht statisch fixierte – Position der Bundesfachstelle, ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dies zu betonen, ist aus zwei Gründen wichtig: Nicht nur lehnen wir es ab, bei der hier anvisierten grundlegenden Erforschung und Durchdringung eines Gegenstandes, welcher sich immer auch tagesaktuell „im Handgemenge“ aktualisiert, konkretisiert und wandelt, der wie alle politisch-kulturellen Phänomene stets auch reich an Irritationen und Paradoxien ist und sich simplifizierenden Formeln verschließt, uns einem dogmatisierten theoretischen Zugriff zu unterwerfen, der die epistemologische Neugierde bremst und die Freiluft des methodischen Pluralismus in einem einengenden Konzeptkorsett abschnürt.

1 Vgl. Kevin Zahn, Auftaktkonferenz. Zur Ethnologie Linker Militanz, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 06.12.2017, URL: http://www.demokratie-goettingen.de/ blog/auftaktkonferenz-zur-ethnologie-linker-militanz [eingesehen am 15.03.2020].

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Überdies gehört es zu den Eigenheiten der hier behandelten Themen, vorsichtig gesprochen, von einem gewissen öffentlichen Interesse zu sein. Häufig wird die Diskussion um linke Militanz und linken Radikalismus dramatisierend, ja emotional geführt. Nicht wenige nutzen ihre Beteiligung daran für politische Stimmungsmache. Wie sehr das den analytischen Blick trüben kann, wurde in der deutschen Debatte zuletzt vor allem auch im Nachgang der Ereignisse während des G20-Gipfels 2017 deutlich. Dementsprechend sollen sowohl sicherheits- und ordnungspolitische als auch affirmativ-sympathisierende Kurzschlüsse vermieden werden. Das leitende Grundmotiv des Bandes ist dabei der Wunsch nach Versachlichung. Wir streben eine fundierte politologische Grundlagenforschung zum Thema Linksradikalismus an, die wir in erster Linie mit dem Instrumentarium der qualitativen Methoden bearbeiten wollen. Dabei sollen auch wesentliche Begrifflichkeiten einer fortlaufenden kritischen Prüfung unterzogen werden. Diese Perspektive gilt es einleitend zu erläutern. G20, der riot und das Problem des aktualitätsfixierten Alarmismus Wer über die radikale bzw. militante Linke in Deutschland sprechen und schreiben will, kommt am G20-Gipfeltreffen vom 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg nicht vorbei. In jenem Hochsommer erlebte die Hansestadt, weithin als Hochburg der autonomen Szene geltend, etwas, das in der Bundesrepublik Deutschland so selten auftritt, dass es zuverlässig die Gemüter heiß laufen lässt: Straßenkrawalle im Rahmen politischer Großproteste. Das Entzünden von Mülltonnen und PKW, das Plündern von Geschäften und ein weitgehend verwüstetes Schanzenviertel haben nach den Protesten gegen den G20-Gipfel zurecht nicht nur die eigentlich toleranten Hamburger schockiert, sondern auch eine bundesweite Diskussion um die Verantwortung für das Geschehene entfacht.2 Das Bemühen um eine nachträgliche Rechtfertigung des Gipfelverlaufes, das die dünn bemäntelten Selbstzweifel nur schwach verdeckt, ist seither sowohl den Entscheidungsträgern der Polizei als auch den als Sprechern der lokalen Szene auftretenden – gleichwohl derartige Repräsentationsrollen vehement leugnen-

2 „Die Bilder von damals hat niemand in der Stadt vergessen, nur hat jeder einen anderen Blick darauf. Die einen erkennen vor allem Gewalttäter, die die Stadt verwüsten, die anderen vor allem Polizisten, die die Kontrolle verlieren. Und am Ende bleibt wie bei einem Kindergartenstreit die Frage: Wer hat angefangen?“ Oliver Hollenstein u. Sebastian Kempkens, Der Aufruhr nach dem Sturm, in: Die Zeit, 28.06.2018; vgl. auch Moritz Eichhorn u. Frank Pergande, Was tun, wenn’s brennt?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.07.2017.

Orientierungen im Feld der radikalen Linken

den – Aktivisten anzumerken.3 Unter dem Eindruck der dramatischen Bilder musste auch die altbekannte Diskussion um den Status autonomer Zentren, insbesondere die Frage nach deren Schließung, wiederkehren.4 Vornehmlich ging es hier um Hamburgs ins Kreuzfeuer geratene Rote Flora; doch auch autonome Aktivisten aus Berlin, Leipzig, Göttingen, Freiburg – viele von ihnen hatten zur Teilnahme am „No G20“-Protest, insbesondere der „Welcome to Hell“-Demonstration aufgerufen – gerieten als „geistige Brandstifter“5 kollektiv in den Verdacht, zu allem bereite Krawallmacher hervorzubringen. Im Rahmen mehrerer Razzien suchte die Sonderkommision „Schwarzer Block“ bundesund europaweit nach belastendem Beweismaterial.6 Grundlage war bzw. ist der Verdacht, die Ausschreitungen von Hamburg seien minutiös geplant gewesen.7 Gerade dieser Verdacht aber passt nicht zu einer entscheidenden Beobachtung: Die Gewalt im Schanzenviertel entlud sich zum Teil nach dem Muster von riots, wie sie vor allem aus dem südeuropäischen und angloamerikanischen Raum bekannt sind, das heißt in überraschend eruptiver Plötzlichkeit, in organisatorisch entbundenem Tumultismus, an dem keineswegs nur einschlägig erfahrene Aktivisten beteiligt gewesen sind, sondern auch ein diffuses

3 Thomas Hahn, Polizei verteidigt Vorgehen bei Hamburger Krawallen, in: sueddeutsche.de, 06.04.2018, URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/sonderausschuss-zu-g-gipfel-polizeiverteidigt-vorgehen-bei-hamburger-krawallen-1.3934477 [eingesehen am 15.03.2020]; Lena Kaiser u. Katharina Schipkowski, „Eine beachtliche Kaltschnäuzigkeit“. Interview mit Andreas Blechschmidt, in: taz.de, 17.04.2018, URL: http://www.taz.de/!5496108/ [eingesehen am 15.03.2020]. 4 Vgl. o. V., „Wir können solche Räume nicht zulassen“, in: Spiegel Online, 16.07.2017, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/rote-flora-politiker-fordern-schliessung-vonautonomen-zentrum-in-hamburg-a-1158080.html [eingesehen am 15.03.2020]. Vgl. für den lokalen Kontext auch dokumentierend Oliver Schirg u. Sandra Schröpfer, Rote Flora räumen – oder alles so lassen, wie es ist?, in: Hamburger Abendblatt, 22.07.2017, URL. https://www.abendblatt.de/hamburg/article211331927/Rote-Flora-raeumen-oder-allesso-lassen-wie-es-ist.html [eingesehen am 15.03.2020]. 5 Vgl. o. V., Olaf Scholz: Fünf Lehren aus dem G20-Gipfel, in: Hamburger Abendblatt, 12.07.2017, URL: https://www.abendblatt.de/hamburg/g20/article211219451/Regierungserklaerung-OlafScholz-ueber-das-G20-Desaster.html [eingesehen am 15.03.2020]. 6 Vgl. Stefan Buchen, G20-Razzia: Durchbruch bei den Ermittlungen oder PR-Bluff?, in: ndr.de, 05.12.2017, URL: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/G20Razzia-Durchbruch-bei-den-Ermittlungen-oder-PR-Bluff,gzwanzig334.html [eingesehen am 15.03.2020]; ferner o. V., Razzien in vier europäischen Ländern, in: tagesschau.de, 29.05.2018, URL: https://www.tagesschau.de/inland/g20-elbchaussee-razzien-101.html [eingesehen am 15.03.2020]; für den jüngsten Einsatz vgl. o. V., G20: Soko „Schwarzer Block“ schlägt wieder zu, in: ndr.de, 15.08.2018, URL: https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Soko-SchwarzerBlock-schlaegt-wieder-zu,soko130.html [eingesehen am 15.03.2020]. 7 Vgl. o. V., Polizei geht von geplantem Angriff aus, in: tagesschau.de, 05.12.2017, URL: https:// www.tagesschau.de/inland/g20-hamburg-105.html [eingesehen am 15.03.2020].

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„Laufpublikum“8 aus Trittbrettfahrern, über deren Motive nur zu mutmaßen ist. Diese Beobachtung scheint einen generellen Trend hin zu organisatorisch ungebundener, situativ entladener Frustration zu bestätigen, die sich u. a. infolge wachsenden sozialökonomischen Konfliktpotenzials insbesondere in Städten mit zugespitzter sozialer Polarisierung und forcierter Verdrängung der weniger einkommensstarken Bevölkerungsteile aus den modernisierten Innenstadtgebieten in den vergangenen Jahren aufgestaut hat und nach Entladung drängt. Mit anderen Worten: Womöglich kehrt der vormoderne „Mob“ zurück, der von der politischen Bühne verschwunden schien im Zeitalter der Hochindustrialisierung mit ihrer arbeitsteilig aufeinander bezogenen und die individuellen Fertigkeitsdifferenzen in stumpfen Routinehandgriffen nivellierenden Fließbandarbeit sowie der Organisierung der Arbeiter in Gewerkschaftsbünden und Mitgliederparteien, die auf den Aufbau von Gegenmacht durch disziplinierte – und infolge ihrer hierarchischen Steuerung und der Verpflichtung der Beteiligten auf den Aufschub unmittelbarer Bedürfnisse zugunsten umso weitreichenderer langfristiger Ziele pazifizierend wirkende – Massenaktionen setzten. Das wesentliche Spezifikum dieser Form von (post-)modernem riot ist, folgt man dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler und Aktivisten Joshua Clover, die Fixierung des Unmuts auf den anonymen Staat, seine Infrastruktur und seine Repräsentanten.9 Gerade Clovers Wunsch aber, riot als anarchistische Aktionsform zu institutionalisieren, die dann durch die Bezeichnung „Insurrektionalismus“ veredelt wird, bildet keineswegs Realitäten ab: Die Ausschreitungen in Clichy-sousBois 2005, in Tottenham 2011, und Oakland 2011–2012, in Ferguson 2014 und Baltimore 2015, aber auch Phänomene wie der Tiananmen-Protest 1989, die riots in Los Angeles 1992 oder die Proteste auf dem Tahrir-Platz 2012 zu Hoffnungsträgern des emanzipativen politischen Aufstands zu stilisieren, wirkt als Wunschdenken und ist empirisch mindestens zweifelhaft. Waren etwa die riots der afroamerikanischen Bevölkerung in Ferguson 2014 und in Baltimore 2015, so berechtigt der Unmut gewesen sein mag, schon Keimformen einer besseren „political form“ des Zusammenlebens, nur weil sie gegen den Staat rebellierten?10 Und obwohl die deutschen Verhältnisse nicht viel mit den US-amerikanischen gemein haben, verhält es sich mit Hamburg 2017 doch ganz ähnlich: Was 8 Vgl. ipbteam, G20 – warum eskalierte der Gipfel? Interview mit ipb-Forscher Peter Ullrich, in: Internetpräsenz des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung, URL: https://protestinstitut.eu/g20-eskalation-interview-peter-ullrich/ [eingesehen am 15.03.2020]. 9 Vgl. Joshua Clover, Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings, London/New York City 2016, S. 11. 10 Vgl. ebd., S. 187.

Orientierungen im Feld der radikalen Linken

geschah geplant, inwiefern war die dortige Gewalt überhaupt „links“ bzw. „linksextrem“? Dazu gibt es natürlich verschiedene, szenekritische wie szenefreundliche, Interpretationsangebote. Doch die allgemein geteilte Fixierung auf das Event, das medial einprägsame Großereignis, das sich wie ein dramatisierender Aufmerksamkeitsmarker in die öffentlich zugängliche Chronik der „autonomen Szene“ einsenkt, lässt bisweilen vergessen: Wir wissen es nicht. Genau hier liegt das Problem. Zwar sind die exakten Zusammenhänge, insbesondere die Rolle der autonomen Szene bei der Eskalation im Schanzenviertel, bisher nicht überzeugend rekonstruiert worden, vielleicht werden sie es nie. Von behördlicher Seite werden dennoch weitreichende Schlüsse gezogen: Ohne dass der Verdacht der dezentral konzertierten Planung der G20-Krawalle stichhaltig erhärtet werden konnte, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2017 aus der Feder des Innenministers Horst Seehofer kompromisslos und monokausal: „Während des G20-Gipfels suchten Linksextremisten schwere Konfrontationen mit Polizeikräften, ereiferten sich in Gewaltexzessen und verübten Brandanschläge. Über 230 Polizistinnen und Polizisten wurden bei diesen inakzeptablen Krawallen verletzt.“11 Man muss kein Aktivist sein, um sich angesichts dessen an ein Bonmot des Kultursoziologen und Schriftstellers Nicolaus Sombart erinnert zu fühlen: „Es ist dabei geblieben, daß die Abwehrstrategien eines modernen Staates gegen seine innenpolitischen Gegner immer von dem gleichen Szenario ausgehen […]. Es bedarf dazu des Nachweises, daß der politische Gegner ein gemeingefährlicher Verbrecher ist. Um diesen Nachweis überzeugend führen zu können, bedarf es der verbrecherischen Tat. Wo sie nicht rechtzeitig begangen wird, muß sie in Szene gesetzt werden.“12

Insofern hat die Episode von G20 (abermals) gezeigt: Eine sachliche Diskussion von linker Militanz als politischem, mithin politikwissenschaftlich zu ergründendem Phänomen wird durch den jederzeit reaktivierbaren, aktualitätsfixierten Alarmismus und die unsaubere Vermengung mit anderen Formen von urbaner Militanz erheblich erschwert. Diese Situation zeitigt auch in der einschlägigen Forschungslandschaft zum Themenfeld eine starke Dichotomisierung. Wer die Absicht verfolgt, sich der weitgehend emotionalisierten Thematik wissenschaftlich und sachlich zu nähern, sieht sich Angriffen von zwei Seiten ausgesetzt: zum einen seitens einer 11 Vgl. Horst Seehofer, Vorwort des Bundesministers des Innern, für Bau und Heimat Horst Seehofer, in: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Verfassungsschutzbericht 2017, Berlin 2018, URL: https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2017.pdf [eingesehen am 15.03.2020], S. 3–5, hier S. 3. 12 Vgl. Nicolaus Sombart, Räuber und Gendarmen. Zur Psychologie der Anarchismusangst, in: Ders., Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse, München u. Zürich 1987, S. 134–141, hier S. 137.

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sicherheitspolitisch argumentierenden Denkschule, die ihre Perspektive vornehmlich mithilfe des Extremismusbegriffs zuschneidet; zum anderen von der Warte eines der linken Szene grundsätzlich wohlwollend gestimmten Lagers, das sich aus politisch nahestehenden Bewegungsforschern und Sozialwissenschaftlern sowie Chronisten aktivistischer Bewegungen zusammensetzt. Erkenntnisinteresse und Annäherung an die radikale Linke Bei der Geschichte und Gegenwart linksmilitanter bzw. linksradikaler Gruppen handelt es sich um eine facettenreiche Thematik, die gerade in Deutschland in engem Zusammenhang mit den Wandlungs- und Evolutionsprozessen der politischen Kultur steht. Das zeigt nicht nur die (Wirkungs-)Geschichte jener Jahre um „1968“, die in der alten Bundesrepublik einer Phase gesellschaftlicher Umbrüche ihre spezifisch kulturelle Prägung verliehen – sei diese nun durch eine „Fundamentalliberalisierung“ oder durch den bloßen Austausch der bürgerlichen Eliten mit nicht wenigen deutungskräftigen ehemaligen Aktivisten gekennzeichnet, die aus ihren umstürzlerischen kommunistischen Zirkeln wie aus Schlüsselkompetenz-Kursen hervorgingen.13 Auch im 21. Jahrhundert scheint es vornehmlich der bürgerliche Mittelstandsnachwuchs zu sein, der sich in autonomen Gruppen und Zentren betätigt. Die Teilnehmer bei Occupy etwa oder bei den Kundgebungen der jüngsten Vergangenheit in Athen, Rom, Madrid zählten keineswegs zur Gruppe der Abgehängten, zur Klasse der Bildungsarmen. Im Gegenteil: In den neuen Protestbewegungen dominieren junge Leute mit Abitur und Hochschulausbildung, denen allerdings einstweilen der Einstieg in eine sichere, materiell attraktive Berufslaufbahn versperrt oder doch unsicher und in der Regel noch Zukunftsmusik ist. Zwar blickt die Bundesrepublik mit ihrem soliden Beschäftigungsniveau nicht auf eine besonders zahlenstarke oder besonders orientierungslose Jugend, doch sind Zukunftssorgen und Unsicherheiten auch hier – bei aller von den jüngsten Shell-Jugendstudien herausgearbeiteten Polarisation der Problemwahrnehmungen und Lebenschancen auch und gerade in den nachwachsenden Alterskohorten – schichtenübergreifend virulent.14 Bezeichnend ist dafür ein Reisebericht von Mitgliedern einer Gruppe aus dem postautonomen …ums Ganze!-Bündnis, von ihren Erlebnissen bei einer

13 Vgl. Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000 sowie Robert Lorenz u. Franz Walter (Hg.): 1964 – das Jahr, mit dem „68“ begann, Bielefeld 2014. 14 Vgl. Julian Schenke u. a., PEGIDA-Effekte? Jugend zwischen Polarisierung und politischer Unberührtheit, Bielefeld 2018, insbesondere S. 300–322.

Orientierungen im Feld der radikalen Linken

Vortragstour entlang der Westküste der USA.15 Diese zeigten sich ziemlich erstaunt über den teilweise vorhandenen „Straßengang- und ArbeiterklasseHintergrund“ der US-Aktivisten, angesichts dessen sie sich „Fehl am Platz“ vorgekommen seien. Und ausdrücklich konstatierten sie: „Auch ist die Szene viel weniger akademisch als in Deutschland. Das ist kein Wunder, bei den happigen Studiengebühren und der Tatsache, dass viele Antifaschist*innen nicht aus wohlhabenden Elternhäusern kommen.“ Die Folge: „Während aus unserer Erfahrung Konflikte zwischen Klassen- und Identitätspolitik in Deutschland sehr vehement ausgetragen werden, erscheint der Umgang der US-Genoss*innen damit entspannter“ – was ebenfalls auf die geringere Akademikerquote in der radikalen Linken der Vereinigten Staaten zurückgeführt wird. Das aber wirft die Frage auf: Warum radikalisiert sich ausgerechnet die als saturiert vermutete Mitte? Wie und wieso führt sie das Ungenügen an den eigenen Lebensbedingungen in die autonome Militanz, die sich doch durch eine umfassende, auch lebensweltliche Widerständigkeit auszeichnet – und sich nicht bloß dem geltenden Regelsystem zu entziehen versuchen, sondern ebenfalls der Arbeit, dem Geldverdienen, der (bürgerlichen) Karriere? Und wie passt die demonstrative Praxisorientierung der Autonomen, die Fetischisierung der Tat und der kämpferischen Haltung, zur linken Theorieneigung, zu den umfänglichen schriftlichen Selbsterklärungen, zur auch und gerade beobachtbaren autonomen Diskursivität? Insgesamt deutet einiges darauf hin, dass neben der politischen Orientierung auch biographisch bedingte Identitätsunsicherheiten und Suchbewegungen ein wesentliches Movens für das Engagement in links-militanten Subkulturen sind. Diesem Erkenntnisinteresse widmet sich die Bundesfachstelle Linke Militanz. In der Forschungstradition des Instituts für Demokratieforschung wurzelnd, fragen wir nach der Bedeutung linker Radikalität und linker Militanz als einem Phänomen politischer Kultur mit dem Ziel, es für die bundesrepublikanische Demokratie zu eruieren und im historischen Längsschnitt zu deuten. Diesem Ansatz folgt auch der vorliegende Sammelband, der den Linksradikalismus von der KPD bis zu den Post-Autonomen näher in den Blick nimmt. Es geht uns dabei diesseits des Formalen, d. h. von Organisationsweisen, Positionspapieren, Bündnissen, Aktionsformen, vor allem um individuelle Motive und Radikalisierungskarrieren, um Selbstinszenierungen (Symbole, Rituale, Codes), um Lebenswelten und Verflechtungen mit der politischen Mehrheitskultur, um Bezugspunkte zur gesellschaftlichen Mitte, Konflikt- und Eskalationskonstel-

15 Hierzu und im Folgenden Linda Mayer u. Miro Janusz, Home of the Brave: Antifa in den USA, 6.12.2018, in: Supernova Magazin, URL: https://www.supernovamag.de/home-of-thebrave/ [eingesehen am 15.03.2020].

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lationen (also ebenfalls die Rolle von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und Medien). Dennoch erscheinen uns an dieser Stelle einige Anmerkung zum Formalen in Gestalt der Begriffe, die zur Bezeichnung der hier untersuchten Phänomene und Bestrebungen gewählt werden, angebracht. Dies auch angesichts der in diesem Text bis hierin für den zu untersuchenden Gegenstand uneinheitlich verwendeten Bezeichnungen, die offenlassen, ob die hinter den beschriebenen Aktionsformen und Protestmanifestationen stehenden Gesinnungen, Mentalitäten und Handlungsweisen sich am treffendsten mit dem Begriff der linken Militanz, des Linksradikalismus oder des Linksextremismus bestimmen lassen. Hierzu soll im Folgenden in die zentralen Begrifflichkeiten eingeführt werden. Linksextremismus – Linksradikalismus – linke Militanz Der Begriff des Extremismus ist unter den terminologischen Alternativen zur Bezeichnung fundamentaloppositioneller politischer Weltanschauungen und Gruppenzusammenhänge diejenige, welche die stärkste Verbreitung gefunden hat. Dies gilt jedenfalls für den Sprachgebrauch in Deutschland seit den 1970er Jahren, seitdem er in den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik verwendet wird und dort im Wesentlichen die Zuschreibung des Radikalismus verdrängt hat. Als Kontrastfolie des Demokratischen zeichnet sich die Bestimmung des Extremismusbegriffs vor allem durch die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates aus. Dessen Kernbestandteile, also den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, den Pluralismus, wollten die Extremisten – so heißt es – abschaffen. In dieser Absicht wären sie miteinander verbunden, gemeinsam sei ihnen, sich an die Gesetze in Deutschland nicht halten zu wollen, die Autorität von Regierungen, Parlamenten, Gerichten zu bestreiten und doktrinär den Glaubenssätzen einer starren Ideologie zu folgen. Ebenso würden Extremisten lagerübergreifend der Illusion einer homogenen Gesellschaft anhängen, deren Mitglieder sich unter den gegebenen Verhältnissen ihrer gleichgerichteten Bedürfnisse und Ziele nur aufgrund von fremdgesetzten Konkurrenzzwängen, eliteninduzierten Manipulationen und kapitalismusbedingten Entfremdungsprozessen nicht bewusst werden könnten. Dem setzten Extremisten das Wir-Gefühl in hochgradig binnenintegrierten Gruppen entgegen, die pars pro toto, so klein sie auch seien, das nicht-entfremdete, nicht-manipulierte, ihrer selbst bewusste Gute verkörpern würden, ständig bedroht von den Herrschenden, die in den Bewusstseinsavantgarden zurecht den Maulwurf erblicken würden, der ihre Vorrangstellung untergräbt. Der Ablehnung von Gewaltenteilung, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit entsprächen mithin, positiv gewendet, die für jeden Extremismus charakteristischen und allen verschiedenen Formen gemeinsamen

Orientierungen im Feld der radikalen Linken

Merkmale Absolutheitsanspruch, Dogmatismus, Utopismus, Freund-FeindDenken, Fanatismus und Verschwörungsdenken.16 Als das spezifisch Linke, als Verbindungsglieder zwischen den zahlreichen Theorietraditionen, Gesellschaftsbildern und Selbstverständnissen des mosaikartig zersplitterten Linksextremismus nennt beispielsweise Anja Reumschüssel in einer Überblicksdarstellung zum Extremismus und seinen diversen Spielarten: die Orientierung auf einen grundlegenden Gesellschaftswandel; das Ideal umfassender Gleichheit zwischen den Menschen; die Überzeugung, der Staat solle sämtliche sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Belange regeln; eine entschiedene Gegnerschaft zum Staat und seine Repräsentanten, namentlich der Polizei (was freilich in einem scharfen Widerspruch zu dem zuvor genannten Kernelement des Linksextremismus steht); der Schutz von Tieren und Umwelt; eine internationalistische Orientierung; und die Unterstützung von ganz disparaten Teilbereichsinitiativen wie etwa Gruppen, die sich für Frauenrechte, Bi-, Homo- und Transsexuelle oder Geflüchtete und Migranten einsetzen.17 Diese Aufzählung lässt den Leser einigermaßen irritiert zurück, da die allermeisten Punkte intuitiv eher einen Vorbilddemokraten zu kennzeichnen scheinen, der diskriminierungssensibel und gemeinwohlorientiert der Garant einer aktiven Zivilgesellschaft ist, die liberalen Demokratietheoretikern ohne jede Neigung zum Linksextremismus zufolge neben der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit das Fundament einer jeden freiheitlichen Demokratie darstellt.18 Maximilian Fuhrmann verdichtet Charakteristika des Linksextremismus sehr viel überzeugender auf die Kombination aus Opposition gegen den Verfassungsstaat und Streben nach sozialer Gleichheit, dies analog zum Rechtsextremismus, der in der Kombination aus Opposition gegen den Verfassungsstaat und grundsätzlichem Antiegalitarismus zu sich selbst finde.19 Das Problem sei nun, so Fuhrmann, dass erstens bei der Anwendung der Negativ- wie der Positivdefinition durch den hegemonialen Zweig der Extremismusforschung Spielräume blieben, die von denen, die den Extremismusbegriff gebrauchen, genutzt werden könnten – entweder zugunsten der Stabilität der bestehenden staatlichen Institutionen und ordnungsgemäßen Verfahren oder zugunsten der individuellen sozialen und politischen Grundrechte. Entweder stehe im Vordergrund, dass man Parlamente und Parteien gutheißt und sich an die Gesetze hält – oder dass man die Meinungsfreiheit und das Versammlungsrecht hochhält. 16 Vgl. Eckhard Jesse, Fundamentalkritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie und am Extremismusbegriff. Auseinandersetzung mit differenzierter und plumper Kritik, in: Ders., Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen. Historisch-politische Streifzüge, Köln 2015, S. 177–198. 17 Vgl. Anja Reumschüssel, Extremismus, Hamburg 2018, S. 94ff. 18 Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965. 19 Vgl. hierzu und im Folgenden den Text von Maximilian Fuhrmann in diesem Sammelband.

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Angesichts der Deutungshoheit liberal-konservativer Extremismustheoretiker und der Institution Verfassungsschutz falle die Entscheidung zugunsten der staatlichen Institutionen aus, wodurch eine etatistische Schlagseite entstehe, vor deren Hintergrund vor allem solche politischen Strömungen als extremistisch gelten würden, die die staatliche Ordnung infrage stellen. Ebenfalls sei zweitens, so immer noch Fuhrmann, die Positivbestimmung des Linksextremismus, d. h. das Streben nach sozialer Gleichheit, problematisch, da dann recht eigentlich auch andere historische Interessenagenturen nicht zuletzt der sozial Schwächeren wie die Gewerkschaften, die Sozialdemokratie und die Volkskirchen unter Extremismusverdacht gestellt werden müssten. Zudem seien die Phänomene, Strukturen, Identitäten, die unter dem Begriff Linksextremismus zusammengefasst würden, derart unterschiedlich, dass der Begriff jede Erklärungskraft verliere. Das Gemeinte zeigt sich mit Blick auf die zwei Fundamentalkategorien der Demokratie. Dem Vater der Aufklärung, Immanuel Kant zufolge, ist der „normative Kerngehalt der Demokratie“ die „gleiche Freiheit“, essentiell für Demokratie seien mithin Freiheit und Gleichheit bzw. politische Gleichberechtigung. Beides sei nicht losgelöst voneinander denkbar, gelte doch, dass zur gleichberechtigten Teilhabe an der politischen Willensbildung der Einzelne nicht fremdbestimmt sein dürfe, er vielmehr frei sein müsse. Nur dann sei eine sinnvolle Stimmabgabe und Entscheidungsbeteiligung möglich.20 Nimmt man diese Begriffe, Gleichheit und Freiheit, als Grundlage der Demokratie, dann lässt sich der Rechtsextremismus ziemlich eindeutig im Überschneidungsbereich von Ungleichheit und Unfreiheit verorten – und im Übrigen klar im antidemokratischen Bereich. Ein Denken, das Gleichheit und Freiheit betont, lässt sich dagegen keineswegs oder doch jedenfalls nicht ganz unzweideutig als anti-demokratisch bezeichnen. Auch der Antikapitalismus, der von Extremismusforschern als vermeintlicher Ausweg aus dem Gleichheitsdilemma bei der Bestimmung der pauschalen Verfassungsfeindschaft der radikalen Linken gefunden wurde und heute geradezu als Synonym für die linke Ausprägung des Extremismus gilt, hilft da nicht wirklich weiter. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Konzept einer „sozialen Demokratie“, das in der Weimarer Republik durch die Staatsrechtler Hermann Heller, Franz Neumann und Otto Kirchheimer geprägt worden war21 und in der jungen Bundesrepublik dann vor allem durch Wolfgang Abendroth fortgeführt

20 Vgl. hierzu Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Quellen und Studien zur Philosophie, Berlin 1984. 21 Vgl. Oliver Eberl u. David Salomon, Soziale Demokratie in der Postdemokratie, in: Dies. (Hg.), Perspektiven sozialer Demokratie in der Postdemokratie, Wiesbaden 2016, S. 1–18, hier S. 4.

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wurde.22 Die Theoretiker der sozialen Demokratie sahen Recht und Staat nicht als autonome Größen an, sondern betrachteten beide als in Wechselwirkung stehend mit dem – wenn man so will – gesellschaftlichen Unterbau, mit den politischen, kulturellen und religiösen Verhältnissen, mit der vorherrschenden Gestaltung der Familienbeziehungen ebenso wie mit den Wirtschaftsstrukturen.23 Sie beschäftigten sich also nicht bloß mit dem institutionellen Gefüge, sondern auch den historisch gewachsenen kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen des demokratischen Verfassungsstaats, beschränkten die Demokratie mithin nicht bloß auf politische Verfahren und juristische Praxen, sondern bezogen die gesamte Lebenswelt mit ein, das Privatleben, die Sozialisationsinstanzen und Arbeitsbeziehungen. In solch einer Perspektive rücken die Defizite der demokratischen Wirklichkeit – bzw. der Wirklichkeit des Lebens auch in stabilen liberalen Demokratien – in den Fokus, zudem die gesellschaftlichen Machtungleichgewichte, sozialen Konflikte und widerstreitenden Interessen. Die Verfassungswirklichkeit erscheint weniger als in Stein gemeißelte Realisierung des demokratischen Staates denn als „Waffenstillstand“ zwischen konfligierenden Interessen; weniger als die Verwirklichung absoluter und dementsprechend unantastbarer Werte, als die sie sich aus der Perspektive der Extremismustheorie darstellt, denn als ein für alle in Auseinandersetzungen verbindliches „tragbares Minimum“ – ein Minimum, so muss hinzugefügt werden, das Veränderungen, auch fundamentale möglich macht und erlaubt. Bezogen auf die Wirtschaftsbeziehungen liegt aus einem so gearteten Blickwinkel eine Kritik an kapitalistischen Eigentums- und Machtballungen nahe, wie sie etwa der 1985 verstorbene Marburger Politikwissenschaftler Abendroth formulierte, wenn er die „soziale Demokratie“ als demokratisch planenden sozialen Wohlfahrtsstaat auf demokratischer und sozialistischer Grundlage bestimmte. Wie immer man zu solch einer Demokratievorstellung stehen mag, wollte Abendroth seine soziale Demokratie doch jedenfalls nur „in dem Maße“ sich jeweils verwirklichen lassen, „das die Mehrheitsverhältnisse in den gesetzgebenden Körperschaften jeweils bestimmen“.24 Er setzte also auf eine verfassungskonforme Überwindung der Verfassung vermittels der parlamentarischdemokratischen Institutionen und im Modus strikter Legalität, also letztlich auf eine Transformation der privatkapitalistischen Ordnung und eine Veränderung 22 Vgl. Wolfgang Abendroth, Der demokratische und soziale Rechtsstaat als politischer Auftrag, in: Joachim Perels (Hg.), Wolfgang Abendroth. Arbeiterklasse, Staat und Verfassung. Materialien zur Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie der Bundesrepublik, Köln/Frankfurt a. M. 1977, S. 179–201, hier S. 190f. 23 Franz Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, Frankfurt a. M. 1980, S. 34. 24 Vgl. hierzu und im Folgenden Michael Th. Greven, Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Leverkusen 2011.

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der Eigentumsverhältnisse auf gesetzlich erlaubte Weise und im Rahmen des verfassungsmäßig gegebenen Reglementariums. Im dichotomen Kategorienschema der Extremismusforschung wäre Abendroth ein Extremist gewesen, da er ein Antikapitalist war und sich im Widerspruch zu Grundtatsachen der zu seiner Zeit bestehenden Demokratie befand. Liest man Abendroths Schriften und resümiert sein Wirken, dann war er jedoch viel eher ein radikaler Demokrat, vielleicht auch ein Radikaler, insofern seine Kritik an den Wurzeln ansetzte, aber jedenfalls kein totalitärer Anti-Demokrat. An Abendroth lässt sich beispielhaft zeigen,25 dass die Extremismusforschung mit ihren binären Zuschreibungen und ihren Faustformeln, nach denen Extremisten die Demokratie bekämpfen, was sich in ihrer Haltung zum demokratischen Verfassungsstaat offenbart, unterkomplex ist. Eher schon scheint die Unterscheidung von Michael Th. Greven sinnvoll, der eine legitime von einer illegitimen Demokratiekritik unterschied. Dabei gehe es der legitimen Kritik darum, den normativen Kerngehalt der Demokratie angesichts neuer Probleme oder einer unvollkommenen institutionellen Umsetzung besser zu verwirklichen, während die illegitime Kritik jene expliziter Gegner und Feinde der Demokratie sei, gegen die sich die Demokratie wehren können müsse.26 Womit sich aber bezüglich des Linksextremismus wiederum die Frage nach dessen pauschalem Extremismusgehalt stellt, da die als linksextremistisch gebrandmarkten Erscheinungen nicht bloß große Unterschiede in Bezug auf die Freiheitsdimension aufweisen, wo sich am linken Rand bürokratisch-autoritäre Strömungen ebenso finden wie antiautoritäre und anarchistische, was sie so verschieden macht, dass sie unter ein und denselben Begriff, wie immer er lautet, insofern nur schwerlich subsumierbar sind. Vielmehr sind sie dort, wo sie sich einig sind, im Bereich des Gleichheitsdenkens, nicht anti-demokratisch und ihre Kritik an den demokratischen Zeiterscheinungen folglich nicht illegitim. Aufgrund der nicht zuletzt im Wissenschaftsbereich verbreiteten Kritik an der Anwendung des Extremismusbegriffs auf die radikale Linke und der wenig überzeugenden Resultate von Versuchen, strömungsübergreifend verbindende linksextremistische Einstellungen zu ermitteln, geriet in der Vergangenheit der Begriff der linken Militanz als Alternative in das Blickfeld. Er orientiert sich stärker an der Handlungsebene. Wir haben in einem früheren Versuch, linke Militanz zu bestimmen, folgende Grobdefinition aufgestellt: Militanz sei eine erstens kämpferische, dabei aber nicht automatisch gewalttätige, und zweitens tatbetonende politische Strategie, die sich drittens mit radikalen Absichten und Zielen verbinde. Der Ort von Militanz, stellten wir 25 Wolfgang Abendroth, Demokratie als Institution und Aufgabe, in: Perels, Wolfgang Abendroth, S. 21–32, hier S. 24. 26 Vgl. Greven, Systemopposition, S. 180.

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fest, sei die Straße, der öffentliche Raum, sie ziele auf Grundsätzliches, die Wurzeln der politisch-gesellschaftlichen Erscheinungen. Und sie sei dadurch gekennzeichnet, dass diese radikalen Ziele mit einer kämpferischen – im Szenejargon: entschlossenen – Haltung vertreten würden. Hinzu kam eine inhaltliche Bestimmung des Linken an der Militanz, resultierend aus den inhaltlichen Forderungen im Rahmen von Militanzdebatten in einschlägigen Szene-Publikationen wie der Interim seit den 1980er Jahren. Diesen zufolge zeichnet sich spezifisch linke Militanz aus durch eine antizentralistische Bürokratiekritik, also die Forderung nach der Ermächtigung lokaler Einheiten und der Bildung von Räten. Institutionen werden abgelehnt, die Verdikte treffen Parlamente, Parteien und etwa Gewerkschaften gleichermaßen. Zudem wird die (revolutionäre) Aktion betont und insgesamt eine organisatorische und taktische Nähe zu anarchistischen Ideenströmungen und Handlungskonzeptionen gezeigt. Damit deckte (und deckt) sich unser Verständnis von linker Militanz weitgehend nicht nur mit der Militanzbestimmung des ehemaligen Mitgliedes der Bewegung 2. Juni Klaus Viehmann, die dieser vor einigen Jahren unter Verweis auf die Verwendung des Militanzbegriffs im romanischen und angelsächsischen Ausland vorgenommen hat. „Im Unterschied zu unreflektierter und struktureller Gewalt, aber auch zu akademischer Sterilität“, so Viehmann, sei linke Militanz das „Resultat aus militantem Wünschen und militanten Handeln“. Militanz stehe „für politisch Aktive bzw. für AktivistInnen“, „militante Linke“ seien „das bewusste Gegenteil“ von „Opportunisten“ wie auch „Funktionären“, „militante linke Organisationen“ schließlich „Kollektive, die ihre Politik selbstverantwortlich, reflektiert, entschieden und offensiv“ betrieben.27 Weitreichende Überschneidungen weist unsere Definition linker Militanz darüber hinaus mit dem auf, was Hans Manfred Bock den „linken Radikalismus“ oder „Linksradikalismus“ genannt hat. Diesen hat er in einem knapp ein halbes Jahrhundert alten und immer noch sehr lesenswerten Buch in eine Tradition gestellt, die von der Bewegung der Jungen in der Sozialdemokratie um 1890 über den Rätekommunismus in der frühen Weimarer Republik bis hin zum antiautoritären Flügel der 68er-Bewegung reichte und von dieser in den 1970er Jahren ausfloss in die Basis- und Projektgruppen, die maoistischen K-Gruppen, die trotzkistischen Organisationen und die frühe RAF.28 Bock sieht das Verbindende in dem antiinstitutionellen Affekt, der Forderung nach Selbstaktion; antiautoritärer Organisationskritik; Kritik an der traditionel27 Klaus Viehmann, Militanz, in: Ulrich Brand u. a. (Hg.), ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 168f. 28 Hans Manfred Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘ in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt a. M. 1976.

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len Arbeiterbewegung; der Betonung von Spontaneität; und der Verlagerung des revolutionären Subjektes von der Arbeiterklasse auf die Studierenden/Randgruppen. Auch hier zeigt sich charakteristisch die Verbindung marxistischer und anarchistischer Ansätze, von historischem Materialismus und Voluntarismus, Politik und Subkultur, Denken und Handeln. Der Marburger Ideengeschichtler Thomas Noetzel wiederum hat nach dem G20-Gipfel Linksradikale und Linksextremisten wie folgt unterschieden: „Radikale wollen mit ihren Ideen an die Wurzel eines Problems gehen und deswegen auch keine Kompromisse eingehen. Extremisten gehen noch einen Schritt weiter. Zum Extremisten wird man, wenn man die Ideen auf die Straße bringt. Der Extremist nimmt den Radikalen erst richtig ernst – er setzt seine Ideen um.“29 Ein so verstandener Linksextremismus wäre vereinbar mit unserer Bestimmung von linker Militanz und linkem Radikalismus. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern man den Begriff dann braucht, da Bock zufolge beide Komponenten – Ideen und Aktionen – ja schon im Linksradikalismus zusammenfallen und der Linksradikale sich eben dadurch von der traditionellen Arbeiterbewegung, die – so der Vorwurf – passiv auf den Großen Kladderadatsch zuwartete, abgrenzte. So oder so wäre unser Plädoyer nach dem bisher Gesagten, im Sinne von Bocks Ansatz den jeweiligen Begriff – ob linke Militanz, Linksradikalismus oder Linksextremismus – nicht negativ aus der Ablehnung von Grundelementen des Grundgesetzes abzuleiten, sondern aus der Beschäftigung mit dem Gegenstand selbst zu entwickeln, den Begriff also nicht an den Anfang, sondern ans Ende der Analyse zu stellen. Denn schließlich ließe sich ja begründet auch behaupten, die eigentlich existenzgefährdenden Probleme der Demokratie rührten aus ganz anderen Ecken her: So sah Colin Crouch schon vor zwei Jahrzehnten die Demokratie zur Postdemokratie degenerieren, nicht weil Radikale sie von verschiedenen Seiten hart bedrängten, sondern aufgrund einer Verselbständigung der Exekutive und der politisch-ökonomischen Machteliten, die die politische Willensbildung der Bevölkerung bei Wahlen ad absurdum führten.30 Und der Soziologe Stephan Lessenich sieht in seinem 2019 erschienenen Buch „Grenzen der Demokratie“ die moderne Demokratie sich in ihrem destruktiven Verhältnis zur Natur selbst gefährden. Der demokratiestützende permanente Wohlstandszuwachs basiere auf einem Raubbau an der Natur, der bald an ein Ende komme, da sich die ökologischen Kosten nicht mehr externalisieren ließen und das weitere Wirtschaftswachstum und damit der soziale Ausgleich infrage gestellt würden. Und da sich gegenüber bzw. in der Natur bisher auch die niedrigsten Bürger als 29 Zit. nach Yves Bellinghausen, Linksradikal? Linksextrem? Linksautonom?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.07.2017. 30 Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2000.

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Herren fühlen könnten, die bedenkenlos heizen, Sprit und Strom verbrauchen, falle mit dem nahenden Ökokollaps auch eine wesentliche „psychopolitische Kompensation“ für das Ertragen der sich spreizenden sozialen Schere, für die systematische Ausweitung von Niedriglöhnen, Leistungsdruck und fehlende gesellschaftliche Wertschätzung fort.31 Mithin: Radikale Kritik, eine Neuerfindung der Demokratie könnte, vor einem solchen Hintergrund eher zukunftssichernd als bestandsgefährdend für die Demokratie sein. Wobei aller Erfahrung nach Gewaltenteilung und Rechtsstaat, Parlamente und Parteien am zuverlässigsten Freiheitsräume sichern: Räte haben noch nie längere Zeit funktioniert, jedenfalls nicht in großen Flächenstaaten und über eine Ergänzungsfunktion hinaus. Und die identitäre Demokratie führt zur Delegitimierung und Pathologisierung von Opposition. In einer Gesellschaft der völlig Gleichen, mit einheitlicher Lebenslage und einstimmigen Interessen aller, in der sich der Einzelne keinem Gemeinwohl zu unterwerfen braucht, da der eigene selbstbestimmte Wille identisch mit dem Willen aller anderen ist, und in der deshalb auch jede Gewaltenteilung verzichtbar wird, ist doch jeder Staatsbürger gleichermaßen zur Gesetzgebung wie zur Durchführung und Anwendung der Gesetze berufen – in einem solchermaßen idyllischen Gemeinwesen ist Nonkonformismus nur als Krankheitssymptom vorstellbar, als „pathologisch“ und „eigentlich ins Krankenhaus gehörig“.32 Und die Direktdemokratie schließlich ist vieles, aber eher nicht progressiv, worauf die allermeisten in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen hindeuten. Der Antiinstitutionalismus der Propagandisten direktdemokratischer Fundamentalalternativen zu auf Delegation und Repräsentation basierenden Ordnungen weist zumindest eine strukturelle Nähe zum Populismus auf. Der bereits zitierte Ralf Dahrendorf skizziert den Populismus als direkten Appell an das Volk ohne den Filter von Parlamenten und parlamentarischen Debatten. „Populismus“, resümiert er, „ist gleich Konsens ohne vorangegangene Debatte“, seine Konsequenz ein „schleichender Autoritarismus“ mit intransparenter Entscheidungsfindung, hochgradiger Personalisierung und einer entpolitisierten Bevölkerung, die freiwillig auf Protestartikulationen verzichtet – letztlich also eine Demokratie ohne Demokraten.33

31 Vgl. Stephan Lessenich, Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Ditzingen 2019. 32 Max Adler, Politische oder soziale Demokratie. Ein Beitrag zur sozialistischen Erziehung, Berlin 1926, S. 79. 33 Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie Ein Gespräch mit Antonio Polito, München 2003, S. 80 u. S. 89ff.

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Methoden und Zugänge zur radikalen Linken Methodisch bedienen wir uns in der Bundesfachstelle Linke Militanz eines ethnografischen Zugriffs. Die in der Tradition qualitativer Sozialforschung stehende Ethnografie hat sich jenseits ihrer ethnologischen Ursprungsdisziplin längst als eigenständiger Kanon von Methoden der Datenerhebung etabliert. Gemeint ist in erster Linie Feldforschung, d. h. die Erschließung und Rekonstruktion eines sozialen Feldes, dessen Konturen nicht vorab klar sind. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der die je einzelnen Methoden integrierend zusammenführt und immer wieder der kritischen Prüfung durch die Beobachtungen, Urteile und Diskussionen der forschenden Subjekte unterworfen wird.34 Ein Interviewtranskript, eine teilnehmende Beobachtung, ein ausgefüllter Fragebogen, ein journalistischer Demonstrationsbericht – sie sprechen nicht für sich, sondern müssen interpretierend zusammengeführt werden. Unerlässlich bleibt daher die systematische Vor- und Nachbereitung der Forscherinnen und Forscher, nicht zuletzt hinsichtlich der eigenen Rolle im Feld. Das gilt insbesondere für eine der Gretchenfragen ethnographischer Feldforschung: ist für eine adäquate Erforschung des Gegenstandes offen oder verdeckt zu forschen? Mit guten Argumenten wird darauf verwiesen, dass das rigide Befolgen forschungsethischer Maximen – vor allem das Informieren der Mitglieder des Feldes über die eigene Tätigkeit – den Beobachtungsgegenstand mitunter verzerrend beeinflusst, gar völlig verschließt.35 Dieses Problem ist uns in besonderem Maße bewusst: Angesichts der z. T. berechtigten Skepsis und auch Feindseligkeit, die autonome Aktivistinnen und Aktivisten gegenüber neugierigen Fragenstellern hegen, entscheiden wir uns dafür, vollständig offen und transparent vorzugehen. Die größte Hürde, der wir uns als noch junger Forschungszusammenhang gegenübersehen, ist umfängliches Misstrauen, gar der Verdacht nachrichtendienstähnlicher klandestiner Praktiken. Überhaupt: Alle erhobenen Daten werden selbstverständlich nach den geltenden Datenschutzrichtlinien für wissenschaftliches Arbeiten ausgewertet, mithin anonymisiert und dem Zugriff Dritter ferngehalten. Zu diesem Zweck identifiziert und fixiert der vorliegende Sammelband im Verlauf der Beiträge mögliche, eingehend zu untersuchende Erklärungsfaktoren und vertieft sie punktuell. In wenigen Fällen ist ein erster Feldzugang bereits gewonnen worden, in anderen wird zunächst ein erkenntnistheoretischer Zugang zu lokal- und länderspezifischen Bedingungen erarbeitet. Nicht 34 Vgl. instruktiv Aglaja Przyborski u. Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 2010, S. 53–62; klassisch Leonard Schatzmann u. Anselm Strauss, Field Research. Strategies for a Natural Sociology, New Jersey 1973. 35 Vgl. Przyborski u. Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, S. 56f.

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zuletzt aufgrund des allgemeinen Wissensdefizits liegt ein methodisch multiperspektivisches Forschungsdesign nahe. So sollen einerseits eigene Daten durch ein breites Set erprobter empirischer Methoden gewonnen (Interviews, teilnehmende Beobachtungen, Fokusgruppen, unterstützend ggf. quantitative Erhebungen), andererseits aber auch die Sekundärliteratur sondiert, die öffentlich verfügbaren Materialien ausgewertet und mediale Diskurse nachvollzogen werden – sodass ein Scheitern bei der Anbahnung von Gesprächen mit aktivistischen Akteuren durch alternative Informationskanäle kompensiert werden kann. Andererseits soll vermittels des Untersuchungskonzeptes der lokalen Milieuanalyse der Forschungsgegenstand – entsprechend der Breite des Erkenntnisinteresses – möglichst umfassend und historisch fundiert, zudem eingebettet in den Rahmen der politischen Lokalkultur, betrachtet werden. Es sei zum Ende der Einleitung noch einmal darauf hingewiesen, dass manche Forderungen, die sich aus dem eben Gesagten ergeben, in diesem Band unabgegolten bleiben. Noch einmal: Es handelt sich bei dem vorgelegten Band um „Orientierungen“, um eine Annäherung an den Gegenstand, nicht um einen Abschlussbericht zum Forschungsobjekt, nach dem sich nun anderen Themen gewidmet würde, sondern um einen ersten Zwischenstand unserer Arbeit – jedenfalls gilt das für die Beiträge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesfachstelle Linke Militanz –, die ja auch nicht zufällig aktuell in einem Anschlussprojekt fortgesetzt wird. Zum Aufbau des Bandes Vorliegender Sammelband vereint unterschiedliche Perspektiven, Schwerpunkte sowie Lokal- und Länderstudien zum Phänomenbereich Linksradikalismus und linke Militanz. Wie der Titel „Von der KPD zu den Post-Autonomen“ bereits andeutet, stehen dabei einerseits historische Entwicklungslinien, organisatorische Neuformierungen sowie Kontinuitäten und Wandlungen des Linksradikalismus im Mittelpunkt des Interesses. Andererseits strebt der Sammelband eine solide politologische Grundlagenforschung über Begriffe, Besonderheiten und Kontroversen im Phänomenbereich an, um zur Versachlichung einer höchst emotional geführten politischen und wissenschaftlichen Debatte beizutragen. Dazu gliedert sich der Sammelband in fünf Kapitel. Anknüpfend an diese Einleitung sollen im ersten Kapitel Grundlagen – Konzepte – Begriffe vertieft werden. Wolfgang Kraushaar analysiert dafür Entwicklungsstufen, Attraktivität und aktuelle Gestalt (linker) Militanz, während Maximilian Fuhrmann in seinem Beitrag gegen die Unbestimmtheit der „Linksextremismus-Kategorie“ argumentiert. Fuhrmann warnt jedoch auch vor dem Begriff der linken Mi-

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litanz und fordert eine grundlegende Abkehr von einem etatistischen Demokratieverständnis. Peter Imbusch beleuchtet ebenfalls kritisch die Kategorie des Linksextremismus, fragt nach dessen aktueller gesellschaftlicher Ausstrahlungskraft und geht näher auf Hintergründe, Motive sowie Besonderheiten linksextremer Gewalt ein. Im zweiten Kapitel Historische Einordnung: Linksradikalismus und linke Militanz widmet sich Marcel Bois dem Linksradikalismus in der Weimarer Republik, wobei er insbesondere die KPD als soziale Massenbewegung behandelt und auf deren gesellschaftlichen Einfluss in den 1930er Jahren blickt. Danach zeichnet Hubert Kleinert in seinem Überblicksartikel die Entwicklungspfade, Radikalisierungsfaktoren und einzelnen organisatorischen Verästelungen des deutschen Linksradikalismus der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte bis zur Deutschen Einheit nach. Er spannt dabei einen Bogen von der wiedergegründeten KPD zu den Autonomen der 1980er Jahre und thematisiert auch die Konjunkturen linker und linksterroristischer Gewalt in der BRD. Das dritte Kapitel Deutsche Fallbeispiele untersucht Geschichte und Gegenwart lokaler Hochburgen der autonomen Szene in Hamburg, Berlin, Leipzig und Göttingen. Die einzelnen Artikel thematisieren unter anderem autonome Szene- und Netzwerkstrukturen, szeneinterne Debatten und Themenkonjunkturen sowie Verflechtungen mit der Mehrheitsgesellschaft. Während sich Julian Schenke mit der autonomen Szene in Hamburg vor und nach dem G20-Gipfel beschäftigt, analysiert Tom Pflickes Beitrag die gegenkulturelle Utopie linksalternativer und linksradikaler Hausbesetzerinnen und -besetzer in der Mainzer Straße in Ost-Berlin im kurzen Sommer der Anarchie 1990. Gegenstand des Artikels von Tom Mannewitz ist die autonome Szene in Leipzig, genauer, die Szene im berüchtigten Stadtteil Connewitz. Matthias Micus, Tom Pflicke und Phillip Scharf nähern sich dagegen am Beispiel von drei militanten Protestmomenten schlaglichtartig der linksradikalen Szene in Göttingen zwischen den 1970er und frühen 1990er Jahren an und fragen, was von der einstigen linksradikalen Hochburg heute noch geblieben ist. Kapitel vier richtet den Blick auf Europäische Fallbeispiele, um den Sammelband in komparativer Perspektive zu ergänzen. Barbara Fontanellaz betrachtet den Linksradikalismus in der Schweiz entlang historischer Entwicklungslinien, hinsichtlich sicherheitspolitischer Debatten sowie bezuglich der Frage, wie sich die historischen und gesellschaftlichen Diskurse innerhalb von Gruppierungen manifestieren und wie sie zum Ausdruck gebracht werden. Anne-Kathrin Meinhardt und Anna Carola König befassen sich in ihrem Aufsatz ausführlich mit selbstverwalteten Sozialzentren in Italien, den so genannten centri sociali occupati autogestiti, die als zentrale Anlaufstelle der autonomen Szene dienen und einen signifikanten Beitrag für die Kampagnenfähigkeit der außerparlamentarischen Linken leisten. Jens Gmeiner zeichnet die Entwicklungslinien, die

Orientierungen im Feld der radikalen Linken

Brüche und Zäsuren sowie organisatorischen und taktischen Neuformierungen des autonomen Linksradikalismus in Schweden bis in die Gegenwart nach. Er argumentiert, dass thematisch neben dem Antifaschismus gegenwärtig auch das „Recht auf Stadt“ eine Hochkonjunktur im autonomen Linksradikalismus erlebt. Das letzte Kapitel des Sammelbandes behandelt Kontinuitäten und Wandlungen im Linksradikalismus. Zunächst wirft Carsten Koschmieder einen kritischen Blick auf den auch im linksradikalen Spektrum vorzufindenden Antisemitismus und verweist darauf, dass sich dieser bei linken Gruppierungen vornehmlich im Zusammenhang mit Verschwörungsideologien, Kapitalismuskritik und israelbezogenem Antisemitismus manifestiere. Wie unterschiedlich Antifaschismus in Ost- und Westdeutschland verhandelt wurde und weiterhin wird, stellt Michael Lühmann in seinem Beitrag über Antifaschismus in Ostdeutschland dar. Lühmann argumentiert, dass durch den staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR ein staatsunabhängiger Antifaschismus nach 1990 ungünstigere Ausgangsvoraussetzungen aufwies und weitaus weniger gesellschaftlichen Rückhalt genoss, was bis heute die zivilgesellschaftliche Gegenwehr gegen rechte Strukturen im Osten schwächen würde. Der Artikel von Alexander Deycke widmet sich zum Schluss den größten linksradikalen Formationen im deutschsprachigen Raum, dem „Kommunistischen Bündnis“ …ums Ganze! (uG) und der Interventionistischen Linke (IL). Er diskutiert dabei das Schlagwort der „Postautonomie“ und hinterfragt, ob organisationsähnliche postautonome Bündnisstrukturen wirklich so neu sind, wie häufig in Verfassungsschutzbroschüren postuliert wird. Wir hoffen, mit diesem Sammelband einige Fragen beantworten zu können und noch mehr Forschungsfragen aufzuwerfen. Unser Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesfachstelle Linke Militanz für ihre unermüdliche Arbeit der letzten zwei Jahre, den Expertinnen und Experten für ihre kenntnisreichen und informativen Beiträge und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Finanzierung unserer Forschung im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“. Alexander Deycke, Jens Gmeiner, Matthias Micus und Julian Schenke Göttingen, April 2020

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Grundlagen – Konzepte – Begriffe

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Linke Militanz: Begriff, Geschichte und aktuelle Gestalt Genese und Entwicklungsstufen linker Militanz Nach Marx basiert die in seinen Augen mit geschichtsteleologischer Notwendigkeit dem Untergang geweihte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf Gewalt. Deshalb erschien ihm proletarische Gewalt als eine legitime Form der Gegengewalt, eingesetzt mit dem Ziel, die ursprüngliche abzuschaffen und in der Folge gewaltfreie Gesellschaftsverhältnisse aufzubauen. In seinen Augen war die revolutionäre Gewalt nichts anderes als die Geburtshelferin einer neuen Gesellschaft, die Hebamme neuer sozialer und politischer Verhältnisse, letztlich der klassenlosen Gesellschaft.1 Gewalt war für ihn ein Mittel, besser vielleicht noch ein Medium, um dieses durchzusetzen. Sie war eine Art praktischer Mäeutik. Das hieß vor allem: Sie war kein Selbstzweck. Für Lenin hingegen war die Gewalt schon etwas erheblich anderes. Sie war für ihn ein Instrument in den Händen einer revolutionären Kaderorganisation. Mit ihr sollte das bestehende System nicht nur gestürzt, sondern die Macht erobert und ein eigener Staat aufgebaut werden.2 In dieser Auffassung lagen bereits die Wurzeln für die Etablierung der Sowjetunion als einem auf Gewaltanwendung basierenden Regime begründet, das in der Folge unter Stalins Despotismus fließend in einen totalitären Staat übergehen konnte. Das führte in Reaktion darauf einerseits zur Entwicklung antistalinistischer Strömungen und Organisationen innerhalb der Linken, änderte sich andererseits maßgeblich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Lateinamerika, genauer mit dem Erfolg der kubanischen Revolution. Durch Che Guevara kam mit der Focustheorie ein stark subjektives Moment hinzu.3

1 „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“ Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, in: Karl Marx - Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Ost-Berlin 1970, S. 779. 2 Vgl. W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: Ders., Werke, Bd. 25, Ost-Berlin 1972. 3 „1. Die Volkskräfte können einen Krieg gegen die Armee gewinnen. 2. Nicht immer muß man warten, bis alle Bedingungen für die Revolution gegeben sind; der aufständische Brennpunkt kann sie schaffen. 3. Im unterentwickelten Amerika müssen Schauplatz des bewaffneten Kampfes grundsätzlich die ländlichen Gebiete sein.“ Ernesto Che Guevara, Guerillakrieg eine Methode, in: Ders., Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Horst-Eckart Gross, Bd. 1: Guerillakampf und Befreiungsbewegung, Dortmund 1986, S. 32f.

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Da die sozialen und ökonomischen Widersprüche selbst in einer Diktatur wie der des kubanischen Diktators Batista nicht reif genug waren, um einen Umsturz des Systems herbeizuführen, galt es nun, sie durch den gezielten Einsatz von Gewaltmitteln regelrecht „reif “ zu machen. Durch bewaffnete Aktionen sollten die vorhandenen Widersprüche sichtbar und zugleich zugespitzt werden. Die Kunst der Guerilla bestand darin, durch ein hohes Maß an Flexibilität und Entschlossenheit ihre eigene militärische Unterlegenheit zu kompensieren. Das Verführerische an der Focustheorie bestand darin, dass im Grunde genommen alles revolutionär Wünschenswerte auch als machbar erschien, wenn es nur mit der richtigen Entschiedenheit angepackt wurde. Mit dem Franzosen Régis Debray gab es einen europäischen Bewunderer der kubanischen Revolution, der diesen Ansatz in seiner Schrift „Revolution in der Revolution?“ weiter zu theoretisieren versuchte. Für ihn war entscheidend, dass in einem Land die bewaffneten Gruppen die Initiative ergreifen und sich als Avantgarde herausschälen müssten, anstatt sich auf Wahlen und die übliche Konkurrenz mit Parteien einzulassen.4 Dieses Konzept, in dem einer militärischen Avantgarde der Vorrang vor einer politischen eingeräumt wurde, besaß einen nicht unerheblichen Einfluss auf einige Kerngruppen der bundesdeutschen Studentenbewegung. Kein anderer als ihr Wortführer Rudi Dutschke war es, der es sich zu eigen machte und als erster in Unterscheidung von einer Landguerilla bereits 1966 von einer Stadtguerilla zu schwärmen begann.5 In den damals von ihm angefertigten Notizen heißt es, dass die Universität ein „Focus“ sei, von dem „kleinste homogene Guerilla-Einheiten“ ihren Ausgang nehmen müssten. Diese „Guerilla-Einheiten“ sollten in seinen Augen „das treibende Moment der Gesamtsituation“ darstellen und in einem lang anhaltenden Prozess die „Aufstandsphase der Revolution“ einleiten. Dafür müsse ein „urbaner militärischer Apparat“ aufgebaut werden. Das war selbst unter jenen, die sich als Revolutionäre begriffen, ein Wagnis gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen, weil er damit auf eine völlig unkalkulierbare Eskalation der Gewalt setzte, und zum anderen,

4 Im Schlussteil seiner Schrift heißt es über „Die Konsequenzen für die Zukunft“: „Man bekämpft die Bourgeoisie nicht siegreich auf dem Gebiet der Wahlen. In der Mehrzahl der Länder, in denen die Bedingungen für den bewaffneten Kampf gegeben sind, ist es möglich, wenn man mit dem militärischen Focus beginnt, einen politischen ,Focus‘ zu verwirklichen; wenn man dagegen mit dem politischen ,Focus’ beginnt, ist es beinahe ausgeschlossen, zu einem militärischen Focus zu gelangen.“ Régis Debray, Revolution in der Revolution?, München 1967, S. 127f. 5 Rudi Dutschke, Notizen, Mappe 3, Fokustheorie i. d. 3. Welt und ihre Neubestimmung in den Metropolen, Blatt 1–3, undatiert, K 21/48, HIS-Archiv (Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung), RUD 240, 04.

Linke Militanz: Begriff, Geschichte und aktuelle Gestalt

weil er sich damit ohne irgendeine Problematisierung das der Focustheorie innewohnende Willkürelement zu eigen machte. Es dauerte nicht lange bis die ersten Anschläge – zunächst mit Brandflaschen, dann mit Bomben – verübt wurden. Bevorzugte Ziele waren US-amerikanische Politiker und Einrichtungen wie Amerika-Häuser. Wie rasch sich das steigerte, lässt sich an zwei Gelegenheiten ablesen. Während auf Vizepräsident Hubert Humphrey im April 1967 noch ein „Pudding-Attentat“ verübt werden sollte, ging es beim Antrittsbesuch von Präsident Richard Nixon im Februar 1969 bereits um einen Bombenanschlag. Dass diese auf einem Baugerüst deponierte Bombe, die am Rand der Wegstrecke lag, die Nixons Wagenkolonne passieren musste, nicht zündete, war offenbar nur darauf zurückzuführen, dass wegen des zu dieser Zeit herrschenden Frostes die Batterie zu schwach war, um den Zündmechanismus auszulösen. Diese stufenweise Entgrenzung der Gewalt erfolgte im Laufe der 68erBewegung, also zwischen dem Juni 1967 und dem Herbst 1969. Die schrittweise Eskalation wurde jedoch nur von einer Minderheit innerhalb der Bewegung vollzogen. Die forcierenden Kräfte lagen zunächst zweifelsohne im Zentrum des Berliner SDS, breiteten sich dann aber rasch über andere Hochschulgruppen in Frankfurt, München, Heidelberg usw. aus. Es war so, als habe jemand an einer unsichtbaren Schraube gedreht. Mit dem Latenzcharakter der Gewalt in den sogenannten Metropolen und ihrer mangelnden Erfahrbarkeit hing es zusammen, dass Dutschke und seine Gefährten ständig auf der Suche nach Aktionsformen waren, die die Verpanzerung der Verhältnisse aufreißen und ihren gewaltsamen Kern freilegen sollten. Das Schlagwort, von dem am häufigsten Gebrauch gemacht wurde, lautete deshalb „direkte Aktion“. Durch möglichst genau kalkulierte Einzeloder Gruppenaktionen sollten neuralgische Punkte getroffen werden, durch die im Gegenzug das Gewaltpotential der Polizei und damit das des autoritären Staates herausgekitzelt werden konnte. Dutschke schrieb deshalb häufig von einer „Offensivtheorie“ und einer „Eskalationsstrategie“.6 Die Universität, an deren Veränderung durch Strukturreformen er augenscheinlich kein Interesse hatte, war ihm nicht mehr und nicht weniger als eine Ausgangsstation. Sie figurierte in seinen Augen als „das schwächste Glied“ im herrschenden System. Von ihr aus versuchte er operative Basen aufzubauen, die es ihm ermöglichten, die Eskalation der Gewalt weiter voranzutreiben. Am Horizont stand der bewaffnete Aufstand. Eine neue Dimension hatte sich bereits kurz vor dem Dutschke-Attentat und der darauffolgenden explosiven Entladung während der Springer-Blockaden

6 Vgl. Rudi Dutschke, Notizen, Mappe 5, undatiert, Blatt 1, K 21/48, HIS-Archiv, RUD 240, 04.

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Ostern 1968 mit der Warenhausbrandstiftung angekündigt. Womit die Mitglieder der Kommune I nur gespielt hatten, ein Attentat auf den US-Vizepräsidenten mit Pudding zu verüben, das setzten nun mit Baader, Ensslin, Söhnlein und Proll von der Peripherie der Bewegung stammende Akteure in Wirklichkeit um. Sie zündeten in der Nacht vom 2. auf den 3. April zwei Kaufhäuser auf der Frankfurter Zeil an. Auch wenn es nur um Sachschaden ging, so war damit eine weitere Grenze überschritten worden. Erst nach der Gründung der RAF im Mai 1970 folgten dann Einbrüche, Banküberfälle, Waffenraubaktionen, Bombenanschläge, später auch Entführungen und gezielte Attentate. Die ebenso häufig zitierte und kaum weniger häufig wegen ihrer Unhaltbarkeit kritisierte Unterscheidung zwischen „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt gegen Personen“ war eine Zeit lang für Dutschke und den SDS maßgeblich. Doch bereits nach kurzer Zeit wurde sie hinfällig. Vor, hinter und neben den Objekten standen häufig Polizeikräfte, die einen dazu zwangen, zu entscheiden, ob eine offensive Aktion abzubrechen oder trotz zu erwartender gewaltsamer Auseinandersetzungen durchzuführen sei. Um zu legitimieren, was in einem solchen Falle passieren könne, bediente sich APO-Anwalt Horst Mahler der Metapher vom „platzenden Autoreifen“. So wie ein Wagenlenker immer damit rechnen müsse, dass ein platzender Reifen einen Unfall und damit einen Personenschaden verursachen könne, so müsse sich auch ein Revolutionär darüber im Klaren sein, dass es im Zuge seiner Handlungen zu „Personenschäden“, also auch zu Verletzten und zu Todesopfern kommen könne.7 Das gehöre in gewisser Weise zum revolutionären Berufsrisiko. Was dann mit der RAF als terroristische Organisation zutage trat, das war die Isolierung des Gewaltphänomens, das bereits zu APO-Zeiten, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, immer mehr ins Zentrum gerückt war, seine Reduktion auf terroristische Gewalt. Im Kontext der Protestbewegung war die Tendenz zur Militarisierung zwar bereits deutlich erkennbar, jedoch hatte sie noch nicht die Oberhand gewonnen. Es ging – wie eines der Lieblingsworte der Radikalen lautete – um Militanz. Begriff, Ästhetik und Attraktivität linker Militanz Der Begriff Militanz kommt ursprünglich aus dem Lateinischen, ist das Partizip Präsens des Verbs „militare“ und bedeutet so viel wie Kriegsdienst zu leisten, zu 7 Nachdem es bei Demonstrationen im Anschluss an das Dutschke-Attentat in München zu zwei Todesopfern, einem Studenten und einem Fotografen, gekommen war, hatte Mahler erklärt: „Es hat keinen Sinn mit menschlichen Argumenten zu kommen. […] Das ist genauso wie wenn ich mich an das Steuer eines Autos setze und damit rechnen muss, dass ein Reifen platzt.“ Zit. nach o. V., „Wir hauen auf den Putz“, in: Der Spiegel, 13.05.1968.

Linke Militanz: Begriff, Geschichte und aktuelle Gestalt

kämpfen, also sich mit kriegerischen Mitteln für eine Sache einzusetzen. Eine militante Aktion ist zwischen einem Gewalt- und einem Terrorakt angesiedelt, ihr ist eine aggressive, körperlich gewalttätige Dimension zu eigen. Sie zielt auf die physische Integrität des Gegners ab und nimmt insofern Verletzungen am fremden wie am eigenen Körper mitunter in Kauf. Im Unterschied zur Terroraktion begeht der Militante seine Gewaltaktion jedoch nicht aus dem Hinterhalt; sie richtet sich zudem nicht absichtlich gegen Unbeteiligte eines Konflikts. Im Begriff der Militanz kommt einerseits eine Zuspitzung der Gewaltförmigkeit und andererseits eine ins Habituelle übergehende Ablösung von der konkreten Form einer Gewalttätigkeit zum Ausdruck. Ein Militanter drückt bereits in seiner Haltung eine Form der Gewaltbereitschaft aus. In ihr vereinigen sich Stolz, Selbstbewusstsein und Entschlossenheit. Seine vorrangige Artikulationsform ist die Körpersprache. Deshalb tritt dabei auch die Art der Kleidung in den Vordergrund. Solange die Militanz nicht in actu getreten ist, misst sie sich also am Gestischen, an der Körperhaltung und den mit ihr verbundenen textilen Attributen. In der Rollenspezifik eines Militanten geht es also nicht zuletzt auch um eine ästhetische Dimension. Die Affinität gegenüber der Gewalt war eine Absage an das Vermittelnde. Parlamentarismus ist auf Mediatisierung angelegt, auf die Lösung von Differenzen durch die Suche nach Kompromissmöglichkeiten und setzt Gewaltfreiheit voraus. Die radikale Tat hingegen ist auf Aktion, Konfrontation, Dynamik und Energieentladung ausgerichtet. Direkte Aktion lautete das Zauberwort. Diese Punktualisierung war entscheidend, das radikale Zusammenführen einer bestimmten Handlungsenergie in einem einzigen Moment. Von großer Bedeutung war dabei die Plötzlichkeit des Gewaltakts, die Überraschung, das Zuschlagen aus dem Verborgenen heraus. Es ging um den geeigneten Augenblick, das was der Soziologe Hans-Georg Soeffner einmal als den „Zeitmodus der Tat“ bezeichnet hat.8 Das stand im Gegensatz zu den monate- oder jahrelangen Erörterungen über Gesetzesvorhaben in Ausschüssen und den Kompromissen, die abschließend gefunden werden sollen. Ein Zerreißen dieser kommunikativen Dimensionen zugunsten der Herstellung von Eindeutigkeiten im Augenblick ist ein ganz charakteristischer Grundzug an der Militanz. Das alles hängt auch mit der romantischen Aura zusammen, die die Gewalt umgibt. Bei den Straßenschlachten war es um eine Überwindung des Politischen durch die Militanz gegangen, die Gewalt im Straßenkampf. Und in 8 „Die Eruption von Gewalt erschreckt und fasziniert durch ihre Plötzlichkeit. Ihr ,Ort‘ ist der Augenblick, ihr Werkzeug die Überraschung - und ihre Gegnerin die Dauer: die Veralltäglichung ,der großen Tat’ in vielen kleinen Handlungen.“ Hans-Georg Soeffner, Gewalt als Faszinosum, in: Wilhelm Heitmeyer u. Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 62–85, hier S. 73.

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der RAF sollte es dann um die Radikalisierung der Gewalterfahrung bis hin zur Frage von Leben oder Tod gehen. Das war die existentiell höchstmögliche Aufladung des Gewaltzusammenhangs. Es ging um eine rasch zunehmende Eskalation und schließlich um eine Neuformierung von Gewalt. Militante Demonstrationen entwickelten eine außerordentliche Suggestivkraft. Der Einsatz gewaltsamer Mittel wurde – wie das vor allem von Dutschke propagiert wurde – mit einem angeblich konstitutiven Zusammenhang von Aufklärung und Aktion begründet. Indem Gesellschaftsverhältnisse als latente Gewaltverhältnisse begriffen wurden, schien es politisch nur noch darauf anzukommen, deren Latenz durch militante Aktionen manifest und offenkundig zu machen. Die anfangs häufiger strapazierte Unterscheidung zwischen „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt gegen Personen“ erwies sich jedoch rasch als untauglicher Versuch, Formen der Gewaltanwendung zu beschränken. Die Gewalt war unzweifelhaft das insgeheime Magnetfeld der 68erBewegung. Was aber war eigentlich so faszinierend an der Gewalt? Sie war mythologisch aufgeladen und schien im Klassenkampf den angestrebten Erfolg zu verbürgen. Ein Gewaltakt schien die Funktion eines Zauberelixiers zu besitzen. Dadurch schien der Einzelne gegenüber den Vertretern staatlicher Gewalt nicht nur gestärkt, sondern auch über sie erhaben zu sein. Man wollte – wie bei der berüchtigten “Schlacht am Tegeler Weg“ im November 1968 – nicht länger mehr Objekt der Gewalt sein, sondern Subjekt der Gewalt und durch deren Anwendung hindurch ein anderes, ein revolutionäres Subjekt werden.9 Eine direkte Aktion besaß zudem sex-appeal. Von einem bestimmten Zeitpunkt an galt eine politische Aktion, die nicht zu einem gewalttätigen Zusammenstoß mit der Polizei führte, kaum noch etwas. Das hatte auch etwas mit 9 Mit dem Sprechchor „Hände weg von Mahler“ waren am 4. November 1968 in West-Berlin rund 1.000 Studenten gegen von der Polizei vor dem Landgericht am Tegeler Weg errichtete Absperrgitter angerannt. Die zum Teil behelmten Demonstranten wollten sich durch ihre Aktion mit dieser Symbolfigur der APO-Szene solidarisieren. Der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht des Landes Berlin hatte gegen den 32-jährigen Rechtsanwalt Horst Mahler, der so viele Demonstranten und APO-Aktivisten wie kein anderer seiner Anwaltskollegen verteidigte, ein Ehrengerichtsverfahren bei der Berliner Rechtsanwaltskammer beantragt. Der gegen Mahler erhobene Vorwurf lautete, er habe durch seine Teilnahme an der Protestaktion gegen das Verlagshaus Axel Springer nach dem Dutschke-Attentat die Standesehre und seine Berufspflichten verletzt. Der Verleger persönlich hatte Mahler auf die Zahlung der am SpringerHochhaus entstandenen Schäden in Höhe von mehr als einer halben Million DM verklagt. Der SDS wiederum sah in dem juristischen Schritt einen weiteren Versuch, die APO zu kriminalisieren und sie einer ihrer wichtigsten anwaltlichen Stützen zu berauben; deshalb hatte er zur Protestaktion am Tegeler Weg aufgerufen, die schon bald in eine regelrechte Straßenschlacht eskalierte und im Nachhinein romantisiert wurde, weil wesentlich mehr verletzte Polizeibeamte als Demonstranten zu beklagen waren.

Linke Militanz: Begriff, Geschichte und aktuelle Gestalt

medialer Aufmerksamkeit zu tun. Ein Gewaltakt schien durch ein Höchstmaß an Presseberichten, Rundfunk- und TV-Nachrichten honoriert zu werden. Über gewaltfreie Aktionen wurde in der Regel nicht berichtet, über militante um so mehr. Kam es zu den befürchteten, in Wirklichkeit häufig beabsichtigten und insofern gewünschten Zusammenstößen mit der Polizei, dann wurde dies zumeist durch eine exzeptionelle Form der Berichterstattung gratifiziert. Zwischen Medien und Militanten existierte so etwas wie ein insgeheimes Bündnis. Jede Seite wusste von der anderen, was sie und was eine möglichst effektvolle Nachricht wert war. Ein Gewalttäter stellte etwas dar, er machte etwas her. Einer, der sich der Gewalt enthielt, womöglich ein überzeugter Pazifist, machte sich dagegen tendenziell lächerlich. Niemand hätte als Vorbild weniger zur 68er-Bewegung passen können als Mahatma Gandhi, der unangefochtene Apostel des gewaltfreien Widerstands. Und auch mit Martin Luther King, der Ikone der Bürgerrechtsbewegung, dessen Wirken 1964 sogar mit dem Friedensnobelpreis honoriert worden war, konnte man nichts mehr anfangen. Seine Ermordung im April 1968 wurde im Gegensatz zu der Che Guevaras wenige Monate zuvor keineswegs als Schock empfunden; eher als eine Bestätigung dafür angesehen, dass es nur noch eine Sprache gebe, die der Waffen. Mann der Stunde war mit Stokely Carmichael stattdessen ein anderer Schwarzer. Der junge, von der Karibikinsel Trinidad stammende Charismatiker, der in der New Yorker Bronx aufgewachsen war, galt als die Personifikation der Black-Power-Bewegung. Auf einer Kundgebung der Organisation für lateinamerikanische Solidarität (OLAS) in Havanna sprach er im August 1967 vom beginnenden „Partisanenkrieg in Amerika“, forderte, die amerikanischen Metropolen in Schutt und Asche zu legen und verglich den Aufstand der Schwarzen mit dem Kampf der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt.10 Er predigte einen „Rassenkrieg“ unter umgekehrten Vorzeichen und verlangte sogar eine Aufteilung der USA in einen Staat der Schwarzen und einen der Weißen, also nichts anderes als jene Segregation, die die Bürgerrechtsbewegung schon so lange bekämpft hatte. „Wir sind entschlossen zum Angriff überzugehen. Wir lassen uns nicht abschlachten. Wir werden als erste töten“.11 Niemand anders stand in dieser Zeit mehr für Militanz und Selbstbewusstsein sowie eine Allianz zwischen den Black Panthern und den verschiedensten Guerillaorganisationen. Die Militanz nährte zudem den Narzissmus. Der Hunger nach Bedeutung war in den Reihen der Aktivisten ganz enorm. Und wie hätte sich ein individueller Relevanzzuwachs schneller erzielen lassen können als durch Randale. Das 10 Vgl. o. V., Der Partisanenkrieg in Amerika hat begonnen. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod werden, in: Der Spiegel, 31.07.1967. 11 Zit. nach o. V., Aufforderung zum Bürgerkrieg, in: Die Welt, 03.08.1967.

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war die Stunde von Randfiguren. Bommi Baumann war eine, und Andreas Baader, der zunächst die Rolle eines Satelliten der Kommune I gespielt hatte, eine andere. Figuren, die in dem vom SDS bestimmten Treiben, in dem ein theoretisch höchst elaborierter Duktus angesagt war, zunächst nichts anderes als Mitläufer waren, sahen nun auf einmal ihre Chance, durch die Beteiligung an militanten Aktionen schlagartig Aufmerksamkeit zu gewinnen und auf diesem Wege soziale Gratifikationen zu erlangen. Sie machten sich zu Experten der Gewalt, zu Protagonisten der Militanz, weil sie nach einigen erfolgreich verlaufenen Vorstößen darauf setzen konnten, sich profilieren und im Ansehen innerhalb der Szene sowie in der Hierarchie ihrer jeweiligen Gruppe aufsteigen zu können. Mit der Militanz sollte nicht nur unter Beweis gestellt werden, dass es möglich sei, gegen die Kräfte der verhassten Staatsmacht zu kämpfen, sondern auch sie zu besiegen. Letztlich sei es neben Vorbereitung, Ausrüstung und der richtigen taktischen Einstellung vor allem eine Frage der Entschlossenheit. Es ging darum, eine Rebellion in eine Revolution zu transformieren, ohne dass eine entsprechende Situation erkennbar und ein revolutionäres Subjekt in Sicht war. Das Ganze war kein politischer Akt mehr, nicht mehr Ausdruck einer außerparlamentarisch agierenden Opposition, es lief allein auf einen sich möglichst radikal gebärdenden Willen hinaus. Nicht ohne Grund hatte Jürgen Habermas bereits im Juni 1967 Dutschke und den SDS als voluntaristisch und „linksfaschistisch“ kritisiert.12 Eine einstmals oppositionell auftretende Bewegung war in einem sich selbst überbietenden revolutionaristischen Gestus erstarrt. In Wirklichkeit aber gab es keine revolutionäre Situation, kein revolutionäres Subjekt, es gab allein das Als-Ob eines Systemumsturzes.

12 Am Ende eines Kongresses, der am 9. Juni 1967 nach der Trauerfeier für den von der Polizei erschossenen Germanistikstudenten Benno Ohnesorg in Hannover veranstaltet worden war, hatte Jürgen Habermas – längst nachdem Rudi Dutschke bereits abgereist war – noch einmal das Wort ergriffen und erklärt: „Herr Dutschke hat als konkreten Vorschlag, wie ich zu meinem Erstaunen nachher festgestellt habe, nur vorgetragen, dass ein Sitzstreik stattfinden soll, das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. Ich frage mich, warum nennt er das nicht so, warum braucht er eine dreiviertel Stunde, um eine voluntaristische Ideologie hier zu entwickeln. Ich bin der Meinung, er hat eine voluntaristische Ideologie hier entwickelt, die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, und der unter heutigen Umständen, jedenfalls ich glaube, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen, linken Faschismus nennen muss. Es sei denn, dass Herr Dutschke aus dem, was er an Überbau hier entwickelt hat, praktisch keine Konsequenzen zu ziehen wünscht.“ Zit. nach Uwe Bergmann (Hg.), Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongress in Hannover, West-Berlin 1967, S. 101.

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Aktuelle Gestalt und Entwicklungstendenzen linker Militanz Die Nachfolge der 68er-Militanten traten – wenn man einmal vom Terrorismus der RAF und anderer absieht – in den siebziger Jahren die Autonomen an. Zumindest indirekt sind sie ein Produkt der Frankfurter Sponti-Szene. Damals existierte eine Kleingruppe, die als Nucleus der Autonomen angesehen werden darf. So wie es mit der sogenannten Lederjackenfraktion einen aktionistischen Flügel im Umkreis des Frankfurter SDS gegeben hatte, so gab es zur Zeit der Hausbesetzerbewegung (1970–1975) einen aktionistischen Flügel der SpontiSzene. Sie wurde als „Putzgruppe“ bezeichnet. Ihr Gründer und Anführer war der spätere Bundesaußenminister zur Zeit der rot-grünen Koalition.13 Und ihr Vordenker war später zu einem der einflussreichsten Journalisten aufgestiegen und Chef der Welt-Gruppe in dem einst von ihm selbst bekämpften Axel-Springer-Verlags geworden.14 Er importierte den Autonomie-Begriff aus Italien und machte daraus eine Art ideologischer Referenzrahmen des Linksradikalismus. Nachdem Schmid zunächst eine Zeitung mit dem Titel Wir wollen alles – ebenfalls eine Kopie aus dem Italienischen, wo der Slogan „Vogliamo tutto“ lautete – gegründet hatte, schuf er 1975 mit der Zeitschrift Autonomie ein avancierteres Blatt, mit dem Elemente einer entsprechenden Gesellschaftstheorie entwickelt werden sollten. Als der sogenannte Häuserkampf vorüber war und durch die Alternativbewegung abgelöst wurde, in der eine konspirativ agierende Aktionsgruppe überflüssig wurde, entstand in anderen Teilen der Szene der sogenannte „Schwarze Block“. Obwohl es keinerlei personelle Übergänge gab, wirkte dieser doch wie ein Ableger der Putzgruppe. Vom Erscheinungsbild – Helme, Lederjacken und Halstücher, alles in schwarz – wie vom Auftreten her waren sie sich sehr ähnlich.

13 Joschka Fischer hatte seine Ambitionen in Sachen Militanz schon frühzeitig unter Beweis gestellt. Als er kurz vor seinem 20. Geburtstag von Stuttgart nach Frankfurt gewechselt war, um sich in einem der beiden Zentren der damaligen Studentenbewegung einbringen zu können, trainierte er bereits zusammen mit seiner damaligen Frau ein möglichst geschicktes Verhalten bei militanten Demonstrationen. Wie einer ihrer damaligen Mitbewohner zu berichten weiß, spielten sie in ihrer Wohngemeinschaft in der Westendstraße Rangeleien mit der Polizei nach, um bei künftigen Auseinandersetzungen besser gewappnet zu sein. Mündliche Mitteilung des Politikwissenschaftlers Dr. Tilman Schulz. 14 Seinen Weg hat er in einem Rückblick einmal mit den Worten beschrieben: „Ich war mit ganzem Herzen das, was man einen ,68er‘ nennt, habe das Haus Springer für gefährlich gehalten, mich Ostern 1968 in Frankfurt/Main an dem Versuch beteiligt, die Auslieferung von Zeitungen des Axel Springer Verlags durch eine Straßenblockade zu verhindern, und war danach noch etliche Jahre in einer linksradikalen Gruppe tätig.“ Thomas Schmid, So fern und doch so nah, in: Die Welt, 22.09.2015.

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Derartige Gruppierungen breiteten sich am Ende der siebziger Jahre in mehreren Großstädten aus. Sie vernetzten sich untereinander und bildeten schließlich die Autonomen. Die Anti-AKW-Bewegung, eine neue, sich als Instandbesetzer begreifende Hausbesetzerbewegung und eine sich unter dem Schlagwort „No future“ bildende neue Jugendbewegung stellten für sie einen besonders geeigneten Nährboden dar. Nach Max Weber sind Begriffe keine “Abbilder der objektiven Wirklichkeit“, sondern nichts anderes als theoretische Konstruktionen.15 Sie selbst sind kein Ziel, sondern lediglich Mittel zum Zweck. Sie dienen der Erkenntnis, sie stellen ein Mittel zur Erkenntnisgewinnung dar. Das gilt auch für den Gewaltbegriff. Zu unterscheiden ist zunächst einmal zwischen einem zweckrationalen und einem wertrationalen Einsatz von Gewaltmitteln. Während im ersteren Fall die Gewalt eingesetzt wird, um damit eigene Interessen durchzusetzen oder Vorteile zu erzielen, geht es im zweiten darum, ein normatives Gebot zu erfüllen, seiner “vaterländischen Pflicht“, einem Ehrenkodex, einer religiösen oder stammesgeschichtlichen Tradition nachzukommen. Neben diesen beiden Formen existiert jedoch noch eine dritte, ein subjektiv bestimmtes Gewalthandeln, das keiner Zweck-Mittel-Relation unterliegt und sich häufig bereits in der bloßen Expression erschöpft.16 Die Gewalt ist mehr oder weniger zum Selbstzweck geworden. Den Akteuren ist es häufig gleichgültig, welche Opfer ihr Einsatz kostet und welchen Schaden sie damit anrichten. Ihr Ziel liegt vor allem in der Freisetzung subjektiver Energien, der Intensität der dabei gemachten Körpererfahrung, der Selbstbestätigung der Männlichkeit und dem Lustgewinn im Akt der Verletzung oder Zerstörung. Die Gewaltanwendung korrespondiert in gewisser Weise mit dem Adrenalinspiegel. Da sich ihr Lustgewinn mit dessen Absinken verflüchtigt, bedarf es wie bei einem Drogenabhängigen des ständigen Neueinsatzes. Innerhalb der radikalen Linken hat sich auf diese Weise insbesondere in Großstädten wie Berlin und Hamburg – die mehr oder weniger ritualisierten Vorgänge zum 1. Mai in Kreuzberg oder im Schanzenviertel wie zuletzt im Kontext des G20-Treffens im Juli 2017 lassen grüßen – ein Typus durchgesetzt, der sich durch folgende Merkmale charakterisieren lässt: – Militanz, die keinen Wert mehr auf Legitimität legt, – Dezentralität ihres Auftretens, – Agieren aus dem Verborgenen heraus, – ausgeprägte Subkulturalität, 15 Max Weber, Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Ders., Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 1956, S. 255. 16 Vgl. Gertrud Nunner-Winkler, Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Heitmeyer u. Soeffner (Hg.), Gewalt, S. 21–61, hier S. 53.

Linke Militanz: Begriff, Geschichte und aktuelle Gestalt

– Verzicht auf formale Strukturen, – Verzicht auf öffentliche Führungsfiguren und – Weitgehendenr Mangel an theoretischen Klärungsversuchen. In diesem voluntaristisch bestimmten Typus, der im Internet ein eigenes Medium gefunden hat, sind jene Komponenten, die sich bereits im Kontext der 68er-Bewegung herausgeschält hatten, zu einer eigenständigen Figur des Gewaltakteurs geronnen. Ob diese noch als links oder linksradikal zu bezeichnen ist, darf bezweifelt werden.

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Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff Im Juni 2017 führte die Bundeszentrale für politische Bildung eine Fachtagung zu Linksextremismus durch. Das Abschlussplenum debattierte die Frage „Linksextremismus – ein unbestimmtes Phänomen?“. Es mutet seltsam an, dass ein Phänomen, zu dem Präventionsprogramme aufgelegt werden, zu dem es große Abteilungen bei den Sicherheitsbehörden gibt und das im Zentrum vieler wissenschaftlicher Publikationen steht, unbestimmt sei. Dass auch eine Institution Zweifel an einer zentralen Kategorie des Extremismuskonzepts äußert, obwohl sie seit vielen Jahren für die Popularisierung genau dieses Konzepts sorgt, ist jedenfalls bemerkenswert. Keine Zweifel an der Bestimmtheit der Kategorie sind von Vertreter_innen der Extremismusforschung zu vernehmen. Im Gegenteil: Sie beklagen, dass viele andere Sozialwissenschaftler_innen sich in ihrer Forschung „einseitig“ auf Rechtsextremismus konzentrierten und somit gegen das „Gebot der Äquidistanz“ verstoßen würden.1 Veranschaulicht wird dieses Lamento mit Zahlen, die zeigen, dass es sehr viel weniger Untersuchungen zu Links- als zu Rechtsextremismus gibt.2 Dieses quantitative Missverhältnis ist unstrittig. Über die Gründe des Missverhältnisses zwischen Rechts- und Linksextremismusforschung gibt es hingegen keine Einigkeit. Extremismusforscher_innen vermuten, viele Sozialwissenschaftler_innen würden nicht zu Linksextremismus forschen, da sie selbst im politisch linken Lager zu verorten seien und die Gefahr von links verkennen.3 Manche der so angesprochenen führen ins Feld, dass aufgrund zahlreicher rechtsmotivierter Gewalttaten bis hin zu Mord und großer Akzeptanz rechter Einstellungen eine Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen

1 Eckhard Jesse, Der Begriff „Extremismus“ – Worin besteht der Erkenntnisgewinn?, in: bpb.de, 29.1.2015, URL: https://www.bpb.de/politik/extremismus/ rechtsextremismus/200098/derbegriff-extremismus-worin-besteht-der-erkenntnisgewinn [eingesehen am 08.11.2019]. 2 Vgl. Karsten Dustin Hoffmann, Linksextremismus im Spiegel von Wissenschaft und Publizistik, in: Dossier Linksextremismus, Bonn 2013; siehe auch Tom Thieme, Repräsentation des Linksextremismus in öffentlichem Diskurs und Wissenschaft, in: Dossier Linksextremismus, Bonn 2018. 3 Vgl. Uwe Backes u. Eckhard Jesse, Antiextremistischer Konsens – Prinzipien und Praxis, in: Dies. (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 2000, S. 13–30; dies., Die Extremismus-Formel, in: Dies., Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 2001, S. 13–29; Thieme, Repräsentation.

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dringlicher sei.4 Ich möchte hingegen herausarbeiten, dass sich die Kategorie Linksextremismus per se nicht eignet, um die radikale Linke zu erforschen. Die geringe wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Linksextremismus liegt also in der Unzulänglichkeit der Kategorie selbst begründet. Verdeutlicht werden soll dies durch eine Gegenüberstellung von Rechtsund Linksextremismus, der jeweiligen Definitionen und Forschungszugänge. Ausgangspunkt sind die normativen Setzungen und Definitionen der Extremismusforschung. Daraus folgen spezifische Zugänge zu den Unterkategorien Rechts- und Linksextremismus. Da weite Teile der Sozialwissenschaften die normativen Setzungen der Extremismusforschung nicht teilen, schlagen sie andere Zugänge zu den Unterkategorien vor. Es werden sowohl bezüglich Rechtsals auch Linksextremismus Konfliktlinien deutlich, die jedoch unterschiedlich verlaufen.5 Grundzüge der Extremismusforschung Spätestens seit Ende der 1970er hat sich Extremismus als Gegenbegriff zu Demokratie durchgesetzt.6 Ein kritischer Einwand gegen diesen Begriff war, er fungiere als „Kampfbegriff “7 , der missliebige politische Positionen diskreditieren könne. Dieser Missbrauch sollte durch die normative Verankerung des Begriffs behoben werden.8 Zunächst wird der Extremismusbegriff ohne eigene Merkmale bestimmt, sondern darüber, was er nicht ist bzw. darüber, was Extremist_innen ablehnen. Diese Negativdefinition leitet sich aus dem Bekenntnis

4 Vgl. Benno Hafeneger u. a., Folgenreiche Realitätsverleugnung: Das neue Extremismusbekämpfungsprogramm der Bundesregierung, in: BBE Newsletter, 24/2009, S. 1–6. 5 Die folgenden Kapitel sind weitgehend meiner Dissertation entnommen und hier mit freundlicher Genehmigung des Nomos Verlags abgedruckt, Maximilian Fuhrmann, Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Eine Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2019. 6 Vgl. Holger Oppenhäuser, Das Extremismus-Konzept und die Produktion von politischer Normalität, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells, Wiesbaden 2011, S. 35–58. 7 Wolf-Dieter Narr, Radikalismus, Extremismus, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, Bonn 1980, S. 366–375. 8 Vgl. u. a. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 88; ders., Extremismus: Konzeptionen, Definitionsprobleme und Kritik, in: Ders. u. a. (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 2010, S. 13–31. Backes kritisiert, dass mit früheren Definitionen auch die Hitler-Attentäter des 20. Juli zu Extremisten erklärt werden könnten, vgl. ders., Elemente einer normativen Rahmentheorie, S. 44.

Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff

zum demokratischen Verfassungsstaat ab. Wer einen seiner Grundpfeiler, bestehend aus Pluralismus, Gewaltenkontrolle und Menschenrechten, ablehnt, gilt als Extremist_in.9 Uwe Backes selbst räumt ein, dass diese definitio ex negativo „zirkulär [ist], da sie sich um eine Achse dreht: die Minimalbedingungen von ,Demokratie‘“.10 Sie kläre zwar die Frage der Grenzziehung, der Extremismusbegriff selbst bleibt jedoch inhaltsleer.11 Dieser Mangel sollte mit einer Positivdefinition, also einer Definition, die dem Gegenstand Eigenschaften zuordnet, behoben werden. Ihr Ausgangspunkt ist wiederum die Negativdefinition. Der Negativbestimmung folgend, gelten all jene Strömungen als extremistisch, die einen der Grundpfeiler demokratischer Verfassungsstaaten abschaffen wollen. Nach Backes sind dies sowohl extremistische Gruppen in demokratischen Verfassungsstaaten als auch autoritäre oder totalitäre Diktaturen bzw. „Extremismus an der Macht“. Aus den Positionen dieser Strömungen arbeitet Backes mehrere Gemeinsamkeiten heraus. Die so gewonnenen Strukturen extremistischer Doktrinen sind Absolutheitsansprüche – offensiv und defensiv, Dogmatismus, Utopismus/Kategorischer Utopieverzicht, Freund-FeindDenken, Verschwörungstheorien sowie Fanatismus/Aktivismus.12 Durch die normative Verankerung des Extremismusbegriffs als Gegenbegriff zum demokratischen Verfassungsstaat hat er – auf den ersten Blick – den Charakter eines Kampfbegriffs, der beliebig gegen politische Gegner_innen eingesetzt werden kann, verloren. Für die empirische Anwendung und die Entfaltung des Begriffs im politischen Diskurs ist jedoch entscheidend, wie die Definitionen operationalisiert werden und wem die Definitionshoheit zugeschrieben wird. Es zeigen sich hinsichtlich der Operationalisierung der Negativaber auch der Positivdefinition erhebliche Spielräume, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe.13 Wissenschaftler_innen und Institutionen, die Extremismus definieren, können diese Spielräume im Sinne ihrer politischen Wertungen und Positionen nutzen. In der Demokratieschutzkonzeption der Bundesrepublik besteht das Schutzgut, das gegen Extremist_innen verteidigt wird, in erster Linie aus staatlichen Institutionen und formalen Abläufen, während individuelle politische oder soziale Grundrechte nicht aufgeführt sind.14 Diese 9 Vgl. ders., Elemente einer normativen Rahmentheorie, S. 94–103; ders., Konzeptionen, Definitionsprobleme und Kritik, S. 22. 10 Ders., Elemente einer normativen Rahmentheorie, S. 88. 11 Vgl. ebd., S. 89. 12 Vgl. ebd., S. 294–314. 13 Vgl. Fuhrmann, Antiextremismus und wehrhafte Demokratie, S. 229–235. 14 Vgl. Sebastian Cobler, Grundrechtsterror, in: Horst Meier (Hg.), Protestfreie Zonen? Variationen über Bürgerrechte und Politik, Berlin 2012, S. 79–87; vgl. Sarah Schulz, Die freiheitliche demokratische Grundordnung, Weilerswist 2019, S. 203–211.

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etatistische Schlagseite verschärft sich, da der Exekutive, allen voran dem Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz, die Hoheit zukommt, über die Grenze zwischen Demokratie und Extremismus zu bestimmen.15 Aus diesen Gründen gelten politische Strömungen vor allem dann als extremistisch, wenn sie die staatliche Ordnung in Frage stellen. Dies schließt auch Strömungen ein, die eine Weiterentwicklung des Status Quo bspw. durch Formen radikaler Demokratie anstreben.16 Das konservative Demokratieverständnis, das Extremismusforschung und staatliche Institutionen gleichermaßen ihrer Arbeit zugrunde legen, formt ihre Bestimmung von Rechts- und Linksextremismus. Aus der Negativdefinition von Extremismus werden die Unterkategorien Rechts- und Linksextremismus abgeleitet.17 Ihnen gemein sei, dass sie mindestens einen der drei Grundpfeiler demokratischer Verfassungsstaaten ablehnen. Für Rechtsextremismus schlägt Backes eine zweistufige Definition vor. Sie setzt sich zusammen aus: „1. [der] Menge der Definitionsmerkmale, die das betreffende Phänomen als ›extremistisch‹ im Sinne der Negation unverzichtbarer Werte, Verfahrensregeln und Institutionen demokratischer Verfassungsstaaten ausweisen; 2. [der] Ablehnung des Ethos fundamentaler Menschengleichheit zur Unterscheidung jener Extremismen, die im Sinne eines radikalen Antiegalitarismus als ›rechts‹ zu qualifizieren sind.“18

15 Vgl. ausführlich Fuhrmann, Antiextremismus und wehrhafte Demokratie, S. 177–196. 16 Vgl. Stefan Kausch, Ordnung. Macht. Extremismus – Eine Alternativlosigkeit?, in: Weiterdenken – Heinrich Böll Stiftung Sachsen u. Kulturbüro Sachsen e.V. (Hg.), Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazis und (anti)demokratischen Einstellungen, Dresden 2010, S. 31–42. 17 Mit der Jahrtausendwende wurde Islamismus bzw. islamistischer Extremismus/Fundamentalismus als eigenständige, dritte Unterkategorie von Extremismus eingeführt. Die Definition erfolgt dabei ebenfalls in Abgrenzung zu den Grundbestandteilen demokratischer Verfassungsstaaten, vgl. u. a. Backes, Konzeptionen, Definitionsprobleme und Kritik, S. 27–28; Armin Pfahl-Traughber, Die Nicht-Erkennung des NSU-Rechtsterrorismus, in: Uwe Backes u. a. (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 2015, S. 73–93, hier S. 75–76. 18 Ders., „Rechtsextremismus“ – Konzeptionen und Kontroversen, in: Ders. (Hg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart. Köln 2003, S. 15–52, hier S. 49. Eine ähnliche Definition erarbeitet auch Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus: eine kritische Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung, Bonn 1993, S. 14–30, wobei er die zweite Stufe mit den Elementen Nationalismus, Antipluralismus und Autoritarismus konkreter fasst. Auch die Arbeitsdefinition der Ämter für Verfassungsschutz beinhaltet diese beiden Stufen, orientiert sich aber an der für den bundesdeutschen Kontext spezifischen Definition der freiheitlich demokratischen Grundordnung als Maßstab der ersten Stufe; siehe hierzu Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2016, Berlin 2017, S. 40.

Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff

Rechtsextremismus ist somit als „eine Teilmenge“19 extremistischer Strömungen definiert. Die „andere Variante des politischen Extremismus“20 ist demnach der Linksextremismus. In einer der bislang ausführlichsten Überblickdarstellung zu Linksextremismus leitet Armin Pfahl-Traughber seine Begriffsdefinition aus dem Bezug zum Ideal der Gleichheit her. Trotz aller Differenzen zwischen den so bezeichneten Phänomenen sieht er Linksextremismus als „eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Bestrebungen, die im Namen der Forderung nach einer von sozialer Gleichheit geprägten Gesellschaftsordnung die Normen und Regeln eines modernen demokratischen Verfassungsstaates ablehnen.“21 Beide Unterkategorien werden also aus der Negativdefinition von Extremismus abgeleitet. Diese negative Komponente wird jeweils mit einer positiven ergänzt. Im Falle des Rechtsextremismus ist dies die Befürwortung antiegalitärer Ideologien wie bspw. Rassismus, Nationalismus oder Antisemitismus; beim Linksextremismus das Streben nach dem Ideal der Gleichheit. Diese zweistufige Definition zeigt sich auch in der wohl bekanntesten Darstellungsform des Extremismuskonzepts, dem Hufeisen-Schema (vgl. Abb. 1). Dieses ist zwar linear aufgebaut, aber in einem zweidimensionalen Raum verortet. Dadurch soll symbolisiert werden, dass sich die extremistischen Enden des politischen Spektrums einander annähern. Aus Sicht der Extremismusforschung wird darin, trotz aller Unterschiede zwischen den Extremismen, deren gemeinsame Gegnerschaft zur Demokratie sichtbar.22 Weite Teile der Sozialwissenschaften haben hingegen einen anderen Zugang, um antidemokratische Potentiale zu identifizieren und zu erforschen. Dies führt bezüglich der beiden Unterkategorien Rechts- und Linksextremismus zu verschiedenen Konfliktlinien.

19 Backes, Konzeptionen und Kontroversen, S. 32. 20 Eckhard Jesse, Funktionen und Strukturen von Feindbildern im politischen Extremismus, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Feindbilder im politischen Extremismus. Gegensätze, Gemeinsamkeiten und ihre Auswirkungen auf die Innere Sicherheit, Köln 2004, S. 3–18, hier S. 13. 21 Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bonn 2015, S. 23. Auch andere Extremismusforscher gehen zweistufig vor und nennen die Ablehnung der Grundpfeiler demokratischer Verfassungsstaaten als zwingenden Bestandteil ihrer Definitionen; siehe u. a. Backes, Konzeptionen, Definitionsprobleme und Kritik, S. 27; Eckhard Jesse, Feindbilder im Extremismus, in: Uwe Backes u. a. (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 2011, S. 13–36, hier S. 29. Wie bereits beim Rechtsextremismus ähnelt die Linksextremismusdefinition der Sicherheitsbehörden jener der Extremismusforschung, siehe Verfassungsschutzbericht 2016, S. 64. 22 Ebd., S. 250–265; siehe auch Jesse, Worin besteht der Erkenntnisgewinn?.

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Abb. 1 Hufeisen-Schema23

Rechtsextremismusforschung Im Unterschied zur Extremismusforschung, die Rechtsextremismus aus der Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat ableitet und dem Begriff dann verschiedene Phänomene zuordnet, entwickelt die sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung ihren Begriff aus dem Gegenstand heraus. Ihre Definitionen fokussieren auf die Einstellungsebene und beinhalten nicht zwingend die Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat: Nach Richard Stöss besteht Rechtsextremismus aus verschiedenen Einstellungen wie Nationalismus, Ethnozentrismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, ProNazismus, Befürwortung einer Rechts-Diktatur und Sexismus.24 Als „Kurzformel zur inhaltlichen Charakterisierung des Rechtsextremismus“ empfiehlt er „die Bezeichnung ,völkischer Nationalismus‘“.25 Diese Kurzformel findet auch bei Samuel Salzborn Verwendung, der jedoch einen stärkeren Akzent auf Antisemitismus, dessen Verknüpfung mit Antiamerikanismus und eine am Kollektiv orientierte Geschichtspolitik legt.26 Weitere einflussreiche Definitionen stammen von Wilhelm Heitmeyer, der Rechtsextremismus aus Ideologien der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz konzipiert,27 von Hans-Gerd Jaschke, der

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Eigene Darstellung; nach Backes, Elemente einer normativen Rahmentheorie, S. 252. Vgl. Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2010, S. 19–21. Ebd., S. 19. Samuel Salzborn, Rechtsextremismus: Erscheinungsformen und Erklärungsansätze, Bonn 2015, S. 26–29. 27 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation. Weinheim

Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff

die Einstellungs- und Verhaltensebene zusammenführt,28 oder aus einem Kreis empirisch arbeitender Sozialwissenschaftler_innen, die 2001 für den Bereich der Einstellungsforschung eine sogenannte Konsensdefinition erarbeiteten.29 Trotz der verschiedenen Definitionen weist der Gegenstandsbereich der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung eine große „unumstrittene Schnittmenge“ auf.30 Viele Rechtsextremismusforscher_innen äußern Unbehagen am Begriff Rechtsextremismus. Dieser werde aus „pragmatischen Gründen“ verwendet,31 „weil er sich eingebürgert hat“32 , „in Ermangelung eines angemesseneren Begriffs“33 oder aufgrund einer „Kapitulation vor der Beständigkeit und Popularität des Rechtsextremismusbegriffs und vor dem (behaupteten) Mangel an gleichermaßen klaren Alternativen“34 . So gibt es zahlreiche Diskussionen um begriffliche Alternativen wie ,extreme Rechte‘, ,Rechtsradikalismus‘, ,Rechtspopulismus‘, ,Neue Rechte‘, ,(Neo-)Faschismus‘ oder ,(Neo-)National-sozialismus‘, die aber ihrerseits Probleme aufweisen.35 Das begriffliche Unbehagen ist darauf

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1987, S. 16; ders., Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher, Weinheim 1992, S. 13–14. Vgl. Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder, Opladen 1994, S. 31. Vgl. Oliver Decker u. a., Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Berlin 2006, S. 20. Eine ausführliche Dokumentation der Tagung aus dem Jahr 2001 mit der Auflistung der beteiligten Wissenschaftler_innen sowie der Dimensionen und Items, auf die sich die Teilnehmer_innen zur Messung von Rechtsextremismus einigten, ist abgedruckt bei Joachim Kreis, Zur Messung von rechtsextremer Einstellung. Probleme und Kontroversen am Beispiel zweier Studien. Berlin 2007, S. 9–16. Salzborn, Rechtsextremismus, S. 10. Fabian Virchow, „Rechtsextremismus“. Begriffe – Forschungsfelder – Kontroversen, in: Ders. u. a. (Hg.), Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2017, S. 5–42, hier S. 16. Richard Stöss, Streitgespräch zum Thema Linksextremismus zwischen Richard Stöss und Uwe Backes. Moderation: Hans-Gerd Jaschke, in: Ulrich Dovermann, (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2011, S. 291–318, hier S. 297. Gero Neugebauer, Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus. Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Wilfried Schubarth u. Richard Stöss (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Opladen 2000, S. 13–37, hier S. 33. Anne Dölemeyer u. Anne Mehrer, Einleitung: Ordnung. Macht. Extremismus, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung, Ordnung. Macht. Extremismus, S. 7–34, hier S. 17. So decken die Begriffe ›Neue Rechte‹, ›(Neo-)Faschismus‹ und ›(Neo-)Nationalsozialismus‹ nur einen Teil des ansonsten unter Rechtsextremismus gefassten Phänomenbereichs ab. Rechtspopulismus bezeichnet in erster Linie eine Methode und die Bezeichnungen ›extreme Rechte‹ und ›Rechtsradikalismus‹ verorten die ›Gefahr von rechts‹ an den Rand des politischen Spektrums. Siehe dazu ausführlich Richard Stöss, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik: Entwicklung – Ursachen – Gegenmassnahmen, Opladen 1989; Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit; Christoph Butterwegge, Rechtsextremismus, Rassismus und Ge-

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zurückzuführen, dass die Analysen der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung nahelegen, eine ,Gefahr von rechts‘ sei nicht nur am extrem rechten Rand des politischen Spektrums vorfindbar, sondern rage bis in die politische Mitte hinein; Übergänge ins konservative Lager seien fließend. So wenden sich viele Wissenschaftler_innen explizit gegen das Begriffsverständnis der Extremismusforschung, der sie vorwerfen, ,Gefahren von rechts‘ aus der (politischen) Mitte der Gesellschaft heraus nicht zu erkennen und dadurch das Ausmaß dieser Gefahr zu verharmlosen.36 Backes und Jesse hingegen monieren, Rechtsextremismus würde oftmals aufgebauscht und überschätzt.37 Wie gezeigt, nehmen viele Sozialwissenschaftler_innen den Rechtsextremismusbegriff, trotz Bedenken über die Konnotation des Begriffs, zum Bezugspunkt ihrer Forschungen. Sie teilen dabei nicht die normativen Prämissen der Extremismusforschung, die ihre Definition auf der Ablehnung demokratischer Verfassungsstaaten aufbaut. Diese unterschiedlichen Definitionen führen in der empirischen Praxis zu unterschiedlichen Einschätzungen über Ausmaß, Gefahr und Bekämpfung von Rechtsextremismus.38 Verschleiert werden die unterschiedlichen Zugänge durch Bezug auf denselben Begriff. Bezüglich Linksextremismus ergeben sich andere Konflikte als Folge der unterschiedlichen Forschungszugänge.

walt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996; Jörn Hüttmann, Extreme Rechte – Tragweite einer Begriffsalternative, in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung, Ordnung. Macht. Extremismus, S. 327–346; Reiner Fenske, Vom ›Randphänomen‹ zum ›Verdichtungsraum‹. Geschichte der ›Rechtsextremismus‹-Forschungen seit 1945, Münster 2013; Salzborn, Rechtsextremismus; Virchow, Begriffe – Forschungsfelder – Kontroversen). 36 Bemerkenswert ist, dass sich die meisten Rechtsextremismusforscher_innen deutlich gegen die Extremismusforschung abgrenzen. Vgl. Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, S. 15; Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, S. 29; Butterwegge, Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt, S. 64–78; Wolfgang Wippermann, Verfassungsschutz und Extremismusforschung. Falsche Perspektiven, in: Jens Mecklenburg (Hg.), Braune Gefahr. DVU, NPD, REP – Geschichte und Zukunft. Berlin 1999, S. 268–280; Neugebauer, Einige Anmerkungen; Oliver Decker u. a., Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 10–20; Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, S. 15–19; Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung, Ordnung. Macht. Extremismus; Fenske, ›Rechtsextremismus‹-Forschungen seit 1945, S. 100–120; Salzborn, Rechtsextremismus, S. 98–105; Virchow, Begriffe – Forschungsfelder – Kontroversen, S. 14–16. 37 Vgl. u. a. Uwe Backes u. Eckhard Jesse, Die streitbare Demokratie in der Krise?, in: Dies., (Hg.) Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 1996, S. 13–36; dies., Antiextremistischer Konsens. 38 Vgl. Fuhrmann, Antiextremismus und wehrhafte Demokratie, S. 238f.

Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff

Linksextremismusforschung Aus Sicht der Extremismusforschung unterscheidet sich die Kategorie Linksextremismus nur geringfügig vom Rechtsextremismus: das Opponieren gegen den demokratischen Verfassungsstaat wird mit dem Streben nach sozialer Gleichheit anstatt eines radikalen Antiegalitarismus kombiniert. Jesse schreibt, dass „es nicht angängig [ist], unter dem Gesichtspunkt der Abwehrbereitschaft zwischen beiden eine Differenzierung vorzunehmen“.39 Zu einer anderen Einschätzung kommen jene Sozialwissenschaftler_innen, die Rechtsextremismus nicht aus dem Extremismuskonzept, sondern in Auseinandersetzung mit entsprechenden sozialen Phänomenen ableiten. Auf einem Symposium des Berliner Landesamts für Verfassungsschutz bekennt bspw. Stöss: „Ich gehöre zu den Sozialwissenschaftlern, die den Begriff Linksextremismus nicht verwenden.“40 Viele andere Protagonist_innen der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung äußern sich nicht zu Linksextremismus. Es drängt sich die Frage auf, warum diese Kategorie so wenig Beachtung findet und es keine mit dem Rechtsextremismus vergleichbare sozialwissenschaftliche Linksextremismusforschung gibt. Ich möchte zwei Erklärungen anbieten, die sich aus der Beschaffenheit der Kategorie ableiten. Die Definitionen der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung haben weite Übereinstimmung mit der positiven Komponente der extremismustheoretischen Definition, dem Antiegalitarismus. Lässt man im Bereich Linksextremismus ebenfalls die negative Komponente, Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates, weg, bleibt mit der positiven Komponente, Streben nach sozialer Gleichheit, eine sehr weite Umschreibung des Gegenstandsbereichs. Dieser müsste auch die traditionelle Sozialdemokratie, Gewerkschaften und die sozialen Flügel der Kirchen einschließen. Diese Strömung und das Streben nach sozialer Gleichheit mit dem stigmatisierenden Begriff Linksextremismus zu umschreiben, brächte erhebliche normative Probleme mit sich. Während der Rechtsextremismusbegriff also ohne eine Ableitung aus der Negativdefinition von Extremismus funktioniert, ist dies für Linksextremismus nicht der Fall. Eine zweite Erklärung möchte ich aus der Heterogenität jener Phänomene ableiten, die durch Verfassungsschutz und Extremismusforschung unter die Kategorie Linksextremismus subsumiert werden. Hierunter fallen bspw. 39 Eckhard Jesse, Fundamentalkritik an der Konzeption der streitbaren Demokratie und am Extremismusbegriff – Auseinandersetzung mit differenzierter und plumper Kritik, in: Ders. u. Gerhard Hirscher, (Hg.), Extremismus in Deutschland. Schwerpunkte, Vergleiche, Perspektiven. Baden-Baden 2013, S. 505–526, hier S. 510. 40 Richard Stöss, Ideologie und Begriff des Linksextremismus, in: Berliner Verfassungsschutz (Hg.), Linksextremismus. Herausforderung für unsere Demokratie, Berlin 2014, S. 13–24.

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marxistisch-leninistische, trotzkistische, anarchistische, antideutsche oder maoistische Gruppen.41 Manche Ämter für Verfassungsschutz oder Extremismusforscher_innen schließen auch Gruppen mit dem Fokus auf Tierrechte, Ökologie oder Feminismus mit ein.42 Den Strömungen gemein sei, dass sie gegen den demokratischen Verfassungsstaat opponieren und dabei einen wie auch immer gearteten Bezug zu sozialer Gleichheit haben. Hinsichtlich vieler anderer Kriterien sind diese Phänomene jedoch höchst unterschiedlich, was mit dem Containerbegriff Linksextremismus nicht abgebildet werden kann bzw. verschleiert wird. Diese Unterschiede werden vor allem in Bezug auf Freiheit deutlich. So umkämpft dieser Begriff in den Sozialwissenschaften ist, kann als unbestritten gelten, dass maoistische und stalinistische Gruppen einen anderen Freiheitsbezug haben als Autonome oder Anarchist_innen. Der italienische Rechtsphilosoph Noberto Bobbio sieht die Bezüge zu Gleichheit und Freiheit als die zentralen (aber nicht die einzigen) Kriterien, um politische Strömungen zu klassifizieren.43 Grundlage des folgenden Schaubildes ist ein Feld, das durch diese beiden zentralen Kategorien aufgespannt wird. Darin habe ich die Phänomenbereiche Links- und Rechtsextremismus verortet (vgl. Abb. 2). Die in der Literatur als linksextrem klassifizierten Phänomene teilen zwar das Streben nach sozialer Gleichheit, zeigen sich aber besonders hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Freiheit als sehr heterogen und erstrecken sich in der Grafik folglich von links oben bis links unten. Zwar werden auch mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus unterschiedliche Phänomene zusammengefasst. Diese weisen jedoch durch ihren positiven Bezug auf antiegalitäre Positionen und ideologisch begründeten Freiheitseinschränkung für jene Teile der Bevölkerung, die den Gleichheitsvorstellungen nicht entsprechen, erhebliche Schnittmengen auf. Alle als rechtsextrem klassifizierten Phänomene können im Schaubild also in der rechten oberen Ecke verortet werden. Die Heterogenität der als linksextrem bezeichneten Phänomene hat erhebliche Folgen für die empirische Forschung. So waren sich Kritiker_innen und Befürworter_innen der Extremismusforschung bis vor Kurzem einig, dass ein linksextremes Einstellungsmuster bislang nicht ermittelt werden konnte und 41 Vgl. u. a. Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland; Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2016, S. 129–152. 42 Vgl. Uwe Backes u. Eckhard Jesse, Neue Formen des politischen Extremismus?, in: Dies., (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Baden-Baden 1998, S. 15–32; Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus, in: Bundesministerium des Innern (Hg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Berlin 2004, S. 7–24, hier S. 8–9; Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, Verfassungsschutzbericht, Hannover 2012, S. 188–190. 43 Vgl. Norbert Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994.

Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff

Abb. 2 Gegenstandsbereich von Rechts- und Linksextremismus im politischen Raum eigene Darstellung

die wenigen Versuche bis dato gescheitert sind.44 In jüngster Zeit versuchten Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder in einer groß angelegten Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ), linksextreme Einstellungen in Deutschland zu messen. Auf Basis der Studie titelte die Welt „Jeder fünfte will eine linke Revolution“ und Klaus Schroeder sagte im Interview mit Zeit online „Die Gesellschaft ist nach links gerückt“.45 Laut der Studie haben 17% der deutschen ein linksextremes Weltbild. Die Studie weist jedoch erhebliche Schwächen auf. Die Linksextremismusskala setzt sich aus 14 Items zusammen und ist in die vier Unterskalen Anti-Kapitalismus/Anti-Faschismus, Anti-Rassismus, Demokratiefeindlichkeit und kommunismusnahes Weltbild gegliedert. Laut der Studie leben die 44 Vgl. Stöss, Streitgespräch, S. 299; Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland, S. 11–12. 45 Reinhard Mohr, Jeder fünfte Deutsche will eine linke Revolution, in: Die Welt, 24.02.2015; Klaus Schröder im Interview mit Till Schwarze, „Die Gesellschaft ist nach links gerückt“, in: Zeit online, URL: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/demokratielinksextremismus-studie-klaus-schroeder-fu-berlin-interview [eingesehen am 08.11.2019].

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meisten Linksextremist_innen in ostdeutschen Kleinstädten und sind überdurchschnittlich häufig arbeitslos, Arbeiter_innen oder Landwirte.46 Ihre linksextreme Einstellung steht oftmals ihrer politischen Selbstverortung entgegen: Von den Befragten, die sich selbst als ganz rechts einordneten, vertreten laut der Studie 27% ein linksextremes Weltbild.47 Diese Ergebnisse nähren Zweifel, ob mit der Skala überhaupt Linksextremismus gemessen wird. Die Zweifel werden dadurch bestärkt, dass Aussagen wie „Die Überwachung von linken Systemkritikern durch Staat und Polizei nimmt zu“ oder „Nationalstaaten sollten abgeschafft werden“, die spezifisch linke Positionen abfragen, nicht mit der Skala korrelieren.48 Auch die Unterskala „Pro-Einwanderung“ wurde fallengelassen, da sie keinen signifikanten Zusammenhang mit der Linksextremismusskala zeigte.49 Allerspätestens hier sollte deutlich geworden sein, dass das Unterfangen, linksextreme Einstellungen zu messen, gescheitert ist.50 Dies ist aufgrund der Heterogenität des Phänomenbereichs auch nicht verwunderlich. Es ist schlichtweg nicht möglich, gemeinsame Einstellungsmuster von Tierrechtler_innen, Stalinist_innen, Antideutschen und Anarchist_innen zu erforschen. Zu verschieden sind ihre Positionen bezüglich Demokratie, Freiheit oder aktuellen und vergangenen Vorstellungen von Sozialismus. Es ist nicht zielführend, dogmatisch-autoritäre und radikaldemokratische Positionen unter einen Begriff zu zwängen und den Anspruch aufrechtzuerhalten, auf Grundlage eines solchen Containerbegriffs übergreifende Aussagen zu den Phänomenen treffen zu wollen. Das Vorhaben, Linksextremismus als einigermaßen konsistentes soziales Phänomen zu bestimmen, ist bislang gescheitert und wird auch in Zukunft scheitern. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Sozialwissenschaften den als linksextrem bezeichneten Phänomenen nicht zuwenden sollen. Bereits vor zwanzig Jahren hat Gero Neugebauer herausgearbeitet, dass es in der Kommunismus-, Protest-, Parteien- oder Wahlforschung eine intensive Auseinandersetzung mit den entsprechenden Phänomene gibt.51 Diese findet aus den genannten Gründen aber nicht unter dem Label Linksextremismus statt. 46 Vgl. Monika Deutz-Schroeder u. Klaus Schroeder, Linksextreme Einstellungen und Feindbilder, Frankfurt a. M. 2016, S. 75. 47 Vgl. Klaus Schroeder u. Monika Deutz-Schroeder, Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt a. M. 2015, S. 589. 48 Vgl. Deutz-Schroeder u. Schroeder, Linksextreme Einstellungen, S. 47. 49 Vgl. Deutz-Schroeder u. Schroeder, Gegen Staat und Kapital, S. 584. 50 Für eine ausführliche Kritik an der Untersuchung siehe Maximilian Fuhrmann, Der Kampf gegen links in wissenschaftlichem Gewand, in: Asta FU Berlin (Hg.), FU70: Gegendarstellungen, Berlin 2018, S. 142–145. 51 Vgl. Neugebauer, Einige Anmerkungen, S. 24–31.

Linksextremismus – ein unzulänglicher Containerbegriff

Fazit Die eingangs erwähnte Frage der Bundeszentrale für politische Bildung kann nach diesen Ausführungen in eine Aussage umgewandelt werden: „Linksextremismus – ein unbestimmtes Phänomen!“ Diese Feststellung wirft wiederum weitere Fragen auf. Denn offensichtlich gibt es politische Strömungen, die sich dem linken Spektrum zuordnen und dabei antisemitische Positionen vertreten oder autoritäre Lösungen anstreben und demokratische Aushandlungsprozesse ablehnen. Wie sind solche Positionen zu identifizieren? Wann werden sie zu einer Gefahr für demokratisches Zusammenleben? Wie können solche Strömungen benannt und weiter erforscht werden? Dass zur Beantwortung dieser Fragen die Kategorie Linksextremismus ungeeignet ist, scheint bis zum BMFSFJ vorgedrungen zu sein. 2015 wurden die Präventionsprojekte gegen Linksextremismus zu Projekten gegen linke Militanz umbenannt. Die Gefahr hierbei ist allerdings, den einen Containerbegriff durch einen anderen, vermeintlich gegenständlicheren, auszutauschen.52 Mit einem Austausch des Begriffs ist es aber nicht getan. Vielmehr bedarf es der Abkehr von einer Konzeption, die einen etatistischen Demokratiebegriff verabsolutiert und davon ausgehend gegen die Gegner_innen der bestehenden Ordnung vorgeht. Sozialwissenschaftliche Forschung, die sich der radikalen Linken zuwendet, sollte sich deutlich abgrenzen, sofern sie diese Konzeption nicht reproduzieren will. Sie läuft sonst Gefahr, trotz aller Differenzierungen, in den hegemonialen extremismustheoretischen Diskurs eingegliedert zu werden. Diese Gefahr besteht vor allem, wenn staatliche Institutionen oder Behörden, die selbst das Extremismuskonzept vertreten, als direkter oder indirekter Auftraggeber der Forschungsvorhaben fungieren.

52 Vgl. Maximilian Fuhrmann, Konjunkturen der Containerbegriffe. Das neue Bundesprogramm ›Demokratie leben!‹ in extremismustheoretischer Hinsicht, in: Friedrich Burschel (Hg.), Durchmarsch von Rechts. Völkischer Aufbruch: Rassismus, Rechtspopulismus, rechter Terror, Berlin 2016, S. 131–137.

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Die radikale Linke zwischen Protest und Militanz Hintergründe, Besonderheiten und Perspektiven zu linksextremer Gewalt

Will man sich einmal unbefangen dem Linksradikalismus oder dem Phänomen der „linken Gewalt“ nähern, dann macht man zunächst eine Reihe von irritierenden Erfahrungen: Eine erfolgversprechende rasche Google-Recherche zu den oben genannten Stichwörtern bringt zwar etliche Ergebnisse, diese stammen auf den ersten Seiten aber überwiegend aus rechtspopulistischen oder konservativen Quellen, die offensichtlich das Thema Linksextremismus in den letzten Jahren für sich zur politischen Agitation entdeckt haben. Die rechte Szene reagiert dabei besonders sensibel auf jedwede Form von „linker Gewalt“. Die jährlich erscheinenden Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz1 widmen unter dem Label der politisch motivierten Kriminalität dem Rechtsextremismus, dem Linksextremismus und dem Islamismus schon seit einigen Jahren ungefähr die gleiche Aufmerksamkeit, wenn man die Seitenzahlen der Berichte als Maßstab heranzieht, obwohl die damit bezeichneten Phänomene von höchst unterschiedlicher Relevanz für die Gesellschaft sind. Im wissenschaftlichen Mainstream und in der öffentlichen Wahrnehmung scheint nach wie vor das schon seit Jahren kritisierte Label des „Extremismus“2 das erkenntnisleitende Wort zum Verstehen und Erklären der höchst unterschiedlichen Phänomene des Rechts- und Linksextremismus zu sein. Damit verbunden ist die Wahrnehmung, dass die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen von rechts wie von links bedroht ist oder wird. Hieran schließt sich nahtlos die Beobachtung an, dass in zahlreichen öffentlichen Verlautbarungen von Politikern oder Behörden zum Rechtsextremismus nur selten darauf verzichtet wird, auch den Linksextremismus zu erwähnen, selbst wenn er überhaupt nichts zu Erhellung oder Aufklärung des jeweils angesprochenen Tatbestands beiträgt.

1 Siehe Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht, verschiedene Jahrgänge, Berlin. 2 Siehe Hans-Gerd Jaschke, Politischer Extremismus, Wiesbaden 2006; Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004; Helga Grebing, Linksradikalismus gleich Rechtsradikalismus. Eine falsche Gleichung, Stuttgart 1971; vgl. auch Jan Ackermann u. a., Metamorphosen des Extremismusbegriffes. Diskursanalytische Untersuchungen zur Dynamik einer funktionalen Unzulänglichkeit, Wiesbaden 2015.

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Sucht man sodann auf dem Büchermarkt nach brauchbaren Erkenntnissen über den Linksradikalismus, so findet sich zwar inzwischen die ein oder andere seriöse Auseinandersetzung3 mit dem Phänomen bzw. einzelnen zugehörigen Gruppierungen oder aber historische Dokumentationen zum Thema Linke und Gewalt4 , aber mindestens ebenso weit verbreitet scheint eine „Abrechnungs“Literatur5 zu sein, die in sehr generalisierender Form und in überhistorischer Art und Weise mit den vielen Übeln des Kommunismus und der Gewalt von links zurecht zu kommen versucht. In der medialen Öffentlichkeit liefert etwa die Fernsehberichterstattung häufig Bilder von brennenden Autos und Barrikaden, vermummten Steinewerfern, schwarz gekleideten gewalttätigen Gestalten (insbesondere zu Anlässen wie Atomtransporten, 1. Mai-Protesten, politischen Gipfeln oder anderen Anlässen) und eines rasenden Mobs, die bürgerkriegsähnliche Zustände heraufbeschwören und die gewaltsame Bedrohung unserer freiheitlichen Ordnung scheinbar für alle sichtbar machen, auch wenn später hinter den emotionalen Bildern eher andere sachliche Tatbestände und Motive zum Vorschein kommen.6 Die Beispiele ließen sich mühelos fortsetzen. Zurück bleibt die in gewisser Weise ernüchternde Erfahrung, dass das konkrete und empirisch gesättigte Wissen über radikal linke Bewegungen, Organisationen und ihre Militanz nach wie vor eher bescheiden ist, die linksradikalen Milieus nur schemenhaft durchdrungen werden und nicht in der gebotenen Differenziertheit betrachtet werden. Es gibt nach wie vor kaum seriöse wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der „linken Gewalt“ und ihrer Hintergründe.7 Es domi3 Siehe z. B. Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2014; Gero Neugebauer, Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen, in: Wilfried Schubarth u. Richard Stöss, (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Baden-Baden 2000, S. 13–37. 4 Siehe z. B. Felix Wernheuer (Hg.), Linke und Gewalt. Pazifismus, Tyrannenmord, Befreiungskampf, Wien 2014. 5 Siehe z. B. Klaus Schröder und Monika Deutz-Schröder, Der Kampf ist nicht zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt, Freiburg 2019. 6 Für die 1. Mai-Proteste in Berlin siehe Klaus Hoffmann-Holland, Analyse der Gewalt am 1. Mai 2009 in Berlin. Triangulierte kriminologische Studie. Forschungsbericht, Berlin 2010. 7 Siehe zum Gewaltbegriff Peter Imbusch, Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer u. John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 24–55; zu unterschiedlichen Gewaltkonstellationen ders., Die Rolle von ‚Dritten‘. Eine unterbelichtete Dimension von Gewalt, in: Philipp Batelka u. a. (Hg.), Zwischen Tätern und Opfern. Gewaltbeziehungen und Gewaltgemeinschaften, Göttingen 2017, S. 47–74; für eine theoretische Verarbeitung der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ders., Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2005.

Die radikale Linke zwischen Protest und Militanz

niert nach wie vor eine staatlich justiziable Perspektive auf die verschiedenen Gewaltformen und -anlässe.8 Angesichts der großen Emotionalität, mit der Debatten über den Linksextremismus und die „linke Gewalt“ geführt werden, erscheint eine ausführlichere Beschäftigung mit den Phänomenen dringend geboten zu sein. Denn zum einen schützt dies vor einer Überzeichnung der Gefahrenpotenziale durch den Linksradikalismus, zum anderen auch des Stellenwerts und der Bedeutung linksextremer Gewalt. Nur so kann eine vernünftige und sachliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen und Ursachen des Linksextremismus und den Motivationen zur Gewalt stattfinden – zumal die Schwerpunkte linksextremer Gewalt örtlich auf wenige Großstädte (wie z. B. Berlin oder Hamburg) begrenzt sind und die Gewalt selbst meistens zu bestimmten Anlässen hervor bricht. Der folgende Text möchte einen Beitrag leisten zu einer solchen Auseinandersetzung. Ihm geht es in einem sozialwissenschaftlichen Sinne um ein Verstehen und Erklären der angesprochenen Phänomene. „Linksextremismus“ – Begriff, Label und dahinter stehende Gruppierungen Der Begriff des Linksextremismus ist zunächst die stark vereinfachende und vereinheitlichende Bezeichnung für politisch unterschiedliche und sehr heterogene Gruppierungen, die mit abnehmender Mitglieder- und Sympathisantenzahl zu kämpfen haben, mit unterschiedlichen politischen Zielvorstellungen miteinander konkurrieren und ihre politischen Ziele auf diversen Wegen – mal mit, mal ohne Gewalt – verwirklichen wollen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie im weitesten Sinne eine Überwindung der politischen und ökonomischen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik anstreben, ohne dass die konkrete zukünftige Gesellschaftsordnung klar umrissen wäre.9 Vereinfachend und vereinheitlichend ist die Rede vom Linksextremismus in wenigstens dreierlei Hinsicht10 : Erstens: Mit dem Gebrauch des Extremismusbegriffs wird zu wenig zwischen unterschiedlichen Varianten von Extremis8 Siehe Rudolf van Hüllen, Definition und Dimensionen, Erscheinungsformen und Kernaussagen des Linksextremismus. Überlegungen zur Prävention von Linksextremismus (Teil 1), Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2012; ders., Linksextremismus und Gewalt – ein symbiotisches Phänomen im Aufschwung? in: Deutsche Polizei. Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, H. 8/2010, S. 6–15. 9 Vgl. Ackermann u. a., Metamorphosen; Patrick Moreau u. Jürgen P. Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996. 10 Vgl. Uwe Backes u. Eckhard Jesse (Hg.), Gefährdungen der Freiheit. Extremistische Ideologien im Vergleich, Göttingen 2016; Eckhard Jesse u. Tom Mannewitz, Extremismusforschung.

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mus (insbesondere zwischen Links- und Rechtsextremismus) unterschieden und gerade dort grundlegende Gemeinsamkeiten betont, wo es für eine politische Analyse auf Differenzierung ankäme. Zweitens: Das homogenisierende Label Linksextremismus erlaubt es kaum noch, die großen Unterschiede in der politisch-ideologischen Ausrichtung, den konkreten Aktionsformen und hinsichtlich der verschiedenartigen Zielsetzungen innerhalb des linken Radikalismus angemessen wahrzunehmen und zu differenzieren. Drittens: Schließlich ist das Wort Linksextremismus auch in Bezug auf die Gewaltfrage unterkomplex, da es durchgängige oder einheitliche militante Aktionsformen suggeriert, ohne zu sehen, dass die Frage der Gewalt als eines politischen Mittels innerhalb des linksextremen Spektrums selbst höchst umstritten ist und nur wenige Gruppierungen überhaupt Gewalt anwenden. Links-„Extremismus“ ist zudem eine Fremdzuschreibung, die politisch stigmatisierend wirkt und bestimmte Gruppierungen aus den politischen Diskursen ausgrenzt. Sie markiert vermeintlich klare Zonen der Zugehörigkeit, zieht aber nur diffuse Grenzen des Erlaubten oder Tolerierbaren. Die hier zur Diskussion stehenden unterschiedlichen Gruppierungen bezeichnen sich hingegen selbst eher als „radikale Linke“, was umgekehrt – und vielleicht nicht weniger problematisch – offener klingt und auf Akzeptanzsicherung und Anerkennung angelegt ist. Denn Links-„Radikalismus“ betont, dass man einer Sache an die Wurzel, sozusagen auf den Grund gehen möchte, der Begriff hat per se keinen ausgrenzenden Charakter. Ein Blick auf die verschiedenen Organisationen und Bewegungen innerhalb des linksextremen Spektrums offenbart denn auch sehr verschiedene Strömungen und Ideologien, deren Differenzen untereinander mindestens so groß sind wie deren vermeintliche Gemeinsamkeiten. Ein Blick in die verschiedenen Verfassungsschutzberichte zeigt das ganze Spektrum der Organisationen und Positionen11 : Revolutionär-marxistische Gruppen: Hier finden sich Parteien und Organisationen wie beispielsweise die DKP und die SDAJ, die MLPD, die Rote Hilfe e. V. und andere mehr. Sie verfechten im Grunde traditionelle Klassenkampfkonzepte, vertreten marxistisch-leninistische oder maoistische Positionen und weisen entsprechende Theorieelemente in ihren Programmen auf; sie sind anti-imperialistisch orientiert. Ihre Mitgliederzahl ist seit dem Ende des OstWest-Konflikts und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt stark zurückgegangen, sie beträgt gegenwärtig nur noch ca. 25.000 Personen. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2018; Eckhard Jesse u. Tom Thieme (Hg.), Extremismus in den EU-Staaten, Wiesbaden 2011. 11 Siehe zum Folgenden Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Linksextremismus. Erscheinungsformen und Gefährdungspotenziale, Köln 2016; sowie die verschiedenen Jahrgänge der Verfassungsschutzberichte.

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Autonome: Wenn von gewaltbereitem Extremismus gesprochen wird, dann geht es häufig um die Autonomen, die mit ihrer Straßenmilitanz zu bestimmten Anlässen immer wieder für Aufsehen sorgen. Hierzu zählen Gruppen wie beispielsweise die militante gruppe (mg), der Schwarze Block, die Antideutschen, die Antifaschistische Aktion (als Netzwerk). Diese Gruppierungen sind weitgehend ohne feste theoretische Orientierung, sie treten aber für ein „freies und selbstbestimmtes Leben in herrschaftsfreien Räumen“ ein. Im Vordergrund steht bei ihnen eine revolutionäre Subjektivität. Die Autonomen streben eine Verknüpfung unterschiedlicher sozialer Kämpfe und Bewegungen an, ohne dass eine hierarchische Rangfolge erkennbar wäre. Ihre Mitgliederzahl beläuft sich auf ca. 6.000 Personen, ca. 5.000 von ihnen werden als gewaltbereit eingeschätzt. Anarchisten: Die Anarchisten bilden eine kleine Gruppe innerhalb der Linksextremen, die kaum über politischen Einfluss verfügt. Zu ihnen zählen Organisationen und Gruppierungen wie beispielsweise die Freie Arbeiter Union (FAU), die Graswurzelbewegung oder die Anarchokommunisten. Sie vertreten klassisches anarchistisches Gedankengut und betonen bei Aktionen insbesondere die Ideologie der „Propaganda der Tat“. Ihre genaue Mitgliederzahl ist nicht bekannt. Trotzkisten: Auch die Trotzkisten (z. B. Sozialistische Alternative (SAV), Revolutionär Sozialistischer Bund (RSB/IV. Internationale), internationale sozialistische linke (isl) sind nur eine kleine Splittergruppe innerhalb des linksextremen Spektrums. Ideologisch auf trotzkistisches Gedankengut ausgerichtet, streben sie eine Verbindung von antikapitalistischem Protest mit der Bewegung der Lohnabhängigen an, die sie zu einer Massenbewegung formieren wollen. Ihre genaue Mitgliederzahl ist nicht bekannt, die Zahl möglicher Aktivisten wird auf ca. 1500 Personen geschätzt. Die Linke: Bei der Linkspartei ist umstritten, ob und inwieweit sie überhaupt zum linksextremen Spektrum gezählt werden kann. Sie bietet insgesamt ein heterogenes Erscheinungsbild: Einerseits – und mehrheitlich – ist sie eine ganz normale linke Partei, die in einer Vielzahl von Länderparlamenten und im Bundestag vertreten ist, teilweise sogar Regierungsverantwortung übernommen hat. Dieser Teil der Partei, der ca. 70.000 Parteimitglieder repräsentiert, wendet sich weder aggressiv noch kämpferisch gegen die Grundordnung der Bundesrepublik oder gegen den Staat. Die Verfolgung politischer Ziele mittels Gewalt wird ausdrücklich abgelehnt, mit linken Gewalttätern gibt es erklärtermaßen weder offene noch heimliche Sympathien. Andererseits verfügt die Partei mit der „Kommunistischen Plattform“ über eine innerparteiliche Gruppierung, die offen für eine andere Gesellschaftsordnung eintritt, aber als radikaler Kern innerhalb der Partei marginalisiert ist. Die Zahl der Linksextremisten innerhalb der Partei beläuft sich etwa auf 1.000 Personen, die Zahl möglicher Gewaltbefürworter ist erheblich geringer.

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Linksextreme Globalisierungsgegner: Schließlich gibt es noch die sehr diffuse Gruppe linksextremer Globalisierungsgegner. Zu ihnen zählen Gruppen wie die Interventionistische Linke (IL), Dissent!, das „Revolutionäre Anti-68-Bündnis“ und andere mehr. Ihre ideologische Ausrichtung ist eher spontaneistisch, theoretisch sind sie wenig festgelegt, teilweise erscheinen sie sogar recht konturenlos. Ihre Mitglieder- bzw. Anhängerzahl schwankt und ist nicht genau festzustellen. Teile dieser Gruppierungen befürworten zumindest in bestimmten Situationen Gewalt. Die Ausstrahlungskraft des Linksradikalismus Die Ausstrahlungskraft des Linksradikalismus in der Bundesrepublik ist äußerst gering, seine Diskurse und Ideologien – in welcher Form sie auch immer auftreten – verfangen in der Gesellschaft kaum. Dort, wo radikale Linke Gewalt befürworten und legitimieren oder sie sogar selbst anwenden, werden sie einhellig abgelehnt. Linksextreme Gruppierungen und Parteien konnten in den letzten Jahren keinen großen Zulauf verzeichnen. Im Gegenteil: Die Mitgliederzahlen in den als linksextrem geltenden Organisationen bewegen sich seit Jahren auf ungefähr gleichem Niveau.12 Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Implosion des osteuropäischen Sozialismus ist die Anziehungskraft von linken Politikkonzeptionen, ganz zu schweigen von radikal linkem Gedankengut, kontinuierlich zurückgegangen. Das hat etwas mit der Delegitimierung von sozialistischen Ideen durch den „realen Sozialismus“, mit einem Misstrauen gegenüber der mit diesem Sozialismus assoziierten Unfreiheit und Zwangswirtschaft und mit einem generellen Wandel hegemonialer gesellschaftlicher Leitbilder im Prozess der Modernisierung zu tun.13 Nur wenige der linksextremistischen Parteien und Gruppierungen verfügen über umfassende politische Programmatiken, die mit Aussicht auf politischen Erfolg vertreten werden können, häufig erschöpfen sie sich in Verbalradikalismen oder utopischen Forderungen. Bei den kleineren Gruppierungen und Organisationen ist der politische Aktionsradius meistens noch stärker fokussiert und entsprechend eingeschränkt. Daher sind auch kaum oder nur sehr allgemeine positive Bezugnahmen und Identifikationen mit den linksextremen Parteien und Gruppierungen möglich, es herrschen vielmehr negative Bezug-

12 Siehe die entsprechenden Informationen und Angaben in Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht, verschiedene Jahrgänge. 13 Siehe zur radikalen Linken nach 1989 ausführlich Ulrich Peters, Unbeugsam & Widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90, Münster 2014.

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nahmen vor: Man ist sich einig in der Ablehnung bestimmter Verhältnisse und Zustände, solidarisiert sich über die Klage gegen diesen oder jenen Missstand, und identifiziert sich abstrakt über bestimmte Protestaktionen und Protestformen. Bei einigen wenigen Gruppen ist zudem die Gewaltorientierung ein identitätsstiftendes bzw. identitätsverbürgendes Element.14 Hinzu kommen weitere Gründe für die mangelnde Ausstrahlung des Linksextremismus in die Gesellschaft. Bei den meisten Organisationen und Gruppierungen der radikalen Linken – gibt es starke Freund-Feind-Stereotypen und Feindbilder, die den politischen Gegner, seine Motive, Interessen und Handlungen verzerren, – existiert ein hohes Maß an Dogmatismus, der zu einseitigen Lagebeurteilungen führt und nur eine geringe Kompromissfähigkeit beinhaltet, – gibt es ein beträchtliches Missionsbewusstsein, wobei die Überzeugungskraft oft auf schwachen Argumenten gründet, – herrscht eine beträchtliche Orthodoxie im Denken vor, die politische Prozesse entlang stereotyper Schablonen interpretiert und beurteilt, – steht der Glaube an und die Verwirklichung eines objektiv erkennbaren Allgemeinwohls über den subjektiven Erfahrungen des Einzelnen, – gibt es einen starken Glauben an die Überlegenheit einer (nicht näher spezifizierten) Gleichheit und an die Perfektionierbarkeit des Menschen, – fehlt ein konkretes, zu realisierendes Gesellschaftsprojekt; auch positive Vorstellungen im Hinblick auf die Ausgestaltung des zukünftigen „Sozialismus“ oder einer herrschaftsfreien Gesellschaft sind Mangelware. Die Diskurse und Ideologien der Linksextremen richten sich maßgeblich an jene Gruppen in der Gesellschaft, die grundlegende politische Prämissen und Einstellungen bereits teilen oder zumindest eine Affinität zu ihnen haben. Dies sind etwa Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer, Unterprivilegierte, von sozialer Desintegration bedrohte Menschen, vom herkömmlichen Politikbetrieb enttäuschte Protestler, aber auch Personen mit einem ausgeprägten, aber häufig vordergründigen Gerechtigkeitssinn. Die geringe Breitenwirkung der radikalen Linken hat zudem auch etwas mit der spezifischen institutionellen Verfasstheit der einzelnen Gruppierungen zu tun: In den meisten oben genannten Richtungen des linksextremen Spek-

14 Vgl. Rudolf van Hüllen, Linksextremismus – eine vernachlässigte Gefahr. Aktuelle Fragen der Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung, Heft 44, St. Augustin 1997; Viola Neu, Rechts- und Linksextremismus in Deutschland. Wahlverhalten und Einstellungen, Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin 2009; Jürgen P. Lang, Für eine bessere Welt? Linksextremistische Argumentationsmuster, Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin 2012.

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trums findet sich eine Vielzahl von kleinen Gruppierungen, die für sich allein politisch kaum etwas auszurichten vermögen. Die jeweiligen Organisationsund Mobilisierungsprinzipien stehen sich manchmal diametral entgegen und schließen sich häufig aus. Auch sind „Linke“ der „Linken“ liebste Feinde. Anstatt gemeinsam oder zusammen den politischen Gegner mit einer überzeugenden Strategie zu bekämpfen, tritt die Bekämpfung des eigentlichen Gegners hinter interne Querelen oder innerlinke Glaubenskämpfe zurück. Durch die Betonung der geringsten Differenz statt der größten Gemeinsamkeit wird eine Zusammenarbeit der heterogenen Gruppierungen erschwert und nur höchst partiell möglich. Nicht zuletzt spaltet die Frage, wie man es mit der Gewalt als politischem Mittel oder als politischer Strategie hält, die linksextremen Bewegungen und Parteien. So gibt es unter den linksextremen Organisationen einige wenige, für die der Gewalteinsatz als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele nicht hinterfragt wird und völlig legitim erscheint. Es gibt aber etliche, die Gewalt als Mittel zum Zweck vollkommen ablehnen und Gewalteinsätze auch verurteilen. Zudem gibt es innerhalb einzelner Organisationen intensive Diskussionen über die Rolle von Gewalt in der Geschichte und welche Lehren daraus für politische Aktionen in der Gegenwart gezogen werden müssen.15 Linksradikalismus und die „Krise des Kapitalismus“ Obwohl die „Krise des Kapitalismus“ eigentlich ein genuines Thema der politischen Linken ist16 , konnte zumindest der Linksextremismus aus der zunehmenden sozialen Ungleichheit der letzten Jahrzehnte und den sozio-ökonomischen Verwerfungen infolge der Finanzkrise kaum Kapital schlagen. Das liegt zum einen an einer defizitären Krisenanalyse, welche die Besonderheiten der gegenwärtigen Krisenprozesse nicht adäquat in den Blick nimmt, zum anderen an den dauerhaften, aber sich erschöpft habenden Krisenrhetoriken, und schließlich an fehlenden Auswegen aus oder gangbaren Lösungen zur Überwindung der Krise. Mit Blick auf die defizitäre Krisendiagnose der radikalen Linken wäre zu sagen: Es gibt aufgrund der unzureichenden Kenntnisse volkswirtschaftlicher

15 Siehe Rainer Rilling (Hg.), Eine Frage der Gewalt. Antworten von links, Berlin 2008; Erhard Crome, Transformation und Gewalt, in: Michael Brie u. Mario Candeias (Hg.), Transformation im Kapitalismus und darüber hinaus, Berlin 2012, S. 93–100. 16 Siehe z. B. Sahra Wagenknecht, Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft, Berlin 2008.

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und finanztechnischer Zusammenhänge der Linksextremen keine Erklärungsmodelle der Krise, die sich in ein kohärentes politisches Programm übersetzen ließen. Selbst da, wo es von linker Seite spezifische Analysen zur Finanzmarktkrise und ihren Folgen gibt, ist nicht erkennbar, dass sie wechselseitig oder von anderen Gruppierungen des linksextremen Spektrums zur Kenntnis genommen würden. Zudem werden die Krisenursachen im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus nicht hinreichend spezifiziert, sondern wesentlich in allgemeinen Funktionslogiken des Kapitalismus gesehen. Handelnde Personen und ihre Interessen bleiben abstrakt und treten als „Charaktermasken des Kapitals“ hinter Strukturen zurück, so dass Verantwortlichkeiten letztendlich diffus bleiben. Der Staat erscheint hier – neben seiner Rolle als Repressionsinstrument – wahlweise als Reparaturbetrieb im Dienste des Kapitals oder als Agentur zur Rettung des Kapitalismus. Die Krisenrhetoriken seitens der extremen Linken über den Kapitalismus haben sich dabei weitgehend erschöpft. Schon seit Jahrzehnten gibt es für die Linke und die linksextremen Kräfte eine „Dauerkrise des Kapitalismus“, der Kapitalismus befindet sich mal in einem Spät-, mal in seinem Endstadium. Dieses wird immer wieder beschworen, verliert aber sukzessive an Glaubwürdigkeit. Mit der dauerhaften Krisenrhetorik ist eine Unterschätzung der Regenerationsfähigkeit des Kapitalismus und seiner Innovationspotenziale verbunden. Da der Kapitalismus in den Schriften der Linken ständig kurz vor der endgültigen Umwälzung steht, werden die tiefgreifenden Unterschiede zwischen einzelnen Varianten und Ausprägungen der Marktwirtschaft nicht hinreichend zur Kenntnis genommen und einzelne Perioden und sich darin ausdrückende soziale Kräfteverhältnisse nicht genügend differenziert. Insgesamt bleibt es in den Äußerungen der Linken und linksextremen Kräfte rätselhaft, warum der scheinbar durch immer größere Widersprüche, eine immense soziale Kälte und sozioökonomische Krisen gekennzeichnete Kapitalismus sich immer noch beträchtlicher Attraktivität erfreut. Zudem werden kaum gangbare Auswege aus der Krise oder Lösungen für die Menschen präsentiert. In den Rhetoriken der Linksextremen finden sich viele verbalradikale Aussagen und globale Diskurse und wenig konkrete Lösungen für die Probleme der Menschen. Deutlich erkennbar ist auch, dass das Interesse an konkreten Lösungen innerhalb des gegenwärtigen Wirtschaftssystems gering ist, da eigentlich die Systemüberwindung angestrebt wird und man sich nicht mit einer Reformstrategie zu Komplizen der Verhältnisse machen will. Trotz einer ausgeklügelten Krisen- und Betroffenheitsrhetorik findet sich häufig eine erschreckende Unempfindlichkeit gegen das konkrete Leiden derjenigen, die von Krisenprozessen betroffen sind. Die extreme Linke kann damit kaum von den gegenwärtigen Krisen des Kapitalismus profitieren.

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Politische Mobilisierung und Anschlussfähigkeit von Themen Linksextremisten engagieren sich seit Jahrzehnten auch auf einer ganzen Reihe von politischen, gesellschaftlichen und weltanschaulichen Aktionsfeldern.17 Dazu zählen neben dem Kampf gegen den Kapitalismus v.a. der Kampf gegen die Globalisierung, gegen staatliche Repression, gegen Militarismus und Faschismus, gegen Rassismus sowie gegen Gentrifizierung. Diese Aktionsfelder können je nach Lage der Dinge miteinander verknüpft werden, um eine größere Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzielen. Daneben spielt auch der Internationalismus noch eine wichtige Rolle. Die linksextremen Gruppen und Organisationen benötigen zur Mobilisierung ihrer Klientel politisch und moralisch ausbeutbare Ereignisse und Entwicklungen. Sie sind insbesondere dann stark und öffentlich sichtbar, wenn sie gegen missliebige Events protestieren und bei Demonstrationen auf ihre Sicht der Dinge aufmerksam machen können. In den letzten Jahren waren solche Ereignisse v.a. im Rahmen der Globalisierungskritik verortet: Hier dienten etwa die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, gegen den G20-Gipfel in Hamburg, gegen die Jahrestagungen von IWF, Weltbank und WTO sowie gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos als Höhepunkte ihrer Mobilisierungskampagnen. Darüber hinaus boten die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich, der Sozialabbau und die Gentrifizierung der Städte geeignete Anlässe für Protestaktionen.18 Neben der grundlegenden Frontstellung gegen den Kapitalismus hat v.a. die Globalisierung und ihre sozialen und ökonomischen Verwerfungen in den letzten Jahren immer wieder linksextremistische Globalisierungskritiker und ihren Protest auf den Plan gerufen. Auf diesem Feld kann sich die radikale Linke zudem mit einer Fülle anderer Organisationen und Parteien, die ebenfalls Kritik an der Globalisierung artikulieren, solidarisieren, hier findet sie selbst noch den größten Zuspruch. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil das gefühlte Unrechtsempfinden und das Gefühl eines hilflosen Ausgeliefertseins an fremde, 17 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Linksextremismus. Erscheinungsformen; Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht, verschiedene Jahrgänge; siehe auch Klaus Schröder u. Monika Deutz-Schröder, Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie, Frankfurt a. M. 2015; Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland. 18 Siehe u. a. Matthias Mletzko, Gewalthandeln linker und rechter militanter Szenen, in: APuZ, H. 44/2010, S. 9–16; Hoffmann-Holland, Analyse der Gewalt am 1. Mai; Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.), Extremistische Globalisierungskritik nach Heiligendamm, Köln 2008; Land Brandenburg / Ministerium des Inneren (Hg.), Feinde der Demokratie – Linksextremisten, Potsdam o. J.; Landesamt für Verfassungsschutz Berlin (Hg.), Deutscher gewaltorientierter Linksextremismus in Berlin, Berlin 1995.

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unkontrollierbare Mächte bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein reicht. Zudem ist die Empörung über Armut und Not in der Welt und die damit vermeintlich verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten groß. Schließlich bieten die „neoliberale“ Politik mit dem Umbau des Sozialstaates, die zunehmende soziale Ungleichheit und die Einkommenspolarisierung willkommene Anlässe, um gegen die dafür verantwortlich gemachte Globalisierung vorzugehen. Die (teils gewaltförmigen) Proteste richten sich gegen die „Macht des globalen Kapitalismus“ und seine hiesigen Vertreter. Auch ist man gegen die mit der Globalisierung verbundene „politische und militärische Gewalt“. Im Grunde nehmen die Linksextremen in diesem Punkt ein moralisches Verhältnis zur kapitalistischen Welt ein, das Gewalt nicht nur möglich, sondern nachgerade erforderlich macht. Über die Kritik am Globalisierungsprozess werden jedoch auch noch weitere Ziele verfolgt: Dazu gehört zunächst die Verbreitung linksextremistischer Theorien, Strategien und Politik; sodann der revolutionäre Umsturz des bestehenden Systems; schließlich dient die Globalisierungskritik auch dem Schmieden von Bündnissen zwischen verschiedenen Gruppierungen der extremen Linken untereinander.19 Der Antifaschismus ist seit jeher ein starkes Anliegen der Linken. Die linksextremen Gruppierungen mobilisieren gegen Nazi-Aufmärsche und insbesondere die Autonomen liefern sich regelmäßig gewaltsame Auseinandersetzungen mit Neo-Nazis. Gegen „Rechts“ sein sowie die Bekämpfung des Faschismus gehört zu den grundlegenden Überzeugungen der radikalen Linken. Wie jedoch dieser Kampf zu führen ist, darüber gehen die Meinungen im linksextremen Spektrum weit auseinander. Während die einen Faschismus und Neo-Nazismus mit politischen Mitteln bekämpfen und v.a. Aufklärung betreiben wollen, nehmen sich radikalere Gruppierungen die Neo-Nazis bei passenden Gelegenheiten lieber selbst vor. Der Antifaschismus der extremen Linken steht zugleich auch für einen Antirassismus, der ist in der linksextremistischen Szene besonders emotionalisierungs-, mobilisierungs- und kampagnenfähig ist. Darüber hinaus hat er aber noch eine weitere Komponente: Er dient nämlich auch der Bekämpfung des Kapitalismus, da der Faschismus in der Wahrnehmung der radikalen Linken aus den Grundstrukturen des Kapitalismus hervorwächst. Nur wenn also der Kapitalismus beseitigt ist, kann auch der Faschismus dauerhaft besiegt werden. Insofern verbinden sich der Ideologie der linksextremen Gruppierungen zufolge der Kampf gegen den Faschismus und der Kampf gegen den Kapitalismus in idealer Weise.

19 Siehe am Beispiel des G20-Gipfels in Hamburg Georg-Kirsche Humboldt, Die Gräben bleiben, in: taz am Wochenende, 20.05.2017, URL: https://taz.de/!5409463/ [eingesehen am 18.07.2019].

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Neben dem Antifaschismus ist der Antimilitarismus ein weiteres Markenzeichen der linksextremen Gruppierungen. Die Linksextremen lassen sich im Kampf gegen die NATO und gegen US-Militärstützpunkte, gegen den USImperialismus und gegen die ökonomisch-militärische Vorherrschaft der USA problemlos mobilisieren, sofern geeignete Anlässe dafür zur Verfügung stehen. Antimilitarismus heißt für manche der linksextremen Gruppierungen, auch gewaltsam gegen Einrichtungen des US-Militärs auf deutschem Boden vorzugehen, gegen Raketensilos und Versorgungsflüge zu protestieren, Blockadeaktionen durchzuführen und die militärische Nutzung ziviler Flughäfen für die Kriegsunterstützung zu verhindern. Auftrieb hat der Antimilitarismus der linksextremen Gruppierungen durch die Beteiligung Deutschlands am „Krieg gegen den Terror“ sowie durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr erfahren. Die Deutungen dieses Engagements und die damit verbundenen Vermutungen über die politischen Ziele gehen allerdings im linksextremen Lager weit auseinander. Eine zumindest indirekte Legitimation für ihre auch gewaltsamen Aktionen leiten linksextreme Gruppierungen aus der mehrheitlich ablehnenden Haltung der Deutschen etwa zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ab. Ein weiteres Aktionsfeld der Linksextremen ist die Antirepression. Hier wenden sich verschiedene Akteure mit „kreativen Aktionen“ gegen einen als repressiv wahrgenommenen Staat. Ansatzpunkte für eine Mobilisierung und ggf. auch gewaltsame Aktionen sind etwa die Sicherheitsgesetze im Gefolge der Terroranschläge auf das World Trade Center in New York 2001, der Einsatz neuer Fahndungsmittel und Überwachungsmethoden, die wahrgenommene gesteigerte „staatliche Repression“ gegen die Linke, die Existenz „politischer Gefangener“ sowie die erhöhte Punitivität in Staat und Gesellschaft. Auch der Kampf gegen die Gentrifizierung in den Großstädten bietet vielfältige Mobilisierungsmöglichkeiten und findet seinen Ausdruck etwa in Hausbesetzungen, in der Schaffung oder Erhaltung „autonomer Freiräume“, in Protesten gegen „Miethaie“ und reicht hin bis zur Forderung nach Enteignungen und Überführung des Privateigentums in Gemeineigentum. Schließlich zählt auch der Internationalismus zum Kernbestand linksextremistischer Denk- und Handlungsweisen. Grenz- und organisationsübergreifende Solidaritätshandlungen zwischen Aktivisten zeigen sich dabei u. a. beim Themenfeld der Solidarität mit Kurdistan und der PKK, welches seit langem ein Agitationsfeld von Linksextremisten darstellt. In allen diesen Aktionsfeldern zeigen sich im Grunde soziale Anliegen, die an Teile der Mehrheitsgesellschaft durchaus anschlussfähig sind. Zwar unterscheiden sich die Begründungen für ein Engagement auf diesen Feldern zwischen Linksextremisten und anderen Gesellschaftskritikern wohl in qualitativer Hinsicht, und auch die Wahl der eingesetzten Mittel dürfte unterschiedlich ausfal-

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len, aber es wird genügend Menschen geben, die in diesen Anliegen der Linksextremisten auch einen wahren Kern erblicken. Dieses „Sympathie-Paradox“ entspricht spiegelbildlich einem „Antipathie-Paradox“ bei den rechtsextremen politischen Kräften.20 Linksextremismus und Gewalt Während bei den rechtsextremen Bewegungen und Organisationen eine hohe Gewaltbereitschaft konstitutiver Bestandteil ihres Extremismus ist, kann Vergleichbares nicht für die radikale Linke behauptet werden. Auch wenn die Behörden in ihren statistischen Vermessungen der Straftaten von rechts und von links eher graduelle als prinzipielle Unterschiede sehen21 , so muss doch darauf hingewiesen werden, dass die begangenen Straftaten deutlich unterschiedliche Gewichtungen aufweisen, die Kontexte der Gewalt sich unterscheiden und die Motivation zur Gewalt vollkommen anders gelagert ist. Zudem bleibt die polizeiliche Kriminalstatistik22 hinsichtlich der Erfassung von Straftaten unvollkommen (z. B. Dunkelfeldproblematik; veränderte Erhebungsmethoden; Differenzen zwischen erfassten Tatbeständen und letztgültigen Verurteilungen), arbeiten die Verfassungsschutzämter mit vagen Kategorien (z. B. gewaltorientiert, gewaltunterstützend, gewaltbefürwortend oder gewaltbereit; Aggressionsund Gewaltpotenzial) und beruht die Zahl der gewaltbereiten Rechts- oder Linksextremisten in der Regel auf Schätzungen. Selbst wenn man die realen Schwierigkeiten in der Erfassung von Straftaten in Rechnung stellt, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass von einer generellen Gewaltaffinität der linksextremen Gruppierungen keine Rede sein kann. Innerhalb des linksextremen Spektrums sind nur wenige kleine Gruppen gewaltbereit (insbesondere die Autonomen). Darüber hinaus gibt es allerdings intensive Diskussionen über die Rolle und Funktionen von Gewalt; über die Frage, ob Gewalt ein politisches Mittel sein kann oder darf; und unter welchen Umständen gegebenenfalls Gewalt erfolgreich eingesetzt werden könnte.23 Für eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der linksextremen Gewalt ist es zudem interessanter, danach zu fragen, ob und 20 Vgl. Armin Nassehi, G20 – Eine Linke braucht es nicht mehr, in: Zeit online, 13.07.2017, URL: http://www.zeit.de/kultur/2017-07/g20-linke-gewalt-kapitalismuskritikglobalisierungessay/komplettansicht [eingesehen am 17.07.2019]. 21 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht, verschiedene Jahrgänge. 22 Siehe Christoph Birkel, Die polizeiliche Kriminalstatistik und ihre Alternativen. Datenquellen zur Entwicklung der Gewaltkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, Der Hallesche Graureiher 2003-1, Halle 2013. 23 Siehe Rilling (Hg.), Eine Frage der Gewalt.

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inwiefern es sich dabei überhaupt um eine Form politischer Gewalt handelt.24 Wenn man einmal die Definition von Birgit Enzmann25 zugrunde legt, dann müsste politische Gewalt a) neben dem Tatbestand der direkten physischen Schädigung von Menschen durch Menschen auch noch b) zu politischen Zwecken und außerdem c) im öffentlichen Raum stattfinden. Demnach wäre also bei den links- wie rechtsextremen Gewalttaten davon auszugehen, dass sie politische Taten sind. Diese Auffassung wird auch von den Verfassungsschutzämtern gestützt, die von politisch motivierter Kriminalität sprechen, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellungen der Täter erkennen lassen, dass sie a) den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen wollen und politischen Zielen dienen, b) gegen die Freiheitlichedemokratische Grundordnung (FDGO) oder den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder der Länder gerichtet sind, c) durch die Anwendung von Gewalt die öffentlichen Belange der Bundesrepublik gefährden, und d) aufgrund bestimmter Merkmale gegen eine Person oder Menschengruppe gerichtet sind. Von politisch motivierter Gewaltkriminalität wird dann gesprochen, wenn die Delikte neben den genannten vier Kriterien noch zusätzlich eine besondere Gewaltbereitschaft des Täters erkennen lassen.26 Hier sind also die ideologischen Hintergründe der Taten entscheidend. Dagegen könnte mit Jan Philipp Reemtsma eingewandt werden, dass es bei der Gewalt der Extremisten von rechts wie von links weniger um politische Inhalte gehe als um Gewalt als Lebensform und als Gruppenerlebnis, um Gewalt zur Identitätsstiftung. Die häufig rätselhaft und sinnlos erscheinende ziellose Aggressivität hat seiner Argumentation zufolge wenig mit dem meist zielgerichteten kriminellen Verhalten eines Räubers zu tun, sie folgt keiner instrumentellen Logik, wird also nicht zur Erreichung eines handgreiflichen Ziels eingesetzt. Diese Form der Gewalt nannte er deshalb „autotelische Gewalt“. Sie kann eine maßlose Machtdemonstration sein oder dem Statuserhalt einer Person oder Gruppe dienen, sie ist auf jeden Fall selbstreferentiell und in diesem Sinne auch eine sinnlose inhaltsleere Gewalt, die sich einzig und allein vorgeschobener Floskeln aus der Vergangenheit bedient, um ihren Einsatz zu rechtfertigen.27 Die Feststellung der Art und des Ausmaßes linksextremer Gewalt ist also nicht so leicht, wie es den Anschein haben mag. Vertraut man gleichwohl einmal den Angaben der Polizei- und Verfassungsschutzbehörden, dann ergibt sich 24 Siehe Peter Waldmann, Strategien politischer Gewalt, Stuttgart 1977. 25 Siehe Birgit Enzmann (Hg.), Handbuch Politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation – Begrenzung, Wiesbaden 2013, S. 43–66. 26 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Politisch motivierte Kriminalität, verschiedene Jahrgänge. 27 Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2013.

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zumindest ein annäherungsweises Bild der linksextremen Gewalt. Deutlich wird dabei allerdings auch, dass Art und Ausmaß der Gewalt im linksextremen Spektrum sich signifikant von der Gewalt in anderen extremistischen Sektoren der Gesellschaft unterscheiden. Schaut man sich zunächst die bundesweiten Fallzahlen für die politisch motivierte Kriminalität von links in Deutschland28 an, dann schwankt deren Zahl im letzten Jahrzehnt zwischen rund 9300 im Jahre 2009 und 7900 im Jahre 2018. Unterschiede und Ausschläge zwischen den einzelnen Jahren ergeben sich jeweils aus besonderen Ereignissen in diesen Jahren, die Tendenz ist zuletzt abnehmend gewesen. Die politisch motivierte Kriminalität von rechts war dagegen in allen Jahren mindestens doppelt, manchmal auch dreimal so hoch wie die von linker Seite (mit absoluten Höhepunkten in den Jahren 2015 und 2016). Auffällig ist noch die hohe und steigende Zahl der nicht zuzuordnenden Delikte (von 4100 in 2009 auf über 6500 in 2017). Die politisch motivierten Gewalttaten von links liegen im zu Grunde gelegten Zeitraum allerdings quantitativ immer über denen von rechter Seite, teilweise sogar erheblich höher. Diese Zahlen lassen aber nun noch keine Differenzierung von einzelnen Tatbeständen im Zeitverlauf zu und die Präsentation von differenzierten Einzeltatbeständen bleibt leider punktuell und auf wenige Delikte beschränkt. Schaut man sich hingegen die Entwicklung der politisch links motivierten Straftaten in den Verfassungsschutzberichten (auf der Grundlage von Daten des BKA) an, so ergibt sich in der Übersicht für ausgewählte Jahre die folgende Entwicklung29 : Deutlich zu sehen ist hier, dass die eigentlichen Gewalttaten (Körperverletzung, versuchte Tötung) ungefähr ein Viertel aller Straftaten der Linksextremisten ausmachen. Das Gros der Straftaten linksextremer Gruppierungen entfällt auf Sachbeschädigungen und sog. andere Straftaten, Brandstiftungen (insbesondere Autos), Landfriedensbruch (bei Demonstrationen), Widerstandsdelikte (etwa gegen Vollstreckungsbeamte). Die übrigen Straftaten fallen zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Die Gewalt gegen Sachen überwiegt bei weitem, Gewalt gegen Menschen bleibt die Ausnahme, sie kommt fast ausschließlich im Kontext von Demonstrationen gegen rechte politische Gegner oder gegen die Polizei als sog. Konfrontationsgewalt vor. Ein Vergleich der politisch links motivierten Straftaten mit denen der Rechtsextremen ist nun in mehrfacher Hinsicht instruktiv: Zum einen liegt die Zahl der Straftaten seitens des Rechtsextremismus insgesamt deutlich über denen des Linksextremismus. Auf den Rechtsextremismus entfallen im Durchschnitt der 28 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Politisch motivierte Kriminalität, verschiedene Jahrgänge. 29 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hg.), Verfassungsschutzbericht, verschiedene Jahrgänge.

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Tabelle 1 Linksextremistisch motivierte Straftaten (ausgewählte Jahre)

Jahre Gewalttaten Tötungsdelikte Versuchte Tötungsdelikte Körperverletzungen Brandstiftungen Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen Landfriedensbruch Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- u. Straßenverkehr Freiheitsberaubung Raub Erpressung Widerstandsdelikte Gesamtzahl Weitere Straftaten Sachbeschädigung Nötigung / Bedrohung Andere Straftaten Gesamtzahl

2001

2004

2008

2012

2016

2018

1 1

0 0

0 3

0 8

0 6

0 0

194 41 1

226 31 0

359 62 0

471 56 2

638 134 7

363 108 1

310 52

144 19

149 24

169 22

186 50

90 48

0 5 0 145 750

0 12 1 88 521

0 13 2 89 701

0 16 4 128 876

1 23 1 155 1201

1 19 4 376 1010

671 45

490 19

1468 57

1483 48

2233 112

2219 71

429 1145

410 919

898 2423

822 2353

1684 4029

1322 3612

1440

3124

3229

5230

4622

Straftaten insgesamt 1895

Jahre mehr als vier Mal so viele Straftaten wie auf den Linksextremismus. Zum anderen zeigt sich auch eine deutlich unterschiedliche Struktur der Straftaten. So ist zunächst festzustellen, dass die eigentlichen Gewalttaten (Körperverletzung, versuchte Tötung, Tötung) deutlich über den entsprechenden Zahlen der Linksextremen liegen. Dies trifft auf Körperverletzungen zu, aber auch auf vollendete Tötungsdelikte, bei denen man inzwischen für die Jahre seit 1990 von Größenordnungen zwischen 160 bis 190 Personen ausgeht.30 Auch die Zahlen für Sprengstoffexplosionen liegen im rechtsextremen Bereich deutlich 30 Siehe Schröder u. Deutz-Schröder, Der Kampf ist nicht zu Ende, S. 253.

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über denen im linksextremen Spektrum. Sodann finden sich unter den anderen Straftaten auch typische rechtsextreme Delikte wie Propagandadelikte oder Volksverhetzung in großer Zahl. Selbst wenn man diese Straftaten aus der Gesamtzahl der Straftaten von rechts herausrechnen würde, läge die Zahl der insgesamt von rechtsextremer Seite begangenen Straftaten immer noch deutlich höher als die der Linksextremen. Ist die genaue Erfassung der linksextrem motivierten Gewalt schon ein schwieriges Unterfangen, so komplizieren sich die Dinge nochmals, wenn es um die linksextremen Gewalttäter, ihre sozialen Hintergründe und ihre konkreten Handlungsmotivationen selbst geht. Hierzu ist bisher nur wenig Seriöses bekannt. Das liegt einerseits an der beträchtlichen Abschottung der linksextremen Milieus gegenüber den Sicherheitsorganen und der Wissenschaft, andererseits an der beträchtlichen sozialen Kohäsion dieser Milieus, in die man von außen kaum eindringen kann. Bisher gibt es nur eine ältere Untersuchung des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, das sich einmal die Mühe gemacht hat, nach den sozialstrukturellen Merkmalen der Täter in Bezug auf linksextreme Gewalt in Berlin zu schauen. Die Auswertung umfasst insgesamt 835 Gewalttaten aus den Jahren 2003–2008.31 Dabei ergab sich folgendes Bild: In Bezug auf die konkreten Deliktstrukturen stachen Körperverletzungsdelikte (30%), Brandstiftungen (28%) und Landfriedensbruch (27%) als häufigste Delikte heraus, es folgt mit weitem Abstand der Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (7%). Die Taten fanden ganz überwiegend im öffentlichen Raum, meist konzentriert auf wenige Stellen, statt. Bei den Tatkontexten stechen zunächst drei Bereiche heraus, nämlich Gewalttaten mit Demonstrationsbezug (371), Brandstiftungen (268) und ‚gegen Rechts‘ gerichtete Gewalt (232). Bei den Demonstrationen war das mit Abstand häufigste Gewaltdelikt der Landfriedensbruch (50% der Fälle). Die Tatzeiten entsprechen dem bisher Gesagten: Jede vierte Gewalttat fand im Mai (24%), zwei Drittel aller Gewalttaten zwischen 18 Uhr abends und 6 Uhr morgens statt. Demonstrationsgewalt findet tagsüber, Brandstiftung fast ausschließlich nachts statt. Die Taten wurden in 87% der Fälle von Gruppen oder von Einzelnen aus Gruppen heraus begangen, nur 13% waren Einzeltäter. Die Täter waren zu über 80% männlich, nur knapp 20% waren weiblich. Die Taten wurden überwiegend von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen begangen, die Hälfte der Tatverdächtigen war zum Tatzeitpunkt zwischen 18–24 Jahren alt, ab einem Alter von 30 Jahren gab es einen rapiden Rückgang. Die meisten Tatverdächtigen waren zuvor unauffällig, nur 16% der Tatverdächtigen sind vor der linken Gewalttat wegen anderer Straftaten rechtskräftig verurteilt gewesen, 2% auch wegen 31 Vgl. hierzu und folgend Senatsverwaltung für Inneres und Sport / Abteilung Verfassungsschutz (Hg.), Linke Gewalt in Berlin 2003-2009, Berlin 2019.

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politisch motivierter Gewalttaten. Ungefähr die Hälfte der Taten wurde ohne jedes Hilfsmittel ausgeführt (48%), weitere 25% mit Flaschen oder Steinen, bei einem Viertel der Taten wurden gewaltspezifischere Tatmittel verwendet (z. B. Brandmittel zu 20%), aber auch Schlag-, Hieb- und Stichwaffen (selten Schusswaffen) kamen zum Einsatz. Drei Viertel der Tatverdächtigen wohnten auch in Berlin und kamen aus den sog. „Krawallbezirken“, die Nähe zum eigenen Wohnumfeld spielte offensichtlich eine wichtige Rolle. Der sozialstrukturelle Hintergrund der Tatverdächtigen war eher unauffällig, viele befanden sich noch in der Ausbildung, die Arbeitslosigkeit lag jedoch über dem Durchschnitt. Von den Bildungsabschlüssen her waren 12% noch ohne Schulabschluss, 35% hatten einen Hauptschulabschluss, 29% die mittlere Reife und 25% das Abitur; nur 10% der Tatverdächtigen war teil- oder vollerwerbstätig. Die meisten Täter entstammten dem aktionsorientierten Linksextremismus, fast die Hälfte gehörte zu den Autonomen, gefolgt von der „militanten gruppe“ (mg). Hinweise auf linksterroristischen Strukturen (§129a StGB) gab es keine. Auch wenn die konkrete Gewaltbereitschaft nur bei vergleichsweise wenigen Linksextremen ausgeprägt ist, so weisen doch etliche der linksextremen Gruppierungen und Organisationen ein ungeklärtes, zumindest ambivalentes Verhältnis zur Gewalt auf.32 Innerhalb des linksextremistischen Spektrums gibt es tiefe Spaltungslinien in der Frage, ob, wann und unter welchen Umständen der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt ist oder gerechtfertigt werden kann. Dabei offenbaren sich nicht nur ideologische Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppierungen der Linksextremisten, sondern treten auch die bedeutenden Gegensätze hinsichtlich möglicher militanter Aktionsformen hervor. So gibt es auf der einen Seite Gruppierungen und Organisationen, die der Gewaltanwendung generell skeptisch oder ablehnend gegenüber stehen und gewaltsame Aktionen scharf verurteilen. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich solche Gruppierungen, die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ausdrücklich befürworten und nicht glauben, dass sie ohne gewaltsames Vorgehen ihre Ziele erreichen können. Dazwischen findet sich das Gros derjenigen Organisationen, die Gewalt als politisches Mittel nicht aktiv einsetzen, aber auch nicht grundsätzlich verwerfen. In der Folge führt dies bei einzelnen Gruppierungen auch zu unterschiedlichen Einschätzungen der „Bündnisfähigkeit“ anderer linksextremer Gruppen und Organisationen. So unübersichtlich die Haltung der Linksextremen in der Gewaltfrage ist, so unklar ist auch der Umfang möglicher realer Gewalttäter im linksextremen 32 Siehe René Schultens u. Michaela Glaser (Hg.), ‚Linke‘ Militanz im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen, DJI, Halle 2013; Sebastian Haunss, Gewalt und Gewaltlosigkeit in sozialen Bewegungen, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 4 (2012), H. 24, S. 6–16.

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Spektrum. Die meisten der entsprechenden Angaben (etwa des BKA oder des BfV) über gewaltbereite Linksextremisten beruhen auf Schätzungen. Umso wichtiger ist es, hier zwischen abstrakter Gewaltbejahung (Einstellungsebene) und konkreter Gewaltausübung (Verhaltensebene) zu unterscheiden, denn nur vergleichsweise wenige Linksradikale üben selbst aktiv Gewalt aus. Eine hohe Gewaltbereitschaft ist v.a. bei den Autonomen vorhanden.33 Sie befürworten Gewalt im Rahmen von Demonstrationen, bei denen sie sich direkte Konfrontationen mit ihren Gegnern, den Rechtsextremen oder der Staatsgewalt in Form der Polizei, liefern. Gewalt ergibt sich sodann aus eher situativen oder anlassbezogenen Ereignissen im Rahmen ihrer Massenmilitanz wie beispielsweise den regelmäßigen Straßenkrawallen zum 1. Mai in Berlin34 , den Krawallen im Hamburger Schanzenviertel oder in der Hafenstraße35 und den Protesten gegen die Globalisierung. Hier dürften auch identitätsbildende Aspekte und das persönliche körperliche Ausagieren (etwa „Lust am Zoff “) eine Rolle spielen.36 Auch die stärker objektbezogene Gewalt gegen Sachen (z. B. Brandstiftungen bei Automobilen im nächtlichen Berlin) dürfte zu einem Gutteil auf das Konto autonomer Gruppierungen gehen. Wenn Gewalt im linksextremen Spektrum angewendet wird, dann kommt diese nur selten ohne Rechtfertigung aus.37 Die Rechtfertigungen von Gewalt folgen dabei bestimmten antisystemischen Argumentationsmustern, sie haben eine moralische und eine strategische Komponente: Moralisch wird Gewalt immer als Gegengewalt gerechtfertigt, man antwortet mit der eigenen Gewalt generell auf die voran gegangene „Gewalt des Systems“, auf „strukturelle Gewalt“38 oder reagiert auf „Polizeigewalt“ oder „Provokationen“ der Gegenseite. Die eigene Gewalt erscheint dabei angesichts der „Gewalt der Verhältnisse“ als 33 Siehe z. B. Klaus Farin, Die Autonomen, Berlin 2015; generell zu den Autonomen siehe Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004; siehe auch die Selbstzeugnisse von Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1995; Thomas Schultze u. Almut Gross, Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen Bewegung, Hamburg 1997. 34 Siehe Landesamt für Verfassungsschutz Berlin (Hg.), Deutscher gewaltorientierter Linksextremismus in Berlin, Berlin 1995. 35 Siehe Werner Lehne, Der Konflikt um die Hafenstraße. Kriminalitätsdiskurse im Kontext symbolischer Politik, Hamburg 1993. 36 Vgl. für die Schweiz etwa die Untersuchung von Barbara Fontanellaz, Auf der Suche nach Befreiung - Politik und Lebensgefühl innerhalb der kommunistischen Linken. Eine sozialwissenschaftliche Analyse zum Phänomen des „Linksextremismus“ in der Schweiz, Bern 2009. Siehe auch den Beitrag von Barbara Fontanellaz in diesem Sammelband. 37 Vgl. Peter Imbusch, Legitimationen politischer Gewalt, unveröff. Ms. 2018. 38 Siehe dazu ders., ‚Strukturelle Gewalt‘ oder Vom gar nicht so unheimlichen Überleben eines geschmähten Begriffs, in: Mittelweg 36, Jg. 26 (2017), H. 3, S. 43–62.

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angemessen und verhältnismäßig. Strategisch kann und soll der Einsatz von Gewalt das gemeinsame Anliegen befördern und v.a. Mittel zum Zweck sein. Dies geschieht zum einen dadurch, dass Gewalt sofort öffentliche Aufmerksamkeit generiert, die linksextremen Gewalttäter also eine Art von Aufwertung erfahren, weil über sie (und ggf. über ihr Anliegen) berichtet wird; zum anderen hat die Gewalt im linksextremen Spektrum auch eine Signalfunktion für andere Linksextreme, die mobilisiert und vom Weg der Gewalt überzeugt werden sollen. Die Gewaltdiskurse im linksextremen Spektrum sind jedoch stark unterkomplex. Auch wenn die Gewalt als Aktionsgewalt mit hohem Legitimitätsanspruch auftritt, sind die entsprechenden Diskurse gekennzeichnet durch – eine manichäische und simple Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Gewalt, – eine in hohem Maße euphemisierende und verharmlosende Sprache in Bezug auf die eigene Gewalt, – eine möglicherweise vorausgesetzte, aber letztlich fehlende Analyse, warum Gewalt in einer bestimmten Situation das richtige und erfolgversprechende Mittel in einer politischen Auseinandersetzung ist, – ein fehlendes Verständnis dafür, dass mit Gewalt Schwellen überschritten und moralische Schranken eingerissen werden, – vollkommen ungenügende Vorstellungen darüber, wie einmal entgrenzte Gewalt wieder begrenzt und eingehegt werden kann. Es gibt zudem bei einigen Gruppen eine gehörige Naivität im Umgang mit Gewalt.39 Diese bezieht sich zum einen auf die möglichen Reaktionen des Staates und seine Rolle, in einem demokratischen Gemeinwesen für Recht und Ordnung zu sorgen, sodann auf die erwartete staatliche Repression und den notwendigen Verfolgungsdruck gegenüber linksextremer Gewalt. Zum anderen bezieht sich die Naivität darauf, dass aus historischen Erfahrungen nicht gelernt wird und es kein Bewusstsein für das regelmäßige Scheitern des Einsatzes linksextremer Gewalt als politischem Mittel bei den Linksextremen gibt.40 Schließlich ist es naiv zu glauben, dass die Protagonisten der Gewalt mit ihren Aktionen emanzipatorische Ziele, Aufklärung, Gerechtigkeit oder Demokratisierung erreichen könnten, weil sich im Gewaltvollzug selbst der instrumentelle Charakter der Gewalt transformiert.41 Die gewaltbereite Mili39 Vgl. auch Bernd Guggenberger, Weltflucht und Geschichtsgläubigkeit. Strukturelemente des Linksradikalismus, Mainz 1974. 40 Siehe Dirk Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland 1800-1980, Frankfurt a. M. 1980; Heinz-Gerhard Haupt, Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2012. 41 Vgl. Monika Frommel, Gewalt als attraktive Lebensform, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 219, Jg. 56 (2017), H. 10, S. 91–102.

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tanz der Linksextremisten verkörpert sich mehr in einem diffusen Aktionismus als in einer zielgerichteten Strategie der Gesellschaftsveränderung. Im Grunde stellen die gewaltsamen Proteste und ritualisierten Randale eine Kompensation der Schwäche der linksextremen Bewegungen und Organisationen dar. Die versatzstückhaften Vorbilder für den Einsatz von Gewalt sind u. a. Ernesto „Che“ Guevara mit seiner Fokus-Theorie und den darauf aufbauenden Guerilla-Aktivitäten sowie die Stadtguerillas (Tupamaros, Montoneros) im Lateinamerika der 1970er Jahre. Dazu kommen aber auch so unterschiedliche Autoren wie Frantz Fanon, dessen Buch über die „Verdammten dieser Erde“ Jean Paul Sartre über die Zuspitzung auf die befreiende Wirkung von Gewalt auf das (Kolonial-)bewusstsein berühmt gemacht hatte, und George Sorel, dem Theoretiker eines Aufstandes der Massen, oder Schriften aus dem Umfeld der „Kritischen Theorie“ (z. B. Herbert Marcuses Buch über „Repressive Toleranz“), die zur Begründung eines Rechts der Unterdrückten auf Widerstand bemüht werden. Damit wird das Missverhältnis von politischer Analyse und gewaltsamen Aktivismus jedoch nicht aufgehoben, weil sich aus deren Analysen heutzutage keine zielgerichtete Strategie mehr ergibt.42 In vielen der gewaltsamen Proteste drückt sich dagegen eine gewisse Hilflosigkeit aus, so dass die gewalttätigen Protestformen mehr der Selbstvergewisserung als der strategischen Zielerreichung zu dienen scheinen. Zu solchen Selbstvergewisserungskomponenten zählen etwa: – die Betonung einer „revolutionären“ Subjektivität, – die Erfahrung von Macht und Körperlichkeit, – die Demonstration aktiven Engagements gegen als unerträglich empfundene gesellschaftliche Verhältnisse, – die Akzeptanz von Gewalt als einem wichtigen Baustein zur eigenen Identitätsbildung, – der Versuch, mit abgestuften Formen und Intensitäten von Gewalt politische Ziele zu erreichen, – das Ernten von Anerkennung und Respekt, weil man seinen kompromisslosen Einsatz und seine Verpflichtung für die vermeintlich gute Sache demonstriert hat, und – die romantische Identifikation mit Gewalt als Lebensform in einer Gruppe. Die Motivation zur Gewalt muss häufig in einer Mixtur aus privater Wut und politischer Ideologie gesehen werden. Die private Wut ergibt sich dabei aus 42 Siehe z. B. Susanne Kailitz, Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007; Donatella della Porta, Gewalt und die Neue Linke, in: Wilhelm Heitmeyer u. John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 479–500; Dieter Rucht, Gewalt und neue soziale Bewegungen, in: ebd., S. 461–478.

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einem Leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die man doch nicht einfach ändern kann, gegenüber denen man sich ohnmächtig und hilflos fühlt. Die politische Ideologie liefert sodann die Legitimationen für die Gewalt und strukturiert die Richtung, in der sich die Wut schließlich entlädt. Hinzu kommt, dass man „unten“ in der Gesellschaft kaum über angemessene politische Mittel verfügt, um auf wahrgenommene Missstände und problematische gesellschaftliche Verhältnisse hinzuweisen. So ist die Gewaltpraxis häufig die einzig verbleibende Ressource, um Aufmerksamkeit für bestimmte Anliegen zu generieren. Gewalt ist damit – wie im Falle des Terrorismus43 – ein Medium relativ schwacher gesellschaftlicher Gruppen. Mehr noch: Gewalt, gewalttätige Proteste und die ritualisierten Randale stellen im Grunde eine Kompensation für die Schwäche linksextremer Bewegungen und Organisationen dar. Mit Militanz und Gewaltbereitschaft gelingt es den linksextremen Kräften jedoch noch weniger als zuvor, ihre politischen Anliegen nach außen zu vermitteln und dafür Zustimmung zu erlangen, weil Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzungen zu Recht gesellschaftlich breit geächtet ist. Schließlich gilt es, bei der Analyse und Erklärung von linksextremer Gewalt und Radikalisierungsprozessen noch weitere Faktoren zu berücksichtigen: Auch wenn linksextreme Gewaltakteure nur selten wahllos zum Mittel der Gewalt greifen, ist die Gewalt oft das Ergebnis einer Situations- und Interaktionsdynamik, bei der verschiedene Faktoren zusammen spielen und sich gegenseitig verstärken, so dass am Ende die Gewalteskalation steht. Nicht zuletzt darf zumindest bei einigen linksextremen Akteuren (etwa bestimmten Gruppierungen der Autonomen) auch eine gewisse „Lust am Zoff “ nicht übersehen werden. Diese begeben sich kalkuliert und pro-aktiv in eine Situation des Kampfes mit politischen Gegnern, um Körperlichkeit ausagieren zu können, oder um eine aktiv mit Provokationen herbei geführte Bestätigung des repressiven Charakters des „Systems“ zu bekommen. Die gewaltsamen Scharmützel mit der Polizei haben dann eher eine „sportliche“ Dimension und können einen ausgesprochenen Lustgewinn für diese Gruppen bedeuten.

43 Siehe Peter Imbusch, Terrorismus – Akteure, Strategien, Legitimationen, in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hg.), Gewalt, Bürger & Staat, Jg. 68 (2018), H. 3, Stuttgart 2018, S. 194–212; zum Unterschied zwischen Links- und Rechtsterrorismus Friedhelm Neidhardt, Linker und rechter Terrorismus. Empirische Ansätze zu einem Vergleich, in: Referat „Öffentlichkeitsarbeit gegen Terrorismus“ im Bundesministerium des Inneren (Hg.), Gewalt von rechts. Beiträge aus Wissenschaft und Publizistik, Bonn 1982, S. 155–204.

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Selbst- und Fremdwahrnehmungen In Bezug auf den Linksextremismus gilt es strikt zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Akteure zu unterscheiden. Die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der diversen linksextremistischen Gruppen fallen in Bezug auf mehr als einen Punkt auseinander. Dies betrifft zunächst die bereits angesprochene Bezeichnung dieser Gruppen (Linksextremisten vs. radikale Linke), sodann die Einschätzung ihrer Stärke, schließlich die damit verbundenen Gefahren für die demokratische Gesellschaft. Linksextremisten finden Gefallen an einer revolutionären Rhetorik und einem Verbalradikalismus. Beides geht häufig mit einer sehr positiven Einschätzung der eigenen Erfolge einher. Dies führt nicht selten zu einer beachtlichen Selbstüberschätzung der Linksextremen in Bezug auf ihre reale gesellschaftliche Stärke und allgemeine Bedeutung. Linksextremistische Gruppierungen haben angesichts ihres marginalen Gewichts im politischen System sogar ein besonderes Interesse daran, ihre Macht und ihren Einfluss größer erscheinen zu lassen, als er realiter ist, weil sie als eine politische Kraft wahrgenommen werden wollen. Dazu kann nicht zuletzt der Einsatz von Gewalt einen Beitrag leisten. Eine gewisse Realitätsferne zeigt sich jedoch nicht nur in Bezug auf die Einschätzung der eigenen Stärke, sondern auch hinsichtlich der Realisierbarkeit ihrer politischen Zielsetzungen (sofern diese überhaupt explizit dargelegt werden), der Angemessenheit der Wahl ihrer politischen Strategien und der zum Erreichen der Ziele eingesetzten Mittel. Grotesk erscheint angesichts der realen Situation der linksextremen Kräfte auch manche Lagebeurteilung: Dies betrifft ihren vermeintlichen Einfluss und ihre Ausstrahlungskraft auf die Gesellschaft, die Möglichkeiten zur Umwälzung des bestehenden kapitalistischen Systems, das Vorhandensein „objektiv“ revolutionärer Situationen oder den „Avantgarde“-Charakter mancher linksextremer Organisation. Ein revolutionäres, systemüberwindendes Konzept, das Theorie und Praxis miteinander verbindet, ist dagegen nirgends zu erkennen. Noch weniger ist ersichtlich, auf welchen positiven gesellschaftlichen Resonanzboden ein solches Projekt momentan fallen könnte. Damit werden die realen Gefahren, die von linksextremen Gruppierungen für die Demokratie ausgehen, gemeinhin überschätzt. Dramatisierungen dieser Gefahren sitzen eher der Rhetorik der Linksextremen auf und müssen als Artefakte gelten oder sie folgen politischen Instrumentalisierungen, um alte Feindbilder zu befestigen. Fremdeinschätzungen des linksextremistischen Lagers sind dementsprechend problematisch in Bezug auf die reale, von den Linksextremisten ausgehenden Gefahren für die Demokratie, die Überschätzung des linksradikalen Potenzials in der Gesellschaft und nicht zu-

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letzt auch im Hinblick auf die Einschätzung der Gefahren durch linksextreme Gewalt. Das alles darf jedoch nicht über die Notwendigkeit der Strafverfolgung von linksextremen Gewalttaten hinwegtäuschen. Gewalt und kriminelle Delikte als Straftatbestände müssen geahndet werden, egal ob es sich dabei um soziale oder politisch motivierte Gewalt handelt. Denn linksextreme Gewalttaten sind schließlich keine Kavaliersdelikte. Funktionen des Linksextremismus für die Gesellschaft In einer konflikttheoretischen Perspektive können linksextremistische Gruppierungen gleichwohl wichtige Funktionen für eine rechtsstaatlich-liberal verfasste demokratische Gesellschaft erfüllen.44 Denn soziale Konflikte haben unter bestimmten Bedingungen nicht nur oder gar primär dissoziierenden Charakter für Gesellschaften, sondern tragen auch zur Integration ihrer Mitglieder bei. Sie lösen Reflexions- und Verständigungsprozesse aus und ermöglichen es, dass die Menschen sich der normalerweise unhinterfragten Normen und Werte einer Gesellschaft bewusst werden und sich ihrer gegenseitig versichern. In einer solchen konflikttheoretischen Perspektive könnten auch dem Linksextremismus und seiner Gewalt bestimmte Funktionen für die Mehrheitsgesellschaft und die Demokratie zukommen. Denn zum einen könnte die Existenz eines gewaltbereiten Linksextremismus auf bestimmte gesellschaftliche Probleme mit politischen Entscheidungsfindungen, mit bestehenden Partizipationsmöglichkeiten und mit der politischen, sozialen oder ökonomischen Integration aufmerksam machen. Jenseits von Kriminalisierung oder politischer Instrumentalisierung45 sollte deshalb der mögliche legitime Kern linksextremer Positionen ernst genommen und einer breiteren gesellschaftlichen Debatte zugeführt werden. Es geht dabei nicht um eine irgendwie geartete Legitimierung linksextremer Gewalttaten, sondern um die politischen Implikationen der sozialen Konflikte für die Demokratie. Zum anderen können sich moderne demokratische Gesellschaften aufgrund ihres hohen Selbstreflexionsniveaus über die Auseinandersetzung mit dem

44 Siehe Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt? in: Jürgen Friedrichs u. Wolfgang Jagodzinski (Hg.), Soziale Integration, Wiesbaden 1999, S. 132–143. 45 Siehe Susanne Feustel, u. a., Verfassungsfeinde? Wie Hüter von Denk- und Gewaltmonopolen mit dem ‚Linksextremismus‘ umgehen, Hamburg 2012; vgl. auch Gereon Flümann, Streitbare Demokratie in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Der staatliche Umgang mit nichtgewalttätigem politischem Extremismus im Vergleich, Wiesbaden 2015.

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Linksextremismus und linksextremer Gewalt auch über ihre eigenen gültigen und dominanten Normen und Werte klar werden, sich mittels kritischer Debatten auf gewünschte Ordnungs- und Demokratiemodelle einigen und über die gerade nicht zur Disposition stehenden grundlegenden Verfahren und normativen Grundlagen der Demokratie verständigen – und auf diese Weise deutlich machen, inwiefern und inwieweit sie abweichendes Verhalten dulden wollen oder ertragen können. Demokratien leben grundsätzlich von Konflikten und eine demokratische Konflikt- und Streitkultur hält jene lebendig. Demokratien sind im Grunde ohne extremistische Strömungen auch nicht denkbar. Der Linksextremismus sollte deshalb weniger als pathologische Komponente einer modernen demokratischen Gesellschaft betrachtet werden, sondern als Teil der Gesellschaft, der ihr ein Spiegelbild vorhält. Die Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus ermöglicht dann Einsichten in Defizite der gesellschaftspolitischen Entwicklung und in den Stand der Demokratie. Gewalt ist und bleibt hingegen in demokratischen Gesellschaften als Mittel der politischen Auseinandersetzung inakzeptabel. Resümee Linksextremismus ist die stark vereinfachende und vereinheitlichende Fremdbezeichnung für sehr unterschiedliche politische Gruppierungen mit sozialistischer, kommunistischer oder anarchistischer Orientierung, die Bezug nimmt auf den Marxismus oder an die marxistisch orientierte Ideen- und Theoriegeschichte anknüpft. Unter dem Label werden jene politischen Auffassungen und Bestrebungen zusammengefasst, die im Namen der Forderung nach einer von sozialer Gleichheit geprägten Gesellschaftsordnung die Normen und Regeln des bürgerlich-kapitalistischen Verfassungsstaates ablehnen und ihre Gesellschafts- und Kapitalismuskritik mit Forderungen nach einer wie auch immer gearteten sozialistischen Umgestaltung verknüpfen. Die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung wird dabei als repressiv und zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft abgelehnt. Kern der linksextremen Ideologie ist die Überzeugung, dass die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft irreparabel falsch konstruiert ist und durch Reformen nicht verbessert werden kann, so dass sie umgewälzt werden muss. Unterschiede bestehen zwischen den heterogenen linksradikalen Gruppierungen und je eigenen Milieus hinsichtlich der Einschätzung, worin genau die grundlegenden Defekte des Kapitalismus zu sehen sind, worauf sie beruhen und wie sie behoben werden können. Ob und inwiefern Gewalt dazu ein geeignetes Mittel sein kann, ist innerhalb des Linksextremismus umstritten, die gewaltbereiten Linksextremisten machen

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nur einen kleinen Teil des zugehörigen Personenkreises aus. Im Unterschied zum bewegungsorientierten oder organisierten Rechtsextremismus stellt der Linksextremismus nicht nur ein komplett anderes politisches Phänomen dar, was dringend in der angemessenen Differenziertheit wahrgenommen werden sollte, sondern er ist gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland auch eine höchst überschaubare Gefahr für die Demokratie.

Historische Einordnung: Linksradikalismus und linke Militanz

Marcel Bois

Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik Eine überlebensgroße, rote Figur steht hinter dem Kabinettstisch, an dem bekannte Vertreter aus Wirtschaft und Politik Platz genommen haben. Es handelt sich um einen stilisierten Arbeiter mit Schiebermütze, offener Jacke und Hemd ohne Kragen. Seine rechte Hand ist zur Faust geballt. Gleich wird sie auf den Tisch niedersausen. Passend dazu prangt im Vordergrund der Abbildung der Slogan „Schluss mit diesem System“.1 Dieses Wahlplakat der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aus dem Jahr 1932 wird in populärwissenschaftlichen Darstellungen über die Geschichte der Weimarer Republik gerne zur Illustration verwendet, bestätigt es doch in konzentrierter Form, was wir über die damalige radikale Linke zu wissen scheinen: Sie vertrat einen ausgeprägten Proletkult, war gewaltbereit und wollte die Republik zerstören. Tatsächlich handelt es sich hierbei um einzelne Elemente linksradikaler Politik der Zwischenkriegszeit. Doch zugleich waren die Erscheinungsformen der radikalen Linken wesentlich pluraler und differenzierter. Keineswegs lässt sich dieses politische Spektrum auf die KPD reduzieren. Links von der Sozialdemokratie agierten auch Anarchisten, Syndikalisten, Rätekommunisten und Sozialisten. In den ersten Jahren sammelten sich die meisten dieser Akteure in der Unabhängigen Sozialdemokratische Partei (USPD) und in syndikalistischen Gewerkschaften, erst später stieg die KPD zur größten und wichtigsten Organisation der radikalen Linken auf. In allen diesen Organisationen fand eine rege Theorieproduktion statt. Beispielsweise analysierten die entsprechenden Akteure die kapitalistische Gesellschaft und das Gegenmodell in der Sowjetunion. Sie machten sich Gedanken über ein mögliches Rätemodell, diskutierten über ihren Umgang mit der Sozialdemokratie und versuchten, den neu entstandenen Faschismus theoretisch zu erfassen. Auch ihre Aktionsformen waren vielfältig: Sie verteilten Flugblätter, verkauften Zeitungen und Pamphlete, nahmen an Demonstrationen und Kundgebungen teil, initiierten Streiks und Aufstände und gingen auch physischen Auseinandersetzungen mit Kräften des rechten Spektrums nicht aus dem Weg. Im Folgenden sollen die verschiedenen Kräfte des politischen Spektrums links von der Sozialdemokratie vorgestellt und dabei diese Fragen beantwortet 1 „Schluss mit diesem System“, Wahlplakat der KPD, Leipzig 1932, Deutsches Historisches Museum, Berlin, URL: https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/kpd-schluss-mit-diesemsystem-1932.html [eingesehen am 02.11.2018].

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werden: Welchen Einfluss übten sie auf die Gesellschaft der Weimarer Republik aus? Welche organisatorischen Ausdrucksformen nahmen sie an? Wie viele Mitglieder hatten die einzelnen Strömungen? Wie differenzierten sie sich aus? Aus welchen sozialen Milieus rekrutierten sie ihre Anhängerschaft? Wie machten sich regionale Unterschiede bemerkbar? Welche Rolle spielten Frauen in diesen linken Bewegungen? Welche gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen führten zur Radikalisierung der Weimarer Linken? Lassen sich hier unterschiedliche Phasen feststellen? Auf Grundlage dieser Fragen sollen die Grundzüge radikallinker Politik in der Zwischenkriegszeit nachgezeichnet und ihre Entstehungsbedingungen dargelegt werden. Gleichwohl können aus Platzgründen viele Aspekte nicht behandelt oder nur angerissen werden. Zu nennen sind hier beispielsweise die Altersstruktur der linken Organisationen oder auch das starke Stadt-LandGefälle. Auch bestimmte Strömungen wie der Nationalbolschewismus, der die Nähe zur völkischen Rechten suchte, müssen hier ausgeklammert bleiben.2 Nicht zuletzt kann das Verhältnis der radikalen Linken der Weimarer Republik zur Gewalt hier leider nicht umfassend dargestellt werden.3 Linksradikalismus oder radikale Linke? Die hier vorgestellten Gruppierungen, Strömungen und Personen einte zwar, dass sie sich nach links von der SPD abgrenzten. Aber angesichts unterschiedlicher Haltungen und Organisationsformen ist es schwierig, einen gemeinsamen Oberbegriff für sie alle zu finden. Gelegentlich werden sie in der Literatur unter der Bezeichnung „Linksradikalismus“ zusammengefasst. Friedbert Mühldorfer beispielsweise verwendet diesen Begriff „zur Kennzeichnung kommunistisch-sozialistischer und anarchistischer Positionen links von der SPD, welche der Weimarer Verfassung und/oder der parlamentarischen Republik ablehnend gegenüberstanden oder diese bekämpften, weil die Weimarer Republik nicht dem Ziel ‚wirklicher‘ Demokratie entspräche und das

2 Hierzu zuletzt Ralf Hoffrogge, Der Sommer des Nationalbolschewismus? Die Stellung der KPDLinken zum Ruhrkampf und ihre Kritik am „Schlageter-Kurs“ von 1923, in: Sozial.Geschichte Online, H. 20/2017, S. 99– 146, URL: https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=43556 [eingesehen am 5.11.2018]. 3 Hierzu Eve Rosenhaft, Beating the Fascists? The German Communists and Political Violence 1929–1933, Cambridge 1983; Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001.

Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik

Fortbestehen bürgerlicher Herrschaft nur verdecke.“4 Hubert Kleinert hat diese Definition auf die entsprechenden Akteure der Bundesrepublik übertragen. Für ihn erfasst der Begriff „alle relevanten politischen Vereinigungen“, die „eine grundlegende, systematisch-revolutionäre Veränderung der marktwirtschaftlich-kapitalistisch-demokratischen Grundordnung“ anstreben und sich selbst „in die Tradition marxistischer, revolutionär-sozialistischer, rätekommunistischer und anarchistischer Gesellschaftsbilder“ einrücken.5 Gegen diesen Ansatz, den Linksradikalismus einzig durch das Ziel der Systemüberwindung zu kennzeichnen, wandte sich bereits in den 1970er Jahren Hans Manfred Bock. Er kritisierte, eine solche Definition weite den Begriff „bis zur Bedeutungslosigkeit“ aus. Es handele sich um eine „Ad-hoc-Konstruktion, die eine historische Ableitung des Begriffes oder des gemeinten Phänomens gar nicht erst versucht.“6 Dementsprechend geht Bock von einer enger gefassten Definition aus. Anknüpfend an zeitgenössische Deutungen – etwa von Lenin und Arthur Rosenberg7 – ist für ihn der Linksradikalismus eine von anderen linken Tendenzen deutlich verschiedene und unterscheidbare Strömung. Die Merkmale, die ihn kennzeichneten, seien unter anderem eine „simplifizierende Situationsanalyse der Klassenverhältnisse“, ein starker Antizentralismus und die prinzipielle Ablehnung der Parlaments- und Gewerkschaftsarbeit.8 Ähnlich eng definiert auch Ralf Hoffrogge den Linksradikalismus. Das „entscheidende Abgrenzungsmerkmal“ zu „anderen Strömungen der Arbeiterbewegung und des Marxismus“ sei „die Unbedingtheit der Radikalität“ der Kapitalismuskritik,

4 Friedbert Mühldorfer, Linksextremismus und Linksradikalismus (20. Jahrhundert), in: Historisches Lexikon Bayerns, 27.08.2007, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/ artikel_44760 [eingesehen am 22.10.2018]. 5 Hubert Kleinert, Geschichte des linken Radikalismus in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1990, in: Ulrich Dovermann (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 49–94, hier S. 50. 6 Hans Manfred Bock, Geschichte des ‚linken Radikalismus‘ in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt a. M. 1976, S. 10. Ruedi Brassel-Moser, Linksradikalismus, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 27.11.2008, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27494.php [eingesehen am 22.10.2018] meint derweil, eine „klare Definition“ lasse sich „aufgrund des offenen Begriffsfelds und der oft fehlenden bzw. unbeständigen organisatorischen Strukturen“ überhaupt nicht finden. 7 Vgl. W. I. Lenin, Der „linke Radikalismus“. Die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Ders., Werke, Bd. 31, Berlin (DDR) 1964, S. 1–106; Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik (1935), hg. und eingeleitet von Kurt Kersten, Frankfurt a. M. 1983, S. 23f. Rosenberg verwendet allerdings statt „Linksradikale“ den Begriff „radikale Utopisten“. Bock weist zudem darauf hin, dass Friedrich Engels bereits im 19. Jahrhundert den Linksradikalismus in seiner Partei, der SPD, „avant la lettre“ beschrieben und kritisiert habe. 8 Bock, Geschichte des ‚linken Radikalismus‘, S. 35.

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„aus der sich oft eine Minderheitenposition auch in der eigenen Bewegung ergibt, die wiederum mit dem Vorwurf des Sektierertums kritisiert wurde: der L[inksradikalismus] sei nicht in der Lage gesellschaftliche Kräfteverhältnisse taktisch-politisch zu denken, sondern gehe stets von der Utopie aus“.9 Diese engere Definition erscheint aus verschiedenen Gründen brauchbarer als die weiter gefasste: Sie greift nicht nur auf zeitgenössische Begrifflichkeiten zurück, sondern ermöglicht tatsächlich eine genauere Differenzierung und wirkt einer gewissen Beliebigkeit entgegen. Daher soll auch hier in diesem Sinne der Begriff Linksradikalismus verwendet werden.10 Das bedeutet aber auch: Zur Kennzeichnung aller hier vorgestellten Akteure ist der Begriff wenig geeignet. Politische Intellektuelle wie Kurt Tucholsky waren im engeren Sinne nicht „linksradikal“, ebenso wenig passt der Begriff zur Politik der SPD-Abspaltung SAP. Selbst in der Geschichte der KPD gab es Phasen, in denen sie mit der Einheitsfronttaktik eine Politik verfolgte, auf die dieses Label nicht zutraf. Aber auch der Begriff „antiparlamentarische Linke“ ist keineswegs „inhaltlich präziser“, wie Mühldorfer meint.11 So arbeiteten viele Abgeordnete der USPD mit Überzeugung im Reichstag und selbst der linkskommunistische Leninbund forderte am Ende der Weimarer Republik: „Her mit dem antifaschistischen Parlament!“12 Die hier vorgestellten Akteure vertraten aber alle eine grundsätzliche Kapitalismuskritik und wollten das System überwinden. Sie gingen also an die Wurzel (lat. radix). Insofern ist ihnen eine gewisse intellektuelle Radikalität nicht abzusprechen. Daher mag noch am ehesten der Begriff „radikale Linke“ geeignet sein, um sie alle zu fassen. Vor dem Hintergrund, dass er historisch weniger deutlich konnotiert ist als der semantisch ähnliche „Linksradikalismus“, soll er hier behelfsweise als Sammelbegriff fungieren – trotz aller Gewissheit über seine Unzulänglichkeiten und Ungenauigkeiten. Die radikale Linke umfasste demnach alle Kräfte der Weimarer Republik, die links von der SPD standen und sich für eine Überwindung des Kapitalismus einsetzten. Die linksradikale Linke war derweil nur ein Teil davon, gewissermaßen der radikalste.

9 Ralf Hoffrogge, Linksradikalismus, in: Wolfgang Fritz Haug u. a. (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/II, Hamburg 2015, Sp. 1194–1207. 10 Siehe auch Marcel Bois, Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen 2014, S. 101–106. 11 Mühldorfer, Linksextremismus und Linksradikalismus. Hierzu auch Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005. 12 Vgl. Rüdiger Zimmermann, Der Leninbund. Linke Kommunisten in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978, S. 222.

Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik

Zwischen Massenwirksamkeit und Ausdifferenzierung Die radikale Linke als Massenbewegung: So lautet der Titel einer Arbeit von Christian Gotthardt über eine politische Gruppe in einem regional sehr beschränkten Raum, nämlich die KPD im norddeutschen HarburgWilhelmsburg.13 Doch auch im organisatorisch und geografisch weiter gefassten Sinne lässt sich diese Zuschreibung für die Zeit der Weimarer Republik anwenden. Anders als in der späteren Bundesrepublik erreichten die Parteien und Organisationen, die links von der Sozialdemokratie standen, relevante Bevölkerungsteile. So erzielten sie bei den Reichstagswahlen stets Stimmenanteile zwischen 10 und 15 Prozent. Höhepunkte waren dabei sicherlich die Wahl im Juni 1920, als USPD und KPD gemeinsam auf zwanzig Prozent der abgegebenen Stimmen kamen, und die letzte freie Wahl im November 1932, als die KPD mit 16,9 Prozent drittstärkste Kraft wurde und nur knapp hinter der SPD (20,4 Prozent) blieb. In den Hochburgen der Arbeiterbewegung fielen die Ergebnisse freilich noch besser aus. Im Jahr 1920 erhielt die USPD bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung 38,5 Prozent der Stimmen und wurde mit Abstand stärkste Partei. Zehn Jahre später sollte sich die radikale Linke erneut den ersten Platz in der Hauptstadt sichern: Bei der Reichstagswahl 1930 kam die KPD auf 33 Prozent, zwei Jahre später waren es sogar knapp 38 Prozent. Der Aufstieg der radikalen Linken begann schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und spiegelte sich auch in den Mitgliederzahlen wider. Die USPD, die sich 1917 von der SPD getrennt hatte, „wuchs im rasanten Tempo zur zweiten Massenpartei der Arbeiterklasse und des Sozialismus in Deutschland heran“.14 Allein zwischen März und November 1919 stieg die Zahl ihrer Mitglieder von 300.000 auf 750.000 an. Als sich ihr linker Flügel im Jahr 1920 für den Beitritt zur Kommunistischen Internationale – und damit zur KPD – entschloss, verlor die USPD zwar schnell an Bedeutung. Doch zugleich wurde die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (VKPD), wie sich die KPD für kurze Zeit nannte, auf einen Schlag zur Massenpartei mit weit mehr als 300.000 Mitgliedern. Diesen Höchststand konnte sie zwar nur kurze Zeit halten, doch sie erreichte ihn noch zwei weitere Male in der Weimarer Republik: Im Krisenjahr 1923 und ab 1932. Dazwischen blieb die Mitgliederzahl relativ

13 Christian Gotthardt, Die radikale Linke als Massenbewegung. Kommunisten in HarburgWilhelmsburg 1918–1933, Hamburg 2007. 14 Franz Walter, Nicht nur eine Arbeiterbewegung. Eine lange Geschichte sozialmoralischer Spaltung (auch) jenseits der USPD, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 5 (2016), H. 4, S. 7–23, hier S. 8.

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konstant zwischen 120.000 und 180.000.15 Insgesamt waren bis 1933 wahrscheinlich mehr als eine Million Menschen kürzere oder längere Zeit Mitglied der KPD.16 Hinzu kamen kommunistische Vorfeld- und Nebenorganisationen, die ebenfalls beachtliche Mitgliederzahlen vorweisen konnten: Der Kommunistische Jugendverband hatte in den Jahren der Weltwirtschaftskrise etwa 60.000 Mitglieder.17 Der Rote Frontkämpferbund (RFB) organisierte etwas weniger als 100.000 Personen.18 Eine ähnlich hohe Mitgliederzahl hatte die Nachfolgeorganisation, der Kampfbund gegen den Faschismus. Die Rote Hilfe kam am Vorabend der nationalsozialistischen Machtübernahme sogar auf 375.000 Einzelmitglieder.19 Diese Organisationen spielten für das kommunistische Milieu eine bedeutende Rolle, dienten sie doch der Integration und Bindung parteiloser Arbeiterinnen und Arbeiter an die Bewegung. Auch die Organisationen links von der KPD konnten – zumindest in der Frühphase der Weimarer Republik – hohe Anhängerzahlen verzeichnen: Die rätekommunistische Allgemeine Arbeiter-Union-Einheitsorganisation (AAU-E) erreichte auf ihrem Höhepunkt 75.000 Mitglieder (1922), die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) 150.000 (1920/21) und die linkskommunistische Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands (AAU) sogar 200.000 (1921). Unter den Arbeitern im Hamburger Hafen wurden die linksradikalen Gewerkschaften AAU und Deutscher Seemannsbund zeitweilig stärkste Kräfte.20 Auch anhand der Reichweite ihrer Presse lässt sich der Einfluss der radikalen Linken ablesen. Das FAUD-Organ „Der Syndikalist“ erschien beispielsweise zu seinen besten Zeiten (1920) in einer Auflage von 120.000 Stück.21 Noch 15 Die exaktesten Zahlen finden sich bei Ulrich Eumann, Eigenwillige Kohorten der Revolution. Zur regionalen Sozialgeschichte des Kommunismus in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2007, S. 60–65. 16 Vgl. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 287. 17 Vgl. Barbara Köster, „Die junge Garde des Proletariats“. Untersuchungen zum Kommunistischen Jugendverband Deutschlands in der Weimarer Republik, Bielefeld 2005, S. 326, Tabelle 1. 18 Vgl. Kurt G. P. Schuster, Der Rote Frontkämpferbund 1924–1929. Beiträge zur Geschichte und Organisationsstruktur eines politischen Kampfbundes, Düsseldorf 1975, S. 241. 19 Vgl. Nikolaus Brauns, Schafft Rote Hilfe! Geschichte und Aktivitäten der proletarischen Hilfsorganisation für politische Gefangene in Deutschland (1919–1938), Bonn 2003, S. 44. 20 Vgl. Klaus Weinhauer, Revolution im Hamburger Hafen. Kollektive Interessenvertretung zwischen Tarifpolitik und lokalen Ordnungen (1916-1924), in: Karl Christian Führer u. a. (Hg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918-1920, Essen 2013, S. 195–209, hier S. 199. 21 Vgl. Bavaj, Von links, S. 175.

Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik

erfolgreicher waren die kommunistischen Publikationen, auch wenn Wilhelm Pieck im Nachhinein eine kritische Bilanz zog: „Die Partei hatte 37 Tageszeitungen einschließlich der Kopfblätter, aber die Abonnentenzahl ist nie über die Zahl der Parteimitglieder hinausgekommen. Vor allem war das auf die große Schwäche unserer Redaktionen zurückzuführen, die nicht verstanden, die Sprache der Massen zu sprechen [...].“22 Doch dies galt nur für die klassischen Parteiblätter. Zugleich baute Willi Münzenberg, Vorsitzender der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) und von 1924 bis 1933 Mitglied im ZK der KPD, das zweitgrößte Medienunternehmen der Weimarer Republik auf. Die von ihm herausgegebenen Zeitungen „Berlin am Morgen“, „Welt am Abend“ oder „Arbeiter-Illustrierte Zeitung“ (AIZ) erreichten hunderttausende Leser. Vor allem die AIZ beeindruckte durch ihre moderne Optik, ihre Fotoreportagen und ihre einfache Sprache.23 Sie wurde, so Karl Schlögel, zum „Prototypen eines neuen Bildjournalismus und einer neuen Zeitungsästhetik“.24 Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte die Zeitschrift ihre Auflage auf eine halben Million steigern, womit sie nach der „Berliner Illustrierten Zeitung“ zur zweitgrößten Illustrierten in Deutschland wurde. Neben dieser Massenwirksamkeit ist aber noch ein zweites Phänomen der radikalen Linken in der Weimarer Republik zu beobachten: Sie differenzierte sich stark aus. Lässt sich für das Kaiserreich durchaus noch von einer Arbeiterbewegung sprechen, die weitgehend in den freien Gewerkschaften und der SPD organisiert war, so war nun die Spaltung der Linken eine vielfache. Allein die KPD hatte bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft mehr als ein halbes Dutzend Abspaltungen zu beklagen.25 Die erste fand bereits zu Beginn des Jahres 1920 statt, als etwa die Hälfte der Mitglieder die Partei verließ und sich der neugegründeten Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD)

22 Wilhelm Pieck, Der neue Weg zum gemeinsamen Kampf für den Sturz der Hitlerdiktatur - Referat und Schlußwort auf der Brüsseler Parteikonferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands (Oktober 1935), Berlin 1947, URL: http://321ignition.free.fr/imp/de/lin/pag_ 007/1935_10_04_KPD_Bruessel_Pieck.htm [eingesehen am 5.11.2018]. 23 Vgl. Marcel Bois u. Stefan Bornost, Kompromisslos auf der Seite der Unterdrückten. Die Arbeiter-Illustrierte Zeitung, in: Bernd Hüttner u. Christoph Nitz (Hg.), Weltweit Medien nutzen. Medienwelt gestalten, Hamburg 2010, S. 185–194. 24 Karl Schlögel, Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas, München 2007, S. 184. 25 Es handelte sich um folgende Gruppen: Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD, 1920), Kommunistische Arbeitsgemeinschaft (KAG, 1921), Entschiedene Linke (1926), Spartakusbund linkskommunistischer Organisationen („Spartakusbund Nr. 2“, 1926), Kommunistische Arbeitsgemeinschaft (KAG, 1926, nicht identisch mit gleichnamiger Gruppe aus dem Jahr 1921), Leninbund (1928), KPD-Opposition (KPO, 1928), Vereinigte Linke Opposition der KPD – Bolschewiki-Leninisten (VLO, 1930). Viele dieser Gruppen differenzierten sich nach der Trennung von der KPD erneut aus. Siehe hierzu ausführlich: Bois, Kommunisten.

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anschloss. Im Kern ging es hier um einen politischen Konflikt: Sollten Kommunistinnen und Kommunisten sich an Parlamentswahlen beteiligen und in den freien Gewerkschaften mitarbeiten oder nicht?26 Spätere KP-Abspaltungen richteten sich dann vor allem gegen die zunehmende Entdemokratisierung und Abhängigkeit von Moskau, welche die Partei im Rahmen ihrer „Stalinisierung“ erfuhr.27 Oftmals gingen die entsprechenden Akteure nicht freiwillig, sondern wurden aus der KPD ausgeschlossen. Zwar hatte die innerparteiliche Opposition zeitweilig einen relativ starken Zulauf, doch außerhalb der KPD konnten sie keineswegs auf eine Massenbasis blicken. Selbst die bekanntesten der neu gegründeten Organisationen blieben vergleichsweise klein. Weder Leninbund noch Kommunistische Partei Deutschlands-Opposition (KPO) kamen über 5000 Mitglieder hinaus. Im Vergleich dazu ging es innerhalb der Sozialdemokratie recht ruhig zu. Nachdem die Partei während des Krieges einen relevanten Anteil ihrer Mitglieder an die USPD verloren hatte (von denen einige 1922 zurückkamen), fand erst gegen Ende der Weimarer Republik eine weitere größere Abspaltung statt. Mitglieder des linken Parteiflügels hatten die Tolerierung der BrüningRegierung kritisiert und mussten daraufhin die SPD verlassen. Sie gründeten im Oktober 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die schon bald 25.000 Mitglieder haben sollte. Auch das eher partei- und parlamentarismuskritische Lager der Linken differenzierte sich im Verlauf der Weimarer Republik aus. Nachdem der Anarchosyndikalismus in der Phase der relativen Stabilisierung der Republik seinen Massenanhang verloren hatte, kam es zu verschiedenen Fraktionierungen und Abspaltungen. So gingen beispielsweise aus der AAU-E fünf verschiedene Gruppen hervor, die alle weiterhin den Organisationsnamen trugen.28 Keine 26 Vgl. Marcel Bois u. Florian Wilde, „Modell für den künftigen Umgang mit innerparteilicher Diskussion“? Der Heidelberger Parteitag der KPD 1919, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jg. 6 (2007), H. 2, S. 33–46. 27 Weber, Stalinisierung ist bis heute das Standardwerk zu diesem Prozess. Siehe auch Marcel Bois, Hermann Weber und die Stalinisierung des deutschen Kommunismus. Eine Rezeptionsgeschichte, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2018, S. 143–162. 28 Hierbei handelte es sich um die „Heidenauer Richtung“ mit individualistischer und organisationsfeindlicher Ausrichtung (Auflösung 1923), die anarchosyndikalistische „Zwickauer Richtung“ (1923 Anschluss an FAUD), die „2. Zwickauer Richtung“ mit einer Nähe zu anarchistischen Positionen und einer starken Intellektuellenfeindlichkeit (bestand bis 1933), eine rätekommunistisch orientierte „Frankfurt-Breslauer Richtung“ (1931 Zusammenschluss mit Teilen der AAU und der KAPD zur Kommunistischen Arbeiter-Union Deutschlands (KAUD)) und die ehemalige Mehrheitsfraktion der AAU-E um Franz Pfemfert und Oskar Kanehl, die sich 1926/27 zeitweilig mit einer linken KPD-Abspaltung um Iwan Katz und dem Industrieverband für das Verkehrsgewerbe zum Spartakusbund linkskommunistischer Organisationen zusammenschlossen.

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davon konnte jedoch den Einfluss früherer Zeiten erreichen. Dies gilt auch für die FAUD. Die wichtigste Organisation des Anarchosyndikalismus verlor bis Anfang der 1930er Jahre 97 Prozent ihrer Mitglieder.29 Intellektuelle und Arbeiter Die radikale Linke der Weimarer Republik zog zahlreiche Intellektuelle an. Einige von ihnen wie die Schriftsteller Otto Rühle und Kurt Eisner oder der Jurist Paul Levi befanden sich in führenden Positionen der entsprechenden Organisationen oder der Rätebewegungen kurz nach Kriegsende. Andere prägten weniger die Parteien als das geistige Leben der Weimarer Republik. Zu nennen sind hier Literaten wie Erich Mühsam, Erich Weinert oder Bertolt Brecht. Auch der Komponist Hanns Eisler, die Malerin Käthe Kollwitz oder der Grafiker George Grosz gehören in diese Reihe. Künstlerische Vereinigungen wie der in der Revolution entstandene Arbeitsrat für Kunst, die Berliner Dada-Gruppe oder der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller waren ebenfalls stark von unterschiedlichen Strömungen der radikalen Linken beeinflusst. Exemplarisch für die Verbindung von Kunst und Politik steht sicherlich Franz Pfemferts expressionistische Zeitschrift „Die Aktion“, die in den 1920er Jahren zu einem wichtigen Publikationsort linkskommunistischer Akteure wurde.30 Auch an Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen war die radikale Linke präsent, allerdings eher in einer Minderheitenposition. Der KPDPolitiker Karl Korsch hatte beispielsweise seit 1923 eine ordentliche Professur für Zivil-, Prozess- und Arbeitsrecht an der Universität Jena inne, durfte seiner Lehrtätigkeit aber aus politischen Gründen nie nachgehen. Auch sein Genosse, der an der Berliner Universität habilitierte Historiker Arthur Rosenberg blieb in der Weimarer Zeit ein „Paria im Universitätsbetrieb“.31 Andere der Partei nahestehende Wissenschaftler wie der Statistiker Robert René Kuczynski waren ohnehin im außeruniversitären Bereich tätig. Eine Ausnahme stellten derweil wissenschaftliche Einrichtungen wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung oder das Bauhaus unter dem Direktor Hannes Meyer dar, die 29 Vgl. Hartmut Rübner, Anarchosyndikalismus in Deutschland. Die freiheitliche Tradition der Arbeiter- und ArbeiterInnenbewegung, in: Wanderverein Bakuninhütte e.V. u. ErichMühsam-Gesellschaft e.V. (Hg.), „Sich fügen heißt lügen“. Erich Mühsam in Meiningen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen: Die Bakuninhütte und ihr soziokultureller Hintergrund., Lich 2015, S. 11–26, hier S. 18. 30 Vgl. Marcel Bois, Jenseits des Expressionismus. Die Aktion als Zeitschrift kommunistischer Dissidenz während der Weimarer Republik, in: Expressionismus 5/2017, S. 25–36. 31 Mario Keßler, Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889–1943), Köln 2003, S. 54.

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als Hochburgen der marxistischen Linken galten. Auch beim Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr in Kiel handelte es sich um eine Einrichtung, in der „man sich nicht nur mit den verschiedenen Richtungen der Arbeiterschaft wissenschaftlich beschäftigte, sondern oftmals auch mit ihnen sympathisierte“.32 Trotz der Präsenz prominenter Intellektueller rekrutierte sich die radikale Linke aber vor allem aus der Arbeiterklasse. Dies gilt sowohl für die beiden großen Parteien KPD und USPD als auch für die linken Zwischengruppen und die syndikalistischen Organisationen. So lag der Arbeiteranteil unter den KPD-Mitgliedern vor Beginn der Weltwirtschaftskrise bei knapp 80 Prozent, wobei ein signifikanter Teil von ihnen noch aus der Arbeiterbewegung des Kaiserreichs stammte. Mallmann meint sogar, die KPD habe in ihrer Zusammensetzung „der wilhelminischen Sozialdemokratie weit stärker [geähnelt] als die Weimarer SPD“.33 Auffällig ist auch die große Zahl von Kommunistinnen und Kommunisten, die in der metallverarbeitenden Branche tätig waren. So gehörten im Jahr 1927 knapp 30 Prozent der gewerkschaftlich organisierten KPD-Mitglieder dem Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV) an.34 In dieser Branche waren auch die Mitglieder der FAUD stark vertreten. Darüber hinaus stammten sie aus der Textil- und der chemischen Industrie, zum Teil waren sie auch Hafen- und Werftarbeiter. Oftmals handelte es sich bei ihnen um un- oder angelernte Beschäftigte.35 Derweil war die USPD eine Partei der qualifizierten Facharbeiter.36 In den kommunistischen Oppositionsgruppen lag der Arbeiteranteil mit 66 Prozent zwar etwas niedriger als in der restlichen radikalen Linken, doch auch sie waren weit davon entfernt, reine IntellektuellenBewegungen zu sein, wie die DDR-Geschichtsschreibung später diffamierend behauptete.37 Erst mit Beginn der Weltwirtschaftskrise änderte sich die soziale Zusammensetzung der radikalen Linken, allen voran ihrer größten Partei, der KPD. Unter ihren Mitgliedern wuchs nun der Anteil der Arbeitslosen unverhältnismäßig stark an. Auch wurde die Partei nun überproportional stark von Arbeitslosen gewählt. Zwar war Erwerbslosigkeit zu dieser Zeit kein Spezifikum der 32 Detlef Siegfried, Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917–1922, Wiesbaden 2004, S. 10. 33 Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, Darmstadt 1996, S. 96 u. S. 99. 34 Vgl. Eumann, Kohorten, S. 297. 35 Vgl. Rübner, Anarchosyndikalismus, S. 17. 36 Vgl. Hartfrid Krause, Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und die Gründung der USPD 1917, in: Andreas Braune u. a. (Hg.), Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922, Stuttgart 2018, S. 3–24, hier S. 6. 37 Auch die westliche Forschung hatte dies lange Zeit unhinterfragt übernommen. Vgl. Bois, Kommunisten, S. 398–405.

Linksradikalismus und radikale Linke in der Weimarer Republik

radikalen Linken. Auch die Mitglieder von SPD und freien Gewerkschaften waren massenhaft davon betroffen.38 Doch hatte dieser Wandel in der sozialen Zusammensetzung – wie später zu zeigen ist – vor allem Auswirkungen auf die Politik der KPD. Regionale Ausprägungen des Arbeiterradikalismus In den 1970er Jahren veröffentlichte Hartfrid Krause seine Studie über die USPD, die noch heute als Standardwerk gilt. Hier warnte er vor „generalisierenden Aussagen über die USPD“ und wies darauf hin, dass sich die Partei unter lokal sehr unterschiedlichen Bedingungen entwickelt hätte.39 Tatsächlich gilt dies für die gesamte radikale Linke der Weimarer Republik. Für die Industriemetropole Berlin stellt Andreas Wirsching etwa die Existenz eines „besonders leicht verfügbaren Massenpotentials an überwiegend jungen, ungebundenen und gleichsam entwurzelten, d. h. milieuprägenden Traditionen entfremdeten Menschen“ fest. „Gerade zu Zeiten wirtschaftlicher Not kurzfristig leicht mobilisierbar, bildeten sie innerhalb der hauptstädtischen Gesellschaft ein gewissermaßen ‚desperatistisches‘ Element, auf das kommunistische Parteiführung und Bezirksleitung zählen konnten.“40 Dieses Muster hat bereits Erhard Lucas in seiner komparatistischen Studie über den Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung dargestellt. Am Beispiel der Ruhrgebietsstadt Hamborn zeigte er auf, dass junge, entwurzelte und hoch mobile Proletarier besonders empfänglich für linksradikale Positionen waren: Um die Jahrhundertwende „förmlich aus dem Boden gestampft“, war die Stadt geprägt von einem hohen Anteil migrantischer Arbeitskräfte. Diese entfalteten im Dezember 1918 eine Streikbewegung, die „in ihrer Radikalität wohl für diese Zeit in Deutschland einmalig“ war.41 Angeführt wurde der Kampf, der sich binnen kürzester Zeit auf das westliche Ruhrgebiet ausbreitete, von der bis dahin vor Ort unbedeutenden syndikalistischen Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften. Auch in den weiteren Jahren blieb die radikale Linke eine einflussreiche politische Kraft in der Bergbaustadt. Bei Hamborn handelte es sich um eine von der Montanindustrie aufgebaute und binnen kurzer Zeit entwickelte Arbeiterstadt, die von nur einigen wenigen 38 Vgl. Mallmann, Kommunisten, S. 104. 39 Hartfrid Krause, USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt a. M. 1975, S. 268. 40 Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg. Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, Oldenburg 1999, S. 166. 41 Erhard Lucas, Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1976, Zitate von S. 30 u. S. 155.

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Unternehmen dominiert wurde. Ihr stellte Lucas in seiner Studie die kontinuierlich herangewachsene Mittelstadt Remscheid entgegen. Diese war vom lokalen, kleineisenproduzierenden Handwerk geprägt, das dem Rationalisierungsdruck entweder hatte weichen müssen oder sich der Proletarisierung durch Spezialisierung widersetzt hatte. Beim Arbeiter des „Remscheider Typus“ handelte es sich demnach um meist qualifizierte Arbeiternehmer, die durch Kontinuität der Lebensgeschichte, relative Sicherheit, und rationale Zukunftsplanungen erkennbar sind. Hier habe sich der linke Radikalismus im Gegensatz zu Hamborn nicht so sehr in der Stärke der syndikalistischen Bewegung, sondern eher über Parteien (USPD und KPD) artikuliert. Derweil betont Norman LaPorte in seiner Untersuchung des sächsischen Kommunismus, dass neben sozioökonomische Faktoren auch unterschiedliche politische Traditionen Einfluss auf die Haltung der lokalen Gliederungen der radikalen Linken gehabt hätten. Die Tatsache, dass der linke Flügel der KPD im Bezirk Westsachsen stark ausgeprägt gewesen war, führt er vor allem auf die hegemoniale Stellung der SPD in dieser Region zurück. Die kompromisslose Haltung der KPD-Linken gegen die Sozialdemokraten sei hier auf fruchtbaren Boden gefallen. Dagegen sei die Parteirechte im Bezirk Erzgebirge-Vogtland stark gewesen, weil den Kommunisten seit 1919 eine Verankerung in der lokalen Arbeiterbewegung gelungen sei. Der „pragmatischere“ Kurs der Rechten sei hier für die Mitglieder plausibel gewesen.42 LaPortes These lässt sich nicht ohne weiteres verallgemeinern: Im Parteibezirk Schlesien beispielsweise waren die Parteirechten – anders als in Sachsen – gerade dort einflussreich, wo die SPD stark war.43 Auch die Erklärung von Lucas für die starke Verwurzelung der Hamborner Arbeiter im Syndikalismus kann, wie weitere Forschungen gezeigt haben, nicht unhinterfragt auf andere Städte übertragen werden.44 Dennoch bleibt die Grundannahme richtig, dass sich regional unterschiedliche Ausprägungen der radikalen Linken „als Ausdruck wirklicher Basisströmungen in der Arbeiterschaft und bestimmter Lebens- wie Arbeitsverhältnisse begreifen“ lassen können.45 Weitere Parameter müssen je-

42 Vgl. Norman LaPorte, The German Communist Party in Saxony, 1924-1933. Factionalism, Fratricide and Political Failure, Bern 2003. 43 Vgl. Marcel Bois, Die Tradition bewahrt. Kommunistische Opposition in Schlesien vor 1933, in: Cornelia Domaschke u. a. (Hg.), Widerstand und Heimatverlust. Deutsche Antifaschisten in Schlesien, Berlin 2012, S. 107–123, hier S. 123, Anm. 74. 44 Vgl. Bert Altena, Zur Analyse des revolutionären Syndikalismus, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, H. 22/1999, S. 5–35, hier S. 29. 45 Sigrid Koch-Baumgarten, Einleitung, in: Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Hamburg 1986, S. 9–54, hier S. 22.

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doch bei der Analyse berücksichtigt werden, beispielsweise der Einfluss lokaler Meinungsführer auf das Handeln der Akteure vor Ort.46 Eine Männerdomäne Die radikale Linke der Weimarer Republik setzte sich bedingungslos für die Gleichberechtigung der Frauen ein. Beispielsweise erhob die KPD „in der Geschlechterfrage [...] die radikalsten Gleichheitsforderungen aller Parteien“.47 Sie forderte gleichen Lohn für gleiche Arbeit, kämpfte für bessere Arbeitsbedingungen und Mutterschutz und initiierte große Kampagnen gegen den Anti-Abtreibungsparagraphen 218. Damit knüpfte sie an die Haltung der proletarischen Frauenbewegung und die Sozialdemokratie des Kaiserreichs an. In den ersten Jahren nach dem Krieg standen zudem mit Rosa Luxemburg und Ruth Fischer zweimal Frauen an der Spitze der KPD. Im August 1932 stellte die Partei mit Clara Zetkin die Alterspräsidentin des Reichstags. Beides war einmalig in der Weimarer Parteienlandschaft. Gleichwohl waren Frauen in der KPD – wie im gesamten politischen System der Weimarer Republik – unterrepräsentiert. Trotz Quotenregelung48 lag ihr Anteil unter den KPD-Mitgliedern zu keinem Zeitpunkt höher als 17 Prozent.49 „Proclaiming the most militant positions on women’s rights, the party also had the least female support“, hat Atina Grossmann diese Ambivalenz auf den Punkt gebracht. „Boasting the highest proportion of female legislators of any Weimar party, it also had the smallest percentage of female voters. Theoretically fixated on the industrial workplace, it found its most enthusiastic adherents among housewives, intellectuals, and female white-collar workers.“50 Ähnliches lässt sich in den anderen Strömungen der radikalen Linken beobachten. Auch hier war der Frauenanteil gering. Der 1920 gewählten 81-köpfigen

46 Vgl. Jürgen Jenko, Die Bergarbeiterschaft und der Aufstieg des Anarcho-Syndikalismus im Ruhrgebiet bis 1919, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, H. 38/2007, S. 7–26, hier S. 25. 47 Mallmann, Kommunisten, S. 131. Zur kommunistischen Frauenpolitik siehe: Silvia Kontos, Die Partei kämpft wie ein Mann. Frauenpolitik der KPD in der Weimarer Republik, Basel 1979. 48 Im Jahr 1930 beschloss die Parteiführung, dass ein Drittel aller Mandate der Bezirksparteitage weiblichen Mitgliedern vorbehalten sein müsse. Ähnliches galt ab 1932 auch für die Bezirksleitungen. Vgl. Mallmann, Kommunisten, S. 138. 49 Ebd., S. 131. 50 Atina Grossmann, German Communism and New Women. Dilemmas and Contradictions, in: Helmut Gruber u. Pamela Graves (Hg.), Women and Socialism / Socialism and Women. Europe between the two World Wars, New York 1998, S. 135–168, hier S. 135.

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Reichstagsfraktion der USPD gehörten beispielsweise nur neun Frauen an.51 In den kommunistischen Oppositionsgruppen betrug ihr Anteil etwa 13 Prozent.52 Und auch in der FAUD waren nur etwa zehn Prozent der Mitglieder Frauen. Lediglich in den anarchosyndikalistischen Jugendgruppen lag das Verhältnis von Mädchen zu Jungen immerhin bei ein zu zwei. „Offenbar zogen sich junge Frauen aus der anarchistischen Gewerkschaftsarbeit zurück, sobald sie einen Haushalt führten und Kinder bekamen“, urteilt Vera Bianchi. „Auch teilzeitbeschäftigte Mütter sahen sich eher als Hausfrauen denn als Industriearbeiterinnen“.53 Wolfgang Haug weist derweil darauf hin, dass auch in anarcho-syndikalistischen Kreisen „die Rollenaufteilung eindeutig“ war: „Er ging arbeiten, sie war für den Haushalt und die Kinder zuständig.“54 Hier stand die radikale Linke ebenfalls in der Tradition der Arbeiterbewegung des Kaiserreichs. Schon die war eine Männerdomäne gewesen.55 Phasen der Radikalisierung In den wenigen Jahren, die die Weimarer Republik existierte, veränderten sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen deutlich. Klassischerweise geht die Forschung von drei großen Phasen aus, die die deutsche Gesellschaft durchlief: die revolutionäre Nachkriegszeit (1918–1923), die Phase der relativen Stabilisierung (1924–1928/29) und die Auflösung und Zerstörung der Republik (1929/30–1933).56 Hieran angelehnt soll die Entwicklung der radikalen Linken skizziert werden. Diese lässt sich mit fünf Phasen allerdings noch etwas stärker ausdifferenzieren. Phase I: Die Jahre der Revolution (1918–1921) Die erste Phase umfasste die Jahre der Revolution. Sie war geprägt von einem vielschichtigen Radikalisierungsprozess, der bereits 1916 eingesetzt hatte. Seit 51 Vgl. Krause, USPD, S. 307–311. 52 Vgl. Bois, Kommunisten, S. 426. 53 Vera Bianchi, Feminismus in proletarischer Praxis: Der „Syndikalistische Frauenbund“ (1920 bis 1933) und die „Mujeres Libres“ (1936 bis 1939), in: Arbeit. Bewegung. Geschichte. Zeitschrift für historische Studien, Jg. 17 (2018), H. 1, S. 27–44, hier S. 28. 54 Wolfgang Haug, „Bekämpfen wir die Unwissenheit“. Die Bildungspolitik der AnarchosyndikalistInnen, in: Wanderverein Bakuninhütte e.V. und Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V. (Hg.), „Sich fügen heißt lügen“, S. 87–101, hier S. 94. 55 Siehe hierzu das Kapitel „Die Frau und der Sozialismus: Gendertrouble in der Arbeiterbewegung“, in: Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Von den Anfängen bis 1914, Stuttgart 2017, S. 87–95. 56 Beispielsweise bei Axel Schildt, Die Republik von Weimar. Deutschland zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“ (1918–1933), Erfurt 2016.

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diesem Jahr kam es regelmäßig zu Streiks und Protesten gegen die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Treibende Kräfte dieser Bewegungen waren die Spartakusgruppe und die Bremer Linksradikalen, aus denen später die KPD hervorgehen sollte, vor allem aber die Revolutionären Obleute – ein Netzwerk betrieblicher Vertrauensleute – und die USPD, die sich aus Protest gegen die Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie und unter dem Einfluss der russischen Februarrevolution gegründet hatte.57 Während der Revolution im November 1918 entwickelte sich aus den Streiks eine Rätebewegung. Diese entstand, wie Hoffrogge schreibt, „in Reaktion auf die russischen Sowjets, aber nicht als deren Imitation“. Entscheidend sei vielmehr die Erfahrung gewesen, im Krieg nicht durch SPD- und Gewerkschaftsführung vertreten gewesen zu sein. „Die Räte entstanden somit nicht aus der radikalen Idee, sondern aus der Notwendigkeit neuer Kampfstrukturen“.58 In den Monaten nach dem Sturz der Monarchie standen sich bald zwei Lager der politischen Linken diametral gegenüber: Auf der einen Seite befand sich die Sozialdemokratie, die in Kooperation mit dem Staatsapparat und Teilen des Militärs eine bürgerlich-parlamentarische Republik etablieren wollte. Auf der anderen Seite stand die radikale Linke, die sich für das Rätesystem als neue Staatsform einsetzte und – abgesehen von der USPD – die Wahl zur Nationalversammlung boykottierte. Zwar entstanden an verschiedenen Orten kurzlebige Räterepubliken, doch letztendlich scheiterte dieses Unterfangen. Der von sozialdemokratischen Delegierten dominierte Reichsrätekongress stimmte bereits im Dezember 1918 für die Selbstentmachtung der Räte. Regionale Rätebewegungen und Sozialisierungsbestrebungen wurden zum Teil aber auch von rechtsextremen Freikorps blutig niedergeschlagen.59 Die konterrevolutionäre Gewalt zeigte sich auch bei der Ermordung von prominenten Linken und Republikanern wie Rosa Luxemburg, Kurt Eisner oder Matthias Erzberger, ebenso in versuchten Staatsstreichen wie dem Kapp-Putsch (1920). Diese Erfahrungen führten zu einer weiteren Radikalisierung der politischen Linken. Die Entstehung der 50.000 Mann starken Roten Ruhrarmee in Reaktion auf den Kapp-Putsch zeigte, dass Teile der Arbeiterschaft durchaus bereit waren, die sozialen und politischen Errungenschaften der Revolution auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Organisatorischer Ausdruck des Radikalisierungsprozesses war vor allem das rasante Wachstum der USPD und der syndikalistischen Organisationen. 57 Vgl. Marcel Bois, Zwischen Burgfrieden, Repression und Massenstreik. Zum Einfluss der Spartakusgruppe auf die Friedensbewegung während des Ersten Weltkriegs, in: Braune (Hg.), USPD, S. 91–106. 58 Hoffrogge, Linksradikalismus, Sp. 1197. 59 Hierzu allgemein: Mark Jones, Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017.

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Zu dieser Zeit kam es zudem zu einer deutlichen Linksverschiebung innerhalb der entsprechenden Parteien. Sie mündete in der Gründung der KAPD und dem Übergang des linken USPD-Flügels zum Kommunismus. Hatte die KAPD anfangs noch der Kommunistischen Internationale angehört, entfernte sie sich ideologisch nun bald von dieser Bewegung. Auch die Syndikalisten verabschiedeten sich bald vom Marxismus. Hatten sie unmittelbar nach dem Krieg noch die „Diktatur des Proletariats“ gefordert und mit dem Beitritt zur KPD und USPD nicht ablehnend gegenübergestanden, änderte sich dies unter dem maßgeblichen Einfluss Rudolf Rockers.60 Die Grundprinzipien des anarchistischen Kommunismus seien mit der Mitgliedschaft in Parteien unvereinbar. Aber auch in der KPD drückte sich der Radikalisierungsprozess in einer ablehnenden Haltung gegenüber den gemäßigten Organisationen der Arbeiterbewegung aus. Beispiele hierfür sind die Entscheidung des Gründungsparteitags, sich nicht an der Wahl zur Nationalversammlung zu beteiligen, die Weigerung vieler Mitglieder, in den Gewerkschaften des ADGB mitzuarbeiten, oder auch die Haltung der KPD-Führung, den Generalstreik gegen den Kapp-Putsch zunächst nicht zu unterstützen. Darüber hinaus zeigte sich die Radikalisierung in einer revolutionären Ungeduld, die oftmals mit einer Fehleinschätzung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse einherging. Die kommunistische „Offensivtheorie“ war hierfür ein prominentes Beispiel. Sie lieferte die theoretische Grundlage für die Märzaktion von 1921, einem gescheiterten Aufstandsversuch im mitteldeutschen Industrierevier, in dessen Folge die KPD nahezu die Hälfte ihrer Mitglieder verlor.61 Phase II: Einheitsfrontpolitik und Deutscher Oktober (1921–1923) Mit dem Scheitern der Märzaktion setzte die zweite Phase in der Entwicklung der radikalen Linken der Weimarer Republik ein. Sie war zunächst geprägt von einem zwischenzeitigen Abschwung der revolutionären Bewegung. In dieser Zeit verloren die beiden maßgeblichen Akteure der ersten Phase an Einfluss und Mitgliederstärke. So begann zu dieser Zeit der Mitgliederrückgang des Anarchosyndikalismus, der sich nicht immer der kommunistischen Konkurrenz erwehren konnte.62 Derweil beschloss im September 1922 die große Mehrheit der USPD, sich wieder der SPD anzuschließen. Nur eine kleine Strömung um Theodor Liebknecht verblieb in der Partei, die fortan aber kein Faktor im politischen Geschehen mehr sein sollte und schließlich 1931 in der SAP aufging.63 60 Vgl. Rübner, Anarchosyndikalismus, S. 15. 61 Vgl. Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921, Frankfurt a. M. 1986. 62 Vgl. Rübner, Anarchosyndikalismus, S. 19f. 63 Vgl. Krause, USPD, S. 263.

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Unterdessen führte das Desaster der Märzaktion zu einem scharfen Kurswechsel bei der KPD. Unter dem Vorsitzenden Ernst Meyer entwickelte die Partei die Einheitsfrontpolitik. Sie setzte nun auf außerparlamentarische Bündnisse mit der Sozialdemokratie und auf die radikalisierende Wirkung entsprechender Aktionen. Nicht nur zu sozialen Fragen initiierte die Partei derlei Einheitsfronten, sondern auch zum Schutz der Republik, etwa nach der Ermordung von Außenminister Walter Rathenau durch antisemitisch gesinnte Terroristen.64 Nach dem Mitgliederexodus von 1921 konnte sich die KPD nun konsolidieren, gewann wieder Anhänger hinzu und konnte auch ihren Einfluss in den Gewerkschaften ausbauen.65 Diese Entwicklung ging auch im Krisenjahr 1923 weiter. Ruhrbesetzung und Hyperinflation führten zu einer erneuten Radikalisierung der Arbeiterklasse. Der Sommer war geprägt von massiven Streiks, die im August zum Sturz der Regierung Cuno führten. Hermann Weber vermutet, dass es der KPD nun sogar „zeitweise gelang, die Mehrheit der sozialistisch orientierten Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen.“66 Mit massiver Unterstützung der Kommunistischen Internationale plante die Partei die Revolution – aber unter Beibehaltung der Einheitsfrontpolitik. Anfang Oktober traten Kommunisten in die von linken Sozialdemokraten geführten Landesregierungen von Sachsen und Thüringen ein. Wenige Tage später sollte es zum Aufstand kommen. Doch kurzfristig blies die KPD-Führung das Unterfangen ab, einzig in Hamburg kam es zu einer isolierten Aktion, welche die Polizei schnell niederschlagen konnte. Phase III: Linke Isolation (1924/25) Der ausgefallene „Deutsche Oktober“ markierte im internationalen Kontext das Ende der „revolutionären Welle“ am Ende des Ersten Weltkrieges. Nun verdichteten sich die Anzeichen, dass sich die Russische Revolution nicht ausbreiten und Sowjetrussland isoliert bleiben würde, was zu einem wesentlichen Faktor für den Aufstieg des Stalinismus werden sollte.67 In Deutschland begann nun die Phase der relativen Stabilisierung. Für die radikale Linke setzte eine Zeit der politischen Isolation ein. Die USPD hatte mittlerweile de facto aufgehört zu existieren, der Anarchosyndikalismus spaltete sich in diverse Strömungen auf, die kaum mehr gesellschaftliche Relevanz besaßen, und die KPD wurde nun von 64 Vgl. Florian Wilde, Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887–1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden, Konstanz 2018, S. 151–206. 65 Vgl. Bois, Kommunisten, S. 133f. 66 Hermann Weber, Vorwort, in: Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, S. 19–34, hier S. 19. 67 Vgl. Marcel Bois, In den Abgrund. Eine kurze Geschichte des Stalinismus in der Sowjetunion, in: Christoph Jünke u. Bernd Hüttner (Hg.), Roter Oktober 1917. Beiträge zur Geschichte der Russischen Revolution, Berlin 2017, S. 52–61.

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radikalen Intellektuellen wie Ruth Fischer, Arkadi Maslow, Werner Scholem und Karl Korsch geleitet. Unter ihrer Führung begann die „Bolschewisierung“, also eine erste Entdemokratisierung und Zentralisierung der Partei. Zugleich verabschiedeten sie sich von der Einheitsfront und ein neuer Politikstil zog ein: Sie verweigerten Sozialdemokraten den Handschlag, beschimpften Mitglieder der freien Gewerkschaften und traten im Reichstag stets mit Trompeten und Pfeifen auf.68 Bereits in der ersten Jahreshälfte 1924, als die KPD noch wegen des „Deutschen Oktobers“ verboten war, agierten die Kommunisten, als stünde ein neuer Aufstand bevor. „Es wimmelte von lichtscheuen Machenschaften im Sumpf der Illegalität“, schreibt Flechtheim über diese Zeit. „Die Russen entwarfen immer neue phantastische Militärpläne. Skobelewski, ‚der Sieger von Kronstadt‘, organisierte Terrorgruppen. Es kam zu einem verunglückten Attentat auf General v. Seeckt, zu Experimenten mit Cholerabazillen und anderen dilettantischen Versuchen.“69 Margarete Buber-Neumann erinnert sich, dass in den Jahren der linken Parteiführung „alles Militärische Trumpf “ gewesen sei. „Die theoretischen Organe der KPD befassten sich fortlaufend mit Themen über den bewaffneten Aufstand und über den Bürgerkrieg.“70 Am Ende der Amtszeit von Fischer und Genossen war der Einfluss der KPD innerhalb der Arbeiterbewegung so gering wie noch nie. Phase IV: Zwischen Einheitsfront und Stalinisierung (1926–1928) Zu Beginn der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war der Kommunismus die einzig verbliebene Strömung der radikalen Linken, die noch über Massenanhang verfügte. Nach Intervention Moskaus war der Hamburger Arbeiter Ernst Thälmann Parteivorsitzender geworden. Unter seiner Führung entwickelte sich die KPD sehr widersprüchlich. Nach außen öffnete sich die Partei wieder. Sie wurde, wie Flechtheim schreibt, „relativ stabil und ‚seriös‘. Sie konzentrierte sich auf Opposition in den Parlamenten, Wahlen, Gewerkschaftspolitik und, last, not least, Propaganda für die Sowjetunion.“71 Deutlichstes Zeichen für diesen Kurswechsel war die Rückkehr zur Einheitsfront. Im Sommer 1926 führte die Partei gemeinsam mit der SPD eine großangelegte Kampagne zur entschädigungslosen Enteignung des Adels durch. Aus formalen Gründen scheiterte der Volksentscheid zwar, doch stellte er einen großen Mobilisierungserfolg dar: 14,5 Millionen derjenigen, die zur Wahlurne gingen, stimmten für die Initiative der Linken. Das war eine deutliche Mehrheit der abgegebenen Stimmen und 68 Vgl. Bois, Kommunisten, S. 142–168. 69 Flechtheim, KPD, S. 166. 70 Margarete Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Revolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern 1919–1943, Stuttgart 1967, S. 146. 71 Flechtheim, KPD, S. 183.

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entsprach 36,4 Prozent aller Wahlberechtigten. Bei keiner anderen Wahl vor 1933 konnten KPD und SPD (und USPD) gemeinsam eine so hohe Zahl von Stimmen auf sich vereinen.72 Zugleich aber erstarrte die KPD im Innern. Parallel zum Aufstieg des Stalinismus in der Sowjetunion schritt auch die Stalinisierung der deutschen Partei voran. Die Abhängigkeit von Moskau wuchs in dem Maße wie die innerparteiliche Demokratie abstarb. Es entstanden verschiedene oppositionelle Gruppen mit einer fünfstelligen Anzahl von Anhängerinnen und Anhängern, die sich gegen diesen Wandlungsprozess zur Wehr setzten. Sie alle wurden im Verlauf der nächsten drei Jahre aus der Partei gedrängt. Derweil nahm die kritische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion auch für nichtkommunistische Linke einen größeren Stellenwert ein. Exemplarisch für diese Entwicklung steht beispielsweise Franz Pfemferts Zeitschrift „Die Aktion“, in der zu dieser Zeit die moskaukritischen Kräfte publizierten. Phase V: Auseinandersetzung mit Krise und Faschismus (1929–1933) Das Jahr 1929 stellte einen erneuten Wendepunkt in der Entwicklung der radikalen Linken dar. Die mit dem New Yorker Börsencrash vom Oktober einsetzende Weltwirtschaftskrise führte zu steigender Arbeitslosigkeit und Verelendung der Bevölkerung. Die kommunistische Bewegung kündigte nun die „dritte Phase“ in der Entwicklung des Weltkapitalismus an, die letztendlich zu seinem Sturz führen werde. In dieser neuen „revolutionären Welle“ sei der „Hauptfeind“ die Sozialdemokratie, da sie die Arbeiter davon abhalte, gegen den Kapitalismus zu kämpfen. Einher ging diese Einschätzung mit einem ziemlichen Unverständnis für die tatsächliche Bedrohung, die in der Zeit der Wirtschaftskrise rasant wuchs, nämlich die nationalsozialistische Bewegung. Zwar sah die KPD die Hitlerpartei als politischen Feind an und organisierte vielfältigen außerparlamentarischen Widerstand gegen die NSDAP. Sie rief zu Demonstrationen auf und Kommunisten waren immer wieder an direkten Konfrontationen mit den Faschisten beteiligt. Doch der KPD-Führung gelang es nicht, das Phänomen angemessen zu analysieren. Stattdessen verwendete das ZK den Begriff „Faschismus“ geradezu inflationär. Ihn sah es bereits seit 1930 an der Macht, als Reichspräsident Hindenburg das erste Präsidialkabinett eingesetzt hatte.73 Überhaupt bezeichnete die KPD-Führung alle anderen parlamentarischen Parteien als „faschistisch“: 72 Zumindest in absoluten Zahlen: Bei mehreren Reichstagswahlen lag der gemeinsame Stimmenanteil der Arbeiterparteien über jenen 36,4 Prozent, drei Mal (1919, 1920 und 1928) sogar über 40 Prozent. Doch entsprach dies maximal 13,3 Millionen Wählern (Juli 1932). 73 Siegfried Bahne, „Sozialfaschismus“ in Deutschland. Zur Geschichte eines politischen Begriffes, in: International Review of Social History, Jg. 10 (1965), H. 2, S. 211–245, hier S. 236.

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„Kampf gegen den Faschismus heißt Kampf gegen die SPD, genauso, wie es Kampf gegen Hitler und die Brüningparteien heißt.“74 Sie diffamierte die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ und lehnte eine Einheitsfront im Kampf gegen die Nationalsozialisten dementsprechend ab. Auch die SPD stand einem Bündnis mit der KPD ablehnend gegenüber. Eine solche Einheitsfront zu fordern, fiel nun den linken Zwischengruppen zu, die sich in ihren Faschismusanalysen vor allem auf Leo Trotzki oder August Thalheimer stützten. Ein prominentes Beispiel für derlei Aufrufe ist der „Dringende Appell“ an SPD und KPD „endlich einen Schritt zu tun zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront, die nicht nur für die parlamentarische, sondern auch für die weitere Abwehr notwendig sein wird.“75 Das Papier hatte der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK), eine linkssozialistische Kaderorganisation, initiiert.76 Es erschien im Vorfeld der Reichstagswahl 1932, mehr als dreißig bekannte Persönlichkeiten hatten es unterschrieben, darunter Albert Einstein, Erich Kästner, Käthe Kollwitz und Heinrich Mann. An der Basis der beiden Arbeiterparteien gab es zu dieser Zeit tatsächlich zahlreiche gemeinsame Aktivitäten gegen die immer stärker werdenden Nationalsozialisten. Doch zu einem reichsweiten Bündnis kam es nicht. Zugleich fielen die linksradikalen Phrasen der KPD-Führung bei einem Teil ihrer Mitglieder auf fruchtbaren Boden, nicht zuletzt weil die sozialdemokratische Tolerierungspolitik hier extrem unbeliebt war. Aber auch Begebenheiten wie der „Blutmai“ von 1929 erleichterten es der KPD-Führung, die Parteibasis von der Sozialfaschismusthese zu überzeugen. Am 1. Mai jenen Jahres war es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen kommunistischen Demonstranten und der Berliner Polizei gekommen, die von dem Sozialdemokraten Karl Friedrich Zörgiebel geleitet wurde. Überhaupt hätten repressive Maßnahmen der Staatsmacht die „ultralinke“ Politik der KPD-Führung begünstigt, meinen Hermann Weber und Andreas Herbst. Gegen Kommunisten sei härter vorgegangen worden „als gegen die für die Republik viel gefährlicheren Nationalsozialisten“. Sie seien ständig von Polizeiaktionen betroffen gewesen und ihre Zeitungen regelmäßig verboten worden. Allein in den letzten drei Jahren der Republik erschoss die Staatsmacht bei politischen Auseinandersetzungen 170 Kommunisten: „Die einseitige Haltung der Justiz war offensichtlich, sie

74 Die Rote Fahne, 18.11.1931. 75 Der Funke. Tageszeitung für Recht, Freiheit und Kultur, 25.06.1932. 76 Zur Geschichte des ISK siehe: Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim am Glan 1964.

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war Klassenjustiz gegenüber den Kommunisten. Dies führte zu einer weiteren Radikalisierung […].“77 Bert Hoppe mutmaßt dementsprechend, dass die KPD zu einer Sekte degeneriert wäre, wenn „die Stalinschen Thesen von der ‚Dritten Periode‘ und vom ‚Sozialfaschismus‘ nicht vielfach scheinbar der lebensweltlichen Realität vieler Menschen in Deutschland entsprochen“ hätten.78 Tatsächlich konnte die Partei – trotz ihrer Politik – seit Beginn der Wirtschaftskrise einen stetigen Zulauf verzeichnen. Doch sie tat sich schwer, neu gewonnene Mitglieder zu integrieren. In den Betrieben waren die Kommunisten kaum mehr präsent. Im Herbst 1932 machte der Anteil lohnabhängig beschäftigter Arbeiter an der Gesamtmitgliederschaft nur noch elf Prozent aus.79 Fazit Die radikale Linke der Weimarer Republik war eine Massenbewegung. Sie knüpfte an Traditionen der Arbeiterbewegung des Kaiserreichs an und bestand aus verschiedenen Strömungen, die zeitweilig hunderttausende Mitglieder umfassten und Millionen Wähler mobilisieren konnten. Sie war regional unterschiedlich ausgeprägt, tief in der Arbeiterbewegung verankert und zählte zahlreiche prominente Intellektuelle in ihren Reihen. Sie wirkte auf Kunst und Kultur der ersten deutschen Republik und war selbst ein Ort der intensiven politischen Theoriebildung. Am meisten Einfluss hatte sie in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenzeiten, isolierte sich aber oftmals durch ihre linksradikalen Aktionen oder Haltungen von signifikanten Teilen der Bevölkerung. Besonders fatal wirkte sich die Stalinisierung der KPD auf die radikale Linke aus: Ihre stärkste Partei war am Ende der Weimarer Partei politisch erstarrt und nicht in der Lage, einen angemessen Umgang mit den immer stärker werdenden Nationalsozialisten zu finden. Als diese schließlich im Januar 1933 an die Macht kamen, zerschlugen sie mit der gesamten Arbeiterbewegung auch die radikale Linke: Ihre Organisationen wurden verboten, ihre Mitglieder verfolgt, ins Exil getrieben und zu Tausenden ermordet. Gleichwohl sollte die radikale Linke eine wichtige Rolle

77 Hermann Weber u. Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, Berlin 2008, S. 19. 78 Bert Hoppe, Stalin und die KPD in der Weimarer Republik, in: Jürgen Zarusky (Hg.), Stalin und die Deutschen. Neue Beiträge der Forschung, München 2006, S. 19–42, hier S. 34. 79 Andreas Dorpalen, SPD und KPD in der Endphase der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 31 (1983), H. 1, S. 77–107, hier S. 86.

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im antifaschistischen Widerstand spielen. Nach dem Krieg wurde ihre größte Partei im Westen verboten, im Osten hingegen zur Staatspartei. Auch wenn im Zuge der 68er-Bewegung zahlreiche Akteure und Konzepte wiederentdeckt wurden: Als soziale Bewegung sollte die deutsche radikale Linke nie wieder die Stärke der Weimarer Zeit erreichen.

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Linksradikalismus und Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1990 Einführung Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung ist die Geschichte des linken Radikalismus und linkspolitisch motivierter Gewalt in der Geschichte der Bundesrepublik bis 1990. Dabei schließt der hier verwendete Begriff des „linken Radikalismus“ alle Gruppierungen ein, die eine grundlegende, systemisch-revolutionäre Veränderung der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland anstrebten und sich selbst dabei in die Tradition revolutionär-sozialistischer oder anarchistischer Gesellschaftsbilder einrückten. Dazu gehören die militanten Desperados der RAF mit ihrer Selbstimagination einer revolutionären Situation und der Legitimation für den bewaffneten Kampf ebenso wie jener Teil der „antiautoritären Bewegung“ der späten 1960er Jahre, der mit feinsinnigen Unterscheidungen zwischen „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt gegen Personen“ eine Strategie der bewussten Regelverletzung und der gewaltsamen Aktionen für gerechtfertigt hielt. Er umfasst militante Aktionen der K-Gruppen etwa beim „Bonner Rathaussturm“ von 1973, aber auch die militant-anarchistische Underground-Szene in Westberlin 1969/70 oder die Revolutionären Zellen der 1980er Jahre. Der hier zugrunde liegende Gewaltbegriff erfasst natürlich terroristische Gewalt, die über die unmittelbaren Opfer hinaus weiterreichende psychologische Einschüchterungseffekte erzielen und die politische Gesamtsituation destabilisieren will, wobei die Schwierigkeiten einer präzisen Begriffsbestimmung von Terrorismus hier übergangen werden können.1 Dazugerechnet werden aber auch politische Strategien, die den Einsatz von Gewaltmitteln als Mittel zur Provokation, zur Eskalation von Konflikten oder zur Agitation und Propaganda gezielt und bewusst praktizieren. Nicht dazu rechnen wir begrenzte und passive Formen des bürgerlichen Ungehorsams wie etwa gewöhnliche Sitzblockaden, die seit dem Brokdorf-Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr automatisch als Nötigung im strafrechtlichen Sinn gelten.

1 Vgl. z. B. die Überlegungen zum Terrorismusbegriff bei Bruce Hoffmann, Terrorismus – Der unerklärte Krieg. Neue Gefahr politischer Gewalt, Frankfurt a. M 1999, S. 13ff.

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Linksradikalismus und Gewalt in der frühen Bundesrepublik Deutschland In der Frühgeschichte der Bundesrepublik spielt politische Gewalt von links nur eine untergeordnete Rolle. In dieser Zeit ist der politische Raum des linken Radikalismus weitgehend von der am sowjetischen Kommunismus-Modell orientierten und eng mit der SED verbundenen KPD eingenommen worden. Davon unabhängige rätekommunistische, anarchistische, trotzkistische oder titoistische Gruppen und Grüppchen spielten nur eine marginale Rolle. Bei allem Radikalismus des sozialrevolutionären Anspruchs und der Kritik an der „bürokratisierten Praxis der klassischen Arbeiterorganisationen“ wie am „Korruptionssumpf des Parlamentarismus“ spielte die „Gewaltfrage“ in den Diskussionen linker Kleinzeitschriften wie „Neues Beginnen“ oder „Funken“ keine bedeutende Rolle.2 Viele der versprengten „revolutionären Sozialisten“ hofften eher, die SPD in die Richtung einer revolutionären Partei verändern zu können; von einer „revolutionären Situation“, in der sich die Frage der Legitimität von Gewalt stellte, gingen sie nicht aus. Zwar ist etwa die „Sozialistische Aktion“, die für eine Aktionseinheit mit der KPD eintrat, als verfassungsfeindliche Vereinigung strafrechtlich verfolgt worden. Diese Verfolgung war freilich eher die Konsequenz der nach heutigen Maßstäben völlig überzogenen politischen Strafjustiz als aus der realen Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die von diesen kleinen Zirkeln ausging.3 Die Gründungsphase der KPD unmittelbar nach 1945 stand im Zeichen einer „antifaschistisch-demokratischen“ Programmatik und schien mit der Betonung der „Einheitsfrontstrategie“ der Arbeiterklasse und anderer „demokratischer Kräfte“ einen Bruch mit den revolutionären Traditionen der Partei aus der Weimarer Zeit anzuzeigen. Diese „legalistische“ Orientierung der Kommunisten entsprach ihrer zunächst breiten Vertretung in den Länderregierungen auch der Westzonen, wo sie bis 1948 immerhin siebzehn Ministerposten innehatten.4 Mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts und der bedingungslosen Unterstützung aller Wendungen des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion veränderten sich auch die politischen Orientierungen der westdeutschen Kommunisten. Einen Einschnitt markierte dabei die Herner Parteikonferenz der KPD 1948, die praktisch die Abkehr vom Ziel der Einheitsfront bedeutete 2 Vgl. z. B. Hans Manfred Bock, Geschichte des ‚linken Radikalismus‘ in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt a. M. 1976, S. 173ff. 3 Vgl. Hubert Kleinert, Geschichte des linken Radikalismus in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1990, in: Ulrich Dovermann (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 49–94, hier S. 56. 4 Zu den Zahlenangaben vgl. Uwe Backes u. Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1993, S. 129.

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und die These von Anton Ackermann von der Möglichkeit eines „besonderen deutschen Weges zum Sozialismus“ revidierte, nach dem auch ein „friedlicher Übergang zur sozialistischen Umgestaltung“ möglich sei. In der Folge kam es zu einer Radikalisierung der westdeutschen Kommunisten, die 1952 den „unversöhnlichen und revolutionären Kampf aller deutschen Patrioten“ zum „revolutionären Sturz der Adenauer-Regierung“ propagierten.5 Mit ihren Parolen vom „revolutionären Massenkampf “ und der Radikalität ihrer politischen Rhetorik hat die KPD vor allem ihre eigene politische Isolierung gefördert und ihren politischen Gegnern ein Gutteil der Argumente geliefert, die 1951 zum Verbotsantrag und 1956 zum Parteiverbot durch das Bundesverfassungsgericht führten. In ihrer Terminologie galt Adenauer als „Kanzler des Staatsstreichs“, der mit „Faschisten, Verbrechern und Banditen unter einer Decke“ stecke. Das „amerikahörige“ Parlament sei durch „Schwindelwahlen“ gebildet worden.6 Eine politische Strategie des gezielten Einsatzes von Gewaltmitteln folgte daraus freilich nicht. Hier blieben die westdeutschen Kommunisten den leninistischen Traditionen der Kritik des Linksradikalismus und des individuellen Terrors verpflichtet, die Gewaltanwendung zwar nicht prinzipiell ausschloss, aber ihren strategisch gezielten Einsatz an die Existenz einer „objektiv revolutionären“ Situation band, die man nicht für gegeben hielt. Dass gleichwohl zu dieser Zeit immer wieder auch gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei stattfanden, hatte eher mit dem überaus harten Vorgehen der Staatsorgane in der Hochphase des Kalten Krieges zu tun. So kam es bei der Rückreise westdeutscher Teilnehmer am FDJ-Jugendtreffen in Ostberlin zu Pfingsten 1950 zu Konflikten mit der bundesdeutschen Polizei, die eine „Personalienfeststellung zwecks Seuchengefahr“ für notwendig hielt.7 Bei einer vom Bundesinnenminister aus „verkehrstechnischen Gründen“ kurzfristig verbotenen „Friedenskarawane“ gegen die bevorstehende Unterzeichnung des Deutschland-Vertrags wurde der kommunistische Jungarbeiter Philipp Müller am 11. Mai 1952 von einer Polizeikugel tödlich getroffen; zwei weitere Demonstranten wurden schwer verletzt.8

5 Dokumente der Kommunistischen Partei Deutschlands 1945-1965, Berlin (Ost) 1965, S. 137, zit. nach Bernhard Blanke u. a., Die Linke im Rechtsstaat, Bd.1, Berlin (West) 1976, S. 211ff. Vgl. auch Hermann Weber (Hg.), Der deutsche Kommunismus. Dokumente, Köln 1963, S. 530. 6 Vgl. Backes u. Jesse, Politischer Extremismus, S. 134. 7 Vgl. Stefan Wolle, Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949–1961, Berlin 2013, S. 104. 8 Vgl. Andreas Theissen, Die Aufbauphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Eckhart Siepmann (Red.), BIKINI. Die fünfziger Jahre. Kalter Krieg und Capri-Sonne, Berlin 1983, S. 80–140, hier S. 111.

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Die außerparlamentarischen Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung, an denen auch Kommunisten beteiligt waren, waren von konventionellen und legalen Formen des Protests geprägt. In der Gesamtsicht muss eher die übergroße Härte, mit der der bundesdeutsche Staatsapparat nicht nur gegen Kommunisten vorging, irritieren. Bereits 1951 waren die FDJ im Westen verboten und die Bestimmungen über Hochverrat derart verschärft worden, dass es in den Folgejahren zu 8.000 Strafverfahren kam, die zum überwiegenden Teil „Meinungsdelikte“ zum Inhalt hatten. 1956 folgte nach fünfjähriger Verfahrensdauer das KPD-Verbot.9 Dass die Partei noch kurz zuvor ihr Programm korrigiert hatte und mit Übernahme der Politik der friedlichen Koexistenz des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow nunmehr für sich in Anspruch nahm, vom Boden der Demokratie aus zu kämpfen, nutzte ihr nichts mehr.10 Linkspolitische und pazifistische Protestbewegungen und Organisationsversuche der Folgejahre bewegten sich im Wesentlichen im Rahmen der Legalität. Abgesehen von Dauerscharmützeln mit Polizei und Justiz wegen verbotener Aktivität für die illegale KPD lassen sich bis weit in die 1960er Jahre hinein nur wenige Beispiele für Regelverletzungen oder gar Gewaltanwendung finden. Die Bewegung „Kampf gegen den Atomtod“ erreichte eine breite Resonanz in der Bevölkerung. Bei den Protesten spielten linke Jugendorganisationen eine prägende Rolle. Schließlich orientierte sich die Kampagne auf eine Volksbefragung, die aber 1958 vom Verfassungsgericht verboten wurde. Dabei sah sich der Protest häufig dem Vorwurf ausgesetzt, er leiste Schrittmacherdienste für den Osten.11 1960 kam es zu einem ersten „Ostermarsch der Atomwaffengegner“. Getragen wurde er vor allem von pazifistischen Organisationen wie der „Deutschen Friedensgesellschaft“ und dem „Verband der Kriegsdienstverweigerer“, aber auch von sozialistischen und kommunistischen Kräften. Etwa zur gleichen Zeit entstand die DFU (Deutsche Friedensunion), in der Pazifisten und Theologen mit Kommunisten zusammenarbeiteten. Die aus der DDR finanziell geförderte DFU hielt sich freilich mit sozialrevolutionärer Programmatik zurück und konzentrierte sich auf Forderungen wie den Austritt der Bundesrepublik aus der NATO, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze oder die Ablehnung der Notstandsgesetze.12 9 Zur umfangreichen Literatur zum KPD-Verbot vgl. z. B. die neueste Veröffentlichung von Josef Foschepoth, Verfassungswidrig. Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, Göttingen 2017. 10 Vgl. Alexander von Brünneck, Politik und Verfolgung der KPD seit 1948, in: Bernhard Blanke u. a. (Hg.), Die Linke im Rechtsstaat, Bd.1, Berlin 1976, S. 211ff. 11 Vgl. Karl A. Otto, Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1977, S. 89. 12 Zur DFU vgl. Rolf Schönfeldt, Die Deutsche Friedens-Union, in: Richard Stöss (Hg.), ParteienHandbuch. Die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980, Opladen 1983, S. 848–876. Kritisch dazu Backes u. Jesse, Politischer Extremismus, S. 141.

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Linkssozialistische Organisierungsversuche nach der Godesberger Wende der SPD Der 1946 gegründete „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ war bis 1958 ein überwiegend parteiloyaler Hochschulverband der SPD und damit zugleich wichtiges Rekrutierungsfeld für den Führungsnachwuchs der Partei gewesen. Jetzt begann sich die parteiloyale Haltung des Verbandes allmählich zu verändern. Nachdem sich 1958 die innerverbandliche Linke bei den Vorstandswahlen durchgesetzt und die der illegalen KPD verbundene „Konkret-Gruppe“ um die von Klaus-Reiner Röhl herausgegebene gleichnamige Zeitschrift einigen Einfluss erlangt hatte, kam es zu wachsenden Konflikten mit der Mutterpartei. Als unter dem Einfluss von Röhl und seiner Ehefrau Ulrike Meinhof bei einem Kongress studentischer Anti-Atom-Ausschüsse eine deutschlandpolitische Erklärung direkte Verhandlungen zwischen Bundesrepublik und DDR anregte, war aus Sicht der SPD-Parteiführung eine politische Tabugrenze überschritten worden. Jetzt war sogar von einer „SED-Hörigkeit“ des Verbandes die Rede.13 Zwar zeigte sich der SDS kompromissbereit und tauschte die Führung aus. Doch der Riss war nicht mehr zu kitten. 1960 gründete sich mit dem Segen der Parteiführung ein „Sozialdemokratischer Hochschulbund“, der zehn Jahre später ein ähnliches Schicksal erleiden sollte wie der SDS. Den Schlussstrich unter den Bruch markierte schließlich ein Unvereinbarkeitsbeschluss des SPDParteivorstands Ende 1961. In der Folge wurde der von einigen linksorientierten Hochschullehrern unterstützte SDS zum Kristallisationspunkt einer neuen sozialistischen Selbstverständnisdiskussion. In dieser vor allem im Theorieforum „Neue Kritik“ ausgetragenen Debatte spielte die „Überlebtheit“ der alten Strategien der Arbeiterbewegung, die neue Rolle der Intelligenz als Agentur der Veränderung hochentwickelter Industriegesellschaften und die Rezeption der Erfahrungen der amerikanischen Civil-Rights-Bewegung eine wichtige Rolle. Während marxistische Hochschullehrer wie der Marburger Wolfgang Abendroth an der Orientierung auf Arbeiterklasse und Gewerkschaften als zentralem Subjekt der Veränderung festhalten wollten, sahen Autoren wie Thomas van der Vring oder Michael Vester die sozialdemokratische Arbeiterbewegung inzwischen zum „Bestandteil des bürokratischen Mechanismus moderner Gesellschaften“ umgeformt, der vornehmlich integrative und manipulative Zwecke zugunsten einer Stabilisierung der herrschenden Apparate erfülle. Sozialistische Politik müsse deshalb neu begründet werden.

13 Vgl. Tilman Fichter u. Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung, Berlin 1977, S. 59ff.

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Im Gegensatz zu den „Agitationspraktiken der alten Linken“ mit ihrem „autoritären Paternalismus“ könne dabei die „Direkte Aktion“ als Aktionsform der amerikanischen „single-purpose-movements“ in der Bürgerrechtsbewegung besser geeignet sein, gesellschaftliche Verhältnisse in Bewegung zu bringen. „Es gilt…in dem weiten Feld gesellschaftlicher Repression Inseln eines organisierten Widerstands zu schaffen und zu festigen“.14 Das hatte auch praktische Folgen. Nachdem sich die „Förderergemeinschaft“ des SDS um linke Hochschullehrer wie Abendroth und Ossip K. Flechtheim 1962 als „Sozialistischer Bund“ formiert und den Anspruch formuliert hatte, mit anderen freiheitlich-sozialistischen Kräften das Zentrum einer neuen sozialistischen Politik zu schaffen, ging der SDS diesen Weg nicht mit. Die Alten seien zu sehr auf die verpassten Möglichkeiten einer sozialistischen Neuordnung in der Bundesrepublik fixiert und ihre Orientierung auf die Arbeiterklasse als dem einzigen revolutionären Subjekt unterschätze die Apathie der Arbeitnehmer ebenso wie die neue historische Rolle der Intellektuellen.15 Die antiautoritäre Wende des SDS, APO und die Strategie der „Direkten Aktion“ In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erhielt nicht nur der linke Radikalismus einen ebenso beispiellosen wie überraschenden Schub. So viele Gesichter die von der akademischen Jugend bestimmte Bewegung des Aufbegehrens gegen die etablierten Gewalten auch hatte: Mit den Aktionen der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) verbanden sich bald auch Protestformen, die die kalkulierte Durchbrechung der gesetzlichen Spielregeln und die bewusste Provokation der staatlichen Ordnungsmacht zum Mittel des politischen Kampfes machten. Die Rolle der Wortführerschaft bei den sich ab 1967 immer weiter radikalisierenden Protesten gegen Ordinarienuniversität und Notstandsgesetz, vor allem aber gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam, übernahm der SDS, in dessen Reihen sich der Einfluss einer „antiautoritären“ Strömung immer mehr bemerkbar machte. Sie propagierte politische Aktionsformen, die sich von den Ritualen der traditionellen Protestversammlungen unterscheiden sollten und durch das 14 Thomas von der Vring, Zur Strategie des Klassenkampfes in der Gegenwart, in: Neue Kritik, Jg. 6 (1965), H. 32, S. 20–32, hier S. 30ff. 15 Vgl. z. B. Michael Vester, Falsche Alternativen, in: Neue Kritik, Jg. 5 (1964), H. 19/20, S. 5–11, hier S. 5ff.; ders., Die Strategie der direkten Aktion, in: Neue Kritik, Jg. 6 (1965), H. 30, S. 12–20, hier S. 15ff. Dagegen Wolfgang Abendroth, Alte und neue Linke, in: Neue Kritik, Jg. 4 (1963), H. 15, S. 8–11, hier S. 8ff. und ders., Die Aufgaben der jungen Intelligenz im Klassenkampf, in: Neue Kritik, Jg. 4 (1963), H. 18, S. 9–12, hier S. 9ff.

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Mittel der „Direkten Aktion“ auf spektakuläre Effekte, Herausforderung der Ordnungsmacht und „Selbstaufklärung der Betroffenen“ setzte.16 Damit war auch die Frage nach der Legitimität von illegalen Aktionen aufgeworfen. Innerhalb des SDS war es schon 1965/66 zu Spannungen zwischen der weiter von linkssozialistischen Orientierungen geprägten Verbandsspitze und den „Antiautoritären“ gekommen, die vor allem im Westberliner Verband prägenden Einfluss erlangten. Sie suchten mit radikalen Aktionen den „Ausbruch aus der radikal-akademischen Kritik“. Ihre Ursprünge lassen sich bis auf eine „Subversive Aktion“ zurückverfolgen, die 1963 entstanden war und Studenten aus München, Westberlin, Stuttgart und Hamburg anzog.17 In ihrem Selbstverständnis konnte der Mensch in dieser „repressiven Epoche“ nur durch subversive Aktionen die Chance zur Verwirklichung seiner innersten Antriebe finden. Mit ihrer Analyse der „Entfremdung“ in der modernen industriellen Zivilisation folgte sie der unter dem Einfluss des französischen Sozialphilosophen Henri Lefevre stehenden „Situationistischen Internationale“. Die Subversiven versuchten, diese „Befreiung durch die Tat“ durch Flugblattaktionen z. B. beim Deutschen Katholikentag zum Ausdruck zu bringen.18 Ende 1964/Anfang 1965 stießen ihre Wortführer, Dieter Kunzelmann und Frank Böckelmann in München, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl in Berlin, zum SDS. In Berlin bildete sich bald eine „Aktion für internationale Solidarität“, für deren Selbstverständnis eine radikale Kritik an der Organisationspraxis der alten Arbeiterbewegung grundlegend war. Zugleich widmete man sich der Analyse des Zusammenhangs zwischen den ökonomischen Interessen der kapitalistischen Industriestaaten, den politischen Regimen der Entwicklungsländer und den Möglichkeiten der Kooperation von sozialistischer Opposition im „Spätkapitalismus“ und den antikolonialen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt.19 Ende 1964 erlebte die Stadt anlässlich des Besuches des kongolesischen Miniterpräsidenten Moise Tschombé die ersten illegalen Protestaktionen. Tschombé wurde für den Tod des „Revolutionärs“ Patrice Lumumba verantwortlich gemacht. Teile der Demonstranten wichen von der vorgesehenen Demonstrationsroute ab, überraschten die polizeilichen Ordnungskräfte und erlangten damit eine Öffentlichkeitswirkung, die mit konventionellen Aktionsformen niemals

16 Vgl. z. B. Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘, S. 205ff. u. Uwe Bergmann u. a. (Hg.), Rebellion der Studenten oder die neue Opposition, Reinbek 1968. 17 Vgl. Frank Böckelmann u. Herbert Nagel, Die Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Frankfurt a. M. 1976. 18 Zu den Aktionen vgl. Bock, Geschichte des ‚linken Radikalismus‘, S. 210. 19 Vgl. ebd.; siehe Kleinert, Geschichte des ‚linken Radikalismus‘, S. 61. Vgl. auch Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, S. 46f.

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erreicht worden wäre. Die APO-Wortführer selbst haben diese Demonstration später als „Beginn unserer Kulturrevolution“ herausgestellt.20 Die Ende 1964 noch spontane Regelverletzung wurde 1965/66 zur bewusst und geplant eingesetzten Strategie der Antiautoritären. Als sie Anfang Februar 1966 mit einer illegalen Plakataktion gegen den Vietnamkrieg die Öffentlichkeit der „Frontstadt Berlin“, die in ihrer großen Mehrheit in Vietnam auch die Freiheit der Berliner verteidigt sah, provoziert hatten, kam es zum offenen Streit mit der Mehrheit des SDS-Bundesvorstandes. Während Dutschke zur Rechtfertigung der Aktion angab, die „sozialistischen Intellektuellen“ müssten den Vietcong durch „prinzipiell illegale Demonstrationen und Aktionen“ unterstützen, sah der Bundesvorstand darin einen Verstoß gegen die Prinzipien der innerverbandlichen Willensbildung und eine Gefährdung der legalen Existenz des SDS.21 Weitere Konflikte entzündeten sich an dem für Mai 1966 geplanten Kongress „Vietnam – Analyse eines Exempels“. Während der Bundesvorstand eine klassische Kongressveranstaltung vorgesehen hatte, wollten die Antiautoritären mit den „Henkern im Weißen Haus“ nicht mehr diskutieren und forderten eine „kämpferische Solidarität mit der vietnamesischen Befreiungsfront“. Erst nach langem Hin und Her kam es zu einer Einigung. Die Schlusserklärung des Kongresses, die den Vietnamkrieg als „nationalen und sozialen Befreiungskampf der Südvietnamesen“ und Modellfall für Konflikte in „halbkolonialen Agrarländern“ bezeichnete, zeigte den wachsenden Einfluss der Antiautoritären.22 Das Hauptreferat des Kongresses hatte der aus der „Frankfurter Schule“ stammende kalifornische Hochschullehrer Herbert Marcuse gehalten, der mit seinen Theorien von der „manipulativen Formierung des Bewusstseins“ als Kennzeichen „spätkapitalistischer Herrschaft“ und der möglichen revolutionären Rolle von Studenten und anderen Randgruppen bald zum intellektuellen Mentor der Antiautoritären aufstieg. Ihre aktionsorientierte und Regelverletzungen einkalkulierende Strategie bestimmte schließlich zwischen 1967 und 1969 das öffentliche Bild der APO. Dabei spielte die harte Reaktion der staatlichen Ordnungsmacht eine eskalationsfördernde Rolle. Dies zeigte sich besonders beim Polizeieinsatz aus Anlass der Proteste gegen den Schahbesuch am 2. Juni 1967, als es zur Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Westberliner Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras kam. Dass die Verantwortung für die tödlichen Folgen einer völlig unverhältnismäßigen Polizeiaktion in den ersten Tagen danach von der

20 Bock, Geschichte des ‚linken Radikalismus‘, S. 211. [Hervorh. im Orig.]. 21 Fichter u. Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 96f. 22 Zum Kongress vgl. ebd., S. 179f.

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Westberliner Politik und einem Großteil der Medien zunächst den protestierenden Studenten selbst angelastet wurde, kann in seinen Auswirkungen auf die politische Wahrnehmung in der APO kaum überschätzt werden. Am Tag nach dem Tod Ohnesorgs trafen sich trotz eines allgemeinen Demonstrationsverbots 6.000 Hochschulangehörige auf dem Gelände der FU Berlin und diskutierten über den „nicht erklärten Notstand in Westberlin“. Gleichzeitig kam eine Welle der Empörung an allen westdeutschen Universitäten in Gang.23 Am 9. Juni 1967 fand im Anschluss an die Beisetzung Benno Ohnesorgs in Hannover ein Studentenkongress statt, bei dem es zu einer aufschlussreichen Kontroverse kam. Nachdem Dutschke davon gesprochen hatte, dass die materiellen Voraussetzungen für die Machbarkeit von Geschichte gegeben seien, alles vom bewussten Willen der Menschen abhänge und dies mit strategischen Überlegungen verband, wonach Ausgangspunkt einer breiten Politisierung die „bewusste Durchbrechung“ der Spielregeln der etablierten Gesellschaft sein müsse, sah sich der mit den Studenten sympathisierende Jürgen Habermas dazu veranlasst, von einer „voluntaristischen Ideologie“ zu sprechen, die man „linken Faschismus“ nennen müsse. „Ich meine, daß es in einer Situation, die weder revolutionär noch nachrevolutionär ist[…]für Studenten, die in der Tat nichts anderes als Tomaten in den Händen haben können, nur subjektive Anmaßung sein kann, eine Strategie vorzuschlagen, die[…]darauf angelegt ist, eine sublime Gewalt[…]manifest werden zu lassen.“24

Tatsächlich waren viele öffentliche Äußerungen des fortan als Sprecher der APO in den Medien präsenten Dutschke in den Folgemonaten von einer eigenartigen Doppeldeutigkeit geprägt: Phantastereien von einem „befreiten Westberlin“, aus dem die „Konterrevolutionäre“ mittels Flugzeugen der Alliierten entfernt werden sollten, und immer wiederkehrende Vorschläge für „Aktionen jenseits des geltenden Rechts“ wechselten mit realistischeren Deutungen. Die im Fernsehgespräch mit Günther Gaus verwendete Formulierung vom notwendigen „langen Marsch durch die Institutionen“ schien sogar einen eher reformerischen Weg anzuzeigen25 , eine Interpretation, die freilich von Gerd Koenen 23 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008, S. 150ff. 24 Habermas Rede findet sich in dem Sammelband Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a. M. 1969, S. 137ff., seine Intervention auf S. 145–148. Dutschkes Beitrag findet sich (gekürzt) in: Gretchen Dutschke-Klotz u. a. (Hg.), Rudi Dutschke, Mein langer Marsch, Reinbek 1980, S. 87–89. 25 Die Formulierung ist gefallen in der ARD-Sendung „Zur Person“ mit Günther Gaus am 3.12.1967. Abgedruckt u. a. in: Dutschke-Klotz, Mein langer Marsch, S. 42ff. In derselben Sendung sprach Dutschke allerdings auch davon, dass, „wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder in Bolivien oder anderswo kämpfen werden, dass wir dann im eigenen Land auch kämpfen werden.“, S. 52.

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zurückgewiesen wird.26 Wenige Wochen zuvor hatte Dutschke von sich als „Berufsrevolutionär“ und vom notwendigen Schritt zur „illegalen Arbeit, zur Sabotage der Militärzentren“ und vom Aufbau „illegaler Kader“ gesprochen.27 Bald zeigte sich, dass Habermas’ Bedenken gegen den „scheinrevolutionären Voluntarismus“ der Antiautoritären so abwegig nicht gewesen war. Der von sozialistischen Organisationen aus verschiedenen europäischen Ländern getragene Vietnamkongress im Februar 1968 in Westberlin war nicht nur geprägt von revolutionärem Pathos. Der Kongress tagte unter der riesigen Fahne der vietnamesischen Befreiungsfront FNL und den Worten der inzwischen toten Revolutionsikone Che Guevara „die Pflicht des Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen“. Dutschke und viele andere hatten sich inzwischen auch in eine Situation hineinsuggeriert, die ihnen Vietnam als das „Spanien unserer Generation“ erscheinen ließ. Voller Revolutionsromantik wollte man Geld für Waffen sammeln, damit ein Schiff beladen, eine Besatzung ausrüsten und nach Vietnam fahren. Diese Aktion sollte nicht nur die Solidarität der europäischen Jugend mit dem vietnamesischen Volk demonstrieren, sondern auch die Keimzelle für eine neue „Internationale Brigade“ in Anknüpfung an den spanischen Bürgerkrieg schaffen – ein erster Schritt der praktischen Verbindung des revolutionären Kampfes in den Metropolen mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Für das ganze Unternehmen hoffte man sogar auf Unterstützung durch die FDJ der DDR.28 Das immer häufigere Changieren mit Umsturz- und Revolutionserwartungen ging einher mit der radikalen Absage an den Parlamentarismus. Während die Traditionalisten im SDS weiter das Projekt einer neuen sozialistischen Sammlungsbewegung konventionellen Typus verfolgten und sich an der Gründungskonferenz eines „Sozialistischen Zentrums“ beteiligten, wandten sich die Antiautoritären gegen die „Anerkennung des Parlaments als Tribüne des Klassenkampfs“. Nur ein Rätesystem könne eine tatsächliche Alternative für die selbstbestimmte Organisierung der unterdrückten Massen bieten. Einfluss auf diese Vorstellungen hatte die radikale Parlamentarismus-Kritik von Johannes Agnoli, nach der im aktuellen Parlamentarismus die Volksvertretung längst in ein Instrument zur Repräsentation von Herrschaft und zur Herstellung von Massenloyalität umgeschlagen sei. Aufgrund dieser „Transformation der Demokratie“ könne eine „systemtranszendierende“ politische Arbeit nur außerhalb der Parlamente stattfinden.29

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Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 35ff. Ebd., S. 57–60. Ebd., S. 60ff. Vgl. auch Fichter u. Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 123ff. Siehe Johannes Agnoli u. Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967.

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Dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 folgte eine weitere Eskalation von Radikalität und Gewalt. Die Osterunruhen brachten nicht nur eine Reihe von gewaltsamen Aktionen gegen die Verlagshäuser des Axel Springer-Verlages, dessen Zeitungen eine Mitverantwortung am Attentat gegeben wurde. Die Osterunruhen forderten auch zwei Todesopfer.30 Während die antiautoritären Wortführer die praktizierte „Gewalt gegen Sachen“ ausdrücklich verteidigten, bröckelte jetzt das Wohlwollen, das ein Teil der liberalen Öffentlichkeit in der Zeit nach dem 2. Juni 1967 für die Protestbewegung gezeigt hatte. Zwar erreichte die APO mit der Bonner Großdemonstration gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968 noch einmal einen Mobilisierungshöhepunkt. Zugleich schufen die Unruhen in Frankreich, wo aus Studentenprotesten ein Generalstreik und schließlich sogar eine Staatskrise geworden war, weitere Anlässe für revolutionäre Träumereien.31 Während sich in vielen kleineren Städten Proteste überhaupt erst zu regen begannen, geriet die APO nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Frühsommer 1968 in eine erste Identitätskrise, die bald in eine „Entmischung“ und Auflösung in unterschiedliche Fraktionierungen einmünden sollte. Habermas hatte zu Pfingsten 1968 den Protestierenden eine „Verwechslung der Symbole mit der Wirklichkeit“ vorgehalten, die den „Tatbestand der Wahnvorstellung“ erfülle. Die Taktik der „Scheinrevolution“ müsse einer „Strategie der massenhaften Aufklärung“ weichen.32 Nachdem unter dem Einfluss der Antiautoritären die Vorstellung dominiert hatte, allein die Jugend und die sozialrevolutionäre Intelligenz seien in der Lage, eine Perspektive sozialistischer Gesellschaftsveränderung zu öffnen, mehrten sich jetzt die Stimmen, die die „Rekonstruktion einer kämpferischen Arbeiterbewegung“ für möglich hielten. Gleichzeitig besannen sich weite Teile der Studenten wieder auf die Hochschulen als „Kampffeld“ und kämpften dort mit wachsender Militanz um ein „sozialistisches Studium“ und „befreite Inseln“, was vor allem Streiks und Institutsbesetzungen bedeutete und an manchen Hochschulinstituten für chaotische Verhältnisse sorgte. Im Herbst 1968 erlebte Westberlin eine weitere Eskalation der Gewaltspirale. Anlässlich einer Solidaritätsdemonstration mit dem von einem Ehrengerichtsverfahren betroffenen APO-Anwalt Horst Mahler gingen am 4. November 1968 etwa 1.000 Studenten vor dem Tegeler Landgericht mit Pflastersteinen zum Angriff auf die Polizisten über, die zum Schutz des Gerichts aufgeboten waren. Dabei wurden 130 Polizisten und 21 Demonstranten verletzt. Diesmal ging 30 Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 153ff. 31 Vgl. Fichter u. Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 129ff. 32 Jürgen Habermas, Die Scheinrevolution und ihre Kinder, in: Ders. (Hg.), Protestbewegung und Hochschulreform, S. 188ff.

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die Gewalt eindeutig von den Demonstranten aus. Ihre Brutalität löste weit verbreitetes Entsetzen aus. Auf einer Veranstaltung am folgenden Tag sprach der mit den Studenten sympathisierende Theologe Helmut Gollwitzer davon, dass „nur für Faschisten“ Gewalt kein Problem sei. Zwar war man sich im SDS durchaus im Klaren, dass sich eine solche Situation nicht wiederholen durfte. Ein ernsthafter Versuch, die Eskalation der Gewalt einzudämmen, wurde freilich nicht unternommen.33 Stattdessen begann der Weg des SDS in die Selbstauflösung. Nachdem die „Traditionalisten“ im Herbst 1968 praktisch aus dem Verband ausgestiegen waren, begann eine Zersplitterung in die einzelnen Hochschulstandorte. 1969 war der SDS als Bundesverband praktisch nicht mehr existent; im März 1970 wurde er auch formell aufgelöst. Inzwischen hatten die spontanen Septemberstreiks in bundesdeutschen Großbetrieben 1969 eine euphorische Reaktion bei den verschiedenen Fraktionen der „neuen Linken“ ausgelöst. Die Arbeiterklasse war anscheinend doch nicht so saturiert und deformiert, wie es die „Antiautoritären“ angenommen hatten. Das brachte den endgültigen Durchbruch zur „proletarischen Wende“34 . An der FU Berlin gab es jetzt die ersten „Roten Zellen“. Ihre Rezeption der Geschichte der Arbeiterbewegung mündete in die Bildung verschiedener marxistisch-leninistischer Kaderorganisationen, die für den Kampf um die „Überwindung der kapitalistischen Ausbeuterherrschaft“ das Bündnis mit den „arbeitenden Massen“ suchte. Die Antiautoritären und die Gewalt Angesichts der Vielzahl der sich nach dem 2. Juni 1967 immer mehr radikalisierenden Schriften und Pamphlete, in denen sich die Verfasser in eine quasi-revolutionäre Situation hineinsuggerierten, fällt es schwer, alle diese theoretischen Begründungsversuche für die Legitimität eines überschäumenden Aktionismus und subjektiven Radikalismus zum Nennwert zu nehmen. Allein im Kursbuch, dem linken Theorieorgan dieser Zeit, sind etliche Beispiele dafür dokumentiert – von Rabehls Bericht aus dem „revolutionären Kuba“ bis zu den Fantastereien über ein „befreites Westberlin“35 . Spiel und Ernst, Phantasie

33 Vgl. Fichter u. Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 137. 34 Vgl. zur „proletarischen Wende“ u. a. Tilman Fichter u. Siegward Lönnendonker, Von der „Neuen Linken“ zur Krise des Linksradikalismus, in: Georgia Tornow u. a. (Hg.), Die Linke im Rechtsstaat, Bd. 2, Berlin 1979, S. 100ff. 35 Vgl. z. B. Hans Magnus Enzensberger, Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler, in: Kursbuch 14, Frankfurt a. M. 1968, S. 146–174.

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und Wirklichkeit, Spaß an der Provokation und Spiel mit dem Feuer lagen eng beieinander und überlagerten sich. Aber es war halt doch kein Spiel, bei dem es nur darum ging, auszureizen, wie weit man gehen konnte. Die APO stieß zumindest im akademisierten Teil der Jugend auf einen beträchtlichen Resonanzboden. Anfang 1968 gaben 73% der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, Sympathien mit den Protestierenden zu hegen; 58% wollten sogar selbst demonstrieren.36 Gleichzeitig stieß der Protest bei der übergroßen Mehrheit der Älteren auf schroffe Ablehnung und aggressive Abwehr („geht doch nach drüben“, „ab ins Arbeitslager“, „langhaariges Pack“, „FU-Chaoten“ usw.). Die Sympathien der jungen Leute galten dem Aufbrechen vielerlei alter Strukturen, sicher nicht den Gewaltaktionen am Tegeler Weg – oder der Bildung „illegaler Kader“. Das musste den Wortführern der Rebellion eine Verantwortung zuweisen, der sie freilich in keiner Weise gerecht werden konnten. Es mag fraglich sein, ob man das Changieren der meist ja noch sehr jungen Rebellen zwischen verschiedensten linksradikalen Deutungsmustern und ihre Selbststilisierung als „Revolutionäre“ immer so ganz ernst nehmen musste. Andererseits aber war das Ganze kein komödiantischer Aufzug einer nach neuen Aufbrüchen und Zielen suchenden Jugend im Wohlstandswunderland Deutschland, sondern eine politische und gesellschaftliche Wirklichkeit mit ganz realen Risiken und Konsequenzen – und beträchtlichen Opfern. Weil das so ist, kommt man an der Feststellung nicht vorbei, dass die Avantgarde der heute von vielen als Motor einer demokratischen Umgründung der Bundesrepublik verstandenen APO, die Antiautoritären im SDS, nichts weniger als die radikale Ablehnung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik propagierten – von der Ablehnung des Parlamentarismus bis zur offenen Akzeptanz militanter Aktionsformen. Hätte sich der SDS nicht selbst aufgelöst, wäre er wohl irgendwann verboten worden – so wie es dem Heidelberger Verband 1970 tatsächlich auch erging.37 In Wahrheit war der Grat eher schmal, der einen Teil der Antiautoritären von der RAF trennte, die ab Mai 1970 den bewaffneten Kampf in den westlichen Ländern propagierte und dabei an das Vorbild der lateinamerikanischen StadtGuerilla anknüpfen wollte. Insoweit ist auch der Eindruck einer von Anfang an völlig isolierten Gruppe von „durchgeknallten“ Desperados so nicht richtig.

36 EMNID-Umfrage, veröffentlicht in: DER SPIEGEL, 12.02.1968, zit. nach Fritz Sack u. Heinz Steinert, Protest und Reaktion. Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, Opladen 1984, S. 205. 37 Im Sommer 1970 wurde der in Heidelberg noch bestehende Verband von der badenwürttembergischen Landesregierung verboten, vgl. Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘, S. 264.

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Dass manche in den Abgrund des Terrorismus hineingerieten, andere dagegen nicht, ist mitunter auch Ergebnis von Glück und biographischen Zufällen gewesen. Tatsächlich war die romantisierende Identifizierung mit den Guerillas in der Dritten Welt von Anfang an bei den Antiautoritären stark verbreitet. Die Schriften und Konzepte von Franz Fanon und Che Guevara wurden fleißig rezipiert, ebenso die Bemerkungen Mao Tse-tungs zum Guerillakampf im „Langen Marsch“. Von der chinesischen Kulturrevolution als vermeintlich eindrucksvollem Versuch einer „permanenten Revolution“ und des antibürokratischen Kampfes gegen erstarrte Funktionärsherrschaft ging eine erstaunliche und im Rückblick erschreckende Faszination aus.38 Im Unterschied zu Meinhof und Mahler freilich hielten die meisten Theoretiker der Antiautoritären daran fest, dass die Bewegungen in den Ländern der Dritten Welt zwar als Stimulatoren für eine neue Moral und für die Kritik an der bürokratischen Erstarrung der Arbeiterbewegung, aber doch nicht unmittelbar als Vorbilder für den politischen Kampf in den industrialisierten Metropolen dienen konnten. Beim Frankfurter Szenepapst Hans-Jürgen Krahl las sich das so: „Die […] abstrakte Gegenwart der Revolution in der Dritten Welt liefert der Protestbewegung in den Metropolen ein neues weltgeschichtliches Bezugssystem, an dem sie die Möglichkeit der Organisation einer eigenen revolutionären Politik orientieren kann. Zwar kann sich in den Metropolen der Kampf nicht als eine unkritische Übertragung der Guerillastrategie darstellen. Diese liefert aber das Modell kompromißlosen Kampfes, vor dem die traditionelle Politik der verfestigten Institutionen verurteilt werden kann“.39

Hier wurde die „unkritische Übertragung“ der Guerilla als Modell zwar zurückgewiesen. Aber was sollte es bedeuten, wenn Krahl dann doch vom „Modell kompromißlosen Kampfes“ sprach? Gedankliche Welten lagen nicht zwischen der Propagierung der „vollen Identifikation mit der Notwendigkeit des revolutionären Terrorismus in der Dritten Welt“ als Bedingung für die Entwicklung „der Formen des Widerstandes bei uns, die im wesentlichen gewaltsamen Charakter tragen ohne diesen[…]schlimmen Aspekt des Hasses und des revolutionären Terrors“ bei Dutschke40 und der Rechtfertigung für die Gewalttaten der RAF in ihrer Schrift „Der bewaffnete Kampf in Westeuropa“41 . 38 Ebd., S. 268ff. Vgl. auch Götz Aly, Unser Kampf – 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a. M. 2008, S. 106ff. 39 Zit. nach Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘, S. 277. 40 Zit. nach Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 49. 41 Die Schrift erschien 1971 unter dem irreführenden Titel „Die neue Straßenverkehrsordnung mit den neuen Verkehrszeichen und Hinweisschildern sowie Bußgeldkatalog“.

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Es wäre sicher verfehlt, der APO-Ikone Dutschke, von deren Persönlichkeit, die Koenen als „Mischung aus Freundlichkeit und Fanatismus“ beschreibt42 , eine besondere charismatische Wirkung ausging, eine Mitverantwortung für den RAF-Terrorismus zuzuschieben. Doch die Bedeutung Dutschkes als Symbolfigur einer im Geschichtsbild der Deutschen heute überwiegend positiv konnotierten Bewegung von 1968, der trotz mancher Schattenseiten eine für die Gesellschaft befreiende und demokratisierende Wirkung zugesprochen wird, kann nicht dazu führen, solche Geistesverwandtschaften in der Begründung der „revolutionären Tat“ einfach auszublenden.43 Bomben zu legen und Polizisten zu erschießen ist etwas anderes als revolutionären Gewaltphantasien nachzuhängen und sich in eine wilde Revolutionsrhetorik hineinzusteigern. Aber dass das eine mit dem anderen nun gar nichts zu tun gehabt hätte, lässt sich auch nicht sagen. Andererseits gilt aber auch: Wer Dutschke noch selbst erlebt hat, kann sich ihn als Killer nicht vorstellen. Die RAF und der Linksterrorismus Die RAF war ein Produkt von Radikalisierungsprozessen in der APO nach Ostern 1968. War der von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein im Frühjahr 1968 verübte Brandanschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus, das die Täter als Protest gegen den Vietnamkrieg zu rechtfertigen suchten, in der APO noch auf einhellige Ablehnung gestoßen, so erschienen in der Folge der immer militanter werdenden Konflikte mit der Staatsmacht 1969 auch Baader und seine Freunde einer wachsenden Zahl politischer Aktivisten als „Opfer der Klassenjustiz.“44 Gleichzeitig bildete sich in Westberlin ein Milieu heraus, in dem die Neigung zur Militanz zunahm. Im Herbst 1969 erlebte die Stadt eine Serie von Anschlägen. Den unrühmlichen Höhepunkt bildete ein Brandanschlag auf das jüdische Gemeindehaus im November, der auf das Konto einer Gruppe um Dieter Kunzelmann ging, die sich in Anlehnung an südamerikanische Guerilla-Gruppen „Tupamaros Westberlin“ nannte.45 Kunzelmann hatte zu den Gründern der „Kommune 1“ gehört und sich als Wortführer einer

42 Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 48f. 43 Der Rekonvaleszent Dutschke soll in einem Brief an die SDS-Delegiertenkonferenz vom September 1968 seinen Genossen vorgeschlagen haben, in die Illegalität zu gehen und „klandestine Vierer- oder höchstens Sechsergruppen“ aufzubauen. Zit. nach ebd., S. 131. 44 Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘, S. 278. 45 Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 365ff. Zu diesem Milieu vgl. auch Kraushaar, Achtundsechzig, S. 213ff.; siehe ebenfalls Michael „Bommi“ Baumann, Wie alles anfing, München 1975.

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„Spaßguerilla“ hervorgetan. Mit Spaß hatte dieser Bombenanschlag nun freilich gar nichts zu tun.46 Als eigentliche Geburtsstunde der RAF muss dann der 14. Mai 1970 gelten. Andreas Baader und Gudrun Ensslin waren aufgrund des anhängigen Revisionsverfahrens zunächst aus der Haft entlassen worden. Nachdem ihre Revision verworfen worden war, waren sie untergetaucht. Zuvor hatten sie in der „Heimkampagne“ gegen die damals noch bestehenden Erziehungsheime für „schwer erziehbare Jugendliche“ die Bekanntschaft der Journalistin Ulrike Meinhof gemacht, die inzwischen nach Berlin übergesiedelt war, einen Radikalisierungsprozess durchmachte und schon mit der Aufgabe ihrer „bürgerlichen Existenz“ liebäugelte. Nachdem Baader in Berlin in eine Polizeikontrolle geraten und festgenommen worden war, wurden Pläne für seine Befreiung geschmiedet. Mit dabei war auch Horst Mahler, der seinerseits in den Untergrund gehen wollte und bereits mit der Beschaffung von Waffen befasst war.47 Die Gruppe entschied sich, Andreas Baader bei einer „Ausführung“ in ein Institut der FU Berlin zu befreien. Die Voraussetzungen dafür musste Ulrike Meinhof schaffen, die den Antrag auf die Ausführung stellen sollte. Sie wolle gemeinsam mit Baader ein Buch über Heimerziehung machen und müsse dazu mit ihm Literatur in einer Bibliothek der Universität sichten. Bei der Befreiungsaktion kam es zu einer Schießerei, bei der ein Justizangestellter schwer verletzt wurde. Die „Befreier“ konnten schließlich durch einen Sprung durch das Fenster entkommen. Unter ihnen befand sich auch Ulrike Meinhof, die ursprünglich die überraschte Unbeteiligte hatte spielen sollen. Da umgehend die Fahndung eingeleitet wurde und schon wenige Stunden später die Bilder der Gesuchten in ganz Westberlin aushingen, war die Entstehung der RAF als „militanter Untergrundorganisation“ das Ergebnis der von ihr selbst geschaffenen Konstellation und Handlungsbedingungen.48 Es ist hier nicht der Raum, die Geschichte der RAF im Einzelnen nachzuzeichnen. Von der Waffenausbildung bei palästinensischen Organisationen im Nahen Osten über die Einbrüche und Banküberfälle nach ihrer Rückkehr im Herbst 1970 bis zu den verschiedenen Anschlägen gegen das Hauptquartier der US-Truppen in Heidelberg und das Springer-Hochhaus in Hamburg zog sich schon bis zur Festnahme der führenden Köpfe im Frühjahr 1972 eine Blutspur durch das aufgeschreckte und aufgeregte Land. Auf beiden Seiten – Polizei und RAF – waren Todesopfer zu beklagen.49 46 Aly, Unser Kampf, S. 161; eingehender Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005. 47 Vgl. die detaillierten Schilderungen bei Butz Peters, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004; vgl. auch Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1986. 48 Vgl. Peters, Tödlicher Irrtum, S. 177ff. 49 Ebd., S. 197ff.

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Doch mit den Festnahmen war das Morden noch lange nicht zu Ende. Eine über die Kampagne gegen die als „Isolationsfolter“ dargestellten Haftbedingungen der Inhaftierten rekrutierte „zweite Generation“ der RAF machte in den Folgejahren mit Geiselnahmen, Mordanschlägen und Besetzungsaktionen von sich reden, die der Freipressung der Täter der ersten Generation dienen sollten und mit Hilfe einiger RAF-Anwälte von diesen aus der Haft koordiniert wurden.50 Nach der Erschießung des Berliner Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann, der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und dem Anschlag auf die Deutsche Botschaft in Stockholm 1974/1975 wurde dann das Jahr 1977 zum traurigen Höhepunkt der terroristischen Aktionen. Die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und des Bankiers Jürgen Ponto, schließlich die Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und die mit einer dramatischen Befreiungsaktion der GSG 9 endende Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ lieferten den Kulminationspunkt einer gewaltsamen Eskalation, an deren Ende auch der Tod der RAF-Häftlinge im Stammheimer Gefängnis stand.51 Damit war die Welle der terroristischen Anschläge zwar noch nicht vorüber. Auch in den 1980er Jahren waren noch zahlreiche Opfer zu beklagen, z. B. 1989 der Deutsche BankChef Alfred Herrhausen. Gleichwohl bildete der „Deutsche Herbst“ 1977 eine Zäsur. Die linksradikale Szene, in der sich zwar kaum Zustimmung zu den Morden und Entführungen, aber doch gewisse Sympathien für die „Genossen“ gehalten hatten, fand ab 1977 zu einer deutlicheren Form der Distanzierung von Gewalt. Die erste Generation der RAF zielte erklärtermaßen darauf, durch Gewaltaktionen ein Klima für die Ausbreitung des „bewaffneten Widerstands“ in der Bundesrepublik zu schaffen. Mit ihrem „Konzept Stadtguerilla“ und der Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ verband die Gruppe den Anspruch einer theoretischen Begründung und einer politischen Strategie. Bereits wenige Wochen nach der Baader-Befreiung hatte Ulrike Meinhof in einem den Medien zugespielten Tonband die Kritik der linken Szene an der Aktion zurückgewiesen. „Wir sind also der Meinung, die intellektuelle Kritik […] ignorieren zu können, weil wir uns an ganz andere Gruppen wenden. Wir glauben, dass es zu einer politischen Zusammenarbeit kommen muss, organisierend und in Bezug auf Aktionen mit dem Teil des Proletariats, der keine Gratifikationen dafür erhält in dieser Gesellschaft, daß er sich ausbeuten lässt“. Das seien z. B. kinderreiche Familien, weibliche Fabrikarbeiter und proletarische Jugendliche. Gewalt sei gerechtfertigt: „Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch 50 Ebd., S. 305ff. 51 Vgl. Butz Peters, 1977. RAF gegen Bundesrepublik, München 2017.

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[…] Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden[…]Was wir machen und gleichzeitig zeigen wollen, das ist: daß bewaffnete Auseinandersetzungen durchführbar sind, daß es möglich ist, Aktionen zu machen, wo wir siegen“.52 In der Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ beschrieben die Verfasser, wie sich aus ihren bewaffneten Aktionen die soziale Revolution entwickeln sollte. „In der Anfangsphase bilden sich dezentralisiert und unabhängig voneinander einzelne Partisanengruppen, die Kommandoaktionen unternehmen“. Würden diese Einheiten eine kluge Politik verfolgen, „dann begreifen die Massen schnell die bewaffnete Aktion als ein erfolgreiches Mittel zur Sicherung ihrer Interessen“. Die bewaffneten Gruppen müssten „in den Massen schwimmen wie die Fische im Wasser“ – eine Anleihe bei Mao Tse-tung.53 Die Argumentation ließ mit ihrer Betonung der „Selbstaktion“ wesentliche Elemente der theoretischen Selbstverständigung der Antiautoritären erkennen: „Die bürgerliche Propaganda will die Massen gerade von selbständigem politischen Handeln fernhalten und lediglich die Akklamation zu einem ,stellvertretenden‘ Handeln durch politische Parteien und Parlamentarier erreichen. […] Die revolutionäre Propaganda dagegen zielt auf die eigene, selbstbewußte Aktion der Massen“54

Die Leitmotive antiautoritärer Organisationskritik und der angeblich „bürokratischen Erstarrung“ der Organisationen der Arbeiterbewegung tauchen ebenso auf wie die Vorstellung von der revolutionären Rolle der Studenten. Antiautoritäre Stereotypen und zahlreiche Marx-, Engels-, Lenin- und Mao-Zitate wurden aufgeboten, um eine Strategie der Kaderbildung und der revolutionären Aktion zu begründen. Die Schlussfolgerung lautete: „Die Partisaneneinheit entsteht aus dem Nichts. Jeder kann anfangen. Er braucht auf niemanden zu warten. Einige Dutzend Kämpfer, die wirklich beginnen und nicht nur endlos diskutieren, können […] eine Lawine auslösen. […] Das Mittel des bewaffneten Kampfes ist praktisch zu entdecken. Falsch wäre es, dieses Mittel erst einzusetzen, wenn die ‚Zustimmung der Massen‘ sicher ist; denn das hieße, auf diesen Kampf gänzlich verzichten, weil diese ,Zustimmung der Massen‘ allein durch den Kampf erreicht werden kann“.55

In „Stadtguerilla und Klassenkampf “ gab sich die Gruppe 1972 sogar sicher, dass „im gegenwärtigen Stadium der Geschichte“ niemand mehr bestreiten 52 53 54 55

Zit. nach Peters, Tödlicher Irrtum, S. 196f. Zit. nach ebd., S. 270. Zit. nach Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘, S. 279. Zit. nach ebd., S. 279f.

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könne, „dass eine bewaffnete Gruppe, so klein sie auch sein mag, bessere Aussichten hat, sich in eine große Volksarmee zu verwandeln, als eine Gruppe, die sich darauf beschränkt, revolutionäre Lehrsätze zu verkünden“.56 Zwischen den Selbstrechtfertigungen der RAF und den Vorstellungswelten der antiautoritären Wortführer von 1968 gab es Berührungspunkte. Ob es die romantisierende Identifikation mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt war, die von Ulrike Meinhof bis zur Befürwortung einer Tupamaro-Strategie unter den Bedingungen der Bundesrepublik Deutschland weitergetrieben wurde, ob es die voluntaristische und existentialistische Vorstellung von der „revolutionären Tat des Einzelnen“ als Fanal für den Aufstand der Massen war – die Herkunft der RAF aus dieser APO-Tradition blieb erkennbar. Dass die RAF Anfang der 1970er Jahre nur der besonders „prominente“ Teil einer linksrevolutionären und militanten Gesamtszenerie war, wird deutlich, wenn man den Blick über die RAF hinaus wirft. Der Gedanke zur Aufnahme des „bewaffneten Kampfes“ entstand um 1970 an vielen unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Kreisen. So hatten die RAF-Gründer ursprünglich auch mit einer Gruppe um Dieter Kunzelmann verhandelt, die jedoch als „Tupamaros Westberlin“ lieber ihre eigenen Wege gehen wollte. Sie wiederum standen in Verbindung mit aus dem „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ hervorgegangenen Gruppen um Georg von Rauch, Ralf Reinders und Bommi Baumann, die sich „Der Blues“ nannten. In dieser diffusen Szene, die eine ganz eigene Mischung aus Drogenkonsum, Kleinkriminalität, Subkultur und politischer Militanz darstellte und sich über Zeitschriften wie die „883“ bald auch als „gegenkulturelles“ Milieu etablierte und in dem sich auch die legendäre Rockband Ton Steine Scherben bewegte, galten auch Terror und Gewalt wie Sex als Form von individuellem Spannungsabbau und Teil eines „hedonistischen Lebensgefühls“.57 Ihre Parolen wie „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein“ oder „macht kaputt, was euch kaputt macht“, waren keineswegs nur selbstironisch gemeint. Die Szene kultivierte auch ihre „Hassgefühle“ und „Eliminierungsphantasien“ gegenüber der Polizei. „Die Kombination von Gewaltobsession und Rauschzustand wurde als Krönung eines Freiheits- und Unabhängigkeitsgefühls gefeiert.“58 Es gab sogar Gruppen, die im Ruhrgebiet eine „Rote Ruhrarmee“ aufbauen wollten. Zu ihnen gehörten Peter Paul Zahl und der Arzt und APO-Aktivist Karl Heinz Roth. Dazu kamen die „Tupamaros München“ um Fritz Teufel und Rolf Heißler.59 56 57 58 59

Zit. nach Peters, Tödlicher Irrtum, S. 272. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 213ff. Ebd., S. 215. Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 365ff.

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Zum informellen Sammlungspunkt dieser Szene wurde ab 1972 die „Bewegung 2. Juni“. Sie stand für alle, die sich dem Führungsanspruch der RAF nicht unterwerfen mochten. Nach internen Auseinandersetzungen gingen die verbliebenen Mitglieder an die Planung und Durchführung systematisierter Formen der Gewalt. Sie waren verantwortlich für die Erschießung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann nach dem Tod von Holger Meins im November 1974 und die Entführung von Peter Lorenz im März 1975. Am Beginn der 1970er Jahre steht auch die Gründung der „Revolutionären Zellen“, die auf eine Frankfurter Gruppe um Winfried Böse und Hannes Weinrich zurückgehen soll, die zuvor als Aktivisten des „Roten Gallus“ und eines „Black Panther-Komitees“ in Erscheinung getreten waren. Ab 1974 tauchte dann die Bezeichnung „Revolutionäre Zellen“ auf. Böse soll früh Kontakte zum geheimnisumwitterten Terroristen „Carlos“ unterhalten und beim Münchner Olympia-Attentat des „Schwarzen September“ logistische Unterstützung geleistet haben.60 Die Aktionen der Revolutionären Zellen richteten sich in der Regel gegen Sachobjekte mit Symbolfunktionen. Dazu gehörten staatliche Einrichtungen ebenso wie industrielle Anlagen. Dabei sollte das Risiko einer Entdeckung tunlichst vermieden werden, um den Tätern den Fortbestand ihrer bürgerlichen Existenz zu ermöglichen. 1975 begingen die Revolutionären Zellen einen Anschlag auf das Bundesverfassungsgericht, der mit der Gerichtsentscheidung zur Reform des § 218 begründet wurde.61 Ein großer Teil der „zweiten Generation“ der RAF entstammte dem „Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg“ (SPK), das sich dort unter Führung des bald suspendierten Assistenzarztes Wolfgang Huber gebildet hatte. Das SPK wollte Krankheit als „Waffe im Klassenkampf “ einsetzen. Sie sei als „Protest des Lebens gegen das Kapital“ eine revolutionäre Produktivkraft des Menschen. Zeitweise konnte das SPK, dessen „Patienten-Infos“ sich zum Kampf der „Stadtguerilla“ bekannten, etwa 500 Menschen mobilisieren. Im Juli 1971 wurde es in einer groß angelegten Polizeiaktion mit der Verhaftung seiner führenden Köpfe zerschlagen. Mehr als ein Dutzend von SPK-Aktivisten schlossen sich der RAF an.62 Alle diese Gruppen waren zunächst Teil einer „revolutionären“ Szene, mit der sie in vielfältiger Weise verwoben blieben. Dafür sprechen nicht nur die Erfolge, die zumal Ulrike Meinhof verbuchen konnte, wenn sie 1970/71 auf Quartiersuche ging. Auch die langatmigen Erklärungen, in denen die RAF 60 Vgl. ebd., S. 367. 61 Vgl. ebd., S. 336–339. 62 Vgl. Kleinert, Linker Radikalismus, S. 78.

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noch im Stammheimer Prozess ihr eigenes Vorgehen zu rechtfertigen suchte, offenbarten vielerlei Parallelen zu den Weltbildern der linksradikalen Szene der frühen 1970er Jahre. Dass Koenen die RAF der ersten Generation als eine nach ihrer ideologischen Ausrichtung „bewaffnete ML-Organisation“ bezeichnet hat, erscheint deshalb ganz treffend.63 Die proletarische Wende der APO und der Maoismus Im maoistischen Spektrum entstanden zwischen 1968 und 1973 fünf Gruppierungen von einer gewissen überregionalen Bedeutung: Die KPD/AO, die KPD/ML, der KABD, der KB-Nord sowie der KBW. Aus den Wirren um die „richtige Linie“ beim „Aufbau der proletarischen Massenorganisation“ hatten sich in Westberlin schon im Herbst 1969 drei verschiedene Organisationsansätze entwickelt: Die ML-Richtung Kommunistischer Bund/Marxisten-Leninisten, die, entstanden als antiautoritäre JugendRevolte gegen alles, von den SDS-Autoritäten bis zur Institution Schule oder Universität, bald mit dem Vokabular und der Attitüde des Stalinismus und der chinesischen Kulturrevolution auftrat, die KPD/AO (Aufbauorganisation), die in heftiger Abgrenzung von der „revisionistischen“ Neugründung DKP den Aufbau einer kommunistischen Kaderpartei betrieb, dabei aber der ML „praxisfernen Dogmatismus“ vorhielt, schließlich eine „Proletarische Linke/Parteiinitiative“, die an die Tradition des Rätekommunismus anzuknüpfen suchte, aber 1971 wieder verschwand.64 Während auch der KB/ML eine Episode blieb, verfolgte die „AO“ zielstrebig den Aufbau der „Kommunistischen Partei“. Ihr wichtigstes Rekrutierungsfeld bildeten die „Roten Zellen“ an der FU Berlin, wo man den Studenten suggerierte, sie würden im Klassenkampf benötigt. Ab Sommer 1971 ging die KPD/AO dazu über, sich auch nach Westdeutschland auszudehnen. Fortan entfiel der Namenszusatz AO. Bis 1975 soll die Zahl der „Kader“ auf etwa 1000 angewachsen sein. Mit diversen Nebenorganisationen wie dem „Kommunistischen Jugendverband“ (KJVD) und dem „Kommunistischen Studentenverband“ (KSV) konnte die KPD in ihren besten Zeiten etwa 5.000 Aktive organisieren.65 In der von den früheren APO-Aktivisten Christian Semler und Jürgen Horlemann geführten KPD aktiv war z. B. auch die spätere Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer. 63 Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 368. 64 Zur komplizierten Entstehungs- und Fraktionierungsgeschichte der maoistischen Gruppen in Westberlin vgl. z. B. Backes u. Jesse, Politischer Extremismus, S. 149. Ausführlich Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance, Köln 1983, S. 61ff. 65 Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 288.

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Bereits Ende 1968 war auf Initiative des KPD-Renegaten Ernst Aust die KPD/ML entstanden, die sich 1970 in mehrere Fraktionen aufsplitterte, die sich gegenseitig des „Trotzkismus“ oder des „Revisionismus“ beschuldigten. Aus diesen Konflikten gingen 1972/73 eine erneuerte KPD/ML, die sich bald an der KP Albaniens orientierte, sowie der „Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands“ (KABD) hervor, der sich 1982 in „Marxistisch-leninistische Partei Deutschlands“ (MLPD) umbenannte. Während die MLPD noch heute besteht, hat sich die KPD/ML 1986 mit der trotzkistischen „Gruppe Internationaler Marxisten“ (GIM) zur „Vereinigten Sozialistischen Partei“ vereinigt und ist zehn Jahre später in der PDS aufgegangen.66 Eine auf Norddeutschland begrenzte Gründung blieb der KB-Nord, der ab 1971 als „Kommunistischer Bund“ firmierte und sich auf die „Mao Tse-tungIdeen“ und den frühen Stalin bezog. Der KB wollte zunächst Kader sammeln und revolutionäre Betriebsarbeit leisten; einen Parteiaufbau dagegen hielt man für verfrüht. Die Organisation funktionierte zunächst eher als eine Art Geheimbund, dessen Leitungsgremium selbst den eigenen Mitgliedern nicht bekannt war. Gleichwohl erreichte der KB einige Rekrutierungserfolge. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Zeitschrift Arbeiterkampf, in der es einen gewissen linken Pluralismus gab und die 1977 eine Auflage von 25.000 Exemplaren erreichen konnte.67 Im KB wurden früh die Einflüsse der „Neuen Sozialen Bewegungen“ spürbar. So spielte er schließlich auch eine Rolle im Gründungsprozess grüner und alternativer Listen. 1979 spaltete sich eine „Gruppe Z“ um die Hamburger Thomas Ebermann und Rainer Trampert ab; sie vertrat die Linie eines „Entrismus“ bei den Grünen. Aus dem KB ist auch der spätere Bundesumweltminister Jürgen Trittin hervorgegangen. Der 1973 gegründete KBW ging aus dem Zusammenschluss einer Vielzahl von lokalen und regionalen kommunistischen Gruppen hervor. Der Kern entstammte dem Heidelberger SDS, der über die Auflösung des Bundesverbands im Frühjahr 1970 hinaus versucht hatte, seine Tätigkeit als lokale „sozialrevolutionäre“ Organisation fortzusetzen, bis er von der baden-württembergischen Landesregierung verboten wurde. Danach folgten theoretische Programmdiskussionen in der Heidelberger Zeitschrift Neues Rotes Forum und der Versuch einer bundesweiten Sammlungsbewegung der vielen fraktionsmäßig noch nicht festgelegten Zirkel.68 Im Juni 1973 beschloss der Gründungskongress ein Programm und ein Statut.69 66 Vgl. ebd., S. 301. 67 Vgl. ebd., S. 308. 68 Vgl. ebd., S. 281. Zur Entstehung des KBW vgl. auch Helmut Bilstein u. a., Organisierter Kommunismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1977; siehe ebenfalls Gerd Langguth, Protestbewegung. 69 Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 419.

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Bis 1975 waren dem KBW 120 Orts- und Ortsaufbaugruppen mit 1700 Mitgliedern beigetreten, 1977 war die Mitgliederzahl auf 2100 gestiegen. Dazu kamen die „Massenorganisationen“ wie die „Kommunistischen Hochschulgruppen“ (KHG) oder der „Kommunistische Oberschülerbund“ (KOB). Insgesamt soll der KBW in seinen besten Zeiten einschließlich diverser Schulungs- und Lesezirkel etwa 7000 Aktive erfasst haben. Die hohe Fluktuationsrate einbezogen, könnten in den 1970er und frühen 1980er Jahren ca. 20.000 Menschen in die Aktivitäten des KBW einbezogen worden sein.70 All diesen Gruppen gemeinsam war das Bekenntnis zu den „Mao Tse-tungIdeen“, eine bis in die Details hineinreichende Identifikation mit der Politik der KP Chinas, die Fundamentalkritik des „modernen Revisionismus“ in Gestalt der Politik der KPdSU, der SED und der DKP, und bald auch ein kritisches Verhältnis zur Bewegung der 1960er Jahre, der jetzt ein „kleinbürgerlicher Charakter“ unterstellt wurde. Ein gewisses Verbindungsglied dazu bildete freilich die positive Bezugnahme auf die chinesische „Kulturrevolution“, die schon bei vielen Antiautoritären als „antibürokratischer Akt der Selbsttätigkeit der Massen“ eine euphorische Bewertung erfahren hatte.71 Freilich wurde die antiautoritäre Kritik an der „bürokratisierten Arbeiterbewegung“ jetzt in einer neostalinistischen Variante vertreten. Die Vorstellung von den Studenten als revolutionärem Subjekt wurde umgedeutet in die von der Selbstaufopferung zugunsten des „unterdrückten Proletariats“. Gegenüber dem gemeinsamen Dogmatismus und den vielen Elogen über die angeblichen Erfolge der KP Chinas wie über den Steinzeitkommunismus des völkermörderischen Pol Pot-Kommunismus in Kambodscha wirkt die Schärfe, in der sich die unterschiedlichen Gruppen im „Kampf um die richtige Massenlinie“ untereinander beharkten, kaum nachvollziehbar. Hatte sich der KBW in seiner Frühzeit noch um eine gewisse Offenheit bemüht, setzte sich auch in seiner Organisationspraxis bald eine Form engstirnigen und dogmatischen Kampfes gegen „Rechtsabweichung“ und für die richtige „revolutionäre Linie“ durch.72 Konnte man den frühen KBW noch von der in der KPD deutlich stärker betonten Linie des Kampfes gegen den sowjetischen „Sozialimperialismus“ unterscheiden, so wurde bald auch hier die Entlarvung von „Rechtsopportunismus“ und „Demokratismus“ zum Wesenselement einer Organisationspraxis, die mehr und mehr um sich selbst kreiste. Ein gewisser Unterschied blieb freilich in der bis zur Absurdität gesteigerten romantisierenden Identifikation der 70 Vgl. ebd., S. 421ff. 71 Vgl. Bock, Geschichte des ,linken Radikalismus‘, S. 268ff.; vgl. auch Aly, Unser Kampf, S. 104ff.; siehe Peter Schneider, Rebellion und Wahn, Köln 2008. 72 Vgl. Anonym, Wir warn die stärkste der Partein. Erfahrungsberichte aus der Welt der KGruppen, Berlin 1977.

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KPD mit den Ritualen kommunistischer Parteien in der Tradition der Weimarer Republik und der Ikonisierung von Josef Stalin. Für alle Gruppen blieb die revolutionäre Gegnerschaft gegenüber dem System der Bundesrepublik Deutschland ebenso gemeinsam wie der Kampf gegen den „Revisionismus“ der DKP und den „Trotzkismus“, der sich mitunter auch in Schlägereien ausdrückte. Unterschiede bestanden nur in dem Ausmaß, in dem diese Gegnerschaft zum System offen zum Ausdruck gebracht und von den Mitgliedern ein entsprechendes Auftreten verlangt wurde. Unübertroffen blieb dabei der KBW, der immer wieder in seinen Publikationen erklärte, „daß wir Schulter an Schulter mit den Kommunisten und Revolutionären aller Länder auch für die Bundesrepublik Deutschland den gewaltsamen Umsturz anstrebten, eine Diktatur des Proletariats errichten wollten, die bürgerliche Verfassung ablehnten“.73 Entsprechend taktisch war das Verhältnis zur „revolutionären Gewaltanwendung“. Der KBW war in den militanten Aktionen des Frankfurter Häuserkampf im Frühjahr 1974 ebenso präsent wie bei den z. T. gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Bauplätzen der Atomkraftwerke in Brokdorf oder Grohnde 1976/77. Dabei verlangte der KBW von seinen Mitgliedern eine unverblümte und in vielen Fällen beruflich geradezu „selbstmörderische“ Offenheit, die zu zahlreichen Berufsverboten führte.74 Angesichts der vorbehaltlosen Identifikation mit der Linie der KP Chinas mussten alle maoistischen Organisationen der Bundesrepublik in arge Probleme geraten, als nach dem Tod des „großen Steuermanns“ mit der Verhaftung der „Viererbande“ in Peking eine neue Orientierung der chinesischen Führung sichtbar wurde. In die gleiche Zeit fiel der Aufstieg der Neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik, die zwar in ihrem Grundverständnis weiter von systemoppositionellen Deutungen bestimmt blieben, sich aber deutlich weniger auf sozialrevolutionäre Großtheorien bezogen und sich von der Organisationspraxis der Maoisten scharf abgrenzten. So haben sich die maoistischen Gruppen ihrerseits zwar bald in die Aktionen dieser Bewegung eingemischt, sind aber in dieser Bewegung schließlich auf- und untergegangen. 1979 löste sich die KPD auf, kurze Zeit später spaltete sich der KBW. 1985 gab auch er auf. Dass dies so schnell geschehen konnte, hing auch damit zusammen, dass aus den ganz unterschiedlichen Protestbewegungen relativ rasch eine neue Partei entstand: Die Grünen.75

73 Zit. nach Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 435. 74 Vgl. ebd., S. 434ff. 75 Zur Entstehungsgeschichte der Grünen vgl. z. B. Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen, Bonn 1989; Hubert Kleinert, Aufstieg und Fall der Grünen, Bonn 1992; Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2009.

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Revolutionärer Spontaneismus und „Wir wollen alles“ Die größte Affinität zum antiautoritären Selbstverständnis von der Notwendigkeit revolutionärer Praxis und einem radikalen, aktionszentrierten Subjektivismus fand sich in den spontaneistischen Gruppen, die sich zu Beginn der 1970er Jahre formierten und in denen Einflüsse des Rätekommunismus mit einem libertären Anarchismus zusammenkamen. In Anlehnung an italienische Vorbilder aus den militanten Fabrik- und Straßenkämpfen 1969/70 machten sie den Kampf um eine „Arbeiterautonomie“ zu ihrer Sache. Dies galt in besonderer Weise für die im Rhein-Main-Gebiet ab 1970 auftauchende Gruppe „Revolutionärer Kampf “ (RK), die zusammen mit der Gruppe „Arbeitersache“ aus München, dem Kölner „Arbeiterkampf “ und der norddeutschen „Proletarischen Front“ ab 1973 die Zeitschrift „Wir wollen Alles“ herausbrachte.76 Politischer Konsens waren dabei „Arbeiterautonomie, Primat der Praxis und der Betriebsarbeit, radikale Gewerkschaftskritik, Einbeziehung der Ausländer in den nationalen Klassenkampf, praktische Bezugnahme auf den proletarischen Lebenszusammenhang.“77 Als revolutionäres Subjekt galt der „Massenarbeiter“, der vor allem im wenig qualifizierten, häufig weiblichen, jugendlichen und ausländischen Arbeiter gesehen wurde. Dabei sollte auch der „Reproduktionsbereich“ eine wichtige Rolle im politischen Kampf spielen. Gegen die „kapitalistische Aufteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit“ sollte ein „proletarischer Lebenszusammenhang“ gesetzt werden. Dabei war der Militanz als Kampfform eine zentrale Rolle zugedacht. Beim Frankfurter RK lassen sich personelle und ideologische Kontinuitäten nachzeichnen, die bis in die Gründung der Sponti-Zeitschrift „Pflasterstrand“ 1976 reichen. Aus ihm ist eine ganze Reihe von später prominenten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hervorgegangen, darunter die Grünen-Politiker Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, der als „Dany le Rouge“ schon damals eine legendäre Figur des Pariser Mai 1968 war. Auch der Kabarettist Matthias Beltz, der Varietébesitzer Jonny Klinke, der Stadtkämmerer und UNBeauftragte Tom Koenigs und der WELT-Chefredakteur und Herausgeber Thomas Schmid gehörten dazu. Zu diesem Milieu zählte freilich auch der spätere Terrorist Hans-Joachim Klein. Entstanden war der Frankfurter RK in einer Schulungsphase der noch im SDS gegründeten „Betriebsprojektgruppe“. Insoweit war auch der RK der „proletarischen Wende“ verhaftet. Im November 1970 nahmen die ersten 15 Mitglieder

76 Vgl. Margareth Kuckuck, Student und Klassenkampf, Hamburg 1974, S. 227ff. 77 Ebd.

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des RK ihre Tätigkeit bei den Opelwerken in Rüsselsheim auf, darunter auch der spätere Bundesaußenminister Fischer.78 Den Versuchen zur Revolutionierung der Arbeiter waren freilich nur bescheidene Erfolge beschieden. Schon Ende 1971 endete dieser Abschnitt im Leben Fischers mit der Kündigung. Andere blieben zwar länger. Doch in einem Artikel der Frankfurter Studentenzeitschrift Diskus zog der RK Ende 1973 eine ernüchternde Bilanz seiner revolutionären Agitation.79 Weitaus erfolgreicher war der RK im Frankfurter „Häuserkampf “ um den Abriss historischer Stadtquartiere im Westend-Viertel, der im Winter 1973/74 seinen Höhepunkt erreichte. Unter Führung von Cohn-Bendit und Fischer verfolgte man hier eine Strategie der „begrenzten Militanz“ als „Widerstand gegen die alltägliche Gewalt des Systems“. Damit wollte man der Polizei „auf Augenhöhe“ gegenübertreten können, gleichzeitig aber sollte das Maß der eigenen Gewaltanwendung „politisch vermittelbar“ und „subjektiv durchhaltbar“ bleiben.80 Schußwaffen, Bombenanschläge und Molotow-Cocktails gegen Personen sollten tabu bleiben, stattdessen der Einsatz von Passivbewaffnung wie Helm, Chlorgasbrille, Karategürtel zusammen mit Hartholzknüppel, Pflasterstein, Rauchbombe u. ä. effiziente Mittel gegen die Polizeikolonnen bilden. Hinzu kam eine Schlag- und Tritttechnik im Nahkampf, für den eine „Putzgruppe“ eine Zeit lang auch im Taunus regelmäßige Übungen absolviert haben soll.81 Dies sei „die erste große Zeit von Joschka F.“ gewesen, „der intern auch der Verteidigungsminister hieß“ hat Koenen dazu geschrieben.82 „Hit and run“ habe man die Strategie genannt. Die „Erfolge“ in den militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei nicht nur im „Häuserkampf “ zogen Hunderte von Radikalisierten an und trieben die Aktivisten in eine sich immer weiter steigernde Militanz von Straßenschlachten, die im Angriff von 200 Vermummten mit Dutzenden von Molotow-Cocktails auf das spanische Generalkonsulat im September 1975 eine gefährliche Eskalationsstufe erreichten. Im Frühjahr 1976 kam es zu einer weiteren Steigerung, die dann zum Wendepunkt wurde: Am Tag nach dem Selbstmord von Ulrike Meinhof wurde der Polizeiobermeister Jürgen Weber durch einen Brandsatz lebensgefährlich verletzt. Er überlebte nur knapp, mit schweren, lebenslangen Verletzungen. Unter den fünf wegen „Mordversuchs“ festgenommenen Militanten war auch Joschka Fischer. Die Wortführer begriffen jetzt, dass ihr halb 78 79 80 81 82

Vgl. Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 320. Vgl. ebd., S. 325. Ebd., S. 345. Vgl. ebd., S. 346f. Ebd., S. 347.

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spielerisch inszeniertes „Tantra der Gewalt“ bitterer und böser Ernst geworden war. Der RK löste sich auf.83 Es folgte die – schrittweise – Distanzierung von der militanten Gewalt und die Entstehung der breiten Sponti-Szene mit ihren vielen „gegenkulturellen“ Projekten und Initiativen. An die Stelle der Straßenschlachten sollte der „Aufbau eines Gegenmilieus“ treten, in dem durch „der Kapitalverwertung entzogenen Lebensbereichen“ Voraussetzungen für eine „autonome proletarische Identität“ entstehen sollten. Das „proletarische“ verschwand bald; das gegenkulturell gemeinte „autonome“ blieb noch fast ein ganzes Jahrzehnt. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der subjektivistisch aufgeladene Radikalismus des RK seine Aktivisten näher als andere linksradikale Gruppen der 1970er Jahre an die Praxis des RAF-Terrors herangeführt hat. Durch seine Auflösung in die gegenkulturelle Szene der Folgejahre stellte sich das Bild der Spontis gleichwohl schon bald in milderem Licht dar. Dabei blieben die alten Sponti-Chefs obenauf: „Da sie stets Alles gewollt hatten, hatten sie ja nie etwas Bestimmtes gewollt. In diesem Sinne konnte der Spontaneismus als politische Bewegung gar nicht scheitern. […] Die ungebrochene narzißtische Treue zu sich selbst, das luxuriöse Gefühl, sich durch große wie durch kleine Zeiten hindurch ,treu geblieben‘ zu sein, ist das trügerische Flair des politischen Erfolgs, das sie bis heute gern um sich verbreiten.“84

Das DKP-Spektrum Mit der revolutionären Gewaltphantasien der Antiautoritären und ihrer Erben so gut wie nichts zu tun hatte die „Deutsche Kommunistische Partei“, die sich nach einer „Erklärung zur Neukonstituierung einer Kommunistischen Partei in der BRD“ mit ihrem ersten Parteitag vom April 1969 in die Tradition der KPD eingereiht, gleichwohl auf das Ziel der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten einer anzustrebenden „antimonopolistischen Demokratie“ verzichtet hatte. Nachdem das KPD-Verbot im Zuge der beginnenden Entspannung zwischen Ost und West mehr und mehr zum Anachronismus geworden war, gleichwohl das Verbotsurteil nicht einfach revidiert werden konnte, hatte ein Hinweis aus der Bundesregierung zu einer solchen Neugründung ermuntert.85

83 Vgl. ebd., S. 330f. Vgl. auch Wolfgang Kraushaar (Hg.), Autonomie oder Getto? Kontroversen über die Alternativbewegung, Frankfurt 1978. 84 Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 355 [Hervorh. im Orig.]. 85 Vgl. zur DKP-Gründung Langguth, Protestbewegung. Vgl. auch Bilstein, Organisierter Kommunismus.

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Bis dahin hatte die Mehrheit der „Traditionalisten“ im SDS ihre Hoffnungen eher auf die Neugründung einer linkssozialistischen Partei gesetzt. Dass es dennoch zwischen 1968 und 1970 vielfach zu Übergängen zu der im Wesentlichen von KPD- und FDJ-Altkadern geführten DKP kam, hatte mit der Krise und Selbstauflösung des SDS, aber auch mit Differenzen im linkssozialistischen Spektrum nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der ČSSR zu tun. Letztlich erwies sich dabei die DKP, die auch bei der Bundestagskandidatur einer „Aktionsgemeinschaft Demokratischer Fortschritt“ im Herbst 1969 mitwirkte, als stärkerer Integrationsfaktor links von der SPD als linkssozialistische Bünde. Während die Erben der Antiautoritären den „revisionistischen Charakter der DKP“ scharf kritisierten86 , kam es in den Hochburgen der SDS-Traditionalisten zur Verbindung von SDS und Gruppen der „Assoziation Marxistischer Studenten – Spartakus“. Im Mai 1971 wurde der „Marxistische Studentenbund Spartakus“ (MSB) aus der Taufe gehoben. In seiner Grundsatzerklärung bekannte sich der MSB zu den „Klassikern des Wissenschaftlichen Sozialismus“ und betonte seine Verbundenheit mit der DKP und der „Kraft und Dynamik des realen Sozialismus“.87 Als zentrale Aufgabe an den Hochschulen galten der „Kampf gegen das Bildungsprivileg“ und für eine „Demokratisierung der Hochschulen“. Durch seine „Politik der gewerkschaftlichen Orientierung“ mit der Mehrheitsströmung im mittlerweile deutlich nach links verschobenen „Sozialdemokratischen Hochschulbund“ (SHB) verbunden, besaß er schon zu dieser Zeit maßgeblichen Einfluss auf zahlreiche Uni-Asten. In den Folgejahren konnte der MSB seine Position noch weiter ausbauen. 1973 war er zum größten Studentenverband der Bundesrepublik geworden. Durch sein im Verhältnis zu K-Gruppen und Spontis vergleichsweise gemäßigtes politisches Auftreten und eine eher „reformistische“ und „legalistische“ Strategie erschien er in dieser Zeit auch weniger radikal eingestellten Kommilitonen als gewiefter Vertreter studentischer Interessen. Auf dem Höhepunkt seines Einflusses um die Mitte der 1970er Jahre hatte der Verband fast 5000 Mitglieder. Erst mit dem Aufstieg der linksalternativen Kräfte ging sein Einfluss Ende der 1970er Jahre wieder zurück. Weniger erfolgreich war die DKP. Zwar stieg ihre Mitgliederzahl bis 1973 auf etwa 40.000, wobei im Unterschied zur alten KPD junge Akademiker zahlreich vertreten waren. Doch über regionale Zentren und gesellschaftliche Teilbereiche hinaus gelang es der DKP kaum, relevanten Einfluss zu erlangen. Bei 86 Vgl. FU-Projektgruppe DKP und Bernd Rabehl, DKP – eine neue sozialdemokratische Partei, Berlin 1969. 87 Vgl. Mit Spartakus im Spartakus, Protokoll des 1. Bundeskongresses des MSB Spartakus, Bonn 1971.

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überregionalen Wahlen spielte sie praktisch keine Rolle und blieb deutlich hinter den Ergebnissen zurück, die die KPD noch in den 1950er Jahren erreicht hatte. Auch in den Gewerkschaften blieb ihr Einfluss trotz einer gewissen Bedeutung in der Bildungsarbeit bescheiden. Ihre bedingungslose Identifikation mit der DDR brachte sie schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre weiter in die Defensive. Dabei spielten Ereignisse wie die Biermann-Ausbürgerung 1976 eine wichtige Rolle. Auch der Bedeutungsgewinn von Themen wie Umweltzerstörung und Atomkraftnutzung machte der Partei Schwierigkeiten. In Westberlin hatte die SEW trotz der Kritik der Antiautoritären vom Aufschwung der APO zunächst profitieren können. 1971 erreichte die Partei bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus mit 2,3% ihr bestes Ergebnis seit 1954. Doch mit dem Aufstieg der Alternativen Liste ging dieser Anteil bald wieder zurück.88 Von der Selbstsuggestion einer revolutionären Situation oder einem Liebäugeln mit militanter Gewalt konnte bei den Parteikommunisten ohnehin nicht die Rede sein. Der „individuelle Terror“ der RAF wurde scharf abgelehnt, das Auftreten der Maoisten heftig bekämpft. Die Ende 1989 veröffentlichten Berichte über Trainingslager für den Umsturz in der Bundesrepublik in der DDR zeigten dann zwar ebenso wie die Informationen über die Zusammenarbeit der Stasi mit der RAF, dass die treuherzige Versicherung, der Kampf um die antimonopolistische Demokratie werde allein vom Boden des Grundgesetzes aus geführt, den politischen Realitäten auch der Entspannungsära so ganz dann doch nicht entsprochen hatte. Doch in der bundesdeutschen Wirklichkeit der 1970er und 1980er Jahre blieb die DKP ein berechenbarer Faktor, der sich mit seinen Aktionen in aller Regel im Rahmen der Legalität bewegte. Niedergang des Linksradikalismus und Aufstieg der Neuen Sozialen Bewegungen Mitte der 1970er Jahre hatte der organisierte Linksradikalismus in der Bundesrepublik den Höhepunkt seines jenseits der Hochschulen ohnehin bescheidenen Einflusses bereits wieder überschritten. Die Bedeutung der maoistischen Zirkel ging zurück; dort wurden jetzt die psychisch belastenden Auswirkungen des Dogmatismus und der Rituale von Kritik und Selbstkritik von ehemaligen Mitgliedern öffentlich thematisiert.89 Die DKP konnte zwar bis 1987 ihren Mit88 Zur Bedeutung des MSB vgl. Backes u. Jesse, Politischer Extremismus, S. 163ff. Zur Bündnispolitik Ossip K. Flechtheim u. a., Der Marsch der DKP durch die Institutionen, Frankfurt a. M. 1980. 89 Vgl. Anonym, Wir warn die stärkste der Partein.

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gliederstamm einigermaßen halten. Doch trotz neuer Mobilisierungschancen im Rahmen der Bewegung gegen die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen gelang es der Partei nicht, aus ihrer Isolierung herauszukommen. Dies lag zunächst weniger an innerparteilichen Konflikten als am Aufstieg einer neuen politischen Konkurrenz aus grünen und bunten Listen. Nach dem Beginn von Michael Gorbatschows „Glasnost“ und „Perestroika“ kam es dann auch zu Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Befürwortern der SED-Linie innerhalb der Partei. Zwar konnten sich die Orthodoxen beim Parteitag Anfang 1989 noch einmal durchsetzen.90 Doch als das SEDRegime im Herbst 1989 in eine tiefe Krise geriet, stürzte mit dem Versiegen der Geldquellen aus der DDR auch die DKP in einen Abgrund.91 Parallel zu diesem Niedergang erlebte seit 1975 eine bunte Szene von protestlerischen Initiativgruppen ihren Aufstieg, die sehr unterschiedliche Themen aufgriff und in ihrem Selbstverständnis heterogen war, gleichwohl in dem systemoppositionellen Grundverständnis, das sich auf die 68er Protestkultur zurückverfolgen ließ, eine gemeinsame Klammer besaß.92 Diese bald Neue Soziale Bewegungen genannten Kräfte einte ein linkes Selbstverständnis mit Aversionen zumindest gegen die Verfassungswirklichkeit. Alle mobilisierenden Themen im Einzelnen, von der Wohnungsnot bis zur Kernenergie, wirkten „lediglich wie tagespolitische Aufhänger“.93 Diese Vermischungen und wechselseitigen Einflussnahmen machen es so gut wie unmöglich, zwischen reformpolitischen Anliegen umweltpolitischer Bürgerinitiativen und linksradikalen Gesellschaftsbildern der Westberliner Hausbesetzerszene der frühen 1980er Jahre genau zu differenzieren. Auch wenn nicht jede Bürgerinitiative einen explizit systemkritischen Charakter besaß, kann am beträchtlichen Einfluss der aus der APO stammenden Protestkultur auf diese Initiativen kaum gezweifelt werden. Neben der beginnenden Mobilisierung gegen den Bau von Atomkraftwerken im südbadischen Wyhl und in Brokdorf an der Unterelbe Mitte der 1970er Jahre, wo es zu neuartigen Bündnissen zwischen Naturschützern, ortsansässigen Bauern und linksradikalen Studenten kam, waren Aufschwung und Siegeszug der Spontis an den Hochschulen das erste deutliche Signal einer Umorientierung im linken und linksradikalen Spektrum. Die Spontis beriefen sich auf 1968, grenzten sich jedoch scharf ab vom „instrumentellen Politikverständnis 90 Vgl. Backes u. Jesse, Politischer Extremismus, S. 168. 91 Vgl. ebd. 92 Aus der umfangreichen Literatur zu den Neuen Sozialen Bewegungen vgl. Karl Werner Brand u. a., Aufbruch in eine andere Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1983; Dieter Rucht, Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M. 2008. 93 Vgl. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2006, S. 429.

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leninistischer Observanz“, das sie in den kommunistischen Kaderparteien repräsentiert sahen. Dagegen reklamierten sie ein neues Politikverständnis von einer „Politik in der ersten Person“.94 Bald wurden diese Strömungen an den Hochschulen „Basisgruppen“ genannt. Mit dem TUNIX-Kongress nahm dann im Frühjahr 1978 auch eine breitere Öffentlichkeit die Entstehung einer größeren Gegenkultur vor allem in Westberlin zur Kenntnis, in der die Grenzen zwischen Hausbesetzerbewegungen, Sympathisanten militanter Gruppen, Anti-AKW-Szene, Aussteigerkommunen, Frauen- und Schwulenbewegung und politischem Linksradikalismus fließend geworden waren. Aus dieser Alternativszene ist nicht nur das Milieu der Autonomen hervorgegangen, das in den 1980er Jahren durch militante Aktionen von sich reden machte. Sie war auch eine Wurzel der Grünen.95 Auch wenn die Grünen nie eine linksradikale Partei waren, gehören sie doch in diesen Zusammenhang. Zum einen, weil unter den führenden Repräsentanten in ihrem Gründungsprozess nicht wenige aus linksradikalen Parteiaufbaugruppen stammten, freilich jetzt einige Lernfähigkeit bewiesen, zum anderen, weil ein erheblicher Teil der Partei aus einer diffus systemkritischen Szene in das demokratische Institutionengefüge hineingewachsen ist. Deshalb lässt sich der Weg der Grünen zu einem beträchtlichen Teil auch als Weg der demokratischen Integration ehemaliger Linksradikaler beschreiben. Am Ende haben die Grünen weite Teile des Linksradikalismus der 1970er Jahre regelrecht geschluckt. Zwar mochten manche Teile der Neuen Sozialen Bewegungen den Weg der konventionellen Parteigründung zunächst nicht mitgehen. Doch die meisten zogen dann doch mit. Zumindest setzten sie Hoffnungen auf die Wahl dieser Partei – und wenn es nur die auf „Staatsknete“ für ihre „alternativen Projekte“ war. Die Autonomen Weil die Sogwirkung der Grünen beträchtlich war, ist der Linksradikalismus der 1980er Jahre stark von der Abgrenzung gegenüber den Grünen durch jene gekennzeichnet, die diesen Weg nicht mitgehen mochten. Dabei hat die „autonome Szene“ eine wichtige Rolle gespielt. Sie machte sich jetzt weniger durch theoretische Selbstverständigungsversuche und sozialrevolutionäre Strategiedebatten als durch aktionistische Militanz bemerkbar. 94 Vgl. Johannes Schütte, Zur Politik und Sozialpsychologie der Sponti-Bewegung, Gießen 1980; siehe auch Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt a. M. 2014. 95 Der Aufruf zum Tunix-Kongress findet sich im Anhang bei Schütte, Zur Politik und Sozialpsychologie.

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In Westberlin, aber auch in anderen Groß- und Universitätsstädten hatten sich irgendwo zwischen Hausbesetzerszene, Sponti-Milieu und RAFSympathisanten Gruppen herausgebildet, die eine ähnliche Distanz zum verhassten „Schweinesystem“ entwickelten wie die Blues-Szene von 1970, die aber ein reichliches Jahrzehnt nach den vielen Entmischungen der 1970er Jahre und den Gewalterfahrungen von 1977 nicht mehr das Element von Attraktion und Spaß-Guerilla haben konnte, das ihren Vorgängern als Abkömmlingen von 1968 noch eigen gewesen war. Da war kein Rio Reiser, der bei aller Schwärmerei für die Revolution doch zugleich auch weit über die Gewaltszene hinauswirken konnte. Was jetzt folgte, war mehr eher plumpe Zerstörung. Auf das Konto dieser „Autonomen“ gingen schon 1986/87 die meisten registrierten Sprengstoff- und Brandanschläge. Sie waren – und sind – organisatorisch zersplittert und ideologisch diffus. Die Begründungen für militante Aktionen waren häufig zynisch, mitunter flapsig gehalten. Die Grenzen zwischen politischer Aktion und provokanter Gelegenheitsmilitanz wurden immer fließender, was sich an der Geschichte der Berliner Krawalle zum 1. Mai in den 1980er Jahren gut zeigen lässt.96 Dabei ließ sich eine Konzentration militanter Aktionen auf bestimmten Feldern erkennen. Immer wieder kam es zu Anschlägen und militanten Aktionen im Zusammenhang mit dem Bau und Betrieb von Atomanlagen. Auch die Besetzung leer stehender Häuser und ihre Räumung lieferte aktionistische Schwerpunkte – so der Kampf um die Hamburger Hafenstraße. Auf das Konto der Autonomen gingen auch Anschläge auf Hochspannungsleitungen. Geradezu ritualisiert begangen wurden bald die Anlässe beim öffentlichen Auftreten von Rechtsradikalen. Die Spannbreite der Aktionen war dabei recht hoch. Ging die Gewaltbereitschaft mitunter so weit, dass bei einer Demonstration gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens im November 1987 zwei Polizisten aus einer Gruppe von Vermummten heraus erschossen wurden, war es in Hamburg zur gleichen Zeit möglich, dass die Besetzer der Hafenstraße mit der Stadt einen Nutzungsvertrag schlossen. Laut Angaben des Verfassungsschutzes waren 1986 6.000 Personen der „Autonomen Szene“ zuzurechnen. Gemessen an den Hunderttausenden, die in den 1970er Jahren der radikalen Linken zuzurechnen gewesen waren, nimmt sich diese Zahl bescheiden aus.97 Von sich reden machte die autonome Szene auch mit Aktionen gegen die Deutsche Einheit. Dabei kam es zu einer Reihe von Anschlägen und gewalttätigen Demonstrationen gegen das angeblich drohende „Vierte Reich“. Spektakulär 96 Zur Geschichte der autonomen Szene vgl. Geronimo, Feuer und Flammen. Zur Geschichte und Gegenwart der Autonomen, Berlin 1990. 97 Vgl. Backes u. Jesse, Politischer Extremismus, S. 210.

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waren die schweren Ausschreitungen in Berlin am 3. Oktober 1990 bei einer Demonstration unter dem Motto „Deutschland, halt’s Maul“. Doch die Deutsche Einheit hat die autonome Szene ebenso geschwächt wie die Linksradikalen insgesamt. Auch die Bemühungen einiger Ex-Grüner wie Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann oder Rainer Trampert, mit einer Sammlungsbewegung „Radikale Linke“ und der plakativen Losung „Nie wieder Deutschland“ eine Wahlboykottbewegung zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl ins Leben zu rufen, waren nicht von großen Erfolgen gekrönt. Linksradikalismus und Gewalt in der alten Bundesrepublik – Eine Bilanz In der unmittelbaren Nachkriegszeit war auch in den westlichen Besatzungszonen sozialistisches Gedankengut weit verbreitet. Die Eskalation der weltpolitischen Spannungen zwischen Ost und West, die damit verbundene Spaltung Deutschlands und die in die Selbstisolierung führende, sektiererische und verbalradikale Politik der wie eine Auslandsabteilung der SED geführten westdeutschen KPD haben dann dafür gesorgt, dass der Parteikommunismus in der Bundesrepublik wie der Agent einer fremden und dabei gefährlichen Macht erschien und, bald von der politischen Justiz verfolgt, ab 1948 immer mehr an politischem Einfluss verlor. Diese Entwicklung hat auch alle anderen Spielarten des auf sozialistische Systemveränderung orientierten Linksradikalismus marginalisiert. Jenseits versprengter Restgruppen und Kleinzirkel blieb seinen Vertretern nur der Versuch, innerhalb der Sozialdemokratie in die Richtung einer „antikapitalistischen Politik“ zu wirken und sich den ab Mitte der 1950er Jahre erkennbaren Versuchen einer Öffnung der SPD in die politische Mitte entgegenzustellen. Diese Versuche blieben erfolglos und endeten für einige im Parteiausschluss. Um die Wende zu den 1960er Jahren war radikale Systemkritik zu einer politischen Randerscheinung geworden. Unter den Rahmenbedingungen der kulturellen Veränderungen, die sich in den vielfältigen Ausdrucksformen einer „internationalen Revolte der Jugend“ schon um die Mitte der 1960er Jahre zeigten, und befördert durch neue politische Konfliktlagen, unter denen der Vietnamkrieg eine besondere Rolle spielte, erlebte dann eine neue Form des Linksradikalismus einen unerwarteten Aufschwung. Er unterschied sich sowohl vom traditionellen Kommunismus wie auch von dessen linksradikalen Kritikern innerhalb der Arbeiterbewegung, indem er nicht nur auf ein neues „revolutionäres Subjekt“ setzte, sondern auch einen radikalen Subjektivismus propagierte, der mit existenzialistischen Begründungen für die „befreiende Kraft der revolutionären Tat“ eintrat. Exemplarisch dafür steht die Person Rudi Dutschke – mit all den Ambivalen-

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zen, die in ihm verkörpert waren, von der persönlichen Integrität über den Eklektizismus in der Rezeption der marxistischen Literatur bis zur verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung einer potenziell „revolutionären“ Situation in den Metropolen. Das bedeutet nicht, dass sich APO und Studentenbewegung der 1960er Jahre einfach als Ausdrucksform eines neuen politischen Linksradikalismus fassen lassen. Dazu sind Themen, Motive und Gesellschaftsbilder dieser Zeit des Aufbruchs einfach zu vielfältig gewesen. Es ist auch mehr als fraglich, ob die vielen jungen Leute, die 1968 ihre Sympathie mit den radikalen Antiautoritären bekundeten, die Implikationen ihrer revolutionären Situationsdeutungen wirklich verstanden oder nicht eher die rebellische Attitüde Identifikation stiftete und dabei mit ganz anderen Sinngehalten besetzt wurde. Man kann auch bezweifeln, ob man das Hantieren der jungen Rebellen mit den unterschiedlichen revolutionären Deutungsmustern immer ganz ernst nehmen musste. Freilich kann nicht übersehen werden, dass gerade die Avantgarde des Protests im Banne von abenteuerlichen Situationsdeutungen stand und die radikale Ablehnung der Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik propagierte – von der Ablehnung des Parlamentarismus bis zur Befürwortung militanter Aktionsformen. So spielerisch, vieldeutig und selbstverliebt manches daherkam, was seinerzeit geäußert und getan wurde – es war eben doch kein Spiel auf einer Experimentierbühne. Das 68er-Medienbild, das die heutige Geschichtsdeutung prägt, ist sexy, das Bild der 1970er Jahre dagegen ist von der Erinnerung an den Terror der RAF verdüstert. Dabei hatte das eine mit dem anderen durchaus zu tun: Fritz Teufel hat als Symbolfigur der „Spaßguerilla“ nicht nur vor Gericht den legendären Satz geprägt, dass er denn doch aufstehen wolle, „wenn es denn der Wahrheitsfindung dient“; er war auch in den Terrorismus verwickelt. Das erste war lustig, das zweite nicht. Die breite Politisierung der späten 1960er Jahre hat im Zustrom vieler junger Akademiker zur SPD seine sichtbarste Folgewirkung gehabt. Einige Zehntausend gerieten auch ins Umfeld des westdeutschen Parteikommunismus. Viele andere, die von der „großen Verweigerung“ inspiriert waren, sind in die eher unpolitische Musik- und Drogenszene abgedriftet oder haben ihr Heil in Psychosekten oder Landkommunen gesucht. Gleichwohl ist im Laufe der 1970er Jahre auch die linksradikale Szene beträchtlich angewachsen. Gunnar Hinck schätzt unter Berufung auf Peter Glotz, Rudolf Wildenmann und Gerd Koenen die Zahl der zumindest zeitweise vom Linksradikalismus beeinflussten, ausgemachten „Systemgegner“ in den 1970er Jahren auf 250.000.98 98 Vgl. Gunnar Hinck, Wir waren wie Maschinen – Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre, Berlin 2012, S. 41.

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Tatsächlich ist der Aufschwung linksradikalen Denkens durch die APO weniger durch die verschiedenen maoistischen Parteien oder die DKP folgenreich gewesen als vielmehr dadurch, dass jenseits der kurzatmigen und mitunter operettenhaften Versuche zur Rekonstruktion der Klassenkämpfe der Weimarer Republik auf der Bühne studentischer Vollversammlungssäle das geistige Leben der Bundesrepublik verändert worden ist. Es entstand eine breite, von Jungakademikern geprägte Protestkultur, die sich in der Gegnerschaft zum politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik einig wusste und eine große Ferne zum gesellschaftlichen Institutionensystem empfand. Dabei gehörte die Vorstellung von der Bundesrepublik als einer zu überwindenden kapitalistischen Klassengesellschaft fast zum guten Ton. Mit der Entdeckung des Umweltthemas wuchs die Neigung, auch hier neuartige Erscheinungsformen der Grundwidersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu entdecken. Umweltzerstörung aus Profitinteresse – hier ergaben sich jetzt Berührungspunkte zwischen Naturschützern und linksradikalen Systemgegnern. So erlebte linksradikales Denken in den Neuen Sozialen Bewegungen am Ende der 1970er Jahre eine neue Blüte. Freilich in einer gewandelten Form: Es ging nicht mehr um die „Revolutionierung des Massenarbeiters“ oder die „Rekonstruktion einer revolutionären Arbeiterbewegung“. Vielmehr suchten die Alternativen die „Befreiung“ von den allgegenwärtigen Anpassungsmechanismen des „Systems“ in einer Vielzahl von „Projekten“ und „basisorientierten“ Initiativen. Die folgende „Projektorientierung“ war vor allem insoweit folgenreich, als damit ein stärkeres Einlassen auf die soziale Wirklichkeit verbunden sein musste. Das aber begünstigte das allmähliche Verschwimmen der Grenzen zwischen reformerischen und revolutionären Gesellschaftsbildern. So hat die „Projektund Praxisorientierung“ der Neuen Linken seit den späten 1970er Jahren selbst zur allmählichen Auflösung linksradikaler Weltbilder beigetragen. Eine wichtige Rolle haben dabei in den 1980er Jahren die Grünen gespielt. Die breite Resonanz und Sogwirkung, welche die Entstehung dieser Partei auslöste, hat auf die Dauer die Tragkraft linksradikaler Gesellschaftsbilder geschwächt. Indem sie auch eine Vielzahl ehemaliger Linksradikaler dazu gebracht hat, sich auf die Spielregeln des Parlamentarismus mit seinen Zwängen zu Mehrheitsund Kompromissbildungen einzulassen, hat sie Lernprozesse ermöglicht, die von der Parteispitze bis zur Parteibasis, von Mitgliedern und Wählern nachvollzogen wurden. Diese Rolle der Grünen beim Verfall linksradikaler Weltbilder hat der Partei im Verlaufe der 1980er Jahre schwere Kämpfe beschert. Die Auseinandersetzungen zwischen „Fundis“ und „Realos“, die das Gesicht der Grünen zwischen 1984 und 1991 prägten, zeigen das deutlich. Am Ende stand die Wandlung der

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Grünen zu einer normalen demokratischen Partei, die mit einem spezifischen politischen Profil in den konkurrenzdemokratischen Parteienwettbewerb zieht und dabei dessen Spielregeln akzeptiert. So sind es vor allem die Grünen gewesen, über die die späte Integration früherer Linksradikaler ins demokratische System gelang. Mit ihrem Erfolg verbindet sich eine Aussöhnung einer ganzen Generation mit dem demokratischen System. Der Linksradikalismus freilich ist darüber wieder zu einer Randerscheinung geworden. Dabei zeigte die militante Szene der Autonomen schon im Laufe der 1980er Jahre eine wachsende Lösung vom theoretischen Erbe des linken Radikalismus. Die Fähigkeit zur intellektuellen Selbstrechtfertigung gewaltsamen Handelns durch sozialrevolutionäre Situationsdeutungen nahm ab. Als Aktionsschwerpunkte für einen „schwarzen Block“ mussten jetzt zunehmend Aufmärsche von Rechtsradikalen herhalten, aus deren auch gewaltsamer Bekämpfung die sich selbst als „Antifa“ bezeichnenden Gruppen ihre Rechtfertigung bezogen. Terrorismus und gewaltbereite Militanz der autonomen Szene blieben bis zum Ende der alten Bundesrepublik ein Problem. Doch eine breite Ausstrahlung auf oder die Verbindung zu einer breiteren politischen Bewegung besaßen sie immer weniger. Dass sich diese Verbindung auflöste, hatte vor allem zwei Ursachen. Während bis 1977 noch eine gewisse Bereitschaft in Teilen der linksradikalen Szene bestanden hatte, in den RAF-Gewalttätern auch die Opfer eines gnadenlosen Systems zu sehen, mit denen man bei aller Kritik irgendwie solidarisch sein müsse, war es mit dieser Bereitschaft nach der Gewalteskalation dieses Jahres so gut wie vorbei. Allenfalls Reste der alten linksradikalen Szene blieben bei ihrer „Solidarität mit den Genossen von der RAF“. In den 1980er Jahren verschob sich das Aktionsfeld der Neuen Linken mehr auf das Thema einer gesellschaftlichen Aussöhnung und „Amnestie“ für die RAF-Täter. Eine zweite Ursache lag in der weit überwiegend gewaltlosen Orientierung der Neuen Sozialen Bewegungen. Zwar wurden hier Formen des zivilen Ungehorsams allenthalben für legitim gehalten, offensive Militanz in Form von Straßenschlachten oder Angriffe auf die Polizei aber abgelehnt. Die Forderung nach Gewaltfreiheit war dann auch ein zentrales Essential im Gründungsprozess der Grünen. Auch wenn die Protestaktionen der Neuen Sozialen Bewegungen nicht immer einen gewaltfreien Verlauf nahmen und es z. B. in Brokdorf, in Grohnde, bei den Protestaktionen an der Startbahn West oder bei den Krawallen anlässlich der Aktionen der Friedensbewegung in Krefeld im Juni 1983 zu gewaltsamen Konfrontationen kam, spielten die Befürworter einer offensiven Militanz nur noch eine marginale Rolle. Auch an dieser Stelle lässt sich von einer Integrations- und Befriedungsleistung der Grünen sprechen. Als mit dem 3. Oktober 1990 auch die alte Bundesrepublik unterging, war der Linksradikalismus wieder zum randständigen Phänomen geworden.

Deutsche Fallbeispiele

Julian Schenke

Ganz Hamburg hasst die Polizei? Die autonome Szene in Hamburg und ihr lokalspezifischer Kontext Einleitung: G20-Bilder versus lokal verankerte Szene1 Noch im Sommer 2018 diskutierte man in Hamburg über Ereignisse des Vorjahres. Die behördliche, öffentliche, vor allem aber auch emotionale stadtgesellschaftliche Aufarbeitung der Proteste gegen den G20-Gipfel 2017 und der in ihrem Kontext entzündeten Ausschreitungen nahm Zeit in Anspruch. Im Vordergrund standen die Ereignisse des Freitags, 07. Juli 2017, als marodierende Vermummte PKW und Mülltonnen in Brand setzten sowie Geschäfte plünderten, als die Wasserwerfer schon vor Beginn der Demonstration zum Einsatz kamen, und als die Hubschrauber über dem Innenstadtgebiet kreisten.2 Etwas wirkt vielleicht noch bis heute nach von der riot-artigen Gewalteskalation der „No G20“-Gipfelproteste mit ihrer medial transportierten Trümmerbilanz: Brennende Autos, geplünderte Geschäfte im Schanzenviertel, schockierte Anwohner, ferner eine unerbittliche Fahndungswelle mit bundesweiten Haus-

1 Für die Abfassung dieses Textes wurden verschiedene Quellen und Materialien herangezogen: einschlägige Sekundärliteratur, öffentlich einsehbare Pressemitteilungen und Periodika von autonomen Aktivistinnen und Aktivisten, Zeitungsartikel und Pressemeldungen. Verschiedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesfachstelle linke Militanz besuchten öffentliche Informationsveranstaltungen, auch die Großdemonstrationen um den Gipfel selbst. Zudem standen mir drei Experten der Hamburger Protestkultur für Interviews zur Verfügung, deren von mir zugesicherte Anonymität hier gewahrt wird. Zu danken ist an dieser Stelle nicht nur ihnen, sondern insbesondere auch dem gut sortierten Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) und seinem engagierten Team. Die Einsicht in viele der längst vergriffenen und nur rar aufgelegten Ausgaben autonomer Szene-Zeitschriften, insbesondere der Hamburger zeck, wurde mir dort unter den Signaturen A-ZF 1317, A-ZN 1769, A-ZF 2091 und A-ZR 0077 ermöglicht. 2 Vgl. Thomas Hahn, Polizei verteidigt Vorgehen bei Hamburger Krawallen, in: sueddeutsche.de, 06.04.2018, URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/sonderausschuss-zu-g-gipfel-polizeiverteidigt-vorgehen-bei-hamburger-krawallen-1.3934477; Lena Kaiser u Katharina Schipkowski, „Eine beachtliche Kaltschnäuzigkeit“. Interview mit Andreas Blechschmidt, in: taz.de, 17.04.2018, URL: http://www.taz.de/!5496108/ [beide eingesehen am 09.03.2020].

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durchsuchungen.3 Ca. 19.000 Polizeikräfte wurden eingesetzt,4 um die bereits im Vorfeld erwarteten Krawalle gewaltbereiter Aktivisten aus verschiedenen europäischen Ländern unter Kontrolle zu halten.5 Und obwohl das Volumen der vermummten und militanten Autonomen, die sich bei der kurz nach dem Start bereits gestoppten „Welcome to Hell“-Demonstration in der Hafenstraße unter den überwiegend friedlichen Demonstranten befanden und die die Polizei von den anderen Teilnehmern mit rigoroser Brutalität zu trennen versuchte, hinter den zuvor verkündeten Zahlen zurückblieb, gab es Verletzte auf beiden Seiten. Unter breiter öffentlicher Aufmerksamkeit wurde eine Sondersitzung des Innenausschusses „Demonstrationsgeschehen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel in Hamburg, Sicherheitskonzept und Einsatztaktik der Polizei und Feuerwehr“ am 19.07.2017 live im Internet übertragen6 ; der Sonderausschuss „Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg“ tagt noch immer.7 Ad hoc ertönten vonseiten der CDU und FDP Rufe nach einer Schließung des autonomen Zentrums Rote Flora,8 dem Verdacht folgend, dass die autonome Szene Hamburgs Brückenkopf und Planungszentrum einer minutiös vorbereiteten Gewalteskalation gewesen sei; der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs Olaf Scholz erhob in gemäßigter Manier den Vorwurf eines durch die Szene geschaffenen militanzfreundlichen Klimas.9 3 Vgl. o. V., Randalierer setzen Autos in Brand, in: Spiegel Online, 07.07.2017, URL: http://www. spiegel.de/politik/deutschland/g20-gipfel-in-hamburg-randalierer-setzen-autos-in-brand-a1156419.html; o. V., 16 Durchsuchungen wegen Plünderung bei G20-Krawallen, in: Welt Online, 27.09.2017, URL: https://www.welt.de/regionales/hamburg/article169082634/16Durchsuchungen-wegen-Pluenderung-bei-G20-Krawallen.html [beide eingesehen am 09.03.2020]. 4 Vgl. o. V., Polizei verteidigt ihr Vorgehen, in: Zeit Online, 07.07.2017, URL: https://www.zeit.de/ gesellschaft/zeitgeschehen/2017-07/g20-hamburg-protest-polizei-verletzte [eingesehen am 09.03.2020]. 5 Vgl. o. V., Polizei rechnet mit 8000 gewaltbereiten Linksextremen, in: Hamburger Abendblatt, 03.05.2017, URL: https://www.abendblatt.de/hamburg/article210444981/Polizei-rechnet-mit8000-gewaltbereiten-Linksextremen.html [eingesehen am 09.03.2020]. 6 Vgl. o. V., G20: Sondersitzung des Innenausschusses wird live im Internet übertragen, in: Internetpräsenz der Hamburgischen Bürgerschaft, 19.07.2017, URL: https://www.hamburgischebuergerschaft.de/nachrichten/9180620/sondersitzung-innenausschuss170719/ [eingesehen am 09.03.2020]. 7 Vgl. Sonderausschuss: Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg, in: ebd., URL: https://www.hamburgische-buergerschaft.de/fachausschuesse/9226060/ sonderausschuss-ausschreitungen-g20-gipfel/ [eingesehen am 09.03.2020]. 8 Vgl. o. V., „Wir können solche Räume nicht zulassen“, in: Spiegel Online, 16.07.2017, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/rote-flora-politiker-fordern-schliessung-vonautonomen-zentrum-in-hamburg-a-1158080.html [eingesehen am 09.03.2020]. 9 Vgl. o. V., Olaf Scholz entschuldigt sich bei Hamburgern, in: Hannoversche Allgemeine, 12.07.2017, URL: http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Olaf-Scholzentschuldigt-sich-bei-Hamburgern [eingesehen am 09.03.2020].

Ganz Hamburg hasst die Polizei?

Die Macht der Bilder dominiert die Erinnerung; weder die Ergebnisse des Gipfels, noch die friedlichen Massenproteste, gar die Anliegen der Protestierenden erfuhr eine vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit. Die Ausschreitungen haben eine deutliche Katerstimmung vor Ort hinterlassen, die die Aufarbeitung der Ereignisse bis heute begleitet. Davon zeugen nicht nur die Medienberichte, spürbar und erfahrbar sind Frustration und der Wunsch nach detaillierter Erhellung der Ereignisse auch im Rahmen von gut besuchten Diskussionsveranstaltungen wie etwa der Sondervorstellung des Films „Festival der Demokratie“ von Lars Kollros am 30. April 2018, an der auch die Linken-Politikerin der Hamburgischen Bürgerschaft und Mitglied im G20-Sonderausschuss Christiane Schneider teilnahm.10 Weniger Resonanz hingegen fanden auf der einen Seite die selbstkritischen Äußerungen von Polizisten, die das Narrativ der unberechenbar wütenden autonomen Gewalt mit substanziellen Mängeln des eigenen Vorgehens und der politischen Kommunikation kontrastierten – bis hin zum Zugeständnis unverhältnismäßiger Polizeigewalt vor Ort11 – und auf der anderen Seite Zweifel am öffentlichen „Deutungskampf “, d. h. an den Zahlen verletzter Polizisten, den konstatierten lebensgefährlichen Aktionsformen (von Dächern geworfene Gehwegplatten, Molotow-Cocktails), überdies an der politischen Provenienz der Gewalttäter.12 Als Kernpunkte der engagierten Diskussion lassen sich insbesondere zwei Fragen ausmachen: Wer trägt die maßgebliche Schuld an der Eskalation – autonome Infrastrukturen oder polizeilicher Kontrollverlust bzw. polizeiliche Gewalt?13 Und damit eng verwoben: Gibt es ein Problem mit der autonomen Szene und ihrem wichtigsten lokalen Zentrum, „der Roten Flora“, müssen derartige Einrichtungen gar geschlossen werden?14 Anwohner und Beobachter, so ist zu lesen, empfinden das Signum 10 Vorstellung und Diskussion fanden im Kino Abaton statt. Der Titel ist eine zynische Anspielung auf die Formulierung des Hamburger Innensenators Andy Grote (SPD), der den G20-Gipfel vorab als „Festival der Demokratie“ angekündigt hatte. 11 Vgl. Kai von Appen, „Das Gesamtklima war früh belastet“, Interview mit Udo Behrendes, in: taz.de, 20.04.2018, URL: http://www.taz.de/!5497699/; Matern Boeselager, Natürlich gab es Polizeigewalt in Hamburg – sagt dieser Polizist, Interview mit Oliver von Dobrowolski, in: Vice Online, 26.07.2017, URL: https://www.vice.com/de/article/kzajj3/naturlich-gab-espolizeigewalt-in-hamburg-sagt-dieser-polizist [beide eingesehen am 09.03.2020]. 12 ipbteam, G20 – warum eskalierte der Gipfel? Interview mit ipb-Forscher Peter Ullrich, in: protestinstitut.eu, 22.08.2017, URL: https://protestinstitut.eu/g20-eskalation-interview-peterullrich/ [eingesehen am 09.03.2020] 13 „Die Bilder von damals hat niemand in der Stadt vergessen, nur hat jeder einen anderen Blick darauf. Die einen erkennen vor allem Gewalttäter, die die Stadt verwüsten, die anderen vor allem Polizisten, die die Kontrolle verlieren. Und am Ende bleibt wie bei einem Kindergartenstreit die Frage: Wer hat angefangen?“ Oliver Hollenstein u. Sebastian Kempkens, Der Aufruhr nach dem Sturm, in: Die Zeit, 27.06.2018. 14 Vgl. o. V., „Wir können solche Räume nicht zulassen“.

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„G20“ geradezu als stadtgeschichtliche Zäsur: „Seit sich im Juli vergangenen Jahres die Staats- und Regierungschef*innen der reichsten Industrie- und Handelsnationen in der Stadt trafen, hat die Stadt eine neue Zeitrechnung.“15 In einer solch angespannten, ja emotionalisierten Situation Forschungsbemühungen über Hamburgs autonome Szene aufzunehmen, mahnt zur Vorsicht. Denn vieles, was derzeit gesagt und geschrieben wird, erweckt den Eindruck assoziativer Kurzschlüsse; die Suche nach dem Schuldigen springt von der Beobachtung urbaner Gewalt zu linker Militanz und wiederum zur ansässigen autonomen bzw. radikal linken Szene. Dabei zeigten Gipfelproteste in den vergangenen Jahrzehnten erstens oft eine Kombination aus einerseits unsystematischer, unstrukturierter, riotartiger Entladung von Gewalt bis hin zu regelrechten Straßenschlachten mit Polizist/-innen, andererseits aus eher militanzkritischen Massenprotesten mit zehntausenden Teilnehmern, die in der Regel von bunten, lagerübergreifenden Bündnissen organisiert werden16 – auch an Orten ohne autonome Szenestrukturen. Zumeist sind es nicht die friedlich protestierenden Massen, sondern vor allem die Krawalle und brennenden Barrikaden, die medial den größten Raum einnehmen und die massivste politische Handlungsdynamik entwickeln.17 Zweitens: Fanden Gipfeltreffen der acht, sieben oder zwanzig wichtigsten Industrienationen in großen Städten und Metropolen statt, kam es häufig zu den schwersten Krawallen und Ausschreitungen. Zurecht ist gerade hier darauf hingewiesen worden, dass Intensität und Eskalationspotenzial der jeweiligen Konflikte stets eng zusammenhängen mit den Interaktionsdynamiken zwischen Aktivist/-innen und polizeilichen Gegenspielern, durch die eine oder die andere Seite allein also nicht erklärbar sind.18 Schließlich: Inwiefern die lokale autonome Szene Hamburgs am Zustan15 Vgl. Katharina Schipkowski, Kampf um die Deutungshoheit, in: taz.de, 17.04.2018, URL: http://www.taz.de/!5496122/ [eingesehen am 09.03.2020]. 16 Vgl. hier und im Folgenden Florian Finkbeiner u. a., Stop-TTIP-Proteste in Deutschland – Wer sind, was wollen und was motiviert die Freihandelsgegner?, Göttingen 2015, S. 9–14. Diese grobe Klassifizierung soll gleichwohl nicht insinuieren, dass die Angehörigen der allgemein als „radikal“ perzipierten, mitdemonstrierenden Gruppen dem Einsatz von Militanz mehrheitlich unkritisch gegenüberstehen. Dem widersprechen beispielsweise jüngere Ergebnisse einer im Rahmen der G20-Großdemonstration durchgeführten Umfrage unter den Demonstrationsteilnehmern, vgl. Philipp Scharf, Radikaler Protest im Kontext des G20-Gipfels, in: Demokratie-Dialog, H. 2/2018, S. 36–40, hier S. 39f. Vgl. auch Sebastian Haunss u. a., #NoG20. Ergebnisse der Befragung von Demonstrierenden und der Beobachtung des Polizeieinsatzes. ipb working paper, Berlin 2017, URL: https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2017/11/ NoG20_ipb-working-paper.pdf [eingesehen am 09.03.2020]. 17 Vgl. auch Dieter Rucht u. Simon Teune (Hg.), Nur Clowns und Chaoten? Die G8-Proteste in Heiligendamm im Spiegel der Massenmedien, Frankfurt a. M. 2008. 18 Vgl. dazu grundlegend Donatella della Porta u. Herbert Reiter (Hg.), Policing Protest. The Control of Mass Demonstrations in Western Democracies, Minnesota 2008.

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dekommen der Ausschreitungen beteiligt war, bleibt Spekulation. Simplifizierend und spekulativ muss das Urteil erscheinen, bei den Gipfeltreffen habe die „autonome[…] Gewalt von Hamburg“ bzw. „der ‚klassische‘ Autonome“ die dortige „Gewaltintensität“ bestimmt.19 Nicht zuletzt haben aufmerksame Beobachter/-innen auf ein weiteres Merkmal der Geschehnisse hingewiesen, welches eigentlich charakteristisch für die meisten „unpolitischen“ riots weltweit20 ist: die Beteiligung von szenefremden Steine- und Flaschenwerfern, von frustrierten Gelegenheitstätern, Anwohnern und Zuschauern.21 Eine Tatsache hingegen ist beispielsweise, dass die Aktivist/-innen selbst immer wieder engagiert über ihre Aktionsrepertoires, insbesondere das Verhältnis zu und die Bewertung von Militanz diskutieren, mithin aber keine gruppenübergreifende Einheitspositionierung zu dieser Frage existiert. Die Hamburgerinnen und Hamburger wissen das. Bereits seit Jahrzehnten zählen die Hamburger Autonomen auf die Konzilianz, ja Sympathie vonseiten nicht geringer Teile der Anwohnerinnen und Anwohner, inklusive einiger gutsituierten Bürgerinnen und Bürger der Stadt. Gerade im Rahmen der nicht wenigen krisenhaften Situationen, in denen die Zukunft des Gebäudes als autonomem Zentrum auf dem Spiel stand, meldeten sich Ansässige zu Wort, die zur Duldung der Roten Flora aufriefen bzw. ihr gar einen gemeinschaftsstiftenden Wert für das Stadtviertel zusprachen – etwa nach dem Brand im hauseigenen Archiv der Roten Flora mit hohem Sachschaden im Spätherbst 1995.22 Auch nach den „No G20“-Protesten und den Straßenkrawallen 2017 richtete sich die Kritik von Ansässigen und Politik in erster Linie auf die Gewalteskalationen selbst – nur wenige sprachen sich für eine Schließung des autonomen Zentrums aus. Gesprächsangebote der Roten Flora wurden auch in dieser Phase breiter Konsterniertheit im Spätsommer 2017 häufig genutzt.23 Gewiss: Aktuell sieht 19 Vgl. Udo Baron, Linksextremisten in Bewegung, in: bpb.de, 18.12.2017, URL: http://www. bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/261924/linksextremisten-in-bewegung [eingesehen am 09.03.2020]. 20 Zum Nachweis dieser Zusammenhänge für die dezentralen riots in Großbritannien 2011 vgl. Tim Newburn u. a., Reading the Riots. Investigating England’s summer of disorder, London 2012, insbes. S. 3–5. 21 Vgl. Simon Teune, Das Scheitern der „Hamburger Linie“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 62 (2017), H. 8, S. 9–12. 22 Vgl. zeck, Dokumentation zum Brand in der Flora am 28.11.95, Sonderausgabe, Hamburg 1992. 23 Vgl. dazu dokumentierend Oliver Schirg u. Sandra Schröpfer, Rote Flora räumen – oder alles so lassen, wie es ist?, in: Hamburger Abendblatt, 22.07.2017, URL https://www.abendblatt.de/ hamburg/article211331927/Rote-Flora-raeumen-oder-alles-so-lassen-wie-es-ist.html, außerdem skandalisierend Geli Tangermann, Vor der Kritik kommt die politische Gesinnung, in: Welt Online, 21.07.2017, URL: https://www.welt.de/regionales/hamburg/article166881680/ Vor-der-Kritik-kommt-die-politische-Gesinnung.html [beide eingesehen am 09.03.2020].

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sich die Hamburger autonome Szene einer besonders persistenten öffentlichen Reizbarkeit und einer angespannten Stadtöffentlichkeit ausgesetzt. So bemüht sich der als Flora-Sprecher gehandelte Andreas Blechschmidt mittlerweile, die Perspektive der Aktivisten öffentlich darzulegen,24 zudem fiel die Demonstration zum „Revolutionären 1. Mai“ im Jahr 2018 historisch friedlich aus.25 Obwohl die genauen Ereignisse also bisher nicht entwirrt werden konnten, ja wahrscheinlich im Detail unentwirrbar bleiben werden, agiert die Szene defensiv. Die Ausschreitungen von „G20“ stellen die lokale autonome Szene insofern vor ein an sich traditionelles Dilemma: Goutiert diese sie öffentlich, riskiert sie eine Empörungs- und Repressionsdynamik, die die Existenz ihrer Zentren, insbesondere die Rote Flora, gefährdet; distanziert man sich von ihnen, droht stets die Patina der kompromisslosen und „unverträglichen“26 autonomen Bastion abzublättern.27 Ob diese Entwicklungen aber zum fundamentalen Zerwürfnis, final doch noch zur Räumung der Roten Flora führen, ist angesichts der langen Chronologie wiederkehrender Unstimmigkeiten und (Wieder-)Annäherungen zu bezweifeln. Doch „G20“ ist nicht das Thema der folgenden Seiten. Weder soll es um eine Chronologie der Proteste gehen noch um eine Evaluation der Eskalationsdynamiken. Das hier verfolgte thematische Interesse richtet sich auf Geschichte und Gegenwart der autonomen Szene Hamburgs bzw. der damit zusammenhängenden Milieus und Subkulturen28 als politischem Phänomen, mithin auf die lokalspezifischen Besonderheiten Hamburgs und der Hamburger Stadtöffentlichkeit. Es geht darum, einen ersten Forschungszugang zu den Besonderheiten, historischen Entwicklungslinien und prägenden Konfliktkonstellationen zu gewinnen. Zunächst sollen wesentliche Aspekte, die einer zukünftigen vertieften Untersuchung lohnen, herausgearbeitet werden. Was bedeutet Radikalität für 24 Vgl. Kaiser u. Schipkowsky, „Eine beachtliche Kaltschnäuzigkeit“. 25 Vgl. o. V.: Polizei zum 1. Mai: „Friedlichster Verlauf seit Jahren“, in: Hamburger Abendblatt, 01.05.2018, URL: https://www.abendblatt.de/hamburg/article214167401/Heute-mehrere-1Mai-Demos-in-Hamburg.html [eingesehen am 09.03.2020]. Dieser Eindruck bestätigte sich bei persönlichen Beobachtungen vor Ort. 26 So die Parole der Kampagne „Flora bleibt!“, URL: florableibt.blogsport.de [eingesehen am 09.03.2020]. 27 Vgl. Karsten Dustin Hoffmann, Rote Flora. Ziele, Mittel und Wirkungen eines linksradikalen Zentrums in Hamburg, Baden-Baden 2011, S. 296. 28 Die Termini „Szene“, „Subkultur“, „Milieu“ und „Bewegung“ werden hier aus Gründen der epistemischen Unvoreingenommenheit noch anspruchslos und kontextbezogen verwendet: während „Szene“ den stadtübergreifenden Zusammenhang autonomer Gruppierungen meint, beziehen sich „Subkultur“ und „Milieu“ auf größere linke und links-alternative Kollektivzusammenhänge, in die die Autonomen eingebettet sind. Von „autonomer Bewegung“ ist die Rede, wenn der dezentrale und historisch gewachsene Charakter der Autonomen und ihrer wesentlichen Themen hervorgehoben werden soll.

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die Hamburger Autonomen, was waren und sind ihre Ziele bzw. Projekte, wie ist es um ihr Verhältnis zur städtischen Mehrheitsgesellschaft bestellt, welche Entwicklungen und Tendenzen zeichnen sich ab? Was bedeutet autonome, somit auch „antibürgerliche“ Politik in dieser Stadt der Bürgerlichkeit, ja der Citoyens? Welchen Einfluss haben die Autonomen auf die lokale politische Kultur, inwiefern zehren sie aber auch von ihr? Um das Forschungsfeld aufzuschließen, soll im Folgenden die Bedeutung von Orten, insbesondere die Konstitution und Konsolidierung besetzter Gebäude zu Szene-Zentren, der daran gebundenen identitätsstiftenden und Verbindungspunkte zur Mehrheitsgesellschaft stiftenden Grundthematik der Wohnraumpolitik, schließlich das szene-interne Diskussions- und Selbstverständigungsbedürfnis am Beispiel der Szenezeitschrift zeck hervorgehoben werden. Zuletzt werfen komprimierende Schlussfolgerungen jene Fragen auf, die bei der künftigen Beschäftigung mit der Hamburger autonomen Szene und ihres lokalspezifischen Kontextes erkenntnisleitend sein sollen. Hausbesetzer, Künstler, Szene-Avantgardisten? Kurze Chronologie der autonomen Szene in Hamburg, ihrer Orte und der Grundthematik der Wohnraumpolitik Hamburg ist – neben Berlin – von Anfang an von konstitutiver Bedeutung gewesen für die autonome(n) Szene(n) in Deutschland. Um das zu verdeutlichen, lohnt sich ein Blick auf die wesentlichen Charakteristika, die ihnen zugeschrieben werden; hier besteht zwischen wissenschaftlichen Stimmen (etwa der Extremismusforschung einerseits, der Protestforschung andererseits) und Szene-Publikationen weitgehend Einigkeit. So wird zunächst hervorgehoben, dass „autonom“ kein distinkter definitorischer Terminus ist, sondern ein Sammelbegriff für lose verbundene Kleingruppen und Netzwerke in der Tradition unorthodox-marxistischer und anarchistischer Bewegungen ohne allgemein verbindliche ideologische Ausrichtung – frei nach einem alten Bonmot: „Wir wissen, was es ist, solange uns niemand danach fragt, aber wir können es nicht sofort erklären oder definieren.“29 Das Konzept der Autonomie wird aber regelmäßig mit dem Ansatz der „Politik der ersten Person“ als unmittelbarer, hierarchiefreier Selbstorganisation zum Zwecke der Befreiung aus alltäglich erfahrbaren gesellschaftlichen Zwängen angeführt30 , ferner die Orga29 Vgl. ursprünglich auf den Begriff der Nation bezogen Walter Bagehot, Physics and Politics, London 1887, S. 20f., zit. nach Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 2005, S. 11. 30 Vgl. Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 143–145.

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nisation in lose zusammenhängenden Kleingruppen und die Schaffung von autonomen Zentren als „Freiräumen“ (hauptsächlich durch die Besetzung von Häusern)31 sowie ein grundsätzlich affirmatives Verhältnis zur – gleichwohl heftig debattierten – Militanz.32 Ein Jahrzehnte überdauernder elementarer Zug der Autonomen ist neben der organisatorischen und inhaltlichen Fragmentierung die interne, bisweilen scharfe Auseinandersetzung über (militante) Aktionsformen, den subkulturellen Umgang, die inhaltliche Ausrichtung und die politischen Ziele.33 Diese thematische Ungebundenheit, die gleichwohl dem energischen Verfechten von Positionen im Einzelfall nicht widerspricht, wurde und wird sowohl von Angehörigen der Szene als auch von anderen linken Gruppierungen als „inhaltliche Beliebigkeit“34 bzw. „Theorielosigkeit“35 bemängelt – geradezu klassisch nachlesbar in der Klage der Gruppe „Für eine linke Strömung“ (FelS), die 1992 im Rahmen der „Heinz Schenk Debatte“ über die Absenz eines „kollektiven Gedächtnisses“ klagte.36 Den stärker militanzorientierten Kleingruppen stehen seit einigen Jahren, auch aufgrund dieser internen Auseinandersetzungen, bündnisorientierte – und bisweilen „postautonom“ genannte – Gruppen gegenüber, die sich als eine „sich einmischende“ radikal linke Kraft verstehen, d. h. eine vermittlungsorientierte „offene und brei-

31 Vgl. ebd., S. 116. 32 Vgl. ebd., S. 169–189. 33 „Im Unterschied beispielsweise zur Anti-AKW-Bewegung oder der Frauenbewegung ist es trotz ihres inzwischen bald 30jährigen Bestehens nicht möglich, ein eindeutiges politisches oder gesellschaftliches Projekt mit den Autonomen zu verbinden.“ Sebastian Haunss, Antiimperialismus und Autonomie – Linksradikalismus seit der Studentenbewegung, in: Roland Roth u. Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M. 2008, S. 505–532, hier S. 508. 34 Vgl. Geronimo Marulanda, Zum Ende einer Bewegung und eines Organisationsansatzes, in: re:volt magazine, 19.04.2018, URL: https://revoltmag.org/articles/zum-ende-einer-bewegungund-eines-organisationsansatzes/ [eingesehen am 09.03.2020]. 35 Vgl. Robert Foltin, A. G. Grauwacke, „Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren“, in: Grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie & Debatte, 2003, URL: http://www.grundrisse.net/ buchbesprechungen/grauwacke.htm [eingesehen am 09.03.2020]. Diesen Diagnosen treten gleichwohl – oft von denselben Autoren verfasste – Perspektiven gegenüber, die nach eigenen Angaben die Erfahrung einer regen Diskussion theoretischer Konzepte gemacht haben, vgl. Robert Foltin, Autonome Theorien – Theorien der Autonomen?, Wien 2015. 36 Vgl. Für eine linke Strömung (FelS), „Heinz Schenk Debatte“. Texte zur Kritik an den Autonomen – Organisationsdebatte – Gründung der Gruppe „Für eine linke Strömung“, 2011, URL: http://fels.nadir.org/multi_files/fels/heinz-schenk-debatte_0.pdf [eingesehen am 09.03.2020].

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te Bündnispolitik“37 verfolgen, und zwar „auch außerhalb ihrer Subkulturen, Kieze und Freiräume“38 . Herausgebildet hat sich die autonome Bewegung über die Aktionsform der Hausbesetzung. Unübersehbar sind hier die Einflüsse der so genannten „Sponti“- bzw. „Hausbesetzer“-Bewegung, die in den 1970er Jahren unter Rekurs auf anarchistisch inspirierten Anti-Dogmatismus und „in Abgrenzung zum Organisationswahn der pseudoproletarischen Sekten“39 und K-Gruppen, über Hausbesetzungen und territoriale Stadtteil-Aneignungsstrategien den „Klassenkampf “ über praktisch geübte Kritik an den gesellschaftlichen Eigentumsverhältnissen führten. Was 1970 im Frankfurter Westend im Konflikt um bezahlbaren Wohnraum und „entmietete“ Altbauten begann,40 setze sich später in Städten wie Berlin oder Hamburg als allgemein prägender Impuls in der Konstitutionsphase der Autonomen Bewegung um. Die Autonomen selbst, die oftmals als „Entmischungsprodukt“ der „Neuen Sozialen Bewegungen“ (Studentenbewegung, Ökopax, u. a.) beschrieben worden sind,41 nahmen ihren Ausgang als heterogene politische Bewegung im Berlin der 1980er Jahre und etablierten sich fortan in mehreren deutschen bzw. europäischen Großstädten als z. T. klischeebehaftete, behördlich beargwöhnte und mythenumrankte Subkultur.42 So ist auch die Hamburger autonome Szene nach dem Vorbild der erfolgreichen West-Berliner Hausbesetzerbewegung von 1980/8143 entstanden. Im

37 Vgl. o. V., Die Interventionistische Linke – Wir über uns, in: Internetpräsenz von Die Interventionistische Linke, URL: http://www.interventionistische-linke.org/interventionistischelinke/die-interventionistische-linke-wir-ueber-uns [eingesehen am 09.03.2020]. 38 Vgl. o. V., IL im Aufbruch – ein Zwischenstandspapier, in: ebd., URL: http://www. interventionistische-linke.org/positionen/il-im-aufbruch-ein-zwischenstandspapier [eingesehen am 09.03.2020]. Im Grunde reichen die Anfänge dieser Diskussion, die stets als Auseinandersetzung zwischen den Positionen eines subkulturellen Rückzugs zum Zwecke der inneren Festigung und Schlagkraft auf der einen Seite und einer stärkeren Öffentlichkeits- und Bündnisorientierung mit der Hoffnung auf den Aufbau einer breiten linksradikalen Bewegung auf der anderen Seite geführt wurden, mutatis mutandis bis in die Jahre der Studenten- bzw. Alternativbewegung zurück, vgl. Wolfgang Kraushaar (Hg.) u. a.: Autonomie oder Getto? Kontroversen über die linke Alternativbewegung, Frankfurt a. M. 1978. 39 Vgl. ders., Die Frankfurter Sponti-Szene. Eine Subkultur als politische Versuchsanordnung, in: Archiv für Sozialgeschichte, H. 44/2004, S. 105–121, hier S. 106f. 40 Vgl. Stefan Jacobs, So entstand die Hausbesetzerszene in Berlin, in: Der Tagesspiegel, 22.05.2018, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/wegen-wohnungsnot-und-entmietungso-entstand-die-hausbesetzerszene-in-berlin/22587090.html [eingesehen am 09.03.2020]. 41 Diese Klassifizierung in Thomas Schultze u. Almut Gross, Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der autonomen Bewegung, Hamburg 1997, S. 38. 42 Vgl. A. G. Grauwacke (Hg.), Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2003. 43 Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1990, S. 168.

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Laufe der 1980er und 1990er Jahre gelang es ihr, sich in diesem Sinne44 als dauerhafte Subkultur in verschiedenen Zentren der Hamburger Innenstadt zu etablieren. Diese Geschichte begann mit zunächst „stillen“, später öffentlichen und schließlich auch dauerhaft erfolgreichen Hausbesetzungen leerstehender und sanierungsbedürftiger Altbauwohnungen in der Hafenstraße von St. Pauli und in der Bernhard-Nocht-Straße im Herbst 1981 und Frühjahr 1982 durch Aktivist/-innen, Punks, Obdachlose, u. a.45 Die Besetzer/-innen gehörten mehrheitlich antiimperialistischen, aber auch linksalternativen Gruppierungen an, politisch solidarisiert wurde sich u. a. mit der Friedensbewegung und auch mit den inhaftierten RAF-Terrorist/-innen. Mehrere kleine Besetzungen in verschiedenen Hamburger Stadtteilen folgten, woraufhin temporäre Mietverträge abgeschlossen wurden, nach deren Auslaufen 1986/87 der Versuch polizeilicher Räumung durch Wiederbesetzung scheiterte. Aktivisten aus dem gesamten Bundesgebiet reisten an, um dem anwachsenden Polizeiaufgebot Paroli zu bieten; sogar der Mäzen Jan-Philipp Reemtsma bemühte sich – wenngleich erfolglos – in Verhandlungen mit der Stadt um einen Erwerb der Gebäude. Eine erneute Räumung konnte 1995 durch Verhandlungen zwischen Bewohnern und Hamburger Senat verhindert werden, seitdem befinden sich die Häuser in genossenschaftlicher Verwaltung durch die Bewohner.46 Nahezu die gesamten 1980er Jahre hindurch waren die besetzten Häuser in der Hafenstraße das maßgebliche autonome Projekt in Hamburg sowie – insbesondere für involvierte wie interessierte Intellektuelle – ein Symbol- bzw. Stellvertreterkampf gegen die sozialen und politischen Kosten sozioökonomischer Modernisierung am Beispiel innerstädtischer Umstrukturierung, damals vorangetrieben von Hamburgs Erstem Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) und gegen die Härte der staatlichen Repression gegen jene Minderheiten, die sich derartigen Entwicklungen entgegen stellten.47 In linken Milieus als Protagonisten einer Hamburger Erfolgsgeschichte wahrgenommen, erlangten die Autonomen auch überregionale und transnationale Strahlkraft.48 Nunmehr 44 Vgl. Kraushaar, Die Frankfurter Sponti-Szene, S. 105. 45 Vgl. o. V., Chronologie der Hafenstraße, in: nadir.org, 24.11.1996, URL: https://www.nadir. org/nadir/archiv/Haeuserkampf/Hafenstrasse/doku.html [eingesehen am 09.03.2020]; ferner hier und im Folgenden Geronimo, Feuer und Flamme, S. 168–171. 46 Vgl. Doris Brandt, Als die Linken ein Filetgrundstück eroberten, in: Zeit Online, 21.10.2014, URL: https://www.zeit.de/hamburg/kultur/2014-09/hamburg-hafenstrasse-geschichte-bewohner/komplettansicht [eingesehen am 09.03.2020]. 47 Vgl. Michael Herrmann u. a., „Hafenstraße“, Chronik und Analysen eines Konflikts, Hamburg 1987, insbesondere S. 9–13 und S. 104ff. 48 Vgl. Peter Birke, Right to the City – and Beyond. The Topographies of Urban Social Movements in Hamburg, in: Margit Mayer u. a., Urban Uprisings. Challenging Neoliberal Urbanism in Europe, London 2016, S. 203ff.

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haben sich die hiesigen Wohngemeinschaften als linksalternative Subkultur konsolidiert, deren Bewohner den Kampf gegen die Gentrifizierung im Netzwerk „Recht auf Stadt“ weiterführen, Flüchtlinge bei sich aufnehmen und sich in verschiedenen Bündnissen beteiligen – durch energischen politischen Aktivismus, große Mobilisierungskraft oder intransigente Militanz aber fällt die St. Pauli-Hafenstraße, jahrelang „international symbol“ der Autonomen49 , heute nicht mehr auf.50 Von nicht geringerer Symbolkraft war und ist die Besetzung des Restgebäudes des ehemaligen Flora-Theaters am Schulterblatt 71 im Schanzenviertel 1989, die sich ebenfalls gegen einen unmittelbar bevorstehenden Gentrifizierungsschub richtete; seither ist die „Rote Flora“ das wichtigste selbstverwaltete autonome Zentrum bzw. linksalternative Kulturzentrum Hamburgs und eines der wichtigsten Deutschlands, das auch zu überregionalen Protestbündnissen mobilisiert. Das historische Gebäude sollte zwischen 1987 und 1989 teilabgerissen und, finanziert durch den Investor Friedrich Kurz, zu einem Musical-Theater umgebaut werden. Ein Bündnis von Anwohner/-innen, lokalen Gewerbetreibenden und autonomen Aktivist/-innen fürchtete steigende Mieten, formierte sich und protestierte gegen diese Pläne, nach Anschlägen auf die Baustelle und wiederholten Besetzungen wurde dieses Projekt schließlich aufgegeben. Das Restgebäude wurde anschließend als Stadtteilzentrum am 23. September 1989 neu eröffnet, mit dem lokalen Protestbündnis ein befristeter Nutzungsvertrag abgeschlossen. Es folgte die Konsolidierung als „Konzentrationspunkt für den Widerstand gegen Umstrukturierungen“51 ; das Neubau-Musicalprojekt wurde 1988 abgebrochen, stattdessen aber das Musical-Theater „Neue Flora“ errichtet, was neuerliche Blockade-Aktionen zur Folge hatte.52 Wiederholt war das Fortbestehen der Roten Flora aufgrund der instabilen Eigentumssituation gefährdet. Nach einem Übergangsvertrag und einem darauffolgenden Räumungsversuch 1992 blieb das Gebäude besetzt und überstand 1995 einen Großbrand.53 2001 wurde es von der Stadt Hamburg an den Investor Klausmartin Kretschmer verkauft, welcher wiederum unter Verweis auf zahlungskräftige Interessenten 2012 versuchte, die Rote Flora an die Stadt Hamburg zurück zu verkaufen. Der Hamburger Senat erließ eine „Veränderungssperre“, die eine dauerhafte kommunale Nutzung des Gebäudes vorschreibt; Kretschmer

49 George Katsiaficas, The Subversion of Politics. European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life, Oakland 2006, S. 124. 50 Vgl. Brandt, Als die Linken ein Filetgrundstück eroberten. 51 Vgl. zeck, Das Flora-Info, H. 2/1990, S. 26. 52 Vgl. Hoffmann, Rote Flora, S. 97. 53 zeck, Dokumentation zum Brand in der Flora am 28.11.95.

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ist daraufhin bis 2014 Eigentümer des privatwirtschaftlich unattraktiv gewordenen ehemaligen Flora-Theaters geblieben.54 Angebote zum Rückkauf vonseiten des Hamburger Senats wurden ausgeschlagen, auch hat man von einem angedrohten Räumungsversuch – nach z. T. gewalttätigen Demonstrationen für den Erhalt der Roten Flora und für die ehemaligen Esso-Häuser – Abstand genommen.55 Infolge eines Insolvenz-Verfahrens gegen Kretschmer wurde das Gebäude 2014 schließlich an die städtische Lawaetz-Stiftung veräußert.56 Auch stand die Rote Flora – z. T. als Politikum und Wahlkampfthema – wiederholt im Zentrum gewalttätiger Ausschreitungen, polizeilicher Ermittlungen und unerbittlicher Repression; so erfolgte im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm eine Hausdurchsuchung durch die Bundesanwaltschaft am 09. Mai 2007 wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung57 , im Zuge des jährlich stattfindenden Schanzenfests, das seit 2011 zum „Gefahrengebiet“ erklärt wird, gab es wiederholt Ausschreitungen und Festnahmen mit eskalativen Höhepunkten zuletzt etwa 2012, 2013 und 2014. Brennende Müllberge und Messerstiche, die einen Rote-Flora-Aktivisten lebensgefährlich verletzten, ließen 2012 allerdings vermuten, dass die Gewaltspitzen von autonomen Nationalist/-innen ausgingen.58 2017 dann entbrannte schließlich die jüngste Diskussion über eine Mitschuld des autonomen Zentrums an den Ausschreitungen um den G20-Gipfel. Die Aktivist/-innen der Roten Flora bezeichnen all diese Ereignisse allerdings selbst als mehrteiliges „Desaster“, als Ergebnis eines zunehmend autoritär-kompromisslosen, politisch sekundierten Vorgehens der Polizei, dessen Ziel vornehmlich die Delegitimation gesellschaftskritischen Protests darstelle.59 In diesem Zusammenhang stehen auch mehrere 54 Vgl. Thomas Hirschbiegel, Wie groß sind die Geldsorgen von Klausmartin Kretschmer?, in: Hamburger Morgenpost (MOPO), 06.11.2012, URL: https://www.mopo.de/hamburg/-roteflora–besitzer-wie-gross-sind-die-geldsorgen-von-klausmartin-kretschmer–5860790 [eingesehen am 09.03.2020]. 55 Vgl. o. V., Großdemo für den Erhalt der „Roten Flora“, in: Süddeutsche Zeitung, 21.12.2013, URL: http://www.sueddeutsche.de/panorama/grossdemo-fuer-den-erhalt-der-roten-floraschwere-ausschreitungen-in-hamburg-dutzende-verletzte-polizisten-1.1849131 [eingesehen am 09.03.2020]. 56 Vgl. o. V., Stadt Hamburg kauft Kretschmer die Rote Flora ab, in: Hamburger Abendblatt, 31.10.2014, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Flora#cite_note-38 [eingesehen am 09.03.2020]. 57 Vgl. Frank Pergande, Die Rote Flora und ihre Bande, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.05.2007, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/demonstrationen-von-g-8-gegnern-dierote-flora-und-ihre-bande-1434961.html [eingesehen am 09.03.2020]. 58 Vgl. Peter Müller, Angriff von rechts, in: taz.de, 07.09.2012, URL: http://www.taz.de/ Messerstiche-beim-Schanzenfest/!5084530/ [eingesehen am 09.03.2020]. 59 Vgl. Plenum der Roten Flora, Spaceballs in Danger Zone. Die Hamburger Polizei zwischen intellektueller Krise und autoritärer „Bürgernähe“, in: rote-flora.de, 16.05.2018,

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– später bekannt gewordene – verdeckte Ermittlungen durch getarnte LKABeamte. Beispiellos und schlagzeilenträchtig fiel vor allem die Aktivität einer LKA-Beamtin mit dem Decknamen Iris Schneider aus, die zwischen 2000 und 2006 u. a. in den Strukturen der Roten Flora und des Freien Sender Kombinats (FSK) tätig gewesen ist und persönliche, z. T. intime Beziehungen mit Aktivist/-innen unterhielt.60 In Sachen Kontinuität und Selbstbehauptung kann also auch die Rote Flora als autonome Erfolgsgeschichte gelten. Allerdings: Die städtebauliche Modernisierung des Hamburger Innenstadtbereichs zu verhindern, ist dem linken Milieu in Hamburg nur partiell (wie etwa im Erhalt des Gängeviertels) gelungen. Auch sind neuere Versuche seit der Jahrtausendwende, konkrete Investitionsprojekte und Umbaupläne mit dem Mittel der dauerhaften Besetzung zu verhindern, misslungen. Ein solcher Konfliktfall war etwa der Protest gegen den Umbau des Schanzenturms, einem ehemaligen Wasser-Hochreservoir zum Hotel 2003/2005, teilweise getragen von über 1000 Personen.61 Die Unterstützung durch die ansässige Bevölkerung, die eine wesentliche Bedingung des früheren Erfolgs gewesen ist, blieb diesmal aus. Im Gegensatz zu den großen Besetzungen der 1980er Jahre verhielten sich die Bürgerinnen und Bürger in diesem Fall eher passiv, sodass eine dauerhafte Besetzung nicht gelang; der baufällige Turm wurde daraufhin ab 2005 entkernt und unter Polizeischutz umgebaut;62 seit 2007 ist dort das Mövenpick Hotel Hamburg ansässig. Die städtische Wohnraumpolitik, insbesondere Abriss- und Investitionspläne mit bewohnten Altbauten, Auseinandersetzungen mit Repräsentant/-innen der Judikativ- und Exekutivgewalt (etwa situativ im Rahmen von Demonstrationsgeschehen oder allgemein unter dem Stichwort „Antirepression“) bildeten stets die zentralen Reibungspunkte des autonomen Protests in Hamburg; in geringerem Maße, aber doch wiederkehrend sind es die antifaschistische Mobilisierung gegen rechtsextremistische Gruppen und Demonstrationen, der Antirassismus in Form von Solidaritätsbekundungen und -aktionen zugunsten von Migrant/-innen und Geflüchteten, aber auch der Antisexismus und die Emanzipation von bürgerlichen Geschlechternormen, insbesondere in Bezug URL: https://rote-flora.de/2018/spaceballs-in-danger-zone-die-hamburger-polizei-zwischenintellektueller-krise-und-autoritaerer-buergernaehe/ [eingesehen am 09.03.2020]. 60 Vgl. Hanning Voigts, Mitten ins Herz, in: Frankfurter Rundschau, 05.11.2014, URL: http:// www.fr.de/politik/rote-flora-mitten-ins-herz-a-534227 [eingesehen am 09.03.2020]. 61 Vgl. André Zand-Vakili, Ein Stadtteil im Ausnahmezustand, in: Die Welt, 17.01.2005, URL: https://www.welt.de/print-welt/article364556/Ein-Stadtteil-im-Ausnahmezustand.html [eingesehen am 09.03.2020]. 62 Vgl. André Zand-Vakili, Unter Polizeischutz beginnt der Umbau des Wasserturms, in: Die Welt, 11.01.2005, URL: https://www.welt.de/print-welt/article363349/Unter-Polizeischutzbeginnt-der-Umbau-des-Wasserturms.html [eingesehen am 09.03.2020].

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auf die Ausgestaltung dauerhafter „Freiräume“ in der Roten Flora.63 Das zentrale Scharnier, welches autonome Szene, alternatives Milieu und kulturschaffendes Bürgertum der Stadt miteinander verband, waren stets politische Initiativen zur Verteidigung des innerstädtischen Raums gegen Privatisierungs- und Investitionsbestrebungen. Denn die einschlägigen Stadtteile – Hamburg-Altona und St. Pauli – sind in den letzten Jahrzehnten auch Schauplätze städtebaulicher Modernisierung und wirtschaftlichen Fortschritts, der Anwerbung zahlungskräftiger Investoren, steigender Mieten und des Anwachsens hochpreisigen Wohnraums gewesen – kurz: der sozioökonomische, als „Neoliberalisierung“ wahrgenommene Strukturwandel der Stadt, der die Bürger/-innen aus Sicht der Aktivist/-innen zunehmend in „Armen-“ und „Reichenviertel“ segregiere. Das Stichwort lautet Gentrifizierung bzw. in den frühen 1990er Jahren „Umstrukturierung“64 . Die besonders enge Verflechtung autonomer bzw. linker Milieus mit der städtischen Mehrheitsgesellschaft ist an der Popularität von Slogans wie der Demonstrations-Parole „Mietenwahnsinn stoppen – Wohnraum vergesellschaften“ aus dem Jahr 201165 abzulesen. Seit 2009 beruft sich ein Künstlerkollektiv namens Gängeviertel e. V. auf das „Recht auf Stadt“, welches zwölf Gebäude des Hamburger Gängeviertels am Valentinskamp besetzt hält.66 Jenes Viertel, welches infolge einer geplanten Übernahme durch den niederländischen Investor Hanzevast Capital N.V. kurz vor dem nahezu vollständigen Abriss stand,67 ist seitdem wesentlicher Bestandteil der bunten Anti-Gentrifizierungskampagne.68 Abgesehen von der tradierten Strategie der Hausbesetzung als Mittel gegen die „Neoliberalisierung“ der Stadt und des Wohnraums69 und einer allgemeinen linken bzw. linksalternativen Ausrichtung der Kunstprojekte im Gängeviertel 63 Dieses Themenpanorama taucht sowohl in der verschiedenste Strömungen vernetzten Zeitschrift zeck auf, als auch in Onlineplattformen wie nadir.org, ferner im Kontext von auf Demonstrationen verteilten Flugblättern und Broschüren sowie dort skandierten Parolen und präsentierten Transparenten. 64 Vgl. zeck, Das Flora Info, H. 6/1992, S. 6–9. 65 Vgl. Kampagne „Flora bleibt unverträglich“, Mietenwahnsinn stoppen – Wohnraum vergesellschaften, in: zeck, info des graues, H. 164/2011, S. 10f. 66 Birke, Right to the City, S. 221. 67 Vgl. Thomas Hirschbiegel u. Jane Masumy: Anwohner Verzweifelt. Rettet unser Gängeviertel!, in: Hamburger Morgenpost, 09.05.2009, URL: https://www.mopo.de/anwohner-verzweifeltrettet-unser-gaengeviertel–20384946 [eingesehen am 09.03.2020]. 68 Vgl. o. V., Das Gängeviertel, in: Internetpräsenz der Hausbesetzer des Gängeviertels, 2015, URL: http://das-gaengeviertel.info/ [eingesehen am 09.03.2020]. 69 Vgl. sinngemäß Recht auf Stadt (RAS), Recht auf Stadt. Der Kongress. Hamburg 2–5 June 2011 [sic], URL: http://kongress.rechtaufstadt.net/ [eingesehen am 09.03.2020]; ferner die Namensgebung des Sammelbandes Margit Mayer u. a., Urban Uprisings. Challenging Neoliberal Urbanism in Europe, London 2016.

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handelt es sich hier zwar nicht um ein genuines autonomes Zentrum im Sinne der Schaffung von quasi-monastischen „Freiräumen“, sondern vielmehr um ein möglichst publikumsoffenes Konzept der kollektiven Nutzung von altbaulichen Räumlichkeiten zur Förderung des Gemeinwesens.70 Der nicht nur im Gängeviertel, sondern auch in mehreren dezentralen so genannten „autonomer Wohnprojekten“71 geübte und in den letzten Jahren durch das Säurebad handfester Auseinandersetzungen geschärfte Widerstand gegen innerstädtische demographische Umstrukturierungsstrategien im Sinne globalisierungsfreundlicher Standortpolitik, wie sie zuletzt im Leitbild „Wachsende Stadt“ von 2002 niedergelegt worden ist72 und die Privatisierung von Wohnflächen genießt breite moralische bzw. soziokulturelle Unterstützung durch große Teile der Hamburger Bürger/-innen. Hamburg gilt daher geradezu als „most spectacular example of the constitution of a Right-to-the-City network“.73 Und dieses Netzwerk wird eben auch von Teilen der Autonomen, die im Gängeviertel aktiv sind, als „gelebte Vision“ aufgefasst74 – man beruft sich auf ein utopisches Potenzial, das auch der linksalternative Künstler und Aktivist „Captain Gips“ in programmatischen Sprechgesang fasste: „Keine Diskussion - Wir bleiben hier! / Eine Oase in dieser Welt von Neid und Gier / Ich kämpfe gegen das Grau, ich bin im Farbrausch / Wenn ihr Geld machen wollt, verkauft doch das Rathaus / Diese ganze Scheiße hat mich krank gemacht / Es geht nicht um ein Viertel, es geht um die ganze Stadt / Wir sind da und wir bleiben hier / neben Springer und dem Polizeirevier.“75 Gerade am Beispiel Hamburgs zeigt sich, wie wichtig Orte, d. h. besetzte Gebäude, die sie umgebenden Viertel, auch kleinere Lokalitäten für die Genese und Realität der autonomen Szene als sozialer Bewegung sind – unter Umständen wichtiger als dezentrale autonome Bündnisse wie die „Interventionistische Linke (IL)“ oder das antikapitalistische Bündnis „Rise Up!“, die durch solche Bündnisse organisierten Großdemonstrationen und andere tradierte Rituale wie das Schanzenfest. Denn Orte stiften Sinn und Kontinuität, bündeln 70 Vgl. o. V., Das Gängeviertel. 71 Vgl. Dachverband autonomer Wohnprojekte, Das Gängeviertel, 2015, URL: http://dawhh. org/?page_id=105 [eingesehen am 09.03.2020]. 72 Vgl. Staatliche Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg, Leitbild: Metropole Hamburg – Wachsende Stadt, 11.07.2002, URL: http://www.wachsender-widerstand.de/wachsende_ stadt.pdf [eingesehen am 09.03.2020]. 73 Vgl. Birke, Right to the City, S. 203f. 74 Vgl. Gängeviertel, Standpunktpapier August 2011, Mehr als ein Viertel, in: zeck, info des graues, H. 164/2011, S. 11–14, hier S. 14. 75 Captain Gips, „Gängeviertel“, in: Captain Gips u. Johnny Mauser, Neonschwarz, Hamburg 2010. Auf demselben Album befindet sich ein Titel namens „Flora bleibt“, der zur Indizierung des Albums führte.

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in Konstitutionsphasen (meist qua Besetzung) noch lose organisierten Protest, verankern die Szene im Laufe der Zeit in der Stadtkultur und dienen als Diskussionsplattformen, Ankerpunkte und Refugien; zugleich fördern sie die Legendenbildung nach innen wie außen und sichern dank ihrer Symbolkraft immer wieder mediale Aufmerksamkeit. Die eine Szene prägenden Ereignisse und konfliktträchtigen Zündfunken spielen sich in ihrem Umfeld ab. Insofern sind diese Orte auch Kaderschmieden nachrückender Aktivist/-innen. Und aus all diesen Gründen stehen sie immer wieder im Zentrum energischer polizeilicher Repression. Diese Orte sind es auch, die die Verflechtung der autonomen Szene mit der Mehrheitsgesellschaft, ja vielleicht sogar ihre latente Bürgerlichkeit deutlich machen. Denn die autonome Szene Hamburgs siedelt mehrheitlich nicht in strukturschwächeren Gegenden, sondern im attraktiv gelegenen Stadtzentrum, in geräumigen Altbauten aus dem 19. Jahrhundert oder der Gründerzeit. Das phasenweise Sympathisieren der Anwohner/-innen und eines gewissen urbanen und strukturell linksliberal-kosmopolitischen Milieus war in Hamburg Konstitutionsbedingung und – neben der Intransigenz der Hausbesetzer/-innen – auch wesentliche Erfolgsdeterminante. Gewachsener, geradezu traditioneller Sympathien können die autonomen Aktivist/-innen sich vor allem im Schanzenviertel des Bezirks Hamburg-Altona, aber auch in St. Pauli, dem Viertel der Hafenstraße, und in Hamburg-Neustadt, dem Quartier des Gängeviertels am Valentinskamp, sicher sein.76 Insbesondere in den 1990er Jahren scheinen manche Hamburger/-innen die Autonomen als zwar stachlige und provokante, aber doch grundsätzlich berechtigte Vorhut des eigenen Unmuts wahrgenommen zu haben. Ohne jenes ansässige bürgerliche Umfeld, das dem Kampf gegen die Durchkapitalisierung des Wohnraums und steigenden Mieten zum Teil ebenso kritisch gegenübersteht (Die starke Verflechtung der Hamburger Autonomen mit der lokalen Zivilgesellschaft rührt maßgeblich von dieser gemeinsamen Protestgeschichte her.), hätten auch die antibürgerlichen Aktivist/-innen keinen Erfolg haben können – sind sie doch angesichts der strukturellen Analogien und des akademischen Duktus in großen Teilen selbst vermutlich, wie schon die Protagonist/-innen der studentenbewegungsnahen „Alternativkultur“ der 1960er/70er Jahre mit ihren linken Wohngemeinschaften und kollektiv organisierten Zentren77 Sprösslinge wohlbehüteter und sozial wie ökonomisch 76 Distanz und Ablehnung erfahren die Hamburger Autonomen wenig überraschend vonseiten der reicheren Viertel, insbesondere Pöseldorf oder Blankenese. 77 Vgl. Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 645–661, insbesondere S. 652: „1974 waren 80 Prozent der Bewohner zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt – mit einem Schwerpunkt in

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arrivierter Elternhäuser. Gewiss: Zu Anfang, etwa bei der Besetzung der Hafenstraße, waren nicht nur Jugendliche, Studierende und Punks unter den Aktivist/innen, sondern auch Obdachlose.78 Doch dauerhaft konsolidiert haben sich stets, nicht allein in Hamburg, jene zentral gelegenen Lokalitäten mit ihren ressourcenstarken und engagierten Netzwerken, und zwar aller Selbstkritik zum Trotz, mit seinem politischen Projekt letztlich auf „Metropolenarroganz“79 verengt zu sein. Am Beispiel der Roten Flora, ihres von Annäherungs- und Distanzierungsdynamiken geprägten Verhältnisses zur Stadtöffentlichkeit und ihrer Evolution zum autonomen Kulturzentrum unter Beteiligung verschiedener Subkulturen (Hip Hop, Studenten, Skateboarder, usw.)80 wird deutlich, dass gerade in den genannten Erfolgsbedingungen zugleich auch Erosionsprozesse angelegt sind. Denn dadurch, dass die Rote Flora dem einst grauen Schanzenviertel zu extravagant-touristischem Charme für Außenstehende verholfen hat und zwischenzeitlich auch als Party-Location für Jugendliche aus allen gesellschaftlichen Schichten fungierte, beförderte sie die Strahlkraft dieses Viertels, in welchem sich seit mehreren Jahren kreative Gewerbeformen und junge Start-Ups ansiedeln. So verrät bereits ein Blick in einschlägige Plattformen für interessierte Gründer,81 dass das heutige Schanzenviertel82 zu Deutschlands mondänsten Innenstadtkernen zählt – und lässt vermuten, dass das dort ansässige autonome Zentrum paradoxerweise jene Prozesse der Gentrifizierung, die zu unterbinden es ursprünglich angetreten war, womöglich beschleunigt hat. Und: Ohne sich in normativen Diskussionen über Authentizität von Gruppenzusammenhängen oder wünschenswerte politische Zielvorstellungen zu verfangen, kann doch

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den mittleren 20er Lebensjahren – mehr als drei Viertel hatten Hochschulreife, 30 Prozent bereits einen Hochschulabschluss, bei den Studiengängen dominierten sozialpädagogische Fächer, Geisteswissenschaften und Psychologie […] In Wohngemeinschaften mischten sich soziale Aufsteiger (37 Prozent der Väter hatten Volksschulabschluss) mit Kindern aus Akademikerfamilien (…25 Prozent Hochschulabschluss) […]“ sowie S. 653: „Wohngemeinschaften waren am häufigsten in Großstädten anzutreffen, und hier in den Stadtzentren, vor allem in Wohnungen aus der Zeit um die Jahrhundertwende, die am ehesten jene ‚funktionale Offenheit‘ boten, die ihre spezifischen Nutzungszwecke erforderten: viele und große Zimmer von ähnlichem Zuschnitt, einen potentiellen Gemeinschaftsraum, ein großes Bad.“ Vgl. Herrmann u. a., „Hafenstraße“. Vgl. ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, Münster 2010, S. 159–185 sowie S. 405. Vgl. Hoffmann, Rote Flora, S. 295. „Gute Chancen, ein paar Hamburger Gründer ungezwungen auf einen Kaffee zu treffen, hat man auch im Café Elbgold, dem heimlichen Wohnzimmer des Schanzenviertels.“ Zit. aus Jan Strozyk, So geht Gründen in Hamburg – die wichtigsten Anlaufstellen, in: gruenderszene.de, 26.05.2014, URL: https://www.gruenderszene.de/allgemein/hamburg-gruender-guide [eingesehen am 09.03.2020]. Ähnliches gilt für das heutige St. Pauli.

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die Frage gestellt werden, ob Hafenstraße oder Gängeviertel überhaupt noch „eigentliche“ autonome Orte sind, da sich die Verflechtung mit der Stadtgesellschaft gerade hier bis zur kulturellen Re-Integration entfaltet hat. Freilich ist der städtische Frieden trotz vieler gemeinsamer Schnittmengen auch immer wieder getrübt. Die Debatte um autonome Militanz, beispielsweise anlässlich der wiederholten Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant/innen und Polizei zu den „Revolutionären 1. Mai“-Protesten,83 obligatorisch gefolgt von Diskussionen um eventuelle Gefährdungslagen durch lokale Szenestrukturen, gehört zu den sich strukturell wiederholenden Kapiteln der Stadtchronologie, nimmt sie doch im öffentlichen Diskurs immer wieder einen Platz ein. Stets changieren die einschlägigen Kommentare und Diskussionseinwürfe zwischen Entzauberung, Mythologisierung und Dramatisierung der autonomen Szene. Wer sich mit Hamburg beschäftigt, sieht das schnell. Weniger bekannt hingegen dürfte das außergewöhnlich hohe Selbstreflexionsbedürfnis der autonomen Szene sein, wie es Publikationen und Periodika aus der Szene anzulesen ist. Organisation und Militanz: Das hohe Diskussions- und Selbstverständigungsbedürfnis der lokalen autonomen Szene am Beispiel der zeck Naturgemäß ist wenig bekannt über szene-interne Auseinandersetzungen, vollziehen sich viele der entsprechenden Diskussionen doch in nichtöffentlichen Räumen und Szene-Zusammenhängen. Andererseits aber offenbaren die öffentlich zugänglichen Plattformen und Zeitschriften immer wieder – und ganz besonders zwischen 1995 und 2005 – das Bestreben, öffentlich zu wirken, in Debatten zu intervenieren, die eigene politische Arbeit entlang der Stichworte Aktion, Organisation, Militanz, Freiraum sowie der Themenfelder AntiGentrifizierung, Antirepression, Antirassismus und Antisexismus zu rechtfertigen und zu vermitteln, und über diesen öffentlichen Weg auch lokale bis bundesweite Vernetzungen zu leisten. Nachvollziehbar ist das etwa anhand des jüngst eingestellten Szene-Periodikums zeck, der Zeitschrift des Freien Sender Kombinats (FSK) transmitter und der Internetplattform nadir.org. Das hier vorliegende reichhaltige Material umfänglich zu sichten, bedarf sorgfältiger Studien und ist nicht mit wenigen Sätzen zu erschließen. Aus diesem Grund müssen hier ausgewählte Hinweise unter Rekurs auf die zwischen 1992 83 Vgl. Annika Prigge, 1. Mai in Hamburg. Die Krawalle der vergangenen fünf Jahre, in: Hamburger Morgenpost (MOPO), 01.05.2017, URL: https://www.mopo.de/hamburg/1–mai-inhamburg-die-krawalle-der-vergangenen-fuenf-jahre-26302648 [eingesehen am 09.03.2020].

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und 2017 meist im Zweimonats-Rhythmus erschienene Vernetzungs-Zeitschrift zeck genügen, die den Eindruck eines regen Diskussions- und Selbstverständigungsbedürfnisses zumindest indizieren. Die Zeitschrift zeck bildet die fundamentale Heterogenität der autonomen Szene plastisch ab. Dies ist bereits ablesbar an der Bandbreite der als Autor/innen aufgeführten Gruppen und Bündnisse zwischen Autonomen, Antifaschisten, Anarchisten, Künstlerinitiativen und Umweltaktivisten: Zu nennen sind etwa Interventionistische Linke (IL), Antifaschistische Linke International (ALI) Hamburg, Anarchistische Gruppe/Rätekommunisten, die Kampagne Comprehensive Resistance, Autonome Antimilitaristische Initiative, indymedia, antirepressionsgruppe Hamburg, Gängeviertel e. V., Rote Flora, Freies Sender Kombinat (FSK), Gruppe Revolutionärer Kampf, uvm. Aber auch die formale und inhaltliche Varietät der Beiträge ist beachtlich: Die Textsorten rangieren zwischen Demonstrationsaufrufen, Thesenpapieren und Diskussionsprotokollen, (Selbst-) Kritiken, politischen Manifesten und Erklärungen, kämpferischen Selbstverständnis-Dokumenten, Selbstbezichtigungsschreiben, und Protokollen bzw. Analysen zu Aktionsformen und Polizeitaktiken. Thematisch dominieren die Kritik an Gentrifizierung und Wohnraumpolitik, ferner die Themenbereiche „Anti-Repression“ (d. h. Auslassungen über staatliche Institutionen, Justiz und Polizei), Antifaschismus und Antirassismus (insbesondere Kampfansagen gegen Rechtsextremisten und gegen die bundesrepublikanische bzw. europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik), Antikapitalismus (die Rückführung gesellschaftlicher Probleme auf marktwirtschaftliche Organisationsprinzipien), aber auch die z. T. diffuse Kritik an Staatenbündnissen und allgemeinen politischen Kräfteverhältnissen (NATO, Gipfeltreffen, Wahlergebnisse, Regierungswechsel u. a.) Oft wurden in der zeck Demonstrationsprotokolle von den jeweils beteiligten Gruppen veröffentlicht, die neben einer Anklage des staatlichen Sicherheitsapparates auch eine Rechtfertigung des eigenen Vorgehens entfalten.84 Auffällig ist, dass einige der schärfsten Auseinandersetzungen im Nachgang szeneinterner Reibungspunkte erfolgen – meist kristallisiert in periodisch wiederkehrenden Debatten über autonome Organisation und Militanz. Der Anspruch auf Hierarchiefreiheit in szeneinternen „Freiräumen“ und auf spontaneistische bzw. situative „Politik der ersten Person“ mündete immer wieder in den Dilemmata informeller Machtverhältnisse, persönlicher Querelen und ausufernder Eigendynamiken; viele für die Szene wertvolle Erfahrungsressourcen und Kompetenzen sowie inhaltliche Errungenschaften fielen wiederholt der typischen Fluktuation der mehrheitlich von Jugendlichen 84 Vgl. beispielhaft jüngst o. V., [KI] 70 auf unangemeldeter Demonstration gegen G20Repression und Polizeigewalt, in: zeck, Das Heft zum Abschied, H. 200/2017, S. 5.

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und jungen Erwachsenen bevölkerten Szene-Kollektive zum Opfer. So scheiterte auch mancher Hamburger Gruppenzusammenhang am eigenen Anspruch, es in Sachen Lebens- und Habitusformen antihierarchisch oder antisexistisch besser zu machen als die Mehrheitsgesellschaft;85 so erfuhren bestimmte militante Aktionen Ablehnung und gerieten in den Verdacht eines schlechten, d. h. apolitischen Aktionismus. Aber: Jeder wohlfeile Verweis auf die Unerfüllbarkeit der quasi-monastischen Maximen der Autonomen bricht sich an der ebenso wiederkehrenden, klaren Selbstkritik von Szene-Mitgliedern und der wiederholten Diskussion von autonomen Strukturen, autonomer Geschichte, autonomer Theorie und autonomer Öffentlichkeitsarbeit. Bei Positionierungsversuchen und Zielformulierungen gehört die Aufforderung zum Einspruch durch Aktivist/-innen, Bündnispartner/-innen oder Sympathisant/-innen zum guten Ton.86 Es existiert, auch in Hamburg, eine Tradition des Selbstverständnis-, Organisations- und Aktionsstreits, wie sie regelmäßig auch im Kontext überregional vernetzender autonomer und Antifa-Kongressveranstaltungen ausgetragen wurden.87 Man ist versucht, diese lokalen wie bundesweit ausstrahlenden Abläufe als eine Heinz-Schenk-Debatte in Permanenz zu bezeichnen. Dasselbe gilt für den in der zeck dokumentierten Stellenwert der Militanz zwischen kämpferischer Haltung und gewalttätigem, mitunter gar zu verwerfendem Protest. Militant zu sein, stiftet Identität und Bindung, ist ein Grundpfeiler der eigenen Radikalität. Doch bedarf die linke Militanz, um nicht sinnlose, „entpolitisierte“88 Destruktivität zu sein, ganz wesentlich der Legitimation durch ein höheres – in den 1990er Jahren z. B. antiimperialistisches89 – Ziel, wird daher auch zumeist als „Gegengewalt“ wider die Übermacht der kapitalistischen Wirtschaftsform, die „sexistische“ Normalität des Geschlechterumgangs90 und 85 Vgl. antisexist contact and awarenessgroup, Zum aktuellen Umgang mit einem Vergewaltiger – Solidaritätserklärung, in: zeck, die kletterzeitschrift aus der flora, H. 142/2008, S. 6; o. V., Kritik an der Verharmlosung subjektiver Wahrnehmung, in: Ebd., S. 7f.; besonders scharf auch o. V., Jetzt gilt’s, in: Ebd., S. 9–12. 86 Vgl. die Internetpräsenz des Netzwerks „Recht auf Stadt“, URL: http://kongress.rechtaufstadt. net/ [eingesehen am 09.03.2020] Nach einem mehrteiligen Selbstverständnis wird der Leser aufgefordert, „Kommentare, Ergänzungen oder Widerspruch zu diesen Thesen“ einzureichen. 87 Vgl. den an eine New-Economy-Werbekampagne erinnernden Text vom KongreßiniVorbereitungsplenum, Grundrisse autonomer Politik. Autonome auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, in: zeck, Das Flora Info, H. 24/1994, S. 28f. 88 Vgl. im Kontext des Schanzenfests 2011 titanic blubb 2,5 – ein Zusammenhang aus dem Umfeld der Roten Flora, Splitter der Nacht. Die Londoner Riots und die gestörte Nachtruhe am Schanzenfest, in: zeck, info des graues, H. 164/2011, S. 5–9. 89 Vgl. o. V., BekennerInnenschreiben zum Anschlag auf das Rechtshaus vom 21.11.92, in: zeck, Das Flora Info, H. 9/1992, Sonderbeilage S. 1–5. 90 Vgl. die Anzeige „GRAPSCHEN MACHT IMPOTENT. sexismus im alltag angreifen!, in: zeck, das info aus der roten flora, H. 145/2008, S. 12.

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des tendenziell repressiven Staates, mitunter inklusive körperlicher Gewalt gegen Polizisten, verstanden.91 Militanz weist, sofern sie auf dieser Legitimationsgrundlage fußt, den Weg in eine nicht näher spezifizierte, eigentlich nur ex negativo bestimmte „andere“ Gesellschaft, wird in diesem Sinne bisweilen als „logische Konsequenz“ einer „Gesellschaftsanalyse“ aufgefasst.92 Größere Vorkommnisse wie der Gipfelprotest von Heiligendamm 2007 werden daher in der Regel im Nachgang akribisch analysiert und als Einladung zu neuen Selbstverständigungsrunden aufgefasst.93 Somit spiegelt sich mit der „Gewaltdebatte“ in Hamburg über viele Jahre hinweg ein Kernthema der autonomen Bewegung, nämlich einerseits die militante Aktionsform, d. h. die „Straßenschlacht oder gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei im Rahmen von Demonstrationen und als Sabotageaktion oder auf Sachschaden zielende Anschläge im Rahmen lokaler oder überregionaler Kampagnen“94 , andererseits Militanz als Komponente der Außendarstellung unter Autonomen, als nach innen wirkendes Medium der Gruppenkohärenz. Die hier zur Schau getragene fundamentaloppositionelle Grundhaltung dient somit immer auch als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer sozialen Bewegung mit ihrem energischen Voluntarismus, der im Namen militanter Kleingruppen gegen übergreifende Bewegungszusammenhänge in Stellung gebracht wird. „Militante Praxis“, so heißt es 2008 in einer Ausgabe der Hamburger Szenezeitschrift zeck im Kontext der Ausschreitungen von Heiligendamm, „drückt eine politische Haltung aus: Unversöhnlichkeit, Unvereinbarkeit mit herrschenden Verhältnissen.“95 Von der Beinahe-Ubiquität des Militanzbegriffs innerhalb der Szene auf tatsächliche Gewaltpraxis zu schließen, übergeht gerade den

91 Vgl. Gruppe Revolutionärer Kampf, Dokumentation, in: zeck, Info aus der Roten Flora, H. 166/2012, S. 11. 92 Vgl. PAULA (überregionales Plenum – antiautoritär – unversöhnlich – libertär – autonom), PAULA erklärt sich. „Eine logische Konsequenz unserer Gesellschaftsanalyse ist auch eine militante Praxis“, in: zeck, Das Krawallblatt aus der Roten Flora, H. 140/2007, S. 10–12; o. V., Einige Gedanken zur militanten Kampagne, in: zeck, das militanzorientierte magazin aus der flora, H. 141/2007, S. 16–18. 93 Vgl. plan b continua – vive la commune des brigades internationales, g8 autonom nachgeschaut, in: zeck, Die Elektroentsorgungsfachzeitschrift aus der Flora, Nr. 139, 2008, S. 8–10; Anonyme Linksradikale Gruppe (ALG), Falsche Kritik, famose Krawalle – was uns zur „Gewaltdebatte“ einfällt, in: Ebd., S. 11; Die rosa roten Panterchen, „In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod“, Betrachtungen zur linksradikalen Mobilisierung gegen den G8 in Heiligendamm, in: Ebd., S. 12–14; Schwarz-Rote-Hilfe Münster e. V., Auswertung Heiligendamm – EA/Legal Team, in: Ebd., S. 15f. 94 Haunss, Identität in Bewegung, S. 123. 95 Vgl. o. V., Militante Praxis, in: zeck, die kletterzeitschrift aus der flora, H. 142/2008, S. 21f., hier S. 21.

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Inszenierungscharakter96 von linker Militanz, der keineswegs voraussetzt, dass einzelne Aktivisten in actu gewalttätig werden.97 Zudem fällt auf: Ausufernde militante Ereignisse, aber auch rigoroses antisexistisches Durchgreifen im alltäglichen Umgang werden zumeist mit Sorge und Selbstreflexionsbedürfnissen sowie an die Szene und die eigenen Gruppen gerichteten Verständigungsversuchen quittiert. Maßstäbe der Beurteilung eingesetzter Mittel und Praktiken sind dabei sowohl strategischer Natur (Bündnisfähigkeit), aber eben auch das Fernziel emanzipativer Ideale.98 So hieß es auch unmittelbar nach den G20-Ausschreitungen im Juli aus der Roten Flora: „Emanzipatorische Politik bedeutet für uns nicht, Unbeteiligte in Angst und Schrecken zu versetzen. Wir können verstehen, dass Menschen in der Nachbarschaft auf die Ereignisse des Wochenendes mit Fragen und Unverständnis reagieren.“99 Und es distanzierte sich der mit der Szene vernetzte Anwalt Andreas Beuth mit großem Nachdruck von seinem medial weit verbreiten adhoc-Kommentar, die riot-artigen Krawalle im Schanzenviertel, denen er eine „gewisse Sympathien“ entgegenbringe, hätten besser „irgendwo in Pöseldorf oder in Blankenese“ gepasst, d. h. in die identifizierbaren Reichenviertel.100 Doch es gibt auch inhaltliche Bruchlinien bis hin zum Schisma, die die Vorstellung einer letztlich „theorielosen“ autonomen Szene zweifelhaft erscheinen lassen. Der im Laufe der 1990er und 2000er-Jahre zunehmend virulenter gewordene Spaltungsprozess zwischen Antiimperialist/-innen, Antideutschen und Antinationalist/-innen innerhalb der deutschsprachigen autonomen Szenen ist ein eindrückliches Beispiel solcher konfrontativer, stellenweise gar verbitterter Auseinandersetzungen im Medium politischer Inhalte und Zielvorstellungen.101 Diese Konfliktlinie machte sich unter deutschsprachigen Autonomen 96 Vgl. Nils Schuhmacher, ‚Küsst die Antifaschisten‘. Autonomer Antifaschismus als Begriff und Programm, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 42–43/2017, S. 35–41. 97 Vgl. Haunss, Identität in Bewegung, S. 169–190, insbesondere S. 184–189: Hier werden die Militanzdiskurse innerhalb der autonomen Szene gesondert in einen „Bewegungsmilitanz-“ und einen „Revolutions-Frame“ mit je spezifischen Denotationen und Konnotationen. 98 Vgl. o. V., Jetzt gilt’s, in: zeck, die kletterzeitschrift aus der flora, H. 142/2008, S. 9–12 sowie die Repliken in zeck, das info aus der roten flora, H. 143/2008, S. 8–16; o. V., Castor schottern 2010 – eine Selbstkritik, in: zeck, das info aus dem orbit, H. 160/2011, S. 19–21. 99 Vgl. Rote Flora, Wir sind radikal, aber nicht doof… Flora bleibt!!, in: zeck, Das Heft zum Abschied, H. 200/2017, S. 6. 100 Vgl. Andreas Beuth, Versuch einer Selbstkritik oder der Ritt durch die Hölle, in: zeck, Das Heft zum Abschied, H. 200/2017, S. 8f. 101 Die Sensibilisierung für die Besonderheit des Staates Israel als internationaler Schutzmacht der Juden gegen die antisemitische Verfolgungswut, die in den deutschen Vernichtungslagern gipfelte, sowie die Solidarisierung mit diesem Staat in wachsenden Teilen der Szene markiert seither eine fundamentale inhaltliche Konfliktlinie unter deutschen Linken und Linksradikalen; jenen, die die ursprüngliche Dekolonisierungsemphase der 1960er Jahre

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auch – zunächst allmählich, dann in großen Schritten – im alltäglichen Umgang bemerkbar, etwa durch Deutungskämpfe und Auseinandersetzungen um Symbole und Flaggen, Devotionalien und Erkennungszeichen wie dem traditionell weit verbreiteten „Pali-Tuch“, der Kufiya.102 Als Fraktionenbildung ist der Konflikt auch in verschiedenen Diskussionen in der zeck, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem „Freien Sender Kombinat“ (FSK), die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und zu einer temporären Pausierung der Zeitschrift mitsamt einer inhaltlichen Neuaufstellung des Redaktionskollektivs geführt haben, sehr plastisch nachzuverfolgen.103 Spätestens seit der Mitte der 2000er Jahre waren marxistisch-leninistische, stalinistische und antiisraelische Parolen in der zeck nicht mehr mehrheitsfähig, sporadisch bekundete Solidaritätserklärungen mit inhaftierten RAF-Terroristen wirkten zunehmend wie die erratische Erbschaft bald abgeschliffener kaderkommunistischer Versatzstücke – ein Bild, das für die Autonomen bundesweit repräsentativ zu sein scheint.

zum Ausgangspunkt der nachholenden Weltrevolution machen wollten, welcher Israel als „Brückenkopf des US-Imperialismus“ im Wege steht, stehen unversöhnlich andere gegenüber, die die als Rückkehr zur nationalen Normalität empfundene Konsolidierung der neuen Bundesrepublik in den 1990er Jahren insbesondere als Gefahr für die Bindung an den so genannten Westen empfinden, d. h. für eine internationale Allianz unter US-amerikanischer Führung, die die Existenz und Wehrhaftigkeit des israelischen Staates sicherstellt. Ihren Traditionslinien nach lässt sich dieser Konflikt bis zur antizionistischen Radikalisierung von Teilen der internationalen Linken nach dem Sechstagekrieg 1967 zurückführen, ist in den letzten Jahren aber vor allem durch die Wiederherstellung der deutschen nationalstaatlichen Einheit nach 1989 evoziert worden. Vgl. dazu den Sammelband von Gerhard Hanloser (Hg.), „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken.“ Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, Münster 2004; Jan Gerber, Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des „realen Sozialismus“, Freiburg 2010, insbes. S. 258–282. Für den Kontext Hamburgs vgl. Einige aus Rhein Main, Links ist da, wo der Daumen rechts ist. Zur Diskussion über die Antiimperialistischen Zellen, in: zeck, Das Info aus der Roten Flora, H. 48/1996, S. 9–11. 102 „Praktische Konsequenzen dieser Diskussionen waren zunächst schleppend, wurden im Laufe der 90er Jahre jedoch zunehmend spürbar: Pali-Tücher und palästinensische Fahnen wurden in Frage gestellt, selbstverständliche Unterscheidungen zwischen Antizionismus und Antisemitismus wurden brüchig, deutsche nationalistische Normalisierungsphantasien wurden benannt und es kam zu neuen Analysen des Nahost-Konflikts und der geopolitischen Rolle Israels, auch im Kontext deutscher Geschichte.“ ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, S. 257. 103 Vgl. zeck, das Flora Info, H. 111/2002 sowie ZECK-Redaktion, Eine vernichtende Selbstkritik…, Flyer, Hamburg 2002.

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Schlussfolgerungen und Forschungsdesiderate Hamburg als repräsentativen Szene-Ort der Autonomen zu bezeichnen, wäre nachgerade eine Untertreibung; die städtischen Ereignisse (Konflikte, Mythen, Traditionen) und Orte (Kollektive, Wohnprojekte, Zentren) haben über beinahe vier Jahrzehnte hinweg wesentlich – in Sachen Prägekraft ist hier nur Berlin vergleichbar – zur Konturierung der autonomen Bewegung in der Bundesrepublik und im deutschsprachigen Raum beigetragen. Zu dieser Kontur zählen u. a. die konstitutive Bedeutung des Konflikts um Gentrifizierung und Wohnraumpolitik für die Genese autonomer Zentren in attraktiv gelegenen Innenstadtgebieten, der Anspruch auf hierarchielose Selbstorganisation und die Schaffung quasi-monastischer „Freiräume“, die inhaltliche Heterogenität der lose vernetzten Gruppen und Bündnisse, das Nebeneinander von aktions- und militanzorientierten polyzentrischen Kleingruppen auf der einen Seite und übergreifenden, öffentlichkeitsorientierten Bündnisstrukturen auf der anderen Seite, aber auch der intensive, öffentlich geführte Austausch über Selbstverständnisse und Aktionsformen bis hin zum spaltenden Dissens. Aus der Betrachtung folgen vier erkenntnisleitende Fragen zu historischen Entwicklungslinien und aktuellen Tendenzen der Hamburger Autonomen als subkulturell verstetigtem Protestmilieu. Autonome Dilemmata – trübe Zielvorstellungen? Auffällig ist hier erstens die permanente Krise, d. h. ein kontinuierliches Ungenügen der Aktivist/-innen an den eigenen Zielsetzungen und den tatsächlichen Szene-Verhältnissen, jeweils Resultate unausweichlicher struktureller Aporien. Das Ringen um Selbstverständnis und die adäquate politische Praxis gehört nachgerade zum Hauptbetätigungsfeld des autonomen Aktivismus. Einstige Abgrenzungs- und Distinktionsmethoden von Vorläuferbewegungen sind über die Jahre zu Traditionen geronnen, wie Behälter, die es mit politischer Programmatik neu zu befüllen gilt. Deutlich wird das vor allem an der Aktionsform der Hausbesetzung und am „Ehrenkodex“ der undogmatischen Autoritäts- und Autoritätenkritik. Ursprünglich sollte etwa die Hausbesetzung „Klassenkampf “ mit anderen Mitteln im Interesse der ansässigen Bevölkerung sein. Daher waren die bewusst spektakulär angelegten Aktionen der Hausbesetzerbewegung im Frankfurt der 1970er Jahre, aber auch die Besetzungen der Hafenstraße à jour gerichtet: Es ging um die Obstruktion städtebaulicher Abrisspläne und damit zusammenhängender steigender Mietpreise. Mit der Etablierung der autonomen Szene(n) aber verband sich ein darüber hinausreichendes Projekt: die Schaffung gesellschafts-transzendierender „Freiräume“, die hinter den Mauern autonomer Zentren nicht-kapitalistische

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und antiautoritäre Vergesellschaftungsformen nach quasi-monastischem Prinzip sicherstellen sollten. Überforderung und Frustration erwiesen sich hier stets als unvermeidlich; in den unterschiedlichen Szene-Selbstkritiken ist das nachzulesen. Und auch der undogmatische Anarchismus der Sponti-Szene der 1970er Jahre gewann seine Plausibilität als spielerischer Einspruch gegen dogmatische Verhärtungen der K-Gruppen, ohne doch aber einen Zweifel an dem insgesamt sozialistischen bis anarchistischen, mithin antikapitalistischumstürzlerischen Projekt zu lassen. Demgegenüber wirkt die seit den 1980er Jahren kontinuierlich geführte Debatte der autonomen Szene über Umgangsformen, den korrekten Umgang mit hierarchiefreien Organisationsformen, über personifizierbare Zielscheiben der Gesellschaftskritik und die Angemessenheit von Militanz mitunter wie die nachträgliche positive Ausgestaltung eines zunächst nur formell geerbten antiautoritären Anspruchs. Genau genommen scheint es selbst hier, allen rhetorischen Überentschiedenheiten und aller proklamierten Radikalität zum Trotz, doch an zweifelsfreien Gewissheiten und konkreten Zukunftsprojekten zu mangeln, die es unbedingt politisch durchzufechten gilt. Das aber würde die Frage aufwerfen, inwiefern die Autonomen abseits von Parolen und Bekenntnissen konkrete politische, d. h. gesellschaftsverändernde Zielvorstellungen haben, die es etwa erlauben würden, den Kampf um städtischen Wohnraum auch praktisch und strategisch anzugehen. Verhältnis zwischen autonomer Szene und städtischer Mehrheitsgesellschaft – beschädigte Koexistenz? Zweitens scheint das strukturell ambivalente Verhältnis zwischen lokaler autonomer Szene und Mehrheitsgesellschaft eine Besonderheit der hamburgischen politischen Kultur zu sein. Im zeitlichen Verlauf fällt zwar einerseits eine beachtliche Stabilität des Verhältnisses zwischen Anwohner/-innen bzw. Stadtgesellschaft und Szene-Aktivist/-innen auf, nicht zuletzt weil das autonome Kernthema der Gentrifizierung bzw. Wohnraumpolitik vielen Hamburgerinnen und Hamburgern in ähnlicher Weise aufstößt. Die eher tolerante bis sympathisierende Haltung gegenüber der vielfach als berechtigt angesehenen linken bzw. linksradikalen Kritik, vielleicht aber auch die Fähigkeit zur taktischen Kommunikation führte hier stets zu einem gewissen stillen Einvernehmen, zumindest zu einer die periodisch wiederkehrenden Friktionen überdauernden Duldung. Andererseits mögen die Ausschreitungen im Zuge der Proteste gegen den G20-Gipfel 2017 eine tief reichende und vor allem anhaltende Entfremdung zwischen Szene und Mehrheitsgesellschaft gezeitigt haben, deren Ausgang bisher nicht abzusehen ist. Es bietet sich an, die Sichtweise städtischer, d. h. aktivistischer, bürgerlicher, zivilgesellschaftlicher, politischer, auch behördlicher Akteure auf diese Situation genauer zu untersuchen.

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Antibürgerlicher Impuls vs. bürgerliche Herkunft – eine dialektische Einheit? Drittens strahlen die inhärenten Aporien der autonomen Bewegung in eine selten beachtete Dialektik von („kapitalistischer“) Bürgerlichkeit und („sozialrevolutionärer“) Antibürgerlichkeit aus. Dem eigenen Anspruch nach ist man dezidiert gegen die Klassengesellschaft – der akademische Duktus der Szene-Publikationen (der gleichwohl durch eine binnenhierarchische Absetzung intellektuell ressourcenstarker federführender Zirkel gebrochen sein mag), die Geschichte von Gegenkultur und alternativen Wohnformen, die Teilnehmerstruktur einschlägiger Demonstrationen u. a. m. aber lassen darauf schließen, dass es mehrheitlich (studierende) Jugendliche und junge Erwachsene aus strukturstarken und mutmaßlich behüteten Elternhäusern sind, die sich als autonome Aktivisten engagieren. In der Regel erweist sich die Zugehörigkeit zur Szene als biographische Übergangsphase, die eine durchaus bürgerliche Erwerbskarriere vorbereiten kann und in der gesellschaftlichen Re-Assimilation im Übergang vom dritten zum vierten Lebensjahrzehnt mündet. Da nicht wenige in dieser Phase Netzwerke knüpfen, Gruppenzusammenhänge moderieren, Szene-Lokalitäten gastronomisch und eventmanagementhaft verwalten, auch an der Instandhaltung und Sanierung von Gebäuden und Gebäudeteilen beteiligt sind, mag sich der autonome Aktivismus – ähnlich der Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien und Parteijugendverbänden – letztendlich gar als veritable soft skills- und Schlüsselkompetenz-Schmiede auszahlen. Und auch auf der vermeintlichen bürgerlichen Gegenseite war die mythische Aufladung von symbolträchtigen Zentren wie der Roten Flora stets paradox. Im Falle Hamburgs scheint eine in deutschen Großstädten generell verbreitete Ambivalenz der arrivierten (linksliberalen) Bürgerschaft gegenüber der radikalen bzw. militanten Linken ganz besonders ausgeprägt zu sein: Dass die autonome Szene als zumindest symbolischer Ort der Widerständigkeit, als Residuum unbeugsamer Transzendenz in vielen Teilen Deutschlands auf strukturelle Toleranz, gar Sympathien der – meist kosmopolitisch gesinnten – bürgerlichen Schichten trifft, war sogar im emotionalisierten Nachspiel der Gipfelproteste 2017 doch hier und da zu vernehmen.104 All das, obwohl es gerade erklärtes Ziel autonomer 104 Vgl. reflektierend Claudius Seidl, Diese verteufelte Linke, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.07.2017: „Es scheint da nirgendwo ein Außen zu sein, ein Jenseits des globalen Kapitalismus – und so ist es eben sehr verständlich, dass Menschen, die bürgerlichen Berufen nachgehen, sich an Gesetze halten, Steuern zahlen und sich wünschen, dass Angela Merkel sich auch weiterhin durchsetzt gegen Irrationalität und Nationalismus, dass diese Menschen zugleich mit Neugier und einer gewissen Sympathie auf jene schauen, die, zum Beispiel in der Roten Flora, sich komplett den herrschenden Verhältnissen zu verweigern versuchen, so hilflos und kindisch das manchmal erscheinen mag. Es geht um die Möglichkeit des Nichteinverstandenseins. Es geht nicht darum, dass man dorthin will, wo die Autonomen sind,

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Lebensformen in ihren bunten Ausprägungen ist, sowohl auf der Straße als auch alltäglich-habituell gegen die „bürgerliche Gesellschaft“ und deren Exponenten Widerstand zu leisten.105 Vielleicht spiegeln sich derartige Paradoxien am eindringlichsten in scheinbar nebensächlichen Anekdoten, beispielsweise im Rekurs des „Recht auf Stadt“-Netzwerks auf den Philosophen Henri Lefebvre zur Legitimation des Anspruchs, der „neoliberale[n] Stadt“106 eine „urbane Bewegung“ entgegenzusetzen: die antikapitalistische Emphase beruft sich hier auf eine besondere Form von linksintellektueller (Bildungs-) Bürgerlichkeit, die mit der ursprünglich proletarisch gedachten Revolution und der Abschaffung des Privateigentums nur mehr kokettiert, sie ästhetisiert. Tragen die gesellschaftskritischen Bestrebungen der Autonomen gar Züge eines biographisch gefärbten innerbürgerlichen Kulturkonflikts? Ausbluten der autonomen Szene? Viertens spricht einiges für ein allmähliches Abebben der jahrzehntelang sehr regen autonomen Szene, ja für ein seit einiger Zeit andauerndes personelles wie inhaltliches Ausbluten der Kräftereservoirs: Kurzmeldungen von nadir.org gibt es seit 2008 nur mehr sporadisch, die zeck wurde 2017 wegen Personalmangels107 eingestellt. Dem ging ein spürbarer Rückgang von Witz und Schlagfertigkeit voraus; die meisten der einst zahlreichen Debatten sind beendet oder werden im Rahmen stereotyper Positionen repetiert. Schlagkräftige, konzertierte Aktionsformate wie die Stürmung des EZB-Geländes durch das „Blockupy“Bündnis 2014108 erscheinen aktuell kaum denkbar. Mehr und mehr hat sich die einst polyzentrische autonome Szene Hamburgs auf die Rote Flora konzentriert, die zuletzt auffällig defensiv agierte: Die Demonstration zum „Revolutionären 1. Mai“ fiel im Jahr 2018 durch geringe Militanz und dünne Mobilisierung

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sondern darum, dass die Tür dorthin offen steht. Dass es überhaupt eine Tür gibt, ein Draußen.“ (Hervorh. J. S.) In Form eines Vorwurfs der „Verniedlichung“ der militanten Linken an die Adresse von SPD, Grünen und Linkspartei vgl. die inhaltlich analogen Äußerungen des innenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Stephan Meyer (MdB), wiedergegeben in Britt-Marie Lakämper, Katja Kipping entschuldigt sich bei der Polizei, in: Welt Online, 14.07.2017, URL: https://www.welt.de/vermischtes/article166638833/KatjaKipping-entschuldigt-sich-bei-der-Polizei.html [eingesehen am 09.03.2020]. Vgl. ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, S. 59. Vgl. Recht auf Stadt (RAS), Recht auf Stadt; ferner nbo, Das Recht auf Stadt – mehr als eine griffige Parole?, in: Transmitter H. 6/2011, S. 5–7, URL: http://epub.sub.uni-hamburg.de/ epub/volltexte/2012/17577/pdf/tm_0611.pdf [eingesehen am 09.03.2020]. Vgl. zeck-Redaktionskollektiv, Editorial, in: zeck, Das Heft zum Abschied, H. 200/2017, S. 2. Vgl. Katharina Iskandar, Kapitalismuskritiker stürmen EZB-Gelände, in: Frankfurter Allgemeine Rhein-Main, 22.11.2014, URL: http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ kapitalismuskritiker-stuermen-ezb-gelaende-13280583.html [eingesehen am 09.03.2020].

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auf; man rechtfertigt und verteidigt sich angesichts einer nicht zur Ruhe kommenden Stadtöffentlichkeit in überregionalen Medien.109 Es wirkt, als hätten Hamburgs Autonome derzeit nichts zu lachen. G20 sitzt auch ihnen noch in den Knochen, die durch das polizeiliche Agieren wahrscheinlich mitverantwortete Eskalation hat ihnen einen schweren Schlag versetzt. Überhaupt die Militanz: Ganz generell ist jenes Niveau „massenmilitanter Episoden“110 , wie es für die 1980er Jahre aufgrund unterschiedlicher Eskalationsdynamiken prägend gewesen ist, trotz vereinzelter, keineswegs zu bagatellisierender Höhepunkte nie wieder erreicht worden, vorbei, ja es zeichnet sich insgesamt ein säkularer Abwärtstrend ab, der ebenfalls das Bild eines langsamen organisatorischen und Mitgliederschwunds der autonomen Szene erhärtet.111 Hier lohnt sich ein Vergleich mit den Berliner 1. Mai-Demonstrationen in Kreuzberg („Myfest“), die sich in deeskalierender Kooperation mit der Stadt Berlin zunehmend in ein friedliches Stadtfest verwandeln; Krawalle gab es hier zuletzt 2009.112 Überdies spiegeln sich in den Hamburger Verhältnissen hier bundesweite Trends: Angesichts des Versiegens zahlreicher Szene-Publikationen und des Ausweichens auf nur sporadisch gepflegte Blogs liegt die Vermutung nahe, dass die linksradikale Szene insgesamt bereits seit den 1990er Jahren ihrer bewegungshaften Vielfältigkeit verlustig gegangen ist. Die Stichwortgeber und Vordenker, die Organisator/-innen und das an diese Funktionsträger gebundene Erfahrungswissen verflüchtigen sich, wie bereits angedeutet, mit zunehmendem Lebensalter. Deutlich wird das mit der Fluktuation zusammenhängende Rekrutierungsproblem in den „21 Thesen zur Zukunft der autonomen Bewegung“ des ak wantok, eines Arbeitskreises autonomer Aktivisten aus der gesamten Bundesrepublik.113 Von einer verblüffenden Schärfe fällt daher das Urteil eines Redakteurs des Schweizer autonomen re:volt magazine aus, der der eigenen Szene mit ihren anfangs „historisch legitimen“ Konzepten den „finalen Zerfall“ attestiert:

109 Kaiser u. Schipkowsky, „Eine beachtliche Kaltschnäuzigkeit“. 110 Vgl. Matthias Mletzko, Gewalthandeln linker und rechter militanter Szenen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 44/2010, S. 9–16, hier S. 12. 111 Vgl. ebd. 112 Vgl. Jörn Hasselmann, 1. Mai wird „vielleicht etwas schwieriger“, in: Der Tagesspiegel, 28.04.2018, URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/myfest-in-berlin-kreuzberg-1-maiwird-vielleicht-etwas-schwieriger/21224116.html [eingesehen am 09.03.2020]. 113 „Nicht nur Erfahrungen und Wissen, sondern auch Kontakte dürfen nicht mit denen, die die Szene verlassen, aus der Bewegung verschwinden. Alles muss an jüngere GenossInnen weitergegeben werden, ohne die durch Erfahrung vermeintlichen ‚richtigen Wege‘ zu proklamieren. Wenn Kontakte nicht nur über einzelne Personen laufen, sondern sich auf mehrere Menschen verteilen, können Verbindungen stabilisiert werden.“ ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, S. 405.

Ganz Hamburg hasst die Polizei?

„Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass die autonome Bewegung und ihre Institutionen aus guten Gründen derzeit eine nachhaltige Schwächung erfahren oder komplett verschwinden. Ihre Konzepte und die daraus resultierenden Praxis [sic] sind an verschiedenen Punkten integrierbar geworden für eine neoliberale Hegemonie, weshalb der Übergang von Szene zu bürgerlich immer seltener einem Bruch, als einem schleichenden Übergang gleicht. Aus Mangel an (Organisations-)Perspektiven und solidarischen (Organisations-)Strukturen, z. B. für ältere Autonome mit Kindern, kranke und alternde GenossInnen, GenossInnen in schwieriger sozialer Lage und so weiter, gehen uns jede Generation aufs Neue an der Bewegung jahrelang geschulte AktivistInnen unwiederbringlich verloren, statt dass diese ihr Wissen weitergeben und in jeweils alternierenden Formen am Ball zu bleiben können. Die autonome Bewegung entspricht hier einem Durchlauferhitzer, in dem sich eine Art alternative Selbstverwirklichung und Jugendrebellion vollzieht – unter vermeintlich politischem, viel häufiger jedoch einfach subkulturell-deviantem, Vorzeichen.“114

Das kann à la longue auch täuschen: So wie die zyklisch wiederkehrende Militanzdebatte nach größeren Ausschreitungen stets wieder aus dem Winterschlaf erwachte, so mag auch die gegenwärtige subkulturelle Blässe der Autonomen ein ephemerer Zustand sein, Zeichen einer ebenso zyklischen Rückkehr in die Latenz, der Sammlung und Neuausrichtung. Gleichwohl kann kaum abgestritten werden, dass die ganz große qualitative, d. h. politische Differenz zwischen der vielfach kritisierten bürgerlich-„neoliberalen“ Individualisierung in der Mehrheitsgesellschaft und dem dissidenten „autonomen Individualismus“ nach dem Zerfall der großen sozialistischen bzw. kommunistischen Bündnisse und Parteien kaum noch auszumachen ist.115 Angesichts der auch „von innen“ heraus wiederholt gestellten Sinnfrage des Engagements in autonomen Zirkeln und der ebenso häufigen Problematisierung von szene-internen Lebens- und Umgangsformen ist es durchaus erstaunlich, dass diese sich über beinahe vierzig Jahre hindurch weiterhin reproduzieren, dass der Ausstieg in vermeintlich hochpolitisierte und antibürgerliche, quasi-monastische Kollektive, aber auch die politische Radikalität und die militante, zuweilen eruptive, Ausschreitung für Jugendliche und junge Erwachsene aus meist wohlsituierten Verhältnissen weiterhin attraktiv bleibt. Unbeantwortet geblieben ist bisher die Frage, warum sich junge Menschen (noch) in autonomen Gruppen engagieren. Hat die Attraktivität der Szene subkulturelle Gründe – oder handelt es sich um eine Reaktion auf die Erfahrung „politischer Deprivation“ partei- bzw. politikerverdrossener, doch politisch interessierter Jugendlicher und junger Erwachsener?116 114 Marulanda, Zum Ende einer Bewegung (Hervh. im Orig.). 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. zur Klassifizierung dieser „Reaktionsform“ Dirk van den Boom, Politik diesseits der Macht? Zu Einfluss, Funktion und Stellung von Kleinparteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999, S. 265f.

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Das Fallbeispiel Hamburg mit seinen hier skizzierten Kontextfaktoren, insbesondere der Verflochtenheit der autonomen Szene mit der politischen und kulturellen „Mitte“ der Stadt, und seinen historisch gewachsenen Konfliktkonstellationen, etwa der konstitutiven Bedeutung des sozialpolitisch motivierten politischen Kampfes um die Distribution von Wohnraum und Gewerbeflächen, mag Aufschluss über die Sinnquellen und Kanalisierungsfunktionen politischer Desillusionierung und gesellschaftlich produzierter Wut geben, die die linke Militanz in Zeiten der perpetuierten „Erosion der organisationsgestützten Weltanschauungsmilieus“117 für ihre Protagonist/-innen bereithält.118 Vorbei ist die Zeit der autonomen Bewegung jedenfalls gewiss nicht. Zwar gibt es jenseits des Innenstadtkerns von Hamburg, einer Stadt, die nicht zuletzt Logistik-Standort ist und sich darum bemüht, den Strukturwandel zum „Finanzplatz“119 voranzutreiben, keinen nennenswerten „systemoppositionellen“ Konsens, geschweige denn ein mehrheitsfähiges Misstrauen gegenüber staatlichen Instanzen und Exekutivbehörden. Insofern „hasst“ ganz Hamburg selbstverständlich nicht den Staat und seine Exekutive, zu der die Polizei gehört. Doch wird der weiterhin schwungvolle Strukturwandel, letztlich das alte Thema der Modernisierung, auch in Zukunft Konfliktherde befeuern, Antagonismen hervorrufen, Zweifel am gesellschaftlichen Normalvollzug mit seinen Gewinner/-innen und Verlierer/-innen wecken. Einer aktuellen Studie des

117 Vgl. Jens Gmeiner u. Matthias Micus: Radikalismus der Tat. Linke Militanz oder die Ethnologie der (Post-) Autonomen, in: Demokratie-Dialog, H. 2/2018, S. 29–35, hier S. 35. 118 Diese Frage liegt im Interessenfeld einer qualitativ orientierten politischen Kulturforschung, die die demokratische Gesellschaft als Ort der Auseinandersetzung unterschiedlicher – auch radikaler – politischer Deutungs- und Soziokulturen auffasst – wie in der Einleitung dieses Bandes beschrieben. Wünschenswert wäre daher eine ausgeprägtere Gesprächsbereitschaft, die es ermöglicht, Geschichte und Gegenwart der autonomen Subkultur(en) sozialwissenschaftlich zu erforschen. Fraglos ist das große Misstrauen gegenüber szenefremden Fragestellern angesichts der Chronologie verdeckter Ermittlungen in Hamburg verständlich. Nicht zuletzt hat auch die wissenschaftliche Beforschung der Thematik bereits zu Wut vonseiten der Autonomen geführt. Die oftmals als Standardwerk gehandelte, tatsächlich vor allem sicherheitspolitisch argumentierende Monographie „Rote Flora.“ Ziele, Mittel und Wirkungen eines linksautonomen Zentrums in Hamburg des ehemaligen Polizisten und jetzigen AfD-Politikers Karsten Dustin Hoffmann wurde auf dem Blog der Roten Flora denunziert und ridikülisiert. Vgl. o. V., Auf Safari in der Flora. Die Recht auf Stadt Verschwörung, in: florableibt.blogsport.de, URL: http://florableibt.blogsport.de/material/texte/auf-safari-in-derflora/ [eingesehen am 09.03.2020]. Es bleibt zu hoffen, dass das grundlegende Interesse der Protest-, Bewegungs- und politischen Kulturforschung an autonomem Aktivismus, ProtestBiographien und politisch-kulturellen bzw. lebensweltlichen Besonderheiten darunter nicht dauerhaft leidet. 119 Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg, Finanzplatz Hamburg e. V., in: hamburg.de, URL: http:// www.hamburg.de/wirtschaft/finanzwirtschaft/ [eingesehen am 09.03.2020].

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Wissenschaftszentrums Berlin zufolge nehmen die sozialen Spaltungsprozesse in deutschen Großstädten zu.120 Die autonome bzw. links-militante Szene mag daher als Symbol des prinzipiellen Widerstands somit auch künftig die Sympathien ihres Ursprungsmilieus genießen.

120 Vgl. Marcel Helbig u. Stefanie Jähnen, Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten, Berlin 2018, S. If., URL: https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2018/p18-001.pdf [eingesehen am 09.03.2020].

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Mainzer Straße 1990 – autonomer Aktionsraum im Kontext von Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung und linken (Selbst-)Verständigungsdifferenzen

„Nach der Anarchie ist der erste Akt des neuen Deutschlands, Utopie zu zerschlagen. Und zwar mit massiver militärischer Gewalt. Das ist genau das, was stattgefunden hat in der Mainzer Straße.“1

Die Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain ist im Jahr 2020 ein urbaner Ort relativer gesellschaftlicher Angepasstheit in der pastellenen Kulisse gründerzeitlicher Fassaden-Behaglichkeit. Entsprechend der durchschnittlichen Miethöhe ist die soziostrukurelle Provenienz der meisten MieterInnen, die das international-polyglotte, überwiegend der gesellschaftlichen Mitte zuzuordnende Milieu prägen im zunehmend segregierten Sozialraum um die Mainzer Straße. Gelegen im nördlichen Teil des Boxhagener Kiezes bietet sie damit ein anschauliches Beispiel des in vielen Großstädten beobachtbaren Phänomens wachsender Gentrifizierung. Dreißig Jahre zuvor, zwischen Ende April und Mitte November 1990, während jener letzten Monate der sich rasant auflösenden DDR, zeigte sie sich in einem ganz anderen Bild: Als subkultureller Schmelztiegel einer linksalternative und linksradikale Szenen umfassenden, überaus heterogenen HausbesetzerInnenbewegung, in der friedensbewegte Ost-BerlinerInnen auf militanzerfahrene Autonome, „Punks auf Westberliner Hardcore Antiimps [und] Tunten auf Hardcore Feministinnen“2 trafen. Die nach der West-Berliner „Revolte 81“3 zweite große Hausbesetzungswelle, nun in Ost-Berlin, besonders in den Bezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain, speiste sich – vor dem Hintergrund vielfach leerstehenden und nicht selten abrissreif anmutenden Altbaubestandes – aus zwei Quellen: Einerseits und zunächst primär (von Ende 1989 bis Mitte 19904 ) aus der Erfahrung ostdeutscher 1 Thomas Heise, „Wo ist vorne“?, Interview in: die tageszeitung, 18.08.2009. 2 Sebastian Lotzer, Begrabt mein Herz am Heinrichplatz, Wien 2017, S. 115. 3 Vgl. Kursbuch 65, 10/1981; Benny Härlin u. Michael Sontheimer, Potsdamer Straße, Berlin 1983, S. 113ff.; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 516–572. 4 Zu den drei Hausbesetzerphasen zwischen Dezember 1989 und 1990 vgl. Andrej Holm u. Armin Kuhn, Häuserkampf und Stadterneuerung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 54 (2010), H. 3, S. 110ff.; Alexander Vasudevan, The Autonomous City. A History of Urban Squatting, London 2017, S. 143ff.

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HausbesetzerInnen, deren etablierte Praxis des „Schwarzwohnens“ bzw. „stillen Besetzens“ von „Wohnungen mit ungeklärten Mietverhältnissen“, wie es offiziell hieß, letztlich meist durch den zuständigen VEB Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) legalisiert wurde.5 Die sozialistische Staatsmacht hatte zwar ihr Argusauge auf die seit Mitte der 1970er Jahre wachsende politische Opposition in den subkulturell-alternativen Kiezen vor allem in Prenzlauer Berg geworfen6 , musste allerdings die Hausbesetzungen schon angesichts des offenkundigen Widerspruchs zwischen verfassungsrechtlich gewährtem Recht auf Wohnung7 und nach wie vor grassierender Wohnungsnot weitgehend tolerieren. Nachdem Hausbesetzungen durch Ost-BerlinerInnen – bei allen Ansätzen bewegungsartiger politisch-oppositioneller Aspekte8 – also lange hauptsächlich motiviert waren durch die Suche nach günstigem Wohnraum, entwickelte sich auf den letzten Metern des real existierenden Sozialismus, etwa seit Mitte des Jahres 5 Vgl. Volkhard Brandes u. Bernhard Schön (Hg.), Wer sind die Instandbesetzer? Selbstzeugnisse, Dokumente, Analysen. Ein Lesebuch, Bensheim 1981, S. 127–131; Barbara Sichtermann u. Kai Sichtermann, Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung, Berlin 2017, S. 262–264. 6 Vgl. etwa Thomas Dörfler, Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989, Bielefeld 2010, S. 155–212; Christian Halbrock, Vom Widerstand zum Umbruch. Die oppositionelle Szene in den 80er Jahren, in: Bernt Roder u. Bettina Tacke (Hg.), Prenzlauer Berg im Wandel der Geschichte. Leben rund um den Helmholtzplatz, Berlin 2004, S. 98–124. 7 In Art. 37. Abs. 1 der DDR-Verfassung hieß es: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Wohnraum für sich und seine Familie entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht durch die Förderung des Wohnungsbaus, die Werterhaltung vorhanden Wohnraums und die öffentliche Kontrolle über die gerechte Verteilung des Wohnraums zu verwirklichen.“ Allerdings gelang es der DDR trotz großen Wohnungsbauprogramms bis 1989 nicht, mit der Wohnungsfrage eines der drängendsten sozialen Probleme auch nur annähernd zu lösen. Die Norm der „Werterhaltung vorhandenen Wohnraums“ wurde in der DDR zwar seit dem VIII. SED-Parteitag 1971 auch mit einem praktischen Anspruch versehen, allerdings nur in wenigen Fällen erfüllt, etwa der Sanierung bzw. Rekonstruktion der Gründerzeithäuser um Arkona- und Arnimplatz in Ost-Berlin, vgl. Ernst Kristen, 20 Jahre Modernisierung und Rekonstruktion in Berlin-Ost, in: Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen (Hg.), Stadterneuerung Berlin. Erfahrungen, Beispiele, Perspektiven, Berlin 1990, S. 73–82. Der von der DDR-Führung in den 1970er Jahren zunehmend erkannten Notwendigkeit, Altbausubstanz zwecks Verringerung des Wohnraummangels zu erhalten, kam auf politisch-ideologischer Begründungsebene sicherlich zupass, dass es sich bei vielen Gründerzeitquartieren um Mietskasernen der Arbeiterklasse handelte, die entsprechend als historische Referenz zu bewahren seien. Da es sich dabei primär auf Ost-Berlin begrenzte Rekonstruktionsabsichten handelte, blieb die Norm der „Werterhaltung“ bei Berücksichtigung des gesamten DDR-Altbaubestandes letztlich überwiegend folgenlos im DDR-Wohnungsbau, vgl. Sigit Atmati, Die komplexe sozialistische Rekonstruktion von Altbaugebieten in dem ehemaligen Ost-Berlin, Berlin 2012, S. 205–226. 8 Vgl. Margit Mayer, Städtische soziale Bewegungen, in: Roland Roth u. Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 302.

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1989, der „sozialistische Volkssport“ Wohnungsbesetzung zunehmend zu einer politischen Bewegung9 , die nun neben Wohnraum immer öfter auch Freiraum bzw. politischen Aktionsraum suchte. Das durch die politischen Folgen des Mauerfalls entstandene Machtvakuum bedingte und beförderte einen schnellen Anstieg der Hausbesetzungen in Ost-Berlin, es wurden nun oft nicht mehr nur einzelne Wohnungen, sondern ganze Häuser besetzt – ein Novum im Osten der Stadt.10 Auch die erste Hausbesetzungswelle wuchs auf ihrem Höhepunkt 1981 in West-Berlin unter anderem deshalb regelrecht explosionsartig, weil es nach dem Rücktritt des Regierenden Bürgermeisters Dietrich Stobbe (SPD) infolge der „Garski-Affäre“11 zu einem mehrmonatigen Macht- und Handlungsverlust des Berliner Senats kam.12 Andererseits, und dies gilt besonders für die zweite Jahreshälfte 1990, zog die Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung ihre subkulturell-widerständige, kreativ-freiräumliche und nicht zuletzt autonom-militante Energie aus dem action repertoire der westdeutschen HausbesetzerInnenbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Dass deren autonome ProtagonistInnen aus dem Kreuzberger Hausbesetzungsmilieu den denkbar kürzesten Anmarschweg hatten, befanden sie sich doch nur zwei bis drei Kilometer Luftlinie entfernt, beschleunigte den autonomen Gang in den Osten allerdings nicht per se. Im Folgenden wird weniger das – öffentlich und gegenöffentlich umfassend dokumentierte13 – Besetzungsfanal in der Mainzer Straße zwischen dem 12. und 14. November 1990 thematisiert, als sich während der Räumung von 13 9 Vgl. Dietmar Wolf, Vom sozialistischen Volkssport zur sozialistischen Bewegung. Schwarzwohnen und Hausbesetzungen in der DDR, in: Philipp Mattern (Hg.), Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin, Berlin 2018, S. 147–168, hier S. 154. 10 Vgl. Armin Kuhn, Vom Häuserkampf zur neoliberalen Stadt. Besetzungsbewegungen und Stadterneuerung in Berlin und Barcelona, Münster 2014, S. 97. 11 Angesichts der zahlreichen Immobilieninbesitznahme durch Berliner HausbesetzerInnen 1981 nicht gänzlich frei von Ironie ist, dass es sich bei der Causa Garski um eine Immobilienaffäre handelte: Garski hatte seinerzeit vom Berliner Senat Bankbürgschaften in Höhe von über 100 Millionen DM erhalten, um kräftig in dubiose Immobilienprojekte im Nahen Osten investieren zu können. Schließlich war das Geld weg, sozusagen im Sande verlaufen, und Berlin in einer folgenreichen Regierungskrise. 12 Vgl. Holm u. Kuhn, Häuserkampf und Stadterneuerung, S. 113. 13 Vgl. Susan Arndt u. a. (Hg.), Berlin. Mainzer Straße. „Wohnen ist wichtiger als das Gesetz“, Berlin 1992; Infoladen daneben u. Allgemeiner StudentInnenausschuss der FU Berlin (Hg.), Mainzer Straße 12.-28. November. Ausgewählte Dokumente, o.O., 1990/91; o. V., Dokumentation. Presse. Flugblätter. Presseerklärungen, Auslandspresse, Soli-Aktionen, Berlin, o. J., URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/BER/MIE/Berlin_Hausbesetzungen_Berliner_Linie_07.shtml [eingesehen am 25.03.2020]; siehe auch das studentische Projekt: https://mainzerstrasse.berlin [eingesehen am 25.03.2020].

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besetzten Häusern ca. 400 bis 500 Personen aus der HausbesetzerInnenszene, darunter eine Vielzahl autonomer AktivistInnen14 , und etwa 3000 bis 4000 Polizisten15 in einer enormen Gewalteskalation eine regelrechte Straßen- und Häuserschlacht lieferten. Eine Konfrontation, wie sie die Bundesrepublik nicht während der Hamburger Auseinandersetzungen um besetzte Häuser in der Hafenstraße im November 1987 gesehen und allenfalls während der Frankfurter Häuserkämpfe in der ersten Sponti-Hochzeit 1973/74 erlebt hatte16 . Vielmehr wird nachstehend Genese und Konflikthaftigkeit der gegenkulturellen Utopie, mithin der vielgestaltige Vorlauf jenes Novemberereignisses in der Mainzer Straße betrachtet. Unter besonderer Berücksichtigung der autonomen Bewegung werden drei stark interdependente Aspekte fokussiert: a) die subkulturelle(n) Szene(n) in der Mainzer Straße; b) das konfliktreiche Verhältnis zwischen Ostund Westlinken; c) das autonome Engagement in der Ost-Berliner HausbesetzerInnenszene vor dem Hintergrund ihres oft selbst- und fremddiagnostizierten Krisenzustandes17 während der politischen Umbruchszeit 1989/90. Bewegungsimpuls und rechte Nachbarschaft Eingeläutet wurde der – frei nach Enzensberger – „kurze Sommer der Anarchie“ in der Mainzer Straße durch einen im April 1990 in der Interim, West-Berliner Hausblatt der autonomen Szene18 , lancierten Aufruf von – wie es da sehr all14 Einen historischen Abriss der nun seit beinahe 40 Jahren existierenden, äußerst heterogenen autonomen Bewegung bietet der Beitrag von Alexander Deycke in diesem Band. 15 Die Zahlen der Beteiligten PolizistInnen und HäuserkämpferInnen variieren stark in den Quellen. Große Polizeikontingente wurden zur Verstärkung und Entlastung der Berliner Polizei aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen nach Berlin verlegt. 16 Vgl. etwa Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 506–516; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Frankfurt a. M. 2002, S. 340ff. 17 Der strapazierte Krisenbegriff darf im Zusammenhang der autonomen Bewegung nicht verstanden werden als etwas Singulär-Zäsurales, auch wenn im Kommenden, nicht zuletzt aufgrund des zeitgeschichtlichen Kontexts der allgemeinen politischen Umbruchszeit 1989/90, gelegentlich genau dieser Eindruck entstehen könnte. Das Phänomen der Krise ist wie in vielen sozialen Bewegungen auch und vielleicht ganz besonders bei den Autonomen ein entscheidendes Konstituens, das einem unregelmäßigen Bewegungszyklus folgend wiederkehrt. 18 Die Begriffe Soziale Bewegung, Milieu, Subkultur und Szene in Bezug auf das soziale Phänomen Autonome definitorisch streng gegeneinander abzugrenzen, ist nicht nur deshalb schwierig, weil sie in Selbst- und Fremdbeschreibungen inkonsistent verwendet werden, sondern vielmehr und damit unmittelbar zusammenhängend, weil sich die damit gefassten diversen sozialen Gruppen und Kontexte vielfältig überlappen und miteinander verzahnt sind. So verfügen AktivistInnen und SympathisantInnen der autonomen Bewegung wie etwa auch jene der HausbesetzerInnen über diverse subkulturelle- und Szene-Hintergründe (in der subkulturellen Vielfalt der Mainzer Straße geradezu exemplarisch zu beobachten), die

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gemein heißt – „MitgliederInnen autonomer Gruppen aus Ost und West“, leerstehende Häuser in Friedrichshain, in der Kreutziger, Mainzer und Niederbarnimstraße zu besetzen, um das Sanierungsgeschäft von „West-Berliner Sanierungsmafia“ und KWV zu verhindern. Eigentliche Initiatorin des Aufrufs aber war die „Kirche von Unten“ (KvU), jene wirkmächtige evangelische Oppositionsgruppe in der DDR. Besetzungen, so der Aufruf, seien notwendig, um „Schutz gegen Räumung und Faschos“ zu gewährleisten.19 Gewissermaßen ad hoc, noch vor dem geplanten Vorbereitungstreffen für die Besetzungen wurden erste Häuser in der Mainzer Straße okkupiert. Schon in diesem, dem Aufruf folgenden Mobilisierungsmoment deuten sich zwei disparate Organisations- und Handlungsmentalitäten an: Während die Ost-Berliner Besetzungsfraktion ein Vorbereitungstreffen anberaumte und planvoll zu agieren suchte, überschritten West-Berliner AktivistInnen bereits tatendrängend und besetzungswillig die Spree nach Norden – bei vielen Beteiligten nicht ohne das beruhigende Wissen um ihr im Zweifelsfall scheiternder Besetzungen sicheres und legales West-Berliner Refugium.20 Der linksalternative Häuserkampf in Ost-Berliner Kiezen 1990 war nicht nur gegen die sich mit der Wiedervereinigung anbahnenden Häuserspekulationen gerichtet, gegen die schon in der Wendeluft liegende Goldgräberstimmung auf dem nach Osten schielenden westdeutschen Wohnungs- und Immobilienmarkt. Er richtete sich ebenso gegen die gewaltförmige neonazistische Bewegungskraft in Ost-Berlin. Zudem waren Hausbesetzungen nun nicht mehr Bewegungsprivileg der linken Szene, denn seit spätestens Februar 1990 besetzten Ost-Berliner Neonazis der Ende Januar gegründeten „Nationalen Alternative“ mehrere Häuser in der Weitlingstraße in Lichtenberg, unweit der Mainzer Straße. Das Haus in der Weitlingstraße 122, dessen Besetzung bald durch die KWV legalisiert wurde, avancierte zum berüchtigten trutzburgartigen Zentrum nicht nur ostdeutscher Neonazis, in dem prominente Kader wie Ingo Hasselbach, Oliver Schweigert oder Michael Kühnen, charismatischer Kopf der rechtsextremen „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“, ein- und ausgingen. Der seit dem Mauerfall vielen historischen, politischen und sozialen Koordinaten entrissene, gewissermaßen zwischenweltliche Raum Ost-Berlins gleichsam Bewegungsvoraussetzung und Rekrutierungsreservoirs sind. Es ist auch dieser Konnex, über den das Mobilisierungspotenzial der Bewegung erschlossen und abgerufen wird. Vgl. hierzu die ausführliche Diskussion bei Sebastian Haunss (der mit guten Argumenten den Szene-Begriff herausstellt), Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 79–90 sowie ders., Antiimperialismus und Autonomie. Linksradikalismus seit der Studentenbewegung, in: Roth u. Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen, 447–473, hier S. 470f. 19 Vgl. Interim 100, 26.4.1990, S. 18. 20 Vgl. Thomas Dörfler, Gentrification in Prenzlauer Berg? S. 227.

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wurde so zum urbanen Aufmarschgebiet neonazistischer Gruppen, die über ein beachtliches Mobilisierungs- und Gewaltpotenzial verfügten, das zu entfesseln sie keine Gelegenheit ausließen. Angesichts dieser beinahe omnipräsenten Bedrohung und der von den brutalen neonazistischen Attacken auf besetzte Häuser in Prenzlauer Berg und Friedrichshain überforderten Volkspolizei21 – deren Selbstverständnis und Einsatzbereitschaft unter der täglich spürbaren Verschiebung der politischen Tektonik gewiss nicht wenig gelitten haben dürfte – war es, wie im Interim-Aufruf zu lesen, neben dem Schutz gegen Räumung genauso wichtig, „Schutz gegen Faschos“ zu organisieren. Wenn später nach der „Schlacht in der Mainzer Straße“ besonders seitens beteiligter Sicherheitsbehörden und Law-and-Order-PolitikerInnen die Rede davon war, dass die Häuser festungsartig gegen Polizei- und Räumungszugriffe ausgebaut worden seien, trifft das nur ein Befestigungsmotiv. Der erste und vordringliche Anlass, besetzte Häuser mit ingeniösen Draht- und Schutzgitterkonstruktionen vor den Fenstern, Sicherheitstüren und allerlei mehr fortifikatorisch zu sichern, war die ständige und nur allzu berechtigte Angst vor Neonazi-Überfällen.22 Dirk Moldt, DDR-Oppositioneller und Hausbesetzer in der nahe der Mainzer Straße liegenden Schreinerstraße, erinnert die fehlende Verlässlichkeit der Volkspolizei, wenn Neonazis anrückten und Steine warfen – Militanz sei „lebensnotwendig“ und Konsequenz aus dieser „permanenten Bedrohung“ gewesen.23 Womit ein weiteres Bewegungsnovum in der Geschichte der HausbesetzerInnenbewegung anklingt. Nie zuvor hatten sich HausbesetzerInnen solcher regelmäßigen rechtsextremen Angriffe auf ihre Häuser zu erwehren. Offenkundig waren damit zwei zentrale Aktionsfelder der autonomen Bewegung – Hausbesetzungen und Antifaschismus – in Ost-Berlin eng miteinander verflochten. Polyphones Neben- und Miteinander linker und linksradikaler Szenen Bald nach dem Interim-Aufruf waren 13 Häuser (von mehr als 120 im Sommer 1990 in Ost-Berlin besetzten Häusern24 ) in der Mainzer Straße besetzt. Das

21 Zu erwähnen sei die „Sicherheitspartnerschaft“, ein letztlich nicht sehr lang währendes Defensivbündnis zwischen BesetzerInnen in der Mainzer Straße und Volkspolizei zum Schutz vor neonazistischen Angriffen. 22 Vgl. etwa Katrin Rothe, Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag – die Mainzer wird geräumt, Dokumentarfilm, D 2010. 23 Vgl. Michael Sontheimer u. Peter Wensierski: Berlin. Stadt der Revolte, Berlin 2018, S. 396 sowie das am 14.02.2020 vom Autor mit Dirk Moldt geführte Interview. 24 Auf dem Höhepunkt der West-Berliner HausbesetzerInnenbewegung im Sommer 1981 waren es über 160 besetzte Häuser vor allem in Schöneberg und Kreuzberg.

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hieß auch: 13 Szenen in einem existenziellen Schwebezustand voller Vorläufigkeiten, Ungewissheiten, aber auch kollektiver Überzeugungen und politischer Radikalität. Die Mainzer Straße war für viele BesetzerInnen „eine Vision, an der wir uns festhalten. Das Neue ist noch nicht klar da, und davor haben wir Angst […]. Und das Alte ist schon nicht mehr da.“25 Die jeweiligen Hausszenen, aufgrund üblicher Gruppen-Fluktuation natürlich keine statischen Sphären, lassen sich in ihrer illustren Vielfalt mit Freke Over, einem der Protagonisten vor Ort, lakonisch wie folgt zusammenfassen: Haus Nr. 2: Anti-Imps, Nr. 3: Frauen, Nr. 4: Tunten-Tower, Nr. 6: Autonome, Nr. 7: Spontis26 , Nr. 827 : humorlose Hippies, Nr. 9: Osthaus28 , Nr. 10 und 11: Party-Guerilla, Hinterhaus Nr. 22: Schwabenhaus, Hinterhaus Nr. 24: Antifa-Jugend.29 Zum Zentrum der gegenöffentlichen Kunst- und Kulturszene entwickelte sich das faszinierend-schrille, viele feierlaunige und eskapadendurstige Gäste nicht nur aus Berlin magisch anziehende „Tuntenhaus Forellenhof “.30 Die Mainzer Straße bot damit nicht nur ein po25 Arndt u. a. (Hg.), Berlin. Mainzer Straße, S. 48. 26 Was als Bezeichnung zu dieser Zeit überrascht, hatten die Spontis – undogmatisches Zerfallsprodukt (gegenüber dem dogmatischen der K-Gruppen) des SDS – ihr Bewegungsende doch schon Ende der 1970er Jahre erreicht. Abgesehen davon, dass sich die Autonomen in der Traditionslinie der Spontis befinden und das Undogmatische ein wesentliches Charakteristikum ihrer Bewegung ist, deuten auch die Aussagen anderer zeitgenössischer Beobachter daraufhin, dass es sich bei den sog. Spontis in Haus Nr. 7 um AktivistInnen der autonomen Szene handelte. Man wollte mit FDJ-Fahne an der Fassade und anderen Devotionalien sozialistischer Symbolik (auf vielen Fotos und Filmaufnahmen gut zu erkennen) Staat und Neonazis provozieren – unterschätzte damit allerdings die negative Wirkung auf ostdeutsche HausbesetzerInnen, die das so leichthin verwendete symbolische Erbe des Sozialismus an weniger unterhaltsam-provokante Erfahrungen erinnerte, vgl. ebd. 27 Aufgrund der strategisch günstigen Lage des Hauses in der Straße war es über Monate auch die BesetzerInnenzentrale. 28 Haus Nr. 9 wurde bereits im Februar, weit vor dem Interim-Aufruf, als erstes Haus besetzt und keiner der BesetzerInnen aus dem Osten oder Westen habe seine eigentliche Bleibe aufgegeben. Man hatte also einen Rückzugsort. Vgl. Uta Keseling, Der Häuserkrieg um die Mainzer Straße, in: Welt.de, 12.11.2006, URL: https://www.welt.de/regionales/berlin/article2043945/ Der-Haeuserkrieg-um-die-Mainzer-Strasse.html [eingesehen am 24.03.2020]. 29 Vgl. Sontheimer u. Wensierski, Berlin. Stadt der Revolte, S. 399. Andernorts findet sich die hier nur grob skizzierte subkulturelle Diversität der Häuser noch detaillierter beschrieben bzw. filmisch eingefangen, vgl. zuerst Susan Arndt u. a. (Hg.), Berlin. Mainzer Straße, S. 43–55 und etwa o. V., Die HausbesetzerInnenbewegung in Ost-Berlin, Teil 3, in: telegraph, H. 11–12/1995, zit. nach Squatter. HausbesetzerInnenbewegung in Berlin, URL: http://squatter.w3brigade.de/ die-hausbesetzerinnenbewegung-in-ost-berlin-teil3 [eingesehen am 25.03.2020]. 30 Vgl. den Film von Juliet Bashore, The Battle of Tuntenhaus, 1991, URL: https://www.youtube. com/watch?v=8ozaR26ehu8 [eingesehen am 23.03.2020]. Auch im „Tuntenhaus“ dominierten die Westschwulen; die Ostschwulen seien noch „zu zaghaft“ gewesen, andererseits habe es kaum Schnittstellen zwischen ihnen und der HausbesetzerInnenbewegung gegeben, vgl. Dirk Ludigs, Das „Haus des homosexuellen Mitbürgers“, in: die tageszeitung, 30.6.1990.

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lychromes Potpourri unterschiedlichster linker und alternativer Szenen, eine subkulturelle Dynamik, die man versuchte zusammenzuhalten und zu organisieren durch klassische linke und HausbesetzerInnen-Infrastruktur: Volxküche, Buchhandlung („Max-Hoelz-Antiquariat für DDR-Literatur“), BesetzerInnenrat („B-Rat“), wöchentliche BesetzerInnenzeitung (BZ)31 und monatliche Videoschau („AK-Kraak“). Als „Info-Medium und Mobilisierungsinstrument“ fungierte neben Telefonketten das aus West-Berlin sendende Radio 100.32 Obwohl man sich des Öfteren zu Straßenplena traf und obwohl ein „Konglomerat aus Abneigung, Faulheit und Desinteresse“ dazu geführt habe, dass nie alle besetzten Häuser gleichzeitig vertreten waren, sei es doch gelungen, verbindliche Absprachen der drängendsten Angelegenheiten – „Strom, Wasser, Bullen, Faschos“ – zu treffen.33 Sie war genau deshalb auch idealer Aktionsraum34 für autonomes Engagement. Autonome BesetzerInnen schufen peu à peu eine eigene subkulturelle Szene vor Ort, die gleichermaßen Identifikation anbieten und als „Mobilisierungsreservoir“ dienen konnte.35 Viele autonome Bewegungsprämissen fanden 31 Die BesetzerInnenzeitung (BZ) erschien zunächst wöchentlich zwischen 1990 und 1994 und verstand sich als offizielles Sprachrohr der Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung, wobei sie den doppelten Anspruch hatte, Organisationsblatt der Bewegung zu sein und breitenwirksame Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Dieses zweite Ziel allerdings verblasste schnell. In ihrer Aufmachung und teilweise auch inhaltlich ähnelte sie der West-Berliner Interim, dem zentralen Publikationsorgan der libertären Autonomen. Vgl. PDF – Archiv der HausbesetzerInnen Zeitung, URL: http://squatter.w3brigade.de/besetzerinnen-zeitung [eingesehen am 15.03.2020]. Für das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz, übermäßige Differenzierungen in der Beurteilung beider Zeitschriften nicht strapazierend, hatte die BesetzerInnenzeitung „mit ihrem politischen Anspruch“ eine „ähnliche Funktion“ für Ost-Berlin wie die Interim für West-Berliner Autonome. Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Berlin (Hg.), Verfassungsschutzbericht Berlin 1990, Berlin 1991, S. 49. 32 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2007, S. 254 sowie o. V., Die HausbesetzerInnenbewegung in Ost-Berlin. 33 Vgl. Lotzer, Begrabt mein Herz am Heinrichplatz, S. 115. 34 Die Autonomen begaben sich mit solchem Engagement immer auch an die eigenen Wurzeln, formierten sie sich doch als Bewegung just in der HausbesetzerInnenbewegung 1980/81. Vgl. dazu pointiert Freia Anders, Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre, in: Sven Reichardt u. Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010, S. 473–498, die auch noch einmal hinweist auf das autonome Dilemma, dass die eigene Bewegungsenergie potenziell durch eine Subkultur absorbiert wird, die doch zunehmend Teil des gesellschaftlichen Mainstreams ist. Zunächst scheint das auch auf die Mainzer Straße zuzutreffen, wird jedoch schließlich während der „Schlacht in der Mainzer Straße“ durch die enorme autonome Militanz relativiert, die als autonomes Distinktionsmerkmal gegenüber der Subkultur gelten kann, vgl. ebd., S. 497f. 35 Vgl. Haunss, Identität in Bewegung, S. 116.

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sich in der Mainzer Straße in lokal und thematisch komprimierter Form wieder: Systemopposition, subkulturelle Diversität, Dekolonisierung der Lebenswelt, Antiimperialismus, Internationalismus, politischer Rigorismus, Gruppenkonflikte, usw.36 Gleichwohl ist es im Rückblick und unter Berücksichtigung der zahlreichen Dokumente, Artikel und Quellen kaum möglich, eine stellenweise suggerierte „autonome Übernahme“ der Mainzer Straße zu bestimmen oder eine streng lineare Entwicklung des Verhältnisses von Autonomen und HausbesetzerInnen zu beschreiben. Zu sehr sind Teile der HausbesetzerInnenszene auch autonome AktivistInnen bzw. SympathisantInnen und vice versa.37 Zu sehr würde damit eine organisierte autonome Intervention in der Mainzer Straße angenommen, die schon aufgrund der damaligen autonomen Organisationsaversion nicht nahe liegt. Gerade das vielfältig Projekthafte der Mainzer Straße dürfte magnetisch gewirkt haben. Allerdings gab es auch Faktoren, die einem autonomen Engagement in der Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung entgegenstanden. Welche das sind und wie der sich draus ergebende Bewegungswiderspruch, der auch ungefähr entlang einer zentralen Konfliktlinie innerhalb der West-Berliner Autonomem verläuft, aussah, wird weiter unten im Zusammenhang linker Verständigungsschwierigkeiten verhandelt. Im Vergleich der Ost-Berliner Hausbesetzungen 1990 stellen die 13 besetzten Häuser in der Mainzer Straße mit ihrer enormen subkulturellen Ausdifferenzierung ein durchaus atypisches Phänomen dar, das, wenngleich im viel kleineren Maßstab und viel dichter gedrängt, im zeitgeschichtlichen Vergleich auf den ersten Blick erinnert an die Kreuzberger HausbesetzerInnenszene Anfang der 1980er Jahre. In toto allerdings war die Mehrheit der besetzten Häuser 1990 tatsächlich eher Fremdkörper in einer politischen Umbruchphase denn Teil einer politischen, umfassend in ein ganzes Viertel eingebetteten Bewegung wie in Kreuzberg oder Schöneberg während der Hausbesetzungswelle 1980/81.38 Westlinke Hegemonie in Ost-Berlin? Ein wesentlicher Aspekt der Hausbesetzungen in Ost-Berlin im Allgemeinen und in der Mainzer Straße im Besonderen betrifft das spannungsreiche Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen BesetzerInnen39 . Zunächst fällt auf, dass schon kurz nach Beginn der Besetzungsinitiative in der Mainzer Straße Ende 36 37 38 39

Vgl. etwa ders., Antiimperialismus und Autonomie, S. 451f. Siehe Fn 18. Vgl. Holm u. Kuhn, Häuserkampf und Stadterneuerung, S. 113f. Vgl. etwa o. V., Die HausbesetzerInnenbewegung in Ost-Berlin, Teil3; o. V., Kämpfende Hütten. Urbane Proteste in Berlin von 1872 bis heute, S. 28.

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April/Anfang Mai etwa vier von fünf BesetzerInnen aus dem Westen kamen. Ein paar „Quotenossis“ habe es zwar gegeben, aber überwiegend seien es „Westler“ gewesen40 , wobei sich West-Berliner Autonome41 im BesetzerInnen-Rat als „militante Speerspitze der Bewegung“ gefallen hätten.42 Abgesehen von ihrem teilweise indifferenten und naiven Blick auf den Realsozialismus (s. u.), war es wie gesagt ihr reichlich unsensibler Umgang mit seinen Reliquien (Fahnen, Uniformen, etc.)43 , den ostdeutsche HausbesetzerInnen besonders deshalb als Affront empfunden haben dürften, weil die ungeliebten realsozialistischen Symbole genau für das standen, was sie ablehnten und nun eigentlich für überkommen hielten: einen ideologisch-disziplinierenden Staat, der wenige Freiräume ließ für ein politisch und auch sonst unangepasstes Leben. Besonders konsterniert dürften diejenigen gewesen sein, die den Repressionsapparat der Staatssicherheit am eigenen Leib erfahren hatten. Darüber hinaus sei man enerviert gewesen von den kommunistischen Phrasen und der hochideologisierten FunktionärInnensprache politischer DogmatikerInnen unter den westdeutschen Linken; schon die Anrede „Genosse“, im alternativen Milieu Ost-Berlins negativ besetzt, war vielen ein Graus.44 Nicht nur gemeinsames politisches Agieren und Ost-WestKooperation in der HausbesetzerInnenbewegung 1990, sondern schon die alltägliche Verständigung zwischen Ost- und Westlinken traf somit nicht selten auf unüberwindbare Hürden habitueller und sprachlicher Differenzen.45 Gewiss – 40 Vgl. etwa Dörfler, Gentrification in Prenzlauer Berg?, S. 227. 41 Aus Sicht des Berliner Verfassungsschutzes sei es den nach Ost-Berlin übersiedelnden WestBerliner Autonomen gelungen, sich „innerhalb kurzer Zeit in der neuen Umgebung einzurichten, Führungsrollen zu übernehmen und die dort anfänglich friedlich agierenden Gruppen zunehmend zu gewaltorientiertem Handeln zu veranlassen.“ West-Berliner Autonome, die mit etwa 400 Anhängern „das größte Kontingent innerhalb des deutschen linksextremistisch motivierten Gewaltpotenzials“, wie es da im Sicherheitsjargon heißt, gestellt haben sollen, hätten die zunächst moderate Haltung der Ost-Berliner HausbesetzerInnen gegenüber der Polizei unterdrückt. Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Berlin (Hg.), Verfassungsschutzbericht Berlin 1990, S. 44f. Das ist allerdings nicht nur eine unzulässige Simplifizierung eines doch komplexeren Sachverhalts, sondern ebenso eine bedenkliche Undifferenziertheit in der Betrachtung und Einschätzung der autonomen Szene bzw. ihres Agierens in Ost-Berlin. 42 Vgl. Sontheimer u. Wensierski: Berlin. Stadt der Revolte, S. 399. 43 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 252f.; vgl. auch Fn 26. 44 Vgl. Dörfler, Gentrification in Prenzlauer Berg?, S. 227. 45 Hauke Brenner, in der autonomen Bewegung in den 1980er und 1990er Jahren aktiv, erinnert sich: „In den ersten Monaten der Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westlinken nach dem Mauerfall gab es viele Unterschiede, Missverständnisse, an manchen Stellen auch eine Bevormundung und Besserwisserei durch die Westlinken und Autonomen. […] Obwohl wir dieselbe Sprache sprachen stellten wir verdutzt fest, dass wir häufig aneinander vorbeiredeten und wohl aus verschiedenen Welten kamen.“ Vgl. Hauke Benner, Autonome zu Zeiten der Wende, in: telegraph, H. 129–130/2014, URL: http://telegraph.cc/autonome-zu-zeiten-derwende/ [eingesehen am 31.03.2020].

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dass sich die beiden politischen Kulturen von BRD und DDR seit Ende des Zweiten Weltkriegs so diametral entwickelt hatten, kann im Umkehrschluss nicht zur Annahme führen, dass die widerständigen und gegenöffentlichen Gruppen und Bewegungen linker und linksalternativer Provenienz in beiden Teilen Deutschlands – gerade unter Berücksichtigung der geballten westdeutschen Bewegungstradition und der reichlich entpolitisierten subkulturellen Bewegungen in der DDR – nach dem Mauerfall schnell und ohne Verständigungsdissonanzen zueinander gefunden hätten. Dass sich dann aber eine solch beachtliche Kluft wie in der HausbesetzerInnenszene Ost-Berlins auftat, überrascht trotzdem. Obwohl oder gerade weil letztlich die dominanten nationalen Narrative teilweise, und seien es „nur“ deren habituelle Versatzstücke, offenbar auch in politische Oppositions- und Alternativbewegungen wirkungsstark diffundierten. So mündete das vermeintlich Besondere der Unterschiede zwischen Ostund WestbesetzerInnen in der Mainzer Straße, dieses „ersten größeren Projekts deutsch-deutschen Zusammenlebens“, in veritablen subkulturellen Ost-WestKonflikten: der „Wessi“46 sei, „ohne das immer zu wollen, immer am überfahren“ gewesen und der „Ossi“ habe immer das Gefühl gehabt, „überfahren“ zu werden, die Handlungspragmatik westdeutscher HausbesetzerInnen habe vielen ostdeutschen HausbesetzerInnen „bitter aufgestoßen“, da diese jeden Punkt immer bis zum Ende ausdiskutiert haben wollten – so die Wahrnehmung eines westdeutschen Hausbesetzers.47 Zwar bestätigt sich dieser Eindruck ostdeutschen Konsenswillens in der Perspektive vieler ostdeutsch sozialisierter HausbesetzerInnen48 , doch irritiert eine solche Stereotypisierung im linken HausbesetzerInnen-Kontext, weil dies offenlegt, dass nicht einmal die alternativen und subkulturellen Milieus vom Phänomen der „Konstruktion des Ostdeutschen“49 frei gewesen waren. Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Atmosphäre in vielen besetzten Häusern – das oft politisch doktrinäre und exklusivistische Gebaren auf zermürbend langen Versammlungen und sonstigen, für jede noch so kleine Gelegenheit einberufenen Haussitzungen, 46 Ursprünglich, daran sei hier nochmals erinnert, war dies die bis 1989 oft gebräuchliche Bezeichnung der West-BerlinerInnen für ihre bundesrepublikanischen Landsleute auf dem „deutschen Festland“ westlich der eigenen insularen Existenz. 47 Vgl. das Interview mit Freke Over: Franca Fischer, Podcast „Der kurze Sommer der Anarchie“, Mai 2016, URL: https://mainzerstrasse.berlin/podcast-der-kurze-sommer-der-anarchie/ [eingesehen am 24.03.2020], sowie das am 14.02.2020 vom Autor mit Dirk Moldt geführte Interview. 48 Vgl. u. a. ebd. 49 Vgl. Thomas Ahbe, Die Konstruktion der Ostdeutschen. Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 41–42/2004, S. 12–22, URL: https://www.bpb.de/apuz/28054/die-konstruktion-der-ostdeutschen?p=all#footnodeid_19-19 [eingesehen am 24.03.2020].

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bei denen zumeist der lauteste Diskutant die diskursive Oberhand hatte50 – lässt sich leicht ermessen, wie diese Szenerie auf viele ostdeutsche HausbesetzerInnen gewirkt haben musste, die oft weder im radikalen und nicht zuletzt immer auch inszenierten Austragen eines Konflikts geübt waren noch über die konfliktreiche Tradition westdeutscher HausbesetzerInnen verfügten? So blieben „die Ostdeutschen“ eher unter sich, in den besetzten Häusern außerhalb der Mainzer Straße, die mehr und mehr zum hochpolitisierten Aktionsbereich erfahrener West-Berliner Kämpen wurde. Auch später, während einer „autonomen Kontaktaufnahme“ anlässlich der Vorbereitungen auf die AntiWiedervereinigungsdemo am 3. Oktober, sei, so ein ostdeutscher Aktivist, schnell deutlich geworden, „dass die aus dem Westen alles schon fertig in der Tasche hatten.“ Ein autonomes Fait accompli für die ostdeutschen „GenossInnen“ also? Diskussionen oder inhaltliche Absprachen jedenfalls habe es kaum gegeben. Der Demo-Slogan „Deutschland halt’s Maul“ sei von den „Westlern“ in großväterlicher und besserwisserischer Manier aus dem Ärmel gezaubert worden, wodurch sich besonders die BesetzerInnen und jungen Antifa-Leute aus dem Osten bevormundet gefühlt hätten.51 Dabei verfolgten West-Berliner Linke und Autonome durchaus eine Integrationsstrategie gegenüber ostdeutschen HausbesetzerInnen, denn da man sich in keiner revolutionären Situation befände, käme es doch darauf an, „eine integrale Strategie von genau bestimmter Militanz und politischer Mobilisierung zu finden“52 und deutlich zu machen, „daß es uns nicht nur darum geht, unser eigenes Schäflein, die Häuser, ins Trockene zu bringen, sondern es uns um eine Verbesserung der Lage der MieterInnen geht.“53 Das solcherart in Worte gekleidete politische Engagement gemahnt – zeitlich weiter zurücktretend hinter den Häuserkampf von 1980/81, der sonst aufgrund vergleichbarer Bewegungsspezifika erste zeitgeschichtliche Referenz ist – etwa auch an die Frankfurter Spontis, die sich ähnlich integrations- und militanzmotiviert über den Reproduktionsbereich äußerten.54 Aber auch im

50 Vgl. etwa Härlin u. Sontheimer, Potsdamer Straße, S. 125f.; Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1995, S. 174f. 51 Vgl. ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, Münster 2010, S. 183. 52 Vgl. BesetzerInnenrat, in: PROWO 8, 1990, in: o. V., Dokumentation. Presse. Flugblätter. PROWO (Projekt Wochenzeitung. Zeitung für die Westberliner Linke) war eine seit 1989 in West-Berlin erscheinende Zeitung, die ein breites Spektrum linker und linksradikaler Politik bediente. 53 O. V., Bloß keine Gewalt? Der Rechtsstaat schon wieder in Aktion/ Aspekte zur Wiedergewinnung der geräumten Häuser und zur Verteidigung der anderen, in: ebd. 54 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Frankfurter Sponti-Szene. Eine Subkultur als politische Versuchsanordnung, in: Archiv für Sozialgeschichte, Band 44 (2004), S. 105–121; Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 340.

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Frankfurter Häuserkampf 1973/74 stand Militanz, wie letztlich in der Mainzer Straße 1990 in Berlin55 , temporären Aktionsbündnissen im Weg. Spätsozialistische Nachbarschaft In den nicht besetzten Häusern der Mainzer Straße wohnten nach wie vor viele reguläre MieterInnen, deren Reaktionen auf die neuen hausbesetzenden NachbarInnen von Sympathiebekundungen über partielle Verständigkeit bis hin zu dezidierter Ablehnung reichten. Die „Bürgerinitiative Mainzer Straße“ betrachtete Hausbesetzungen „generell als Rechtsbruch“ einer „Szene“, die an Instandsetzungen56 kaum interessiert gewesen sei. Ein besonders entrüsteter Moralist in der Nachbarschaft fühlte sich gar „sittlich belästigt“ u. a. durch „das Verschandeln, das Plakatieren der ‚Ruinen.‘“ Einer in der „Bürgerinitiative“ engagierten Lehrerin aus der Mainzer Nachbarschaft schienen polizeiliche Möglichkeiten und Maßnahmen zur „Herstellung von Ruhe und Ordnung“ wohl in jeder Hinsicht unzureichend, sie forderte allen Ernstes, gegen die HäuserkämpferInnen mit Flammenwerfern vorzugehen. Weitere Aussagen ähnlicher sprachlicher Drastik der offenkundig wenig verständigen, ja regelrecht radikalen „Bürgerinitiative“ empfand auch Helios Mendiburu – nach den Kommunalwahlen im Mai 1990 für die SPD erster frei gewählter Bürgermeister von Berlin-Friedrichshain und wichtige Vermittlungs- und Schlichtungsinstanz der konfliktreichen Beziehungen zwischen HäuserkämpferInnen, NachbarInnen, KWV und Polizei – als „menschenfeindlich“. Andere AnwohnerInnen schilderten positive Erfahrungen mit den HausbesetzerInnen, die „auch was machen wollen“ und verurteilten das unverhältnismäßige und brutale Vorgehen der Polizei während der Räumung im November. „Die Leute, die dort gewohnt haben, haben überhaupt keinen militanten Eindruck auf mich gemacht. Diese Gitter an den unteren Stockwerken hab’ ich völlig verstanden. Aufgrund der sich wiederholenden Skinhead-Angriffe mußten sie sich schließlich schützen.“57 Allein, auch diejenigen AnwohnerInnen, die zu55 Vgl. BesetzerInnenrat, in: o. V., Dokumentation. Presse. Flugblätter. 56 In der „bürgerlichen Presse“ sah man dies ähnlich, vgl. Ralf Georg Reuth, „Gemeinsam sind wir unendlich stark“. Hausbesetzern geht es nicht um Sanierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.1990, S. 5. Aus den Quellen geht demgegenüber allerdings deutlich hervor, dass Instandsetzungsarbeiten an verschiedenen Häusern in der Mainzer Straße verrichtet wurden, wenngleich diese im Verhältnis zu politischen Aktivitäten und Aktionen, die naturgemäß eher die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen, im Verlauf des Sommers und Herbstes scheinbar abnahmen. Das wiederum überrascht aufgrund der ungewissen Vertragsund Verhandlungssituation zwischen BesetzerInnen und KWV nicht, zumal – daraus folgend – die internen Auseinandersetzungen (Verhandler- vs. Nichtverhandlerfraktion) wuchsen. 57 Vgl. die Interviews in: Arndt u. a. (Hg.), Berlin. Mainzer Straße, S. 141–159.

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nächst nachbarschaftliches Interesse bekundet und Verständnis gezeigt hatten, waren alsbald nervlich zermürbt von nächtelanger musikalischer Dauerbeschallung und endlosen Straßenfeten. Ahnten viele der alteingesessenen „Mainzer“ spätestens seit der letzten Volkskammerwahl am 18. März – aus der, wie es Stefan Heym einmal treffend auf den Punkt brachte, der Vereinigungsverkünder Helmut Kohl als Sieger hervorging58 – den so verheißungsvoll nahenden Westen, durften sie zunächst, für ein knappes halbes Jahr, Mitwirkende und Publikum eines anarchischen Häuserkampf-Stückes sein, einer vielstimmigen Aufführung, die ihnen in kompakter und selten leiser Form die mannigfachen Facetten westdeutscher Subkulturen und Szenen mit all ihren gegenöffentlichen und zuletzt militant-eskalierenden Konsequenzen näherbrachte – bzw. zumutete. Ein reizender historischer Wimpernschlag, durch den der Anarchismus West-Berliner Autonomer und die biedere graue Enge Ost-Berliner Nachbarschaft aufeinanderprallten. Anders gewendet verabschiedete sich auf der einen Straßenseite das bis dato offiziell gültige sozialistische Dogma seinsbestimmten Bewusstseins allmählich in die materialistischen Geschichtskatakomben, während sich auf der anderen Straßenseite – in Abwandlung eines flotten Sponti-Spruchs über die Autonomen – zunehmend zeigte, dass es der Stein ist, ob als gebauter (Reproduktionsbereich) oder geworfener (Militanz), der das revolutionäre Bewusstsein bestimmt. Letztlich allerdings fand man auch in der Mainzer Straße keinen Strand unter dem Pflaster. „Berliner Linie“ und Verhandlungsdilemma Indes, die politischen Rahmenbedingungen entwickelten sich rasch zu Ungunsten der HausbesetzerInnen. Waren die am 1. Juli verabschiedete Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion und die Wiedervereinigung am 3. Oktober die entscheidenden politischen und ökonomischen Zäsuren des Jahres 1990, war es für die HausbesetzerInnenbewegung mutmaßlich eine andere: Falls man 1989/90 an die Möglichkeit einer neuen BesetzerInnenkultur glaubte, musste dieser Glaube ordentlich erschüttert worden sein, als die Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung am 24. Juli 1990 beschloss, die „Berliner Linie“ auch im Osten der Stadt einzuführen. Seit diese Verordnung 1981 als „Berliner Linie der Vernunft“ vom West-Berliner Kurzzeit-Regierenden Hans-Jochen Vogel, nach der Stobbe-Garski-Affäre als sozialdemokratischer Krisenmanager und politische Interimslösung fungierend, verabschiedet wurde, diente sie als probates 58 Vgl. auch die Zuspitzung dieses Gedankens bei Moritz Rudolph, Die Zuspätrevoltierenden, in: Merkur, H. 847/2019, URL: https://www.merkur-zeitschrift.de/2019/11/22/die-zuspaetrevoltierenden/ [eingesehen am 24.03.2020].

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Räumungsinstrument, gegen neue Hausbesetzungen vorzugehen. Zu räumen sei demnach binnen Tagesfrist nach Bekanntwerden eines neu besetzten Hauses. Nun auch in Ost-Berlin, wo die Hausbestzungen sofort spürbar zurückgingen; andererseits durften bis zum 24. Juli besetzte Häuser entsprechend der „Berliner Linie“ nicht ohne Weiteres geräumt werden. Hinzu kam, dass mit Abschaffung der Wohnraumlenkung und Aufhebung der Mietpreisbindung am 1.9.1990 das Schicksal der DDR-Wohnungspolitik besiegelt und die Kommunalen Wohnungsverwaltungen in Friedrichshain und anderen Ost-Berliner Bezirken in Wohnungsbaugesellschaften umgewandelt wurden. Der daraus resultierende Kommodifizierungsprozess von Wohnraum konnte ebenso wenig im Interesse der HausbesetzerInnen sein. Die der nahenden Wiedervereinigung vorauseilenden politischen Veränderungen und Turbulenzen übten damit zunehmend Druck aus auf die Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung, die zwar bereits am 22. Juni 1990 das „Vertragsgremium“ (VG), Nachfolger des „B-Rats“, gegründet hatte, um zielorientierter mit dem Magistrat von Berlin (MvB), Ost-Berliner Pendant des West-Berliner Senats, zu verhandeln. Dieser signalisierte tatsächlich zunächst Konzessions- und Verhandlungsbereitschaft, ließ sich gar auf Vorvereinbarungen ein, schwenkte dann aber mit Einführung der „Berliner Linie“ auf einen rigideren Kurs ein, um Entwicklungen, auch in der Eigentumsfrage vieler Häuser, die bis dato dem MvB gehörten, nicht vorzugreifen. Unter diesen Umständen waren immer mehr BesetzerInnen bereit, rasch gültige und dauernde vertragliche Lösungen anzustreben.59 Auch unter den BesetzerInnen der Mainzer Straße fand nun ein ständiges Ringen um den Grad von Verhandlungsbereitschaft mit der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und der KWV bzw. ihrer Rechtsnachfolgerin statt. Wie schon auf dem Höhepunkt der HausbesetzerInnenbewegung 1981 dividierten sich VerhandlerInnen- und NichtverhandlerInnenfraktion auseinander. Damals hieß es: „Verhandler? Vergisses! […] Das Zusammenhalten, das ‚wir‘-Gefühl der Bewegung, war wichtiger als jede taktische Überlegung. Wer verhandelte, bremste die Bewegung, bereitete den Abschied vor, grenzte sich von den anderen ab, fiel ihnen in den Rücken, war egoistisch.“60 Ähnlich klang es auch 1990. Aufschluss über diesen zentralen bewegungsinternen Streit gibt u. a. die Ost-Berliner BesetzerInnenzeitung61 , die besonders Teilen der Kreuzberger Autonomen ein publizistischer Dorn im anarchistischen Medienauge war. In der Ost-Berliner HausbesetzerInnenszene war man sich zunächst einig, 59 Siehe auch die Presseerklärung des Vertragsgremiums vom 15.10.1990, in: BesetzerInnenzeitung 8, 17.10.1990, S. 10, PDF–Archiv der HausbesetzerInnen Zeitung, URL: http://squatter. w3brigade.de/besetzerinnen-zeitung [eingesehen am 15.03.2020]. 60 A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 45. 61 Vgl. URL: http://squatter.w3brigade.de [eingesehen am 24.03.2020].

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keine Einzelmietverträge für Wohnungen abzuschließen, da diese das gesamte BesetzerInnen-Projekt mit seinem kollektiv-emanzipatorischen Anspruch unterminieren würde. Jedoch wurden mit Heranrücken des 3. Oktober 1990 und der damit zu erwartenden Neuordnung der Eigentumsverhältnisse in der DDR auch viele „Mainzer“ BesetzerInnen zunehmend nervöser und suchten nach einer alsbaldigen Verhandlungslösung, nun viel eher bereit, Vertragskompromisse in Einzelverhandlungen einzugehen. Andere plädierten dafür, nicht sofort die erste Vertragshand zu greifen, sondern abzuwarten und weiter das ursprüngliche Ziel zu verfolgen, „ohne Verträge in den Häusern zu bleiben und die Selbstbestimmung zu wahren“. Die jeweilige Selbstverortung in dieser bewegungsinternen Debatte hing sicherlich nicht zuletzt davon ab, ob man – wie viele BesetzerInnen in der Mainzer Straße – einen mehr oder minder gesicherten Rückzugsort hatte und im Falle des Scheiterns in die legale Mietwohnung in Kreuzberg, Neukölln oder Schöneberg hätte zurückkehren können oder ob man existentiell auf besetzten Wohnraum angewiesen war und eher erwog, sich in die jedenfalls vorläufig sicheren Fahrwasser einer Verhandlungslösung bzw. eines Einzelvertrages zu begeben.62 Es destillierten sich schließlich drei Strategien in den besetzten Häusern heraus: Nichtverhandeln; Verhandeln mit dem Ziel einer Gesamtlösung; Verhandeln, um Einzelverträge abzuschließen63 , wobei davon auszugehen ist, dass a) die Trennlinien oft quer durch die Häuser und Szenen gingen und b) Nichtverhandlerfraktion und die Gruppe autonomer AktivistInnen nicht per se deckungsgleich waren. Autonome Krise und Aufbruchsstimmung (ex oriente lux)? Welche Rolle spielte der „Mainzer“ Kontext als Ausschnitt der Ost-Berliner HausbesetzerInnenbewegung im Selbstverständigung- und Fraktionierungsprozess West-Berliner autonomer Gruppen vor dem Hintergrund ihres stellenweise fremd- und selbstdiagnostizierten Krisenzustandes Ende der 1980er Jahre? Inwieweit bot die Mainzer Straße den West-Berliner Autonomen nachgerade autonome (Re-)Affirmationsgelegenheit, einen neuen Möglichkeitsraum jenseits des Kreuzberger Kosmos, sich ihrer selbst, ihrer Identität und ihrer Ziele (neuerlich) zu vergewissern? Es ragen vier autonome Bewegungs- und Mobilisierungshöhepunkte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre heraus: der Kampf um besetzte Häuser in der Hamburger Hafenstraße im November 1987; die in eine breite Protestkoalition 62 Vgl. BesetzerInnenzeitung 8, PDF–Archiv der HausbesetzerInnen Zeitung, URL: http://squatter.w3brigade.de/besetzerinnen-zeitung [eingesehen am 24.03.2020]. 63 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 253.

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verschiedener sozialer Bewegungen und Protestgruppen eingebetteten autonomen Proteste gegen die gemeinsame Tagung von IWF und Weltbank im September 1988 in Berlin sowie die Mai-Demonstrationen 1987 und 1989 in Kreuzberg, die Eskalationshöhepunkte im Rahmen dieses alljährlichen Großereignises linker und linksradikaler Gruppen und Bewegungen darstellten. In beiden Jahren setzten die West-Berliner Autonomen eine seit ihrer Bewegungsformierung während der Häuserkämpferzeit 1980/81 nicht mehr erreichte, wenngleich sehr punktuelle militante Bewegungsenergie und Mobilisierungskraft frei, wobei der „Revolutionäre 1. Mai“ 1989 den in der Szene schon Mythos gewordenen „Kreuzberger Kiezaufstand“ zwei Jahre zuvor hinsichtlich Gewaltausmaß und Sachschäden noch überbot. Beide Ereignisse, damals noch nicht wie spätere Mai-Demonstrationen in gleichförmigen linken Ritualen erstarrt64 , seien in der autonomen Szene, nach einem Bewegungstiefpunkt 1986, durchaus als eindrucksvolle Bewegungsmomente wahrgenommen worden.65 Allerdings wurden bewegungsintern auch kritische Stimmen laut: So seien viele der am 1. Mai 1987 erfolgten Aktionen – Plünderungen kleiner Läden, Ausleben pyromanischer Gelüste, übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen, Volltrunkenheit vieler Beteiligter – eher Ergebnis individueller Bedürfnisbefriedigung und damit überwiegend entpolitisiert gewesen.66 Den latenten Widerspruch zwischen 1. Mai-Randale und Versuch, diesen destruktiven Akt politisch zu legitimieren und aufzuladen67 , konnte die autonome Bewegung bis heute nicht auflösen.68 Ähnlich verhielt es sich hinsichtlich der Militanz der Spontis etwa in Frankfurt (s. o.) und der autonomen Initiativen im Kontext des Häuserkampfes, sei es Anfang der 1980er Jahre oder im November 1990 in der Mainzer Straße, sei es gegenwärtig in der Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain. Bei aller in der ersten Jahreshälfte 1989 aufgekommenen Bewegungseuphorie sei es gleichwohl, wie Tomas Lecorte, ein Vertreter der dominanten libertären Strömung in der autonomen Bewegung, Anfang der 1990er Jahre schreibt,

64 Vgl. Dieter Rucht, Vom Sinn eines Protestrituals, in: Ders. (Hg.), Berlin, 1. Mai 2002. Politische Demonstrationsrituale, Wiesbaden 2003, S. 9ff. 65 Vgl. Interview II des Autors mit Tomas Lecorte am 31.03.2020. 66 Vgl. Thomas Schultze u. Almut Gross, Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen, Hamburg 1997, S. 80, die sich hier auf radikal-Texte beziehen. 67 Jedenfalls die politische Anspruchshaltung wurde in der ersten Ausgabe der Interim 1988, erschienen fast genau ein Jahr nach und auch in Reaktion auf den Gewaltexzess am 1. Mai ein Jahr zuvor, deutlich: „Für uns ist der 1. Mai ein Tag des internationalen revolutionären Kampfes gegen die patriarchalisch/kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse.“, vgl. Interim 1, 01.05.1988, S. 8. 68 Vgl. Sascha Dietze, Das Weltbild der Autonomen im Spiegel der Zeitschrift Interim. Eine Inhaltsanalyse von Themen und Diskursen, Chemnitz 2017, S. 256–273.

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„nicht die ‚Bewegung‘ wie Anfang der Achtziger [gewesen], mit Aufruhr, Revolte, Befreiung und chaotischen Beziehungen und vor allem mit dem Bewegungsgefühl, das viele Menschen gemeinsam nach vorne trieb, zu Besetzerräten, Treffen, Versammlungen, ohne daß politische Inhalte und Sprachformen vorher genau katalogisiert werden mußten.“69 Ältere AktivistInnen seien Ende der achtziger Jahre „passiv und abgetörnt [gewesen], weil alles so schwierig und zäh geworden war, nicht mehr von selbst zusammenpaßte und so viel Zeit mit Selbstmontage verbracht wurde.“70 Und diejenigen der Älteren, die sich weiterhin engagierten, seien von den Jüngeren nicht gehört worden, womit sie das gleiche Schicksal ereilt habe wie die 68er, die doch von ihnen so nachdrücklich abgelehnt worden waren.71 Abgesehen vom hier anklingenden Generationenkonflikt, vor dem auch Autonome nicht gefeit sind, und von Ermattungserscheinungen aufgrund latenter Richtungsstreitigkeiten schien die autonome Bewegung zudem mit Mauerfall und Wiedervereinigung einigermaßen überfordert gewesen zu sein. Dabei lässt sich stellenweise geradezu eine bewegungsinterne Indifferenz72 gegenüber der DDR und ihrem Untergang beobachten. Die Frankfurter autonome L.U.P.U.S.-Gruppe schreibt in ihrem szeneintern viel rezipierten Text „Doitsch-Stunde“ selbstkritisch: „So internationalistisch wir uns auch geben, so sehr stoßen unsere Überlegungen und Einschätzungen an die Mauer, an die Grenzen zur ex-DDR. So entschieden wir auch andernorts gegen Mauern anrennen, die Grenze zur DDR war über Jahrzehnte Demarkationslinie – oder besser gesagt: Endpunkt militanter Neugierde und Erfahrungen. Über diese Unwissenheit wollen wir nicht 69 Vgl. Thomas Lecorte, Wir tanzen bis zum Ende. Die Geschichte eines Autonomen, Hamburg 1992, S. 65 70 Ebd. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. zu den Gründen hierfür aus Szene-Perspektive: Geronimo, Feuer und Flamme. Ein unendlicher Fortsetzungsroman, in: Ders. u. a., Feuer und Flamme 2. Kritiken, Reflexionen und Anmerkungen zur Lage der Autonomen, Berlin 1992, S. 72–75. Es ist auch deshalb eine erwähnenswerte Referenz, weil hier aus autonomer Perspektive nicht nur keine plausible Differenz zur verbreiteten DDR-Ignoranz der BRD-Mehrheitsgesellschaft erfolgt, sondern letztlich konstatiert wird, dass die gleiche „Unkenntnis und Ignoranz“ auf die meisten Autonomen zugetroffen habe. Immerhin habe man Dokumente der DDR-Opposition „weit vor dem 9. November“ in der Interim abgedruckt. Sowie Benjamin Kaminski, Aufstand in Ost und West – Westberliner Autonome und die DDR, in: telegraph, H. 1/1999, URL: https://telegraph.cc/archiv/ telegraph-1-1999-97/aufstand-in-ost-und-west-westberliner-autonome-und-die-ddr/ [eingesehen am 28.03.2020], der – auch aus Szene-Sicht – zwar mehrmals betont, dass schon aufgrund der vielen in der Interim erschienenen Texte (solche von Autonomen als auch solche der DDR-Opposition) zum Thema Ostblock und DDR von fehlendem Interesse seitens der Autonomen keine Rede sein kann, aber gleichzeitig festhält, dass diese Texte und Artikel meistens „überblättert“ worden seien. Man habe die revolutionären Träume eher auf exotische Orte wie Nicaragua denn auf die vielen Autonomen „fremd“ erscheinende DDR projiziert.

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hinwegtäuschen. Es gibt kaum eine politische Strömung, die die eingestürzte DDR-Mauer mit soviel Zynismus und Ablehnung gegenüber den ‚Zonies‘ innerlich wieder aufrichtet, wie unsere autonome Szene.“73 Umgekehrt resoniert hier womöglich auch eine im Zuge der deutschdeutschen Wiedervereinigung (trotz aller temporären autonomen Nischen im Ost-Berliner HausbesetzerInnenmilieu) wachsende autonome Sehnsucht, jedenfalls der West-Berliner Fraktion, nach dem langsam im Verschwinden begriffenen widerständigen Dasein auf der seligen West-Berliner Insel – mit all ihren rechtlichen Sonderregelungen (Befreiung von der Wehrpflicht, „jede Menge staatliche Subventionskohle“74 ) und politischen Skandalen und Skandälchen fernab der Hauptstadt des „Modells Deutschland“ – im Ozean und mit der manichäischen Gewissheit des Kalten Krieges. Mit der Wiedervereinigung sei dann, wie Wolf Wetzel von der autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe konstatiert, nicht nur die Mauer in Berlin gefallen, „sondern auch viele andere Brandmauern, die bis dahin hielten oder nicht belastet wurden: ein antifaschistisches (Staats-)Vermächtnis, das Pogrome, einen mörderischen Nationalismus und Angriffskrieg ausschlossen. Tatsächlich konnte man das Gefühl haben, es gäbe unten wie oben kein Halten mehr und der Weg ins ‚Vierte Reich‘ stehe vor der Tür.“75 Der überraschend (wenn nicht indifferente so doch) wenig differenzierende Blick auf die DDR wird nachgerade bestätigt durch die politische Naivität solcher Aussagen, denn mit dem Antifaschismus war es schon seit Mitte der 1980er Jahre, seit dem Aufkommen neonazistischer Gruppen in DDR nicht mehr weit her.76 Zudem ist es nicht ohne Ironie, dass es schließlich der im Zuge der Wiedervereinigung befürchtete neue deutsche Nationalismus war, der der autonomen Bewegung auf die Füße fiel. Kurz: Im Zustand zunehmender gesellschaftlicher Marginalisierung angesichts der sich politisch überschlagenden Ereignisse während der Wendezeit machte sich in der autonomen Szene Resignation und Furcht vor einem wiedervereinigten Deutschland breit. Dass sie sich 89/90 in einer tiefen Krise befand, wurde von ihr zwar oft geleugnet, unverkennbar ist jedoch, dass sie „der Wandlung von ‚Wir sind das Volk‘ über ‚Wir sind ein Volk‘ bis hin zu offen völkischen oder rassistischen Haltungen zunächst recht sprachlos gegenüber“ standen.77 Publizistisch wurde die Wiedervereinigung und die damit verbundene Möglichkeit eines Vierten Reiches zwar in mehreren 1990/91 erschienenen Interim73 Vgl. Autonome L.U.P.U.S.-Gruppe R/M, Doitsch-Stunde. Originalfassung mit autonomen Untertiteln, in: Ingrid Strobl u. a., Drei zu eins, Berlin 1993 (zuerst 1990), S. 85; abgedruckt auch in: Interim 156/1991, S. 22–29. 74 Kaminski, Aufstand in Ost und West – Westberliner Autonome und die DDR. 75 Vgl. ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, S. 21. 76 Vgl. Michael Lühmanns Beitrag zum „Antifaschismus in Ostdeutschland“ in diesem Band. 77 Thomas Schultze u. Almut Gross, Die Autonomen, S. 214.

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Artikeln diskutiert.78 Ein Blick in das zweite überregionale Szeneblatt radikal allerdings zeigt eine auffallend geringe Beachtung des politisch dominanten Ereignisses Wiedervereinigung.79 Erst im Juni 1990 ist dort zu lesen: „Seit dem 9. November laufen die politischen Entwicklungen im Raketentempo ab. Die Wiedervereinigung steht vor der Haustür – das BRD-Kapital strömt geiernd in den Osten. […] Der nationale Aufbruch kitzelt die KleinbürgerIn heraus – die Aussicht auf Konsum, die ‚Heimkehr‘, die Aussicht, ‚wer‘ zu sein, besser zumindest als die ‚Anderen‘, Platz auch mal an der Sonne, her mit den Weibern – die Pornoindustrie nistet sich in der DDR ein. Die Linke in der BRD ist am Verarbeiten, versucht erste Kontakte zu knüpfen und zieht gerade aus Wohnungsmangel von Westberlin nach Ostberlin Häuser besetzen. Die Linke in der DDR ist in der Mehrzahl demoralisiert und genauso zersplittert wie wir. Die Ansätze autonomer Organisierung sind gering, aber da!“80

Es sind symptomatische Zeilen, hastig und staccatoartig hingeworfen, merkwürdig oszillierend zwischen politisch-situativer Überforderung, eigenem Krisenbewusstsein und einem guten Quantum Restzuversicht. Im Anschluss daran liegt es zunächst nahe, den selbst- und fremddiagnostizierten Krisenzustand der autonomen Bewegung während der historischen Umbruchsituation 1989/90 etwa mit Peters zurückzuführen auf das vermeintliche und vielbeschriene Bewegungsmanko einer „gemeinsamen weltanschaulichen Grundlage“ und eines „theoretischen Fundaments“, das zur Analyse gesellschaftlicher Umbruchssituationen und der eigenen Verortung darin notwendig sei.81 Eine Kritik, die nur bedingt verfängt, da sie allzu sehr und offensichtlich vom ideologischen Standpunkt systematischer linker Theoriebildung aus- und damit an der Autonomen-DNA vorbeigeht, deren molekulare Bewegungsstruktur eben nicht nur geprägt ist von einem antihierarchischen, antiinstitutionellen, spontaneistischen, voluntaristischen Subjektivismus, einer „Politik der ersten Person“ – um die dominanten Begriffe und Konzepte zu nennen –, sondern vor allem auch von einem reichlich gespaltenen Verhältnis zu systematischer politischer Reflexion und Theoriebildung.82 Zugleich wurde aber seit der späten Formationsphase83 der autonomen Bewegung Anfang der 1980er Jahre regelmäßig 78 Vgl. Dietze, Das Weltbild der Autonomen im Spiegel der Zeitschrift Interim, S. 352. 79 Vgl. Rana Holsti, Die Zeitschrift radikal als Sprachrohr der linken autonomen Szene – eine Medienanalyse, in: Klaus Farin, Die Autonomen, Berlin 2015, S. 265–327, hier S. 309. 80 Vgl. radikal, H. 140/1990, zitiert nach ebd., S. 308. 81 Ulrich Peters, Unbeugsam und widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90, Münster 2014, S. 47–57. 82 Vgl. u. a. Haunss, Antiimperialismus und Autonomie, S. 451ff. 83 Vgl. auch Geronimo, Feuer und Flamme. Ein unendlicher Fortsetzungsroman, S. 62, wo ein Anfang der 1980er Jahre „vielleicht notwendiges anti-reflexives Moment“ konstatiert wird, das im autonomen Denken und Tun der 1990er Jahre aber „abzustreifen“ sei.

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interne Kritik geübt am eigenen Reflexionsdefizit. Somit befanden sich das radikal-aktive und das reflexiv-kontemplative Bewegungselement während der überwiegenden Zeit seit Bestehen der autonomen Bewegung in einem durchaus ambivalenten Verhältnis, das besonders in den Organisations- und Theoriedebatten84 der 1990er Jahre, sozusagen im Anschluss an die eigene Krisenwahrnehmung zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung, mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte. Reflexionskritik wurde 1990 auch seitens des West-Berliner libertärreformistischen Flügels geäußert, der in der bewegungsinternen Frage des HausbesetzerInnen-Engagements in Ost-Berlin zunächst zurückhaltend agierte. Zwischen ihm und einer sich als „kommunistisch“ verstehenden dogmatischen Minderheitsfraktion verlief innerhalb der (West-)Berliner autonomen Bewegung eine der zentralen bewegungsinternen Konfliktlinien85 , sodass man sich die autonomen Vollversammlungen, trotz gelegentlicher Versuche, gruppenübergreifend zu agieren, überwiegend als lautstarke Konfrontationen vorstellen darf.86 Die „kommunistische Fraktion“ sei hinsichtlich der Ost-Berliner Hausbestzungen, besonders in der Mainzer Straße, vergleichsweise aktions- und besetzungsmotivierter gewesen als viele der Libertären, die zunächst eher skeptisch gen Osten blickten.87 Dazu passen auch die oben angeführten Quelleninformationen und Berichte von AktivistInnen über politische Symbolik und Sprache der in der Mainzer Straße aktiven West-Berliner Autonomen-Fraktion. Dominierte der West-Berliner Häuserkampf 1980/81 thematisch noch die radikal-Ausgaben88 , damals eines der primären Publikationsorgane der HausbesetzerInnenbewegung, nahm die Ost-Berliner Häuserkampfvariante eine knappe Dekade später trotz zunehmender Bedeutung in der Szene keinen auch nur annähernd so herausgehobenen Stellenwert mehr ein. Der Ost-Berliner Häuserkampf stellt damit die zweite relative thematische Leerstelle neben der Wiedervereinigung in der radikal dar. Dass dieses Aktionsfeld der autonomen Bewegung lediglich im Kontext des primär verhandelten Aktionsfeldes 84 Ein zugegebenermaßen problematischer Begriff, da es der autonomen Bewegung nie darum ging, eine bis in jede Verästelung des eigenen Seins und Handelns reichende kohärente Theorie zu elaborieren. Vielmehr, je nach Zeit, Gruppe oder Strömung, fußten und fußen ihre politischen Praxen instrumentell auf der mal mehr, mal weniger komplexen Kompilation von Versatzstücken besonders des Anarchismus, (Post-)Operaismus, aber auch auf theoretischen Varianten des Kommunismus. 85 Vgl. Interview I des Autors mit Tomas Lecorte am 24.03.2020. 86 Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme, S. 174ff. 87 Vgl. Interview I des Autors mit Tomas Lecorte am 24.03.2020. 88 Vgl. etwa Häuserkampf (Berlin), URL: http://www.autonome-in-bewegung.de/archiv/haus/ index.html [eingesehen am 29.03.2020].

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Antifaschismus angesprochen wurde, weist nicht nur auf die publizistische Themenhierarchie hin, sondern suggeriert darüber hinaus eine gewisse Skepsis gegenüber der dauerhaften Etablierung einer autonomen Aktionsbasis im OstBerliner Hausbesetzer-Milieu.89 Im März 1991 wird die Räumung der Mainzer Straße in der radikal nur kurz und insofern thematisiert, als dass autonome Hausbesetzungen in Ost-Berlin keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten, weil es eine zu starke VerhandlerInnenfraktion gegeben habe. Damit sei dieser HausbesetzerInnenbewegung ein schnelles Ende beschieden gewesen. Schneller sogar als noch zehn Jahre zuvor, als die Bewegung auch und nicht zuletzt an der Verhandlungs- bzw. Nichtverhandlungsfrage zerbrach.90 Unter dem Pseudonym Geronimo kommt ein langjähriger Aktivist und minutiöser Chronist der autonomen Szene in der Bewertung der Ost-Berliner Hausbesetzungen im Kontext der Wiedervereinigung zu einem weniger resignativen Ergebnis als etwa die autonome L.U.P.U.S.-Gruppe. Das Agieren der Autonomen in der „Mainzer“ sei durchaus kein „mausetoter Totentanz der Linken“ gewesen, sie seien nicht konsterniert gewesen angesichts Mauerfall und Ende des real existierenden Sozialismus.91 Den Höhepunkt, die von Polizei und HäuserkämpferInnen martialisch ausgetragene Straßen- und Häuserschlacht zwischen 12. und 14. November 1990 möchte er dann auch nicht als „heroische Niederlage“ (L.U.P.U.S.) disqualifiziert wissen. Es sei vielmehr „für einen Moment die ungeheure Kraft einer tatkräftig und gemeinsam handelnden Bewegung zu spüren gewesen.“92 Allerdings wäre versäumt worden, die Mainzer Straße vor ihrer Räumung zu einem „bekannten politischen Begriff “ zu machen und damit ein Kommunikationsdefizit der Berliner Autonomen zu beheben, das in Verbindung mit der „Brutalität der Mainzer-Straße-Räumung“ letztlich zum Zusammenbruch einer „breit getragenen Ost-Berliner Hausbesetzerbewegung“ geführt habe.93 Eine bewegungsinterne Kritik, wie sie schon nach der Kreuzberger Revolte vom 1. Mai 1987 vorgebracht wurde (s. o.). Erneut zeigte sich die „Diskrepanz zwischen der Bereitschaft zur aktuell wirkungsvollen militanten Selbstverteidigung und dem Unvermögen, eine politische Gegenwehr mit längerfristigen politischen Zielen zu organisieren.“94 Und tatsächlich schienen die autonomen HausbesetzerInnen in Ost-Berlin wenig gewillt zu sein, ihre politischen Ideen und Anliegen einer größeren, ja durchaus auch interessierten Öffentlichkeit zu vermitteln. Sie waren sich selbst genug in ih89 90 91 92 93 94

Vgl. Holsti, Die Zeitschrift radikal, S. 309. Ebd., S. 310. Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme. Ein unendlicher Fortsetzungsroman, S. 57. Ebd. S. 60. Ebd. S. 61. O. V., o. T., in: konkret, 12/1990, S. 43.

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rer bis November stetig zunehmenden Bewegungskraft und so machte die bewegungstypische Immanenz eine breitere gesellschaftliche Mobilisierung, etwa in Gestalt einer umfassenderen MieterInnenbewegung, unmöglich.95 Der Konflikt, so der ein wenig bellizistisch angehauchte und sich auf zuspitzende Rhetorik nicht schlecht verstehende Geronimo weiter, sei aber auch deshalb verloren gegangen, weil während seiner „Militarisierung“ die Barrikaden nicht noch höher gebaut und die Gräben nicht noch tiefer gegraben worden wären.96 Die handlungsimperative Dimension seiner Argumentation zeigt sich auch darin, dass der „notstandsähnliche Bulleneinsatz“ in der Mainzer Straße im November 1990, kurz vor der damals anstehenden Bundestagsentscheidung (Juni 1991) über die alte neue Hauptstadt Berlin, als „präventives Signal“ zu verstehen sei, sich den „anstehenden Umstrukturierungen organisiert entgegenzustellen“, zumal man es bisher nicht verstanden habe, das eigene Ziel, wie etwa das „Anti-Hauptstadtargument“, in einen größeren Kontext der „Kritik herrschender Verhältnisse“ einzubinden.97 Fazit Für einen Teil der Autonomen aus West-Berlin, wo die Luft 1990 etwas raus war98 , führte die Perspektive neuer autonomer Nischen und Aktionsmöglichkeiten in Ost-Berlin zu einer Aufbruchsstimmung99 in einer weithin als krisenhaft empfundenen Situation gesellschaftlicher Marginalisierung.100 Autonome Wiedervereinigungsskepsis, Angst vor aufkeimendem Nationalismus und Faschismus schienen teilweise relativiert worden zu sein angesichts der verlockenden Perspektive, auf dem alten, in West-Berlin längst eingeschlafenen Aktionssfeld Häuserkampf im politisch fragilen Transmissions- und Ermöglichungsraum Ost-Berlin tätig zu werden. Den Zustand des maroden gründerzeitlichen DDRReproduktionsbereichs kannte man selbst gut, strahlte doch Kreuzberg lange einen ebenso morbiden Charme aus, bevor „alles aufgemotzt und aufgehübscht wurde, und die Touristen nach Sechsunddreißig lockte.“101 Einige Kreuzberger

95 Vgl. Søren Jansen, Mit revolutionärem Anspruch in die Bedeutungslosigkeit, in: Scheinschlag, 06/2007, URL: http://www.scheinschlagonline.de/archiv/aktuell/dateien/texte/01.html [eingesehen am 29.03.2020]. 96 Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme. Ein unendlicher Fortsetzungsroman, S. 61. 97 Vgl. ebd. S. 62. 98 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 252ff. 99 Vgl. dazu etwa auch Sebastian Haunss, Identität in Bewegung, S. 137f. 100 Vgl. Interview II des Autors mit Tomas Lecorte am 31.03.2020. 101 Lotzer, Begrabt mein Herz am Heinrichplatz, S. 112.

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Autonome wie Sebastian Lotzers Roman-Protagonist und Alter Ego Paul waren sofort „Feuer und Flamme, als es hieß, sich ein paar Häuser in Friedrichshain unter den Nagel zu reißen.“102 Wie gesehen, bot besonders die Mainzer Straße aufgrund der sich innerhalb kürzester Zeit auf engem Raum etablierenden subkulturellen Szenen im Kontext der in Ost-Berlin erstarkenden HausbesetzerInnenbewegung den geradezu idealen Aktionsrahmen für autonomes Engagement, der allerdings auch zu einer Verdrängung ostdeutscher HausbesetzerInnen führte bzw. wenig inklusiv wirkte. Zugleich wird durch Szenepublikationen und Aussagen damaliger Bewegungsakteure deutlich, dass ein beachtlicher Teil der autonomen Szene in West-Berlin zunächst sehr zurückhaltend und skeptisch gegenüber einer autonomen Initiative im Ost-Berliner Häuserkampf und besonders in der Mainzer Straße war. Die Frage, warum die autonome Bewegung zur politischen Zeitenwende 1989/90 so wenig Begeisterung für das emanzipatorische Projekt der Ostdeutschen zeigte, für die Ost-Berliner Linke, ihre deutlich differente politische Kultur, die mehr auf Konsens denn auf Konflikt geeicht war, lässt sich nur teilweise mit dem Verweis auf das eigene, kaum durchdrungene Verhältnis zur DDR und ihrem Ende erklären. Vielen autonomen AktivistInnen waren die revolutionären Orte lateinamerikanischer Freiheitsbewegungen in Nicaragua oder El Salvador sehr viel näher als Ost-Berlin. Der enormen Bewegungsenergie, die in diesem anarchiegleißenden Sommer 1990 freigesetzt wurde, konnte man sich aber letztlich nicht entziehen. Neben dem damals primären Aktionsfeld Antifaschismus, auf dem man sich in beträchtlicher Gruppenstärke und mit hoher (Gegen-)Gewaltbereitschaft bewegte, zog auch der Häuserkampf in Ost-Berlin, der sich aufgrund der ökonomischen und politischen Verschiebungen von relativer institutioneller und sicherheitsbehördlicher Instabilität in den letzten Monaten der DDR hin zu den sich abzeichnenden veränderten Eigentums- und Durchgriffsrechten der Bundesrepublik, die am 3. Oktober 1990 in Kraft traten, stetig zuspitzte, schließlich eine größere Zahl Autonomer an. Der zunehmende Außendruck auf die HausbesetzerInnenszene in der Mainzer Straße führte nicht nur zu bewegungsinternen Spaltungen und Brüchen, sondern im Falle der autonomen AktivistInnen auch zu vermehrter Bereitschaft, sich militant zu verteidigen und die doch gerade erst gewonnenen und eroberten politischen Frei- und Aktionsräume zu behaupten. Der Faktor Militanz mobilisierte dann auch größere Teile der autonomen Bewegung, sodass während der finalen Auseinandersetzung zwischen 12. und 14. November 1990 eine Vielzahl Autonomer gegen Staat, Polizei und Räumung kämpfte.

102 Vgl. ebd., S. 114.

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Kurz: Im November 1990 musste man wohl nicht über besondere prophetische Talente verfügen, um die naheliegenden Schlüsse zu ziehen aus dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Berliner Politik und Sicherheitsbehörden unter Führung des Regierenden Momper einerseits und einer zwar überaus heterogenen, sich aber während der vergangenen Monate zunehmend organisierenden und damit auch mobilisierenden, zum Teil radikalen HausbesetzerInnenbewegung in Ost-Berlin andererseits. Gleichwohl haben in der zeitgeschichtlichen Rückblende die Worte Siegried Zoels, damals stellvertretender Bezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg, etwas düster-prophetisches an sich. Am 11.11.1990 formulierte er in einem Rundschreiben an den Ostberliner Innenstadtrat Thomas Krüger (1990–1991), an sein Westberliner Pendant Innensenator Erich Pätzold (1989–1991) sowie an den Berliner Polizeipräsidenten Georg Scherz (1987–1992), was es unmittelbar nach sich ziehe, das besetzte Haus Cotheniusstraße 16 in Prenzlauer Berg zu räumen: „Zu diesem Zeitpunkt ein Haus räumen zu lassen, bedeutet, mit dem Feuer zu spielen. Das Haus selbst ist nicht auf Dauer von Besetzern freizuhalten ohne ein ständiges großes Polizeiaufgebot. Und selbst wenn das gelänge, besteht die Gefahr, daß in allen Stadtteilen Gewalttätigkeiten begännen. […] Zugleich wären die Auseinandersetzungen hervorragende Wahlkampfmunition für die Law-andOrder-Verfechter.“103 Nicht in allen Stadteilen, sondern aus der autonomen HausbesetzerInnen-Bastion Mainzer Straße heraus erhob und organisierte sich sofort der stärkste Protest gegen diese Räumung im Nachbarbezirk. Dort, in der Mainzer Straße kulminierten nicht nur alle gewaltförmigen Aspekte von Hausbesetzungen seit Anfang der 1980er Jahre, sie wurden sogar potenziert. Auf die Mainzer trifft schließlich folgende Gewalteinschätzung zu, die sich an Werner Lindners, auf Grundlage seiner Analyse der Jugendproteste in den 80er Jahren elaborierte Idealtypen von Gewalt anlehnt: Zwischen dem 12. und 14. November wurde Gewalt zu einem „subjektiven Notwehrhandeln in einer ausweglosen Situation existenzieller Bedrängnis“, eine „existenzielle Explosion einer unbegriffenen und begriffslosen Wutanstauung als brachialer Ausweg aus der Defensive“, wobei Gewalt durchaus als „körperorientierte, affektiv-lustvolle Sprengung oder Freisetzung vorgegebener Begrenzungen“ verstanden werden kann; eine Gewalt zugleich, die sich als „symbolisches Ausdrucksverhalten“ Bahn bricht, nicht zuletzt, weil sprachliche Kommunikation an ihr Ende gelangt war.104 Der dominante Gewalttyp, dies muss betont werden, war jener der Defensive, man wollte sich verteidigen gegen die existenzielle Bedrohung, die sich

103 Zitiert nach Arndt et al. (Hg.): Berlin. Mainzer Straße, Berlin 1992, S. 10. 104 Werner Linder, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn, Opladen 1996, S. 372.

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aus dem unverhältnismäßigen und rigiden Handeln der staatlichen und polizeilichen Stellen ergab. Schließlich jedoch sei die Schlacht in der Mainzer Straße für viele autonome AktivistInnen eine derart traumatische Erfahrung gewesen, dass der 12. November, anders als der 1. Mai 1987, nicht zum alljährlichen „Kampftag im schwarz-roten Kalender“ habe werden können.105

105 A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 261.

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Die autonome Szene in Leipzig Ein „reizendes“ Viertel „Wer wissen will, was der Reiz von Connewitz ist und zugleich das größte Problem, der stößt am Ende auf eine Wand aus Beton. Sie steht an einer Kreuzung im Leipziger Süden und ist so etwas wie das Begrüßungsschild zu diesem Viertel. Ein paar Quadratmeter, auf denen sich Staat und Autonome bekämpfen. Nicht mit Pflastersteinen und Wasserwerfern. Sondern: mit Malerfarbe und Sprühdosen. Per Sprühdose wird, an dem einen Tag, „No Cops“ auf die Wand geschrieben. Per Malerfarbe wird, am anderen Tag, mit oranger Farbe genau dieser Schriftzug wieder übermalt. Immer wieder. Es ist ein kleiner, mühsamer, täglicher Kampf ausgebrochen um die Deutungshoheit in einem Viertel, das regelmäßig in den Fokus deutscher Sicherheitsbehörden gerät. Unter dem Schriftzug „No Cops“ steht noch ein anderer Spruch. Einer, den das Ordnungsamt bisher nicht übermalt, weshalb ihn jeder, der in Connewitz ankommt, sehen kann: ‚Antifa-Area‘.“1

Der Leipziger Stadtteil Connewitz hat mit den lokalen Ausschreitungen der Jahre 2016 und 2017, aber auch im Kielwasser der G20-Proteste in Hamburg wieder die Aufmerksamkeit von Medien, Politik und Öffentlichkeit erregt. Dabei haben die Interaktionen zwischen örtlichen Sicherheitsbehörden und ansässigen Autonomen nicht erst mit diesen Wallungen eine gewisse Routine erhalten. Vielmehr deutet das Katz-und-Maus-Spiel, das Die Zeit porträtiert, auf einen seit Langem institutionalisierten Konflikt um die Deutungs- und Durchsetzungsmacht in Connewitz: hier der vorrangig juvenil-staatskritische Einsatz für autonome Freiräume, dort die Durchsetzung staatlicher Penetrationskraft durch lokale Polizeibehörden. Die Brisanz dieses Konfliktes erwächst aus dem Auseinanderfallen von Deutungs- und Durchsetzungsmacht. Die Polizei als Vertreterin des Staates hat zwar die größere Durchsetzungskraft, vor Ort aber nicht die öffentlich sichtbare Deutungshoheit; mit den Autonomen verhält es sich umgekehrt: Sie haben in Connewitz die – im Straßenbild erkennbare – Deutungshoheit, nicht unbedingt aber die größere Durchsetzungskraft. Dass die Medienberichte über die Jahre hinweg einen anderen Eindruck erweckten, liegt nicht an einer journalistischen Fehlwahrnehmung, sondern daran, dass Politik und Polizei in Leipzig lange Zeit eine eher moderierend-deeskalierende Strategie fuhren. 1 Josa Mania-Schlegel u. Valerie Schönian, Ein reizendes Viertel, in: Zeit Online, 02.09.2017, URL: http://www.zeit.de/2017/36/leipzig-connewitz-autonome-linksextremismus [eingesehen am 05.12.2017].

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Begonnen hatte diese mit der vom Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehman-Grube (SPD) 1992 ausgerufenen „Leipziger Linie“, der zufolge neue Hausbesetzungen nicht akzeptiert, bestehende Hausbesetzungen aber legalisiert und zum Teil dezentralisiert werden sollten. Der Schritt des Oberbürgermeisters war eine Reaktion auf eine „heftige Straßenschlacht zwischen autonomen Besetzer_innen und der Polizei“2 am 28. November 1992 und richtete sich indirekt gegen die CDU-Landesregierung, die seit jeher eine härtere Gangart der Kommunalpolitik im Umgang mit den Autonomen fordert. Im weiteren Verlauf der Beziehungen zwischen Connewitzer Linksalternativen und Stadt wurde 1995 die Alternative Wohngenossenschaft Connewitz (AWC) gegründet, die zwei Jahre später Rechtsfähigkeit erlangte und die Mehrheit der besetzten Häuser und Projekte vertrat. Die Stadt sicherte den Gebäuden Bestand zu. In der jüngeren Vergangenheit trübte sich das Verhältnis zwischen Stadt und linksalternativer Szene wegen regelmäßiger Wellen des Vandalismus und der darauf folgenden sicherheitspolitischen Reaktionen zunehmend ein. So wurden die Installation einer Sicherheitskamera am Connewitzer Kreuz (1999) und die Eröffnung eines sechs Mann starken Polizeipostens inmitten des Viertels (2014) von Teilen der Connewitzer Bevölkerung als „Einschränkung der Bewegungsfreiheit“ und als „Legitimation einer subtilen law-and-order-Politik“, als Quelle von „Konformitätsdruck“ sowie als „Drohgebärde gegen eine politisch unliebsame Szene“ wahrgenommen.3 Die Wache ist regelmäßigen Angriffen ausgesetzt. Ist sich die Lokalpolitik von Union bis Linke in der Verurteilung derartiger Attacken – mit einigen Nuancen – weithin einig, scheiden sich die Geister regelmäßig bei den Straßenkrawallen. Reagierten Stadträte von Union und FDP, in Teilen auch von Grünen und SPD darauf meist konfrontativ, kam in der Vergangenheit vor allem aus den Reihen der Linken zumindest Verständnis: Die „sächsischen Verhältnisse“, unter denen das Engagement gegen Rechtsextremismus a priori von der Exekutive verurteilt und unter Generalverdacht gestellt wird, sind nicht unschuldig an den Straßenkrawallen, so die Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke, Juliane Nagel.4 Im Zuge der G20-Proteste in Hamburg 2017, an denen auch Leipziger Autonome teilgenommen haben

2 Justus, Leipzig schwarz-rot – Ein Rückblick auf 20 Jahre autonome Linke in Leipzig, in: anarchismus.at, o. D., URL: https://www.anarchismus.at/die-autonomen/6118-20-jahre-autonomelinke-in-leipzig [eingesehen am 05.12.2017]. 3 Let’s talk about… Connewitz, 20.09.2014, URL: https://fuerdaspolitische.noblogs.org/files/ 2014/09/FuerDasPolitische.pdf [eingesehen am 06.12.2017]. 4 Vgl. Thomas Datt, Autonome randalieren in Leipzig, in: deutschlandfunk.de, 23.07.2015, URL: http://www.deutschlandfunk.de/krawalle-autonome-randalieren-in-leipzig.862.de.html? dram:article_id=326291 [eingesehen am 05.12.2017].

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sollen, „Soli-Demos“ und der Besetzung des „Black Triangle“ gingen die Meinungen noch einmal auseinander: So dachten Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU)5 und der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU)6 laut über eine Schließung einschlägiger Szenetreffs in Connewitz nach, der Leipziger Polizeipräsident Bernd Merbitz sprach von „rechtsfreien Räumen“7 . Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) stellte sich dagegen und hielt an der Förderung der soziokulturellen Zentren fest; ähnlich besonnen reagierten Grüne und Linke.8 Woher rührt diese Polarisierung zwischen Autonomen und Kommunalpolitik einerseits, zwischen den verschiedenen politischen Richtungen andererseits? Worin wurzelt der Status von Connewitz als linksautonomer Stadtteil, als in Teilen autonomer Freiraum? Wer sind die Autonomen überhaupt? Welche internen strategischen Debatten prägten die letzten Jahre, welche programmatischen Leitplanken und Weltbilder leiteten das Handeln und welche organisatorischen Kristallisationsfelder werden ersichtlich? Schließlich: Welche Trends zeichnen sich – auch mit Blick auf die Zukunft – ab? Um diese Fragen zu beantworten, porträtiert dieser Beitrag die Linksautonomen in Leipzig. Die Autonomen und Connewitz Die Autonomen haben sich in Sachsen während der Epochenwende 1989/90 formiert. Im Fokus standen seinerzeit die Stasi-Aufarbeitung und die „Kolonisierung durch das System der Bundesrepublik“9 . Es dauerte jedoch nicht 5 Vgl. Martin Fischer u. a., De Maizière will Treffs der linken Szene in Leipzig-Connewitz schließen, in: lvz.de, 11.07.2017, URL: http://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/De-Maiziere-willTreffs-der-linken-Szene-in-Leipzig-Connewitz-schliessen [eingesehen am 05.12.2017]. 6 Vgl. o. V., Ulbig hält Schließung von linksalternativen Zentren für möglich, in: lvz.de, 19.07.2017, URL: http://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Ulbig-haelt-Schliessung-vonlinksalternativen-Zentren-fuer-moeglich [eingesehen am 05.12.2017]. 7 Andreas Debski, Leipzigs Polizeichef über Connewitz: „Die Zeit des Redens muss vorbei sein“, in: lvz.de, 14.07.2017, URL: http://www.lvz.de/Leipzig/Polizeiticker/Polizeiticker-Leipzig/ Leipzigs-Polizeichef-ueber-Connewitz-Die-Zeit-des-Redens-muss-vorbei-sein [eingesehen am 05.12.2017]. 8 O. V. Oberbürgermeister Burkhard Jung sieht keine rechtsfreien Räume in Leipzig, in: lvz.de, 15.07.2017, URL: http://www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Oberbuergermeister-Burkhard-Jungsieht-keine-rechtsfreien-Raeume-in-Leipzig [eingesehen am 06.12.2017]; Leipziger Politiker zoffen sich über Connewitz-Kritik von de Maizière, in: tag24.de, 13.07.2017, URL: https:// www.tag24.de/nachrichten/leipziger-politiker-zoffen-sich-nach-connewitz-kritik-von-demaiziere-291882 [eingesehen am 06.12.2017]. 9 Vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (Hg.), Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2016, Dresden 2017, S. 210.

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lange, bis eine Angleichung der sächsischen Autonomenszene an jene in den „alten Bundesländern“ einsetzte – einerseits thematisch, weil der Kampf um Freiräume, gegen „Nazis“ (Antifaschismuskampf) und Rassisten (Antirassismuskampf) an Relevanz gewann (nicht zuletzt wegen der Welle rassistischer Gewalt zu Beginn der neunziger Jahre); andererseits quantitativ, weil – besonders seit der Jahrtausendwende – ein Aufholprozess kaum zu übersehen ist. Die Autonomen-Zahlen im Freistaat kletterten besonders ab 2006 beträchtlich nach oben: von 280 im Jahr 2006 auf 425 im Jahr 2016. Hatte sich das Gros des linksautonomen Personenpotentials im Freistaat lange Zeit relativ gleichmäßig auf die Landeshauptstadt Dresden und die Messestadt Leipzig verteilt (Chemnitz wie die Landkreise spielten stets eine untergeordnete Rolle), entwickelte sich Leipzig ab etwa 2015 unbestritten zum linksautonomen Nabel Sachsens. 250 der 425 Linksautonomen lebten hier 2016. Ein Jahr zuvor waren es noch 190. Mit diesem Zuwachs stiegen auch die Gewaltzahlen – nicht von ungefähr kommt Leipzigs Titel als „Randalemeister 2015“, der ihm vom Komitee der 1. Liga für Autonome verliehen wurde. Genau genommen verteilen sich die Autonomen nicht gleichmäßig in Leipzig, sondern konzentrieren sich vor allem in Connewitz. Es handelt sich dabei um einen im Süden gelegenen Stadtteil, der in den späten DDR-Zeiten durch Abwanderung zu verwaisen drohte und dessen verfallende Altbauten darum einer Reihe von „Platten“ Platz machen sollten. Das Projekt fand durch die Demokratisierung der DDR und die deutsche Vereinigung ein jähes Ende. Die weithin verlassenen und sich selbst überlassenen Häuser – besonders in Altconnewitz – wurden rasch von Studenten, Künstlern, Aussteigern der alternativen Szene besetzt. Die chaotische Umbruchzeit bot die ideale Gelegenheit dazu. Wiewohl in den Folgejahren dann und wann Reibungspunkte zwischen den „Neuen“ und den „Gebliebenen“ aufblitzten, die in den wenigen sanierten Gebäuden wohnten, entwickelte sich Connewitz zu einem vitalen alternativen Viertel im Süden. Dazu tragen die stadtteiltypischen, vor allem kulturellen Treffpunkte, nicht unwesentlich bei – etwa das UT (= Union Theater) Connewitz, ein früheres Kino, das von der DDR u. a. für Jugendweihen und Konzerte genutzt wurde. 2001 gründete sich der UT Connewitz e. V. mit dem Ziel, das 1992 geschlossene Lichtspielhaus wieder aufzubauen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – etwa für Kinovorführungen, Konzerte und Lesungen. Ebenso das Werk II – eine frühere Fabrik für Werkstoffprüfmaschinen, heute ein soziokulturelles Zentrum, das sich als „Kulturfabrik“ sieht – spielt für das kulturelle Leben vor Ort eine zentrale Rolle. Es beheimatet Werkstätten, Büros, Vereine, Gruppen und dient als Veranstaltungsort für unterschiedlichste Konzerte. Heute charakterisiert eine Mischung aus sanierten und unsanierten Gründerzeithäusern, modernen Familienhäusern und Villen das Viertel. Diese He-

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terogenität spiegelt sich in der Zusammensetzung der Anwohnerschaft: Linksradikale und Menschen, die das Sinus-Institut wohl dem liberal-intellektuellen („aufgeklärte Bildungselite“), dem sozialökologischen und dem expeditiven Milieu („kreative Avantgarde“) zuordnen würde, leben hier nebeneinander. Auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung nennt Connewitz seinen Wohnort. Zugleich: Just das linksalternative Milieu ist es auch, aus dem sich die Mehrheit der Connewitzer Linksautonomen rekrutiert. Für sie, wie den Stadtteil insgesamt, spielen jene soziokulturellen Zentren, die der Bundes- und sächsische Landesinnenminister 2017 zu verbieten drohten, eine wichtige kulturelle und soziale Rolle der eigenen Identität. Diese sind – anders als etwa die Rote Flora in Hamburg – allerdings keine exklusiv linksautonomen Treffs, sondern dienen auch weithin unpolitischen Stadtteilinitiativen, Bands, Vereinen, Theatergruppen, Sozialarbeitern als Orte des Miteinanders. Dazu zählt etwa das „Conne Island“, früher ein Hitlerjugend-, dann ein FDJ-Heim, heute ein von der Stadt mit rund 180.000 Euro (2017)10 gefördertes Kulturzentrum mit großem Skatepark. Bekannt ist es darüber hinaus als Veranstaltungsort für Konzerte aus dem Hardcore-, Metal- und Punk-Milieu: The Menzingers, Olli Schulz, Terrorgruppe, Sepultura und Jimmy Eat World waren beispielsweise 2018 zu Gast. Conne Island sieht sich darum nicht zu Unrecht als „Zentrum von und für Linke, Jugend-, Pop- und Subkulturen“11 . Seine politische Bedeutung für die Linksautonomen, besonders die Antifa-Szene wird hieraus kaum ersichtlich – wohl aber aus der mehrmaligen Nennung in sächsischen Verfassungsschutzberichten, aus den hier stattfindenden Antifa-Treffen und dem Erscheinungsbild (z. B. „Kill-Cops“-Schriftzug auf dem Dach). Zugleich ist der Charakter des Conne Island als Schmelztiegel der genannten Szenen kein Zufall, bestehen doch zwischen Autonomen-, Punk-, Hardcore-, Ska-, Graffiti- und Skaterszene Überschneidungen wie Sympathien – wohl nicht zuletzt wegen dem insgesamt eher „problematische[n] Verhältnis zu staatlichen Regelungen und Institutionen“12 . Hinzugetreten ist im Sommer 2016 das sog. Black Triangle, ein leer stehendes Umspannwerk im Eigentum der Deutschen Bahn inmitten eines Gleisdreiecks in unmittelbarer Nachbarschaft zu einigen Connewitzer Schrebergärten. Es

10 Vgl. Stadt Leipzig, Fördermittel für kulturelle und künstlerische Projekte und Einrichtungen im Haushaltsjahr 2017, URL: https://www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzigde/Stadt/02.4_Dez4_Kultur/41_Kulturamt/Kulturentwicklung_und_Kulturfoerderung/ Foerdermittel_2017.pdf [eingesehen am 06.12.2017]. 11 URL: http://conne-island.de/ [eingesehen am 06.12.2017]. 12 Daniela Eichholz, Szeneprofil: Antifa, in: jugendszenen.com, o. D., URL: http://wp1026128. server-he.de/wpsz/?portfolio=antifa-szeneprofil#tab-id-2 [eingesehen am 12.12.2017].

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wird seit 2016 illegal besetzt und derzeit zu einem „Kulturprojekt“ umfunktioniert – mit Kino, Sauna, Fahrradwerkstatt, Bandproberäumen. Es gilt mittlerweile als Leipzigs „linksextremes Hauptquartier“13 . Dass sich das Gebäude juristisch in der Schwebe befindet, lag lange an der fehlenden Zustellbarkeit des Zwangsvollstreckungsantrags der Bahn zur Räumung des Gebäudes: Man kennt die Besetzer, die das Black Triangle als „anarchistisches und damit selbstbestimmtes Projekt“ sehen, nicht namentlich: „Wir verwalten uns selbst, brauchen dazu keinen Staat und keine gesellschaftliche Ordnung, noch sonst eine hegemoniale Machtstruktur. Mit diesem Grundsatz leben wir seit Juni 2016 zusammen auf dem angeblichen Eigentum der Deutschen Bahn. Tatsaechlich sind wir Bewohner*innen eines Gebaeudes, das seit 20 Jahren leer steht. Fuer uns ist es selbstverstaendlich, verlassene Orte nicht nach ihrem Besitzanspruch (in diesem Fall vertreten durch die Deutsche Bahn), sondern den Moeglichkeiten diese gemeinsam zu nutzen, zu verstehen. Freien Raum zu erschaffen und bestehenden zu nutzen, vor dem Zerfall zu schuetzen und vor Spekulation zu bewahren muss Teil eines antikapitalistischen Kampfes sein.“14

Im Frühjahr 2018 erkannte der Bundesgerichtshof die Ansprüche der Bahn indes an: Es darf geräumt werden, auch wenn die Zustellung einer Zwangsvollstreckung unmöglich ist. Bewegung, Milieu, Subkultur, Szene? Von einer Organisation der Leipziger Autonomen im eigentlichen Sinne zu sprechen, ergibt aufgrund ihres hierarchie- und organisationskritischen Selbstverständnisses wenig Sinn. Zugleich: Dass es an einer formellen Organisation fehlt, bedeutet nicht, dass es keine institutionalisierten Rollengefüge, keine informellen Strukturen und ausgeprägte Formen der Vergemeinschaftung geben könne. Von einem Autonomenmilieu zu sprechen, würde allerdings „relativ dauerhafte und allgemeine Sozialstrukturen“ und einen starken Einfluss von „strukturellen Rahmenbedingungen“ voraussetzen, während der Eintritt in die Lebenswelt der Autonomen jedoch auf „der individuellen, ungebundenen Entscheidung“ beruht.15 Auch die Rede von einer Subkultur der Autonomen

13 Vgl. René Loch, Ausstieg links, in: Spiegel Online, 29.07.2017, URL: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/leipzig-black-triangle-wie-linke-ein-altes-bahn-gebaeudewiederbelebten-a-1160175.html [eingesehen am 06.12.2017]. 14 URL: https://btle.blackblogs.org/wir/ [eingesehen am 06.12.2017]. 15 Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 85.

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erweckt einen falschen Eindruck, schwingt mit ihr doch einerseits die Abwertung einer vermeintlichen Pathologie mit; andererseits findet „der Widerstand gegen die hegemoniale Ordnung in Subkulturen […] nur auf der symbolischen Ebene“16 statt. Das trifft auf „die“ Autonomen nicht zu. Schließlich der Bewegungsbegriff : Verstanden als informelles Netzwerk, das sich um eine konflikthafte Beziehung zu klar identifizierbaren Gegnern herum kristallisiert und eine kollektive Identität aufbaut,17 sagt der Terminus nichts über die Alltagspraxen der Akteure, bleibt unspezifisch.18 Am besten konturiert die Autonomen darum – in Leipzig wie in anderen Städten vermutlich auch –der Szenebegriff :19 Er markiert ihren Charakter als dynamische Gesinnungsgemeinschaft mehrerer Gruppen, die sich um ein Thema bzw. einen Themenkomplex herum formieren, nicht alle Teilbereiche des individuellen Lebens erfassen, aber Zugehörigkeiten etwa über eigene Codes, Praxen und Wissensbestände regeln, den „Austritt“ einer Person zwar erschweren, aber nicht verhindern können. Die autonome Szene hat eigene Treffpunkte, gruppiert sich um Organisationseliten und trägt Züge „sozialstruktureller Entbundenheit“20 . Das gilt für die heutigen Netzwerke überregional eingebundener Gruppierungen und lokal agierender Zusammenschlüsse wie für die Vielzahl an Kleingruppen, welche die ersten zehn bis 15 Jahre dominierten, sich meist über personelle Netzwerke zu eng umsteckten Themenfeldern bildeten, aber häufig nicht lange hielten (etwa die 2001 aufgelöste Rote Antifaschistische Aktion Leipzig R.A.A.L). Größeren Bekanntheitsgrad und längeren Bestand hatte das 1996 – damals noch unter dem Namen Bündnis gegen Rechts – ins Leben gerufene Bündnis gegen Realität (BgR). Gedacht als breite Allianz gegen den grassierenden Rechtsextremismus, zumal in den ländlichen Regionen rund um Leipzig, beteiligte sich das Bündnis bald an einer Reihe bundesweiter Aktionen (etwa Gegendemonstrationen zu NPD und Antifa-Kongressen), um sich im Jahr 2000 als eigenständige Antifa-Gruppe in Leipzig zu restrukturieren.21 Die rigorose Ablehnung staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Maßnahmen und Kampagnen gegen Rechtsextremismus – der von Gerhard Schröder ausgerufene „Aufstand

16 Ebd., S. 84. 17 Vgl. Donatella della Porta u. Mario Diani, Social Movements. An Introduction, Malden 2006, S. 20. 18 Vgl. Haunss, Identität in Bewegung, S. 79. 19 Vgl. Ronald Hitzler u. Arne Niederbacher, Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden 2010, S. 16–26. 20 Nils Schuhmacher, „Nicht nichts machen“? Selbstdarstellungen politischen Handelns in der Autonomen Antifa, Duisburg 2014, S. 76. 21 Vgl. Bündnis gegen Realität (BgR), Selbstdarstellung, URL: https://www.nadir.org/nadir/ initiativ/bgr/pages/intr_ger.htm [eingesehen am 08.12.2017].

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der Anständigen“ wurde als „staatlicher Antifa-Sommer 2000“22 diffamiert, der nur den Ruf Deutschlands wiederherstellen und außenpolitischen Interessen dienen sollte – hoben das BgR von der bundesweiten Antifa-Szene ab, obwohl auch diese sich auf ihrem zentralen Handlungsfeld in der Defensive sah und sich zu der breiten gesellschaftlichen Gegenbewegung zum Rechtsextremismus verhalten musste. Übergriffe auf eine demokratische „Anti-Nazi“-Demonstration am 1. September 2001 durch das BgR leiteten schließlich den langsamen Zerfall des Bündnisses ein, konnte es seine Position doch nur schwer nach außen hin vermitteln. Bis zum Scheitern des ersten NPD-Verbotsverfahrens im Jahr 2003 hielt sich das Bündnis weitgehend bedeckt, um sodann die antifaschistische Arbeit wieder aufzunehmen, allerdings ergänzt um eine aktualisierte Ablehnung zivilgesellschaftlicher Ansätze der Rechtsextremismusbekämpfung: „Die schwache inhaltliche Auseinandersetzung mit Nazipositionen in der Öffentlichkeit signalisiert das Scheitern des Projekts zivilgesellschaftlicher Reaktionen auf die erstarkende Naziszene.“23 Im weiteren Verlauf des Positionspapiers wird deutlich: Die zentrale Gefahr sieht das BgR in der deutschen Gesellschaft als Ankerplatz von „Nazihegemonie“ und „rechte[m] Konsens“. Eine derartige Position war – gerade vor dem Hintergrund strategischer Erwägungen – nach wie vor kaum zu vermitteln. Am 2. Mai 2006 gab das Bündnis darum seine Auflösung bekannt: „Deutschland hat nicht gewonnen. Es ist nur übrig geblieben!“ Den Platz von BgR nahm eine Vielzahl von Antifagruppen ein, etwa die Leipziger Antifa (LeA) und die Antifa Klein-Paris, deren antifaschistische und antideutsche Ausrichtung nicht weniger deutlich ausfallen. Zugleich differenzierte sich das linksautonome Spektrum in Leipzig über die Jahre aus. Left Action – das „Internetportal linksradikaler Gruppen und linker Projekte aus Leipzig“ – listet aktuell (Stand: Dezember 2017) nicht weniger als 57 „Gruppen & Projekte“ auf – vom Antifaschistischen Frauenblock Leipzig über die Initiative gegen jeden Extremismusbegriff, die genannte Leipziger Antifagruppe und die Rote Hilfe bis hin zu den Wertkritischen Kommunisten Leipzig; wobei nicht alle Gruppen dem autonomen Spektrum zuzuordnen oder regelmäßig aktiv sind. Nur etwa die Hälfte der aufgelisteten Gruppen veröffentlichte in den letzten beiden Jahren Stellungnahmen und Ankündigungen im Internet. Nichtsdestotrotz wird in deren Ausrichtung eine große Vielfalt ersichtlich: vom „klassischen“ Aktionsfeld „Antifaschismus“ über „Antirepression“, „Antigentrifizierung“ und „autonome Freiräume“ bis hin zu „Antisexismus“ und 22 Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, Verfassungsschutzbericht 2005, Dresden 2006, S. 53. 23 BgR Leipzig, Konsens und Tabu. Ein Rechenschaftsbericht mit einer gesellschaftlichen Einschätzung der nationalistischen Tendenzen in der BRD 2005, o. D., URL: http://www.nadir. org/nadir/initiativ/bgr/pdf/bgr_kt05.pdf [eingesehen am 08.12.2017].

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Sport (Roter Stern Leipzig), wobei sich freilich nicht alle Gruppierungen im antidemokratischen oder überhaupt im dezidiert politischen Bereich bewegen. Die kurze Halbwertszeit vieler Gruppierungen wie auch die personelle Fluktuation in den letzten Jahren gaben Anlass für eine Neuorientierung eines Teils der Szene in den letzten zwei Jahren, wobei Gruppierungen auf die Bühne traten, die dem postautonomen Spektrum zuzurechnen sind. Sie sind Ausdruck eines bundesweiten Trends, dessen Wurzeln bis in die frühen neunziger Jahre zurückreichen und der sich gegen das „schwärmerische[..] Zugehörigkeitsgefühl [in Teilen der Autonomen wendet], das nicht so sehr durch ein gemeinsames Projekt unterfüttert sei, sondern sich vielmehr durch Äußerlichkeiten wie Kleidung, Habitus und eine Art Verhaltenskodex auszeichne. Diese plan- und deswegen perspektivlose Vorgehensweise der Autonomen verhindere beispielsweise durch die beliebige Aneinanderreihung von Kampagnen und die Fetischisierung von Militanz eine wirkliche revolutionäre Politik“24 . Ziel dieser Strömung ist es, aus der gesellschaftlichen Isolation herauszutreten, sich für breitere Bevölkerungsschichten zu öffnen, verstärkt inhaltliche Debatten zu führen und sich aus einem Autonomendasein zu befreien, das sich nur aus einem radikal-linken Lebensgefühl speist – vor allem über die Bildung langfristiger, bundesweiter Netzwerke und mit einheitlichen programmatischen Standpunkten, eigener Utopie und Strategien. Die Abgrenzung zur „klassischen“ autonomen Szene ist bewusst gewählt. In Leipzig sind vor allem zwei Gruppierungen für die jüngere Entwicklung prägend: „the future is unwritten“ und „PRISMA“, die beide größeren bundesweiten, über das linksextreme Spektrum hinausweisenden Bündnissen anhängen und die Verdichtung ihrer Präsenz auch im ländlichen Raum anstreben – ersichtlich etwa bei der 1.-Mai-Demonstration 2016 in Plauen, am 6. Juni 2016 und 12. Juni 2017 in Annaberg-Buchholz sowie am 1. Mai 2017 in Gera. So trat the future is unwritten erstmals im Dezember 2015 bei einer Demonstration gegen Rechtsextreme eigenständig in Erscheinung, wobei die Gruppierung allerdings aus dem 1.-Mai-Bündnis in Leipzig 2011 hervorgegangen war. Die Gruppierung mobilisiert seither u. a. regelmäßig gegen die Feierlichkeiten am 3. Oktober zur Deutschen Einheit, gegen die Krisenpolitik der EU und Rechtsextreme wie etwa bei Legida-Demonstrationen. Insgesamt befasst sich die Gruppierung mit „Arbeits- und Kapitalismuskritik, Krisentheorien, Kritik des Rassismus und staatlicher Migrationspolitik sowie der Kritik des Antisemitismus“25 . Die Motivation hinter dem Beitritt zum bundesweiten 24 Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport/Abteilung Verfassungsschutz, Vom Autonomen zum Postautonomen? Autonome in Bewegung, Hannover 2016, S. 26f. 25 Über uns, URL: http://www.unwritten-future.org/index.php/ueber-uns/ [eingesehen am 08.12.2017].

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Bündnis …ums Ganze! (uG) im Jahr 2012 war es, „linksradikale Gesellschaftskritik überregional zu vernetzen und handlungsfähig zu machen“26 . Vor diesem Hintergrund ist auch die Einbindung in das transnationale Netzwerk „Beyond Europe“ zu sehen. Das erklärte Ziel von uG ist es, „jene Verhältnisse zu überwinden, in denen der Mensch ein ‚erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist‘ (Marx)“27 . Die Bezugnahme auf den Ideengeber des Kommunismus kommt nicht von ungefähr: uG sieht sich als kommunistisches Bündnis. Bei PRISMA handelt es sich um einen Teil der Interventionistischen Linken, die seit 2005 über 30 linksextreme und linksdemokratische Kräfte aus Deutschland und Österreich vereint, darunter eine Reihe antifaschistischer Gruppierungen u. a. aus Berlin, Göttingen, Hamburg und Leipzig. Inhaltlich läuft die Arbeit parallel zu der von uG, nicht zuletzt erkennbar am selben Fernziel der „Abschaffung aller Verhältnisse, ‚in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist‘“28 . PRISMA will – wie die IL auch – „eine radikale Linke, die auf den revolutionären Bruch mit dem nationalen und dem globalen Kapitalismus, mit der Macht des bürgerlichen Staates und allen Formen von Unterdrückung, Entrechtung und Diskriminierung orientiert“29 ist. Sie konzentriert ihre Arbeit auf Antirassismus, Klima, soziale Kämpfe und Queerfeminismus – wie ernst sie es damit meint, zeigt ihr „Aufnahmestopp weißer Cis*-Männer“ im Sommer 2017, um so ihrem „Anspruch gerecht werden [zu können], weiterhin eine leicht zugängliche, linke Gruppe zu sein“30 . Selbstbilder und Weltbilder Was den thematischen Kern und die politischen Ziele der Autonomenszene in Leipzig angeht, dürfte sie sich wenig bis gar nicht von den Szenen in Hamburg, Berlin und sonst wo unterscheiden. Obwohl eine einheitliche programmatische Grundlage, eine gemeinschaftsstiftende klar konturierte Utopie und eine elaborierte Ideologie fehlen, lassen sich einige Ziele schemenhaft benennen – die Negativziele einfacher als die Positivziele. Das mag an der kritischen Sicht der 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Interventionistische Linke, Die Bedingungen, unter denen wir leben und kämpfen, URL: http://www.interventionistische-linke.org/die-bedingungen-unter-denen-wir-lebenund-kaempfen [eingesehen am 08.12.2017]. 29 Prisma interventionistische Linke Leipzig, Prisma, URL: http://prisma.blogsport.de/prisma/ [eingesehen am 08.12.2017]. 30 Ebd.

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meisten Autonomen auf politische wie ideengeschichtliche Vordenker kommunistischer (Marx, Engels etc.) und anarchistischer (Bakunin, Kropotkin etc.) Spielart liegen; auch am Fehlen einer ausgearbeiteten Weltanschauung. Vage Begriffe prägen die Debatte. Nahezu allgegenwärtig ist etwa die Wendung von der „Befreiung des Individuums“ – vom Kapitalismus, bürgerlichen Staat und von gesellschaftlicher Herrschaft überhaupt, von Misogynie, Patriarchat und Heteronormativität, Faschismus und Rassismus, von Imperialismus und Ausbeutung usw. Dabei vertreten sie – wie es bei PRISMA heißt – die Auffassung, „dass gegen diese Phänomene nicht nur Reformen oder Umverteilungen helfen, sondern sich grundsätzlich an der kapitalistischen und patriarchalen Struktur der Gesellschaft etwas ändern muss.“ Sie zielen mithin auf die „Überwindung dieser Gesellschaft“.31 In Ihrem Kampf für Freiräume reklamieren Autonome jedoch nicht, für andere zu kämpfen oder sich durch andere repräsentieren lassen zu können. Sie kämpfen für sich. Zum Ausdruck kommt darin eine „Politik der 1. Person“, in deren Mittelpunkt das Individuum mit seinen Gefühlen und seiner ganzen Subjektivität steht.32 Aus dem omnipräsenten und identitätsstiftenden Befreiungsnarrativ ergeben sich wiederum jene Negativziele, die deutlich näher im Zentrum linksautonomen Handelns stehen als die politischen Fernziele. Sie sind leichter auszumachen und überdies Ausfluss einer Reihe von Feindbildern. Dazu zählen Faschisten (Antifaschismus), Rassisten (Antirassismus), der Staat mitsamt seinen Institutionen und Vertretern (Antirepression, Antimilitarismus), international operierende Großkonzerne, Banken (Antikapitalismus, Antiglobalisierung, Antiimperialismus) und Immobilienfirmen (Antigentrifizierung) – mithin alle, die aus Autonomensicht für die Unterdrückung des Einzelnen stehen. Eine Besonderheit der Leipziger Szene stellt ihre dezidiert antideutsche Ausrichtung (Feindbild Deutschland) dar.33 Sie stellt sich mehrheitlich vorbehaltlos hinter Israel, attestiert den Deutschen ein latentes Großmachtstreben, einen Hang zur Vernichtung anderer Ethnien und zum Faschismus. Wenngleich die Leipziger Autonomen in dieser Hinsicht jenen aus vielen anderen Städten gleichen, werden diese Handlungsfelder nicht alle und zu jeder Zeit in derselben Intensität bedient – einerseits, weil Antifaschismus und Antirepression seit jeher einen größeren Stellenwert einnehmen als die anderen Themenfelder. Demonstrationen gegen „rechte Szeneläden“ und rechtsextreme Demonstrationen (etwa jeden Februar in Dresden), aber auch gegen 31 Ebd. 32 Vgl. Udo Baron, Die linksautonome Szene, in: Ulrich Dovermann (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2011, S. 236. 33 Vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (Hg.), Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2010, Dresden 2010, S. 45.

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polizeiliche Durchsuchungsmaßnahmen (etwa im Kontext der G8-Proteste in Heiligendamm und der G20-Proteste in Hamburg) zeugen von der anhaltenden Aktualität beider Feindbilder. Andererseits überraschen regionaltypische Färbungen und Schattierungen bei der politischen Arbeit verschiedener Autonomenszenen keineswegs, nimmt jede Szene doch regelmäßig auf lokale gesellschaftliche Entwicklungen Bezug. Das Aktivitätsniveau der Leipziger Autonomen kann demnach durchaus als Seismograph für politische und soziale (Fehl-)Entwicklungen in Leipzig dienen. In der jüngeren Vergangenheit reagierte die Szene auf zwei gesellschaftliche Entwicklungen stärker als auf andere: einerseits auf die Zunahme rechtsextremer Ausschreitungen, flüchtlingsfeindlicher Proteste und rassistischer Gewalt sowie den Bedeutungsgewinn von LEGIDA und der AfD infolge der jüngeren Fluchtbewegungen nach Deutschland. Sie intensivierte etwa ab 2015 ihren Antifaschismuskampf, der sich – wegen der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und lokalen Konflikten (etwa Proteste gegen den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Vierteln der Oberschicht) – verbindet mit dem Antirassismuskampf. Zugenommen haben demnach eigenständige Demos, Beteiligungen an größeren Protesten der Zivilgesellschaft vor allem gegen LEGIDA und organisierte Rechtsextremisten, Anschläge und Nazi-Outings. Der Angriff auf den stellvertretenden NPD-Kreisvorsitzenden in seinem Ladengeschäft (9. Dezember 2015), auf die Wohnung eines weiteren NPD-Mitglieds (13. November 2016) und auf die Firma, deren Geschäftsführerin damals Frauke Petry (6. August 2015) war, sowie das Inbrandsetzen von Autos von Personen aus dem LEGIDAUmfeld und Beteiligten an der rechtsextremen Attacke auf Connewitz am 11. Januar 2016 (2. Februar und 31. März 2016) stehen hierfür nicht weniger exemplarisch als etwa die Anschläge auf Bahnanlagen, um die Anreise von LEGIDA-Demonstranten zu verhindern, Sitzblockaden und eine Reihe von Outings.34 Der antifaschistische Kampf prägte vor allem das Jahr 2015 und – allerdings in geringerem Umfang – die erste Hälfte des Jahres 2016, als Anti-Asyl-Proteste und rechtsextreme Mobilisierung ihren Höhepunkt erreichten und zu breiten Gegenprotesten führten. Daraus entwickelte sich eine gewisse Interaktionsdynamik zwischen Autonomen einerseits sowie parteiförmig organisierten, subkulturellen und neonazistischen Rechtsextremen andererseits. Größere Aufmerksamkeit erhielten etwa die massiven Ausschreitungen bei einer rechtsextremen Demo am 12. Dezember 2015 sowie die gewaltförmigen Überfälle am 11. Januar 2016, als ca. 250 gewaltbereite Rechtsextreme marodierend durch 34 Vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen (Hg.), Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2015, Dresden 2016, S. 169–176; dies., Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2016, Dresden 2017, S. 224–238.

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Connewitz zogen. Indem sie eine Spur der Verwüstung hinterließen, trafen sie nicht nur die Linksautonomen, sondern auch das gesamte linksalternative Connewitzer Milieu ins Mark, fühlte es sich doch in „seinem“ Stadtteil angegriffen, seine Deutungshoheit infrage gestellt. Dies provozierte in den darauf folgenden Wochen, von der Polizei als „Resonanzstraftaten“ bezeichnete Vergeltungsmaßnahmen, etwa persönliche Angriffe und Brandanschläge gegen mutmaßlich an den Angriffen beteiligte Rechtsextremisten. Als jedoch das Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik in der öffentlichen Wahrnehmung verblasste, gingen Anti-Asyl-Proteste unter Beteiligung von einschlägig bekannten Rechtsextremen und bislang nicht in Erscheinung getretenen Bürgern wie auch unverhohlen rechtsextreme Veranstaltungen, aber auch die Gegendemonstrationen vonseiten der demokratischen Zivilgesellschaft und der Autonomen zurück. Das deutet auf Ermüdungserscheinungen der Szene hin, deren Aktionsniveau im Bereich Antifaschismus vornehmlich eine Reaktion auf das Aktionsniveau von Rechtsextremisten und -populisten ist. Es deutet aber auch darauf hin, „dass der so verstandene ‚Gegner‘ konstitutiv sein dürfte für die Existenz der Szene“35 . Was blieb, war – zumindest 2016 – die Kritik an der Asylpolitik der Bundesrepublik, wie ein Transparent bei einer Demonstration unter Beteiligung von 350 Personen am 23. April 2016 zeigte: „Stop Deportation – The Right to Stay for Everybody“. Die Kampagne „Rechte Netzwerke zerschlagen“, die sich u. a. gegen eine Kampfsportveranstaltung richtete, deren Organisatoren „Verbindungen zur rechten Szene“ vorgeworfen werden,36 hatte zwar wenig mit der gesellschaftlichen Asyl- und Immigrationsdebatte zu tun, unterstreicht jedoch die Relevanz von Reaktionsmustern. Andererseits nahmen die Autonomen in der jüngeren Vergangenheit verstärkt Bezug auf die seit einigen Jahren explodierenden Wohnungsmieten, auf die Verknappung des Wohnraums im Zentrum, Luxussanierungen und die damit einhergehende Verdrängung unterer sozialer Schichten, geflüchteter Personen und Studenten (Antigentrifizierung). In diesem Zusammenhang intensivierte die Szene den Kampf um „autonome Freiräume“ und verband ihn mit Antirepressions- und Antirassismusarbeit. So wurde ein Angriff von 50 Autonomen auf den Connewitzer Polizeiposten am 7. Januar 2015 mit Steinen, Flaschen, Feuerwerkskörpern, Farbbeuteln und Krähenfüßen wie folgt erklärt: „Bulle, dein Duldungsstatus ist aufgehoben und deine Aufenthaltserlaubnis erloschen.“ Und weiter: „Auch wenn du deine Uniform ablegst, so bleibst du

35 Eichholz, Szeneprofil. 36 Vgl. Sarah Ulrich, Umstrittenes Kampfsportevent in Leipzig, in: Zeit Online, 28.08.2017, URL: http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2016/08/28/rechtes-kampfevent-in-leipzig_22255 [eingesehen am 12.12.2017].

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immer noch das gleiche Schwein von Mensch“37 . Eine Spontandemonstration eine Woche später, bei der 500 bis 800 Autonome durch die Innenstadt zogen, Polizisten, deren Fahrzeuge, die öffentliche Infrastruktur und das Amtsgericht angriffen, wurde mit dem Tod eines Asylbewerbers in einem Dresdener Gefängnis, mit der Verhinderung der Einreise von Flüchtlingen insgesamt und mit dem Aufbau rechtsextremer Organisationen begründet, für die alle die Polizei verantwortlich zeichne.38 Neben solchen Gewalteruptionen stehen klandestine Aktionen gegen Immobilienfirmen sowie größere Kampagnen und Stadtteilinitiativen, die sich gegen kommunale wie private Baumaßnahmen richten, für den Bedeutungsgewinn des Themenkomplexes Antirassismus/Antirepression/Antigentrifizierung. Das breite Bündnis Social Center for all (SC4A; ab Dezember 2015), unterstützt unter anderem von PRISMA, der Antifa Klein-Paris und the future is unwritten, strebt in Leipzig ein selbstverwaltetes soziales Zentrum an, besetzte dafür zeitweise die ehemalige Führerscheinstelle Leipzigs. Aus der Kritik an der „Krise der Administration“, an der „neoliberalen Kürzungspolitik“ sowie an der „Etablierung eines neuen Substandards für all diejenigen, die von der Preisentwicklung des ‚ersten Wohnungsmarktes‘ abgehängt wurden“, erwuchsen „Forderungen nach einem ‚neuen sozialen Wohnungsbau‘ und nach Rekommunalisierung“, nach „Aneignung der Lebensbedingungen aller Menschen durch die Menschen selbst, d. h. [nach] Zugang zu allen Bereichen der sozialen Infrastruktur und die Selbstverwaltung dieser Strukturen durch alle Beteiligten“, um so gegenüber der Kommunalpolitik „Druck aufzubauen“.39 Die „Soziale Kampfbaustelle“ (ab August 2016), gleichfalls ein breites Bündnis verschiedener lokaler Gruppen und Projekte, fällt in denselben Themenkomplex, nahm allerdings Sanierungsmaßnahmen in Plagwitz und Lindenau nur zeitlich begrenzt ins Visier: über eine Aktionswoche im August 2016. Standen und stehen beim – in politischer Hinsicht heterogeneren – SC4A subsidiäre Schutz- und Hilfsmaßnahmen im Fokus, gab bei der Sozialen Kampfbaustelle der revolutionäre Ton die Melodie: Unter der Überschrift „Das Viertel soll nicht schöner werden, sondern widerständiger“ suchten die Akteure nach „Wege[n] aus dem Kapitalismus“; sie kündigten an, „revolutionär zu handeln“, und „die

37 Steffen Winter, Gewalt nach Plan, in: Spiegel Online, 11.07.2016, URL: http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-136184618.html [eingesehen am 12.12.2017]. 38 Vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2015, S. 173. 39 Interventionistische Linke, Wellcome to stay heißt Wohnraum für Alle!, URL: http://www. interventionistische-linke.org/beitrag/welcome-stay-heisst-wohnraum-fuer-alle [eingesehen am 12.12.2017].

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herrschenden Eigentumsverhältnisse auflösen“ zu wollen.40 Die Verantwortlichen beim (etwa zeitgleich gestarteten) Black Triangle gehen nicht ganz so weit, geben als Motiv jedoch gleichfalls den „Traum vom selbstverwalteten Leben“ an, „weit weg von der Enge piefiger Mietverhältnisse und Reihenhausidylle mit Vorgarten“.41 Die bislang letzte Protestaktion, die überregional Aufmerksamkeit erregte und unter #noimk eine Reihe linksradikaler Gruppierungen hinter sich vereinigte, richtete sich – in friedlicher Weise – gegen die Innenministerkonferenz in Leipzig im Dezember 2017, genauer: gegen die Versicherheitlichung von Linksradikalismus, gegen die Verschärfung der Sicherheitsgesetzgebung (intransparente Überwachungsmaßnahmen von SMS, Messengern und Internetverbindungen), gegen das Verbot der PKK, gegen die beiden Asylpakete der Bundesregierung, in deren Zuge mehrere Länder als sichere Herkunftsstaaten klassifiziert und Abschiebungen erleichtert wurden und das Ausweisungsrecht eine Verschärfung erhielt. Schließlich stellte das unter anderem von der Anarchosyndikalistischen Jugend Leipzig, dem Black Triangle, PRISMA, der Roten Hilfe und the future is unwritten gestützte Bündnis jede Form von Staatlichkeit infrage: „Wir wollen weder einen ‚starken‘, noch einen liberalen Staat: wir wollen nicht weniger als eine Gesellschaftsform, die ohne Staat von unten nach oben organisiert ist.“42 Zwischen Massenmilitanz und Kleingruppentaktik Welche strategischen Debatten treiben die Leipziger Szene aktuell um?43 Größere Linien geben die Handlungsformen der letzten Jahre preis. Ein Blick auf die Demonstrationsstatistiken der letzten Jahre macht so erstens eine Zunahme, anschließend einen Rückgang öffentlicher Aktionen (v. a. Gegendemos gegen Rechtsextremisten) deutlich. Gab es 2015, auf dem Höhepunkt der Asyldebatte, noch 58 solcher Veranstaltungen etwa gegen Legida, die Offensive für Deutschland, die AfD und die Asylpolitik der Bundesregierung, sank deren Zahl im Jahr 2016 auf 40 – vor allem aufgrund der abnehmenden Aktivität am rechten Rand.

40 Soziale Kampfbaustelle, Aufruf/Call, URL: http://aufbauen.blogsport.eu/das-camp/einladung/ [eingesehen am 12.12.2017]. 41 URL: https://btle.blackblogs.org/ [eingesehen am 12.12.2017]. 42 http://noimk2017.blogsport.eu/aufruf/ [eingesehen am 13.12.2017]. 43 Vgl. hier und im Folgenden Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2015, S. 169–178; dies., Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2016, S. 225–238.

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Abb. 1 Öffentliche Demonstrationen von Linksautonomen in Leipzig Quelle: Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2016, S. 124.

Die Mehrheit dieser Veranstaltungen war angemeldet – wohl vor allem aufgrund der Bemühungen zur Kooperation mit größeren zivilgesellschaftlichen Bündnissen und der damit einhergehenden enormen Mobilisierungsfähigkeit. Parallel dazu erfuhren Dezentralisierungs- und Kleingruppentaktiken; einen gewissen Bedeutungsschub, da Gewalt und Protestformen jenseits des gesetzlichen Rahmens für wichtig erachtet wurden – allerdings nur übergangsweise. Anlass waren die überaus gut besuchten Legida-Demonstrationen im Januar 2015, die zu stoppen die Szene aufgrund ihrer Einbindung in größere Gegendemonstrationen der Zivilgesellschaft Schwierigkeiten hatte. Der Rechtfertigungsdruck bei Gewaltausbrüchen wie die Notwendigkeit zur Unterordnung wirkten hemmend. Darum versuchten bei den Demos der Folgemonate regelmäßig kleinere Grüppchen Absperrungen zum Legida-Lager zu durchbrechen, die Demonstranten wie die Polizei mit Flaschen und Böllern zu bewerfen und die Demonstrationsstrecke zu blockieren. Die daraufhin einsetzende Entsolidarisierung anderer Protestierer nährte allerdings schon bald Zweifel an der Richtigkeit dieser Linie. Die autonome Antifa mischte sich darum ab Winter 2015/16 wieder verstärkt unter die Demonstrationen der Zivilgesellschaft, die sowohl einen gewissen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung als auch die Möglichkeit boten, Sympathisanten für die Belange der Szene zu gewinnen. Diese dezidiert bündnispolitische Orientierung wurde etwa durch Beteiligungen an Kampagnen wie „a monday without you“ deutlich, an der the future is unwritten und die trotzkistische Revolution Leipzig mitwirkten. Zwei größere Strategiewechsel innerhalb eines Jahres entzündeten eine ausgeprägte theoretische Kontroverse. In deren Verlauf konnte sich jedoch nur eine Minderheit der Szene für eine selbstbewusste Ausweitung der Protestziele (nicht nur gegen „Nazis“, sondern auch gegen den Staat), für eine gewisse Abschottung gegenüber dem von ihr als lauwarm empfundenen Gegenprotest

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Abb. 2 Linksextreme Gewalt in Leipzig Quelle: Sächsisches Staatsministerium des Innern u. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2016, S. 224.

der Zivilgesellschaft und eine Reorganisation der Antifa erwärmen. Für die Mehrheit deuteten die Zeichen der Zeit auf eine verstärkte Bündnisfähigkeit der Szene. Die Abkehr von und die darauf folgende Zuwendung zu breiteren Bündnissen gegen Rechtsextremismus spiegelten sich in den Gewaltstatistiken wider: Hatte es 2015 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte wie der Kleingruppentaktik – im Umfeld von Demonstrationen noch eine Vielzahl an Straftaten gegen Rechtsextreme und Polizisten sowie Brandanschläge auf Bahnanlagen gegeben, für die eine Gegendemonstration gegen Rechtsextremisten am 12. Dezember 2015 mit 79 verletzten Polizisten, 40 teilweise vollständig zerstörten Fahrzeugen, verwüsteten Gebäuden und Bahnanlagen beispielhaft steht, verliefen Demonstrationen im Jahr 2016 weitgehend störungsfrei. Das war in Leipzig nicht anders als in anderen Großstädten mit einer lebhaften Autonomen-Szene. Innerhalb des Freistaats stach die Messestadt jedoch hervor. Das Ziel hinter der bei Demonstrationen ausgelebten Massenmilitanz war es, einen möglichst hohen Sachschaden zu verursachen, um so künftigen Demonstrationen von Rechtsextremen – gewissermaßen über Verwaltungsumwege – das Wasser abzugraben. Mag Leipzig die übrigen sächsischen Städte und Regionen bei linksextremen Gewalttaten – nicht nur in den letzten Jahren – in den Schatten stellen, gingen im gesamten Freistaat die Zahlen von 2015 zu 2016 wegen des Rückgangs des Demonstrationsgeschehens am rechten Rand und wegen der klareren bündnispolitischen Ausrichtung der Autonomen nach unten. In der Folge schwanden Intensität und Häufigkeit ihrer Reaktionen, was wiederum zu einem Rückgang der Straf- und Gewalttaten führte. Besonders die vom linken Rand ausgehende Konfrontationsgewalt, die meist im Zusammenhang mit dem Demonstrationsgeschehen steht, erfuhr einen Schwund.

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Zugleich erfreuten sich klandestine Aktionen, mithin Gewalt und Sachbeschädigungen aus dem Verborgenen heraus, zunehmender Beliebtheit. 2015 hatten sich 22 solcher Aktionen gegen – tatsächliche und vermeintliche – Rechtsextremisten, gegen staatliche Behörden und Unternehmen gerichtet, ein Jahr später waren es bereits 35. Hauptziele waren einzelne Rechtsextremisten, Parteien (Bündnis 90/Die Grünen, SPD und CDU), Einrichtungen der Exekutive und Judikative (Arbeitsämter, Polizeireviere, Gerichtsvollzieher, das Amtsgericht), weiterhin Banken, Versicherungen, Städtebau- und Immobilienfirmen. Gleichwohl nahm die klandestine Gewalt nicht in einem solchen Maß zu, dass sie den quantitativen Einbruch im Bereich der Massenmilitanz kompensierte. Der Überfall auf einen Legida-Ordner in Leipzig-Böhlen am 4. Juli 2016 und das angezündete Auto eines Rechtsextremisten am 2. Februar 2016 – eine Resonanzstraftat im Zusammenhang mit der rechtsextremen Attacke am 11. Januar 2016 – bieten hierfür nicht weniger beredte Beispiele als Akte des Vandalismus gegenüber ansässigen Immobilienfirmen, die bereits erwähnten Angriffe auf die Connewitzer Polizeiwache sowie das Leipziger Ordnungsamt am 1. Januar, am 20. Februar und am 6. Dezember 2016, bei denen insgesamt zwölf Fahrzeuge in Flammen aufgingen. Bei der Mehrheit der festgesetzten Straftäter handelt es sich um junge Männer im Alter zwischen 20 und 29 Jahren mit gefestigten politischen Überzeugungen. Sie kommen mehrheitlich aus Connewitz, Neustadt-Neuschönefeld und Plagwitz.44 Die mediale und politische Fokussierung auf linksautonome Gewalt lässt bisweilen andere Aktionsformen vergessen. Im Zuge der Schwerpunktsetzung auf den Themen Antifaschismus, Antirepression und Antigentrifizierung gewannen jedoch auch nicht-gewaltförmige Handlungen an Bedeutung. 2015/16 prägten etwa Häuserbesetzungen (z. B. alte Führerscheinstelle, Black Triangle), Nazi-Outings45 und Teilnahmen an größeren Kampagnen (etwa Soziale Kampfbaustelle, a monday without you, Rechte Netzwerke zerschlagen) das Geschehen, mit denen die autonome Szene den Druck auf den politischen Feind wie Kommunalbehörden zu erhöhen suchte. In der Summe lassen die Handlungsformate der jüngeren Vergangenheit einerseits eine gewisse Abhängigkeit der Autonomenszene von den Entwicklungen in ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umgebung erkennen: Sie

44 Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz, Linksextremistische Straf- und Gewalttäter in Sachsen – eine soziodemographische Analyse, Dresden 2017. 45 Siehe überblicksartig etwa Tom Mannewitz, „Nazi-Outing“. Ziele, Funktionen und Probleme, in: Dossier Linksextremismus, URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/136660/nazi-outing?p=all [eingesehen am 20.12.2017].

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gibt selten den politischen Takt vor, sondern resoniert vielmehr. Reaktionen – auf die Gentrifizierung einiger Stadtteile, auf die Revitalisierung von Ungleichheitsideologien, auf die deutsche Asylpolitik, auf Polizeigewalt – dominieren dabei. Andererseits zeichnet sich das Dilemma zwischen Bündnisorientierung und Radikalität immer deutlicher ab. Das versuchen die Akteure durch eine deutlichere Trennung der damit verbundenen Handlungsformate aufzulösen: Einbindung in und Unterordnung unter größere Bündnisse bei Demonstrationen hier, klandestine Gewalt dort. Ausblick Die Autonomen in Leipzig haben sich zu einer vitalen politischen Kraft entwickelt, die nicht nur regelmäßig sicherheitspolitische Bedenken des Staates und großer Gesellschaftsteile auf den Plan ruft, sondern sich auch regen Zuspruchs erfreut: Die Szene wächst und bildet Allianzen mit der Zivilgesellschaft. Diese Bemühungen werden aufgrund der Attraktivität der damit wachsenden Deutungs- und Durchsetzungsmacht nicht abreißen. Die Szene findet so politische Partner, wirbt um sachbezogene gesellschaftliche Unterstützung für eigene Anliegen, rekrutiert neue Mitglieder und führt gesellschaftliche Debatten. Nicht zuletzt behindert eine derartige Strategie nicht das rabiate Vorgehen gegen politische Feindbilder, das zunehmend aus dem Verborgenen heraus stattfindet. Insofern dürfte mit der Bündnisorientierung keine generelle Mäßigung der Autonomenszene einhergehen. Von der gestiegenen Attraktivität Leipzigs unter jungen Menschen profitieren auch die Autonomen. Ungeachtet der bleibenden Fluktuation wird der personelle Zuwachs in nächster Zeit darum nicht abreißen. Die sich ausbreitenden Aktivitäten in Connewitzer Nachbarvierteln, der begrenzte Wohnraum in Connewitz und die Herkunftsliste linksautonomer Straftäter deuten überdies darauf hin, dass etwa Plagwitz, Neustadt-Neuschönefeld, Reudnitz, die Südvorstadt und Altlindenau dem südlichsten Stadtteil vielleicht nicht den Rang als linksautonomen Identifikationspunkt, wohl aber den als linksautonomes Zentrum ablaufen werden. Welche Gefahren erwachsen aus dem personellen Zuwachs, aus der Bündnisorientierung und der anhaltenden Aktualität klandestiner Gewalt? Da nicht alle Autonomen gewalttätig sind oder Gewalt befürworten und da nicht alle politischen Ziele aus demokratietheoretischer Sicht problembeladen sind, tut Differenzierung im Umgang Not – schon, um Trotzreaktionen, Radikalisierung und Feindbilddenken vorzubeugen. Aus politischen Extremismen, zu denen die Autonomen gerechnet werden, erwachsen meist zwei Gefahrendimensionen: die Gefahr für Leib und Leben einerseits, die Gefahr für die Demokratie

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andererseits.46 Gegen Gewalt an Dingen wie Personen – aus welchen Motiven sie erfolgen mögen – müssen die Sicherheitsbehörden des Staates vorgehen, freilich ohne ihre Machtposition auszunutzen. Nicht zuletzt die Autonomen selbst müssten – immanent betrachtet – ein Interesse an Pazifismus haben, mindern Gewalt und Gewaltandrohung doch die Vielfalt dessen, was in den politischen Streit eingebracht wird, und somit die Chance auf einen radikalen Wandel der Gesellschaft. Bei allen nachvollziehbaren, legitimen und wünschenswerten Zielen – Kampf gegen Rechtsextremismus, Erhalt individueller Freiräume, Kritik an übertriebener Polizeigewalt sowie an fehlender Einbindung in stadtteilrelevante Entscheidungen, Hilfe für Geflüchtete usw. – erwächst die Gefahr für die Demokratie bei Autonomen aus dem Militanzprinzip sowie der prinzipiellen Ablehnung des Staates und damit auch der Demokratie. Wer allem Vermittelnden eine prinzipielle Absage erteilt, ergibt sich einem Freund-Feind-Denken, das der Realität nicht gerecht wird. Darum mag es zwar folgerichtig sein, nicht einzelne politische, wirtschaftliche und soziale Missstände über Reformen, sondern sogleich das ganze System beseitigen zu wollen, es ist aber unter den Gesichtspunkten des politischen Pluralismus, des Interessenausgleichs, schließlich des komparativen Demokratievorteils der Lern- und Adaptationsfähigkeit nicht duldbar. Wer die Autonomen indes kategorisch als „Chaoten“ abtut, sitzt demselben dualistischen Rigorismus auf wie sie. Werden jedoch ihr Schwarz-Weiß-Denken, ihre Ablehnung jedweder Staatlichkeit und ihre Gewaltbejahung stärker als bisher problematisiert, haben sie die Chance, als Korrektiv der Demokratie zu fungieren.

46 Siehe Tom Thieme, Extremistisches Gefahrenpotenzial – Untersuchungsgegenstand, Messung und Fallbeispiele, in: Eckhard Jesse (Hg.), Wie gefährlich ist Extremismus? Gefahren durch Extremismus, Gefahren im Umgang mit Extremismus, in Sonderband Zeitschrift für Politikwissenschaft, H. 1/2015, S. 37–60.

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Facetten des linken Radikalismus in Göttingen In der Silvesternacht stehen auf dem Marktplatz zahlreiche Menschen beieinander, neben etlichen Leuten, die ihre Raketen und Böller zünden wollen, auch „viele Linke, die darauf warten beziehungsweise dafür sorgen wollen, dass was passiert“. Und so kommt es denn auch: Zunächst klirren gegen Mitternacht einige Scheiben, daraufhin versucht die Polizei, einzelne Tatverdächtige aus der Menge heraus festzunehmen, Flaschen fliegen. Ein Beamter wird im Gesicht verletzt, weitere Scheiben gehen zu Bruch, in einem Modegeschäft am Marktplatz wird geplündert. Die Polizei erhält Verstärkung, löst die Menge gewaltsam auf, am Ende gibt es mehrere Festnahmen und Verletzte – und Betroffene klagen darüber, auf der Polizeiwache getreten und geschlagen worden zu sein. Die Lokalzeitung ruft am nächstem Tag nach „härterem Vorgehen“ und schreibt von „Kriminellen“ und „Schlägern“, die generell in der örtlichen Szene die Oberhand gewonnen hätten, weshalb die Ereignisse eher symptomatisch seien, als dass sie überraschen dürften.1 Diese Beschreibung einer eskalativen Ereigniskette zum Jahreswechsel klingt im Frühjahr 2020 sehr vertraut – überraschend dürfte bloß die Information sein, dass sie sich nicht soeben in Leipzig zugetragen hat, sondern vor mittlerweile vier Jahrzehnten in Göttingen in Südniedersachsen. Im Mai 2013 erklärte der damalige Göttinger Polizeipräsident Robert Kruse in Bezug auf die Stadt und den Landkreis Göttingen, dass dieser Bereich nach wie vor einen regionalen Brennpunkt linksmotivierter Straftaten in Niedersachsen darstelle. Zwar habe die Zahl der Delikte von 112 im Jahr 2011 auf 96 im Jahr 2012 abgenommen, dennoch sei dies niedersachsenweit unverändert der höchste Wert aller Polizeiinspektionen. Selbst in der Großstadtregion Hannover habe es mit 67 Straftaten deutlich weniger linksmotivierte Delikte gegeben als in Göttingen.2 1 Reimar Paul, In Bewegung. 1976 bis 1984. Turbulente Jahre in Göttingen, Göttingen 2018, S. 166f. Paul, heute taz-Journalist, der seine politisch bewegte Studentenzeit Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre in Göttingen verbrachte, hat die für die kommenden Ausführungen relevanten lokalen Ereignisse seinerzeit genau beobachtet und präzise beschrieben, weshalb besonders auch auf seine Zeitzeugen-Darstellung als Quelle zurückgegriffen wird. 2 Polizeidirektion Göttingen, Anstieg von rechter und linker Gewalt/ Polizeidirektion Göttingen veröffentlicht Zahlen zur Politisch motivierten Kriminalität, Pressemitteilung, 08.05.2013, in: goettinger-tageblatt.de URL: https://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/Goettingen/ Mehr-linke-Gewalt-in-Goettingen [eingesehen am 24.11.2019].

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Und im Juli 2017 schrieb die Süddeutsche Zeitung, die „Universitätsstadt in Niedersachsen“ sei „seit Jahrzehnten ein Kampfplatz“ zwischen staatlichen Behörden und linken Radikalen.3 Die „aus dem Widerstand gegen Gorleben oder Brokdorf “ gewachsene „autonome Szene“ erschien dem Blatt derart stark, dass sie Göttingen in ihrem unter dem Eindruck der Krawalle beim G20-Gipfel in Hamburg verfassten Artikel als deutsche „Hochburg der Autonomen“ in eine Reihe mit Hamburg, Berlin und Leipzig stellte. Schon ein derart kursorischer und flüchtiger Blick auf die Geschichte der südniedersächsischen Stadt mit ihrer radikalen Linken, die zwar ihre Gruppennamen und Organisationsstrukturen, ihre Aktionsformen und Kleidungscodes wechselte und insgesamt in einer verwirrenden Vielfalt oftmals kleinster, bisweilen allenfalls noch sporadisch aktiver Zusammenschlüsse schillert, aber über alle Wechselfälle des politischen Lebens hinweg an ihrer Grundorientierung auf Klassenkampf, Revolution, Kommunismus festhielt – schon eine dermaßen oberflächliche Draufsicht auf den hiesigen Linksradikalismus lässt die Rede von Göttingen als einer linksradikalen Hochburg berechtigt erscheinen. Von einer radikalen Linken in Göttingen war 1968 wenig zu sehen und zu spüren, vielmehr wurde, wie sich ein damaliges Mitglied des SDS erinnert, in jenen Jahren bei den entsprechenden Versammlungen theoriefixiert „still vor sich hin adorniert“4 . Diese Darstellung konzentriert sich daher auf den radikalen Teil der sogenannten Neuen Linken seit Mitte der 1970er Jahre in Göttingen. Es werden drei Protestmomente näher betrachtet, die jeweils durch einen hohen Grad von Militanz gekennzeichnet waren: die Anti-AKW-Bewegung ab Mitte der 1970er Jahre, die Hausbesetzungen zu Beginn der 1980er Jahre und der autonome Antifaschismus in den ausgehenden 1980er und frühen 1990er Jahren. Von zentralem Interesse sind hierbei nicht nur die Konflikte mit Mehrheitsgesellschaft und Staatsorganen, sondern auch jene zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb der radikalen Linken und ihren szenexternen Bündnispartnern. Da die Universitäten und Hochschulen für die radikale Linke einen

3 Jens Schneider u. a., Die Hochburgen der Autonomen, in: Süddeutsche Zeitung, 13.07.2017. 4 Erwin Ratzke, „1968“ – Studentenbewegung in Göttingen, in: Kornelia Duwe u. a. (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 212–220, hier S. 213.

Facetten des linken Radikalismus in Göttingen

wichtigen Organisations- und Mobilisierungsort5 darstellten, wird auch auf die Rolle der Göttinger Universität näher eingegangen. Die Anti-AKW-Bewegung als Aktionsfeld der radikalen Linken in den späten 1970er Jahren Der Widerstand gegen Atomenergie stand ab 1976 im Zentrum militanter Praxis linksradikaler Göttinger Gruppen. Schon in den Vorjahren war Atomkraft ein gelegentlich diskutiertes Thema,6 ab Anfang 1976 gewann der Anti-AKWProtest jedoch an Fahrt. Im Februar wurde auf einer universitären Diskussionsveranstaltung von einem der Autoren die Anti-AKW-Broschüre „Zum richtigen Verständnis der Kernindustrie – 66 Erwiderungen“7 vorgestellt, wobei sich die anschließende Diskussion weniger um die technischen und wissenschaftlichen Fragen rund um den Betrieb von AKW gedreht habe als vielmehr darum, wie Protest organisiert und Widerstand geleistet werden könne.8 Die international zunehmenden Anti-AKW-Proteste fielen 1976/77 in Göttingen in mehreren Hinsichten auf fruchtbar-politisierten Boden. Zunächst aufgrund der jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen der den AStA stellenden linken Studierendenschaft einerseits und öffentlicher Politik, konservativer Studierendenschaft (RCDS) und Rektorat andererseits um den Streitgegenstand des politischen Mandats der studentischen Selbstverwaltung.9 Schon in diesem 5 Die Verfassungsschutzbehörden verfolgten die politische Entwicklung an den Universitäten im Betrachtungszeitraum mit Argusaugen. So setzten sich die Jahresberichte ausführlich mit der Zusammensetzung der studentischen Selbstverwaltungsorgane auseinander. Für das Jahr 1977 bilanzierte man beispielsweise, dass 35,7 Prozent der Mitglieder der Studierendenparlamente dem „linksextremistischen“ Spektrum zuzuordnen seien, verteilt auf „Neue Linke“ (Anarchisten, undogmatische Sozialisten und K-Gruppen), MSB Spartakus und Sozialistischer Hochschulbund. Vgl. Bundesministerium des Innern, betrifft: Verfassungsschutz, Bonn 1978, S. 64. 6 Vgl. KSB Göttingen-Zellen Chemie/Biologie und Mathematik/Physik, Kernenergie im Kapitalismus, Göttingen o. J. (1975), Flugblatt. 7 Dieses Standardwerk der Anti-AKW-Bewegung wurde von einer Autorengruppe aus dem an der Universität Bremen beheimateten Projekt „Schadstoffbekämpfung am Arbeitsplatz in der Industrieregion Unterweser“ (SAIU) verfasst als Antwort auf die Propagandaschrift der Energieversorgungsunternehmen HEW und NWK “Zum besseren Verständnis der Kernenergie, 66 Fragen, 66 Antworten“. Vgl. Auch Fritz Storim, “Ich bin ein Physiker, der politisch einigermaßen aktiv ist.“ Erinnerungen an Jens Scheer, in: Redaktion Atom Express (Hg.), ...und auch nicht anderswo!. Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung, Göttingen 1997, S. 177. 8 Paul, In Bewegung, S. 20. 9 Vgl. Andrea Gabler, Sturm im Elfenbeinturm. Positionen und Aktionsformen des Göttinger AStA zu Wissenschaftsbetrieb und politischem Mandat von 1967 bis 1987, Göttingen 1993, S. 101–106.

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Kontext demonstrierten teilweise mehrere Tausend Studierende gegen die staatlicherseits geforderte Beschränkung politischer Betätigung durch den AStA, die über Universitätsthemen im engeren Sinne hinausgehen. So sei bereits hierdurch eine „quantitative Mehrung der Aktivisten und eine gleichzeitige Radikalisierung in Formen und Inhalten“ zu beobachten gewesen.10 Heterogenität und latente Gruppenkonflikte sind wie in anderen Universitätsstädten dieser Zeit auch typisch für die Göttinger Linken. Zentrale Konfliktlinien verliefen zwischen und oft auch innerhalb der hochschulpolitischen Gruppen von KBW, KB und Spontis.11 Wobei betont sei, dass der Anti-AKW-Protest in der ideologischen Logik und Wahrnehmung der meisten ML-Gruppen zunächst als „kleinbürgerlich“ abgetan wurde.12 Umso überraschter waren sie 1976/77 von der rasant zunehmenden Stärke der Anti-AKW-Bewegung.13 Aber angesichts dieses sich abzeichnenden massenmobilisatorischen Potenzials dürfte es ihnen nicht schwergefallen sein, von der Fabrik als revolutionärem Fixpunkt ab- und sich auf die Unterwanderung der Anti-AKW-Bürgerinitiativen einzulassen.14 Bei allen ideologischen und strategisch-taktischen Unterschieden zwischen KBW und KB gingen beide ML-Gruppen davon aus, dass der Ausbau der Kernenergie primär der Stärkung des Kapitalismus und bundesdeutschen Imperialismus diene. Dabei lehnten sie Kernkraft nicht grundsätzlich ab, vielmehr entsprach sie eigentlich ihrem ideologisch determinierten Technik-

10 Ebd., S. 105. 11 Der Kommunistische Studentenbund (KSB) war die hochschulpolitische Gruppe des KBW. Der Kommunistische Hochschulbund (KHB) war der hochschulpolitische Arm des KB. Göttingen war seit 1976 sogar das bundesweite Zentrum des KHB. Im Vergleich besonders mit seinem direkten ideologischen Konkurrenten KBW verfolgte der KB eine relativ breite Bündnispolitik. Für Göttingen wird dies etwa induziert durch die von Arbeitskreis Atomenergie und KB gemeinsam organisierte Mobilisierungsveranstaltung im Vorfeld der Grohnde-Proteste. Vgl. Paul, In Bewegung, S. 43; Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1970-1991, Marburg 2002, S. 223. Die Göttinger Spontis nannten sich Bewegung undogmatischer Frühling (BUF) und waren in den Jahren 1976/77 auf der lokalen politischen Bildfläche und im AStA aktiv, wo sie 1977 gemeinsam mit der Sozialistischen Bündnisliste (ein Zusammenschluss aus KHB, GIM, Fachschaften und Basisgruppen) den AStA stellten. Vgl. Gabler, Sturm im Elfenbeinturm, S. 168. 12 Vgl. Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein, S. 175f. 13 An Anti-AKW-Demonstrationen beteiligten sich 1977 etwa 150.000 Personen, 1979 waren es bereits mehr als 200.000. Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 166. 14 Ein instruktives Beispiel dieses Agierens und Agitierens ist der Hamburger KB, der die Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe (BUU), für die Anti-AKW-Bewegung sicherlich eine der wichtigsten Bürgerinitiativen, systematisch unterwandert und majorisiert habe. Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1995, S. 105.

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und Fortschrittsoptimismus.15 Hierin unterschieden sie sich von den Spontis bzw. undogmatischen Linken, deren Handlungsmotivation in der AntiAKW-Bewegung von authentischer existenzieller Betroffenheit angesichts des Gefahrenpotenzials der Kernenergie geprägt war. Für die erste große Demo in Brokdorf am 13.11.1976, einem Schlüsselereignis der Anti-AKW-Bewegung besonders mit Blick auf die sich danach formierende Militanz, wurde auch mit Flugblättern an der Uni Göttingen mobilisiert. Der Kommunistische Hochschulbund (KHB) reiste eigenen Angaben zufolge mit „etwa 200 Göttingern am Sonnabend nach Brokdorf “. Dafür, dass der militante Versuch der Bauplatzbesetzung, an dem sich „keineswegs nur Anarchos etc.“ beteiligt hätten, scheiterte, machte man natürlich die Konkurrenz von „KBW und ,KPD‘“ verantwortlich, die verfrüht zum „Abmarsch“ geblasen habe.16 Weiterer Schwung kam in die Agitation gegen Atomkraft mit der Gründung des Göttinger Arbeitskreises gegen Atomenergie, der sich Ende 1976 aus dem Zusammenschluss mehrerer Initiativen mit Einzelpersonen, hierunter insbesondere linke Studierende, bildete und sofort großen Zulauf erhielt. Der Arbeitskreis war hochaktiv und baute etwa mehrmals pro Woche in der Fußgängerzone und in der Mensa Infotische auf.17 Eine der zentralen Konfliktlinien innerhalb der Anti-AKW-Bewegung war bestimmt durch die Militanzfrage, die schließlich zur nachhaltigen Spaltung spätestens während der dritten Brokdorf-Demonstration im Februar 1977 führte. Neben ein paar Tausend Demonstrant*innen, die weitab vom Protestobjekt mit staatlichem Plazet demonstrieren durften, zogen ca. 50.000 Demonstrant*innen, darunter der zahlreich vertretene militante Flügel der Bewegung (Teile der Bürgerinitiativen, ML-Gruppen, undogmatische Linke), zum AKWBauplatz in der Wilster Marsch. Dort allerdings blieb die Schlacht von Brokdorf aus. Während die Demonstrationsleitung nach einer Kundgebung vor der ersten Polizeisperre umkehrte, rief der KBW weiter zum „Schleifen“ der Festung Brokdorf auf, doch folgten ihm die militanten Massen nicht.18 Zwar drängte 15 Vgl. Andreas Kühn, Stalins Enkel und Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre, Frankfurt a. M. 2005, S. 170ff.; Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein, S. 177ff. 16 O. V., „Es fehlen nur noch die Selbstschussanlagen!“ Ein Augenzeugenbericht, in: Zelle Sowi des KHB (Hg.), Rote Tribüne, Jg. 4 (1976/77), H. 1, S. 8–9, hier S. 9, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/NS/BRS/Goettingen_Rote_Tribuene_Sowi/Goettingen_Rote_Tribuene_Sowi_761114.shtml [eingesehen am 15.12.2019]. 17 Vgl. Paul, In Bewegung, S. 34; Die Brokdorf-Demonstrationen im Herbst 1976 waren von äußerst hartem polizeilichem Durchgreifen geprägt und sorgten dafür, dass die Anti-AKWBewegung vermehrt Zulauf aus der radikalen Linken erhielt, ließ sich der Protest doch zunehmend mit einer grundsätzlich antistaatlichen Stoßrichtung verknüpfen. Vgl. Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein, S. 173. 18 Vgl. Redaktion Atom Express (Hg.), ...und auch nicht anderswo!, S. 55.

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der KBW noch zum Bauplatz, sei dann allerdings von KB-, KPD-Leuten und anderen aufgehalten worden.19 Obwohl sich Gewalthandeln und -eskalation zwischen widerstreitenden Großgruppen nie in Gänze nach dem kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, von Gewalt und Gegengewalt auseinanderdividieren lässt, kann man mit Blick auf die zunehmende Militanz in der Anti-AKW-Bewegung nicht umhin, die drakonische Härte der polizeilichen Reaktionen auf das Protestagieren der Demonstrant*innen herauszustreichen. So hinterließen bei „Großdemonstrationen des Jahres 1977 in Brokdorf (Februar), Grohnde (März) und Kalkar (September) [...] Aktionen wie tief fliegende Hubschrauber, überzogener Tränengaseinsatz oder die Durchsuchung gestoppter Züge mit vorgehaltenen Maschinenpistolen in den Augen der meisten friedlichen Demonstranten martialische Bilder. Hier, so schien es ihnen, zeigte der ,Atom-Staat’ sein wahres Gesicht.“20 Die Brokdorf-Demonstrationen zwischen Ende 1976 und Anfang 1977 wirkten schließlich als „Gründungsereignis“ für militanten Protest der Neuen Linken gegen Atomkraftanlagen, deren Bauplätze zu zentralen Protestorten wurden.21 Die Göttinger Anti-AKW-Aktivist*innen erarbeiteten sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren bis weit über die Stadtgrenzen hinaus eine durchaus prominente Stellung in der Gesamtbewegung. Dies lag auch an der 1977 vom Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie gegründeten Zeitschrift Atom Express, in dessen Redaktion es nicht selten turbulent zuging aufgrund von Streitigkeiten, die u. a. aus Personalwechseln, Klagen über „MackerStrukturen“ und gestörten politischen Diskussionen resultierten.22 Der Atom Express war meinungsbildendes Periodikum23 in der Anti-AKW-Bewegung und zeitweise ihre „größte und einflussreichste Publikation“24 , was die bewegungsinterne Rangstellung der Göttinger*innen hob und festigte. Im Arbeitskreis gegen Atomenergie, großen Teilen der Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe (BUU) und dem Hamburger Arbeitskreis politische Ökologie werden Keimzellen der Bewegung der Autonomen gesehen, konzentrierten sich hier doch „durch einen starken anti-staatlichen und anti-institutionellen Affekt, eine anti-kapitalistische Ausrichtung, die Neigung zu symbolisch-expressiver Politik und zu militanten Aktionen“25 charakterisierbare Aktivist*innen. Diese spielten 19 Vgl. Paul, in Bewegung, S. 41. 20 Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 169f. 21 Vgl. Andreas Pettenkofer, Die Entstehung der grünen Politik. Kultursoziologie der westdeutschen Umweltbewegung, Frankfurt a. M. 2014, S. 175. 22 Vgl. Atom Express, H. 16/1979, S. 3. 23 Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 167. 24 Paul, In Bewegung, S. 60. 25 Dieter Rucht, Die Bürgerinitiativbewegung als Teil einer intermediären politischen Kultur, in: Journal für angewandte Sozialforschung, Jg. 21 (1981), H. 4, S. 389–406, hier S. 397; vgl.

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in allen Richtungskämpfen innerhalb der Anti-AKW-Bewegung eine wichtige Rolle und seien daraus als „eigenständige politische Kraft“ hervorgegangen.26 Nach der ausgebliebenen Schlacht von Brokdorf kam es vier Wochen später, im März 1977, zur „bis dahin militantesten Großaktion der Bewegung“27 in Grohnde, das sich, an der Weser gelegen, rund 85 km von Göttingen entfernt befindet. Seines Wissens, so der ehemalige KBW’ler Gerd Koenen, sei „Grohnde die einzige wirklich »militante« Großaktion des KBW [gewesen] – die vor allem dazu diente, die Schmach von Brokdorf im Monat davor zu tilgen.“28 Diese „bisher härteste Schlacht um ein Kraftwerk“, so der Spiegel, geriet zu einem „bösen Massaker“.29 Beide Seiten, Polizei und Demonstrant*innen, so die Erinnerung eines Göttinger Aktivisten, hätten in einem bisher nicht gekannten Maße Gewalt angewendet.30 Während im Nachhinein nicht unumstritten bleibt, welche ML-Gruppierung maßgeblich dafür verantwortlich zeichnete,31 steht fest, dass der Angriff auf die schwer befestigte Baustelle akribisch vorbereitet, professionell koordiniert und diszipliniert ausgeführt wurde. Der Spiegel berichtete: „So militärisch perfekt wie die Orders waren auch Gerät und Gehabe der Angreifer beim Versuch, den Bauplatz zu okkupieren. Uniformiert mit gelbem Ölzeug, das Kennzeichen ihrer Einheit auf dem Rücken (,Bi 5‘, ,H 1‘), Plastik- oder Stahlhelm auf dem Kopf, Gasmaske, zumindest Taucher- oder Schwimmbrille vor dem Gesicht, Schutzschilde aus Holz, Plastik oder Mülltonnendeckel in der einen, Knüppel, Spitzhacken, Beutel mit Steinen oder nur ein Walkie-Talkie in der anderen Hand, rückten sie gegen das Objekt vor. Dort angelangt, lief alles wie eintrainiert: Ganz vorn die ,Knabberer‘ (Polizei-Ausdruck) machten sich mit Schweißbrennern und elektrischen Stahlsägen ans Werk, die ,Eindringggruppen‘ dahinter schmissen Wurfanker an Seilen auf den Bauzaun, den ,Feuerschutz‘ besorgten Trupps im dritten Glied mit Steinwürfen.“32

In Grohnde hatten die auswärtigen Radikalen Anfang 1977 das Heft des Handelns an sich gerissen. Ob durch die Unterwanderung der Bürgerinitiative vor Ort, wie der niedersächsische Verfassungsschutz behauptete, oder durch minutiöse Vorfeldabsprachen, die es ihnen erlaubten, die Demonstration am 19. März

26 27 28 29 30 31 32

zur Bedeutung des Göttinger Arbeitskreises für die Formierung der Autonomen auch A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2008, S. 24f. Geronimo, Feuer und Flamme, S. 105. Redaktion Atom Express (Hg.), ...und auch nicht anderswo!, S. 57. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Frankfurt a. M., S. 417. O. V., Böses Massaker, in: Der Spiegel, 28.03.1977. Vgl. Paul, In Bewegung, S. 44. Der KB reklamierte die führende Rolle für sich. Vgl. Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein, S. 187. O. V., Böses Massaker.

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1977 – eine Demonstration, die besonders gewalttätig verlief und als „Schlacht um Grohnde“ in die Geschichtsbücher einging – nach ihren Vorstellungen zu steuern, sei einmal dahingestellt. Das Resultat der auch von den beteiligten Göttinger*innen als Erfolg bewerteten Grohnder Demonstration war eine aufgeregte politische Debatte inklusive großem Medienecho. Zusammen mit den Absperrungen war aber auch der „örtliche Widerstand überrannt“ worden. Danach sei man zurückgekehrt „in die Städte, in unsere Vollversammlungen, an die Kneipentische.“33 Für die erste Hochphase der Anti-AKW-Bewegung 1976/77 markieren Brokdorf und besonders Grohnde die militanten Höhepunkte, bei denen Göttinger Anti-AKW-Aktivist*innen zumeist in beträchtlicher Gruppenstärke auftraten. Dort kam es – neben der zentralen Bewegungsspaltung in Militante und Pazifisten – auch zu nachhaltigen Fraktionierungen innerhalb der radikalen Linken. Gorleben hingegen wurde ab 1979 zum zentralen Protestort des pazifistischen Flügels der Bewegung.34 Dass über das als miefig-piefig verschriene Gorleben zu Beginn der dortigen Anti-AKW-Proteste nicht einmal im Atom Express berichtet wurde, erklärt sich vor allem aus dem radikalen Selbstverständnis des Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie, dem einflussreichen Herausgeber dieser wichtigen Bewegungspostille. Aufgrund ihrer Skepsis gegenüber dem erwartbar geringen, zumal friedfertigen Widerstand in Lüchow-Dannenberg entschieden sich die Göttinger Aktivist*innen, nicht zur ersten großen Gorleben-Demo am 12. März 1977 (sieben Tage vor der „Schlacht von Grohnde“) zu fahren. Sie erwarteten im Wendland, wo bei Wahlen stets die Christdemokraten Mehrheiten erhielten und der Protest als bäuerlich, konservativ, provinziell galt, keine zugespitzten Konfrontationen mit der Polizei, schließlich gab es da „noch nicht mal einen richtigen Zaun, gegen den man anrennen konnte“35 . Später allerdings waren Göttinger Aktivist*innen überaus präsent im Gorlebener Anti-Atom-Dorf, der im Mai 1980 für einen kurzen Sommer ausgerufenen Republik Freies Wendland. Sie errichteten nicht nur eine eigene Siedlung, sondern auch die symbolträchtige und untrennbar mit der Republik Freies Wendland verbundene Holzkirche. An der Anti-AKW-Bewegung im Allgemeinen und der Republik Freies Wendland im Besonderen lässt sich nun sehr gut aufzeigen, was lose strukturierte Bewegungen brauchen, um die Mobilisierungsfähigkeit längerfristig hoch zu halten: regelmäßiges Spektakel, Nervenkitzel, die Suggestion grundstürzender Entscheidungsmomente, damit korrespondierend 33 Paul, Standortbenennung Gorleben: Überlegungen zu 30 Jahre Widerstand, URL: https:// www.anti-atom-aktuell.de/archiv/180/180widerstand.html [eingesehen am 20.12.2019]. 34 Vgl. Wolfgang Ehmcke, Bewegte Zeiten: Von Wyhl bis zum Tag X, in: Redaktion Atom Express (Hg.), ...und auch nicht anderswo!, S. 39. 35 Reimar Paul, Standortbenennung Gorleben.

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Zusammengehörigkeitsgefühle, Gemeinschaftsstiftungen, Sendungsbewusstsein. Diese Funktion erfüllten in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren für einige Zeit vornehmlich die wiederkehrenden Platzbesetzungen von AtomBaustellen. In der Republik Freies Wendland etwa sei überall „gebaut, gesägt, gehämmert“ worden. Immer mehr Hütten entstünden, schon sei ihr Gewirr unüberschaubar. Dabei seien „nahezu alle Baustile“ vertreten gewesen. In den Geschäften der Umgebung wären die zum Bau benötigten Werkzeuge und Materialen wie Teerpappe und Nägel schon knapp geworden.36 Viele Häuser seien beschildert und bunt beflaggt gewesen, zumeist mit der lachenden Sonne, dem Symbol der Anti-AKW-Bewegung. Wer die Republik Freies Wendland betreten wollte, habe einen Schlagbaum passieren müssen, bei dem Neuankömmlinge in einer Hütte mit der Aufschrift „Einreise“ einen Pass bekommen hätten mit der Erklärung: „Der Inhaber dieses Passes ist Bürger der Republik Freies Wendland und gibt somit zu verstehen, daß ein Staat, der die Unversehrtheit seiner Menschen nicht gewährleistet, der die Ausbeutung aller zugunsten von letztlich niemandem betreibt und an dem tödlichen Mißverständnis festhält, daß Sicherheit durch Waffen hergestellt werden kann, nicht mehr länger der seine ist.“ Vor allem aber – das Entscheidende – sei die Stimmung der Aktivist*innen „einmalig intensiv“, das „Freiheitsgefühl eigentlich kaum noch zu toppen“ gewesen. Eben solche Momente der Intensität, der Begeisterung, Euphorie und des Zusammenhaltes, kurzum: solche konstruktiven Aufbau-Erfahrungen benötigt jede organisationsschwache Bewegung in gewisser Regelmäßigkeit, da sie der Strukturen ermangelt, die bei Parteien, Gewerkschaften, Kirchen Phasen anhaltender Ernüchterung, Enttäuschung, Passivität wenn nicht vollständig kompensieren, so doch abmildern. Dies war umso wichtiger, als in der lagerund strömungsübergreifenden Bewegung starke Zentrifugalkräfte wirkten, die in Auseinandersetzungen, Differenzen und immer mal wieder aufflackernden Spaltungstendenzen sichtbar wurden. Die Bewegung war durchzogen von Konflikten entlang der Spaltungslinien bürgerlich vs. links, reaktionär vs. revolutionär, und nahezu jede Demonstration wurde begleitet von einer Diskussion über die Gewaltfrage. Gerade die K-Gruppen unterminierten das Bewegungsgefüge durch ihre Versuche, das eigentliche Protestziel auf eine gesamtgesellschaftlich gegen Kapital und Staat gerichtete Ebene zu heben. Bemerkenswert und zugleich auch bezeichnend ist nun, dass ausgerechnet dieser von den radikalen, mehrheitlich akademischen Städter*innen anfangs belächelte spießbürgerliche Provinzcharakter des Gorleben-Protestes den dauerhaftesten, nachhaltigsten und mutmaßlich auch folgenreichsten Widerstand hervorbrachte. Ab Mitte der 1980er Jahre befand sich die Anti-AKW-Bewegung allgemein in der Krise, ihre kurze Blütezeit war vorbei, die Kernkraftwerke 36 Hierzu und im Folgenden Reimar Paul, In Bewegung, S. 142ff.

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in Grohnde und Brokdorf waren gebaut worden und 1985 bzw. 1986 in Betrieb gegangen. Gorleben dagegen blieb über all die Jahre hinweg bis in die Gegenwart hinein ein Brennpunkt des Protestes gegen den Bau und Betrieb von Kernkraftwerken sowie die Lagerung des bei dem Betrieb entstehenden Atommülls. Der wendländische Protest blieb auch deshalb lebendig, weil die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg die Bevölkerung nicht überforderte, die Menschen vielmehr da abholte, „wo sie standen“. Zweifellos gab es auch in Gorleben den angesichts der Heterogenität der an den Anti-AKW-Protesten beteiligten Gruppen geradezu unvermeidlichen internen Streit, wie er etwa im Frühjahr 1980 bei mehreren Treffen im Ort Trebel zur Vorbereitung einer Platzblockade zum Austrag kam. Doch setzte die Bürgerinitiative letztlich den Vorrang der Einheimischen durch und stellte Rahmenbedingungen und Verhaltensregeln für den Protest auf, die von den Zugereisten akzeptiert wurden, wenn auch zähneknirschend. Das bedeutete überschaubare Kleinkundgebungen statt anonymer Großdemonstrationen, Sitzblockaden statt Sabotageanschläge, passiver Widerstand statt Barrikadenbau. Neben den Spaltungstendenzen hielt die Präsenz der Radikalen für die AntiAKW-Bewegung ein weiteres Problem insofern bereit, als durch die vorzugsweise von den K-Gruppen praktizierte Handhabung der Geschäftsordnungsfragen als Machtfragen der Erfahrungsaustausch, der wechselseitige Vertrauensaufbau, die Identifikation von Gemeinsamkeiten, die Klärung der Absichten und Ziele sowie die Festlegung aufeinander abgestimmter Strategien vielfach zu kurz kamen, wenn sich die Initiativen, wie bei der ersten Bundeskonferenz der Anti-AKW-Bewegung in Hannover, auf Kongressen trafen. Die Hannoveraner Bundeskonferenz z. B. beschäftigte sich mit den für die praktische Arbeit völlig irrelevanten Fragen, wie abgestimmt werden soll, wer abstimmen darf, ja ob überhaupt Beschlüsse gefasst werden sollen. Dieser Radikalismus war in den 1970er Jahren in der Anti-AKW-Bewegung wesentlich städtisch, jung und akademisch – und für die Universitätsstadt Göttingen galt das Übergewicht formal hochgebildeter Aktivist*innen erst recht. Es ist augenfällig, wie sehr Universitätshörsäle ebenso wie der geisteswissenschaftliche Campus als Veranstaltungsorte der Anti-AKW-Bewegung genutzt wurden. Ein sprechender Hinweis auf die Rolle linker Studierender in der Anti-AKWBewegung im Jahr 1977 war beispielsweise die Solidaritätsadresse des Protestcamps an Pfingsten in Grohnde für den Göttinger AStA, der zu dieser Zeit nicht nur wegen der Mescalero-Affäre (s. u.) unter Druck stand, sondern außerdem eben auch wegen seiner Demonstrationsaufrufe nach Brokdorf und Grohnde.37 37 Vgl. Franz Walter, Fluch der klammheimlichen Freude. Die Mescalero-Affäre 1977, in: Teresa Nentwig u. ders. (Hg.), Das gekränkte Gänseliesel, Göttingen 2016, S. 215–227; Paul, In Bewegung, S. 58.

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Auch in den 1970er Jahren galt, dass die Streikanlässe von den Beteiligten als drängend empfunden werden müssen. Sie müssen sich betroffen und in ihren eigenen Lebens-, Berufs-, Karriereplanungen bedroht fühlen, damit sie sich über die Abstimmung zum Streik an demselben beteiligen, in den StreikArbeitsgruppen engagieren, an den alternativ ausgerichteten Veranstaltungen teilnehmen und nicht bloß zu Hause bleiben. In den späten 1970er Jahren jagte, wenn man es denn so nennen will, ein Politisierungsrekord an der Universität den nächsten. Vollversammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmer*innen gab es etwa 1977 gleich mehrere. Im Mai war die Vollversammlung zur Beschlussfassung des Mescalero-Streiks mit 4.000 Teilnehmenden auf dem Campus „die bis dahin größte Vollversammlung in der Geschichte der Hochschule“; im Juni brachte der AStA sogar 6000 Studierende „von fast allen niedersächsischen Unis und Fachhochschulen“ zu einer Demonstration gegen die Repressionen von Uni-Leitung und Staatsanwaltschaft und für das politische Mandat38 zusammen; und aus Protest gegen die Suspendierung des Göttinger AStA im September 1977 infolge eines Flugblattes zur Entführung Hanns Martin Schleyers durch die RAF demonstrierten im November 1977 gleichfalls rund 6000 Menschen in Göttingen.39 Die Streiks wurden in der Regel durch studentische Vollversammlungen beschlossen, bei denen sich die rechten Hochschulgruppen und Streikgegner*innen so verlässlich wie notorisch in einer deutlichen Minderheitenposition befanden. Als „aktiv“ wurden sie deshalb apostrophiert, weil nicht nur die Seminare geschwänzt, sondern der Uni-Betrieb auch für die Studierwilligen aktiv blockiert und den regulären Veranstaltungen alternative, mit Vorliebe pauschal als „kritisch“ titulierte eigene Diskussions-, Informations- und Beteiligungsangebote entgegengestellt wurden. Gleichfalls zeigt die Kehrseite der zuvor geschilderten Mobilisierungserfolge die Bedeutung der Uni Göttingen und ihrer Studierenden für die linke Szene der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren. Wenn nämlich Semesterferien waren und das Gros der Studierenden im Urlaub weilte oder sich in seinen Elternhäusern in der Provinz von den Strapazen des WG-Lebens erholte, von der Mutter bekocht, waren neben den Straßen auch die Demonstrationszüge der Uni-Stadt verwaist. Mit Semesterbeginn revitalisierte sich die Szene seinerzeit verlässlich. Und so flammte denn auch der Häuserkampf in Göttingen in den Jahren 1979 und 1980 nicht zufällig zeitgleich mit dem Beginn des Wintersemesters auf.

38 Vgl. Gabler, Sturm im Elfenbainturm. 39 Vgl. hierzu Paul, In Bewegung, S. 52, 59 u. 74.

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Der Häuserkampf um die Augen- und Zahnklinik 1979/80 Der Göttinger Häuserkampf kulminierte zwischen Oktober 1979 und Oktober 1980 in den mit zunehmend härteren Bandagen geführten Auseinandersetzungen zwischen Häuserkampfszene und staatlichen Ordnungskräften. Die Mieterinitiativen, die den Göttinger Häuserkampf zuvor seit 1974 hauptsächlich getragen hatten, wählten demgegenüber moderate Mobilisierungsformen und zielten primär auf Wohnraum ab. Das war zwar insofern politisch, als mit der kommunalpolitischen Forderung nach sozialem und bezahlbarem Wohnraum auch Kritik an konsumorientierter, investorengesteuerter und sanierungsversessener Innen- und Altstadterneuerung geübt wurde – sie war jedoch zu keiner Zeit fundamentaloppositionell gegen die Strukturfundamente von kapitalistischer Ordnung und Stadt gerichtet. Neben diesen „alten“ Protestformen wuchsen nun mit den radikalen Häuserkämpfer*innen „neue Praxen des Dagegenseins“40 heran. Auch in Göttingen war die sukzessive Zunahme einer konfliktorientierteren Partizipationskultur und damit zusammenhängend ab spätestens 1979/80 das Aufkommen deutlich veränderter Protestformen zu beobachten. Anhand der Protestverläufe an zwei für den Göttinger Häuserkampf identitätsstiftenden Protestorten lässt sich diese Entwicklung sehr gut veranschaulichen: der Augenklinik zum einen, der Zahnklinik zum anderen. Als im Zuge der Göttinger Universitätserweiterung Ende der 1970er Jahre alle klinischen Teilbereiche im neuen Universitätsklinikum nördlich des Zentralcampus zusammengeführt wurden, geriet das nun leerstehende Alte Klinikum und insbesondere die Augenklinik in der Goßlerstraße in den Fokus wohnungssuchender Studierender, die sich in einem „Kampf um’s letzte Loch“ wähnten und die leerstehenden Klinikgebäude geradezu als „Hohn angesichts der absolut katastrophalen Lage auf dem Zimmer- und Wohnungsmarkt“ empfanden.41 Eines Morgens stand Jürgen Trittin auf dem Universitätscampus, „einen Motorradhelm auf dem Kopf und ein Megafon in der Hand“42 . Was war passiert? Nachdem am 18.10.1979, drei Tage nach Semesterstart, „über 1000 Studenten auf einer UNI-Vollversammlung einer Besetzung des Klinikums zur Behebung der akuten Wohnraumnot zugestimmt“43 hatten, besetzten ca. 400 40 Vgl. Adelheid von Saldern, Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 46 (2006), S. 16. 41 Vgl. o. V., Besetzung der Augenklinik. Eine Chronik, in: Göttinger Stadtzeitung, November 79, S. 15f. 42 Paul, In Bewegung, S. 121. 43 O. V., Besetzung der Augenklinik, S. 8f.

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Student*innen die alte Augenklinik. Die göttinger nachrichten vermeldeten den „Einzug von über 100 Studenten, Lehrlingen und Arbeitern.“44 Der damalige AStA-Referent Trittin habe aus diesem Anlass mit seinem Megafon zusätzliche Unterstützung für die Häuserkämpfer*innen zu mobilisieren versucht, denn „Jürgen ist keiner, der selbst Schlösser knackt und Matratzen in besetzte Häuser schleppt“45 . Noch am selben Abend hätten sich dann „ca. 2.000 Studenten/innen, Schüler, Schülerinnen, Lehrlinge und Obdachlose“46 zu einer großen Besetzungsfete eingefunden. In der folgenden, knapp sechsmonatigen Besetzung (viele der alten Behandlungs- bzw. Patientenzimmer wurden möbliert und wohnlich gemacht, regelmäßige Plena und Veranstaltungen fanden statt, es entstand nachgerade ein Kulturzentrum mit Konzerten und Lesungen usw.) versuchten die Häuserkämpfer*innen beharrlich, gewaltlos und öffentlichkeitswirksam eine Legitimierung ihrer Besetzung durchzusetzen und dafür ein breiteres Echo in der Bevölkerung zu erreichen.47 Die Göttinger Augenklinik wurde zwischenzeitlich sogar bundesweiter Hotspot der Häuserkampfszene, als es Ende Dezember 1979 zum „ersten westdeutschen Wohnungskämpfer-Treffen“48 kam, was nicht zuletzt auf die gute Vernetzung der Göttinger Häuserkämpfer*innen hinweist.49 Ihr primäres Ziel – wie bei allen Göttinger Besetzungen während der vorangegangenen Dekade – war nach wie vor Wohnraum, wobei man auf Mietverträge, nicht auf radikale Systemopposition abzielte. Insofern trifft die Beobachtung von Freia Anders, wonach es den Hausbesetzer*innen im Verlauf der 1970er Jahre zunehmend weniger um die Lösung des Wohnraumproblems, sondern

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O. V., o. T., in: göttinger nachrichten, April 1980, S. 8ff. Paul, In Bewegung, S. 122. O. V., Besetzung der Augenklinik, S. 9. Im Falle der Besetzung des Alten Klinikums solidarisierten sich u. a. prominente Schriftsteller wie Erich Fried und Wolf Biermann, aber auch Parteien, Gewerkschaften, Verbände. 48 Vgl. o. V., Wohnungskampf im Klinikum, in: Göttinger Stadtzeitung, Mai 1980, S. 34. 49 Allerdings schien die Protestbewegung der Häuserkämpfer*innen im Vergleich zu anderen „neuen“ sozialen Bewegungen der siebziger Jahre, etwa der Ökologie- oder Antiatombewegung, jedenfalls in einem ersten Befund, kaum transstädtisch oder gar transnational organisiert gewesen zu sein. Trotz des Häuserkämpfertreffens in Göttingen oder auch des „1. Hausbesetzerkongresses“ ein Jahr darauf in Münster, von dem die Hannoversche Allgemeine Zeitung ausführlich berichtete, wo sich ein breites Spektrum zwischen RAF-Sympathisant*innen und Gemäßigten gezeigt habe und man sich wohl letztlich nur darauf einigen konnte, sich nicht stärker zu organisieren, aber den Häuserkampf zu verschärfen. Vgl. Rudolf Großkopff, „Den Leuten muss hören und sehen vergehen“. Hausbesetzer trafen sich zu ihrem ersten Kongress, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30.3.1981. Man wollte Aktionsbündnisse, aber keine harten Strukturen. Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme, S. 121.

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vielmehr um die Durchsetzung eines Freiraums zur Erprobung alternativer Lebensformen ging, auf Göttingen nur bedingt zu.50 Gewiss, das linksalternative Milieu suchte nach autonomen Rückzugsorten, die nicht den Zwängen und Regeln der gesellschaftlichen Markt- und Verwertungslogik unterlagen. Doch dass die Suche nach Wohnraum demgegenüber ins Hintertreffen geraten sei, kann jedenfalls für die südniedersächsische Universitätsstadt nicht bestätigt werden. Auch Lukasz Nieradziks Urteil der von ihm so benannten ersten Phase des Göttinger Häuserkampfes von 1974 bis 1980 wirkt gerade deshalb etwas verzerrt, weil er sie in toto als „eskapistische Freiraum-Autonomie“ labelt, aber seinen Blick hauptsächlich auf die Besetzung der Augenklinik 1979 richtet, für die jene Titulierung durchaus nicht unpassend, für den betrachteten Zeitraum aber eben nicht typisch ist.51 Im Falle Göttingens ist es angemessener, von einem partiellen Eskapismus zu sprechen – dem überwiegenden Teil der wohnungssuchenden und protestierenden Studierenden ging es nämlich nicht um Weltenflucht. Anders als im Falle des Reitstallviertels, dessen geplanter und letztlich vollzogener Abriss einige Jahre zuvor Proteste hervorgerufen hatte, waren die alten Kliniken keine Liegenschaften der Stadtverwaltung, sondern der Universität, die als Akteur primär in Person des nur Tage vor der Besetzung inaugurierten UniPräsidenten Norbert Kamp auftrat. Solidarisierte sich das Uni-Präsidium zur Zeit des Reitstall-Protests noch mit den Protestierenden, versuchte es 1979 zwar zunächst Dialogbereitschaft zu signalisieren, zog aber letztlich alle ordnungsrechtlichen Register, um die Besetzung der Augenklinik zu beenden. Insgesamt wirkt das Agieren Kamps retrospektiv reichlich intransigent. Zumal die KlinikBesetzer*innen auch nach seiner Räumungsankündigung52 und trotz eines „wochenlangen Zermürbungskrieges“53 zunächst weiterhin eine Diskussionsstrategie verfolgten: „Gerade die Podiumsdiskussion bietet die Möglichkeit, die Verantwortlichen mit unserem geballten Protest zu konfrontieren und unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen.“54

50 Vgl. Freia Anders, Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre, in: Sven Reichardt u. Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010, S. 473–498. 51 Vgl. Lukasz Nieradzik, Göttinger Autonome und ihre Gegner. Zur Konstruktion von Identität und Alterität am Beispiel der Proteste in den 80er Jahren, Göttingen 2008, S. 74. 52 Siehe hierzu auch Kamps Schreiben an Oberstadtdirektor Vieten, in dem er die Räumung fordert und mehrseitig begründet, Stadtarchiv Göttingen (Sta.G.), Signatur: Dez.I Nr. 53. 53 Paul, In Bewegung, S. 133. 54 AStA, Ultimatum: Unipräsident kündigt Räumung der Augenklinik an!, FlugschriftenSammlung (FS) 1974-1982, Sta.G., o.S.

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Unter den Stadtverantwortlichen herrschte Uneinigkeit. Artur Levi, langjähriger SPD-Bürgermeister Göttingens (1973–1981, 1986–1991), schien zumindest ein offenes Ohr für die Anliegen der Besetzer*innen zu haben, lud er sie doch ein, „mit Vertretern der Ratsfraktionen, der Verwaltung und ihm über die ‚ach so beschränkten‘ Möglichkeiten der Stadt zur Wohnraumbeschaffung zu diskutieren.“ Die Göttinger Hausbesetzer*innen wollten diese “Möglichkeit nutzen, diesen Parkhaus- und Kaufhausfans mal deutlich [ihre] Meinung zu sagen“ und letztlich würden sie “schon zu verhindern wissen, daß dieser Treff nichts weiter als ein Alibi für diese Damen und Herren wird.“55 Schlussendlich verabschiedete Levi gemeinsam mit den Studierenden eine Resolution zur Anerkennung des Wohnraumproblems, ein Ausgleich voller beidseitiger Vorbehalte und deshalb von äußerst temporärem Charakter. Ersichtlich wird am weiteren Verlauf des Konfliktes um die Augenklinik auch, welche begrenzten institutionell-verbindlichen Möglichkeiten zur Konzilianz Levi in seiner überwiegend repräsentativen Funktion als Oberbürgermeister gegenüber dem damals verantwortlichen Oberstadtdirektor Rolf Vieten, einem FDP-Mann, hatte. Denn das Ringen um Wohnraum im Alten Klinikum fand am 12. März 1980 sein Ende, als dieses, Kamps Forderung folgend, auf Anordnung Vietens geräumt wurde. Bemerkenswert ist, dass offenbar allein Ratsherr Reinhard Neubauer von der DKP Ratssitzungsanträge auf „Freigabe des Klinikums als Wohnraum“ gestellt hatte, gegen die alle anderen Parteien „Nichtbefassung“ durchsetzten.56 Die Dialogbereitschaft der Polizei wird recht anschaulich durch die dezidierte Aussage des Polizeirats Otto Knoke57 , der AStA sei „so links, dass er für mich kein Ansprechpartner mehr ist“58 . Endgültig vorbei war es mit dem Göttinger Häuserkampf-Modus des kommunalpolitischen Arrangierens eher denn radikalen Systemopponierens, im Oktober 1980. Erneut entbrannte der Göttinger Häuserkampf, als zu Beginn des Wintersemesters wieder mehrere tausend Wohnungen fehlten. Die Lage eskalierte, als am 18.10., Jahrestag der Besetzung des Alten Klinikums, in der Alten Mensa die „Bunte-Liste-Initiative“ ein Solidaritätsfest unter dem Motto „Dach überm’ Kopf “ veranstaltete. Auf diesem habe das Gerücht einer neuerlichen Hausbesetzung die Runde gemacht – bis hin zur Polizei, die

55 O. V., Mieterinitiative Kreuzbergring: information. Wir besuchen Bürgermeister – Wer kommt mit?, Herbst 1979, FS, o.S. 56 Vgl. Paul, In Bewegung, S. 123. 57 Knoke war später (1992–96) Leiter der Polizeiinspektion Göttingen. 58 Vgl. Schwab, Stadtplanung, in: Göttinger Stadtzeitung, Juni 77, S. 6–9.

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daraufhin die Veranstaltung observierte.59 Darüber entstandener Missmut unter den Feiernden äußerte sich in einem kurzerhand umgeworfenen Streifenwagen, was wiederum das rabiate Eingreifen der Sicherheitsbehörden provozierte. Diese und weitere Scharmützel mit der Polizei hatten keinen geringen Anteil daran, dass die Häuserkämpfer*innen von staatlicher Seite als zunehmend gewaltbereit qualifiziert und – oft undifferenziert – kriminalisiert wurden. In der Nacht besetzten dann etwa 200 Personen die alte Zahnklinik in der Geiststraße – diesmal allerdings mit einem anderen Sound als noch ein Jahr zuvor, denn der sich entladende enorme Destruktionswille, sich im unbekümmerten Eintreten der Türen manifestierend, vertrug sich nicht mit dem vormaligen bewahrenden und rekonstruktiven Anspruch des „Instandbesetzens“. Als am Abend des 19. Oktober 1980 die Räumung bevorstand, glich „die Szene [...] einem Bürgerkriegsmanöver“60 . Höhepunkt der Eskalation war eine „Scherbendemo“ durch die Innenstadt.61 Diese zweifellos neue Militanzqualität in der Göttinger Häuserkampfszene während der Besetzung der Zahnklinik stieß in der Folge auf „heftige Reaktionen“ der „bürgerlichen Öffentlichkeit“62 . Sucht man nun einen Moment, der die Radikalisierung ebenso wie auch die Vertiefung der – ohnehin bereits im Gange befindlichen – Spaltung und Fraktionierung innerhalb der Göttinger Häuserkampfszene symbolisch illustriert, sind es jene 24 Stunden vom Abend des 18. Oktober bis zum Abend des 19. Oktober 1980. In einer am 20. Oktober 1980 veröffentlichten Stellungnahme der gemäßigten Häuserkämpfer*innen unter Führung der Mieterinitiative Kreuzbergring hieß es zurückhaltend, dass die Aktion „unglücklich“ verlaufen, man sich „im Gegenstand der Auseinandersetzung“ aber einig sei.63 Noch versuchte man, den Unmut über das rabiate Vorgehen der radikalen Häuserkämpfer*innen hinter der nach außen hin postulierten Geschlossenheit der Bewegung zu verbergen. Die bewegungsinterne Kritik richtete sich nicht grundsätzlich gegen alles Spontan-Aktionistische der zunehmend radikalisierten HäuserkampfFraktion. Doch anders als die gelegentlich selbst spontan, aber immer defensiv

59 Vgl. o. V., Dokumentation – ein halbes Jahr Abriss- und Polizeistadt Göttingen, Göttingen o. J., S. 3, URL: https://www.mao-projekt.de/BRD/NS/BRS/Goettingen_Hausbesetzungen_ 1980-1981.shtml [eingesehen am 24.07.2019]. 60 O. V., …sonst gibt es keine Ruhe mehr!, in: Göttinger Stadtzeitung, November 1980, S. 19. 61 Vgl. die Beschreibung der Szene von Reimar Paul, In Bewegung, S. 161. 62 Ebd. 63 Vgl. o. V., Göttingen-Polizeistadt. Besetzte Zahnklinik geräumt!, Flugblatt vom 20.10.1980, FS, Sta.G., o.S.

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agierenden gemäßigten Hausbesetzer*innen seien „die Autonomen allmählich wieder zur geplanten Offensive“ übergangen.64 Der Typus des autonomen Häuserkämpfers als Teil der linken militanten Szene war der neue Akteur auf der Bühne der Häuserkampfszene. Er handelte nicht nur um der spontanen Besetzung willen, er suchte die Konfrontation mit der Polizei regelrecht als Selbstzweck, Gewaltbereitschaft gehörte wesentlich zu seinem Selbstverständnis. Damit rückte ein Teil der Göttinger Häuserkampfszene vom kommunalpolitischen Ziel der Wohnraumerhaltung ab und verstand Häuserkampf von nun an als systemoppositionelles und kompromissloses Handeln um „Aktionsraum“65 , das allein dem Imperativ des Selbstreferenziellen, ja der Gewalt zu unterliegen schien. Die neue autonome Distinktions-, Absetzund, wenn man so will, Überwindungsbewegung gegenüber dem gemäßigten linksalternativen Spektrum kommt in folgendem radikal-Zitat recht gut zum Ausdruck: „Die 68er Opas haben immer noch nicht begriffen, daß wir nicht für die Öffentlichkeit kämpfen, sondern für uns. Und zwar nicht gegen einen ‚Mißstand‘, sondern für ein selbstbestimmtes Leben in allen Bereichen. Autonomie, aber subito! […] Wir machen Aktionen nicht für die tierisch-ernste Revolution, sondern weil’s Spaß macht.“66 Die nichtmilitanten linksalternativen Häuserkämpfer*innen hingegen, besonders die Mieterinitiativen, verfolgten weiterhin die lokalpolitischen Ziele der Erhaltung von Altbau-Wohnraum und Schaffung legaler Mietverhältnisse. Aus einem räumlich-solidarischen Zusammenhang heraus agierten sie nicht radikal systemoppositionell. Vielmehr nutzen sie die Nischen des Systems zur Entfaltung alternativer Lebensentwürfe, die der lose verkoppelten Mehrheitsgesellschaft die intime Vertrautheit enger Gemeinschaftlichkeit entgegensetzten und sich gegen ein Wohnmodell richteten, das als steingewordenes Spiegelbild einer atomisierten Gesellschaft angesehen wurde. Das Handlungsmotiv dieser Gruppe war nicht der Systemumsturz, nicht die radikale Opposition; ihre Mitglieder pflegten keine grundsätzliche Verweigerungshaltung, die jede Kommunikation mit dem Verhandlungsgegner von vornherein ausschloss. Mit Blick auf die in Gang gesetzte Gewaltspirale ist zu fragen nach dem Gewalt-Gegengewalt-Verhältnis von Polizei und militanten Häuserkämpfer*innen. Schon der Göttinger Blick fragte damals anspielungsreich: „Beantworteten

64 Vgl. Werner Lindner, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn, Essen 1996, S. 383. 65 Vgl. Daniel Strauß, Wohnraum kontra Aktionsraum. Der Häuserkampf in Göttingen, in: Sabine Horn u. a. (Hg.), Protest vor Ort. Die 80er Jahre in Bremen und Göttingen, Essen 2012, S. 251–288, hier S. 286f. 66 radikal, Nr. 85/1980, hier zitiert nach Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Ulm 1998, S. 182.

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Beamte Übergriffe mit Übergriff?“67 Unzweifelhaft erschwert die Selbstreferenzialität der damaligen Gewalt, nach den Motiven der Gewaltausübung zu fragen, da „in dem Maße [...], wie Innen- und Außendruck langsam anstiegen, eine Gewaltentwicklung [einsetzte], die sich peu à peu von den ursprünglichen Zielen der Hausbesetzer ablöste, ausdifferenzierte und verselbständigte“68 . Protestaktionen eskalierten nicht selten durch unverhältnismäßig rabiate oder gewaltsame Polizeieinsätze – Eskalationen, die wiederum auf Polizeiseite die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung sinken ließen. Schließlich „kulminierten [...] – besonders durch das Auftreten Autonomer – die Konfrontationen immer öfter um ihrer selbst Willen“69 . Der Anstieg des Gewaltniveaus zwischen der Polizei und dem militanten Teil der Göttinger Häuserkampfszene erreichte seinen Gipfelpunkt schließlich zu Silvester 1980/81, als es zu schweren Ausschreitungen kam, die „schwersten Krawalle der Nachkriegsgeschichte“ in Göttingen.70 Mit den unzähligen eingeworfenen Scheiben71 – je nach Blickwinkel des Betrachters interpretierbar als „exponiertes Sinnbild der Enteignung“72 oder reiner Destruktionswille – gingen zweifelsohne zugleich viele Sympathien der Göttinger Bürger*innen für die Hausbesetzer*innen zu Bruch. Auf eine breitere Unterstützung jedenfalls wie noch im Falle des Reitstallviertels oder des Alten Klinikums durften sie von nun an nicht mehr hoffen. Als es bald darauf während der Räumung des besetzen Hauses in der Friedrichstraße 1 am 1. April 1981 zu einer regelrechten Schlacht kam, die sich mit „brennenden Barrikaden“73 in der Innenstadt bis zum Folgetag hinzog, äußerten sich die Kommunalpolitiker ganz unterschiedlich: die FDP bekundete „Verständnis für die Motive – Nicht für die Gewalt“74 ; für Clemens Stroetmann, Kreisvorsitzender der Göttinger CDU, hingegen wurde „immer deutlicher […], daß hinter den Masken der Biedermänner, die Dialogbereitschaft, Toleranz und Verständnis für sich forderten, in Wahrheit […] Brandstifter steckten“75 .

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72 73 74 75

Vgl. o. V., Beantworteten Beamte Übergriff mit Übergriff?, in: Göttinger Blick, 09.04.1981. Lindner, Jugendprotest, S. 376. Ebd. Vgl. o. V., Acht Tage nach den blutigen Krawallen: Vieten gerät unter politischen Druck. Regierung greift ein!, in: Göttinger Blick, 08.01.1981. Vgl. o. V., Hausbesetzer demolieren die Göttinger City. In der Neujahrsnacht blutige Konfrontation zwischen der Polizei und Demonstranten, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 02.01.1981. Lindner, Jugendprotest, S. 376. O. V., Brennende Barrikaden, Tumulte in der Nacht, in: Göttinger Blick, 02.04.1981. O. V., Friedliche Demonstration und Ankündigung neuer Hausbesetzungen, in: Göttinger Tageblatt, 01.04.1981. Ebd.

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Das Göttinger Tageblatt, ganz auf einer Linie mit Stroetmann, machte die Häuserkämpfer stellenweise in Gänze zu Militanten.76 Die lokale SPD wiederum versuchte differenziert zu urteilen: „Die sinnlosen Aktionen einer Minderheit von militanten Hausbesetzern liefern für den weiteren Abbau demokratischer Grundrechte den Vorwand.“77 Das mehrheitlich friedliche Spektrum der Häuserkämpfer*innen freilich trat nach wie vor mittels Protestdemonstrationen für die Nutzung leerstehenden Wohnraums ein. Am Beispiel Friedrichstraße lässt sich gut veranschaulichen, wie es innerhalb der Häuserkampfszene aussah: die dortige Wohnraumbesetzung sei, so die Beobachtungen eines linken Aktivisten, dominiert gewesen von „Autonomen“ und „Antiimperialisten“ mit „fließenden Grenzen zum RAF-Umfeld“, die die „militärische Konfrontation“ mit der Stadt gesucht und Militanz als Ziel und Selbstzweck verstanden hätten.78 Sven Reichardt weist allerdings zurecht darauf hin, dass es bei aller die angespannte Situation erahnen lassenden Drastik in dieser Schilderung problematisch ist, die radikalen Entartungen der Häuserkampfszene grundsätzlich „in der Form spektakulärer ‚Kriegsberichterstattung‘ als Abfolge von Straßenkämpfen, Plünderungen und Räumungen zu beschreiben“79 . Wie ist vor diesem Hintergrund die mutmaßliche Beobachtung der „fließenden Grenze zum RAF-Umfeld“ einzuordnen? Tatsächlich ist es zunächst, jedenfalls bis 1977, schwierig, eine kategorische Grenzlinie zwischen RAF-Sympathisant*innen und -Kritiker*innen zu ziehen, zumal Teile der radikalen Linken in den 1970er Jahren nach viel skrupulösem Herumlavieren (Ziel gut, Mittel schlecht, etc.) nur allmählich einen RAF-kritischen Ton fanden. Einen ersten lokalen Hinweis auf grundsätzliche Distanzierung vom Linksterrorismus bietet die linke Göttinger Studentenzeitschrift Politikon, in der 1975 zu lesen war: „Wir können und dürfen uns nicht als Wasser verstehen, in dem die RAF wie ein Fisch schwimmen kann.“80 Dies sei eine der „ersten nicht-taktischen, sondern fundamentalen öffentlichen RAF-Kritiken der radikalen Linken“ gewesen, urteilt Wolfgang Eßbach.81 Zwei Jahre später, nach dem Deutschen Herbst, war der RAF-Sympathisantenkreis dann aber dauerhaft auf eine minimale Restgröße zusammengeschrumpft. 76 77 78 79 80

Rainer Wiese, angemerkt!, in: Göttinger Tageblatt, 04.04.1981. Ebd. Vgl. Paul, In Bewegung, S. 185. Vgl. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 577. Vgl. Politikon 1975, S. 25, hier zitiert nach Wolfgang Eßbach, Politische Fraktionen, wissenschaftliche Strömungen. Erinnerungen an die Jahre 1966 bis 1986 in Göttingen, in: Oliver Römer u. Ina Alber-Armenat (Hg.), Erkundungen im Historischen: Soziologie in Göttingen. Geschichte. Entwicklungen. Perspektiven, Wiesbaden 2019, Seiten 351–376, hier S. 367. 81 Ebd., S. 367.

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Für Göttingen und insbesondere für die Studierenden der Georgia Augusta war die wesentlich greifbarere Zäsur, die zeitlich dem Deutschen Herbst unmittelbar vorgelagerte, zunächst lokale, aber bald bundesweit für Schlagzeilen sorgende Mescalero-Affäre. Hier soll noch einmal hervorgehoben werden, wie geradezu idiosynkratisiert und verdichtet sich in dieser Causa der im Verlauf der 1970er Jahre sukzessive gewachsene, zweifelsohne durch den RAF-Terror zugespitzte und nicht zuletzt deshalb insgesamt überwiegend unverhältnismäßige Formen annehmende Konflikt zwischen politischer Nomenklatura und linken Bewegungsakteuren zeigte. Peter von Oertzen, von 1970 bis 1974 niedersächsischer Kultusminister, und führender Kopf der SPD-Linken, der politischer Kurzschlüsse bzw. Machtdemonstrationen gegenüber der linken Studierendenschaft, mit der er durchaus sympathisierte, eigentlich unverdächtig war, resümierte die skandalösen Monate der Mescalero-Affäre einige Zeit später und hielt die ganze irrational-widersprüchliche Panikreaktion der politisch und medial Verantwortlichen trefflich fest: „Für einige Monate verloren auch die aufgeklärtesten Vertreter der öffentlichen Meinung und der Politik in der Bundesrepublik den Verstand: Ein verworrenes, brutales und zugleich schrecklich aufrichtiges Dokument der Absage an den Terrorismus wurde in eine Unterstützung des Terrorismus umgefälscht. Fast alle, die es besser wußten, schwiegen – aus Feigheit (so auch ich).“82 Einige Professor*innen schwiegen darüber nicht, so etwa der Hannoveraner Sozialpsychologe Peter Brückner, intellektuelle Leitfigur der Linken in den 1970er Jahren, der den Nachdruck des „Buback-Nachrufs“83 mitinitiierte und – wie andere kritische Mahner auch – mit einem folgenreichen Disziplinarverfahren belangt wurde. Im Rückblick ist das im Zuge dieser Affäre freigesetzte Mobilisierungspotenzial beachtlich: auf eine Razzia im AStA folgten Vollversammlungen und Demonstrationen. Dass aber der Mescalero-Vorfall bereits ein Abgesang auf den Untergang des „eigenkulturellen und intensiven Lebens auf dem Campus“ nach 1977 gewesen sei84 , scheint schon in Anbetracht der obigen Schilderungen der Proteste der Anti-AKW-Bewegung in den späten 1970er Jahren und des Niederschlages, den sie in Mobilisierungen auf dem Universitätscampus fanden, einigermaßen zweifelhaft. Mehr noch: Wenn überhaupt, fand das letzte „große Sommerfest“85 des linken studentischen Milieus wohl weniger 1977 82 Peter von Oertzen, Der Fall Peter Brückner. Ein Anschlag auf die Freiheit, in: Alfred Krozova u. a. (Hg.), Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1981, S. 51, hier zitiert nach Gabler, Sturm im Elfenbeinturm, S. 109. 83 Zuerst erschienen Ende April im AStA-Blatt göttinger nachrichten, von dem angesichts des üblichen, eher begrenzten Leserkreises wohl kaum einer ahnen konnte, welch weitreichende Konsequenzen der „Nachruf “ nach sich ziehen würde. 84 Vgl. Walter, Fluch der klammheimlichen Freude, S. 224. 85 Vgl. ebd.

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als vielmehr während der Besetzung der Augenklinik zwischen Oktober 1979 und März 1980 statt – und wäre insofern auch kein Sommer-, sondern ein Winterfest gewesen. Die Verbindung von links-alternativem und links-militantem Milieu einerseits und RAF-Terrorismus andererseits blieb jedenfalls weiterhin das Angstthema deutscher Politik. Wie in anderen deutschen Großstädten wurde auch in Göttingen, etwa durch die kurzzeitige und friedlich verlaufende Besetzung der Jacobi-Kirche am 8. April 1981, Protest gegen die Isolationshaftbedingungen der RAF-Mitglieder Günter Sonneberg und Verena Becker geäußert.86 Dass der Einsatz für grundlegende Menschenrechte auch RAF-Gefangene miteinschließen sollte, so Hubert Seipel, sage zunächst wenig aus über die politische Position der Protestierenden.87 Der damalige bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, kaum eine Gelegenheit auslassend, seine humanistische Bildung gräzisierend oder latinisierend zu betonen, schien solchem, humanistischer Empathie folgenden Engagement wenig Erfreuliches abgewinnen zu können, stellte er doch wiederholt die pauschal jede Form der Hausbesetzung kriminalisierende Behauptung einer engen Verbindung zwischen Häuserkampf und Terrorismus auf.88 Just das Bundeskriminalamt belehrte ihn eines Besseren, indem es 1981 in einer Studie zum Häuserkampf konstatierte, dass „nach vorliegenden Erkenntnissen die Beteiligung von Personen aus dem terroristischen Umfeld im Hinblick auf die Gesamtzahl der an den Aktionen Beteiligten relativ gering ist.“89 Analog zur Wochenzeitung Die Zeit, die konstatierte, dass die Hausbesetzerszene aus Antifa, Rockern, Punks, undogmatischen Linken, KBW und SDA bestehe, die kein „gemeinsames Ferment“ besäßen und denen „kaum ein Terrorist“ zuzurechnen sei, forderte auch die FAZ, die Hausbesetzerszene nicht pauschal in ein kriminelles Licht zu rücken.90 Auf die Kriminalisierungsproblematik u. a. für Göttingen hat Hubert Seipel bereits 1981 hingewiesen, als er schrieb, besonders in der Provinz würde man einem „Wandel tradierter Verhaltensnormen“ mit 86 Vgl. o. V., Aus ‚Solidarität‘ besetzten junge Leute Jacobi-Kirche. Protest gegen Haftbedingungen der RAF-Terroristen, in: Göttinger Tageblatt, 09.04.1981; o. V., Jacobi-Kirche aufgeräumt und verlassen, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 10.04.1981. 87 Vgl. Hubert Seipel, Offene Feindschaften, in: Michael Haller (Hg.), Aussteigen oder rebellieren. Jugendliche gegen Staat und Gesellschaft, Hamburg 1983, S. 71–84, hier S. 81. 88 Vgl. Carl-Christian Kaiser, Kaum ein Terrorist dabei. Eine Studie des Bundeskriminalamtes widerspricht Strauß, in: Die Zeit, 20.03.1981; sowie: o. V., Hausbesetzer-Szene und Terrorismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.1981. 89 Aus einem Schreiben BKA-Schreiben an den Bundesjustizminister vom 15.03.1981, in: Bundesarchiv (BArch) Koblenz, B 141, Nr. 401096, fol. 49, hier zitiert nach Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, S. 557. 90 Vgl. o. V., Hausbesetzer-Szene und Terrorismus.

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großer Intoleranz begegnen. Es werde daher nicht nach Konfliktursachen gefragt, vielmehr verlasse man sich auf die „sicherheitspolitische Einschätzung“ und handele entsprechend.91 So war eine „Verpolizeilichung“ des Konflikts zwischen Häuserkämpfer*innen und staatlichen Ordnungsinstanzen in Göttingen – wie anderswo – nicht zu übersehen. Für Göttingen lässt sich festhalten, dass eine militante Linke gerade in dem Moment entstand, als Polizei und Stadt ungleich härter durchzugreifen gewillt waren. Die Wandlungen innerhalb des linken Spektrums in Richtung einer stärkeren Konfrontativität und die Verhärtung des polizeilichen Feindbildes korrespondierten mit dem veränderten behördlichen und speziell polizeilichen Umgang mit der Göttinger Linken – ebenso wie sich der Wandel der Polizeistrategie mit dem Wechsel im Amt des Polizeipräsidenten von Erwin Fritz auf Lothar Will zeitlich überschneidet, was wiederum auf die Bedeutung der Handlungsvorlieben und Entscheidungspräferenzen konkreter Personen für die Entwicklung und Ausrichtung politischer Bewegungen und Spektren verweist. Das begann schon mit dem liberalen Oberstadtdirektor Vieten, der als ein Vertreter der „saloppen Technokraten“ im Rathaus beschrieben wurde, dessen Handlungscredo „die Machbarkeit, ihre Meßlatte die Verwaltungsvorschrift“ gewesen sei.92 Seine bürokratische Sicht auf soziale Probleme, die für ihn „vorrangig eine Frage adäquater Definition [waren], deren Etikettierung die richtige Lösung garantiert“93 , ließ ihn zu konsequenter Härte in der Räumungsfrage mit Blick auf die Augenklinik neigen und dadurch bedingt zum Feindbild der Göttinger Häuserkampfszene werden. Erst recht wurde mit der Amtsübernahme von Lothar Will die Agenda der städtischen Polizei neu justiert, Konfrontation und Offensive statt Duldung und Vertrauensbildung, so schien es, bestimmten fortan den polizeilichen Alltag im Umgang mit den radikal linken Gruppen. Exemplarisch hierfür kann, abermals, das Aufflackern der Hausbesetzerszene im November 1986 gelten. Nachdem die Häuser im Schiefer Weg 29, in der Burgstraße 7 und am Theaterplatz 7 von Autonomen besetzt worden waren, ließ Polizeipräsident Lothar Will die Häuser gewaltsam räumen. Als sich die Besetzer*innen nach einer spontanen Protestdemo dann im Jugendzentrum Innenstadt (JuZI) versammelten, sah Will – als Haudegen und Hardliner ganz das Gegenbild zu seinem Amtsvorgänger Erwin Fritz – die Gelegenheit gekommen, auch hier einmal durchzugreifen. Kurzerhand beraumte er abermals eine Räumung an, dieses Mal samt einer massiven Personalaufnahme aller fassbar Anwesenden. Zwar war die Razzia richterlich abgesichert. Gleichwohl rief der „Göttinger Kessel“ schlagartig auch weit über 91 Vgl. Seipel, Offene Feindschaften, S. 81. 92 Vgl. ebd. 93 Ebd.

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Szenekreise hinaus eine hitzige Debatte über das Für und Wider von dergleichen Eingriffen in Schutzräume hervor. Und während sich Niedersachsens Innenminister Wilfried Hasselmann (CDU) wie auch die Polizei-Gewerkschaft Göttingen hinter Will stellten, formierte sich bereits tags drauf ein ProtestBündnis auf Seiten der Linken, dass rund 4.000 Leute umfasste, unter ihnen Oberbürgermeister Artur Levi, die Göttinger SPD (wenn auch noch unter Vorbehalt, denn sie forderte vom JuZI ein Bekenntnis zum Gewaltverzicht), die Grün-Alternative Liste (GAL) und die Landtagsfraktion der Grünen, aber auch der Jugendring, die Lehrerinitiative für Frieden und Abrüstung, die Regionalgruppe des republikanischen Anwaltsvereins, der DGB-Kreisverband sowie einige Göttinger Autoren im Verband deutscher Schriftsteller.94 Wenn auch mit weniger öffentlicher Aufruhr häuften sich dergleichen Vorfälle in den kommenden Jahren zunehmend. Nicht selten auch über den Rahmen rechtlicher Absicherung hinweg weitete die Göttinger Polizei unter der Direktive Wills ihre Befugnisse eigenmächtig kontinuierlich aus, um die lokale Linke gewissermaßen präventiv und eskalativ einzuhegen. Der radikale Häuserkampf in Göttingen war da schon lange Geschichte, er war in der ersten Hälfte der 1980er Jahre auch bundesweit einigermaßen eingeschlafen. Da sich die seit Beginn der 1980er Jahre etablierenden Autonomen in der Folgezeit zunehmend auf anderen Aktionsfeldern, insbesondere dem Antifaschismus bewegten, konnte sich die Häuserkampfbewegung seit Mitte der 1980er Jahre in gewisser Weise wieder auf ihren linksalternativen Freiraumgedanken und die Notwendigkeit, leerstehenden Wohnraum zu nutzen, besinnen. Dabei richtete sich die Orientierung erneut auch stärker auf die Konsensfindungsmöglichkeiten zwischen Kommunalpolitik und Hausbesetzer*innen. Der Protest wurde folglich wieder überwiegend gemäßigt vorgetragen. Das publizistische Potential des Häuserkampfes in Göttingen, besonders in der Alternativpresse, ebbte seit Anfang und dann besonders seit Mitte der 1980er Jahre ebenfalls ab. Nicht nur, weil die großen Erregungsmomente des vergangenen Jahrzehnts verschwunden waren; auch der universitäre und kommunalpolitische Kontext stellte sich nun anders dar. Der Göttinger AStA verlor seine linke Dominanz, und die Stadtverantwortlichen – nach kurzem CDU-FDP-Intermezzo war die SPD seit 1986 wieder in Führung – hatten längst umgedacht in Hinblick auf Wohnraumerhaltung und Stadtraumplanung.

94 Ebd., S. 255f.

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Autonomer Antifaschismus um 1989/90 Die in den 1980er Jahren zunehmend ins Rampenlicht tretenden Autonomen stehen – auch in Göttingen – in einer lockeren Traditionslinie, die vom antiautoritären Flügel des SDS über die undogmatischen Basisgruppen, die Spontis, Anarchos und am italienischen Operaismus orientierten Gruppierungen bis hin zu – wie gesehen – den „Nichtverhandler“-Fraktionen der frühen Hausbesetzerbewegung und dem militanten Flügel der Anti-AKW-Bewegung in den 1970er Jahren reicht. Als Gemeinsamkeit all dieser Zusammenhänge lassen sich einige Haltungen und Prinzipien herausdestillieren, die trotz ihrer latenten Umstrittenheit grundlegend wurden für die kollektive Identität jener Gruppen, die sich ab 1980 selbst als Autonome bezeichneten. Zum einen die „Politik der ersten Person“ mit dem Anspruch einer subjektivistischen Politik, die individuelle Selbstveränderung als mindestens ebenso wichtig ansieht wie die Veränderung der Gesellschaft, worin sich vor allem der Einfluss der Sponti- und Frauenbewegung widerspiegelt. Ein zweites Merkmal besteht in der Basisdemokratie, die sich in einem gegen Parteien und Staat gerichteten Anti-Institutionalismus äußert. Drittens lässt sich eine systemoppositionelle Haltung, die prinzipielle Gegnerschaft zur bestehenden politischökonomischen Ordnung nennen.95 Mit Bezug auf insbesondere diesen letzten Aspekt hat Matthias Manrique die Autonomen als „Entmischungsprodukt“ der Neuen Sozialen Bewegungen bezeichnet, sich unter der Bezeichnung Autonome mithin „tendenziell die radikalsten Kräfte aus den jeweiligen Gruppen und Bewegungen“96 zusammengefunden haben. Als zweite Hochphase der Göttinger autonomen Szene werden – nach der, wie gesehen, ersten Anfang der 1980er Jahre auf dem Aktionsfeld des Häuserkampfes – die späten 1980er Jahre angesehen, mit Ausläufern in die anschließende Dekade hinein. Seit Mitte der 1980er Jahre gab es in Göttingen vermehrt Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremen, autonomen Antifaschist*innen und Polizei. Die Autonomen erregten durch militantes Gebaren, Schwarze Blöcke und „Scherbendemos“ (Demonstrationen, bei denen planvoll Sachschä-

95 Vgl. Sebastian Haunss, Die Autonomen. Eine soziale Bewegung zwischen radikaler Gesellschaftskritik und Subjektivismus, in: René Schultens u. Michaela Glaser (Hg.), ,Linke Militanz‘ im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen, DJI, Halle (Saale) 2013, S. 26–46, hier S. 31. 96 Thomas Schultze u. Almut Gross, Die Autonomen. Ursprünge, Entwicklung und Profil der Autonomen Bewegung, Hamburg 1997, S. 38.

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den verursacht und vorzugsweise Schaufensterscheiben eingeworfen werden) bundesweit Aufmerksamkeit.97 Alles in allem fand sich Ende der 1980er Jahre in Göttingen, so der damalige niedersächsische Landtagsabgeordnete Jürgen Trittin, „eine entfaltete linke Struktur“98 . Doch obwohl oder gerade weil es seinerzeit diese entwickelte linksradikale Szene in Göttingen gab, blieben Stadt wie Umland politisch – im wahrsten Sinne des Wortes – umkämpft. Denn: Auch der politische Gegner war überaus präsent. So existierte zum Ende des Jahrzehnts ein verstärktes rechtsextremistisches Engagement in der Region, das sich in einer Verdreifachung rechtsextremistisch motivierter Straftaten zwischen 1987 und 1989 von jährlich 25 auf 83 niederschlug,99 weshalb Südniedersachsen nicht zu Unrecht – wenn auch angesichts gleichlautender Diagnosen zur militanten Linken vielleicht paradox anmutend – als eine Hochburg des Rechtsextremismus angesehen wurde. Auch parteiförmig war die extreme Rechte durch die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die Deutsche Volksunion (DVU) und die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) im Göttinger Raum vertreten.100 Der niedersächsische Landesvorsitzende der FAP, Karl Polacek, scharte in seinem Wohnhaus in Mackenrode, das als faschistisches Schulungszentrum und Kommandozentrale fungierte, gewaltbereite Skinheads um sich, die ihren Aktionsradius bis nach Göttingen ausweiteten.101 Ein Antifaschist erinnert sich: „Die damalige Situation war von permanenten faschistischen Überfällen gezeichnet. Alle Menschen, die nicht in das Weltbild der Nazis passen, ob Schwule, Lesben, Ausländer*innen, Linke, Behinderte oder Obdachlose, konnten sich in Göttingen und Umgebung nicht frei von Angst bewegen. Zusätzlich gab es Überfälle auf Wohnhäuser, Autos und das JuZI.“102 Göttingen erlebte also Auseinandersetzungen zwischen aus dem Umland in die Stadt reisenden Neonazis und dagegen mobilisierenden antifaschistischen Zusammenhängen, die Wochenende für Wochenende „in Alarmbereitschaft“ 97 Vgl. ebd. sowie Christoph Hoeft u. Jonas Rugenstein, „Göttingen Bullenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt.“ Die JuZI-Razzia vom Dezember 1986 und ihre Folgen, in: Franz Walter u. Teresa Nentwig (Hg.), Das gekränkte Gänseliesel, S. 250–261, hier S. 251. 98 O. V., Haß, Haß, Haß. In der alten Universitätsstadt Göttingen eskaliert die Gewalt – 1986 ist dort wie 1968, in: Der Spiegel, 08.12.1986. 99 Vgl. Nieradzik, Göttinger Autonome und ihre Gegner, S. 107. 100 Vgl. ebd., S. 110. 101 Vgl. Teresa Nentwig, „Conny heute von den Bullen ermordet“, in: Walter u. Nentwig (Hg.), Das gekränkte Gänseliesel, S. 262–270, hier S. 262. 102 O. V., Ein Angriff auf die Antifa-Selbsthilfe. Interview mit einem Angeklagten aus dem Mackenrode-Verfahren, in: nadir.org, URL: https://www.nadir.org/nadir/periodika/einsatz/ nr29/nr29h4.html [eingesehen am 07.04.2019].

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verbrachten und sich per Telefonkette unterrichteten, ob und wo rechtsextremistische Aktivitäten zu erwarten waren, um zu mobilisieren und so zumindest die Innenstadt „nazifrei“ zu halten.103 Der Kampf um den öffentlichen Raum wurde folglich erbittert geführt. Innerhalb der Stadtgesellschaft empfanden sich die entsprechenden Gruppen jedoch als isoliert: „Heute sind Aufrufe zur Zivilcourage Bestandteil jeder Sonntagsrede. Wir waren damals damit die Exoten und sind mit der Aufforderung, gegen Rechts einzugreifen, in der Stadt auf wirklich breite Ablehnung gestoßen.“104 Begleitet wurden die Auseinandersetzungen durch eine Göttinger Polizei, die damals teilweise, wie mitgeschnittene Funksprüche von Polizisten im Einsatz belegen,105 den antifaschistischen Zusammenhängen ausgesprochen kritisch gegenüberstand und Zusammenstöße mit Rechtextremisten zum Anlass nahm, die ersteren zukünftig „hautnah zu beobachten“.106 Hierfür wurden insbesondere die Zivilen Streifenkommandos (ZSK) eingesetzt, die durch die Überwachung von Szene-Treffpunkten und Personenkontrollen das autonome Spektrum beleuchten und die Mitglieder identifizierbar machen sollten.107 Größere antifaschistische Aktionen im Göttinger Umland fanden etwa am 17. Februar 1989 in Northeim gegen die dortige NPD-Jahreshauptversammlung statt, bei der es ein breites Bündnis mit der Stadtgesellschaft gab, was der gesamten Demonstration einen „schnarchig langweiligen Spaziergangcharakter“108 verlieh; oder am 25. März 1989 in Dassel, wo es einer Demonstration gelang, ein Skinheadtreffen zu verhindern.109 Auch gegen eine Veranstaltung der NPD im Rahmen des Europawahlkampfes in Göttingen am 13. Mai, bei der es zu teils gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam, wurde protestiert. Obwohl der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu einer konkurrierenden Gegenveranstaltung „in sicherer Distanz“110 zur NPD-Veranstaltung aufrief, fanden sich hier 2.000 Demonstrationsteilnehmer*innen ein. Zugleich offenbart dieses Beispiel die Spaltung im Kampf gegen Rechtsextremismus in die 103 O. V., Plötzlich waren wir die Gejagten, Interview mit „Sabine“, in: Antifaschistisches Infoblatt, 13.10.2002, URL: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/pl%C3%B6tzlich-waren-wir-diegejagten [zuletzt eingesehen am 11.02.2019]. 104 Ebd. 105 U. a. ein wörtlicher Ausspruch: „Kleines Loch hacken, reinschmeißen“, in: Antifaschistische Linke International, Medienbericht 1991.: Freund und Helfer?, URL: https://www.youtube. com/watch?v=WhzDKcmNB6w&app=desktop [eingesehen am 11.06.2019]. 106 Ebd. 107 Vgl. Nieradzik, Göttinger Autonome und ihre Gegner, S. 128. 108 Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen (Hg.), Dokumentation Antifaschistischer Widerstand in Südniedersachsen 1989. Erklärungen, Dokumente, Berichte, Plakate, Presse, Fotos, Göttingen 1990, S. 11. 109 Vgl. o. V., Skinhead-Treffen verhindert, in: die tageszeitung, 28.03.1989. 110 Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 51.

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Autonomen einerseits, die einen Führungsanspruch vertraten,111 und den DGB und weitere „staatstragende“ linke Kräfte andererseits.112 Die radikale Linke erweckte im Jahre 1989 also einen durchaus handlungsfähigen Eindruck. Vor diesem Hintergrund frohlockte ein Autonomer, nachdem es gelungen war, eine DVU-Veranstaltung im Rahmen des Europawahlkampf zu verhindern: „Im Klartext heißt das, die DVU hat Angst vor uns. Das heißt weiterhin, wir haben die Faschos durch die bloße Androhung unserer Militanz hier und heute zurückgedrängt.“113 Den tragischen Höhepunkt des Jahres 1989 bildete der Tod der Studentin Conny Wessmann am 17. November 1989. Die Minuten vor dem Ereignis, das zu ihrem Tod führte, lassen sich lückenlos rekonstruieren.114 Gegen 20:50 Uhr kam es vor der Göttinger Kneipe Apex zu einer Konfrontation zwischen Antifaschist*innen und Skinheads, in deren Verlauf zwei Skinheads verletzt wurden. Die übrigen Rechtsextremen wurden durch die Polizei zur Bushaltestelle Gothaer Haus gebracht, von wo sie die Stadt verließen. Kurze Zeit später traf eine weitere Gruppe Antifaschist*innen am Apex ein, zu der auch Conny Wessmann gehörte. Nachdem sie jedoch festgestellt hatten, dass die Situation bereits aufgelöst worden war, verließen sie den Ort des Geschehens. Dabei bemerkten sie, dass sie von der Polizei verfolgt wurden: „Da es öfters vorkommt, daß nach Auseinandersetzungen mit Neo-Nazis auch Unbeteiligte von der Polizei verfolgt, belästigt und mitgenommen werden, wurde den Antifaschist*innen klar, daß sie sich in einer bedrohlichen Situation befanden.“115 Die Gruppe, die zwischen Gericht und Finanzamt hindurch Richtung Campusgelände zu entkommen versuchte, wurde von Polizist*innen auf Höhe des Iduna-Zentrums aufgehalten und flüchtete weiter in Richtung Weender Landstraße. Beim Versuch, die Straße zu überqueren, wurde Conny Wessmann von einem Auto mit hoher Geschwindigkeit erfasst und durch die Luft geschleudert. Ein Notarztwagen konnte Minuten später darauf nur noch ihren Tod feststellen. Später wurde bekannt, dass dem Einsatz ein Funkspruch vorausging, die Gruppe könne ruhig „platt gemacht“ werden.116 Insbesondere solche „Sprüche“, die zunächst noch durch Polizeichef Lothar Will als „flapsig“ abgetan 111 112 113 114

Vgl. Nieradzik, Göttinger Autonome und ihre Gegner, S. 121. Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 44. Ebd., S. 74. Vgl. hier und im Folgenden Dokumentation: O. V., Conny ist tot. Wandelt Wut und Trauer in Widerstand. Dokumentation, Zeitungsartikel, Flugblätter (1989), URL: https://www.maoprojekt.de/BRD/NS/BRS/Goettingen_Antifa_in_Suednds_1989/Goe_1989_Doku_Conny_ ist_tot.shtml [eingesehen am 08.02.2019]. 115 Ebd. 116 Vgl. Sonja Girod, Protest und Revolte. Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Göttingen 2012, S. 267.

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wurden, erregten öffentlich die Gemüter, da sie Ausdruck des in der Polizei tradierten „Feindbildes kriminelle antifaschistische Linke“117 seien, das der „Aggressionsbereitschaft gegenüber Autonomen“118 zugrunde liege, wie selbst der konservative Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) bemerkte. Noch am Abend gab es die ersten Reaktionen. Zunächst brannten vor dem JuZI auf der Bürgerstraße einige Barrikaden, bevor eine Mahnwache mit 200–300 Teilnehmer*innen an dem Ort abgehalten wurde, an dem Conny Wessmann ums Leben gekommen war, „[d]ie erstmal viel sinnvollere Aktion, nämlich mit möglichst vielen Leuten zur Weender Landstraße zu gehen, um uns diese Straße mit einer Mahnwache für unsere Trauer, Wut und auch politischen Vermittlung der Umstände, die zum politischen Mord an Conny führten, zu nehmen […].“119 In Hamburg, Bielefeld und West-Berlin kam es ebenfalls zu teils gewaltsamen Demonstrationen.120 Auch am Folgetag gab es eine Demonstration mit einer beeindruckenden Teilnehmer*innenzahl von rund 2.000 Protestierenden. Einer erneuten Mahnwache an der Weender Landstraße folgte eine „Scherbendemo“, bevor am Abend eine weitere Mahnwache abgehalten wurde, die durch die Polizei unter Einsatz von Schlagstöcken geräumt wurde. Die Redebeiträge sahen die Schuld am Tod Conny Wessmanns eindeutig bei der Polizei, welche konsequent den Terror der Faschist*innen schützen würde.121 In autonomen Kreisen etablierte sich schnell die Sprachregelung, dass der Vorfall als Mord zu bewerten sei, der damit in eine Reihe mit Olaf Ritzmann (Hamburg, 1980), Klaus-Jürgen Rattay (West-Berlin, 1981) und Günter Sare (Frankfurt am Main, 1985), die alle bei Polizeieinsätzen starben, gestellt werden könne.122 Dabei sei der Einsatz typisch für das Vorgehen der ZSKs gewesen: „[W]ir nennen ihn mörderisch. Mord nicht im Sinne einer bewußten Tötungsabsicht, aber als Kalkül einer Einsatztaktik, die Tote in Kauf nimmt. Denn Menschenjagden ohne Rücksicht auf das Leben und die Gesundheit, von Verhältnis- und Rechtmäßigkeit ganz zu schweigen, eingeleitet mit einem Halali über Funk, sind mörderische Methoden.“123 Natürlich strahlte der Vorfall auch wieder in den universitären Betrieb sowie das studentische Leben aus. So verabschiedete die Uni-Vollversammlung eine Resolution, in der gefordert 117 Die Grünen Göttingen u. Kommunistischer Bund Gruppe Göttingen, Neofaschisten. Feindbilder, Menschenjagd, Polizeitradition, Sta.G., Signatur: FS 11 B 404. 118 RCDS-Göttingen, RCDS-Info: Conny, Sta.G., Signatur: FS 11 B 404. 119 Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 130. 120 Vgl. Jörn Barke, Vor 25 Jahren stirbt Conny W., in: Göttinger Tageblatt, 16.11.2014, URL: http://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/Goettingen/Vor-25-Jahren-stirbt-Conny-W [eingesehen am 13.02.2019]. 121 Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen, S. 141. 122 Vgl. ebd., S. 235. 123 Ebd., S. 244.

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wurde, polizeiliche Praktiken kritisch zu hinterfragen, da diese in ihrer „Repressionspolitik gegen linke Fundamentalopposition“124 unverhältnismäßig seien: „Die Polizei, gerade auch in Göttingen, ist mehr und mehr zu einem Instrument der Unterdrückung geworden. Der Polizeiangriff vom Freitag zeigt das überdeutlich. Hier wird eine Polizeistrategie sichtbar, die physische Verletzungen beabsichtigt und den Tod dabei billigend in Kauf nimmt.“125 Auch darüber hinaus zeitigte der Tod Cornelia Wessmanns „einen großen Integrationseffekt“;126 was sich auch eine Woche später zeigte, als am 25.11.89 zu einer Großdemonstration 20.000 Teilnehmer*innen mit einem in dieser Größe in Göttingen noch nie dagewesenen Schwarzen Block mit 2.500 bis 3.000 Autonomen mobilisiert wurden.127 Auch auf dieser Demonstration kam es zu Zusammenstößen zwischen Autonomen und Polizei, die Rede war gar von einer „Straßenschlacht“.128 Der Tod Conny Wessmanns verstärkte auch in der Göttinger Stadtgesellschaft das Bedürfnis, gegen den „Terror“ der Rechtsextremen zu handeln. „In dieser Zeit gründeten sich neue Gruppen, wie z. B. die Bürger*innen gegen Rechtsextremismus, viele jüngere Leute engagierten sich in der Antifa.“129 Widerstand regte sich zudem gegen die einseitige Berichterstattung über die Geschehnisse, die zu Wessmanns Tod führten, sowie gegen die Polizei, welche sich mit dem Vorwurf konfrontiert sah, rechte Gewalt zu ignorieren.130 Dadurch und durch das anhaltende Gedenken an ihren Tod – zunächst gab es wöchentliche, bald monatliche Mahnwachen – wurde Conny Wessmann zu einer Ikone der Göttinger Autonomen.131 Jedoch sorgte die Kooperation, die in breit angelegten Bündnisdemonstrationen ihren Ausdruck fand, wiederum für Kritik innerhalb des autonomen Spektrums, deren Argumente ebenso wiederkehrend und klassisch sind wie der Hader über bloße Kampagnenpolitik und mangelnde Organisiertheit. Konkret wurde kritisiert, dass trotz oder gerade wegen der Mobilisierung von 7.000 Protestierenden anlässlich des ersten Jahrestages von Wessmanns Tod die Vermittlung von genuin autonomen, politischen Positionen nicht mehr gelungen und somit der Widerstand insgesamt geschwächt worden sei: „Er besitzt nämlich keine politische Ausstrahlungskraft 124 Fachschaft-Basisgruppe-Geschichte, Zum Tod von Conny, Sta.G., Signatur: FS 11 B 404. 125 Resolution verabschiedet am 23.11.1989 von der Uni-Vollversammlung, Sta.G., Signatur: FS 11 B 404. 126 Nieradzik, Göttinger Autonome und ihre Gegner, S. 127. 127 Vgl. Nentwig, „Conny heute von den Bullen ermordet“, S. 262. 128 Vgl. Barke, Vor 25 Jahren. 129 O. V., Ein Angriff auf die Antifa-Selbsthilfe. 130 Vgl. Sören Maier, Eine Narbe im Asphalt, in: jungle world, 12.11.2009, URL: https://jungle. world/artikel/2009/46/39746.html [eingesehen am 13.02.2019]. 131 Vgl. Nentwig, „Conny heute von den Bullen ermordet“, S. 265.

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mehr, wenn er nur noch unter den gleichen Parolen und mit den gleichen Mitteln auftritt wie die bürgerlichen Kräfte, die natürlich unter diesen Parolen viel wirkungsvoller agieren können.“132 Autonomer Widerstand werde, so die Befürchtung, von „staatstragenden AntifaschistInnen“ vereinnahmt,133 die monatlich stattfindenden Mahnwachen besäßen kaum inhaltliche Bedeutung und würden lediglich als Ritual wahrgenommen.134 Auswärtige Gruppen von aus Berlin angereisten Autonomen hatten sich schon über den in weiten Teilen friedlichen Ablauf der Demonstration am 25.11.1989 und über die angebliche Unvermittelbarkeit von zerstörten Geschäften und eingeschmissenen Scheiben im Innenstadtbereich gewundert. Militanz, die tatsächlich stattfand, wirkte in ihren Augen mit der Polizei abgesprochen und folglich inszeniert, insgesamt wären die Möglichkeiten des Protestrepertoires nicht annähernd ausgeschöpft worden.135 In einem anderen, ebenfalls aus Berlin stammenden Dokument, das mutmaßlich aus der Feder desselben Autors stammt, heißt es: „Wir sind davon ausgegangen, daß es eine gute Demo wird, daß es einen großen autonomen Block geben wird, daß GenossInnen aus vielen Städten kommen werden. Und daß all dies zusammengenommen den Bullen ernsthafte Schwierigkeiten bereiten wird, weil eine militärische Konfrontation mit uns eine politische Niederlage für sie bedeuten kann, auch wenn sie uns einmachen. […] An diesem Punkt haben wir uns über das Ziel der Demo gewundert. Ihre politische Funktion schien darauf begrenzt, der Bevölkerung gegenüber Wut und Trauer zu artikulieren […] Es ist auch fragwürdig, was ihr für euch in Gö als ‚politisch sinnvoll‘ definiert habt, also ob die kaputten Scheiben von Banken und Kaufhäusern tatsächlich nicht verstanden werden. Wenn das in dieser Situation nach dem Mord und nach der Aufklärungsarbeit danach nicht vermittelbar ist, wann dann?“136 Im Vordergrund der Berliner Kritik stand die Inszenierung des autonomen Protestes, der aus der Sicht der Großstadt-Autonomen darauf ausgelegt war, ein Signal an die Göttinger Bevölkerung zu senden. Statt politische Gelegenheitsfenster wahrzunehmen, habe es ein „Stillhalte-Angebot“137 gegeben, auf militante Aktionen in Kleingruppen zu verzichten, obwohl es allein zahlenmäßig selten eine solch gute Möglichkeit dazu gegeben habe. 132 133 134 135

O. V., Autonomer Widerstand 1990/1991. Region Südniedersachsen, Göttingen 1991, S. 38. Vgl. ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. Beitrag eines Westberliner Autonomen in der Dokumentation vom 25.11.1989, Sta.G., Signatur: C 5 Nr. 522. 136 Irgendjemandsonstwerwasweißich, Liebe Genossinnen und Genossen, Sta.G., Signatur: C 5 Nr. 522. 137 Ebd.

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Jedoch: Auch die Berliner Autonomen betonten, dass sich die Aktionen an den politischen Gegebenheiten vor Ort orientieren müssten. Und sie schienen in ihrer einseitigen Emphase der Tat, im Wunsch nach Konfrontation mit der Polizei als Repräsentantin des gesamten staatlichen Repressionsapparates sowie der Sehnsucht nach demolierten Geschäftsfassaden, die gleichsam stellvertretend für das globale kapitalistische System stünden, zu übersehen, dass diese Aktionen vor allem eines sind: symbolisch. Und eine Antwort auf das Standardproblem autonomen Agierens lieferte die geharnischte Berliner Kritik auch nicht. Gemeint ist das generelle Unbehagen angesichts eines erratischen Hangelns „von einer Kampagne zur nächsten“, die diagnostizierte schiere „Kurzlebigkeit“ der strategischen Handlungsperspektiven, der damit verbundene Mangel an „zukunftsorientiertem Eigenen“ und das Fehlen einer „gründlichen inhaltlichen Auseinandersetzung“ mit den eigenen Irrtümern und Erfolgen, um aus den erworbenen Erfahrungen für die Zukunft zu lernen und sich nicht ziellos im Kreis zu drehen. Das als „wichtigste Frage für den autonomen Widerstand in der Zukunft“ identifizierte Organisationsmanko jedenfalls ließ sich durch punktuell erfolgreiche, momenthaft Endorphine freisetzende Schlachten mit dem politischen Gegner, wie sie von den Berlinern erhofft wurden, nicht beheben.138 Doch vielleicht hielten Teile der Autonomen mit ihrer Forderung nach Zukunftsorientierung in der Organisationsdebatte rhetorisch an etwas fest, das sie zur Begründung militanten Handelns tatsächlich längst schon entbehren konnten. In einer klugen Analyse stellte zumindest Claus Leggewie im zeitlichen Zusammenhang mit den hier betrachteten Ereignissen die These auf, dass beide Gruppen – Antifaschist*innen wie Rechtsextreme – in ihrer jeweils eigenen extremen Normalität gefangen und in ihrer wechselseitigen Hassbeziehung zugleich aufeinander angewiesen seien. Die menschenverachtende Ideologie der Neo-Nazis, die sich im Göttingen der 1980er Jahre in ihren völkischen und rassischen Spielarten nicht nur gegen Ausländer*innen oder Homosexuelle, sondern auch gegen Andersdenkende und zunehmend auch gegen linke Strukturen wie das JuZI und die hier verkehrenden Personen richtete, provozierte die Reaktionen der Autonomen:139 „Und je mehr die Gegner der Faschisten zur militanten Bürgerwehr, zu Selbstjustiz übenden Kontaktbereichsmilizen verkommen, umso mehr verfallen sie der negativen Faszination durch einen Gegner, den sie militärisch niederzuhalten trachten, aber politisch zur eigenen Rechtfertigung dringender denn je brauchen.“140

138 O.V, Autonomer Widerstand 1990/1991, S. 4. 139 Vgl. Claus Leggewie, Die Republikaner. Ein Phantom nimmt Gestalt an, Berlin 1990, S. 167. 140 Ebd., S. 168.

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Ende der Militanz? – die Göttinger Situation heute Seit 1990 – mittlerweile waren die Nachteile des autonomen Politikverständnisses hinreichend deutlich geworden, vor allem die geringe organisatorische Kontinuität und personelle Bindekraft der Szene, der auch daraus resultierende permanente Verlust von Erfahrungswissen, dessen Folge wiederum sich ständig unproduktiv im Kreis drehende Diskussionen waren, sowie der strategisch wirkungslose Symbolcharakter autonomer Demonstrationspolitik – warb dann an führender Stelle die Autonome Antifa (M) aus Göttingen für eine Neuausrichtung autonomer Politik.141 Die Gruppe fasste ihre Krisenanalyse in der Organisationsdebatte der frühen 1990er Jahre so zusammen: Die fehlende politische Kontinuität und Verbindlichkeit der Autonomen würden eine langfristige Theorie und Praxis unmöglich machen; außerdem würden große Teile der autonomen Szene nur noch am Erhalt der von ihnen erkämpften Nischen arbeiten, in der sinnlosen Hoffnung nach einer Auflösung jeglicher Herrschaftsstrukturen in vermeintlich selbstbestimmten Räumen. Da diese Hoffnung sich ebenso wenig erfülle wie die, mit einer unendlichen Reihe von unverbindlichen Plena zu einzelnen Projekten Menschen einzubinden, würden viele aus Enttäuschung, fehlender Lebensperspektive und Frust bald wieder aussteigen. Dies auch deshalb, weil die Szenestruktur nur eine bestimmte Schicht von Leuten anspreche, meist jüngere Menschen in der Ausbildungsphase, die in der Szene ihre Sturm- und Drang-Phase durchlebten, nach deren Ende sie angepasst Berufskarriere, Familiengründung, Eigentumsbildung planten.142 Die Bestrebungen u. a. der Antifa (M) mündeten 1992 in dem Bündnis AA/BO, Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation. Die Bündnispolitik der AA/BO in die Mitte der Gesellschaft und ihre aktive Medienpolitik blieben natürlich in dieser Zeit nicht kritiklos. In einem Interview mit der Zeitschrift radikal zum Beispiel wurde Mitgliedern der Göttinger Antifa (M) vorgeworfen, nicht radikal genug zu sein: „Genau diese Forderung ‚Weg mit 129/129a‘ meine ich aber. Damit fordert man eine kleine Verbesserung/Reformierung in einem ganz kleinen Teil von diesem Apparat, dem Strafgesetzbuch. Damit wird nicht nur das Strafgesetzbuch als solches anerkannt, sondern auch die herrschende Justiz und damit natürlich das System. Nur eine kleine Sache soll verändert werden, der Rest ist schon ok. Wenn das kein Reformismus ist...“143

141 Vgl. f.e.l.s, Heinz-Schenk-Debatte, URL: http://fels.nadir.org/de/heinz-schenk [eingesehen am 13.12.2019]. 142 Autonome Antifa [M]: Es war einmal... Antifa (M) zur AA/BO, in: Arranca!, H. 5/1994, URL: https://archive.arranca.org/ausgabe/5/es-war-einmal [eingesehen am 17.12.2019]. 143 O. V., Interview mit der Antifa (M), in: radikal, Jg. 13 (2000), URL: https://radikal.squat.net/ 154/60.html [eingesehen am 24.01.2020].

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Rund fünf Jahre nach der Auflösung der AA/BO im Jahr 2001 entstanden in deren Nachfolge zwei post-autonome Bündnisse, die heute zu den zentralen Akteuren des autonomen Linksradikalismus gezählt werden: Die Interventionistische Linke (IL) und das „umsGanze“-Bündnis. Vor allem die Interventionistische Linke schien zuletzt an bundesweitem Einfluss zu gewinnen. Die Ziele der IL sind im Grunde dieselben wie die der autonomen Organisationsavantgarde der 1990er Jahre: Der Ausweg aus der selbstverschuldeten Marginalisierung der autonomen Bewegung soll über die verbindlichere Organisation der Bewegung gefunden werden: „Wir wollen Strukturen, die Verantwortlichkeiten klären, Ansprechbarkeit realisieren, Transparenz schaffen, Beteiligung ermöglichen und Entscheidungen treffen können. Die Bedingung jeder überregionalen organisierten Struktur ist eine thematische und funktionelle Aufgabenteilung. Dazu gehört die bewusste Delegation und Rotation von Aufgaben und die Schaffung von koordinierenden und organisierenden Gremien – und natürlich deren Begleitung durch solidarische Kritik und demokratische Kontrolle durch (möglichst) alle Genoss_innen.“144 Außerdem will die Gruppe über Bündnisse in die Gesellschaft hineinwirken: „Wir gehen davon aus, dass nur gesellschaftliche Blöcke, also strategische Bündnisse, zu denen revolutionäre und moderate Linke gehören, in der Lage sein werden, Kräfteverhältnisse zu verschieben und Basis dafür zu schaffen, erfolgreich Machtfragen stellen zu können. Wir wollen ein Teil einer solchen pluralen Linken mit unterschiedlichen Strömungen sein, weil wir wissen, dass wir nur gemeinsam stärker werden können – und nicht die eine Strömung auf Kosten der anderen.“145 Die Ziele mögen annähernd dieselben geblieben sein, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und auch die angewandten Mittel aber haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten fundamental gewandelt. Vor allem in den 1970er Jahren war es nicht zuletzt der harten internen Konkurrenz und teils der Form regelrechter Feindschaften zwischen diversen Fraktionen der radikalen Linken geschuldet, wenn militante Gegnerschaften zu den herrschenden Verhältnissen in Gewaltexzessen kulminierten. Das zeigte sich lokalräumlich, da die verschiedenen K-Gruppen – und noch stärker die zahlreichen Zusammenschlüsse der den Idealen der Basisdemokratie und Dezentralität huldigenden Spontis – in unterschiedlichen Städten ihre Hochburgen besaßen und ihr szeneinternes Renommee aus besonders spektakulären Aktionen in 144 Interventionistische Linke: Dritte Phase – Organisierung und Organisation, einsehbar unter: http://www.interventionistische-linke.org/dritte-phase-organisierung-und-organisation [eingesehen am 12.04.2018]. 145 Interventionisitische Linke: Was uns eint, einsehbar unter: http://www.interventionistischelinke.org/was-uns-eint [eingesehen am 12.04.2018].

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ebendiesen Organisationszentren und deren dadurch verbürgter Rangstellung als Szenezentren zogen, weshalb eine medienwirksame Kampagne der einen Gruppe in „ihrer Stadt“ verlässlich von einer anderen Gruppe in einer anderen Stadt zu überbieten versucht wurde. Das Rauschhafte der Militanz, das von Beteiligten in Rückblicken immer wieder beschworene Gefühl von Stärke, Gemeinsamkeit, Solidarität; der Impuls, mitgerissen zu werden und der allgemeinen Atmosphäre nicht widerstehen zu können, also ohne jede im Vorfeld gefasste Intention plötzlich selbst zu schreien, die Fäuste zu recken und Gegenstände zu werfen; die spontane Emotionswallung, der gegenüber jeder Gedanke an die Vermittelbarkeit der Gewalt, an ihren Sinn und Zweck sowie die mittel- und langfristigen Effekte des Krawalls zurücktreten – dieser Rausch ist heute weitestgehend verflogen. Denn ein solcher situativer Rausch lässt sich nicht vollkommen beliebig erzeugen, er braucht den Glauben an eine gleichsam strukturelle Erfolgsaussicht. In den 1970er Jahren wirkte der Rausch der Militanz auch deshalb nicht ansatzweise so abwegig wie im 21. Jahrhundert, da die linken Aktivist*innen in der Blütezeit der Neuen Sozialen Bewegungen und des Alternativmilieus, von Massenmilitanz und marxistisch-leninistischen K-Gruppen auch abseits der obendrein viel alltäglicheren und zahlenstärkeren Demonstrationen die Überwindung des Kapitalismus als realistisch erreichbar ansahen und sich mit der Zukunft im Bunde fühlen konnten – nicht zuletzt, weil mit Nicaragua und Simbabwe, China, Albanien und auch Kambodscha, so absurd das mittlerweile anmuten und bei genauerem Zusehen auch seinerzeit schon gewesen sein mag, vermeintliche Systemalternativen bestanden, die als revolutionäre Musterstaaten bereist und deren Führer idolisiert werden konnten. Mit ihrer Ablehnung geschlossener Großtheorien, ihrer Aktionsorientierung und Selbstverwirklichungsmaxime stehen die (Post-)Autonomen von allen ihren Vorläuferströmungen am stärksten in der Tradition der undogmatischen Spontis der 1970er Jahre. Das gilt nicht zuletzt auch für die Neigung beider Ausdrucksformen des linken Radikalismus, gezielt die vorgegebenen Regeln zu brechen, die direkte Konfrontation mit der Staatsgewalt nicht zu scheuen und der disziplinierten, in Reih und Glied geordneten Massendemonstration den unberechenbaren Formenreichtum einer unkoordinierten Kleingruppentaktik vorzuziehen. Infolgedessen galten (und gelten) die Spontis wie später die Autonomen als Matadore eines aufständischen Anarchismus, auch Insurrektionalismus genannt, und mithin der linken Militanz. Von dem Göttinger Ableger der Spontis, der „Bewegung undogmatischer Frühling“, kurz: BUF, gibt es nun ein interessantes Dokument, welches in seinem Erscheinungsjahr 1977 deutschlandweit eine enorme mediale und politische Resonanz erzeugte und das nicht zuletzt aufschlussreiche Passagen zum Gewaltund Militanzverständnis der Vertreter*innen eines linken Radikalismus im

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Sinne von Hans Manfred Bock146 enthält – zumindest jener in Göttingen zur Zeit des Deutschen Herbstes, da der Text in den göttinger nachrichten, der Zeitung des AStA der Universität Göttingen, abgedruckt wurde, dem die BUF zu dieser Zeit angehörte, weshalb der Text keine bloße Einzelmeinung im Widerspruch zu den übrigen Gruppenmitgliedern gewesen sein dürfte. Bei diesem Text, der in diesem Beitrag bereits ausführlich erwähnt wurde, hier aber noch einmal unter anderen Gesichtspunkten herangezogen werden soll, handelt es sich um den Nachruf des Mescalero alias Klaus Hülbrock auf den zuvor von der Roten Armee Fraktion (RAF) erschossenen Generalbundesanwalt Siegfried Buback.147 Aufschlussreich ist der Text vor allem mit Blick auf das darin zum Ausdruck kommende Gewalt- und Militanzverständnis. So kritisiert Hülbrock die Delegitimierung linker Radikalität durch die Mordanschläge der RAF, die wie eine Aufstandsbekämpfung „andersherum“ wirken würden, da sie die Gegenseite zu umso härterem Vorgehen gegen linke Systemkritiker veranlassten und einen „unfreiwilligen Beitrag dazu (leisteten), sie fertig zu machen“. Er beschreibt sodann die selbstzerstörerischen Dynamiken des Lebens im Untergrund, ständig gejagt und gesucht, „abgeschnitten von alltäglichen persönlichen und politischen Zusammenhängen“, zu ständiger Konspirativität gezwungen, selbst die simpelsten Gewohnheiten, wie einkaufen gehen, Müll wegbringen, Filme schauen, sind mit dem Risiko der Enttarnung und Verhaftung verbunden. Damit einher gehe die Verengung des Denkens auf „Logistik und Ballistik“ und eine Enthumanisierung der Akteur*innen, die doch ursprünglich durch die Empörung über allfällige Ungerechtigkeiten in den Untergrund gegangen sind, nun aber bei ihren Anschlägen nicht zuletzt „in Kauf nehme(n), daß auch ein anderer dabei draufgeht, ein dritter vielleicht querschnittsgelähmt sein wird etc.“ In einer Demokratie wie jener der Bundesrepublik in den 1970er Jahren, so Hülbrock noch grundsätzlicher, liege „die Entscheidung zu töten (…) bei der herrschenden Macht“, „bei Richtern, Bullen, Werkschützern, Militärs, AKWBetreibern“. Kurzum: Die „Strategie der Liquidierung, das ist eine der Strategien der Herrschenden“. Für die radikale Linke dagegen konstatiert Hülbrock die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Zielen und Mitteln immer im Blick zu behalten – und wiederholt damit ein Argument der Apologeten des gewaltlosen Widerstands, die auch schon zu jener Zeit mit Vorliebe darauf verwiesen, dass eine gewaltfreie Zukunftsgesellschaft sich nicht gewaltvoll gleichsam herbeibomben ließe. Daher gelte: „Was wir auch tun: es wirft immer ein Licht 146 Siehe die Einleitung in diesem Band. 147 Hierzu und im Folgenden Johannes Agnoli u. a. (Hg.), „Buback – ein Nachruf “, Juni 1977, URL: https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019770519_0.pdf [eingesehen am 11.01.2020].

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auf das, was wir anstreben.“ Und daraus wiederum ergebe sich: „Wir werden unsere Feinde nicht liquidieren. Nicht in Gefängnisse und nicht in Arbeitslager sperren und deswegen gehen wir doch nicht sanft mit ihnen um. Unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt (wenn auch nicht ohne Aggression und Militanz), eine Gesellschaft ohne Zwangsarbeit (wenn auch nicht ohne Plackerei), eine Gesellschaft ohne Justiz, Knast und Anstalten (wenn auch nicht ohne Regeln und Vorschriften oder besser: Empfehlungen) dieser Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel (…)“ Hier klingt Hülbrock geradezu abgeklärt, indem er als Ziel nicht leichterhand das Ideal einer vollkommenen Gesellschaft skizziert, der Konflikte gänzlich fremd geworden wären, da infolge der Herstellung absoluter ökonomischer, politischer und sozialer Gleichheit unter den Menschen auch alle psychischen, charakterlichen, bewusstseinsmäßigen Differenzen und sämtliche zwischenmenschlichen Rivalitäten beseitigt worden seien – sondern im Duktus eines Reformers eher denn Revolutionärs graduelle Verbesserungen beschreibt. Indem Hülbrock schreibt, „ohne Terror und Gewalt (wenn auch nicht ohne Aggression und Militanz)“, setzt er Gewalt und Militanz einander als unvereinbar gegenüber. Zwar nimmt er diese Entgegensetzung kurz darauf teilweise zurück, indem er von „Gewalt/Militanz“ schreibt, was eine Gleichsetzung beider Begriffe insinuiert und ganz nebenbei ein weiterer Beleg der Schwierigkeiten der radikalen Linken bei der Verständigung auf ein präzise definiertes Gewaltverständnis ist – eine Schwierigkeit, die, wie sich bei Hülbrock zeigt, nicht nur zwischen den verschiedenen Fraktionen der radikalen Linken und auch nicht nur innerhalb der jeweiligen Gruppenkollektive verläuft, sondern ebenso durch die individuellen Akteure hindurch. Gleichwohl: Als tödliche, Menschenleben riskierende Gewalt versteht Hülbrock linke Militanz nicht, da der „Weg zum Sozialismus (…) nicht mit Leichen gepflastert werden“ darf. Mit auf den Weg gibt er der Linken stattdessen einerseits die „Tagesaufgabe“, einen „Begriff und eine Praxis zu entfalten von Gewalt/Militanz, die fröhlich sind und den Segen der beteiligten Massen haben“, und andererseits die Mahnung, Linke dürften „keine Killer sein, keine Brutalos, keine Vergewaltiger“. Hülbrocks Buback-Nachruf dürfte insofern ein Schlüsseldokument des Gewalt- und Militanzverständnisses der Spontis und Autonome wie Postautonome verbindenden militanten Linken seit den ausgehenden 1970er Jahren sein. Die seither dominante Bestimmung von Militanz in der radikalen Linken bezieht zwar eine terroristische Gruppe wie die RAF in ihre Versuche der Traditionsbildung mit ein. Auch zeigt sich immer wieder die Sogwirkung des noch Radikaleren auf Radikale und die zumindest verbale Bewunderung der Letzteren für die Ersteren, jene also, die bis zum Äußersten gegangen sind und für den linken Kampf ihre Zukunftsperspektiven und oftmals auch ihre Leben geopfert haben.

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Auch dieser Aspekt der Idealisierung der zugespitztesten Form des Radikalismus in der Figur des Märtyrers findet sich schon in dem Buback-Nachruf aus dem Jahr 1977: „Ich habe auch über eine Zeit hinweg (wie so viele von uns)“, so Hülbrock, „die Aktion der bewaffneten Kämpfer goutiert; ich, der ich als Zivilist noch nie eine Knarre in der Hand hatte, eine Bombe habe hochgehen lassen. Ich habe mich schon ein bißchen dran aufgegeilt, wenn mal wieder was hochging und die ganze kapitalistische Schickeria samt ihren Schergen in Aufruhr versetzt war. Sachen, die ich im Tagtraum auch mal gern tun tät, aber wo ich mich nicht getraut habe sie zu tun.“ Ganz ähnliche Empfindungen haben offensichtlich die Aktivist*innen der Göttinger postautonomen Gruppe Antifaschistische Linke International (A.L.I.) bewogen, als sie im Jahr 2017 aus Anlass des 40. Jahrestages der „Offensive 77“ – gemeint sind die Morde an Buback, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto und dem Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer sowie die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu – auf ihrer Website einen Text mit dem Titel „Die RAF ist Teil unserer Geschichte“ verlinkten.148 Hierin heben sie „unsere Verbundenheit mit den GenossInnen der RAF“ hervor, sehen sich im Kampf gegen den früher wie heute gleichen Staat „auf der gleichen Seite der Barrikade“ stehend und „verneigen“ sich „vor den GenossInnen, die in diesem Kampf ihr Leben gegeben haben“. Als besonders vorbildlich erscheint jenen, die bei aller Radikalitätsromantik diese Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst nicht aufbringen, die „konsequente Haltung“ der RAF-Mitglieder, die „bewusst das Angebot der privilegierten Teilhabe im imperialistischen Zentrum ausgeschlagen (haben)“ und den „Bruch mit diesem System eingegangen (sind)“. Pathetisch heißt es: „Ihr Opfer galt auch unserer Befreiung. Das werden wir niemals vergessen.“ Und geradezu ölig salbungsvoll: „Der Kampf geht weiter!“, auch im Original mit Ausrufezeichen. Zugleich betont aber auch die A.L.I., dass die RAF mit ihrer „Blutsfehde“ gegen die Bundesrepublik „gescheitert“ sei, als „Impulsgeber und Schutz für Bewegung auf der Straße“ versagt habe und sie „ihrer eigenen Theorie nicht gerecht“ geworden wäre. „Theorie und Praxis der RAF“ seien deshalb „nicht die unseren“. Obendrein wirft die A.L.I. selbst in diesem schwülstig triefenden Text das unverändert fortbestehende Problem der „Frage der Mittel“ auf, deklariert auch sie, dass der Zweck die Mittel nicht heiligt und erkennt den „Widerspruch zwischen dem Ziel einer gewaltfreien, befreiten Gesellschaft und der zu ihrer Errichtung notwendigen Gewaltausübung“.

148 Hierzu und im Folgenden Antifaschistische Linke International (A.L.I.), Die RAF ist Teil unserer Geschichte, URL: https://www.inventati.org/ali/index.php/archiv/solidaritaet/2024die-raf-ist-teil-unserer-geschichte.html [eingesehen am 23.02.2020].

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Das erinnert dann auch ohne direkte oder indirekte Verweise alles sehr an Hülbrock 1977, der die autoritäre Gewalt der RAF zugunsten einer antiautoritären Militanz überwinden wollte und statt der Gewalt Al Capones, offenem Straßenterror und gewalttätigem Hass in selbstermächtigter Stellvertretung des sogenannten „Volkes“ forderte, links-militante Aktionen müssten sich durch Anschlussfähigkeit, Zielangemessenheit und provokativen, die Herrschenden entlarvenden Witz auszeichnen – womit Hülbrock damals aber ein Umdenken bei Teilen der radikalen Linken anstoßen wollte, während heute dergleichen zum Allgemeingut auch der verbalradikalsten Segmente der Göttinger Linken geworden ist. Sowieso gilt: Wenn Militanz im engeren Sinne nicht nur eine geheime Vorbereitung der gruppenbezogenen Unternehmungen impliziert und allerlei Schutzvorkehrungen gegen Spitzel. Wenn sie vielmehr eine streng hierarchische Gliederung voraussetzt und eine strikte Ausrichtung an Befehls-GehorsamsVerhältnissen in einer regelrechten Guerilla-Organisation; wenn sie die so agierenden Gruppen jede Offenheit für Kritik und Entscheidungsfindungen von unten nach oben einbüßen lässt und den involvierten einzelnen jeder Möglichkeit beraubt, aus der militanten Organisation im Fall von unüberbrückbaren Differenzen wieder auszutreten, da jeder Abtrünnige aus Sicherheitsgründen als potentieller Verräter betrachtet und behandelt werden muss; und wenn dieser aus Sicherheits- und Verfolgungsgründen gruppenintern ebenso radikale wie inhumane Umgang miteinander im Fall des Verdachtes auf Verrat oder Befehlsverweigerung die bloße Alternative Freispruch oder Todesstrafe lässt, geurteilt von als „Militärgericht“ selbstdeklarierten Gruppenausschüssen – wenn dies oder Ähnliches, wie der Politikwissenschaftler Theodor Ebert definiert hat, eine gewaltausübende militante Organisation kennzeichnet, dann sind alle gegenwärtig bestehenden Göttinger Gruppen denkbar weit davon entfernt, systematisch gewalttätige Zusammenschlüsse zu sein.149 Das bedeutet dann aber, dass die oft beschriebenen Folgen der Gewaltanwendung für die Aktivist*innen der gewaltausübenden Gruppe, als da wären die der Gewalt notwendig zugrundeliegende Verabsolutierung des eigenen Standpunktes als richtig, die Überzeugung, selbst ebenso vollständig im Recht zu sein wie der Gegner im Unrecht, ebenso wie die aus der Gewaltausübung resultierenden „pathologischen Lernprozesse“, welche zur Ausblendung wichtiger Informationen und perspektivisch zur Gewaltanwendung nicht bloß gegen ausgemachte Gegner, sondern auch gegen „sympathisierende Kritiker“ führen, vermutlich auf die Göttinger Gruppen der radikalen Linken nicht oder doch nur sehr eingeschränkt zutreffen. 149 Vgl. hierzu und im Folgenden Theodor Ebert, Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg, Frankfurt a. M. 1970, S. 19f.

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Annahmen dieser Art zur nurmehr eingeschränkten Militanz, ja Militanzfähigkeit, der radikalen Linken in der südniedersächsischen Universitätsstadt werden strukturell untermauert durch die gut ausgebaute Infrastruktur linker Projekte, auf welche die (post-)autonome Szene zurückgreifen kann. „Diese Orte“, so Florian Schmidt, „sind keine genuin autonomen Orte, die einfach aus losen Netzwerken entstehen und im Rhythmus der autonomen Bewegung mal hier auftauchen und dann wieder verschwinden. Sie sind zwar von einem subjektivistischen Politikverständnis geprägt, das den Wandel der Gesellschaft auch primär als Revolution des eigenen Lebensumfeldes versteht, aber das Militanz-Kriterium, das immer wieder als Charakteristikum der autonomen Bewegung angeführt wird“, werde von ihnen – und das gelte auch für die zentralen Szene-Orte wie das JuZI, den T-Keller und dern Buchladen Rote Straße – „nicht erfüllt“.150 Als mustergültiges Symbol für den Charakter des Göttinger Linksradikalismus dürften die Vorgänge rund um die Besetzung und Legalisierung des ehemaligen Gewerkschaftshauses in der Obere-Masch-Straße 10 genannt werden können – gerade auch vor dem Hintergrund der Geschichte des Göttinger Häuserkampfes. Am 5. November 2015 besetzte eine Gruppe von Aktivist*innen das Haus, um „praktische Soldiarität“ mit jenen zu üben, „die auf der Suche nach menschenwürdigen Lebensbedingungen nach Europa geflohen sind“. In den Räumen des leerstehenden, aber im Besitz des DGB befindlichen Hauses wurden von den Aktivist*innen Wohnmöglichkeiten und Treffpunkte eingerichtet, die Geflüchteten, welche in Göttingen gestrandet waren, eine Unterkunft bieten sollten. Statt in offener Feldschlacht gewannen die Aktivist*innen das Gebäude kampflos, durch Spenden und Direktkredite, mit deren Hilfe sie es kauften.151 Und auch die Uni als Zell- und Nervenkern der Göttinger radikalen Linken ist längst nicht mehr das, was sie dereinst war, auch sie spiegelt den Wandel in dem Untersuchungsgegenstand dieses Beitrages. Zwar gibt es nach den Wahlen des Studentenparlaments (Stupa) an der Uni Göttingen aktuell wieder einen „linken“ AStA, von einer Dominanz linker politischer Gruppen kann dennoch im 21. Jahrhundert auch in Göttingen keine Rede mehr sein. Die mit weitem Abstand größte Einzelgruppe im Stupa stellt seit langem schon die ADF, die durch ihre Fachschaftenliste zwar nah an den Studierenden, insofern also basisnah ist, sich ansonsten aber zu weltanschaulicher Neutralität und hochschulpolitischer Serviceorientierung bekennt. Überhaupt kommen jene Gruppen, die sich pragmatisch in der Mitte sehen, ebenso wie jene, die ausdrücklich im Vorfeld der 150 Florian Schmidt, Die autonome Szene in Göttingen, Göttingen 2018, unveröff. MS, S. 7f. 151 OM10, Ein Jahr OM10. Rückblick – Ist-Zustand – Ausblick, URL: https://omzehn.noblogs. org/?page_id=732 [eingesehen am 12.04.2018].

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letzten Studierendenparlaments-Wahlen keine Koalitionsvariante ausschlossen, auf 28 Sitze im Studentenparlament. Und in der Frage Hochschulpolitik versus allgemeinpolitisches Mandat, die in den 1970er und 1980er Jahren wiederkehrend für Konflikte zwischen den auf ihr allgemeinpolitisches Mandat pochenden Asten und der Hochschulleitung sorgte, vereinen heute diejenigen Gruppen eine absolute Mehrheit der Stimmen und Stupa-Sitze auf sich, die ihre Aufgabe so verstehen, die Interessen der Studierenden im Hochschulbereich zu vertreten und sich nicht in allgemeinpolitische Streitfragen einzumischen. Die ausdrücklich linken Gruppen kommen dagegen bei einer absoluten Mehrheit von 32 Sitzen nur auf 29 Sitze. Von einem Mandat für eine linke Politik aus, wie es so schön heißt, „einem Guss“ kann daher keine Rede sein.152 Entsprechend wehmütig blickt der hier bereits mehrfach zitierte Reimar Paul auf die von ihm so empfundene Entpolitisierung der Göttinger Georgia Augusta. „Keine Wandzeitungen, keine Flugblattschlachten, keine Plakate an den Mauern, keine Agitation per Megafon mehr.“ Statt die nächsten Schritte auf dem Weg zum Umsturz der herrschenden Verhältnisse zu planen, würden sich die Studierenden auf dem Campus in ihre Smartphones separierend vertiefen oder eine kurze Verschnaufpause einlegen zwischen zwei so begeisterungslos wie pflichtbewusst besuchten Seminaren zum Zweck möglichst effizient erworbener Kreditpunkte auf dem zielstrebig verfolgten Weg zum Hochschulabschluss. Im Zentralen Hörsaalgebäude werde für „Events“ anstelle von Demonstrationen geworben, auf Postern, die im Unterschied zu früheren Zeiten nicht wild und wahllos auf- und übereinander geklebt, sondern ordentlich und „vorgabengemäß“ nebeneinander aufgehängt worden seien. Die Fachschaften schließlich würden ihre Rechenschaftsberichte aushängen, wo in den 1970er und 1980er Jahren Streiks und Vollversammlungen angeschlagen gestanden hätten.153 Damals, so Paul – und das galt, wie einer der Autoren dieses Textes aus eigener Anschauung weiß, auch noch in den 1990er Jahren – habe sich das politische Leben „auf dem Campus oder in der Zentralmensa“ abgespielt, in der Mensa habe man die Flugblätter studiert, die auf der Treppe in den Essensbereich verteilt wurden, fast täglich von fast jeder Gruppe ein neues, 152 Vgl. hierzu Tammo Kohlwes, Wahlen an der Universität Göttingen. So werben die Hochschulgruppen, in: Göttinger Tageblatt, 11.01.2020; ders., Hochschulwahlen in Göttingen: Das sind die Ergebnisse, in: Göttinger Tageblatt, 17.01.2020. Ausdrücklich keine Koalition ausschließende Gruppen (ADF (21), Volt (3), LHG (2), Nordcampus (2) = 28 Sitze); Gruppen, die sich pragmatisch-neutral sehen (ADF (21), Volt (3), Internationale Liste (0), LHG (2), Nordcampus (2) = 28 Sitze); Gruppen, die auf Hochschulpolitik statt allgemeinpolitisches Mandat setzen (ADF (21), RCDS (5), Volt (3), Internationale Liste (0), LHG (2), Nordcampus (2) = 33 Sitze); Linke Gruppen (GHG (13), Jusos (8), Alternative Linke Liste (ALL) (7), SRK (1) = 29 Sitze). Die absolute Mehrheit liegt bei 32 Sitzen. 153 Vgl. Paul, In Bewegung, S. 8.

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dies in jenem Essensbereich, in dem die günstigeren „Stamm“-Essen serviert wurden, weil der von linken Studierenden dominiert wurde, wohingegen der teurere „Wahlessen“-Bereich „hauptsächlich von Studenten der rechten Fakultäten besucht wird, also den Juristinnen und Juristen und den ‚Wiwis‘ – das sind die Wirtschaftswissenschaftler“154 Kurzum: Gleichgeblieben ist allenfalls die Akademiker-Dominanz des linken Radikalismus in Göttingen. In den letzten Jahren hat der Politikwissenschaftler Eitan Hersh wiederholt etwas beschrieben, das er „politischen Hobbyismus“ genannt hat und das sich auch auf den modernen Linksradikalismus nicht zuletzt in Göttingen münzen lässt.155 Politischer Hobbyismus meint – einerseits ganz allgemein, andererseits speziell auf unseren Untersuchungsgegenstand in diesem Text bezogen – ein politisches Engagement, das wie andere Hobbys auch gleichsam außerhalb des Erfahrungsbereiches des eigenen alltäglichen Lebens angesiedelt ist; meint Aktivitäten wie die Beteiligung an Petitionen, die man unterzeichnet, und die Verbreitung politischer Stellungnahmen die man in den sozialen Medien schreibt und teilt. Solchermaßen als Hobbyismus betrieben, ist Politik reiner Zeitvertreib. Mit Blick auf die radikale Linke und unter Bezugnahme auf innerlinke Kritiken an der Jagd nach Adrenalinschüben in der Straßenschlacht lässt sich politischer Hobbyismus als Praxis deuten, in der Aufregung, Spannung, Genuss gesucht und die Sehnsucht nach Aufruhr als Selbstzweck befriedigt wird. Es handelt sich hierbei um einen Linksradikalismus jenseits existenzieller Gründe und ohne wirkliche Veränderungsperspektive, ja sogar recht eigentlich ohne ernsthafte Veränderungsambition, mithin eine Verflachung des revolutionären Impetus und einen Linksradikalismus des kritischen Jungbürgertums, der sich – ganz im Wortsinne des Hobbyismus – auf die Wochenenden beschränkt und zu einer Feierabend- und Freizeitpraxis gewandelt hat. Hier schließt sich freilich noch einmal der Kreis zum Mescalero Klaus Hülbrock. Wenn Hülbrock 1979 im Kursbuch unter seinem Mescalero-Pseudonym von seinem „Rumpelstilzchen-Vergnügen“ schreibt, „unerkannt zu bleiben und zugleich aus nächster Nähe all jene Prozeduren zu betrachten, die nacheinander aus mir ein armes theoriefeindliches Würstchen, einen Feigling, einen Terrorsympathisanten machten, der vielleicht schon morgen zum Schießeisen greifen könnte, um seiner mühsam zurückgehaltenen Mordlust endlich nachzugeben“156 ; wenn er sodann darauf insistiert, all das nicht gewesen zu 154 Ebd., S. 24f. 155 Vgl. Eitan Hersh, Politics is for Power. How to Move Beyond Political Hobbyism, Take Action, and Make Real Change, Scribner, New York 2020. 156 Hierzu und im Folgenden Mescalero, Memoiren eines im Amt ergrauten Stadtindianers oder: Versuch, eine Karriere in Nichts aufzulösen, in: Karl Markus Michel u. Harald Wieser (Hg.),

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sein, sondern „während jener Zeit (ein) braver Insasse einer Schlafsiedlung, der niemandem unangenehm auffiel“, ein „biederer Hundeliebhaber und Waldgänger, verzweifelter Schuldner vieler Gläubiger, Sammler und Händler von Trödel und Nippes, Skatspieler, Fernseher, durch und durch mitten drin und nicht alternativ, eingesessen und gut genährt und Mitglied eines politischen Männerstammtisches, der seine windigen Zelte an einer starken Neigung zur Trunksucht aufgeschlagen hatte“; wenn er selbst schlussfolgert, all das sei „weder besonders lustig noch besonders subversiv, aber auch nicht zum Heulen“ gewesen – wenn Hülbrock seinen Alltag so schildert, dann entspricht das beinahe mustergültig dem Tun und Lassen eines politischen Hobbyisten. Eine ernsthafte, auf nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen und nicht nur situativen individuellen Lustgewinn abzielende politische Partizipation sieht so, jedenfalls Hersh zufolge, gerade nicht aus. Diese setze vielmehr die Bereitschaft zu längerfristig angelegter, hartnäckig und kontinuierlich betriebener Einmischung voraus, wie sie zum Ausdruck komme in dem Aufbau und der Mitgliedschaft in politischen Organisationen, in der Entwicklung und Bewerbung konkreter gesellschaftlicher Gestaltungsvisionen und dem Streben nach Mehrheitsfähigkeit sowie der ausdrücklich gewollten Einflussnahme auf die legislativen und exekutiven Entscheidungszentren – nach oben durch Information und Diskussion, um die bestehenden Eliten für ein Umdenken zu gewinnen, ebenso wie nach unten durch Protestartikulation und Mobilisierung, um die Eliten auszutauschen. All das – der Austausch mit den Mächtigen, der Eintritt in oder die Gründung von Parteien, die Teilnahme an Wahlen, die Öffnung zur Gesellschaft hin und die beständige Umsetzung perspektivischer Ziele – aber ist der militanten Linken und insbesondere ihren Kerngruppen aus dem autonomen wie post-autonomen Spektrum auch heute noch ein Gräuel, wenngleich bei letzterem etwas abgeschwächt.

Kursbuch 58. Karrieren. Kursbuch/Rotbuch Verlag, Berlin 1979, S. 21ff.; vgl. auch o. V., Eine Begegnung mit Klaus Hülbrock, in: taz, 10.02.2001.

Europäische Fallbeispiele

Barbara Fontanellaz

Linksradikalismus in der Schweiz: Historische Entwicklungslinien, Gefährdungspotenziale und Ansätze einer linken Ethnologie Wie aktuell öffentlichkeitswirksame Aktionen linksradikaler Gruppierungen sind, kann anhand verschiedener Ausschnitte aus der Tagespresse dokumentiert werden. Kundgebungen oder Aktionen werden in aller Regel dann zum Thema, wenn dadurch aufgezeigt werden kann, dass sich die Lage entweder entschärft oder sich eine Verschärfung abzuzeichnen scheint. In diesem Zusammenhang steht zumeist die Einschätzung des Gewaltpotenzials im Zentrum. So schreibt die Neue Zürcher Zeitung anlässlich der 1. Mai-Kundgebung in Zürich im Jahre 2017: „Linksextreme Gruppierungen haben den 1. Mai traditionell für Nachdemos und eine Kraftprobe mit der Polizei genutzt – was immer wieder zu Vandalenakten und Schäden geführt hat. Letztmals kam es indes im Jahr 2011 zu größeren Ausschreitungen, als die Polizei nicht weniger als 550 Personen festnahm. Seither beschränkte sich der Konflikt auf kleinere Scharmützel; nicht zuletzt, weil die Polizei die Veranstaltung mit großem Aufgebot begleitet und Nachdemos so bereits im Keim erstickt hat.“1

In einem Zeitungsbericht des Tages Anzeigers vom 27. April 2018 ist Folgendes zu lesen: „Die Ausschreitungen in der Berner Reitschule vom Wochenende haben eines restlos klargemacht: Niemand hat die Kontrolle über das von Tausenden Nachtschwärmern frequentierte alternative Kulturzentrum. Wie sonst ist es zu erklären, dass Vermummte ungehindert auf das Dach der Reitschule steigen konnten, von dort Polizisten in einen Hinterhalt locken und sie mit Steinen bewerfen konnten? Wie sonst ist es möglich, dass sich die Täter nach dem Angriff ungehindert in der Reitschule verstecken konnten?“2

Diese beiden Berichterstattungen aus jüngster Zeit sind nicht zufällig ausgewählt. Bei näherer Betrachtung enthalten sie wesentliche Merkmale eines 1 O. V., Was Zürich am 1.Mai erwartet, in: Neue Zürcher Zeitung, 01.05.2017, URL: https://www. nzz.ch/zuerich/aktuell/tag-der-arbeit-was-zuerich-am-1-mai-erwartet-ld.1288808 [eingesehen am 30.11.2018]. 2 Adrian Müller, Das Eigengoal der Bewegten, in: Tages Anzeiger, 27.04.2018, URL: https://www. tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/das-eigengoal-der-bewegten/story/31517632?track [eingesehen am 30.11.2018].

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zeitgenössischen medialen Diskurses und sind gleichzeitig das Ergebnis langjähriger Entwicklungen, welches vor dem Hintergrund der über hundertjährigen Geschichte linken politischen Protests in der Schweiz rekonstruiert werden kann. Als Akteure hinter den beiden Ereignissen stehen Organisationen, welche sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben. Zudem finden sich in den Berichterstattungen Narrative, die weder neu noch überraschend sind. Es dominieren Angaben über Schadenshöhe, Gefährdungspotenzial, Polizeieinsatz und -taktiken, die Berichterstattung dreht sich vorwiegend um sicherheitspolitische Aspekte. Bemerkenswert dabei ist, dass wir in keiner Weise etwas über den politischen Gehalt der Aktionen erfahren. Um jedoch das öffentliche Interesse und die potenzielle Explosivität solcher Aktionen nachvollziehen und einordnen zu können, müssen diese Aspekte in den Blick genommen werden. Deshalb werden im Rahmen dieses Beitrags verschiedene Zugänge gewählt, mit dem Ziel, Linksradikalismus aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten: entlang historischer Entwicklungslinien, hinsichtlich sicherheitspolitischer Debatten sowie bezüglich der Frage, wie sich die historischen und gesellschaftlichen Diskurse innerhalb von Gruppierungen manifestieren und wie sie zum Ausdruck gebracht werden. Historische Entwicklungslinien: Partei- und Protestgeschichte in der Schweiz Sich auf Basis wissenschaftlicher Literatur einen Überblick über die Geschichte (radikaler) linker Strömungen zu verschaffen, macht schnell deutlich, dass diesbezüglich nur wenige Publikationen vorliegen. Die vorgefundene Literatur lässt sich über drei unterschiedliche Zugänge systematisieren: Erstens findet eine Auseinandersetzung aus sozialhistorischer Perspektive statt, welche sich mit den Anfängen linken Protestpotenzials und der Gründung der kommunistischen Partei in der Schweiz beschäftigt.3 Zweitens findet eine Zuwendung zu diesem Gebiet statt, welche die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten und gesellschaftlichen Bedingungen zur Genese extremistischer Gruppierungen und unkonventioneller politischer Partizipationsformen in den Vordergrund rückt.4

3 Vgl. Hans Ulrich Jost, Linksradikalismus in der Deutschen Schweiz. 1914-1918, Bern 1973; Marino Bodenmann, Zum 40. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei der Schweiz, Zürich 1961; Peter Stettler, Die Kommunistische Partei der Schweiz. 1921-1931, Bern 1980. 4 Vgl. Hanspeter Kriesi u. a. (Hg.), Politische Aktivierung in der Schweiz. 1945-1978, Diessenhofen 1981; ders., Die Zürcher Bewegung, Frankfurt a. M. 1984; Dominique Wisler, Drei

Linksradikalismus in der Schweiz

Eine dritte Form der Auseinandersetzung nimmt das Jugendalter in den Fokus, mit dem Ziel, Jugendproteste, Jugendbewegungen sowie Jugendszenen aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren oder diese zu dokumentieren.5 Je nach Zugang stehen parteigeschichtliche Entwicklungen, Protestereignisse oder das politische Gesamtsystem im Vordergrund, wobei sich diese unterschiedlichen Perspektiven – wie noch zu zeigen sein wird – lediglich systematisch voneinander trennen lassen, gleichwohl aber in enger Beziehung zueinander stehen. Weiter kann mittels dieser Auseinandersetzung auf spezifische Aspekte und Charakteristika im Umgang mit sozialistischen Strömungen und revolutionärem Gedankengut in der Schweiz aufmerksam gemacht werden. Der Landesgeneralstreik 1918 und die Gründung der Kommunistischen Partei 1921 Der Landesgeneralstreik im Jahre 1918 gilt als das bis heute einschneidendste Protestereignis in der Schweizer Geschichte. Vor dem Hintergrund politischer und sozialer Spannungen manifestierte sich im Landesgeneralstreik der erste offene Konflikt zwischen dem bürgerlichen Machtmonopol und sozialistischem Gedankengut.6 Die damals herrschende wirtschaftliche Notlage führte zu einer Verschärfung der sozialen Lage, wodurch insbesondere die Arbeiterschicht betroffen war. Dem Streikaufruf durch das Oltener Aktionskomitee,7 ein Führungsstab der Schweizer Arbeiterschaft, folgten 400.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. In einem 9-Punkte-Programm8 wurde die Streikparole festgehalten. Obwohl einzelne der eingeklagten Ansprüche später verwirklicht werden

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Gruppen der Neuen Linken auf der Suche nach der Revolution, Zürich 1996; Hans Boller, Jugendradikalisierung und Neue Linke in der Schweiz, Zürich 1976. Vgl. Heinz Nigg (Hg.), Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich 2001; Stapferhaus Lenzburg (Hg.), A walk on the wild side. Jugendszenen in der Schweiz von den 30er Jahren bis heute, Zürich 1997; Sozialdemokratische Partei der Stadt Zürich (Hg.), Eine Stadt in Bewegung. Materialien zu den Zürcher Unruhen, Zürich 1980; Andreas Petersen, Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900-1930. Eine Studie zur Radikalisierung der Jugend, Zürich 2001. Vgl. Jost, Linksradikalismus. Vgl. Bernard Degen, Oltener Aktionskomitee, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 02.11.2009, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D27678.php [eingesehen am 07.07.2018]. „1. Sofortige Proporzwahl des Nationalrates, 2. Aktives und passives Frauenwahlrecht, 3. Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht, 4. Einführung der 48-Stunden-Woche, 5. Reorganisation der Armee im Sinne eines Volksheeres, 6. Sicherung der Lebensmittelversorgung, 7. Alters- und Invalidenversicherung, 8. Staatsmonopol für Import und Export, 9. Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden.“ Bodenmann, Gründung der Kommunistischen Partei der Schweiz, S. 9.

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konnten (z. B. Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV 1947; Invalidenversicherung IV 1960; Frauenstimmrecht 1971), blieb das sozialistische Gedankengut weiterhin verfemt und revolutionäre Ideen konnten sich im Laufe der Zeit immer weniger durchsetzen. Im Vergleich zu anderen Ländern ergibt sich somit eine spezifische Situation für die Linke in der Schweiz, welche bis heute nachwirkt. „Die Schweiz war und ist heute noch ein guter Nährboden für den Opportunismus und Reformismus. Unser Land blieb zum Glück außerhalb des Krieges. Mit Ausnahme des Landesgeneralstreiks, der, weil er von seinen Führern verraten wurde, die Arbeiter enttäuschte und in die Passivität trieb, fanden keine die gesamte Arbeiterschaft umfassenden Kämpfe statt. Revolutionäre Erfahrungen fehlen, und selbst das Klassenbewusstsein ist nicht in der gesamten Arbeiterschaft verankert.“9

Trotz des Verrats des Generalstreiks durch seine Führer bricht die Entwicklung linker politischer Positionen in der Schweiz nicht ab, sondern wird mit der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahr 1919 bzw. 1921 fortgesetzt und parteipolitisch verankert. 1919 beschreibt das Gründungsjahr der „alten K.P.“, 1921 das Gründungsjahr der „offiziellen K.P.“10 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass mit der Parteigründung im Jahre 1921 die radikale Linke aufgefangen und damit das vertretene revolutionäre Gedankengut unterdrückt wurde und verloren ging.11 Die 1921 gegründete Kommunistische Partei der Schweiz wurde während des Zweiten Weltkrieges durch den Bundesrat verboten, ebenso die kommunistische und linkssozialistische Presse und Propaganda. Kommunistische Agitation wurde in die Illegalität verbannt. Erst im Jahre 1944 ging aus Diskussionen zwischen der verbotenen Kommunistischen Partei der Schweiz sowie den Sozialdemokraten, welche um die Wiederherstellung der Einheit der politischen Arbeiterbewegung kreisten, die Partei der Arbeit Schweiz (PdAS) hervor. Diese besteht bis heute, ist in mehreren Schweizer Landesteilen politisch aktiv und besetzt verschiedene politische Ämter. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mit der Gründung der Kommunistischen Partei im Jahre 1921 sich diese im Rahmen parlamentarischer Politik – neben der Sozialdemokratischen Partei Schweiz (SPS) sowie der alternativen Linken – hat halten und etablieren können.

9 Ebd., S. 33ff. 10 Vgl. Stettler, Die Kommunistische Partei der Schweiz. 11 Vgl. Jost, Linksradikalismus, S. 12.

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Jugendunruhen der 1960er und 1980er Jahre In den westlichen Demokratien erwachte in den 1960er Jahren das linke politische Protestpotenzial nach einer längeren Phase der Stagnation in mehreren Ländern gleichzeitig, so auch in der Schweiz. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff der „Neuen Linken“ als Selbstzuschreibung intellektueller Gruppierungen geprägt.12 Eng mit diesem Begriff verknüpft ist die theoretischideologische Ausrichtung: „Die ,Neue Linke‘ wollte sich mit dem Adjektiv ,neu‘ gleichermaßen vom Marxismus-Leninismus wie von der Sozialdemokratie absetzen. Zugleich griff die ,Neue Linke‘ auf alte Vorbilder zurück. In ihrem Ideengut vermengten sich radikaldemokratische, maoistische, anarchistische und trotzkistische Vorstellungen.“13 Das Gedankengut der „Neuen Linken“ trug auch in der Schweiz wesentlich zur ideologischen Ausrichtung der 1968er-Protestbewegung bei. Auf organisatorischer Ebene entstanden unterschiedliche Gruppierungen, welche ihren größten ideellen Einfluss Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre erreichten.14 Die damals in Erscheinung tretenden Ereignisse gingen als „Globuskrawalle“ in die Schweizer Protestgeschichte ein.15 Proteste richteten sich gegen erstarrte demokratische Strukturen, gefordert wurden selbstverwaltete Räume, autonome Jugendhäuser. Ohne diese Ziele erreicht zu haben – und hier zeigen sich Analogien zum Landesgeneralstreik – flaute diese Bewegung durch das Ausbleiben weiterer Mobilisierungserfolge bald ab und entzog so den revolutionären Organisationen ihren Nährboden.16 Die auf der Ebene des Klassenkampfs stehenden Organisationen wie „Klassenkampf “ und die „Zürcher RAZ“17 lösten sich im Zuge dessen Mitte der 1970er Jahre auf. „Eine Epoche geht zu Ende. Die revolutionären Träume, Hoffnungen, das System ’von oben’ durch eine direkte Konfrontation mit dem Staat zu wandeln, sind ausgeträumt, und es ist eine Besinnung der Bewegungen auf sich selbst zu beobachten.“18 Mit diesem Zitat wird nicht nur das Ende einer Ära beschrieben, sondern gleichzeitig eine Veränderung angedeutet, welche mit den Jugendunruhen zu Beginn der 1980er Jahre (wieder) aufleben wird. Es handelt sich dabei um die Entwicklung weg von einer revolutionären Perspektive hin 12 Vgl. Uwe Backes u. Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, S. 329ff. 13 Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004, S. 88. 14 Vgl. Boller, Jugendradikalisierung. 15 Vgl. Wisler, Drei Gruppen der Neuen Linken; Stapferhaus Lenzburg, A walk on the wild side. 16 Vgl. Boller, Jugendradikalisierung, S. 108; Wisler, Drei Gruppen der Neuen Linken, S. 109. 17 Vgl. Wisler, Drei Gruppen der Neuen Linken, S. 109. 18 Ebd., S. 108f.

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zur Etablierung alternativer (Sub-)Kulturen. Die Gründe für diese Entwicklung werden neben den ausbleibenden Mobilisierungserfolgen und der Abkehr von revolutionären Ideen jedoch auch darin gesehen, dass die Konfrontation mit der „repressive[n] Responsivität des Gesamtsystems dazu beigetragen hat, die ersten Manifestationen jugendlicher Militanz zu brechen.“19 Erst die Jugendunruhen zu Beginn der 1980er Jahre, welche „an Intensität und Breitenwirkung alle vergleichbaren Ereignisse in der Schweiz der Nachkriegszeit bei weitem“20 übertrafen, griffen einige der bereits formulierten Forderungen wieder auf, und ehemalige ProtagonistInnen der 1968er-Bewegung sowie jugendliche AktivistInnen beteiligten sich am Aufbau einer gegenkulturellen Infrastruktur. Das explosive Potenzial dieser Bewegung wird zum einen auf die Starrheit des politischen Systems zurückgeführt, welches sich durch eine Vernachlässigung der Interessen neuer Minderheiten sowie durch mangelnde Dialogbereitschaft seitens der Behörden mit jugendlichen Protestbewegungen ausgezeichnet habe, zum anderen aber auch als Reaktion auf die zunehmende Kolonialisierung von Lebenswelten im privaten und öffentlichen Bereich gesehen: „Die Öffentlichkeit staunte über diese neu entstandene soziale Bewegung, die mit Fantasie verblüffte und mit Gewaltbereitschaft erschreckte. Obwohl ihre Anliegen – neue Wohnformen, kulturelle Freiräume, Legalisierung weicher Drogen, Kampf dem Überwachungsstaat – und ihr Slogan ,Wir wollen die ganze Stadt!‘ damals auf begrenztes Verständnis stießen, nahm sie viele Themen vorweg, die die Gesellschaft bis heute beschäftigen.“21

Auf ideeller Ebene stand nicht mehr das Ziel eines revolutionären Umsturzes im Zentrum, sondern der Aufbau kultureller Freiräume sowie die Möglichkeit zur Verwirklichung alternativer Lebensformen. Entstanden sind in diesem Zeitraum zahlreiche autonome (Jugend-)Zentren, unter anderem das Kulturzentrum „Reitschule Bern“,22 welches auf ein nunmehr dreißigjähriges Bestehen zurückblicken kann. Ein Blick auf deren Veranstaltungslisten zeigt, dass ein reichhaltiges kulturelles Programm angeboten wird, welches die Möglichkeit bietet, sich mit Themen wie Nationalismus, Migration, Globalisierung, Rassismus, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung etc. auseinanderzusetzen. Die eigene

19 Boller, Jugendradikalisierung, S. 108. 20 Daniel Weber, Eruptionen II. Jugendbewegung 1980: Das AJZ als ein Stück Utopie, in: Lenzburg, A walk on the wild side, S. 285–287, hier S. 285. 21 Nigg, Wir wollen alles, S. 10. 22 Homepage der Reitschule Bern, URL: http://www.reitschule.ch/reitschule/ [eingesehen am 06.07.2018].

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Geschichte wird in verschiedenen Publikationen und Chronologien zusammengefasst.23 Die politischen und öffentlichen Debatten über die Reitschule bewegten (und bewegen) sich zwischen den Polen Wichtigkeit für den sozialen Zusammenhalt und somit Legitimation des alternativen Kulturzentrums bzw. Ablehnung und der Forderung nach Schließung oder Räumung. Diese Debatten schlugen sich auch in entsprechenden Aktionen nieder. 1982 wurde die Reitschule erstmals geräumt, in den darauffolgenden Jahren folgten weitere Räumungen, Räumungsandrohungen oder politische Vorstöße zur Aufhebung des Kulturzentrums. Bereits fünfmal stimmte die Berner Stimmbevölkerung über die Zukunft der Reitschule ab. Vorschläge zur Aufhebung des Kulturzentrums wurden dabei stets abgelehnt. Zuletzt wurde 2010 über eine Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) zum Verkauf des Gebäudes abgestimmt und diese mit 68,4% Nein-Stimmen abgelehnt. Seit 2004 besitzt die Reitschule offiziell einen Mietund Leistungsvertrag mit der Stadt Bern. Die „organisierte“ Linke Neben der Rekonstruktion der Etablierung alternativer Kulturzentren und der damit vollzogenen „Wende nach innen“,24 welche in den Jugendunruhen der 1980er Jahre ihren Ausganspunkt findet, gilt es, sich einer weiteren Entwicklungslinie zuzuwenden. Aus dem Vakuum der Linken, das sich Mitte der 1970er Jahre in der Aufsplitterung zahlreicher Organisationen und Interessengruppen manifestierte, ging 1992 die Gründung des „aufbaus“ hervor, mit dem Ziel, die unorganisierte Linke zu vereinen.25 Oder in den Worten des Extremismusberichts der Schweiz aus dem Jahr 2004: „Entstanden ist der Revolutionäre Aufbau aus Bemühungen, das nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstandene politische Vakuum in der linksextremen Szene der Schweiz zu füllen.“26 Der im Zuge der Jugendproteste der 1980er Jahre vollzogenen Wende nach innen steht der „Revolutionäre Aufbau“ – eine auf ideeller Ebene sich als marxistischleninistisch verstehende Organisation – kritisch gegenüber:

23 Vgl. ebd. URL: http://www.reitschule.ch/reitschule/?geschichte [eingesehen am 13.07.2018]. 24 Hanspeter Kriesi, Warum brannte Zürich so heftig?, in: Nigg, Wir wollen alles, und zwar subito!, S. 225–228, hier S. 226. 25 Vgl. Subversion, Der Offensive der Bourgeoisie die revolutionäre Perspektive entgegensetzen!, H. 17/1995, S. 4. 26 Vgl. o. V., Extremismusbericht, Bericht des Bundesrates zum Extremismus in der Schweiz vom 25. August 2004, S. 5041, URL: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2004/5011. pdf [eingesehen am 07.07.2018].

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„In diesem politischen Vakuum formierte sich anfangs der 80er Jahre eine Bewegung, die zwar eine latente Unzufriedenheit und Anti-Staatshaltung an den Tag legte, aber diese Grundhaltung politisch nicht überwinden konnte. […] Die Klassenfrage stand nicht im Zentrum der Politik. Viele sahen den Widerspruch zwischen den Metropolen und dem Trikont und/oder den Geschlechtswiderspruch als Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft. […] Diese politische Widerstandsbewegung ist per se weder revolutionär noch proletarisch.“27

Das erklärte Ziel, der unorganisierten Linken eine Organisationsform zu geben, kann aus heutiger Perspektive insofern als erfolgreich eingestuft werden, als es dem „aufbau“28 gelungen ist, im Laufe der Jahre in verschiedenen Schweizer Städten lokale Strukturen aufzubauen. Einige wesentliche Merkmale der Organisationsform sind: Aufteilung in verschiedene Arbeitsgruppen, Hierarchisierung der Bedeutung unterschiedlicher politischer Felder innerhalb des „aufbaus“, Programm zur Einführung in das politische Denken Jugendlicher29 sowie eine seit Jahrzehnten aktive und in der Öffentlichkeit bekannte Exponentin und Identifikationsfigur, die wiederholt mediale Aufmerksamkeit erlangte.30 Inhaltlich im Zentrum steht die politische Auseinandersetzung mit Themen wie „Antifa, Arbeitskampf, Frauenkampf, Internationalismus, Rote Hilfe, Stadtentwicklung, Widerstand“.31 Weiter steht der „aufbau“ mit linksextremen Gruppierungen aus verschiedenen Ländern in Verbindung. Als ausschlaggebend für das langjährige Bestehen des Revolutionären Aufbaus kann – neben einer Orientierung stiftenden inneren Organisationsform – auch der Umstand gewertet werden, dass es durch die Politisierung aktueller gesellschaftlicher Themen32 immer wieder gelungen ist, auf AktivistInnen zählen zu können und bei Aktionen und Kundgebungen mit zahlreichen SympathisantInnen zu rechnen. In diesem Zusammenhang kann die These formuliert werden, dass die Übernahme einiger dieser Themen als Reaktion auf demokratische Transformationsprozesse zu interpretieren ist bzw. der 27 Subversion H. 17/1995, S. 24. 28 Vgl. die Homepage der Zeitung Aufbau, URL: https://www.aufbau.org/ [eingesehen am 06.07.2018]. 29 Vgl. Barbara Fontanellaz, Auf der Suche nach Befreiung – Politik und Lebensgefühl innerhalb der kommunistischen Linken. Eine sozialwissenschaftliche Analyse zum Phänomen des „Linksextremismus“ in der Schweiz, Bern 2009, S. 167–170. 30 Jürgen Krebs, Wegen Aufruf zu Gewalt – Basler Staatsanwaltschaft geht gegen Revolutionären Aufbau vor, in: bz.ch, URL: https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/wegen-aufruf-zu-gewaltbasler-staatsanwaltschaft-geht-gegen-revolutionaeren-aufbau-vor-132281659 [eingesehen am 20.03.2019]. 31 Aufbau, Über uns, URL: https://www.aufbau.org/index.php/home-4 [eingesehen am 17.07.2018]. 32 Aufbau, Zeitung für revolutionären Klassenkampf und Frauenkampf, H. 2/1996, S. 2.

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Mobilisierungserfolg eben gerade darin besteht, dass von Seiten etablierter Politik und Parteien für neue soziale Probleme keine ausreichenden Lösungen präsentiert werden können. Regelmäßig in Erscheinung tritt der „aufbau“ bei den 1. Mai-Kundgebungen in Zürich, wie dies u. a. dem eingangs zitierten Zeitungsausschnitt der Neuen Zürcher Zeitung zu entnehmen ist. Zwischenfazit Mit diesem kurzen Rückblick auf die Entwicklungslinien linker politischer Bewegungen in der Schweiz wird deutlich, dass für das Verstehen von Protestereignissen und Unruhen die Berücksichtigung des politischen Umfelds einen wesentlichen Faktor darstellt, die Explosivität der Proteste immer auch in Abhängigkeit der Offenheit bzw. Geschlossenheit des gesamtpolitischen Systems zu betrachten ist33 und die gesellschaftliche Bedeutung und damit auch der Umgang mit alternativen politischen Aktionsformen Ausdruck eines tief verankerten kulturellen und politischen Selbstverständnisses sind. Zum Verständnis des Umgangs mit linksradikalem und sozialistischem Gedankengut in der Schweiz erweisen sich zusammenfassend folgende Aspekte als zentral: 1. Es fehlt an revolutionären Erfahrungen. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf eine die gesamte Arbeiterschaft umfassende Bewusstseinsbildung, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen parteiund protestgeschichtlichen Ereignissen. Exemplarisch wird für die 1968erBewegung konstatiert, dass kaum Literatur vorhanden sei, die Epoche von der Gesellschaft vergessen und die Akteure begraben worden seien. Erklärend wird hinzugefügt: „Das moderne Frankreich ist aus einer Revolution hervorgegangen, die Schweiz aus kontinuierlichen Reformen. Dort lebt der revolutionäre Mythos noch, hier gilt er als subversiv.“34 2. Daraus ergibt sich eine spezifisch marginalisierte gesellschaftliche Position für revolutionär und sozialistisch agierende Akteure und Gruppierungen – und zwar unabhängig vom historischen Zeitpunkt ihres Auftretens.35 3. Weiter kann auf die repressive Responsivität durch das politische Gesamtsystem hingewiesen werden.36 Dass sich in dieser Hinsicht bis heute we-

33 Vgl. Kai-Uwe Hellmann u. Ruud Koopmanns (Hg.), Paradigmen der Bewegungsforschung. Entstehung und Entwicklung von Neuen sozialen Bewegungen und Rechtsextremismus, Opladen 1998. 34 Wisler, Drei Gruppen der Neuen Linken, S. 16. 35 Vgl. Jost, Linksradikalismus, S. 12. 36 Vgl. Jost, Linksradikalismus (für die 1920er Jahre); Boller, Jugendradikalisierung (für die 1970er Jahre); Kriesi, Warum brannte Zürich so heftig? (für die 1980er Jahre).

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nig geändert hat, zeigt sich unter anderem in der Berichterstattung der Extremismus- und Lageberichte des Bundesrates seit 2004.37 4. Und schließlich zeigt der Blick in die Geschichte der revolutionären Linken, dass die eingeklagten Forderungen von Seiten der AktivistInnen jeweils zum Zeitpunkt ihres Auftretens heftig umstritten waren und bekämpft wurden. Weder im Landesgeneralstreik von 1918 noch in den Jugendunruhen der Jahre 1968 oder 1980 war eine sofortige Umsetzung möglich, obwohl diese durch die Vorwegnahme gesellschaftlich relevanter Themen progressiven Charakter zeigten, die in aller Regel Jahre später gesamtgesellschaftlich etabliert werden konnten. Sicherheitspolitische Diskurse und Extremismus-Statistiken in der Schweiz Vor diesem Hintergrund ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, dass der Linksextremismus –im Gegensatz zum Phänomen des Rechtsextremismus38 – in den letzten Jahren kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Dies hat zur Folge, dass linksextreme Gruppierungen und deren Aktionen fast nur in Berichten der Innenministerien thematisiert und dort insbesondere hinsichtlich ihres Gefährdungspotenzials für demokratisch verfasste Gesellschaften diskutiert werden. In der Schweiz werden im Auftrag des Bundesrats durch die zuständigen Sicherheitsorgane39 im Jahresrhythmus alle Formen des Extremismus beobachtet, analysiert und in Berichten zusammengefasst. Nachfolgend soll exemplarisch auf einige zentrale Aspekte und Entwicklungen eingegangen werden. Der Zeitraum umfasst die Jahre 2004 bis 2018, als Basis dienen der Extremismusbericht und verschiedene Lageberichte zur Sicherheit der Schweiz40 . In den Berichterstattungen finden sich Aussagen zu Dynamiken und Gewaltpotenzial, Themen und Mobilisierungspotenzial, Angaben zu quantitativen Entwicklungen, Akteuren und Organisationen sowie zur 37 Die Lageberichte seit 2014 finden sich unter URL: https://www.vbs.admin.ch/de/themen/ nachrichtenbeschaffung/gewaltextremismus.html; Der Extremismusbericht findet sich unter URL: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2004/5011.pdf [beide eingesehen am 06.07.2018]. 38 Vgl. u. a. Nationales Forschungsprogramm zu „Rechtsextremismus – Ursachen und Gegenmaßnahmen“ (2003-2009), URL: http://www.snf.ch/de/fokusForschung/nationaleforschungsprogramme/nfp40plus-rechtsextremismus-ursachen-gegenmassnahmen/Seiten/ default.aspx [eingesehen am 06.07.2018]. 39 Vgl. Homepage des Nachrichtendienst des Bundes, URL: https://www.vbs.admin.ch/de/vbs/ organisation/verwaltungseinheiten/nachrichtendienst.html [eingesehen am 06.07.2018]. 40 Vgl. Extremismusbericht und Lageberichte seit 2014.

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(internationalen) Vernetzung. Weiter werden sporadisch Vergleiche zum europäischen Ausland41 hergestellt, zudem wird über ordnungspolitisch begründete Strategien und Erfolge42 berichtet. Versucht man, sich einen Überblick hinsichtlich der Einschätzung von Dynamiken und Gewaltpotenzial zu verschaffen, so dominieren über weite Strecken zwei Perspektiven: Einerseits wird der Konflikt zwischen Links- und Rechtsextremismus als möglicher Auslöser für Gewalt gesehen, andererseits scheint das Aggressionspotenzial ungleich verteilt zu sein und tendenziell eher von den Linksextremen auszugehen. „Rechts- und Linksextreme sehen sich wechselseitig als Feinde. Vor allem Linksextreme suchen dabei den Konflikt, direkte Auseinandersetzungen verlaufen gewaltsam.“43 Im Extremismusbericht wird dazu festgehalten, dass rechtsextremistisch motivierte Aktivitäten die innere Sicherheit der Schweiz zurzeit nicht gefährden, jedoch Konfrontationen zwischen den beiden Lagern zu Schwierigkeiten führen. Da dabei vor allem die Linksextremen den Konflikt zu suchen scheinen, besteht aber die Möglichkeit, dass sich damit das Bild der „gewalttätigen Linken“ verfestigt und auf dieser Basis künftig ordnungspolitisches Einschreiten legitimiert werden könnte.44 Unter Einbezug quantitativer Entwicklungen rechts- bzw. linksextremer Akteure lässt sich diese Einschätzung zusätzlich untermauern. In Zahlen ausgedrückt: Während im Extremismusbericht von ca. 2000 „Militanten“45 die Rede ist, werden diese zehn Jahre später auf 3000 bis 380046 geschätzt und 2018 auf 1000.47

41 „Das Gewaltpotenzial der drei gewaltextremistischen Szenen [Rechts-, Links- und Tierrechtsextremismus; B.F.] kann in der Schweiz generell als geringer eingestuft werden als im Ausland. […] Radikalisierungen bleiben möglich und damit auch der Anstieg des Gewaltpotenzials – Hinweise auf eine solche Entwicklung fehlen jedoch derzeit in allen Szenen.“ Nachrichtendienst des Bundes, Sicherheit Schweiz. Lagebericht 2014 des Nachrichtendienstes des Bundes, Bern o. J., S. 54. 42 „Die Erfolge der Strafverfolgungen in den letzten Jahren und die im Vergleich mit vielen Ländern Europas generell als geringer einzuschätzende Gewaltbereitschaft bei politischen Auseinandersetzungen dürften einen Beitrag zur derzeit ruhigen Lage im Bereich Linksextremismus leisten.“ Ders., Lagebericht 2015 des Nachrichtendienstes des Bundes, Bern o.J., S. 49. 43 Ders., Lagebericht 2016 des Nachrichtendienstes des Bundes, Bern o. J., S. 54. 44 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD, „Terrorismusbekämpfung: Neue Möglichkeiten für die Polizei im Umgang mit Gefährdern“, 08.12.2017, URL: https://www.ejpd. admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2017/2017-12-080.html [eingesehen am 30.11.2018]. 45 O. V., Extremismusbericht, S. 5012, URL: https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2004/ 5011.pdf [eingesehen am 30.11.2018]. 46 Vgl. NDB, Lagebericht 2014, S. 51. 47 Vgl. ders., Lagebericht 2018 des Nachrichtendienstes des Bundes, Bern o.J., S. 66.

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Wie diese Schätzungen zustande kommen bzw. mit welchen theoretischen Konzepten oder Kategorien diese erfasst werden, geht aus den Berichten allerdings nicht hervor. Als dementsprechend wenig reliabel und valide müssen diese Angaben auch betrachtet werden. Selbst die VerfasserInnen des Lageberichtes 2018 formulieren in diesem Zusammenhang selbstkritisch: „Mit den in ,Sicherheit Schweiz 2014‘ publizierten Angaben kann die vorliegende Bestandsaufnahme nur bedingt verglichen werden. Trotz dieser methodischen Einschränkung ist davon auszugehen, dass beide Szenen in den vergangenen Jahren kleiner wurden.“48 Im Lagebericht 2018 werden zusätzlich zum Konflikt zwischen Rechten und Linken weitere mögliche Gewaltauslöser benannt: das alleinige Aufeinandertreffen Linksextremer mit der Polizei, die Ausweitung linksextremer Aktivitäten durch eigenes Agenda-Setting, oder dass der Anarchismus „[…] auf Kosten des Kommunismus an Bedeutung [gewinnt] und damit der Wille, dem ,System‘ tel quel zu schaden.“49 Damit es überhaupt zu Konfrontationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Akteuren kommen kann, gilt es, Themen zu benennen, von denen sich Teile der Bevölkerung angesprochen fühlen. Politische Inhalte und Kritik gegenüber bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen bilden dabei wesentliche Bestimmungsmerkmale linksradikaler Mobilisierungsarbeit. „Die gewaltextremistische Linke ist wegen ihrer Ziele und Methoden ein nicht zu unterschätzendes Risiko für die innere Sicherheit der Schweiz, zumal es ihr immer wieder gelingt, Anliegen zu vereinnahmen und zu radikalisieren.“50 So hätten bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem globalisierungskritische Anliegen im Zentrum gestanden, welche im Jahre 2015 durch das Thema Migration abgelöst worden seien. An den Aktivitäten unter dem Slogan „No Border, No Nation“ beteiligten sich weite Teile der linksradikalen Szene, diese machten etwa ein Viertel der Ereignisse aus. „Neben den üblichen Demonstrationen und Sachbeschädigungen wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder versucht, Ausschaffungen mit Blockaden direkt zu verhindern.“51 Wie hochaktuell dieses Thema aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive ist, zeigt sich im Lagebericht 2016, wenn unter der Überschrift „Strategisches Umfeld im Wandel“ Folgendes zu lesen ist: „Die über Jahre stetig zunehmenden Migrationsbewegungen in Richtung Europa sind seit der ersten Jahreshälfte 48 NDB, Lagebericht 2018, S. 66; vgl. auch NDB, Lagebericht 2014, S. 51: „Verlässliche Vergleichszahlen liegen jedoch nicht vor, da es sich bei Zahlenangaben angesichts der Abschottung der Szenen und starker personeller Fluktuationen um Schätzwerte handelt.“ 49 NDB, Lagebericht 2018, S. 64. 50 Extremismusbericht, S. 5054. 51 Vgl. NDB, Lagebericht 2017, S. 60.

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2015 eskaliert. Allein im Monat Oktober 2015 sind ebenso viele schutzsuchende Migrantinnen und Migranten nach Europa gelangt wie insgesamt im Rekordjahr 2014 – mehrheitlich über die Türkei und Griechenland und weiter über die sogenannte Balkanroute.“52 Die Politisierung aktueller Themen durch Linksextreme wird in den Lageberichten wie folgt kommentiert: „Getrieben wird die linksextreme Szene von äußeren Faktoren, hinsichtlich ihrer Aktionen vielfach sogar von der Tagesaktualität. Vor dem Hintergrund fundamentaler Systembeziehungsweise Kapitalismuskritik können die Themen, an denen sich Protest und Gewalt entzünden, wechseln, ohne dass sich substanziell etwas ändert: ob für Freiraum oder gegen Repression oder für Gefangenensolidarität – die Themen sind miteinander verflochten.“53

Auffallend dabei ist, dass die politische Dimension oder der politische Gehalt der Aktivitäten nicht kommentiert wird, sondern Aktionen nur unter der Perspektive der Gefährdung betrachtet werden. Dieser Berichterstattung liegt eine gewisse Einseitigkeit zugrunde, die vor dem Hintergrund der aufgezeigten geschichtlichen Entwicklung seit 1918 wenig Überraschung birgt und vielmehr die These bestätigt, dass sich revolutionäre Gruppierungen in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation befinden. Obwohl Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz aufgegriffen werden, fokussiert sich die Auseinandersetzung auf die Einschätzung des Gefährdungspotenzials. Vor dem Hintergrund, dass linksradikale Organisationen gesellschaftlich hoch relevante Themen aufgreifen, jedoch aufgrund gewählter Agitationsformen marginalisiert und potenziell kriminalisiert werden, soll im nächsten Kapitel der Frage nachgegangen werden, wie sich diese Form des gesellschaftlichen Umgangs innerhalb von Organisationen bzw. bei den Akteuren selbst manifestiert. Ethnographie linker Militanz: Zur Reproduktion gesellschaftlicher Marginalisierung und sozialer Unsichtbarkeit Im Folgenden soll exemplarisch – und nur sehr verkürzt – entlang zweier Narrative angedeutet werden, wie sich gesellschaftliche Wahrnehmungen und öffentliche Diskurse im Selbstverständnis linker Gruppierungen niederschlagen und welche Funktion die Auseinandersetzung damit zu erfüllen vermag. Dabei wird der Versuch unternommen, aufzuzeigen, wie in den geführten Diskursen

52 NDB, Lagebericht 2016, S. 13; vgl. auch S. 56. 53 Ders., Lagebericht 2017, S. 63; vgl. auch S. 66.

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zwischen der politischen Programmatik und den über die Gesellschaft vermittelten Erfahrungen unterschieden werden muss. Die Rede von der Revolution erweist sich vor diesem Hintergrund als ein Streben nach individueller und kollektiver Befreiung aus den herrschenden Verhältnissen. Soziale Unsichtbarkeit und Leiderfahrungen fungieren dabei sowohl als Ausgangspunkt als auch Resultat politischen Handelns. Gleichzeitig wird deutlich, wie auf subjektiver Ebene erlebte Spannungen sozialer Ausgrenzung in der erfahrenen Anerkennung und Solidarität innerhalb des Milieus aufgehoben sind. Die Beispiele stammen aus eigener Forschung und werden dort ausführlich beschrieben und analysiert.54 Soziale Unsichtbarkeit Im folgenden Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion mit der PdAS (Partei der Arbeit Schweiz) wird über Erfahrungen berichtet, wenn aus einer gesellschaftlich marginalisierten Position heraus politisiert wird. Diese werden subjektiv erlebt und kollektiv geteilt. Ennio: Ich mein, es ist Aufgabe einer kommunistischen Partei, sozialistischen, marxistischen. Man kann sie beschimpfen oder nennen wie man will. Dieses Bewusstsein der Ausbeutung klar zu machen. Und das muss ein Pfeiler sein. Lenka: Ja genau. Ennio: Äh und auch wenn wir da immer wieder als alt beschimpft werden oder Ewiggestrige. Trotzdem, also mit dem müssen wir jetzt leben.

Mit dieser kurzen Passage kann auf das Mühevolle und Anstrengende bei der Vermittlung der als zentral erachteten Inhalte hingewiesen werden, welches auch mit einer gewissen Resignation einhergeht (also mit dem müssen wir jetzt leben) sowie mit dem wiederholt gehörten Vorwurf, als alt und Ewiggestrige bezeichnet zu werden. Diese als mühevoll erlebten Reaktionen führen aber nicht zur Revision der eigenen Position, sondern bestärken die Gruppierung in ihren Anliegen, nämlich u. a. das Bewusstsein der Ausbeutung klar zu machen. Hier kann man von einer kollektiv geteilten Orientierung ausgehen, einerseits aufgrund der verbalen Bestätigung durch Lenka (Ja genau) und andererseits aus einer methodischen Perspektive, sichtbar im parallelisierenden Modus der

54 Vgl. Fontanellaz, Auf der Suche nach Befreiung; dies., Die feine Gesellschaft und ihre Aussenseiter, in: Bettina Grubenmann u. Jürgen Oelkers (Hg.), Das Soziale in der Pädagogik, Bad Heilbrunn 2009, S. 296–313.

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Diskursorganisation.55 Auf einer inhaltlichen Ebene zeigt sich die Erfahrung, als anders wahrgenommen zu werden. Vor diesem Hintergrund wiederholen sich die negativen Zuschreibungen, die sich in einer kollektiv geteilten Erfahrung des Mühevollen verdichten und zu einer gewissen Resignation führen. So führt Ennio in diesem Zusammenhang später noch aus: Und in dieser, in diesem Widerspruch [Widerspruch zwischen dem Kapitalismus nach 1989 und der eigenen kommunistischen Position; B.F.] bewegen wir uns. Und das sind die Themen, die wir haben, das sind die Fragen, die wir aufwerfen und gleichzeitig auch die Problematik in der wir drinstecken. Also erklär mal einem 25-Jährigen heute die Frage der Ausbeutung.

Trotz immer wiederkehrender Bemühungen, vom Versuch der öffentlichen Thematisierung bis hin zur Vermittlung als zentral erachteter Inhalte und Widersprüche an jüngere Generationen, bleibt es ihnen nicht erspart, in der Auseinandersetzung mit dem herrschenden politischen System negativ konnotierte Erfahrungen zu machen bzw. sozial unsichtbar zu sein.56 Zusammenfassend betrachtet, erweist sich damit – trotz großer Anstrengungen – (soziale) Unsichtbarkeit als einschneidende Erfahrung. Anerkennung und Solidarität innerhalb der Gruppierung Diese Erfahrung sozialer Unsichtbarkeit kann innerhalb der Gruppierung aufgehoben werden. Nachfolgende Ausschnitte verdeutlichen, inwiefern sich Erfahrungen wie Anerkennung und Solidarität innerhalb des Gruppenkontextes manifestieren. Alice: Also das, was ich heute bin, bin ich nur durch das. Ich muss nicht niemand sein. Obwohl ich aus proletarischen Verhältnissen komme, habe ich gelernt, stolz zu sein auf das. Und ich habe gelernt, alle meine Fähigkeiten hervorzuzaubern und das, ja das ist ja eigentlich schon so viel, schon so ein großer Reichtum. Jan: Und ja. Ich denke, das kann man wahrscheinlich verallgemeinern, also der Punkt wo. Normalerweise ist man einfach ein Objekt und das ist eigentlich auch Kommunismus, die Bewegung an sich tut das, wo die Leute wo sich als Subjekt sehen, also Leute, die Geschichte machen, weil sie faktisch ein Element der Gesellschaft sind. Und diese Aktivität, die ist ja dann bei uns gegeben.

55 Vgl. Aglaya Przyborski, Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen, Wiesbaden 2004. 56 Vgl. Axel Honneth, Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M. 2003.

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In diesen Passagen wird auf je individuelle Art und Weise zum Ausdruck gebracht, wie sich beide Befragte als Subjekt wahrgenommen fühlen. Somit wird nicht nur Raum für Individualität geschaffen, darüber hinaus scheint auch über gesellschaftliche Strukturen vermitteltes Leid aufgehoben zu werden. Alice spricht in diesem Zusammenhang die Aufhebung sozialer Missachtung an. (Ich muss nicht niemand sein.) Wenn Jan davon spricht, dass die Attraktivität ihrer Organisation u. a. darin liege, sich als Teil der Geschichte und damit als aktives Subjekt zu begreifen, so wird mit dieser Aussage ein Weg aufgezeigt, wie strukturell vermittelten Ohnmachtserfahrungen innerhalb der Gruppierung kollektiv begegnet werden kann. (Und diese Aktivität, die ist ja dann bei uns gegeben.) Argumentativ wird diese Erfahrung damit begründet, dass dies deshalb möglich sei, weil genau diese Form der Anerkennung des Subjekts der kommunistischen Gesellschaftsvorstellung inhärent sei. Erfahrungen wie Anerkennung und Solidarität manifestieren sich innerhalb des Gruppenkontextes, es wird im Kleinen gelebt, was als gesellschaftliche Utopie erreicht werden soll. Schlussbemerkungen Setzt man sich mit dem Thema linker Militanz auseinander, so sind unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen, um der Komplexität dieses Phänomens gerecht zu werden. In diesem Beitrag wurden drei Zugänge unterschieden: Rekonstruktion historischer Entwicklungslinien, Einblick in sicherheits- und ordnungspolitische Diskurse sowie Ansätze einer Ethnographie. Eine Zusammenführung zeigt, inwiefern zur Analyse alle gewählten Zugänge einen Beitrag zu einem besseren Verständnis leisten können. Denn: Bei der Auseinandersetzung mit politischen Aktionen sowie dem medialen und ordnungspolitischen Umgang mit Protestbewegungen gilt es, eine triviale, jedoch häufig vernachlässigte Unterscheidung zwischen Einstellungen, Kognitionen, Rationalisierungen, Affekten und Motiven sowie den über die gesellschaftlichen Strukturen vermittelten Erfahrungen analytisch vorzunehmen. Dies bedeutet wiederum, Politik bzw. die Frage nach der Legitimation politischer Diskurse sowie deren Ausdrucksformen nicht allein als eine Angelegenheit kognitiver Einstellungen und Überzeugungen zu thematisieren, sondern als „first and foremost an intervention upon the visible and the sayable“.57 Dieser Aspekt soll mittels eines Ausschnitts aus einem Leserbrief anlässlich der Anti-WEF-Demonstration in Bern im Januar 2008 nochmals verdeutlicht werden: 57 Carsten Strathausen, A Critique of Neo-Left Ontology, 2006, URL: http://pmc.iath.virginia. edu/issue.506/16.3strathausen.html [eingesehen am 30.11.2018].

Linksradikalismus in der Schweiz

„Es ist doch gut, wenn es Leute gibt, sie sich daran stören, dass beim WEF reiche Wirtschaftsführer über unsere Zukunft entscheiden. Die DemonstrantInnen gehen gegen das Gefühl der Ohnmacht an und tragen ihren Protest gegen die zerstörerische Weltwirtschaftsordnung nach draußen. Besser als jene, die resigniert meinen, man könne sowieso nichts machen. Das Eintreten für eine gerechtere Welt ist nötig.“58

Die hier angesprochene und vermeintliche Abwesenheit von Rationalität, nämlich kein konkretes politisches Programm zu haben, sondern stattdessen der Ohnmacht Ausdruck zu verleihen, ist dabei nicht mit fehlender Politisierung zu verwechseln, sondern verweist im genannten Kontext auf ein affektives Moment politischer Artikulation. In diesem Sinne kann verwehrte Anerkennung, erfahrene Missachtung oder Unsichtbarkeit auf unterschiedlichen Ebenen des Individuellen und Sozialen sowohl zur Etablierung und Aufrechterhaltung entsprechender Organisationen als auch zu Mobilisierungserfolgen bei AnhängerInnen und SympathisantInnen führen. Diese Mechanismen gilt es bei aktuellen und politischen Bildungsbemühungen ebenso zu berücksichtigen wie bei staatlichen Interventionen. Erfahrungen sozialer Unsichtbarkeit lassen sich weder kognitiv noch ordnungspolitisch bearbeiten, sondern führen gerade dadurch weiterhin zur Suche nach Anerkennung und Solidarität innerhalb spezifischer Milieus, zu Erfahrungen also, die ansonsten verwehrt bleiben. Somit kann auch der Bogen zu den eingangs zitierten Zeitungsartikeln geschlossen werden. Unter der Oberfläche von gewaltbereit und unkontrollierbar erscheinenden Aktionen verbirgt sich eine Gemengelage sich überlagernder und gegenseitig bedingender historischer, kultureller Entwicklungen und biographischer Erfahrungen. Diese im „Keim zu ersticken“, stellt nicht nur eine Vernachlässigung der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte dar, sondern kann ebenso als verpasste Chance betrachtet werden, sich mit der Analyse der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit zu beschäftigen.

58 Leserbrief, in: Tages-Anzeiger, 22.01.2008.

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Die centri sociali als Szeneartikulation der radikalen Linken in Italien Man stelle sich einen Ort vor, an dem politische Prinzipien wie Gleichheit und Freiheit gelebt werden. Einen Ort, an dem die unterschiedlichsten Personen ungezwungen zusammenkommen, gemeinsam und in ständigem Austausch miteinander leben, gemeinschaftlich Entscheidungen treffen und allen Menschen, die sich dort versammeln, die Möglichkeit offensteht, die eigenen Gedanken frei zu äußern und gleichberechtigt zur Diskussion zu stellen. Man stelle sich außerdem vor, dies sei institutionalisiert in einem, sagen wir, wöchentlichen Treffen, bei dem alle Anliegen des gemeinsamen Lebens ausdiskutiert werden. Stellt man sich nun noch vor, dass dies alles unter der Sonne Italiens möglich sei, dann hat man gedanklich eine Utopie entwickelt, die laut Aussagen der italienischen Aktivist*innen zweier römischer centri sociali schon seit fast 45 Jahren in ständiger Weiterentwicklung gelebt wird.1 Seit mehreren Jahrzehnten bilden die centri sociali occupati autogestiti (CSOA, besetzte selbstverwaltete Sozialzentren) einen Vergemeinschaftungsort der radikalen Linken in Italien: „Die Verbreitung der Centri Sociali in den achtziger Jahren ist im Grunde eine Konkretisierung […] neue[r] Ausdrucksformen.“2 Diese centri sociali stellen heute die zentrale Infrastruktur und die wichtigsten Anlaufstellen der autonomen Szene Italiens dar. Die über das Land verteilten Zentren unterscheiden sich dabei in ihren Schwerpunkten und Aktionen und 1 Vgl. Interview vom 21.04.2018. Grundlage für diese Aktivist*innenperspektive bieten zwei Interviews, die im Frühjahr 2018 geführt wurden. Insgesamt wurde mit drei Personen aus zwei römischen centri sociali (Forte Prenestino und dem kleineren Machhia Rossa) gesprochen. Es handelte sich dabei um eine Frau (etwa Mitte 40 Jahre alt) und zwei Männer (einer ca. Mitte 30 Jahre alt, einer ca. Anfang/Mitte 50 Jahre alt). Ihre Namen wurden anonymisiert. Die Interviews mit den zwei Aktivist*innen aus Forte Prenestino fanden am 21.04.2018 in ihrem centro sociale in einem gemeinsamen Gespräch (etwa 1,5h) und am 26.04.2018 mit dem Aktivisten von Machhia Rossa via Skype (etwa 30min) statt und folgten einem Leitfaden. Macchia Rossa wurde als weiteres Beispiel zu dem bekannten Forte Prenestino gewählt, um eine zusätzliche Perspektive – insbesondere über die Vielfalt der centri sociali – zu erhalten. Der Forschungszugang zu den Aktivist*innen war unkompliziert: Nach einer Interviewanfrage via Mail gab es recht schnell (teilweise wurde die Anfrage zuvor in der assemblea besprochen) eine positive Antwort. Das Gespräch könne gerne bei ihnen im CSOA – oder andernfalls via Skype – stattfinden. 2 Francesco Raparelli, Von der Niederlage 1977 zur „Bewegung der Bewegungen“, in: Dario Azzellini (Hg.), Genua. Italien, Geschichte, Perspektiven, Berlin 2002, S. 77–87, hier S. 81.

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passen ihre Ausrichtung ihrer Umgebung an. Sie sind ein Label, unter dem eine Vielzahl an beobachtbaren Phänomenen zusammengefasst wird, deren empirische Erscheinungen sich immer wieder verändern. Andrea Membretti und Pierpaolo Mudu schlagen eine Definition vor, die gemeinsame und wiederkehrende Aspekte der centri sociali aufgreift und somit den Versuch einer Charakterisierung wagt: Zunächst handele es sich um ein sowohl soziokulturell als auch generationell heterogenes Netzwerk von Personen. Inhaltlich werde sich in der Selbst- und Außendarstellung, beispielsweise in Form der Rhetorik oder Protestperformances, auf verschiedene und durchaus disparate linke Ideologien und Praktiken bezogen. Und es werde an einem zumeist illegal besetzen Ort zusammengekommen, an dem eine kollektive Identität, die dann auch spezifisch für das jeweilige centro sei, entwickelt, ein lokales und regionales Netzwerk aufgebaut („movement area“) und eine interne Struktur auf der Grundlage nicht-hierarchischer und selbst-organisierter Prinzipien gebildet werde. Die in diesem Netzwerk organisierten Aktivitäten würden insbesondere kulturelle Veranstaltungen, die sich außerhalb des Mainstreams verorten (counter-culture), und soziale Angebote wie Kindergärten umfassen. Dabei werde immer die umliegende Nachbarschaft miteinbezogen und der Kontakt über das centro hinaus gesucht.3 Die centri sind aber nicht einfach nur soziokulturelle Zentren, wie es sie als Orte radikal linker Vergemeinschaftung in zahlreichen Ländern gleichermaßen gibt, sondern sie sind aus spezifischen italienischen Erfahrungen der außerparlamentarischen Linken heraus entstanden. Seit der Entstehung der ersten centri sociali, vorwiegend in Norditalien in den 1970er Jahren, können verschiedene Wellen ausgemacht werden, in denen sich neue centri immer auch in Wechselwirkung mit den zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und deren jeweiliger regional-kultureller Verarbeitung entwickelt haben.4 In ihrer Ausrichtung unterscheiden sie sich nicht zuletzt deshalb teilweise stark: „Jedes centro sociale hat einen spezifischen Ursprung, eine Rolle und ein Ziel, gebunden an eine historische Epoche, an einen spezifischen Kontext und ideologische Strömungen bezogen auf Praktiken sowie generelle Themen, die es bewegen.“5

3 Vgl. Andrea Membretti u.Pierpaolo Mudu, Where global meets local. Italian Social Centers and the alterglobalization movement, in: Cristina Flesher Fominaya u. Laurence Cox (Hg.), Understanding European Movements, London 2013, S. 76–93, hier S. 76f. 4 Vgl. Romain Filhol, Social Centers in Southern Italy: The Caserta Ex-Canapificio Between Illegality, Migration, and Rurality, in: Antipode, Jg. 50 (2018), H. 2, S. 523–548, hier S. 523f. 5 Valeria Pecorelli, Spazi liberati in città: i centri sociali. Una storia di resistenza costruttiva tra autonomia e solidarietà, in: An international e-journal for critical geographies, Jg. 14 (2015), H. 1, S. 283–297, hier S. 288, eigene Übersetzung.

Die centri sociali als Szeneartikulation der radikalen Linken in Italien

Das Ziel dieses Artikels ist ein Überblick über die Genese der centri sociali seit den Arbeiter*innenkämpfen in den 1960er Jahren und der Frage nach den Erfolgsrezepten dieser Orte einer linken Gegenkultur nachzugehen. Dabei sollen auch die Eindrücke und Selbstdarstellungen verschiedener Aktivist*innen zweier römischer centri einbezogen werden. Von den Arbeiter*innenkämpfen zu den ersten centri in den 1970er Jahren Während das Jahr 1872 als Geburtsstunde der italienischen sozialistischen Partei gewertet wird,6 gelten die Kämpfe im Jahr 1960 in Italien als Fanal der Entwicklung einer neuen linken Politik, die sich von den traditionellen Organisationsstrukturen abwendete.7 Ein Grund für die Abwendung von den klassischen linken Organisationen, der Kommunistischen Partei ebenso wie den Gewerkschaften des nationalen Gewerkschaftsbundes, waren die in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren gemachten Erfahrungen in den norditalienischen Fabriken rund um Mailand, Turin und Genua. Italien erlebte in den 1950er Jahren einen Industrialisierungsschub und in dessen Folge eine Phase des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs: „Die Industrialisierung erfolgte zwar spät, dann aber rasch.“8 Die Transformation vom Agrarzum Industriesektor führte gerade in den norditalienischen Fabriken zu einem steigenden Bedarf an Arbeitskräften.9 Charakteristisch für Italien war schon seinerzeit das große Nord-Süd-Gefälle. Resultierend aus historisch unterschiedlichen Entwicklungen, die schließlich in der relativ späten Gründung des italienischen Einheitsstaates mündeten, war der Norden erheblich wirtschaftsstärker als der Süden und strebte daher wiederholt nach Autonomie. Die norditalienischen Industriegebiete zogen Arbeitskräfte aus dem wirtschaftlich abgehängten und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein feudal geprägten Süden an, wodurch die binnenmigrierten Süditaliener*innen in Konkurrenz zu den norditalienischen Arbeiter*innen traten. Insbesondere die für Süditaliener*innen ungewohnten ökonomischen Strukturen sowie die differierenden Normensysteme, manifestiert bspw. in gänzlich verschiedenen

6 Vgl. Elisabeth Fix, Italiens Parteiensystem im Wandel. Von der Ersten zur Zweiten Republik, Frankfurt a. M. 1999, S. 91ff. 7 Vgl. Dario Azzellini, Von der ausgebliebenen Revolution zu den gestreiften Trikots, in: Ders. (Hg.), Genua, S. 53–62, hier S. 60. 8 Fix, Italiens Parteiensystem, S. 89. 9 Vgl. Christian Jansen, Italien seit 1945, Band 3, Göttingen 2007, S. 37.

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Verständnissen von Arbeitsmoral, führten (und führen bis heute) immer wieder zu Konflikten.10 Diese Kluft ist im Kontext der vorliegenden Betrachtung insoweit von Bedeutung, als die Binnenmigration von Süditaliener*innen gen Norden seit den 1950er Jahren durch das Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher regionaler Herkunft insbesondere auch in den Fabriken die ohnehin bestehenden Spannungen noch zusätzlich verschärfte. Der Unmut der Norditaliener*innen über die Arbeitsbedingungen wurde durch die Konkurrenz aus dem Süden noch gesteigert und führte zu Streikwellen wie 1962 in Turin, die teilweise in Straßenschlachten endeten.11 In den gewaltsamen Ausschreitungen offenbarte sich, wie weit sich die klassischen Repräsentationsorgane der Arbeiter*innenschaft von den Wahrnehmungen und Ansichten ihrer Kernklientel entfernt hatten. Die partei- und gewerkschaftsförmige Linke verstand die Wut der Arbeiter*innen, die sich in den Straßenschlachten entzündete, nicht. Es trat zutage, dass nicht nur die Gewerkschaften des nationalen Gewerkschaftsbundes, sondern auch die Gliederungen der Kommunistischen Partei (PCI) erheblich an Einfluss und Unterstützung in den Fabriken verloren hatten.12 Beginnend im Norden, weiteten sich die Proteste peu à peu im ganzen Land aus. Tausende Arbeiter*innen13 streikten, um auf ihre prekären Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Vor allem in den Fabriken von Fiat und Olivetti hatte im Zuge der schnellen Industrialisierung die Parole des Produktivitätswachstums und der Produktionsbeschleunigung die Qualität eines regelrechten Glaubensbekenntnisses angenommen. In der Folge kennzeichneten lange Arbeitstage, monotone Fließbandproduktion und schlechte Bezahlung die Arbeitsbedingungen. Eine Gruppe linker Intellektueller um Raniero Panzieri, Mario Tronti und Antonio Negri nahm sich Ende der 1950er Jahre dem Problem an und gründete 1961 die Zeitschrift Quaderni Rossi, was als Geburtsstunde des Operaismus gewertet wird. „Der Operaismo – abgeleitet von operaio, Arbeiter – ging von der Überlebensfähigkeit des modernen Kapitalismus aus und theorisierte den voluntaristisch gesetzten antikapitalistischen Widerstand als die historisch vermeintlich einzig mögliche Form der Revolution“, so die Journalistin und Alt-Aktivistin Michaela Wunderle. „Als Subjekt der Revolution galt die Figur des modernen ‚Massenarbeiters‘, des un- oder angelernten Arbeiters an 10 11 12 13

Fix, Italiens Parteiensystem, S. 54. Vgl. Robert Foltin, Autonome Theorien – Theorien der Autonomen?, Wien 2015, S. 61. Vgl. ebd., S. 61f. Zwar wird hier von Arbeiter*innen gesprochen, doch waren es damals zu einem sehr überwiegenden Teil Männer, die als Arbeiter tätig waren. Die einzelnen Frauen sollen jedoch sprachlich nicht ausgeschlossen werden.

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den halbautomatischen Fließbändern der norditalienischen Großfabriken, die schon Anfang der 1960er Jahre den Anteil der herkömmlichen qualifizierten Industriearbeiterschaft auf unter 40 Prozent hatte sinken lassen.“14 Aus der Überzeugung, die Bedingungen der arbeitenden Klasse ändern zu müssen, griffen die operaistischen Intellektuellen den Unmut der Arbeiter*innen auf und bündelten ihn in konkreten Forderungen. Dabei ging es ihnen vor allem darum, in marxistischer Tradition die Herrschaft des Kapitals in der Fabrik zu betrachten. Sie stellten dabei aber nicht das Kapital und dessen Dynamik in den Mittelpunkt ihrer Analyse, sondern die/den „Fabrikarbeiter*in“ und ihr/sein politisches und kulturelles Kapital, anstatt sie/ihn nur als Opfer der Arbeitsverhältnisse zu betrachten.15 Insofern betraf einer der Hauptkritikpunkte des Operaismus, der sich nicht nur als Theorie, sondern auch als politische und intellektuelle Bewegung verstand, die unzureichende Vertretung der Interessen der Arbeiter*innen durch ihre Partei und Gewerkschaften.16 Diese schienen die tatsächlichen Bedingungen in den Fabriken zu ignorieren und schlossen Kompromisse mit Unternehmensleitungen oder den italienischen Christdemokraten, der Democrazia Christiana, die von 1946 bis 1992 fast durchgängig den Regierungschef Italiens stellte.17 Sich unter anderem von der antifaschistischen Erzählung der resistenza18 nährend, hatte die moskautreue Kommunistische Partei ungeachtet des einsetzenden Kalten Krieges und der italienischen Westbindung und selbst der Niederschlagung der Aufstände in Ungarn und Polen zum Trotz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Mussolini-Regimes große Wahlerfolge verbuchen können; als Resultat ebenfalls der Widerstandserfahrungen gegen den Faschismus war zudem die Sozialistische Partei im ersten Nachkriegsjahrzehnt prokommunistisch. Doch verfolgten die Kommunisten entsprechend der Doktrin des historischen Materialismus eine Politik des revolutionären Attentismus, des Zuwartens auf die zwangsläufige Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche, deren Aufhebung gesetzmäßig in den Sozialismus führen müsse.

14 Michaela Wunderle, Die Roten Brigaden, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 782–808, hier S. 788. 15 Vgl. Martin Birkner u. Robert Foltin, (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis. Eine Einführung, Stuttgart, 2010, hier S. 17. 16 Vgl. Patrick Cuninhame, Für eine Untersuchung der Autonomia. Interview mit Sergio Bologna, in: UTOPIE kreativ, H. 155/2003, S. 848–857, hier S. 849. 17 Vgl. Birkner u. Foltin, (Post-)Operaismus, S. 15. 18 Als resistenza wird die antifaschistische Widerstandbewegung gegen Mussolini im Zweiten Weltkrieg bezeichnet.

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Eine voluntaristische Strategie der aktionistischen Herbeiführung revolutionärer Unruhe lehnten sie ab, in den Augen der neu-linken Operaisten waren sie daher weder systemkritisch noch revolutionär, sondern ganz im Gegenteil, wie diese Krikiter*innen argumentierten, reaktionär.19 Kennzeichen der Massenproteste in den Fabriken waren vor diesem Hintergrund insbesondere spontane Arbeitsniederlegungen und Fabrikbesetzungen, deren Organisation verborgen im Hintergrund lief. Oftmals betrafen sie nur einzelne Bereiche – allerdings mit der Auswirkung, dass das Rad der Arbeitsteilung aufgrund gezielter einzelner Störungen im System nicht reibungslos lief. Insgesamt fanden solche Streiks nur kurzzeitig und nur zu Beginn auf dem Fabrikgelände statt, der Protest verlagerte sich dann von dort auf die Straßen, wie beispielsweise 1962, als es in der Turiner Innenstadt „zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Fiat-ArbeiterInnen und der Polizei“20 kam. Der Vorzug hierbei war: Zu den Arbeiter*innen gesellten sich weitere gesellschaftliche Gruppen sowie Arbeitnehmer*innen anderer Branchen, in besagtem Turiner Fall jene kleinerer Unternehmen und Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen.21 Ende der 1960er schlossen sich außerdem Studierende an – und später waren es auch „[j]ugendliche ProletarierInnen, […], TechnikerInnen und Stadtindianer, Hippies und die neue Frauenbewegung“22 . In den 1970er Jahren und beflügelt durch die Student*innenproteste von 1968 wurde das, was als Arbeitskampf begonnen hatte, eine Bewegung, die sich durch weite Teile der italienischen Gesellschaft zog.23 Jetzt auch wurden Teile der Bewegung zunehmend militanter, eine Entwicklung, die einige in den lotta armata, den bewaffneten Kampf, führte. Ein Produkt dieser Radikalisierung waren die Roten Brigaden, eine Untergrundorganisation, die im Laufe der Zeit zunehmend radikal und brutal agierte.24 Die Attentate der Roten Brigaden in den 1970er Jahren verflochten sich dabei mit innenpolitischen Gesetzesverschärfungen und einem rigiden Agieren der Sicherheitsbehörden einerseits und rechten Terroranschlägen andererseits zu einem schwer auflösbaren Knäuel von gewaltsamen Auseinandersetzungen, sodass in den 1970er Jahren eine Mischung aus dem sogenannten Schwarzen Terror25 und der Strategie der

19 Vgl. Wolfgang Rieland, Organisation und Autonomie – die Erneuerung der italienischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 1977, S. 11f. 20 Birkner u. Foltin, (Post-)Operaismus, S. 19f. 21 Vgl. ebd., S. 136. 22 Ebd., S. 32. 23 Vgl. Robert Foltin, Post-Autonomie. Von der Organisationskritik zu neuen Organisationsformen?, Münster 2016, S. 30. 24 Vgl. Wunderle, Die Roten Brigaden, S. 782. 25 Vgl. dazu ebd., S. 162.

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Spannung26 das Klima auf Italiens Straßen und in den Medien beeinflusste.27 Es war teilweise nicht nachzuvollziehen, von welcher Seite aus die Attentate verübt wurden. Dabei bot sich der Linksterrorismus sowohl für rechte Gruppierungen als auch staatliche Akteure als Rechtfertigung für ebenfalls aggressives Verhalten an – und nicht zuletzt auch dafür, eigene Interessen durchzusetzen: „Das langfristige Ziel: Ablösung der herrschenden politischen Klasse durch einen autoritären Staat. Kurzfristig: Die linke Bewegung der sechziger Jahre zerschlagen, indem man ihr unmittelbaren Schaden durch Attentate zufügt und ihr öffentliches Ansehen beschädigt und sie der Repression aussetzt.“28 Die linke Bewegung, die aus den Arbeiter*innenkämpfen der 1960er Jahre erwuchs, ging geschwächt aus der politisch-gesellschaftlichen Polarisierung und militanten Zuspitzung der 1970er Jahre hervor: „By the end of the seventies, the organised far left had largely been smashed, caught between extensive State repression on the one hand, and a flight into private life or terrorism on the other.“29 Sie wurde aber auch durch den Wertewandel in die Defensive gedrängt. „Kollektivistische Werte der Achtundsechziger wie Gleichheit, kollektive Aktion oder Klassenbewusstsein“30 , konstatiert der Historiker Christian Jansen, wurden weniger relevant, denn mit der wirtschaftlichen Verbesserung Italiens seit 1969 änderten sich auch die Vorstellungen der Menschen; der Arbeitskampf wurde durch Lohnzuwächse und den Ausbau des Sozialstaates verdrängt, der Lebensmittelpunkt in die Kleinfamilie verlagert und die kollektive Aktion durch Individualisierung weniger relevant.31 Aber die Kämpfe der 1970er Jahre schwächten nicht nur die radikale Linke insgesamt, aus ihnen gingen auch die ersten centri hervor.32 Dabei wurden – zunächst in Mailänder Vororten, in denen damals hauptsächlich die Arbeiter*innen aus Süditalien lebten – insbesondere solche Orte besetzt, die symbolisch für jene Merkmale des Gesellschaftssystems standen, welche die Post-77-Aktivist*innen zuvörderst zu überwinden suchten: leerstehende Fabri26 Die Strategie der Spannung begann 1969. „Terroristische Attentate und Putschversuche sollten ein politisches Klima der Verunsicherung schaffen und den Ruf nach mehr Sicherheit und einem autoritären Staat fördern. Zugleich sollte der Verdacht systematisch auf die Linke gelenkt werden in der Hoffnung, sie auf diese Weise zu diskreditieren und ihren wachsenden Einfluss an den Urnen zurückdrängen zu können.“, Wunderle, Die Roten Brigaden, S. 784. 27 Vgl. Jansen, Italien seit 1945, S. 162 sowie Wunderle, Die Roten Brigaden, S. 785. 28 Dario Azzellini, Bomben für das System, in: Ders. (Hg.), Genua, S. 37–52, hier S. 37. 29 O. V.: In the Shell of the Old – Italy’s Social Centers, in: www.libcom.org, 11.03.2006, URL: https://libcom.org/library/in-shell-old-italy-social-centres-wright [eingesehen am 30.01.2020]. 30 Jansen, Italien seit 1945, S. 166. 31 Vgl. ebd., S. 166f. 32 Vgl. Filhol, S. 523.

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ken und Krankenhäuser als Kristallisationspunkte des sozialen Ausschlusses vom Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat: „Die entscheidenden Kräfte, die angesichts der Krise der Bewegungen versuchen, einen neuen Widerstand gegen den Übergang zum Neoliberalismus zu entwickeln, sind die Centri Sociali (besetzte Soziale Zentren), die sich in den gesamten achtziger Jahren ausbreiten. Es sind die Orte, an denen sich ein Prozess aktiver Ablösung von den dominanten Lebensformen abzeichnet.“33 Beispielhaft für die centri sociali kann das Sozialzentrum Leoncavallo in Mailand genannt werden, welches 1975 als erstes von heute etwa hundert seiner Art in ganz Italien entstand.34 Viele der ersten Aktivist*innen gehörten zu den Post-77-Bewegungen der radikalen Mailänder Linken, die ihr Leben selbstverwaltet, hierarchiefrei, mit Betonung auf individuelle Autonomie und Freiheit gestalten wollten.35 „Aus der Bewegung der besetzten Centri Sociali, in die sich die Reste der autonomen Szene zurückzogen, […] entstand auf Seiten der radikalen Linken eine neue Dynamik“36 – dies vor allem für eine neue Generation junger Aktivist*innen. Anders als in den Jahren zuvor, in denen der politische Kampf auf der Straße organisiert und gewaltsam ausgetragen worden war, lag der Fokus in den besetzen centri nun auf einer anderen Form des Aktivismus.37 Es ging um das Experimentieren mit alternativen Lebensentwürfen, der als kapitalistisch empfundenen Umgebung entgegengesetzt, auch unter Berücksichtigung der Rückschläge, die die linke Gegenbewegung in den Jahren zuvor erlebt hatte.38 Kurzum: Die Aktivist*innen versuchten, „einen neuen Widerstand gegen den Übergang zum Neoliberalismus zu entwickeln“ und forcierten einen „Prozess aktiver Ablösung von den dominanten Lebensformen“.39 Sie wollten autonom und selbstbestimmt leben, „autogestione [Selbstverwaltung] wurde zu einem Schlüsselwort des italienischen Linksradikalismus bis 1978.“40 Bis heute ist die Vorstellung dieser internen Selbstverwaltung als Akt des politischen Widerstandes fester Bestandteil des Selbstverständnisses vieler Aktivist*innen der centri. 33 Raparelli, Von der Niederlage 1977 zur „Bewegung der Bewegungen“, S. 78. 34 Vgl. o. V.: In the Shell of the Old – Italy’s Social Centers. 35 Vgl. Andrea Membretti, Centro Sociale Leoncavallo – The social construction of a public space of proximity, in: www.republicart.net, September 2003, URL: http://www.republicart. net/disc/realpublicspaces/membretti01_it.htm [eingesehen am 30.01.2020]. 36 Birkner u. Foltin, (Post-)Operaismus, S. 42f. 37 Vgl. Raffaello Cecchi u. a., Centri sociali autogestiti e circoli giovanili. Un’indagine sulle strutture associative di base a Milano, Mailand 1978, S. 18. 38 Vgl. Membretti u. Mudu, Where local meets global. S. 78. 39 Raparelli, Von der Niederlage 1977 zur „Bewegung der Bewegungen“, S. 78. 40 Jansen, Italien seit 1945, S. 160.

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Die 1980er Jahre: Punks und Autonome in den centri Die zweite Welle der centri-Bewegung begann Mitte der 1980er Jahre. In dieser Zeit waren die centri geprägt von verschiedenen Subkulturen. Es fanden sich dort marxistische, nicht-marxistische und anarchistische Gruppen zusammen.41 Während italienische Autonome die Anarchisten*innen in den 1970er Jahren noch weitestgehend ignoriert hatten, kam es im darauffolgenden Jahrzehnt, auch im Zuge der sich ausbreitenden Punkbewegung, zu Berührungspunkten in den centri. Mit den Punks gelangten neue subversive Formen des Protestes und der Musik in die centri.42 In dieser Phase entstanden die Basisgewerkschaften und andere vor allem lokal agierende Kollektive und auch das Selbstverständnis der Aktivist*innen änderte sich. Die Erfahrung der Fabrikarbeit oder die Isolation der auf dem Land Lebenden entsprach nicht mehr der Lebensrealität der neuen Generation, man war eher „associated with the urban experience of autonomists, punks, anarchists, and other grassroots associations.“43 Vor dem Hintergrund der europaweiten Hausbesetzer*innenbewegung der 1980er Jahre stellt Mudu die Verbindungspunkte und Trennlinien von italienischer squatting-Szene und centri sociali heraus: Der Dialog zwischen den verschiedenen Ansichten innerhalb der Bewegung sei zwar schwierig, die Vereinbarungen stets prekär, zugleich aber gebe es immer auch den Wunsch, sich im Sinne der Bewegung zusammenzufinden. Im Rahmen der centri-Bewegung seien verschiedene Orte der Überschneidung der verschiedenen Gruppen vorhanden, so zum Beispiel in Form von freien Radiosendern, Buchläden, aber auch der centri selbst. Vor allem der äußere Gegner, die bestehenden soziale Konflikte, würde die Bewegung auch außerhalb der städtischen Arenen einen. Zusätzlich mache die italienische Wohlfahrtsstaatspolitik die Bereitstellung von welfare activities durch nicht-staatliche Akteure erforderlich. Schließlich halte die Bewegung außerdem die Erinnerung an die Kämpfe und Bewegungen der Jahrzehnte zuvor zusammen, auf die sich immer wieder berufen werde.44 Der alternative, selbstangeeignete und selbstverwaltete Lebensstil, der in den 1980er Jahren in den centri praktiziert wurde – immer auch mit dem Ziel, in die Gesellschaft auszustrahlen –, spiegelte ein politisches Selbstverständnis wider, das sich in der Folgezeit weiter verbreiten sollte, nicht zuletzt im Zuge 41 Vgl. Filhol, S. 523. 42 Pierpaolo Mudu, At the intersection of Anarchists and Autonomists: Autogestione and centri Sociali, in: ACME. An International E-Journal for Critical Geographies, Jg. 11 (2012), H. 3, S. 413–438. 43 Ders., Introduction: Italians Do It Better? The Occupation of Spaces for Radical Struggles in Italy, in: Antipode, Jg. 50 (2017), H. 2, S. 447–455, hier S. 449. 44 Vgl. ebd.

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des demografischen Wandels. Der römische Philosoph und Aktivist Francesco Raparelli fasst zusammen, dass 1990, nach der Verbreitung der centri in den 1980er Jahren, eine Generation entstanden sei, „die von den neuen Formen der Vergesellschaftung und Gesellschaftlichkeit geprägt“ sei und „offensichtlich ihre Möglichkeiten in jener Ausdrucksform der autonomen Szene findet, die das Spektrum der Centri Sociali darstellt“.45 Die 1990er Jahre: Zusammenschluss gegen die Unsichtbarkeit Dennoch: Bis in die 1990er Jahre hinein blieben die centri trotz ständiger weiterer Besetzungen politisch und gesellschaftlich weitestgehend abgeschottet. Mit der nächsten Welle Mitte der 1990er Jahre stand, getragen vom bereits erwähnten Mailänder centro Leoncavallo, ein Kurswechsel an, der eine Öffnung der centri zur Allgemeinheit und Nachbarschaft beinhalten sollte.46 Dieser Kurswechsel war geprägt von einer stärkeren internationalen Vernetzung. Insbesondere aus den norditalienischen centri gingen Gruppen wie die Tute Bianche und Disobbedienti hervor, die zu führenden Kräften der globalisierungskritischen Bewegung wurden. Die neue Stärke und die gesteigerte Mobilisierungsfähigkeit über die linke Szene hinaus erzielte im Rahmen der Proteste gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua einen vorläufigen Höhepunkt. Wie überhaupt die internationale Vernetzung seither ein Charakteristikum der centri ist – vor allem im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung, in der die italienischen Gruppen, die sich zumeist aus den centri rekrutieren, bis heute eine Vorreiterrolle einnehmen.47 Soweit die Entstehung und Geschichte der italienischen centri, wie sie hier schlaglichtartig vorgestellt wurde: eine Bewegung, die sich immer wieder neu fand und erfand, die Generationen von Aktivst*innen in dem Anliegen vereinte, im Bewusstsein vergangener Erfahrungen eine Utopie zu leben, in selbst geschaffenen (Frei-)Räumen, frei von Regeln, Normen, Zwängen des (neo-)liberalen Kapitalismus ringsum. Wer aber trifft sich heute in diesen centri? Ist der beschriebene Geist heute immer noch zu spüren? Was genau motiviert (junge) Menschen, sich in diesem

45 Raparelli, Von der Niederlage 1977 zur „Bewegung der Bewegungen“, S. 82. 46 Vgl. Stephanie Weiss, Körper. Kommunikation. Konflikt. Zur Geschichte, Taktik und Aktionsformen der Tute Bianche und der Disobbedienti in Italien, in: Grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte, 25.03.2008, URL: https://www.grundrisse.net/grundrisse25/ koerperKommunikationKonflikt.htm [eingesehen am 01.02.2020]. 47 Vgl. Dario Azzellini, Die Bewegung der Bewegungen. Genua 2001 und 2002, in: Ders. (Hg.), Genua, S. 9–36, hier S. 9.

Die centri sociali als Szeneartikulation der radikalen Linken in Italien

Experiment zu engagieren? Was macht diese Orte aus, an denen eine emanzipative Utopie gelebt wird – und wie sieht das Leben darin tatsächlich aus? Geleitet von diesem Interesse wurden im Frühjahr 2018 drei Aktivist*innen zweier römischer centri interviewt. Im Folgenden werden die Selbstverständnisse der Aktivist*innen und die Eindrücke von den centri selbst vorgestellt. Sie dienen als erster Aufschlag und als Anhaltspunkte für eine weitergehende und vertiefte Analyse ihrer Perspektiven. centri sociali im 21. Jahrhundert: un esperimento seit 45 Jahren?48 Was die centri auszuzeichnen scheint, ist der Versuch, als solcher für die Neue Linke insgesamt kennzeichnend, das Private, die subjektive Perspektive, die individuelle Lebensqualität als etwas Politisches auszulegen. Das wird praktisch umgesetzt in den Räumen, die sich die Aktivist*innen und Besucher*innen der centri schaffen. Dort erarbeiten sie seit Jahrzehnten etwas, was sie selbst als Projekt oder Experiment, als etwas nicht Abgeschlossenes begreifen: ein solidarisches und besseres Leben.49 Die centri sociali organisieren dafür Feste, Konzerte, Theater, bieten Musik- oder Kochkurse an, stellen Räumlichkeiten für Proben zur Verfügung und organisieren so diverse Aktivitäten für Interessierte. Ihr Ziel ist es, sich der fortschreitenden städtischen Verödung zu widersetzen und alternative Lebensentwürfe zu realisieren.50 Die interviewten Aktivist*innen aus den römischen centri Forte Prenestino und dem kleineren Macchia Rossa wollen dabei nicht nur ihre selbstbestimmte, basisdemokratische Lebensform leben, sondern diese auch weitertragen, damit, so sehen sie das jedenfalls, jede*r davon profitieren kann, wodurch sie zugleich ihre politischen Ziele durchsetzen. Diese Absicht betonten die Interviewten vehement im Gespräch, sodass der Eindruck entstand, gerade diese liberale Haltung sei besonders hervorzuheben. Die Anziehungskraft, welche die centri ausüben, durchdrungen von dem Versprechen an eine mögliche, freiere Form des Zusammenlebens, ist schon bei einem ersten Besuch des Forte Prenestino im Rahmen des Interviews zu spüren: In der großen Park- und Gebäudeanlage halten sich viele Menschen – vom Kindesalter bis ins höhere Erwachsenenalter – an dem Samstagnachmittag im April bei schönem Wetter draußen auf, unterhalten sich in kleinen Gruppen, 48 Grundlage vieler dieser Informationen sind die zwei Interviews mit den Personen aus den zwei römischen centri sociali. 49 Vincenzo Ruggiero, New social movements and the ‘centri sociali’ in Milan, in: The Sociological Review, Jg. 48 (2000), H. 2, S. 168–185, hier S. 176. 50 Vgl. Carlo Branzaglia u. a., Posse italiane. Centri sociali, underground musicale e cultura giovanile degli anni ’90 in Italia, Florenz 1992, S. 12.

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spielen (mit dem Ball), hören und/oder machen Musik, arbeiten an einem Gerüst, trinken und wirken entspannt. Viele der Anwesenden scheinen sich zu kennen, grüßen einander. Aber es wirkt auch so, als seien Fremde vor Ort, um sich das CSOA wie eine Sehenswürdigkeit anzuschauen. Diese werden ebenfalls gegrüßt oder einfach beim Erkunden in Ruhe gelassen. Der Ort wirkt frei zugänglich für alle Interessierten. Hunde und Katzen sind zu sehen, Türen stehen offen, Geräte, Möbel und Schrott stehen bzw. liegen herum. Dieser idyllische Ort scheint sich auch mit den idyllischen Vorstellungen eines selbstverwalteten Lebens als politische Praxis gut zu vertragen. Wie aber sieht diese aus? Wie äußern die Aktivist*innen ihre politischen Forderungen und wie vernetzen sie sich? Wie stehen sie zu Fragen der Militanz, denn gerade die Kämpfe der vergangenen Jahrzehnte, auf die sie sich berufen, waren von gewaltvollen Auseinandersetzungen geprägt, aus denen auch sie, die centri selbst, hervorgegangen sind. Die Aktivist*innen machten im Interview deutlich, dass sie nicht nur in Kontakt zu anderen centri sociali in Italien stehen, sondern betonten wiederholt auch explizit ihre starke internationale Vernetzung. Beispielsweise waren sie zwar selbst nicht bei den G20-Ausschreitungen in Hamburg 2017 vor Ort, hätten die anwesenden Aktivist*innen aber unterstützt. Die Darstellung in den Interviews erzeugte das Bild einer sehr engen internationalen Kooperation und der ständigen gegenseitigen Information. Beim G8-Treffen in Genau 2001 und beim Weltwirtschaftsforum in Davos wiederum waren Aktivist*innen von Forte Prenestino aktiv dabei. Auf Fragen nach dem Leben vor ihrem Engagement in den centri wurde von den Interviewpartner*innen eher verhalten reagiert: Eine äußerte lediglich, sie sei aus dem Ausland zum Studium in die Stadt gekommen. Ihr Mit-Aktivist äußerte sich noch allgemeiner, indem er meinte, er habe vorher Verschiedenes gemacht und sei viel unterwegs gewesen.51 Die dritte Person erzählte, sie habe studiert und anschließend promoviert. Diese Aussagen zeigen in all ihrer Begrenztheit und mangelnden Repräsentativität, dass sehr unterschiedliche Lebens- und Ausbildungswege bei den Aktivist*innen der centri sociali möglich und vorhanden sind. Auch die Akteure aus Forte Prenestino betonten wiederholt, dass es in ihrem centro sociale nicht einen „pensiero unico“52 , d. h. einen Einheitsgedanken gebe, sondern die Vielfalt, also der gedankliche „Querschnitt“ kennzeichnend sei. Ähnlich vage wie die Äußerungen zum biographischen Hintergrund stellten sich die Aussagen zu ihren politischen Handlungsformen dar: Die Art und 51 Da diese beiden Personen das Interview gemeinsam gegeben haben, kann auch die gegenseitige Anwesenheit und damit eine gewisse soziale Kontrolle das Hemmnis gewesen sein. 52 Interview vom 21.04.2018.

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Weise der (politischen) Artikulation hänge vom angestrebten Ziel ab – was durchaus plausibel erscheint, gleichzeitig aber unkonkret bleibt. Theorie und Praxis liegen dicht beieinander und scheinen in Wechselwirkung zueinander zu stehen. Wichtig seien die Kommunikationsformen auf Demonstrationen, bei denen grundsätzlich die Mitteilung der Botschaft der centri zentral sei: Ironie, Schlüsselbegriffe oder „un soundsystem“53 mit Mikrofonen sind Mittel zum Zweck. Eine mögliche Distanzierung von radikalen Vorgehensweisen wird hier wie auch bei den Demonstrationspraxen sichtbar. „Social Centers“, bilanziert Mudu, „have revolutionized long-standing conventional demonstration procedures and political communication codes by organizing street parades with demonstrators feasting and dancing to the music produced by sound systems mounted on trucks.“54 Generell scheint das Revolutionsverständnis weniger auf unmittelbare Veränderungen denn auf eine mittelbare Modifikation des Denkens abzuzielen, um die politische Kultur Italiens umso nachhaltiger zu prägen, ganz im Sinne Antonio Negris. Dazu sei es wichtig, den Kontakt zum nachbarschaftlichen Umfeld zu suchen und durch kulturelle, öffentliche Veranstaltungen aufrechtzuerhalten. Wie sonst sollten denn die eigenen Ideen nach außen getragen werden? “Regular frequenters and occasional visitors of Social Centers“, so wiederum Mudu, “make up a mix whose composition varies greatly in terms of age, gender, educational level and social class. The recent entry of foreign immigrants into this very peculiar social network has resulted in a strong emphasis, within Social Centers, on the need for immigrants to be granted citizen rights.“55 Die centri sociali agieren überwiegend lokal bis regional – nur phasenweise findet eine nationale Absprache und Kooperation statt. Macchia Rossa handelt so auch in Bezug auf die Gewerkschaften: Es gebe Kooperationen mit den lokalen Basisgewerkschaften, heißt es, eine Zusammenarbeit mit den überregionalen allgemeinen Gewerkschaften finde aber nicht statt.56 Vielleicht ist aber gerade dieses Handeln auf der Mikroebene der Grund dafür, weshalb die Berührungspunkte der centri sociali mit der Außenwelt einen zentralen Aspekt des Selbstverständnisses ihrer Aktivist*innen darstellen. Letztere treten in Austausch mit ihrem Umfeld, indem sie beispielsweise Konzerte für die lokale Zivilgesellschaft organisieren. Kooperationen mit Parteien, d. h. institutionalisierten Akteuren, gebe es laut Aussage in Forte Prenestino nur in funktionaler 53 Ebd. 54 Pierpaolo Mudu, Resisting and Challenging Neoliberalism: The Development of Italian Social Centers, in: Antipode, Jg. 36 (2004), H. 5, S. 917–941, hier S. 927. 55 Ebd., S. 927. 56 Vgl. Interview vom 26.04.2018.

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Hinsicht.57 Interessant ist dabei, dass eine Zusammenarbeit durchaus denkbar und die Perspektive der Zielerreichung wichtiger erscheint als die kategorische Ablehnung staatlicher Institutionen. Und wie steht es nun mit der Gewalt? Festgehalten werden kann, dass diese Aktivist*innen laut ihrer eigenen Aussagen zu gewaltsamen Handlungen bereit sind, wenn es ihrer Meinung nach erforderlich ist. Welchen Gewaltbegriff sie dabei zugrunde legen, wird nicht deutlich. Inhaltliche Schwerpunkte der radikalen Linken in Italien sind laut einer Interviewpartnerin die verschiedenen Dimensionen des Antikapitalismus, Antisexismus, Antirassismus, Antifaschismus. Zudem sprechen sie sich gegen Gentrifizierung sowie Homophobie aus und nennen das marxistische, sozialistische und anarchistische Gedankengebäude als ihre Gesellschaftslehren.58 In den Gesprächen thematisieren die Interviewten viele Dimensionen und Schlagworte, die gewöhnlich bei der Charakterisierung linker Gruppen verwendet werden. Diese bieten Anlass, die Merkmale der italienischen militanten Linken genauer zu betrachten. Zu unterscheiden gilt es in erster Linie zwischen sinistra radicale, die das demokratische System zwar beibehalten möchte, aber für eine fundamentale Veränderung des kapitalistischen Systems eintritt, und der estrema sinistra, die sich gegen jegliche Form der kapitalistischen Wirtschaftsform ausspricht.59 Die centri sociali, wie sie in den Interviews zum Ausdruck kommen, lassen sich letzterer Kategorie zuweisen. Ihre Kritik zeige sich beispielsweise darin, wie ein Akteur aus Forte Prenestino erklärt, dass als Zeichen des Boykotts keine Coca Cola gekauft und weiterverkauft werde.60 Ein eher symbolischer Akt, der mit der gleichzeitigen Nutzung eines iPhones nicht in Einklang zu bringen zu sein scheint. Oder doch? Muss der Anspruch, Kritik zu leben, immer auch mit einer Einschränkung der persönlichen Autonomie und Teilhabe an der Gesellschaft einhergehen? Im ersten Moment und nach außen scheinen Anspruch und gelebte Wirklichkeit sich in diesem Fall diametral gegenüberzustehen. Insgesamt fiel auf, dass die interviewten Mitglieder der centri sociali sich vielmehr über die Gemeinschaft und die Werte definieren, als dass sie das Selbstverständnis von politischem Aktivismus teilen.61 Gemeinsame Überzeugungen erscheinen von größerer Bedeutung, d. h. das Lebensmodell ist 57 Vgl. Interview vom 21.04.2018. 58 Vgl. ebd. 59 Luke March, Contemporary Far Left Parties in Europe. From Marxism to the Mainstream?, Berlin 2008, S. 3. 60 Vgl. Interview vom 21.04.2018. 61 Vgl. CSOA Forte Prenestino, Fortopia. Storie d’amore e d‘autogestione, Rom 2016. Hierin werden zum 30-jährigen Bestehen des centro sociale Texte von (ehemaligen) Aktivist*innen abgedruckt, die ihre persönlichen Erfahrungen beschreiben.

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wichtiger, als politische Aussagen auf einer allgemeineren Ebene formulieren zu wollen. Auch hier kann es sich um Einzelaussagen handeln, aber vielleicht zeigt die Wichtigkeit des Lebensmodells auch einen umfassend gewandelten Anspruch seit den Massenprotesten einige Jahrzehnte zuvor. Insgesamt gehen aus den Interviews mehr Fragen als Antworten hervor: Wie kann ein Raum, der illegal besetzt wurde, eine Art Institution innerhalb der Viertelinfrastruktur werden? Welche Wirkung haben die centri sociali auf ihre unmittelbare Umgebung und wie schaffen sie es, auch mit ihren radikalen Forderungen, Aktionen und einem anderen Lebensmodell eine Anschlussfähigkeit und Anziehungskraft zu entwickeln, die es ermöglicht, dass nicht nur diejenigen, die sich der Szene zugehörig fühlen, dort partizipieren können? Tatsache ist, dass sich die centri sociali in den letzten 45 Jahren quantitativ und geographisch in Italien ausgebreitet und ausdifferenziert haben und fester Bestandteil der außerparlamentarischen Linken mit einer starken Mobilisierungsfähigkeit geworden sind. Von einem esperimento im alltagssprachlichen Gebrauch kann eigentlich nicht mehr die Rede sein. Fazit und Ausblick Aus den ehemaligen Arbeiter*innen-Protesten hat sich in den centri sociali eine basisorientierte außerparlamentarische Linke entwickelt, die sich durch Heterogenität nicht nur bei Mobilisierungen, sondern auch in ihrem Vernetzungsgrad sowohl mit der Zivilgesellschaft als auch anderen Akteuren auszeichnet. Die Sozialzentren sind inzwischen in ganz Italien verteilt und stellen in ihren jeweiligen Vierteln eine wichtige Anlaufstelle dar. Bei Forte Prenestino in Rom lässt sich die Vernetzung mit der lokalen Gesellschaft besonders wiederfinden.62 Die beiden interviewten Aktivist*innen von dort bezeichneten es als „rapporto circolare con dentro-fuori“63 , was so viel bedeutet wie ein zirkulierendes Verhältnis zwischen drinnen und draußen. Die Interviewten explizierten jedenfalls verbal ganz ausdrücklich ihren Anspruch des Austauschs mit der Umgebung. Aus dem Zusammenbruch der Massenproteste mit ihrem Höhepunkt in den 1970er Jahren entstanden, können die Zentren vielleicht als eine Art Schutzraum gelesen werden, als Orte, an denen selbstverwaltetes Leben – autogestione heißt das immer wiederkehrende Schlagwort – gelebt, weitergetragen und weitergedacht werden kann: Ein Rückzug von der Straße in die Gemeinschaft, um dort subversive und doch anschlussfähige Gesellschaftskritik zu üben.

62 Vgl. o. V., In the Shell of the Old – Italy’s Social Centers. 63 Interview vom 21.04.2018.

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Das scheint zu funktionieren, denn bis heute werden die centri sociali als Szeneartikulation der radikalen Linken in Italien gewertet. Besteht ihr Erfolgsrezept vielleicht darin, dass sie sich nicht auf ein Programm festlegen und das Leben im und um das jeweilige centro immer noch als eine Art Experiment ansehen? Es gibt keinen Einheitsgedanken, keine Abschottung, keine endgültige Vorstellung davon, wie das Leben am besten gelebt werden soll. Das sind die sichtbaren Aspekte, die Fassade des Raumes, der erkämpft worden ist. Kann es aber diese Utopie geben und wird sie sich in den nächsten Jahren weiter ausbreiten? Selbst nach gut dreißig Jahren Forte Prenestiono spricht einer der Interviewten wiederholt von einem „Versuch“64 , wenn er sein centro sociale meint. Ein Selbstschutz im Fall des Scheiterns? Oder Pessimismus? Viel evidenter erscheint es, dieses Experiment als Infrage-Stellen der bisherigen sozioökonomischen und politischen Gegebenheiten zu sehen, soll doch damit ein alternatives Lebensmodell aufgezeigt werden.

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Autonomer Linksradikalismus in Schweden – Entwicklungslinien, Netzwerke, Themenkonjunkturen und aktuelle Bündnisstrukturen Einführung Konflikt und Radikalität sind nicht die naheliegendsten begrifflichen Assoziationen, die der hiesige Beobachter mit Schweden verbindet. Vielfach dominiert noch immer in den Medien, aber auch in den Sozialwissenschaften das idealisierte Bild eines egalitären, konsensorientierten und sozialdemokratisch geprägten Landes an der nordeuropäischen Peripherie.1 Gewiss, das protestantische Schweden wies keine mit Deutschland vergleichbaren ethnischen und konfessionellen Konfliktlinien auf und musste auch keine weitreichenden Systemwechsel und Diktaturerfahrungen im 20. Jahrhundert erleiden. Der Demokratisierungsprozess verlief in dem nordeuropäischen Land reibungsloser und auch konfliktärmer als in anderen Ländern, obwohl die zeitgeschichtliche Forschung gewalttätige (Arbeits-)Kämpfe sowie Ausprägungen politischer Gewalt in den letzten Jahren vermehrt in den Mittelpunkt gerückt hat.2 Dass die lange Zeit vorherrschende politische und kulturelle Dominanz der Schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) auch zu einer Geschichtsschreibung beigetragen hat, in der militanter Protest und revolutionär-linke Strömungen an den Rand gedrängt wurden, hat das Bild eines auf Kompromiss und Ausgleich fokussierten Landes sicherlich bestärkt.3 Dabei, so der Historiker Stefan Nyzell, dürfe aber nicht vergessen werden, dass die schwedische Demokratie das Resultat eines, wenn man so will, erfolgreichen Kampfes der Linken darstellte, der auch teilweise mit gewaltsamen Mitteln ausgefochten 1 Kenntnisreich argumentieren gegen diese einseitigen Konstruktionen in den Sozialwissenschaften Bernd Henningsen u. Sven Jochem, Fazit und Ausblick – Desiderate sozial-, kulturund geschichtswissenschaftlicher Nordeuropa-Forschung, in: Bernd Henningsen u. a. (Hg.), Das politische Skandinavien. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik & Kultur, Schwalbach 2015, S. 259–268. 2 Vgl. u. a. die Studie von Stefan Nyzell, „Striden ägde rum i Malmö“. Möllevångskravallerna 1926. En studie av politiskt våld i mellankrigstidens Sverige, Malmö 2009; siehe auch Martin Ericsson u. ders., Sweden 1910 – 1950. The Contentious Swedes – Popular Struggle and Democracy, in: Flemming Mikkelsen u. a. (Hg.), Popular Struggle and Democracy in Scandinavia. 1700Present, London 2018, S. 337–375. 3 Vgl. Nyzell, „Striden ägde rum i Malmö“, S. 350–359, vor allem S. 355f.

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wurde.4 Besonders in angespannten und instabilen Phasen der schwedischen Geschichte, so Nyzell weiter, hätte sich auch gewaltsamer Protest entladen, was gerne in der schwedischen Selbstwahrnehmung ausgeklammert werde. Die oft beschriebene schwedische Konsensorientierung5 verweist allerdings jenseits oberflächlicher Rhetorik auf historisch gewachsene normative und institutionelle Muster, die bis heute Gelegenheitsstrukturen und Umweltbedingungen für linksradikale Akteur*innen schaffen.6 In der durchgängigen Regierungszeit der SAP seit den 1930er Jahren bis zum Jahr 1976 etablierten sich korporatistische Verhandlungs-, Konsultations- und Koordinierungsformen von zivilgesellschaftlichen Bewegungen, Verbänden und Regierungsvertretern, welche eine politische Konsens- und Kompromisskultur begründeten.7 Die historischen Volksbewegungen (folkrörelser) des 19. Jahrhunderts – die Freikirchen-, Abstinenz-, Arbeiter- und die Genossenschaftsbewegung, die einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung leisteten8 – verankerten in der schwedischen Gesellschaft einen Lebens- und Verhaltensstil (im Schwedischen auch als skötsamhets-Ideal bezeichnet), „der bis heute durch das Bemühen geprägt ist, nicht aus dem Rahmen zu fallen, Konflikte zu vermeiden, Kompromisse zu schließen, sich gut zu führen [und] das Kollektiv über das Individuum zu stellen“.9 Generell galten mitgliederstarke zentralistische Organisationen, ferner das Kollektiv und die formale Hierarchie im Allgemeinen im Organisationssverige (Verbandsschweden) als konstituierende Elemente der Interessenvermittlung und des Interessenausgleichs.10 Den linksradikalen Strömungen, egal ob sie sich auf anarchistische oder anarchosyndikalistische Ideologien stützten, haftete in dieser auf Kooperation, Konformität und „Zentralisierung“11 gerichteten politisch-kulturellen Umge4 Vgl. Stefan Nyzell, Sprickor i demokratin föder politiskt våld, in: Svenska Dagbladet, 30.08.2014. 5 Vgl. ausführlich Bernd Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, Baden-Baden 1986, S. 227ff. 6 Vgl. Grzegorz Piotrowski u. Magnus Wennerhag, Always against the state? An analysis of Polish and Swedish radical left-libertarian activists’ interaction with institutionalized politics, in: PArticipation and COnflict, Jg. 8 (2015), H. 3, S. 845–875, hier S. 853–856. 7 Vgl. Abby Peterson u. a., Sweden 1950-2015: Contentious Politics and Social Movements between Confrontation and Conditioned Cooperation, in: Flemming Mikkelsen u. a. (Hg.), Popular Struggle and Democracy in Scandinavia. 1700–Present, London 2018, S. 377–432, hier S. 379f. 8 Siehe Sven Lundkvist, Folkrörelserna i det svenska samhället, Lund 1977. 9 Thomas Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 1968er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005, S. 24. 10 Vgl. Heidrun Abromeit u. Michael Stoiber, Demokratien im Vergleich. Einführung in die vergleichende Anaylse politischer Systeme, Wiesbaden 2006, S. 213ff. 11 Auf das schwedische „Organisationswesen“ und dessen „Zentralisierung“ verweist auch Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, S. 230ff.

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bung lange Zeit das Stigma eines „Fremdkörpers“ an. Der mentale Nährboden für linksradikalen (außer-)parlamentarischen Protest war somit traditionell kein sonderlich günstiger in Schweden, zumal der Reformismus unter Führung der mächtigen Sozialdemokratie zu einer zentralen Säule der Industrialisierung und Modernisierung des vormals agrarischen Landes avancierte.12 Andererseits stellen die ungebrochene sozioökonomische Konfliktlinie sowie die machtpolitische Stärke der schwedischen Arbeiter*innenbewegung auch vorteilhafte Faktoren dar, um thematische Anknüpfungspunkte zu finden sowie Bündnispartner*innen zu gewinnen.13 Insofern sind die Rahmenbedingungen für (militante) linksradikale Gruppierungen insgesamt ambivalent: „While the political left-right division is still very central for Swedish civil society and politics, […] highly confrontational activism is often regarded as something that goes against the consensual political culture of the country.“14 Zugänge, Kontroversen, Eingrenzungen Bereits in früheren Studien hat Linus Andersson argumentiert, dass der Begriff „autonom“ an historische Entwicklungen und geografische Szenemilieus in Italien und Deutschland gekoppelt sei und somit nicht eins zu eins auf den schwedischen Kontext übertragen werden könne.15 Zwar würden sich schwedische Gruppierungen durchaus auf Szenemilieus in den Nachbarländern berufen und sich selbst als „autonom“ bezeichnen,16 aber ähnliche militante Aktionen, Taktiken und Szenestrukturen hätten sich erst verzögert ab Ende der 1980er Jahre in Schweden niedergeschlagen.17 Hinzu kommt, dass die ersten linksradikalen autonomen Netzwerke im Schweden der 1990er Jahre dem Antifa-Spektrum 12 13 14 15

Vgl. Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte?, S. 219. Vgl. Piotrowski u. Wennerhag, Always against the state?, S. 869. Ebd., S. 855. Vgl. Linus Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska vänsterautonoma budskap på internet, in: Statens Medieråd (Hg.), Våldsbejakande och antidemokratiska budskap på internet, Stockholm 2013, S. 118–171, hier, URL: https://www.regeringen.se/49bb8d/ contentassets/c6460146d8de486eabf7f209b3a9093a/valdsbejakande-och-antidemokratiskabudskap-pa-internet, S. 125 [eingesehen am 30.11.2019]. 16 Vgl. ebd., S. 125. 17 Vgl. zu den Erklärungen einer verspäteten Radikalisierung in Schweden Jan Jämte u. Adrienne Sörbom, Why Did It Not Happen Here? The Gradual Radicalization of the Anarchist Movement in Sweden 1980-90, in: Knut Andresen u. Bart van der Steen (Hg.), A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, Basingstoke 2016, S. 97–111, hier S. 100ff.; vgl. auch Abby Peterson, Contemporary Political Protest. Essays on political militancy, Aldershot 2001; Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 118; Piotrowski u. Wennerhag, Always Against The State?, S. 851.

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entstammen, wobei umstritten ist, ob diese automatisch als „Autonome“ angesehen werden können.18 Nils Schuhmacher hält eine solche Zuordnung nur für berechtigt, „wenn darunter allein die Ablehnung von Partei- und Organisationsdisziplin verstanden wird sowie die Bevorzugung eines selbstorganisierten politischen Engagements ohne Statut.“19 Einige schwedische linksradikale Aktivist*innen lehnen die Selbstbezeichnung „autonom“ hingegen ab, weil der Begriff „autonomes Milieu“ (autonoma miljön) seit 2002 primär sicherheitspolitisch definiert wird und präferieren die Beschreibung „außerparlamentarische Linke“.20 Die schwedischsprachige Bewegungsforschung greift hingegen anknüpfend an den englischsprachigen Terminus radical left-libertarian movement auf den Begriff radikala frihetliga vänsterrörelsen (dt. radikale freiheitliche Linksbewegung) zurück.21 Im Folgenden wird der entsprechende deutsche Sammelbegriff „autonomer Linksradikalismus“ verwendet, worunter Gruppierungen und Netzwerke gefasst werden, die außerparlamentarisch agieren, größtenteils antiautoritäre und basisdemokratische Organisationskonzepte vertreten und radikale gesellschaftliche und politische Veränderungen einfordern. Ideologische Bezugspunkte dieser Gruppierungen und Netzwerke stellen meist anarchistische, marxistische und anarchosyndikalistische Theoriefragmente dar; das angestrebte Ziel ist die staaten- und klassenlose Gesellschaft.22 Zentral für diese Gruppierungen ist der informelle Charakter, die Organisierung über Szenen, die sich als „thematisch fokussierte soziale Netzwerke“ und „Gesinnungsgemeinschaften“ mit jeweils eigenen Kulturen, Codes und Kommunikationsformen interpretieren lassen.23 Die Handlungsfelder der hier behandelten Szenen und Netzwerke erstrecken sich vornehmlich auf die Bereiche Antikapitalismus, Antifaschismus, Antimilitarismus, Antiimperialismus,

18 Auf die Unterschiede zwischen Antifa-Szenen und Autonome verweist Nils Schuhmacher im deutschen Kontext trotz „soziale[r] und personelle[r] Schnittmenge[n]“. Nils Schuhmacher, Gewalt in der Antifa: Mythos und Realität, in: DJI-Impulse, H. 1/2015, S. 11–13, hier S. 12. 19 Ebd., S. 11f. 20 Auf diesen Aspekt verweist bei Aktivist*inneninterviews Christina Hansen, Solidarity in Diversity. Activism as a Pathway of Migrant Emplacement in Malmö, Malmö 2019, S. 50. 21 Vgl. Magnus Wennerhag u. Jan Jämte, Brottsförebyggande åtgärder mot radikala vänsterrörelser – effekter och erfarenheter, Myndigheten för samhällsskydd och beredskap Als Herausgeber Kennzeichnen?, URL: https://www.msb.se/RibData/Filer/pdf/28819.pdf, S. 10f. [eingesehen am 30.11.2019]; vgl. hierzu auch Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 123. 22 Vgl. zur Charakterisierung auch Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 123. 23 Zu den ausführlichen Kennzeichen von Szenen Ronald Hitzler u. Arne Niederbacher, Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftungen heute, Wiesbaden 2010, S. 15–26, hier vor allem S. 16–20.

Autonomer Linksradikalismus in Schweden

Antisexismus und Antiglobalisierung. Die Praktiken können dabei je nach Kontext und Gruppierung variieren und schließen ein mannigfaltiges Repertoire „von Meinungsbildung, friedlichen Demonstrationen und gewerkschaftlicher Arbeit, hin zu Besetzungen, Sachbeschädigungen und politischer Gewalt“ ein.24 Der Begriff des „Linksextremismus“ (vänsterextremism) findet in der Forschung in Schweden kaum Niederschlag. In Publikationen der Sicherheitsbehörden25 taucht er zwar auf, bleibt aber größtenteils auf das „autonome Milieu“ begrenzt. Die schwedischen Sicherheitsbehörden unterteilen das „autonome Milieu“ wiederum in Netzwerke, Kampagnen und Aktionsnamen.26 Wichtig ist der Hinweis, dass schwedische Sicherheitsbehörden „Kriminalität fokussieren, das heißt, auf die extremen Methoden, die von den Akteuren angewendet werden, und nicht auf Ideologien [und] Ansichten […].“27 Von staatlichen Behörden ist daher der Sammelbegriff „gewaltbejahender Extremismus“ (våldsbejakande extremism) für Ideologien, Bewegungen und Netzwerke im rechten (vit-makt-miljöer), gewaltbejahenden islamistischen (våldsbejakande islamistiska miljöer) und im linksautonomen Spektrum (autonoma miljöer) eingeführt worden.28 Der Sammelbegriff stößt unter anderem wegen der fehlenden analytischen Schärfe sowie der Vielzahl an unterschiedlichen Organisationen und Netzwerken, die phänomenübergreifend darunter subsumiert werden, auf wissenschaftliche Vorbehalte.29 Darüber hinaus wird in Schweden der Zusatz der „Gewaltbe24 Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 11. 25 Berichte der Säkerhetspolisen (SÄPO), des schwedischen Nachrichtendienstes, URL: https:// www.sakerhetspolisen.se/publikationer.html [eingesehen am 30.09.2019]. 26 Vgl. Säkerhetspolisen u. Brottsförebyggande rådet, Våldsam politisk extremism, Rapport 2009:15, Stockholm 2009, S. 44ff.; „Netzwerke haben keine zentrale Führung und werden von mehr oder minder selbstständigen Gruppierungen geformt; Kampagnen sind zufällige Projekte, die Gruppen oder Individuen um ein Thema oder ein Geschehen mobilisieren; und Aktionsnamen können von Gruppen oder Individuen ohne offizielle Plattform benutzt werden – wer immer die grundlegende Ideologie teilt, kann den Aktionsnamen benutzen.“ Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 123 [Hervorh. im Orig.]. 27 Säkerhetspolisen, URL: https://www.sakerhetspolisen.se/forfattningsskydd/extremistmiljoerna.html [eingesehen am 30.09.2019]. 28 Vgl. Statens Offentliga Utredningar (SOU 2013:81), När vi bryr oss. Förslag om samverkan och utbildning för att effektivare förebygga våldsbejakande extremism, Stockholm 2013; Justitiedepartementet DS 2014:4, Våldsbejakande extremism i Sverige – nuläge och tendenser, Stockholm 2014. 29 Zur Begriffsdiskussion Christoffer Carlsson, Att lämna våldsbejakande extremism. En kunskapsöversikt, Institutet för Framtidsstudier, Forskningsrapport 2016/1, Stockholm 2016, S. 11–14; siehe auch Heléne Lööw, Våldsbejakande extremism – begrepp och diskurs, in: Christofer Edling u. Amir Rostami (Hg.), Våldsbejakande extremism. En forskarantologi, Statens Offentliga Utredningar (SOU 2017:67), Stockholm 2017, S. 21–46; Kritisch zum Begriff des Extremismus aus schwedischer Perspektive Adrienne Sörbom u. Magnus Wennerhag, Be-

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jahung“ kritisch reflektiert „unter anderem deswegen, weil auch nicht eindeutig ist, ob damit Normen oder Handlungen gemeint sind.“30 Während die Kritiker*innen des Begriffs Klassifizierungs- und Stigmatisierungstendenzen sehen, die demokratisches Engagement von linken (radikalen) Gruppierungen kriminalisieren und unter Generalverdacht stellen,31 erkennen Verfechter*innen des Begriffs eine affirmative Haltung einzelner Bewegungsforscher*innen gegenüber linksradikalen Gruppen und Gewaltideologien.32 Hervorzuheben ist aber, dass die sozialwissenschaftliche Forschung von den politischen Handlungsplänen33 zum „gewaltbejahenden Extremismus“ profitiert, weil seither Studien entstehen, die sich mit dem Phänomen des autonomen Linksradikalismus jenseits eines sicherheitspolitischen Diskurses differenziert auseinandersetzen.34

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greppet extremism – en kritisk introduktion, in: Arkiv. Tidskrift för samhällsanalys, H. 5/2016, S. 15–37. Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 8. Wennerhag und Jämte weisen darauf hin, dass international eher vom „gewaltsamen Extremismus“ oder „politisch motivierter Gewalt“ gesprochen werde. Vgl. Joakim Ekman u. a., Förslag mot extremism hotar demokratisk grund, in: Dagens Nyheter, 05.04.2014; Kristina Boréus u. a., Civil olydnad inte lika med våldsbejakande extremism, in: Dagens Nyheter, 22.03.2015. Vgl. Fredrik Segerfeldt, De fina forskarna, URL: https://timbro.se/smedjan/de-fina-forskarna/ [eingesehen am 30.11.2019]; Magnus Sandelin, Att bejaka våldet är inte civil olydnand, URL: https://www.magnussandelin.se/att-bejaka-valdet-ar-inte-civil-olydnad [eingesehen am 30.11.2019]. Abwägend: Jenny Sivenbring, Demokratiseringens dilemman i de nordiska handlingsplanerna mot våldsbejakande extremism, Göteborgs universitet, Rapport 4, Segerstedtinstitutet, Göteborg 2017, URL: https://segerstedtinstitutet.gu.se/digitalAssets/1620/1620682_ demokratiseringens-dilemman-rev170322.pdf, [eingesehen am 30.11.2019]. Vgl. als Überblick unter Einbezug von Gender- und Jugendaspekten Måns Lundstedt, Ung och extrem – om våldsbejakande vänsterextremism, Myndigheten för ungdoms- och civilsamhällesfrågor (Mucf), URL: https://www.mucf.se/sites/default/files/publikationer_uploads/ungoch-extrem-vansterextremism.pdf [eingesehen am 30.11.2019]; dem entgegen Anna-Lena Lodenius, Tillrättalagd rapport om extremvänstern, in: Dagens samhälle, 24.11.2016, URL: https://www.dagenssamhalle.se/nyhet/tillraettalagd-rapport-om-extremvaenstern-29654 [eingesehen am 30.11.2019]; vgl. zur Internetnutzung von linksradikalen Gruppierungen Linus Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska; zur Entwicklung der schwedischen linksradikalen Bewegung seit 1997, wie „Präventionsmaßnahmen“ auf lokaler Ebene von Aktivist*innen und staatlichen Akteur*innen bewertet werden: Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder; Vgl. auch den Forschungsüberblick von Magnus Wennerhag, Sociala rörelser, protest och politiskt våld – en forskningsöversikt, in: Edling u. Rostami (Hg.), Våldsbejakande extremism, S. 291–322. Zur Deradikalisierung des autonomen Linksradikalismus sowie zu Wandlungen und Kontinuitäten des linksradikalen Aktivismus ab den 1990er Jahren siehe die aktuelle Studie von Jan Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism? The Collective Identity of Contemporary Radical Left-libertarian Activism in Sweden, in: Journal for the Study of Radicalism, Jg. 14 (2020), H. 1, S. 1–36.

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Diesem Ansatz wird im Beitrag35 anhand eines Überblicks der Entwicklungslinien, Kontextbedingungen, Themenkonjunkturen und Netzwerke des autonomen Linksradikalismus in Schweden gefolgt. Welche Rolle überlieferte Protestkulturen, Generationswechsel und transnationale Verbindungen für die Entstehung und Entwicklung des autonomen Linksradikalismus in Schweden spielen und spielten, gerät dabei ebenso in den Blick wie die Frage nach politischen Zielen: Wie werden und wurden diese in den einzelnen Szenen und Netzwerken formuliert und wie sind diese (informell) organisiert? Welche Themenkonjunkturen lassen sich seit Mitte der 1980er Jahre feststellen? Wie unterschied sich der autonome Linksradikalismus in Schweden von den Entwicklungen der europäischen Nachbarländer, insbesondere Dänemark? Gab es spezifische Kristallisations- und Wendepunkte und welche politischen und strategischen Neuformierungen resultierten daraus? Genereller: Wie sieht das gegenwärtige Feld des schwedischen autonomen Linksradikalismus überhaupt aus? Dabei nimmt der Antifaschismus36 in der folgenden Betrachtung eine Sonderstellung ein, weil dieser einerseits ein zentrales konstituierendes Themenfeld der autonomen Bewegung in Schweden Anfang der 1990er Jahre darstellte.37 Zum anderen haben antifaschistische Netzwerke wie die Antifascistisk aktion (AFA) und die Revolutionära front (RF) – lange Zeit die wohl bekanntesten Vertreter des autonomen Linksradikalismus in Schweden – mittels ihrer militanten Methoden und Selbstinszenierungen die Außenwahrnehmung der heterogenen autonomen Szene maßgeblich geprägt.38 Unerlässlich erscheint zudem, die Entwicklung des autonomen Linksradikalismus in Schweden nicht isoliert, sondern im Wechselverhältnis mit rechtsextremen Gewaltkonjunk-

35 Der Beitrag stützt sich auf Sekundärliteratur, die Bewertung von Studien sowie der Internetpräsenzen und Selbstdarstellungen linksradikaler Netzwerke und Bündnisse, ergänzt um die schwedische Tagespresse und linksradikale Szenezeitschriften. Alle Übersetzungen aus der schwedischen Sprache stammen vom Autor. 36 Nils Schuhmacher unterscheidet „zwischen einem Handlungs- und Konfliktfeld Antifaschismus“ sowie „einer politisch-sozialen Struktur, bestehend aus Antifa-Gruppen und -Szenen“. Nils Schuhmacher, Die Antifa im Umbruch. Neuformierungen und aktuelle Diskurse über Konzepte politischer Intervention, in; Forschungsjournal Soziale Bewegungen 28, Jg. 2 (2015), S. 5–16, hier S. 6 [Hervorh. im Orig.]. 37 Zu Ausprägungen und historischen Entwicklungen des Antirassismus und Antifaschismus in Schweden siehe Jan Jämte, Antirasismens många ansikten, Umeå 2013. 38 Vgl. Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 125. Auch in den wenigen deutschen sozialwissenschaftlichen Analysen, die sich mit „Linksextremismus“ in Schweden befassen, werden fast immer die Netzwerke AFA und RF genannt. Vgl. etwa Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland im europäischen Vergleich, in: Dossier Linksextremismus, URL: https://www.bpb.de/politik/extremismus/linksextremismus/188314/linksextremismusin-deutschland-im-europaeischen-vergleich [eingesehen am 30.11.2019].

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turen, staatlichen Gegenreaktionen und im Hinblick auf Veränderungen der politisch-kulturellen Rahmenbedingungen zu analysieren.39 Syndikalismus, 68er-Bewegung und die Dominanz der autoritären Linken Die Entstehung linksradikaler Gruppierungen in Schweden erfolgte in zwei größeren „Bewegungswellen“.40 Anfang des 20. Jahrhunderts spaltete sich der von anarchistischen Ideen geprägte Jugendverband der Sozialdemokratie von dieser ab und im Jahr 1910 formierte sich der anarchosyndikalistische Gewerkschaftsverband Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC).41 Die Spaltung der Sozialdemokratie in Schweden gründete dabei weniger in der russischen Oktoberrevolution, sondern vielmehr in einem „innerparteiliche[n] Erosionsprozeß, der Syndikalisten, Anarchisten und vor allem radikale Sozialisten in Opposition zum reformerisch-revisionistischen Ministersozialismus der Sozialdemokraten geraten ließ.“42 Bis zum Zweiten Weltkrieg sollten vor allem Syndikalist*innen für die Verbreitung linksradikaler Ideen sorgen, wobei der Gewerkschafsverband SAC bis 1936 ca. 40.000 Mitglieder besaß.43 Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog der SAC allerdings eine „reformistische“ Wende und stellte sich hinter den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsaufbau.44 Bei der zweiten „Welle“ im Kontext des Aufkommens der Neuen Linken und der 68er- Bewegung lassen sich weniger klare organisatorische Kontinuitätslinien nachweisen.45 Die Neue Linke unterschied sich einerseits von der Alten Linken dadurch, dass sie den autoritären Staatskommunismus ablehnte, andererseits jedoch auch die „reformistische“ Politik der Sozialdemokratie

39 Auf diesen Ansatz verweist auch Albert Scherr in Klaus Farin, Die Autonomen, Berlin 2015, S. 346. 40 Vgl. Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 11. 41 Vgl. Piotrowski u. Wennerhag, Always Against The State?, S. 850; siehe auch die Selbstdarstellung des SAC, Ett Sekel av Syndikalism. Sveriges Arbetares Centralorganisation 1910-2010, Stockholm 2012; vgl. auch Statens Offentliga Utredningar (SOU 2002:91), Hotet från vänster, Stockholm 2002, S. 307. 42 Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, S. 269. 43 Vgl. Piotrowski u. Wennerhag, Always Against The State?, S. 850; siehe auch Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 11. 44 Vgl. Piotrowski u. Wennerhag, Always Against The State?, S. 851. 45 Zur Radikalisierung der 1960er Jahre in Schweden: Kjell Östberg, 1968 när allting var i rörelse, Stockholm 2002; zum skandinavischen Vergleich: Thomas Ekman Jørgensen, Scandinavia, in: Martin Klimke u. Joachim Scharloth (Hg.), 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956–1977, New York 2008, S. 239–252.

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als „Verrat“ an sozialistischen Idealen verwarf.46 Die Neue Linke in Schweden hegte Skepsis gegen die Konsenspolitik und angebliche Entideologisierung der Sozialdemokratie, hierarchische Beschlussformen (in Parteien, Gewerkschaften und Wohlfahrtspolitik) sowie die forcierte Rationalisierungs- und Modernisierungspolitik der Sozialdemokratie, welcher man vorwarf, einer bürgerlich-kapitalistischen Verwertungslogik zu folgen.47 In Schweden integrierte vor allem die Schwedische Kommunistische Partei (Sveriges kommunistiska parti/SKP) unter dem seit 1964 amtierenden Vorsitzenden Carl-Henrik Hermansson Teile dieser Kritik, während in Dänemark und Norwegen neue linkssozialistische Parteien gegründet wurden.48 Der Modernisierungskurs unter Hermansson wurde mit dem Namenswechsel zu „Linkspartei/Kommunisten“ (Vänsterpartiet/Kommunisterna/VPK) markant unterstrichen, während sich inhaltlich eine Abkehr vom Stalinismus und eine Annäherung an eurokommunistische Parteien vollzog. Diese „Abkehr von Moskau“ führte allerdings dazu, dass sich ab Ende der 1960er Jahre traditionell-orthodoxe Gruppen von der VPK abspalteten.49 Eine zentrale Rolle dabei kam dem 1967 gegründeten „Kommunistischen Verband der Marxisten-Leninisten“50 (Kommunistiska Förbundet marxist-leninisterna/KFML) zu, der den radikalen Flügel der schwedischen FNL-Gruppen (Front National de Libération) zur Befreiung Südvietnams und deren 1966 gegründete Zentralorganisation „Die vereinigten FNL-Gruppen“ (De förenade FNL-grupperna/DFFG) zeitweise kontrollierte und als Rekrutierungsbasis nutzte.51 Der Vietnamkrieg verkörperte das mobilisierende Thema der 1960er und frühen 1970er Jahre in Schweden und zog jenseits der Student*innenbewegung zahlreiche Personen an, weshalb sich für die maoistische KFML ein breites Reservoir an Politisierungs- und Schulungsmöglichkeiten im Sinne ihrer antiimperialistischen Zielsetzungen ergab.52 Das 46 Vgl. Magnus Wennerhag, Radical Left Movements in Europe: An Introduction, in: Ders. u. a. (Hg.), Radical Left Movements in Europe, London 2018, S. 1–21, hier S. 10; Kjell Östberg u. Jenny Andersson, Sveriges Historia, Stockholm 2013, S. 173f. 47 Zur schwedischen Neuen Linken vgl. Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte?, S. 85f. 48 Vgl. Östberg u. Andersson, Sveriges Historia, S. 174. 49 Vgl. ebd., S. 153. 50 Vgl. einführend in deutscher Sprache zur KFML: Bernd Henningsen, Die Linke in Schweden. Geschichte, Programme, Politik, in: Hans Rühle u. Hans-Joachim Veen (Hg.), Sozialistische und kommunistische Parteien in Westeuropa, Bd. II, Nordländer, Opladen 1979, S. 123–200, hier S. 192ff. 51 Ausführlich hierzu Kim Salomon, Rebeller i takt med tiden – FNL-rörelsen och 60-talets ritualer, Stockholm 1996, URL: https://marxistarkiv.se/sverige/fnlrorelsen/salomon-i_takt_ med_tiden.pdf [eingesehen am 30.11.2019]. 52 Vgl. ebd., S. 66ff.; vgl. auch Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte?, S. 122; siehe auch Peterson, Contemporary Political Protest, S. 49.

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Aktionsfeld des Antiimperialismus nahm im schwedischen Linksradikalismus seit den 1960er Jahren eine überragende Rolle ein, was nicht zuletzt auf die Stärke der Vietnambewegung, die Dominanz maoistischer Gruppen und eine hohe Affinität zu Befreiungsbewegungen zurückzuführen war.53 Die KFML54 versuchte parallel jedoch auch, Aktionsgruppen und Kampagnen gegen die EG und Arbeitslosennetzwerke zu unterwandern, um „der Entlarvung einer imperialistischen Herrschaftsmaschinerie“ Vorschub zu leisten.55 Für Schweden lässt sich somit festhalten, dass anarchistische, spontaneistische und antiautoritäre Gruppierungen56 keine herausragende Stellung in der 68er-Bewegung und in den Jahren danach im Linksradikalismus einnahmen.57 Generell erschien der Aktionsrahmen in Schweden für radikale Protestbewegungen derart beschränkt, dass sich selbst revolutionäre Bewegungen an den Organisationsstrukturen der traditionellen Volksbewegungen orientierten wie Thomas Etzemüller im Rekurs auf den schwedischen Historiker Kjell Östberg ausführt: „Erstaunlich viele gesellschaftsunterminierende Organisationen gaben sich Satzungen, die jeder Gewerkschaft oder jedem Kleingärtnerverein Ehre gemacht hätten. […] Das signalisierte nicht gerade Anarchie.“58 Die dänische Student*innenbewegung und die radikale Linke waren hingegen weitaus offener für antihierarchische Organisationsmodelle und direkte Aktionsformen, was Thomas Ekman Jørgensen unter anderem auf die marginale Rolle des Puritanismus in Dänemark zurückgeführt hat. Dessen Werte wie Nüchternheit und Orthodoxie hätten, so Ekman Jørgensen, in Schweden und Norwegen auch dazu beigetragen, dass der Maoismus zur prägenden Ideologie und zum präferierten Organisationsmodell der radikalen Linken avanciert sei.59 Zudem habe der ausgeprägte Zentrum-Peripherie-Konflikt in den ausgedehnten Flächenländern Norwegen und Schweden ebenfalls die Rezeption des 53 „[W]hile the Maoists focused on Asia, the Trotskyists were strong on Latin America, and southern Africa was the area mainly taken care of by groups standing close to the Swedish Communist Party.“ Peterson u. a., Sweden 1950–2015, S. 411. 54 1970 spaltete sich die KFML(r), ein radikaler revolutionärer Ableger, von der KFML ab. Die KFML(r) trat 1973 bei der Reichstagswahl an und erhielt 0,2 Prozent der Stimmen. Die Partei nennt sich seit 2005 Kommunistiska partiet (Kommunistische Partei). Zur Spaltung und den Strömungen der KFML vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 20–24. 55 Henningsen, Die Linke in Schweden, S. 194. 56 Obwohl sich auch anarchistische und antiautoritäre Gruppierungen wie die International Harvester, Alternativt samhälle und Arkiv samtal bildeten, führten diese doch ein Schattendasein in der linksradikalen Bewegung jener Jahre. Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 310. 57 Vgl. Thomas Ekman Jørgensen, The Scandinavian 1968 in a European perspective, in: Scandinavian Journal of History, Jg. 33 (2008), H. 4, S. 326–338, hier S. 332. 58 Zit. nach Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte?, S. 220. 59 Vgl. Ekman Jørgensen, Scandinavia, S. 243; siehe auch Ekman Jørgensen, The Scandinavian 1968, S. 329.

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Maoismus bestärkt, weil nicht der städtische Arbeiter, sondern „das Volk“ (vor allem Bauern und Fischer) in den peripheren Landstrichen das Subjekt der Revolution darstellte.60 Erst durch die aufkommende Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung61 setzten sich ab Mitte der 1970er Jahre sukzessive alternative Organisations- und Lebensmodelle in Schweden durch, die sich vom Zentralismus und dem ideologischen Dogmatismus der maoistischen und leninistischen Gruppen abgrenzten.62 Ungleiche Entwicklungen – Hausbesetzungen in Dänemark und Schweden Als Vorläufer der Autonomen bildete dabei auch in Skandinavien die Hausbesetzer*innenbewegung die „‚radikal flank‘ to several social movements – for instance the anti-apartheid, the environmental, and the anti-racist-movements.“63 Im skandinavischen Vergleich etablierte sich vor allem in Dänemark bereits Anfang der 1970er Jahre eine aktive Hausbesetzer*innenszene, die in den 1980er Jahren dann militantere Formen annahm.64 Ein wichtiges Moment der wachsenden Hausbesetzer*innenszene und den aus dieser später hervorgehenden Autonomen in Dänemark stellte ohne Zweifel die Besetzung eines ehemaligen Militärstützpunktes in Kopenhagen im Jahr 1971 dar, auf dessen Fläche die so genannte „Freistadt Christiania“ (Fristaden Christiania) zum „focal point for a cultural-political opposition in Denmark“ avancierte.65 Hier ballte sich die dänische Alternativkultur in all ihren Schattierungen, wodurch die „Freistadt“ zum realen Sinnbild und lebensweltlichen Beweis dafür wurde, dass eine demokratischere und freiere Gesellschaftsform möglich wäre. Ab den 1980er Jahren avancierte zudem das Ungdomshuset (Jugendhaus) in Kopenhagen, das nach mehrmaligen militanten Hausbesetzungen und Demonstrationen von der 60 Vgl. Ekman Jørgensen, The Scandinavian 1968, S. 328f. 61 Zur enormen gesellschaftlichen Bedeutung der Frauenbewegung in Schweden und dem Aufbrechen der Rollenbilder siehe Östberg u. Andersson, Sveriges Historia, S. 182ff. 62 Vgl. Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 11; Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here? S. 99. 63 Jan Jämte, Radical anti-fascism in Scandinavia. Shifting frames in relation to the transformation of the far right, in: Magnus Wennerhag u. a. (Hg.), Radical Left Movements, S. 248–267, hier S. 253. 64 Vgl. ausführlich René Karpantschof u. Flemming Mikkelsen, Youth, Space and Autonomy in Copenhagen. The Squatters’ and Autonomous Movement, 1963–2012, in: Bart van der Steen u. a. (Hg.), The City Is Ours. Squatting and Autonomous Movements in Europe from the 1970s to the Present, Oakland 2014, S. 179–204. 65 George Katsiaficas, The Subversion of Politics. European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life, Oakland 2006, S. 117.

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Stadt Kopenhagen im Jahr 1982 an die Aktivist*innen übergeben wurde, zum Mittelpunkt der dänischen Hausbesetzer*innenbewegung (BZ-Bewegung).66 Um das Ungdomshuset entstand eine lebendige Infrastruktur, die sich von den Normen und Autoritäten der dänischen Mehrheitsgesellschaft absonderte und durch ihre praktische Umsetzung antihierarchischer und „autonomer“ Lebensund Organisationsmodelle zum Anziehungspunkt für die erlebnisorientierte und kritische Jugend avancierte.67 Als international herausragendes Ereignis in Skandinavien gelten hierbei die Barrikadenkämpfe in Teilen der Ryesgade68 durch mehrere Hundert Aktivist*innen im September 1986.69 Sie waren einerseits der Kulminationspunkt von Konflikten zwischen der Kopenhagener BZ-Bewegung und der Stadtverwaltung sowie der Polizei, die bereits lange schwelten; andererseits waren sie der Wohnungsnot sowie Gentrifizierungsprozessen in Kopenhagen geschuldet. Die Kritik am Apartheidsregime in Südafrika und an den Militäreinsätzen der USA in Südamerika (vor allem Nicaragua) luden den Konflikt zudem antiimperialistisch auf.70 Die schwedische Hausbesetzer*innenszene konnte jedoch nie an die dänischen Entwicklungen anknüpfen, gar ähnlich dichtmaschige Milieu- und Szenestrukturen sowie Widerstandserzählungen ausbilden.71 Dabei hatte es Versuche gegeben: Für Aufmerksamkeit sorgte im Jahr 1968 die Besetzung des Stockholmer Kårhauses (Student*innenvertretungsgebäude),72 die wie jene von Stockholmer Theater und Oper schnell wieder aufgegeben wurde.73 Erfolgreicher waren die Hausbesetzungen in Göteborg, der zweitgrößten Stadt

66 Ausführlich hierzu: René Karpantschof, Kopenhagen, Jagtvej 69. Ein Jugendzentrum zwischen Besetzungen, Politik und Polizei (1981–2007), in: Peter Birke u. Chris Holmsted Larsen (Hg.), Besetze deine Stadt – BZ din By! Häuserkämpfe und Stadtentwicklung in Kopenhagen, Berlin 2007, S. 53–78, hier S. 56ff. 67 Vgl. ebd., S. 58f. 68 Die Kämpfe und Blockaden rund um die besetzten Häuser um die Ryesgade werden zusammen mit der Barrikade in der Amsterdamer Vondelstraat und den Barrikaden-Tagen in Hamburg bis heute in der Hausbesetzer*innenbewegung glorifiziert und verklärt. Vgl. Bart van der Steen u. a., Introduction. Squatting and Autonomous Action in Europe. 1980–2012, in: Ders. u. a. (Hg.), The City Is Ours. Squatting and Autonomous Movements in Europe from the 1970s to the Present, Oakland 2014, S. 1–18, hier. S. 7f. 69 Vgl. Katsiaficas, The Subversion of Politics, S. 122. 70 Vgl. ebd. 71 Vgl. zu unterschiedlichen Phasen der Hausbesetzer*innenszene Dominika V. Polanska, Reclaiming inclusive politics. Squatting in Sweden 1968–2016, in: Trespass Journal, H. 1/2017, https://dominikavpolanska.se/wp-content/uploads/2018/11/2017_Trespass.pdf [eingesehen am 30.11.2019]. 72 Vgl. Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte?, S. 114; vgl. auch Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 100; Peterson u. a., Sweden 1950-2015, S. 388. 73 Vgl. Peterson u. a., Sweden 1950–2015, S. 388.

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Schwedens, in der etwa das Hagahuset 74 , ein von der Kommune verwaltetes und von Schließung bedrohtes Jugendhaus und Sozialzentrum (allaktivitetshus), im Jahr 1972 zweimal besetzt wurde.75 1974 wurde dann als Ersatz ein selbstverwaltetes Gebäude im Stadtteil Haga zur Verfügung gestellt, das aber auf kommunale Weisung einen freiwilligen Vorstand installieren musste und in dem striktes Alkoholverbot herrschte.76 Auch dank des Allaktivitätshauses mit dem Namen Sprängkullen entwickelte sich der Göteborger Stadtteil Haga, ähnlich wie Christiania und der Stadtteil Nørrebro in Kopenhagen, zum Mittelpunkt der schwedischen Alternativkultur,77 obwohl die Analogien eher im Bereich des kulturellen Angebots und weniger in autonomer Selbstverwaltung lagen.78 Die schwedischen Beispiele79 markieren dabei Unterschiede zu den Entwicklungen in der Bundesrepublik, den Niederlanden oder Dänemark: So fand die schwedische Hausbesetzer*innenbewegung erst seit Mitte der 1980er Jahre, also fünf bis zehn Jahre später als im Nachbarland Dänemark, nennenswerten Niederschlag.80 Ferner waren die Protestformen in Schweden moderater, Militanz spielte bei den Aktivist*innen dieser Generation eine geringe Rolle, weshalb Häuser- und Barrikadenkämpfe wie in West-Berlin, Hamburg oder Kopenhagen in Schweden keine Entsprechung fanden.81 Schwedische Nachholprozesse Erst ab Mitte der 1980er Jahre ließen sich vermehrt konfrontativere Protestformen vonseiten einer aktiver werdenden Hausbesetzer*innenszene in schwedischen Großstädten feststellen.82 Als Wendepunkt galt dabei die Besetzung des Gebäudes in der Stockholmer Luntmakargatan 61 im Juni 1986, als die Polizei 74 Zum Hintergrund des Hauses vgl. auch o. V., Detta var Hagahuset, in: Dagens Nyheter, 10.11.1974. 75 Vgl. Peterson u. a., Sweden 1950–2015, S. 389f. 76 Vgl. ebd., S. 390; Kerstin Sevalsson, Sprängkullen huset för alla sjuder av liv, in: Dagens Nyheter, 10.11.1974. 77 Vgl. Peterson u. a., Sweden 1950–2015, S. 390. 78 Etzemüller verweist dabei auf die „Bürokratisierung der allaktivitätsrörelse“, worin er auch partiell das Scheitern begründet sieht. Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte?, S. 212 [Hervorh. im Orig.]. 79 Für eine Übersicht der Hausbesetzungen in Schweden in den 1970er und 1980er Jahren siehe Polanska, Reclaiming inclusive politics, S. 49 u. S. 52. 80 Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 332 u. S. 356. 81 Vgl. Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 100. 82 Zur Hausbesetzer*innenbewegung in Schweden seit den 1970er Jahren vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 332–343; zur Radikalisierung siehe Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 105f.

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bei der Erstürmung des Gebäudes zum ersten Mal Tränengas einsetzte.83 Eine herausgehobene Stellung für die Entwicklung des Linksradikalismus nahm die 1987 gegründete Aktionsgruppe Commando Coca Cola ein, die sich aus Personen der schwedischen Hausbesetzer*innenszene rekrutierte und durch gewaltsame Demonstrationen und Sachbeschädigungen amerikanischer Infrastruktur, McDonald’s-Filialen sowie Shelltankstellen auszeichnete.84 Nach Bewertungen der schwedischen Sicherheitsbehörden war die schwedische anarchistische Szene „lose zusammengefügt“, besaß jedoch einen „klar organisierten Kern, der unter anderem in Kontakt mit der dänischen BZ-Bewegung stand.“85 Hausbesetzungen, die aufgrund ihres für schwedische Gewohnheiten ungewöhnlich eskalatorischen Verlaufs auch große mediale Aufmerksamkeit bekamen, folgten in Stockholm im Jahr 1990 in der Folkungagatan 164 und in der Malmöer Ringgatan, wo nach Angaben schwedischer Sicherheitsbehörden zum ersten Mal Molotowcocktails gegen die Polizei eingesetzt wurden.86 Jan Jämte und Adrienne Sörbom deuten die gewaltsame Räumung der Folkungagatan 164 dagegen als „symbolical turning point“ einer steigenden polizeilichen Repression gegenüber den Aktivist*innen.87 Was sich bereits mit der Räumung der Luntmakargatan im Jahr 1986 angedeutet hatte, war ab dem Jahr 1990 in der Folkungagatan immer deutlicher geworden: Hausbesetzungen avancierten nunmehr von einer politischen zu einer sicherheitspolitischen Aufgabe.88 Daneben ließen sich drei Entwicklungstendenzen innerhalb der schwedischen linksradikalen Bewegung aufzeigen, die die wachsende Radikalisierung erklären können: Erstens vollzog sich ab den 1980er Jahren ein Generationswechsel. Ältere, noch in maoistischen Gruppierungen sozialisierte Aktivist*innen zogen sich langsam zurück, während jüngere Aktivist*innen mit Verankerung im subkulturellen Punkmilieu die Oberhand gewannen.89 Damit erhöhte sich zugleich die Attraktivität für Jugendliche, die keine verbindliche Mitgliedschaft suchten, sondern sich eher von kulturellen Codes, der Kleidung und nicht zuletzt auch von Normbrüchen angezogen fühlten. Auch die schwedische Soziologin Abby Peterson verweist auf den Übergang von den maoistischen 83 Auf diese Besetzung verweisen mehrere Studien und Darstellungen. Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 335; vgl. Säkerhetspolisen u. Brottsförebyggande rådet, Våldsam politisk extremism, S. 42. 84 Vgl. Statens Offentliga Utredningar (SOU 2002:87), Rikets säkerhet och den personliga integriteten, Stockholm 2002, S. 201; vgl. auch Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 330f. 85 Zit. nach Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 330. 86 Vgl. ebd., S. 338 u. S. 342. 87 Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 109. 88 Peterson u. a. diagnostizieren auch einen „shift towards the use of stronger coercive methods by police in relation to squats.“ Peterson u. a., Sweden 1950–2015, S. 391. 89 Vgl. Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 105.

Autonomer Linksradikalismus in Schweden

„ideologischen Sekten“ der 1970er Jahre zu den „aktionsorientierten Sekten“ der 1990er Jahre, den sie an einer stärkeren Tatorientierung, einer informellen und dezentralen Organisationsstruktur sowie an fehlenden ideologischen Legitimationen der Aktionen festmacht.90 Mit dem Generationswechsel ab den 1980er Jahren erfolgte somit in der linksradikalen Bewegung in Schweden eine partielle Loslösung von den traditionellen Protest- und Organisationsformen, die lange Zeit disziplinierend und mäßigend auf die Aktivist*innen eingewirkt hatten. Zweitens verlagerten sich die thematischen Bezugspunkte des Linksradikalismus von internationalen Solidaritätskämpfen auf die durch Migrationsbewegungen ab Ende der 1960er Jahre multikulturell geprägte schwedische Gesellschaft.91 Rassismus, Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen wurden zunehmend als strukturelle Probleme der schwedischen Gesellschaft und Politik gedeutet; Solidarität galt vor allem den sogenannten „neuen Schweden“ mit Migrations- und Flüchtlingshintergrund, wodurch auch konfrontativere Handlungsfelder wie der Antifaschismus an Bedeutung gewannen.92 Drittens knüpften die jüngeren Aktivist*innen durch Besuche von Konzerten und Veranstaltungen engere Kontakte zu autonomen Szenen in der Bundesrepublik und in Dänemark und importierten dadurch radikale Ideen, Taktiken und Protestformen: „The international contacts led to the diffusion of political ideas and repertoires of action. Taken together, this meant an introduction of new focuses, more radical protest tactics and the introduction of new theoretical perspectives.“93 Wie wichtig dieser transnationale Austausch für die Konstituierung eines autonomen Protestmilieus war, zeigt sich am Beispiel der „antifaschistischen Blockade“ in Lund im Jahr 1991, die vielen als die Geburtsstunde der Autonomen in (Süd)Schweden gilt.94 Die Blockade in Lund 1991 Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Universitätsstadt Lund alljährlich am 30. November zum Anlaufpunkt von rechtskonservativen Manifes90 91 92 93 94

Vgl. Peterson, Contemporary Political Protest, S. 48ff. Vgl. ebd., S. 53. Vgl. ebd. Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 106. Vgl. Andrés Brink Pinto u. Johan Pries, Rethinking transformative events to understand the making of new contentious performances. The „autonomous left“ and the anti-fascist blockade in Lund 1991, in: Magnus Wennerhag u. a. (Hg.), Radical Left Movements in Europe, S. 156–172, hier S. 159f.; vgl. ausführlich zu den Märschen in Lund und die Gegenmobilisierung Andrés Brink Pinto u. Johan Pries, Trettionde november – kampen om Lund 1985–2008, Lund 2013.

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tationen und Gedenkmärschen, um König Karl XII. an seinem (angeblichen) Todestag zu gedenken. Ende der 1980er Jahre nahmen hieran vermehrt Neonazis teil, die sich häufig der Skinheadkultur zugehörig fühlten und aus dem Arbeitermilieu rekrutierten.95 Der schwedische Rechtsextremismus bekam durch die öffentlichkeitswirksamen Märsche der Skinheads ein neues Gesicht. Er trat selbstbewusster, militanter und jugendlicher auf als frühere rechte Zirkel in Schweden.96 Ehemalige Hausbesetzer*innen aus Kopenhagen waren 1991 federführend daran beteiligt, die ehemals pazifistische Szene in Südschweden zu radikalisieren und organisierte militante Protesttaktiken einzuführen, sodass der jährliche Marsch der Neonazis in Lund verhindert wurde.97 Statt friedlichen Aktionen wie bei früheren Gegendemonstrationen hagelten diesmal Steine auf Polizisten, Barrikaden wurden errichtet, Aktivist*innen trugen Gasmasken. Der Aktivist Staffan Jakobsson schreibt in seiner affirmativen Darstellung der historischen Entwicklung des Anarchismus in Lund, dass der militante Protest bewirkt habe, dass der 30. November inzwischen zum „antirassistischen Gedenktag“ avanciert sei.98 Die Blockade von Lund, so auch szenenahe Ausführungen, verkörpere „a didactic moment“ für die Bewegung in Südschweden, die ehemals pazifistische Szene „was displaced by the autonomous left almost overnight in the wake of the blockade in Lund.“99 Dass sich gerade in Lund der Protest mit militanten Mitteln entlud, lässt sich auf die Stadtkultur und den südschwedischen Regionalkontext zurückzuführen. Seit Ende der 1960er Jahre galt die Universitätsstadt Lund als ein Zentrum linker Studentenkultur in Schweden100 ; junge Einwohner, Szenekneipen und alternative Musikkultur boten einen günstigen Nährboden für linke Politisierung. Überdies galt Südschweden seit den 1930er Jahren als Hochburg der fremdenfeindlichen extremen Rechten101 , deren offen sichtbaren Aufmärsche und Übergriffe dies seit den 1980er Jahren unterstrichen. Hinzu kam die geografische Nähe zu Kopenhagen und zur norddeutschen linksradikalen 95 96 97 98

Vgl. Pinto u. Pries, Trettionde november, S. 13f. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Pinto u. Pries, Rethinking transformative events, S. 161f. Staffan Jacobsson, Anarkismen i Lund. Kort historik, URL: https://anarchyisorder.wordpress. com/2019/04/07/anarkismen-i-lund-kort-historik/ [eingesehen am 30.11.2019]. 99 Pinto u. Pries, Rethinking transformative events, S. 165. 100 Siehe Kim Salomon u. Göran Blomqvist (Hg.), Det röda Lund: berättelser om 1968 och studentrevolten, Lund 1998. 101 Vgl. Heléne Lööw, Der Rechtsextremismus in Schweden. Eine schleichende Gefahr, in: Nora Langenbach u. Britta Schellenberg (Hg.), Europa auf dem „Rechten“ Weg? Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2011, S. 281–297, hier S. 284f.

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Szene, die den transnationalen Austausch zwischen den Aktivist*innengruppen förderte.102 Die Idealisierung und Mythisierung der Blockade von 1991, die in Szenedarstellungen mitschwingt103 , verweist auf wichtige Funktionen für die Konstituierung, Attraktionskraft und kollektive Identitätsbildung des autonomen Linksradikalismus in (Süd-)Schweden bis weit in die 2000er Jahre. Als Erkennungszeichen der südschwedischen Aktivist*innen diente vor allem eine spezielle Demonstrationsformation.104 Die militanten Handlungen und Selbstinszenierungen führten aber zur Spaltung der antirassistischen und antifaschistischen Bewegung in einen reformistisch-bündnisorientierten und einen systemkritisch-militanten Flügel; letzterer wurde insbesondere von der AFA repräsentiert.105 Gründungskontext der Antifascistisk aktion (AFA) Die offizielle Gründung der schwedischen Sektion der AFA106 im Jahr 1993 folgte einerseits internationalen Trends,107 andererseits spielten – wie angedeutet – gesellschaftspolitische und ökonomische Entwicklungen in Schweden sowie die Radikalisierung des Rechtsextremismus eine bedeutende Rolle. Innerhalb der rechtsextremen schwedischen Bewegung vollzog sich in den 1980er Jahren ebenfalls ein Generationswechsel, während internationale Verbindungen zu militanten subkulturellen Milieus auf die schwedische Szene einwirkten. Die schwere Wirtschaftskrise in Schweden zu Beginn der 1990er Jahre, die für schwedische Verhältnisse massive Arbeitslosigkeit sowie ein wachsender Widerstand gegen Einwanderung stellten einen günstigen gesellschaftspolitischen und 102 „Aber die militante außerparlamentarische Linke in den großen nordwesteuropäischen Städten spielte eine wichtigere Rolle als nur einfach externe Mobilisierungsressource zu sein. Für viele der Autonomen aus Schonen, die an den Krawallen in Lund teilnahmen, war die Situation an sich überhaupt nicht neu. Diese waren im Gegenteil bei größeren Demonstrationen und Mobilisierungen regelmäßig nach Kopenhagen und die norddeutschen Städte gefahren.“ Pinto u. Pries, Trettionde november, S. 72f. 103 Beispielhaft Olle Meurling, Inga fascister på våra gator – Antifascistisk Aktion en kort historik, in: Anarkistisk Tidskrift, H. 12/1998, S. 105–118, hier S. 109. 104 „Militant demonstrations and blockades with the bulk of participants forming a distinct and difficult to break up formation by linking arms in lines of about ten demonstrators, flanked by banners, would be a common sights in Lund and Malmö well into the 2000s.“ Pinto u. Pries, Rethinking transformative events, S. 166. 105 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 284f. 106 Bereits im Jahr 1991 bei der Gegendemonstration am 30. November in Stockholm wurde der Name Antifascistisk Aktion als Organisationsname zum ersten Mal in Schweden verwendet. Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 346; vgl. auch Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 286f. 107 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 288.

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ökonomischen Nährboden für rechtsextremistische Agitation dar.108 So nahmen Anfang der 1990er Jahre rassistische Anschläge auf Flüchtlingsheime zu und die offen zutage tretende Gewaltbereitschaft von Neonazi-Gruppierungen stieg spürbar an. John Ausonius, der später unter dem Namen Lasermannen (der Lasermann) bekannt wurde, weil er mit einem Gewehr mittels Laserzielvorrichtung auf ausländisch aussehende Menschen schoss, hielt die schwedische Öffentlichkeit und Politik in Atem.109 Er verübte zwischen August 1991 und Januar 1992 elf Mordanschläge auf Migrant*innen und ermordete dabei einen iranischen Studenten.110 Der Rechtsruck in Teilen der schwedischen Gesellschaft machte sich auch parteipolitisch bemerkbar. Erstmals zog bei der Reichstagswahl 1991 mit der Ny demokrati (Neue Demokratie) eine rechtspopulistische Partei ins Parlament ein.111 Bereits 1988 hatten sich die Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten), deren Wurzeln teilweise in der rassistischen und neonazistischen Vereinigung Bevara Sverige Svenskt (Erhalte Schweden schwedisch) lagen, gegründet.112 Mehrere von Neonazis begangene Morde, darunter an John Hron im Jahr 1995, dem Syndikalisten Björn Söderberg und der Doppelmord an zwei Polizisten in Malexander im Jahr 1999 führten nicht nur zu großen landesweiten Demonstrationen, sondern ließen auch im linksradikalen Spektrum den Widerstand anwachsen.113 Die wachsende Militanz linksradikaler Gruppierungen114 muss somit einerseits auf die zunehmenden Gewalteskalationen zwischen Rechtsextremen und AFA zurückgeführt werden; andererseits sollte diese Entwicklung im Kontext der generellen Transformation der schwedischen Konsens- und Organisationskultur betrachtet werden, da zentrale stabilisierende Pfeiler der schwedischen Demokratie in den 1990er Jahren ins Wanken gerieten. Dazu gehören die

108 Vgl. Carl-Gustaf Scott, Fotboll, rasism och högerextremism i det svenska samhället, in: Anders Ivarsson Westerberg u. a. (Hg.), Det långa 1990 talet. När Sverige förändrades, Umeå 2014, S. 385–403, hier S. 388. 109 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 422. 110 Siehe hierzu ausführlich die Darstellung von Tamas Gellert, Lasermannen. En berättelse om Sverige, Stockholm 2002. 111 Zur Ny Demokrati siehe Anders Widfeldt, Extreme Right Parties in Scandinavia, London 2015, S. 176ff. 112 Zur Geschichte der Schwedendemokraten vgl. Anna-Lena Lodenius, Sverigedemokraterna historia, in: Håkan A. Bengtsson (Hg.), Högerpopulismen. En antologi om Sverigedemokraterna, Stockholm 2009, S. 11–41, hier S. 14f.; siehe auch Widfeldt, Extreme Right Parties, S. 180ff. 113 Vgl. Östberg u. Andersson, Sveriges Historia, S. 386f.; vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 58. 114 Vgl. Peterson, Contemporary Political Protest, S. 52f.

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enormen Mitgliederverluste aller Parteien (vor allem aber der Sozialdemokratie115 ) sowie die Auflösung zentraler Säulen des Korporatismus. Ab den 1990er Jahren sank in Schweden zudem das Vertrauen in politische Institutionen, die Wahlbeteiligung schrumpfte signifikant, die Verachtung für Politiker*innen wuchs sprunghaft an.116 Alte wohlfahrtsstaatliche, korporatistische und parteipolitische Institutionen, die gesellschaftliche Strömungen und Protest kanalisiert, gebündelt und nicht zuletzt befriedet hatten, verloren vermehrt an Integrationskraft. Praktiken, Ideologie und Strukturen der AFA Obwohl konfrontative Taktiken in der AFA ohne Zweifel im Vordergrund standen, ist die Reduktion der AFA auf eine bloß gewalttätige Gruppe zu eindimensional. Zum einen gibt es wenige Forschungsarbeiten darüber, wie sich Gewalt in schwedischen sozialen Bewegungen manifestiert, zum anderen ist die Gewaltpraxis nicht abhängig von einer einzelnen Akteur*innengruppe, sondern meist situativen Interaktionsprozessen mit anderen Akteur*innen geschuldet.117 Das Substantiv „Aktion“, das explizit im Namen der AFA verwendet wird, kann indes mit „Gegenentwürfen zur formal-institutionalistischen Partizipation“ und als proaktives „kämpferisches Handeln“ interpretiert werden, das durchaus konfrontative Aktionen beinhalten kann, aber nicht automatisch gewalttätiges Handeln bedeuten muss.118 In der Praxis agierte die AFA auf zwei zentralen Feldern: Es galt einerseits, die Mobilisierungskraft der Schwedendemokraten zu schwächen, andererseits sollte verhindert werden, dass Jugendliche in die rechtsextreme Subkultur abgleiten und der außerparlamentarische Rechtsextremismus auf den Straßen öffentlichkeitswirksam Flagge zeigen konnte.119 Dazu bedienten sich die AFA-Gruppen unterschiedlicher Praktiken wie NaziOutings, Aufklärungsarbeit, der Ausforschung von rechtsextremen Personen, 115 Durch die Abschaffung der Kollektivmitgliedschaft zwischen SAP und dem Dachgewerkschaftsverband LO sanken die Mitgliederzahlen von 1,2 Millionen auf 250.000 im Jahr 1991. Siehe Kjell Östberg, Politikens förändrade vilkor, in: Anders Ivarsson Westerberg u. a. (Hg.): Det långa 1990-talet. När Sverige förändrades, Umeå 2014, S. 147–178, hier S. 162. 116 Vgl. ebd., S. 160f.; zur Erosion der Parteiendemokratie in Schweden siehe Tommy Möller, Efter Guldåldern – om partiernas förändring och vad den innebär för demokratin, Stockholm 2018, S. 123ff. 117 Vgl. Wennerhag, Sociala rörelser, protest och politiskt våld, S. 298f. 118 Alexander Deycke, Von einer KPD-Initiative zur Autonomen Antifa. Antifaschistische Aktion gestern und heute, in: Demokratie-Dialog. Werkstattbericht der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) H. 2/2018, S. 41–46, hier S. 46; siehe auch Schuhmacher, Gewalt in der Antifa, S. 13f. 119 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 422.

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Wohnungen und Netzwerken, aber auch Attacken gegen von Rechtsextremen betriebene Lokale und Geschäfte. Ferner hielt die AFA Kontakte zu Aussteigern aus der radikalen Rechten und unterstützte die antifaschistische Szene in den skandinavischen Nachbarländern.120 Die AFA begreift sich als „sozialistische Bewegung und widersetzt sich deswegen dem kapitalistischen Gesellschaftssystem“. Sie strebt die „klassen- und staatenlose Gesellschaft“ an und „arbeitet nur außerparlamentarisch“.121 Ideologisch stützen sich die Aktivist*innen der AFA auf eine strukturelle Analyse von Faschismus und Rassismus.122 Insofern wird der Faschismus in all seinen Ausprägungen als „ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft“ und als „ein Produkt des Kapitalismus“ interpretiert.123 Der Artikel von Klaus Viehmann, der drei Unterdrückungsdimensionen (Rassismus, Klassismus, Sexismus) theoretisch ausformulierte und parallel verwob, fand nicht nur in der deutschen autonomen Bewegung Widerhall, sondern auch in der schwedischen breite Resonanz und gab einer bisher atheoretischen Bewegung ein ideologisches Fundament, hinter dem sich viele linksradikale Gruppierungen in den 1990 Jahren sammeln konnten.124 Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre öffnete sich die AFA thematisch zudem für die Forderungen der Globalisierungsbewegung, nachdem die Mobilisierungskraft des politischen Gegners in Gestalt der militanten Neonazigruppierungen abgenommen hatte und sich das AFA-Netzwerk personell, ideologisch und organisatorisch in der Krise befand.125 Organisatorisch war und ist die AFA bis heute ein informelles und loses Netzwerk von lokalen Aktionsgruppen, deren Ziel nach eigener Darstellung darin besteht, „den Informations- und Erfahrungsaustausch“ zu fördern „und zusammen landesweite Aktionen, beispielsweise gemeinsame Demonstrationen zu organisieren. Das Netzwerk hat keine zentrale Leitung und keine Repräsentant*innen, sondern die ganze Arbeit geht von den Lokalgruppen aus.“126 Zweimal im Jahr sollte dennoch ein großes Landestreffen der verschiedenen lokalen Mitgliedsgruppen der AFA stattfinden, um über die Aufnahme neuer Mitglieder abzustimmen, denen damit auch der Zugang zu internen Informationen gewährt wurde.127 120 Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 349; siehe zu den Taktiken und Debatten innerhalb der AFA unter anderem Peterson u. a., Sweden 1950–2015, S. 400. 121 Selbstverständnis der AFA, URL: https://antifa.se/presentation/ [eingesehen am 30.11.2019]. 122 Vgl. Jämte, Radical anti-fascism in Scandinavia, S. 254. 123 Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 123. 124 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 315f. 125 Vgl.ebd., S. 356f. 126 Selbstverständnis der AFA, URL: https://antifa.se/presentation/[ eingesehen am 30.11.2019]. 127 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 292.

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Radikale Umweltgruppierungen und jugendbewegter Syndikalismus Auch wenn das AFA-Netzwerk die Wahrnehmung linksradikaler Bewegung dominierte, existierten weitere erwähnenswerte überregionale Strukturen. So konstituierte sich 1995 als radikaler Zusammenschluss von Umweltaktionsgruppen etwa das ökologische Anarchist*innennetzwerk Socialekologisk aktion (Sozialökologische Aktion/SEA), das den Widerstand gegen das Infrastrukturund Verkehrsprojekt in der Region Stockholm (Stockholm län), das so genannte „Dennispaket“128 , bündeln wollte.129 Zum Sprachrohr der radikalen Umweltaktivist*innen avancierte die Zeitschrift Ekologisten, in der auch militante Aktionen diskutiert und debattiert wurden.130 Abseits der radikalen Umweltaktivist*innen der SEA bildete die 1993 gegründete Gruppierung Syndikalistiska Ungdomsförbundet (Syndikalistischer Jugendverband/SUF)131 neben der AFA „the basis for a growing militant scene that functioned as a radical flank to anti-racist, feminist, leftist and antiapartheid movement throughout the 1990s.“132 Der SUF kann, trotz seines Namens, nicht als offizieller Jugendverband des 1910 gegründeten anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsverbandes SAC angesehen werden, obwohl es Kooperationen und Bündnisse zwischen lokalen SUF-Gruppen und dem SAC gibt und gab.133 Das Ziel des SUF ist „die soziale Revolution, die Auflösung der Klassengesellschaft und des Staates und damit die Auflösung dessen sozialer Hierarchien.“134 Der Klassenkampf und der Kampf für Feminismus in Gesellschaft, Politik und Alltag nehmen eine zentrale Rolle in der Selbstbeschreibung des SUF ein, während „direkte Aktionen“ als Hauptmethode

128 Das Infrastrukturprojekt wurde nach dem damaligen Reichsbankchef Bengt Dennis benannt, der die Verhandlungen zwischen den Parteien führte. 129 Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 351; vgl. auch Anna-Lena Lodenius, Gatans parlament. Om politiska våldsverkare i Sverige, Stockholm 2006, S. 206. 130 Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Hotet, S. 351f. Die Aktionen der SEA, die in unterschiedlichen Aktionsgruppen operierte, reichten in den 1990er Jahren von Demonstrationen, Blockaden, Besetzungen, symbolischen Protestformen bis hin zu Sachbeschädigungen von Baustellenfahrzeugen. Vgl. Peterson, Contemporary Political Protest, S. 39ff. 131 Der Selbstdarstellung zufolge entstand der SUF im Kontext der rechtsextremen Mobilisierung Anfang der 1990er Jahre. Er organisierte im Laufe der 1990er Jahre zudem Kampagnen gegen christliche Lebensrechtsgruppen und unterstützte die landesweiten Schulstreiks, vgl. zur Geschichte des SUF, URL: https://suf.cc/vad-ar-suf/historia/ [eingesehen am 30.11.2019]. 132 Jämte u. Sörbom, Why Did It Not Happen Here?, S. 107. 133 Vgl. hierzu die Homepage des SUF, URL: https://suf.cc/vad-ar-suf/ideologi/ [eingesehen am 30.11.2019]. 134 Zu den grundlegenden Vorstellungen und Prinzipien des SUF siehe hierzu und folgend URL: https://suf.cc/vad-ar-suf/principforklaring/ [eingesehen am 30.11.2019].

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bevorzugt werden.135 Die Organisierung des SUF erfolgt in selbstständigen Lokalgruppen nach Prinzipien anarchistischer Föderationen, d. h. jede Gruppe kann die Methoden der politischen Arbeit den lokalen Gegebenheiten anpassen; kein zentrales Organ bestimmt über die Beschlüsse auf lokalem Niveau.136 Diese Lokalgruppen – als „Kern der Tätigkeit innerhalb des SUF“ beschrieben, während es zugleich eine Koordinationsgruppe (samordningsgruppen) und ein jährliches Landestreffen (landsmöte) aller Lokalgruppen gibt137 – befinden sich in Göteborg, Lund, Malmö, Stockholm, Uddevalla, Örebro, Uppsala, Norrköping und Halland (Stand 2020). Der SUF verbindet wohl wie kein anderes linksradikales Netzwerk Jugendkultur und jugendliche Themenschwerpunkte mit radikaler Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Der Jugendcharakter des SUF und die damit verbundene Anfälligkeit für Generationswechsel138 bergen einerseits große Herausforderungen, da Themenschwerpunkte und Aktionen schnell wechseln und letztlich auch die Aufrechterhaltung von Lokalgruppen aufgrund des kurzweiligen Engagements der Aktivist*innen erschwert wird.139 Andererseits, so beschreibt es das Schwarze Kleeblatt, das Magazin der anarchosyndikalistischen Jugend Berlin, sei der SUF „eine ideologisch weitestgehend offene Organisation“, bei der linksradikale Jugendliche ihren „ersten Stopp“ machen würden.140 Der SUF gelte dabei als „geographisch so stark vertreten, um als ernsthafte Alternative zu den Jugendorganisationen der Parteien aufzutreten.“141 Die Bedeutung des SUF ergibt sich somit vor allem dadurch, dass er als Türöffner für ein erstes Engagement im linksradikalen Spektrum dient und Jugendliche in ganz Schweden durch seine organisatorische Präsenz erreichen kann. Generell verfestigte sich in den 1990er Jahren der schwedische autonome Linksradikalismus mit der Gründung der AFA, der SEA und dem SUF organisatorisch und differenzierte

135 Die Onlinezeitung des SUF heißt Direkt Aktion, URL: https://direktaktion.nu/; ältere Ausgaben sind einsehbar unter URL: https://suf.cc/lastips/direkt-aktion/ [eingesehen am 30.11.2019]. 136 Zu den Strukturen des SUF, URL: https://suf.cc/vad-ar-suf/ [eingesehen am 30.11.2019]. 137 Vgl. ebd. 138 Die Jugendforscherin Hedvig Ekerwald spricht davon, dass innerhalb von einer Spanne von zwei Jahren 60 bis 70 Prozent der Aktiven von radikalen Jugendbewegungen ausgetauscht werden. Studien der schwedischen Sicherheitsbehörden gehen von durchschnittlich zwei Jahren Engagement in linksradikalen Szenemilieus aus. Vgl. Anders Haag, Extremismens lockelse minskar bland unga, in: Svenska Dagbladet, 24.05.2011. 139 Vgl. Lundstedt, Ung och extrem, S. 22. 140 O. V., „Wer steht noch, wenn andere fallen“, in: Schwarzes Kleeblatt, Nr. 11; November/Dezember 2012, URL: http://www.samplosition.com/media/sk/Schwarzes_Kleeblatt_Nr11, S. 4 [eingesehen am 30.11.2019]. 141 Ebd., S. 5.

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sich zugleich thematisch weiter aus, wobei die Umweltpolitik, der Tierrechtsaktivismus und der Antifaschismus eine hervorgehobene Stellung einnahmen. In der Forschung zum autonomen schwedischen Linksradikalismus ist überdies auf zwei konkurrierende Strömungen und Identitäten verwiesen worden, die seit Ende der 1990er Jahre nebeneinander existierten und mit den Begriffen „Lebensstilismus“ (livsstilism) und „Arbeiterismus“ (arbetarism) umschrieben wurden. Während sich die Aktivist*innen des „Lebensstilismus“, so die Bezeichnung von Kritiker*innen, insbesondere auf identitätspolitische Themen fixierten, also Feminismus und Antirassismus, legten die Vertreter*innen des „Arbeiterismus“ vor allem Wert auf die Politisierung von Klassenkampfthemen (Arbeitskämpfe, Produktionsbedingungen), wobei dieser Strömung von Kritiker*innen eine romantisierende Sicht auf die Arbeiterklasse vorgeworfen wurde. Die Bruchlinien verliefen hierbei nicht nur entlang persönlicher Erfahrungen und der thematischen Prioritäten der Aktivist*innen, sondern auch ideologisch zwischen sozialistisch-libertären und marxistisch inspirierten Deutungen.142 Die Zäsur – Göteborg 2001 Der große Bruch mit der schwedischen Konsens- und Dialogkultur manifestierte sich sinnbildhaft in den Krawallen im Juni 2001 während des EUGipfels in Göteborg.143 Schweden hatte im Jahr 2001 den Vorsitz im Rat der EU übernommen und erwartete den Besuch des damaligen US-Präsidenten George W. Bush in Göteborg. 50.000 Aktivist*innen, darunter EU-Kritiker*innen, Globalisierungsgegner*innen, Umwelt- und Friedensaktivist*innen sowie unterschiedliche Gewerkschaftsverbände und anarchistische sowie autonome Gruppierungen nahmen an verschiedenen Demonstrationen und Protesten teil.144 Die breite Mobilisierung von sozialen Bewegungen und Organisationen 142 Vgl. ausführlich zu diesen beiden Strömungen und Differenzen im schwedischen Linksradikalismus Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 16f. 143 Vgl. Kerstin Jacobsson u. Adrienne Sörbom, After a Cycle of Contention. Post-Gothenburg Strategies of Left-Libertarian Activists in Sweden, in: Social Movement Studies, Jg. 14 (2015), H. 6, S. 7. 144 Vgl. zur Identität und Heterogenität der Globalisierungsgegner*innen Magnus Wennerhag, The Globalization Movement Comes to Town, in: Studies in Political Economy, Jg. 24 (2002), H. 1, S. 107–121, hier S. 110ff. Wissenschaftliche Beobachter haben bei den Demonstrationen in Göteborg Protesttaktiken der deutschen Autonomen und der italienischen Tute Bianche (weiße Overalls) diagnostiziert, was wiederum auf einen Süd-Nord-Transfer von Ideen, Diskursen und Taktiken des europäischen Linksradikalismus hinweist. Vgl. Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 18.

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wurde allerdings von Gewalteskalationen überschattet, nachdem die Polizei während des Bush-Besuchs ein Aktivist*innencamp in einer Schule umstellt hatte.145 In der Folge wurden Teile der Göteborger Innenstadt von Randalierenden des „Schwarzen Blocks“ demoliert, die Polizei mit Steinen beworfen, wobei der Kulminationspunkt der Gewaltspirale am darauffolgenden Tag erreicht wurde, als drei Aktivist*innen von der Polizei angeschossen wurden.146 Es war das erste Mal seit dem Streik von Arbeiter*innen im nordschwedischen Ådalen im Jahr 1931, dass in Schweden mit scharfer Munition auf Demonstrant*innen geschossen wurde, was den Zäsurcharakter der Geschehnisse unterstreicht.147 Für die linksradikale Bewegung in Schweden verkörperten die Krawalle in Göteborg einen gravierenden Einschnitt, der in Demobilisierungen, politischen und strategischen Neuorientierungen, aber auch in Radikalisierungen mündete.148 Im Nachgang der Krawalle wurden Aktivist*innen zu langen Haftstrafen verurteilt und die staatliche Repression gegen die linksradikale Bewegung nahm zu. Medien und Staat gingen vor allem hart ins Gericht mit den AFA-Aktivist*innen, die sich als einzige nicht von der Gewalt distanziert und die Schuld der Gewalteskalation eindeutig der Polizei zugeschrieben hatten.149 Militanter Antifaschismus In der Folge der Götebörger Krawalle entstand mit dem Netzwerk Revolutionära fronten ein Konkurrent zur AFA auf dem Feld des Antifaschismus, der primär versuchte, den Rechtsextremismus im öffentlichen Raum zurückzudrängen.150 Ursprünglich ein Spaltprodukt der AFA, entwickelte sich die RF ab dem Jahr 2002 zu einem europaweit bekannten antifaschistischen Netzwerk, welches seine Hochphase in den Jahren 2005 bis 2010 hatte und sich 2015 auflöste,151 wobei sich gewalttätige Auseinandersetzungen mit Neonazigruppierungen seit dem 145 Zur Rolle der Polizei in Göteborg siehe Abby Peterson, Stater möter aktivister – om den polisiära hanteringen av politiska protester vid EU-toppmötena i Göteborg och Köpenhamn, in: Sociologisk Forskning, Jg. 43 (2006), H. 2, S. 4–30. 146 Eine der Aktivist*innen erlitt dabei schwere Verletzungen. Zu den einzelnen Handlungsverläufen ausführlich Statens Offentliga Utredningar (SOU 2002: 122), Göteborg 2001. Betänkande från Göteborgskommittén, Stockholm 2002; vgl. auch Wennerhag, The Globalization Movement, S. 115–117. 147 Vgl. Östberg u. Andersson, Sveriges Historia, S. 435. 148 Vgl. den folgenden Abschnitt. Zu strategischen, politischen und thematischen Neuorientierungen nach dem EU-Gipfel vgl. Jacobsson u. Sörbom, After a Cycle of Contention; Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 356ff.. 149 Vgl. Statens Offentliga Utredningar, Göteborg 2001, S. 477. 150 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 360. 151 Vgl. Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 24.

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Jahr 2000 vor allem beim sogenannten „Marsch von Salem“ (Salemmarschen) im Süden von Stockholm entzündeten.152 Über das Netzwerk der RF existiert wenig gesichertes wissenschaftliches Wissen, obwohl es seit der Gründung massive mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und sogar in einer Dokumentation des schwedischen Staatsfernsehens behandelt worden war.153 Der Grund hierfür liegt sicher in dem für schwedische Verhältnisse hohen Gewaltniveau der RF-Aktivist*innen, die ihre Aktionen über soziale Medien verbreiteten und damit gezielt an der militanten Selbstinszenierung arbeiteten. Unter anderem finden sich Videos in sozialen Netzwerken, die zeigen, wie Türen von Neonazis mit Äxten eingeschlagen und deren Wohnungen verwüstet und beschmiert wurden.154 Obwohl es Kooperationen, Austausch und personelle Verbindungen zwischen der AFA und der RF gab, kann letztere als militanter und „theorieferner“ eingestuft werden. Als anzustrebendes Gesellschaftsmodell benannte sie eine klassenfreie Gesellschaft, die „eine Form der Revolution“ voraussetze und dann mittels Arbeiterkollektiven und direkter Demokratie verwaltet werden sollte.155 Ihr Hauptkampffeld war der Straßenkampf: „RF hat nicht das Ziel, wieder eine mittelklassendominierte Organisation zu werden, die über die Köpfe der Menschen hinwegredet. […] Wir werden nicht in Studienzirkeln eingeschlossen hinter akademischen Türen in der Universität sprechen, unser Ziel ist es, auf der Straße zu sein, wo wir wohnen, wo wir arbeiten.“156 Dass sich die RF über Lokalgruppen in Göteborg, Stockholm, Linköping und Örebro organisierte, deutet auf eine räumliche Begrenzung der Aktivitäten auf den Großraum Stockholm und Westschweden hin.157 In Südschweden fand sie – gemessen an der Verteilung der Lokalgruppen – vergleichsweise wenig Rückhalt, was auf möglicherweise bereits verfestigte Szenestrukturen im Großraum Malmö/Lund verweist. Auch zu vermuten ist, dass die RF aufgrund ihrer theoriefernen Ausrichtung vor allem nicht-akademische Mitglieder rekrutierte. Überdies darf die RF in ihrer Mitgliederstärke nicht überschätzt werden. Der Journalist Matthias Ståhle bezeichnete sie als „kleine Sekte“, die nach seinen

152 Vgl. Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 58; Lundstedt, Ung och extrem, S. 19; Peterson u. a., Sweden 1950-2015, S. 401. 153 Die Fernsehdokumentation heißt „Det goda våldet“ („Die gute Gewalt“), URL: https://www. youtube.com/watch?v=6t8yNpzv_GQ [eingesehen am 30.11.2019]. 154 Vgl. Mark Bray, Antifa. The Anti-Fascist Handbook, New York 2017, S. 92. 155 Vgl. Selbstdarstellung der RF, URL: https://web.archive.org/web/20140923053224/http:// revfront.org/ [eingesehen am 30.11.2019]. 156 Ebd. 157 Lundstedt spricht hierbei auch von einem „militanten (aber lokalen) Antifaschismus, namentlich in der Mälardalregion.“ Lundstedt, Ung och extrem, S. 23.

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Schätzungen und Erkenntnissen ca. 30 Kernmitglieder besaß.158 Bemerkenswert ist zudem, dass die RF hohe Hürden für eine Mitgliedschaft aufstellte159 : Potenzielle Mitglieder sollten zuerst eine Probezeit ableisten, möglichst an allen in der Nähe stattfindenden Aktivitäten teilnehmen und einen monatlichen Mitgliedsbeitrag an die Organisation entrichten.160 Im Gegensatz zum relativ unverbindlichen Engagement in anderen linkradikalen Netzwerken zeichnete sich das RF-Netzwerk stärker durch Verbindlichkeit und Hierarchiedenken aus. Dementsprechend wäre es unpräzise, die RF als „autonom“ zu bezeichnen, da sie Statuten für ihre Mitglieder festlegte und sich auch an formellen Führungsgestalten orientierte. Zudem sah sich die RF klar als Vertreter*in der Arbeiter*innenklasse und stellte sich somit auch gegen das autonome Prinzip der „Politik der ersten Person“161 . Folgt man den Ausführungen von Nils Schuhmacher,162 der „Radikalitätsgrade“ des Antifa-Spektrums an der Bündnisoffenheit, der Kommunikation zum „Erreichen einer breiten Öffentlichkeit“ sowie einer militanten Selbsteinstufung festmacht, dann ergibt sich für die RF ein eindeutiges Bild: Sie schottete ihr Netzwerk nach außen ab, gerierte sich fast schon als „Geheimbund“. Auf ihre Selbstinszenierung als militante Frontorganisation des Antifaschismus ist bereits hingewiesen worden, zumal auf der eigenen Homepage die Artikelserie „Bewaffneter Kampf “ auf Guerillaorganisationen wie die Roten Brigaden in Italien und die Tupamaros in Uruguay Bezug nahm.163 Was am Beispiel der RF somit kritisch andiskutiert werden kann, ist das Verhältnis von Gewaltinszenierungen über (soziale) Medien und die reale gesellschaftspolitische und personelle Durchsetzungsstärke linksradikaler Netzwerke. Oder andersherum gewendet: Militante Handlungen und Selbstinszenierungen sind vor allem von zentraler Bedeutung für die Identitätskonstruktion und Sichtbarkeit relativ ressourcenschwacher Netzwerke (finanziell, personell), weil diese über die mediale Aufmerksamkeitsökonomie des Faktors „Gewalt“ ihren eigenen Stellenwert behaupten können. 158 Vgl. Interview mit Matthias Ståhle, Vem står bakom Revolutionära fronten, in: Sveriges Radio, 11.04.2014, URL: https://sverigesradio.se/sida/artikel.aspx?programid=1637&artikel= 5835188 [eingesehen am 30.11.2019]. 159 Vgl. Lundstedt, Ung och extrem, S. 26; vgl. Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 140f. 160 Selbstdarstellung der RF, URL: https://web.archive.org/web/20140923053224/http://revfront. org/ [eingesehen am 30.11.2019]. 161 Zur „Politik der ersten Person“ und „Ablehnung der Stellvertreterpolitik“ Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 118. 162 Schuhmacher, Die Antifa im Umbruch, S. 7. 163 Vgl. Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska vänsterautonoma budskap, S. 140.

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Alltagsorientierung und Lokalaktivismus Parallel zum militanten Antifaschismus der RF und AFA bildete sich im außerparlamentarischen Linksradikalismus seit Ende der 1990er Jahre eine Strömung heraus, die weit weniger militant und offen konfrontativ agierte und bereits mit dem Begriff des „Arbeiterismus“ umschrieben wurde. Diese Richtung „shifted the focus toward everyday life workplace resistance and class struggle.“164 Von den Aktivist*innen selbst als vändningen mot vardagen (Hinwendung zum Alltag) bezeichnet, verstand sich diese Strömung als Gegenreaktion zu der Aktivist*innenmentalität der Globalisierungsbewegung und fokussierte sich auf lokale „Mikrokonflikte“.165 Wie Jan Jämte festhält, sollten „spektakuläre Gipfelproteste und offene Aktionen gegen Faschisten oder multinationale Unternehmen ersetzt werden durch einen täglichen Kampf im Nahbereich, auf der Arbeit, in der Schule.“166 Diese Positionierung im schwedischen Linksradikalismus führte zu einer „localisation of activism“, dessen Schwerpunkte sich um „rights of migrants, the protection of labour rights, the privatisation of public infrastructure, and welfare reform“ bildeten.167 Neben der Verschiebung auf Konflikte im Nahbereich und Arbeitsmarktthemen ließ sich zugleich eine neue Komponente in der Beschreibung des Linksradikalismus ausmachen, die szenenintern als „unsichtbar“ und „gesichtslos“ tituliert wurde. Anstelle von offenen militanten Aktionen bei Demonstrationen und Protesten galt es nun, im Verborgenen mithilfe von kleinen kontinuierlichen Aktionen am Arbeitsplatz den Kapitalismus „anzugreifen“ und zu unterminieren.168 Die anarchistische Zeitschrift Brand widmete fast ihre ganze Aprilausgabe 2002 dem „unsichtbaren“ Widerstand, worauf bereits der Titelslogan „Unsere Revolution ist gesichtslos“ (vår revolution är ansiktslös) unzweideutig hinweist. Die Redaktion umschrieb ihren Schwerpunkt dann wie folgt: „Diese Nummer dreht sich um die unsichtbaren Kämpfe, kleine Mikrokonflikte im Alltagsleben, die selten sichtbar gemacht werden. Aber es gibt sie wie kleine Termiten, die den Kapitalismus langsam kaputt beißen.“169 Am Beispiel eines „Alltagswiderstands“ in einer Bäckerei berichteten Aktivist*innen 164 Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 17. 165 Zur Alltagsorientierung im schwedischen Linksradikalismus vgl. Jacobsson u. Sörbom, After a Cycle of Contention, S. 9; vgl. auch Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 360; Lundstedt, Ung och extrem, S. 19; siehe auch Jämte, Radical anti-fascism in Scandinavia, S. 260f.; Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 124. Vgl. zu den Mikrokonflikten Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 18ff. 166 Jämte, Antirasismens många ansikten, S. 360. 167 Hansen, Solidarity in Diversity, S. 52. 168 Vgl. Jämte u. Wennerhag, Brottsförebyggande åtgärder, S. 18; Andersson, Våldsbejakande och antidemokratiska, S. 124. 169 Redaktion der Zeitschrift Brand, osynligt-synligt, in: Brand, H. 4/2002, S. 3.

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von ihren „Mikrokonflikten“, was konkret bedeutete, dass sie die Produktion verlangsamten, Pausen verlängerten, Brot für den Eigenverbrauch mitnahmen und generell kleine Sabotageaktionen im eigenen Betrieb durchführten.170 Den „gesichtslosen“ Widerstand beschrieben die Aktivist*innen dabei als „verdeckte Massenmilitanz“ ohne „offiziellen Anführer oder Repräsentant […].“171 Die Effektivität des „gesichtslosen“ und „unsichtbaren“ Widerstandes wurde in Teilen der linksradikalen Bewegung kritisiert und als zu „reaktiv“ eingestuft.172 Als Folge der größtenteils individualisierten Protest- und Sabotageaktionen, die verdeckt und ohne organisatorischen Rahmen auskamen, entstanden ab der zweiten Hälfte der 2000er Jahre auch überregionale linksradikale Zusammenschlüsse, die organisationsähnliche Strukturen ausbildeten und weitaus transparenter agierten.173 Neue Player – Förbundet Allt åt alla und Autonomous Revolutionary Nordic Alliance Das gegenwärtige Spektrum des schwedischen autonomen Linksradikalismus wird neben der AFA und dem SUF vor allem durch zwei weitere überregionale Zusammenschlüsse geprägt:174 Dem schwedischen Bündnis Allt åt alla und dem schwedisch/nordischen Bündnis Autonomous Revolutionary Nordic Alliance (ARNA), zu dem in Schweden sechs, in Dänemark und Finnland jeweils zwei und in Norwegen eine Gruppierung zählen.175 Der ältere überregionale Zusammenschluss im schwedischen Linksradikalismus, Förbundet Allt åt alla (Verband Alles für alle), entstand im Jahr 2009 in Malmö und stützt sich auf jene Strömung, die sich vornehmlich alltagsori-

170 Vgl. den Report der Aktivist*innen: Det ansiktslösa motståndet. Vardagsmotstånd på ett svenskt bageri, in: ebd., S. 8–11. 171 Ebd., S. 9. 172 Vgl. Jämte u. Wennerhag, Brottsförebyggande åtgärder, S. 18. 173 Der Begriff der „Postautonomie“ wird im schwedischen Linksradikalismus allerdings nicht als Gegensatz zur „Autonomie“ verwendet. Vgl. die Ausführungen von der Gruppe Autonom Organisering, „There is no one dominating segment in the class“, 24.03.2019, URL: http://www.autonomie-magazin.org/2019/03/24/there-is-no-onedominating-segment-in-the-class/ [eingesehen am 30.11.2019]. 174 Die Begrenzung auf diese Bündnisse und Netzwerke ist notwendigerweise verkürzend. Eine Übersicht über weitere zentrale Gruppen gibt es auf dem linksradikalen schwedischen Infoportal Gatorna, URL: https://gatorna.info/groups/ [eingesehen am 30.11.2019]. 175 Zur skandinavischen Zusammensetzung der ARNA mit Einzelgruppierungen, URL: https:// www.infoarna.org/contact-2 [eingesehen am 30.11.2019].

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entierten Themen im lokalen Raum zuwendet.176 Als Gründungsmotiv des Bündnisses werden die wachsende Selbstabschließung und Selbstbezogenheit der autonomen Szene in den späten 1990er und 2000er Jahren angegeben: „We were seen as a self-chosen outsider with the goal of creating chaos. The practices were successful in combating the street-fascists but were unsuccessful in creating a broader progressive movement. We therefore saw this as our aim when founding Allt åt alla – moving away from the outsider position to a more locally based, broad organization with progressive political goals.“177

Allt åt alla will einerseits seinen „extra-parliamentary character and focus“ aufrechterhalten, andererseits sollen durch gemeinsame Kampagnen „broader alliances and networks“ geschlossen werden.178 Das schwedische Bündnis orientiert sich strategisch an dem überregionalen Zusammenschluss der „Interventionistischen Linken“ (IL), was wiederum die Vorbildfunktion des deutschen Linksradikalismus für die schwedische Szene unterstreicht.179 Rekurrierend auf „Ansätze einer Repersonalisierung linksradikaler Politik“180 scheint Allt åt alla bündnisoffener zu sein als Netzwerke wie die AFA und RF, um auch Akteur*innen außerhalb der linksradikalen Szene (Gewerkschaften, Mietervereinigungen) in die eigene lokale Arbeit einzubinden. Dies zeigt sich auch anhand der medialen Präsenz und relativ offenen Kommunikation: Sprecher*innen bzw. Aktivist*innen des Bündnisses Allt åt alla treten in Diskussionsrunden im schwedischen Fernsehen181 auf, halten öffentliche Diskussionsveranstaltungen mit Vertreter*innen des schwedischen Mieterverbandes (Hyresgästföreningen) ab182 oder schreiben unter Klarnamen Debatten-

176 Zur Charakterisierung von Allt åt alla siehe prägnant Lundstedt, Ung och extrem, S. 22. Jämte et al. bezeichnen diese Phase in ihrer Periodisierung des linksradikalen schwedischen Aktivismus, die sie vom Jahr 2010 bis 2016 datieren, als „A Turn towards Openness and Pragmatism“. Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 21. 177 Allt åt alla, Reflections on current struggles and practices, in: Reader zur Strategiekonferenz der Interventionistischen Linken, April 2016, URL: https://interventionistische-linke.org/ sites/default/files/attachements/stratko_reader_050416.pdf, S. 45–47, hier S. 45 [eingesehen am 30.11.2019]. 178 Jämte, Radical anti-fascism in Scandinavia, S. 261. 179 Zur IL siehe den Beitrag von Alexander Deycke in diesem Sammelband. 180 Alexander Deycke, Die Radikale Linke und die Organisationsfrage [im Erscheinen, Aufsatzmanuskript liegt dem Verfasser vor]. 181 Vgl. hierzu die Auftritte des Bündnisses im schwedischen Fernsehen, URL: https://www.youtube.com/watch?v=kQuH1JtwyD8; https://www.youtube.com/watch?v=iX06efj2NSk [beide eingesehen am 30.11.2019]. 182 Siehe hierzu auch die Ausführungen auf URL: https://alltatalla.se/malmo/traffahyresgastforeningen-med-sorgenfri-at-alla [eingesehen am 30.11.2019].

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artikel in überregionalen Zeitungen, um auf strukturelle Probleme der Stadtund Wohnungspolitik hinzuweisen.183 Das Bündnis hat aktuell 13 Lokalgruppen mit einer Konzentration auf die drei Großstädte (Stockholm, Göteborg, Malmö) und bedeutende Universitätsstädte (Lund, Uppsala, Umeå, Växjö, Borås) in Schweden.184 Wie der Name des Bündnisses (Alles für alle) bereits andeutet, fokussieren sich die Lokalgruppen insbesondere auf die Schaffung, Erhaltung und Verteidigung von „Gemeingütern“185 (engl. commons; schw. allmänningar)186 im urbanen Raum.187 Dazu veranstaltet das Bündnis jährlich unter anderem Demonstrationen, Paraden und Informationsveranstaltungen in Einkaufszentren in Schweden, die unter dem Namen Stadskampen (Stadtkampf) firmieren.188 Für besondere Aufmerksamkeit sorgte die von der Stockholmer Lokalgruppe organisierte „Oberklassesafari“189 , während der Interessierte und Aktivist*innen per Bus in die noblen Vororte Stockholms gefahren wurden, um dort das „Oberklasse-Schweden“ ethnografisch zu erkunden.190 Die programmatische Plattform, auf der sich die Lokalgruppen im Bündnis Allt åt alla zusammengeschlossen haben, will verschiedenen Taktiken und ideologischen Strömungen Platz bieten. Der integrierende Charakter für breite Strömungen des Linksradikalismus ist dabei offensichtlich.191 Dementspre183 Vgl. Ana Gilmet Lejtreger u. Kalle Söderberg, Hyrorna skenar – bygg för oss Malmöbor nu, in: Aftonbladet, 30.11.2019, URL: https://www.aftonbladet.se/debatt/a/4qQWvV/hyrornaskenar–bygg-for-oss-malmobor-nu [eingesehen am 30.11.2019]. 184 Alle Lokalgruppen sind aufgelistet unter URL: https://alltatalla.se/ [eingesehen am 30.11.2019]. 185 Mit „Gemeingütern“ ist einerseits kollektiver Besitz und andererseits der Zugang zu elementaren Gütern des Lebens für alle Menschen gemeint. Nick Dyer-Witheford unterscheidet drei Arten von Gemeingütern: „ökologische Gemeingüter (Wasser, Luft, Fischfang und Wald), gesellschaftliche Gemeingüter (öffentliches Wohlfahrtsangebot, Gesundheit, Ausbildung und so weiter); digitale Gemeingüter (Zugang zu Kommunikationsmitteln).“ Nick DyerWitheford, Commonism – Allmänningar som strategi, in: Brand, H. 1/2010, S. 48–53, hier S. 48. 186 Als theoretische Referenzpunkte dienen hierbei unter anderem die Ausführungen des Geographen und Sozialtheoretikers David Harvey. Hierzu der Lesezirkel der Lokalgruppe aus dem nordschwedischen Umeå, URL: https://alltatalla.se/umea/cirkelunderlag-skapandet-avde-urbana-allmanningarna [eingesehen am 30.11.2019]. 187 Vgl. Jacobsson u. Sörbom, After a Cycle of Contention, S. 12. 188 Vgl. ebd., S. 12f. 189 „Oberklassesafaris“ wurden bereits früher in Malmö und Göteborg von den Lokalgruppen organisiert. 190 Vgl. Jacobsson u. Sörbom, After a Cycle of Contention, S. 14; vgl. exemplarisch zur medialen Berichterstattung Ossi Carp, Överklassafarin väcker upprördhet, in: Dagens Nyheter, 30.01.2012. 191 Vgl. Förbundet Allt åt allas Plattform, URL: https://alltatalla.se/om [eingesehen am 30.11.2019].

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chend ist der ideologische Rahmen von Allt åt alla nicht eng umrissen. Der revolutionäre Anspruch des Bündnisses wird in der Plattform indes unterstrichen sowie jegliche Form der „Klassenzusammenarbeit“ abgelehnt. Die verschiedenen Taktiken und Methoden des Bündnisses spiegeln sich auch in der thematischen Vielfalt wider: Neben der Stadt- und Wohnpolitik stehen Arbeitsmarkt- sowie Verkehrsthemen auf der politischen Agenda der Lokalgruppen. In der Vergangenheit nahm die antifaschistische Arbeit in Form von Aufklärungskampagnen und Demonstrationen sowie die Unterstützung von EU-Migrant*innen und Flüchtlingen zudem eine zentrale Stellung ein.192 Lokalgruppen von Allt åt alla haben an der von der IL mitorganisierten Kampagne gegen den deutschen Braunkohletagebau (Ende Gelände) teilgenommen und sich an Massenblockaden beteiligt.193 Allt åt alla und Militanz Die Gleichsetzung des Bündnisses Allt åt alla mit gewalttätigen Neonazigruppierungen und islamistischen Netzwerken auf der staatlichen Aufklärungshomepage Samtalskompassen (Gesprächskompass)194 hat zu medialer Kritik geführt.195 Auf die Kritiker*innen dieser Gleichsetzung antwortete die Sozialdemokratin Mona Sahlin, damalige nationale Koordinatorin gegen „gewaltbejahenden Extremismus“, dass „nicht alle Aktivitäten der Gruppen gewaltsam“ seien, aber dass das Bündnis „auf Blogs und Homepages auf unterschiedliche Art deutlich gemacht hat, dass man kein direktes Problem mit Gewalt als Strategie“ sehe.196 Insgesamt kann das Verhältnis von Allt åt alla zur Gewalt jedoch 192 Vgl. Allt åt alla, Reflections on current struggles and practices, S. 46; vgl. auch Lundstedt, Ung och extrem, S. 22. 193 Vgl. o. V., Stort skandinaviskt deltagande på Ende Gelände, in: Brand, 27.06.2019, URL: https://tidningenbrand.se/2019/06/27/stort-skandinaviskt-deltagande-pa-ende-gelande/ [eingesehen am 30.11.2019]. 194 Samtalskompassen ist nun Teil des staatlichen „Zentrums gegen gewaltbejahenden Extremismus“ (Center mot våldsbejakande extremism,), das auf Basis kriminologischer Ausgangspunkte die Prävention von politisch motivierten Straftaten fördern soll. Siehe Om CVE, URL: https://www.cve.se/om-cve.html [eingesehen am 30.11.2019]. 195 Vgl. Petter Larsson, Staten klumpar ihop nazister och fredliga, in: Aftonbladet, 03.03.2015, URL: https://www.aftonbladet.se/kultur/a/6n5xQQ/staten-klumpar-ihop-nazister-och-fredliga [eingesehen am 30.11.2019]; vgl. auch die Kritik von Oisin Cantwell, Arbetet mot extremism är ett dåligt skämt, in: Aftonbladet, 03.03.2015, URL: https://www.aftonbladet.se/ nyheter/kolumnister/a/qn3G3L/arbetet-mot-extremism-ar-ett-daligt-skamt [eingesehen am 30.11.2019]. 196 Replik von Mona Sahlin, „Farligt stöd till våldet“, in: Aftonbladet, 04.03.2015, URL: https:// www.aftonbladet.se/kultur/a/wE9wmM/farligt-stod-till-valdet [eingesehen am 30.11.2019].

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als ambivalent bezeichnet werden, das heißt konkret, dass in der Regel nicht zur Gewaltanwendung aufgerufen wird, aber auch keine grundlegende Verurteilung dieser in den Lokalgruppen stattfindet. An Aussagen von Lokalgruppen zeigt sich vielmehr eine Ironisierung der Gewaltfrage197 , wobei ironisierende Protestformen generell als Kennzeichen des Bündnisses gelten. Über die konkrete Gewaltpraxis von Allt åt alla ist hingegen bisher wenig bekannt, was valide Aussagen erschwert. Die einzigen empirischen Daten stammen von Jan Jämte und Magnus Wennerhag, die auf Basis einer quantitativen Protestdatenbank zwischen 1997 und 2016 festgehalten haben, dass es in einem Prozent der selbst organisierten Proteste des Bündnisses zu Sachbeschädigungen kam, aber keine Fälle von Gewalt gegen Personen gemeldet wurden.198 Wennerhag und Jämte gelangen auf Basis ihrer Protestdatenbank zum Ergebnis, dass die Anwendung von politischer Gewalt im Zeitraum 2010 bis 2016 in Schweden abgenommen habe. Als Gründe nennen die beiden Autoren „bewegungsinterne ideologische und strategische Umorientierungen, erhöhtes Engagement bei Themen, wo gewaltsame Proteste ungewöhnlich sind zusammen mit einem erhöhten Anteil von Protestkoalitionen mit Akteur*innen außerhalb der Bewegung.“199 Insofern widersprechen die schwedischen Daten der These, wonach linksradikale Bündnisoffenheit automatisch auf eine Radikalisierung von szenefernen Aktivist*innen abzielen muss, obwohl im Umkehrschluss nicht gefolgert werden kann, dass Militanz in der linksradikalen Bewegung nunmehr vollkommen abgelehnt wird. Wie aktuellere Interviews in Malmö und Stockholm zeigen, bleibt Militanz200 weiterhin zentral für die Identitätskonstruktion und das Selbstbild linksradikaler Aktivist*innen, obgleich militante Handlungen als strategisches Mittel vermehrt hinterfragt werden.201

197 Siehe beispielhaft die Ausführungen der Stockholmer Lokalgruppe, URL: https://alltatalla.se/ stockholm/allt-at-alla-maste-ta-avstand-fran-vald [eingesehen am 30.11.2019]. 198 Vgl. Jämte u. Wennerhag, Brottsförebyggande åtgärder, S. 24. Die Forscher haben jedoch nur allgemein bekannte Protestgeschehnisse erfasst. Zur Auswertung, Kodierung und Datengrundlage siehe ebd., S. 13ff. 199 Ebd., S. 19. 200 In den Aktivist*inneninterviews wird darunter nicht eine Gewaltpraxis verstanden, sondern eine kompromisslose Haltung, die Gewalt nicht ausschließt: „It includes an openness to incorporate violence in one’s political action if needed.“ Jacobsson u. Sörbom, After a Cycle of Contention, S. 15. 201 Vgl. ebd., S. 15f.

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Transnationale nordische Allianzen – Autonomous Revolutionary Nordic Alliance (ARNA) Die ARNA bildete sich im Jahr 2016 im Vorfeld des G20-Gipfels in Hamburg und verfügt über eine vergleichsweise vage aufgestellte politische Plattform, was den unterschiedlichen nationalen Traditionen der angeschlossenen Gruppierungen vierer nordischer Länder geschuldet sein dürfte. Alle Mitgliedsgruppen der ARNA sehen sich als Revolutionär*innen, Feminist*innen, Antifaschist*innen und lehnen parlamentarische Politik und Reformismus ab. Das Bündnis strebt eine Gesellschaft ohne Klassen und Nationen an und definiert sich selbst als „non-hierarchial network“, das auf den Prinzipien von Solidarität, Internationalismus und freien Zusammenschlüssen miteinander kooperiert.202 Insofern korrespondiert die ideologische Ausrichtung mit der transnationalen Organisationspraxis der ARNA, obwohl die theoretischen Referenzpunkte der angeschlossenen Gruppierungen durchaus variieren. Die Problemdiagnosen der unterschiedlichen Gruppierungen ähneln sich insofern, als den sozialdemokratischen Parteien, lange Zeit die dominierenden parteipolitischen Akteure in den skandinavischen Staaten, die emanzipatorische Kraft der Gesellschaftsveränderung und der Vertretungsanspruch der Arbeiter*innenklasse abgesprochen wird.203 Der skandinavische Wohlfahrtsstaat, maßgeblich von der Sozialdemokratie aufgebaut, gründe der ARNA folgend „on capitalist material exploitation“ und der Klassenkompromiss werde eingesetzt, „to uphold class society.“204 Zudem werden Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in all ihren Facetten als Hauptgegner deklariert, wobei deren inhärentem Männlichkeitskult der in den nordischen Gesellschaften besonders verankerte „Feminismus“ entgegengesetzt werden soll.205 Augenfällig ist daneben die Akzentuierung und Zielsetzung eines grenzüberschreitenden „Arbeiter*innen-Internationalismus“ als politischem Gegengewicht zum globalen Kapitalismus. Da immer weniger Arbeitsplätze im Postfordismus an großen Industriestandorten hängen würden, will das Bündnis nach anderen Formen und Ansätzen des Klassenkampfes suchen, wobei unter anderem Blockaden von logistischen Knotenpunkten an Häfen sowie Flughäfen zur Störung globaler Kapital- und Warenströme propagiert werden.206

202 Plattform der ARNA, URL: https://www.infoarna.org/contact-1 [eingesehen am 30.11.2019]. 203 Vgl. ARNA, Moving forward, URL: https://www.infoarna.org/post/moving-forward [eingesehen am 30.09.2011]. 204 Ebd. 205 Vgl. ebd. 206 Vgl. ebd. Der Wortlaut der ARNA lautet: „By blocking the flow of capital in harbors, airports, on highways and beyond relatively few can cause massive disruptions.“

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In Schweden gehören der ARNA die Gruppe Autonom Organisering 207 aus Lund, der SUF Lund, die Gruppen Mangla und Södra Klubben aus Malmö, Kämpa Stockholm sowie Framåt kamrater aus Göteborg an. Damit scheint die schwedische Zusammensetzung der ARNA wiederum die These zu bestätigen, dass der südschwedische Regionalraum Malmö/Lund – vier der sechs Gruppierungen entstammen der Region – eine Hochburg des autonomen Linksradikalismus ist. Die nordischen Gruppierungen, die sich der ARNA angeschlossen haben, weisen dabei sehr heterogene thematische und ideologische Bezugspunkte auf. Nach Aussagen einer Aktivist*in der schwedischen Gruppe Autonom Organisering orientieren sich die schwedischen Gruppen aus Lund und Göteborg vornehmlich an der Theoriedebatte des deutschen kommunistischen Bündnisses „…ums Ganze!“, während die Gruppierung in Norwegen von der „Bewegung der Landlosen“ in Brasilien inspiriert sei.208 Die Schwerpunktsetzung auf Antifaschismus liegt insbesondere bei den zwei dänischen Gruppierungen Revolutionære Antifascister und Antifascistiske Unge nahe, wobei die Bekämpfung des Faschismus in ganz Skandinavien als Klammer der unterschiedlichen Gruppierungen angesehen werden kann. Verbunden wird der Kampf gegen Faschismus damit, dass man sich mit den selbstverwalteten kurdischen Gebieten in Ost- und Nordsyrien (Rojava) solidarisiert, die man von der Türkei und jihadistischen Milizen bedroht sieht. Jihadisten werden dabei „als Spiegelbild der europäischen Faschisten“ bezeichnet, die Frauen- und Minderheitenrechte bekämpften.209 Im Gegensatz zu Allt åt alla erscheinen die Gruppierungen der ARNA weitaus theorieaffiner, kritischer gegenüber bündnispolitischer Öffnungsprozesse jenseits des linksradikalen Spektrums eingestellt und thematisch weniger auf den Lokalbereich beschränkt. Schien die Repräsentation von schwedischen linksradikalen Netzwerken und Aktivist*innen in internationalen Kontexten im Rahmen der 2000er Jahre zu Gunsten der Hinwendung zu „Mikrokonflikten“ im lokalen Raum abzunehmen,210 lässt sich am Beispiel der ARNA wiederum eine markante Globalisie207 Diese Gruppe scheint eine theoretische und öffentliche Vorreiterstellung einzunehmen. Aus Aussagen und Veröffentlichungen der Gruppe lässt sich ableiten, dass sich die theoretischen Diskussionen vielfach um die Begrenzungen sowie Möglichkeits- und Aktionsräume für linksradikale Politik im Zeitalter von Digitalisierung und globalem Kapitalismus drehen. Zu den Analysen von Autonom Organisering siehe URL: https://autonomorganisering.noblogs. org/post/category/analys/ [eingesehen am 30.11.2019]. 208 Vgl. Plan C London, Organising autonomously – An interview with AO from Sweden, 18.05.2018, URL: https://www.weareplanc.org/blog/organising-autonomously-an-interviewwith-ao-from-sweden/ [eingesehen am 30.11.2019]. 209 Vgl. ARNA, Antifa Offensive!, URL: https://www.infoarna.org/post/antifa-offensive [eingesehen am 30.11.2019]. 210 Vgl. Lundstedt, Ung och extrem, S. 21.

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rungskritik mitsamt internationalistischer Perspektive ausmachen. Die ARNA reflektiert in ihrer organisatorischen, thematischen und taktischen Ausrichtung folglich aktuelle Entwicklungen des globalisierten Kapitalismus sowie die wachsende transnationale Vernetzung des militanten Rechtsextremismus, der in Form der Nordischen Widerstandbewegung (Nordiska Motståndsrörelsen) ebenfalls über Grenzen hinweg agiert und agitiert. Fazit und abschließende Thesen Generalisierende Bewertungen über den schwedischen autonomen Linksradikalismus vorzunehmen, ist allein aufgrund seiner amorphen Gestalt sowie der organisatorischen, ideologischen und thematischen Vielfalt mehr als schwierig. In diesem Beitrag konnten und sollten deshalb zentrale Strömungen, Handlungsfelder und Netzwerke abgebildet werden, ohne Repräsentativität in einem Forschungsfeld zu beanspruchen, das sich gerade durch Informalität, Pluralismus und Dynamik auszeichnet. Måns Lundstedt schreibt vollkommen zu Recht, dass Beobachter nur „über Tendenzen und Augenblicksbilder in einem politischen Milieu sprechen können, das sich ständig gleichzeitig in verschiedene Richtungen bewegt.“211 Dennoch sollen in diesem Fazit Überlegungen und Thesen formuliert werden, die generelle Entwicklungstendenzen, Themenkonjunkturen, veränderte Kontextbedingungen und nationale Besonderheiten verdichten. Transnationale Verbindungen als Entwicklungsmotor: Die Konstituierung und Entwicklung des schwedischen autonomen Linksradikalismus ist eng verwoben mit dem Austausch mit ausländischen Aktivist*innen. Konfrontativere Protestformen und radikale Ideen importierten die schwedischen Hausbesetzer*innen durch Kontakte mit der dänischen und deutschen autonomen Szene ab Mitte der 1980er Jahre. Die militanten Aktionen bei der Blockade von Lund 1991, die maßgeblich von ehemaligen Hausbesetzer*innen aus Kopenhagen initiiert wurden, sowie die aktuelleren Zusammenschlüsse Allt åt alla und das transnationale Bündnis ARNA zeigen, dass bei zentralen organisatorischen und strategischen Neuformierungen des schwedischen Linksradikalismus direkte ausländische Einflüsse, Impulse und Vorbilder eine wichtige Lenkungsrolle gespielt haben und weiterhin spielen. Zu Beginn der 2000er Jahre griffen die schwedischen Aktivist*innen dabei verstärkt auf Theorien und Ansätze des italienischen Operaismus zurück und übertrugen die „militanten Untersuchungen“, die Ende der 1960er Jahre die Arbeitsbedingungen in italienischen Betrieben untersuchten, 211 Ebd., S. 16.

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auf den schwedischen Kontext. Die linksradikalen Vernetzungen können speziell zwischen Teilen der südschwedischen, dänischen212 und (nord)deutschen Szene als besonders eng angesehen werden, wobei insbesondere bei Gipfelprotesten, Gegendemonstrationen zu Naziaufmärschen und bei Räumungen von besetzten Häusern die grenzüberschreitende Zusammenarbeit intensiviert wurde.213 Wenige autonome Szeneverdichtungen im Vergleich zu Deutschland oder Dänemark: Im Gegensatz zu Deutschland oder Dänemark bildeten sich in Schweden niemals ähnliche linksradikale Szeneverdichtungen aus. Dazu fehlten die symbolträchtigen urbanen Kristallisations- und Szeneschwerpunkte, die sich in Kopenhagen mit Christiania oder dem Ungdomshuset und in Hamburg mit der Roten Flora oder der Hafenstraße etablierten. Einschneidende Ereignisse wie die Barrikadenkämpfe in Kopenhagen und Hamburg in den 1980er Jahren, die zu integrativen und mythisierten „Widerstandserzählungen“ in der Szene avancierten, gab es allenfalls in Schweden mit der Blockade von Lund im Jahr 1991. Hochburgen im südschwedischen Lokalraum Lund/Malmö: Dies liegt unter anderem an der geografischen Nähe zu Zentren der deutschen und dänischen autonomen Bewegung, der akademisch jugendlichen Prägung sowie der bis heute vitalen Erinnerungskultur an das symbolische Datum des 30. November 1991 – die Blockade von Lund. Die Lokalgruppen der aktuellen überregionalen Bündnisse weisen ebenfalls eine südschwedische Überrepräsentation auf. Das Bündnis Allt åt alla entstand 2009 in Malmö, während allein vier der sechs angeschlossenen schwedischen Gruppierungen der ARNA aus dem Regionalraum Lund/Malmö stammen. Pfadabhängigkeiten im Organisations- und Militanzverständnis: Trotz der engen Szenevernetzungen und dem Austausch mit anderen europäischen Aktivist*innen, verlaufen die Entwicklungspfade des schwedischen autonomen Linksradikalismus durchaus entlang länderspezifischer Organisationsstrukturen, Konfliktlinien und Protestkulturen. Militante Handlungen gelten weiterhin als Gegenpol zur schwedischen Konsens- und Dialogkultur, weshalb politische Gewalt eher die Ausnahme (vor allem in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre) als die Regel in der schwedischen Szene darstellt. Trotz der relativ kurzen

212 Eine Übersicht über linksradikale Netzwerke und Szenen in Dänemark gibt Chris Holmsted Larsen, Politisk ekstremisme i Danmark, Roskilde 2012, S. 23ff. 213 Vgl. ebd., S. 29.

Autonomer Linksradikalismus in Schweden

Verweildauer der Aktivist*innen zeichnen sich die schwedischen linksradikalen Netzwerke, hier vor allem der SUF und die AFA (beide im Jahr 1993 gegründet), durch eine gewisse organisatorische Kontinuität und Stabilität aus, auch wenn beide durch die jugendkulturelle Prägung durchaus fragile Gebilde geblieben sind. Die „Volksbewegungstradition“ des SUF214 , aber auch die organisationsähnlichen Strukturen der schwedischen AFA könnten davon zeugen, dass sich der Linksradikalismus in Teilen an das überlieferte schwedische Organisationsdenken der Volksbewegungen anlehnt und generell eine geringere Organisationsskepsis ausgeprägt ist. Zweifellos sind aber mehr vergleichende Analysen notwendig, um den Konnex zwischen nationaler Organisationstradition und linksradikalem Organisationsdenken besser durchdringen zu können. EU-Gipfel 2001 als Zäsur und Ausgangspunkt für Neuformierungen im schwedischen Linksradikalismus: Die Krawalle in Göteborg während des EU-Gipfels 2001 gelten als der Wendepunkt im schwedischen autonomen Linksradikalismus. Eine autonome Szene, die vorher in der breiten Linken größtenteils akzeptiert war, wurde danach isoliert, marginalisiert und von staatlichen Behörden stärker verfolgt. Viele ältere Aktivist*innen (vor allem der AFA) schlossen sich anderen Gruppierungen, Strömungen und Netzwerken an, die weit weniger konfrontativ agierten. Parallel vollzog sich durch einen Generationswechsel in der AFA sowie durch die Gründung der RF, die beide primär auf Straßenkämpfe mit Rechtsextremisten setzten, eine Radikalisierung in der antifaschistischen autonomen Szene. Die Neuformierungen nach dem EU-Gipfel 2001 folgten daher thematischen, generationellen und strategischen Bruchlinien, die zugleich auf die Offenheit und Militanz der Netzwerke zurückwirkten. Deradikalisierung durch offenere Bündnisstrukturen: Beim Vergleich von Netzwerken und Bündnisstrukturen des schwedischen autonomen Linksradikalismus der 1990er Jahre bis in die Gegenwart fällt auf, dass sie offener geworden sind und vermehrt den Kontakt zur Lokalgesellschaft und zu Akteur*innen jenseits der linksradikalen Szene suchen.215 Es liegt nahe, dass der veränderte Themenfokus auf Flüchtlingsarbeit, „Gemeingütern“ und Stadtpolitik, der insbesondere vom Bündnis Allt åt alla in den Vordergrund gerückt wird, an Segmente und Handlungsfelder der schwedischen Zivilgesellschaft leichter anknüpfen kann als der militante Antifaschismus. Allerdings bleiben der systemüberwin214 Darauf wird auf der Homepage des SUF explizit verwiesen: URL: https://suf.cc/vad-ar-suf/ historia/ [eingesehen am 30.11.2019]. 215 Das wird durch mehrere unabhängige Aktivist*inneninterviews bestätigt, vgl. Jacobsson u. Sörbom, After a Cycle of Contention, S. 10f. und Jämte, Radical anti-fascism in Scandinavia, S. 260ff.; vgl. auch Wennerhag u. Jämte, Brottsförebyggande åtgärder, S. 19.

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dende Anspruch und die revolutionäre Intention des Bündnisses Allt åt alla von der bündnispolitischen Offenheit unberührt. Teile der autonomen Szene lehnen hingegen diese Öffnungsprozesse zu zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und die strategische Abkehr von militanten Protestformen vehement ab und bezeichnen diese Entwicklungen abwertend als „Sozialdemokratisierung“ (sossefiering).216 Jämte et al. bezeichnen die organisatorische und ideologische Entwicklung des autonomen Linksradikalismus von den 1990er Jahren, trotz szeneinterner Gegenbewegungen, generell als Übergang von einem „milieu of radical direct-actions groups“ zu einem „actor rooted in local neighborhoods and the everyday activities of common people in the 2010s.“217 Antifaschismus sowie Stadt- und Wohnpolitik als zentrale Handlungsfelder: Obwohl der Antifaschismus weiterhin das zentrale Handlungsfeld des schwedischen autonomen Linksradikalismus darstellt, scheinen die Stadt- und Wohnungspolitik sowie der Kampf um „Gemeingüter“ ebenfalls an Bedeutung zu gewinnen. Segregationstendenzen haben sich in den schwedischen Großstädten entlang ethnischer und sozioökonomischer Grenzen verfestigt, weshalb schwedische Soziologen von einer „Geografie der Klassengesellschaft“ sprechen.218 Zahlreiche Hausbesetzungen seit Ende der 2000er Jahre219 , die „Oberklassesafaris“ des Bündnisses Allt åt alla und die Forderungen nach kostenlosem Nahverkehr und einer radikalen Wende des autozentrierten Mobilitätsparadigmas, die von dem Netzwerk Planka.nu (Umsonstfahren. jetzt)220 artikuliert werden, zeigen exemplarisch, dass das „Recht auf Stadt“221 im linksradikalen Spektrum Schwedens an Relevanz und Breite gewinnt. Regionale Hochburgen der (links)alternativen Szenen wie die Stadtteile Södermalm in Stockholm, Haga

216 Vgl. Hansen, Solidarity in Diversity, S. 54; siehe auch Petter Larsson, Från stenkastning till flyktinghjälp, in: Aftonbladet, 06.08.2019, URL: https://www.aftonbladet.se/kultur/a/ EWmwzo/fran-stenkastning-till-flyktinghjalp [eingesehen am 30.11.2019]. Als Beispiel gegen diesen Pragmatismus von Allt åt alla siehe die Kritik von der Gruppierung Södra Klubben, die der ARNA angehört. Vgl. Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 24. 217 Jämte u. a., From Radical Counterculture to Pragmatic Radicalism?, S. 3. 218 Göran Therborn, Kapitalet, Överheten och alla vi andra. Klassamhällets Sverige – Det rådande och det kommande, Lund 2018, S. 123. 219 Einen geografischen Überblick über schwedische Hausbesetzungen in den Jahren 2008 und 2009 gibt die anarchistische Zeitschrift Brand, Två års ockupationer i Sverige, in: Brand, H. 1/2010, S. 40–41. 220 Vgl. das Autor*innenkollektiv Planka.nu, VerkehrsMachtOrdnung. Zur Kritik des Mobilitätsparadigmas, übersetzt von Gabriel Kuhn, Münster 2015. 221 David Harvey, Rebellische Städte. Vom Recht auf Stadt zur urbanen Revolution, Berlin 2013, S. 27ff.

Autonomer Linksradikalismus in Schweden

in Göteborg und Möllevången in Malmö waren zudem alle in den letzten Jahren oder Jahrzehnten von Gentrifizierungsprozessen betroffen,222 weshalb die augenfällige Verschiebung auf stadt- und wohnungspolitische Handlungsfelder somit auch dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass durch Verdrängungsprozesse „Freiräume“ und Infrastrukturangebote der linksradikalen Szene bedroht sind.

222 Vgl. Hansen, Solidarity in Diversity, S. 84.

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Kontinuitäten und Wandlungen

Carsten Koschmieder

Gegen Bilderberger, Hochfinanz und Zionisten Antisemitismus in der politischen Linken und der radikalen linken Szene

Einleitung Antisemitismus ist nicht auf die radikale Rechte beschränkt, auch wenn man aus der öffentlichen Debatte manchmal diesen Eindruck gewinnen kann und obwohl die vielen antisemitischen Straftaten in Deutschland von den Sicherheitsbehörden zu einem großen Teil dem Rechtsextremismus zugerechnet werden.1 Ebenso wenig ist Antisemitismus nur im Islam zu finden oder bei Menschen, die selbst oder deren Eltern aus Ländern mit muslimischen Mehrheiten nach Deutschland gekommen sind – wie Vertreter2 der antisemitischen radikalen Rechten immer dann vorbringen, wenn ihr eigener Antisemitismus thematisiert werden soll, oder wenn sich eine Gelegenheit gibt, antimuslimischem Rassismus den Deckmantel der Verteidigung von Menschenrechten zu geben. Und schließlich ist Antisemitismus auch nicht nur bei beiden genannten Gruppen zu finden, wie gerne in der vermeintlich unschuldigen „Mitte“ der Gesellschaft angenommen wird. Zahlreiche empirische Untersuchungen über antisemitische Einstellungen in der gesamten Bevölkerung3 , die Analyse von

1 Der Verfassungsschutzbericht berichtet für das Jahr 2018 von 1575 antisemitischen Straftaten mit einem rechtsextremen Hintergrund, 13 antisemitischen Straftaten mit einem linksextremen Hintergrund und 32 antisemitischen Straftaten mit einer religiös-ideologischen Motivation. Vgl. BMI, Verfassungsschutzbericht 2018, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Berlin 2019, S. 26, S. 33 und S. 38. Am Verfassungsschutz im Allgemeinen und der Zählweise antisemitischer Straftaten im Besonderen wurde in den letzten Jahren zwar Kritik laut. Vgl. hierzu BMI, Antisemitismus in Deutschland. Aktuelle Entwicklungen, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Berlin 2017, S. 29ff.; dennoch liefern die Zahlen ein sehr eindeutiges Bild. 2 In diesem Artikel wird, wenn erforderlich, grundsätzlich die weibliche Form gewählt. Vgl. Luise Pusch, Alle Menschen werden Schwestern: Überlegungen zum umfassenden Femininum, in: Dies. (Hg.), Alle Menschen werden Schwestern. Feministische Sprachkritik, Frankfurt a. M. 1990, S. 85–103. Um aber die männliche Dominanz innerhalb der radikalen Rechten nicht hinter einer gendersensiblen Sprache zu verstecken, wird hier bewusst die männliche Form verwendet. 3 Vgl. Oliver Decker u. Elmar Brähler, Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen 2018.

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Briefen an den Zentralrat der Juden4 oder konkrete Fallstudien zu einzelnen Reden oder Texten5 belegen eindeutig und seit Jahrzehnten, dass sich antisemitische Einstellungen in allen sozialen Gruppen und natürlich auch entlang sämtlicher politischer Richtungen finden. Das Vorhandensein von Antisemitismus in der radikalen linken Szene oder der politischen Linken im Allgemeinen ist also keine Überraschung und an sich auch keinen Artikel wert. Interessant sind hingegen die besonderen Ausprägungen, Ursachen und Felder dieses Phänomens, die im Folgenden erörtert werden sollen. Dabei wird, dem Format geschuldet, auf ausführliche Diskussionen über Definition und Begriff6 des Antisemitismus verzichtet. Vorüberlegungen: Begriffe Linker Antisemitismus meint in diesem Beitrag besondere Erscheinungsformen des Antisemitismus im linken politischen Lager, insbesondere in der radikalen linken Szene. Allerdings ist der Begriff natürlich missverständlich: Es gibt nichts spezifisch Linkes am Antisemitismus, sofern man unter „links“ eine politische Ideologie versteht, die sich für die Gleichheit aller Menschen und gegen Unterdrückung und Diskriminierung wendet. Die Wendung vom „linken Antisemitismus“ meint also explizit nicht, dass die linke Szene einen bestimmten Antisemitismus exklusiv für sich hätte – im Gegenteil finden sich alle Ursachen, Ausprägungen, Argumentationen und Bilder des „linken Antisemitismus“ auch im „normalen“ Antisemitismus. Der Begriff ist stattdessen andersherum zu verstehen: Beim Antisemitismus in der linken Szene sind einige Ursachen wichtiger als andere, sind einige Formen häufiger vertreten als andere – und diese Besonderheiten sollen im Folgenden thematisiert werden. Aus diesen Überlegungen heraus soll in diesem Beitrag für dieses Phänomen der Begriff „linker Antisemitismus“ verwendet werden, der Einfachheit halber ohne Anführungszeichen. Andererseits soll hier nicht der Argumentation gefolgt werden, dass eine Person oder eine Gruppe, die antisemitische Argumentationsmuster artikuliert, darum nicht links sein könne – weil Antisemitismus jeder linken Überzeugung

4 Vgl. Monika Schwarz-Friesel u. Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin 2013. 5 Vgl. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Berlin 2018. 6 Für eine Problematisierung des Begriffs sei empfohlen Georg Berger Waldenegg, Antisemitismus: eine gefährliche Vokabel? Zur Diagnose eines Begriffes in: Wolfgang Benz (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Berlin 2000, S. 108–126.

Gegen Bilderberger, Hochfinanz und Zionisten

widersprechen würde.7 Um die wenig ergiebige Debatte darüber zu vermeiden, wer sich mit welchem Recht als links betrachten darf, soll hier die Selbsteinschätzung der Akteurinnen ausschlaggebend sein. Untersucht werden also Personen und Gruppen (und deren Äußerungen und Einstellungen), die sich selbst als politisch linksstehend verstehen. Besonderheiten Der Grund, linken Antisemitismus – also Antisemitismus in der politischen Linken und der radikalen linken Szene – überhaupt zu thematisieren, liegt in seinen besonderen Ausprägungen. Fünf davon sind hier zu nennen: Erstens finden sich zunächst so gut wie keine Akteurinnen, die von sich selbst (und voller Stolz) behaupten, Antisemitinnen zu sein. Vielmehr wird der Vorwurf, antisemitische Stereotype zu reproduzieren, vehement zurückgewiesen, meist mit dem Argument, man sei doch eine Linke, engagiert gegen Rassismus und könne daher keine Antisemitin sein.8 Außerdem wird ein solcher Vorwurf als ein perfider und ungerechtfertigter Angriff verstanden – wohl auch, weil es den Betroffenen meist wirklich nicht bewusst ist, welche Stereotype sie reproduzieren oder in welche Argumentationsmuster sie verfallen. Das liegt zweitens auch am Selbstverständnis der Akteurinnen als antifaschistisch und antirassistisch. Da Antisemitismus nicht nur, aber vor allem in Teilen der radikalen Linken fälschlicherweise als gegen Jüdinnen gerichtete Form von Rassismus verstanden wird, folgt aus diesem Selbstverständnis die feste Überzeugung, keine Antisemitin sein zu können. Die antifaschistische Überzeugung führt außerdem häufig zu einer kritischen und engagierten Auseinandersetzung mit dem historischen Faschismus beziehungsweise dem Nationalsozialismus und in diesem Zusammenhang auch mit der Shoah. Auch dadurch gewinnen die Protagonistinnen den Eindruck, gegen Antisemitismus und Judenverfolgung zu sein, und bringen das gegen entsprechende Hinweise vor. Allerdings wird dem historischen Antisemitismus und seinen furchtbaren

7 Vgl. Carsten Koschmieder, Die Entstehung der „Antideutschen“ und die Spaltung der linksradikalen Szene, in: Ulrich Dovermann (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2011, S. 183–200. 8 Interessant ist tatsächlich, dass der Vorwurf, eine einzelne Aussage würde antisemitische Argumentationsmuster bedienen oder antisemitische Stereotype reproduzieren, meist versucht wird zu entkräften mit dem Hinweis, man sei keine Antisemitin – was in der Regel niemand behauptet. Ein ähnliches Phänomen ist die Versicherung von Freundinnen oder Kolleginnen, die beschuldigte Person gut zu kennen und daher zu wissen, dass sie keine Antisemitin sein könne. Eine Diskussion über die kritisierte Aussage wird so abgewehrt.

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Auswirkungen gedacht, ohne dass dadurch eigene antisemitische Aussagen erkannt würden. Das wird dadurch erleichtert, dass drittens linker Antisemitismus ohne „Juden“ auskommt. Und damit ist nicht die Tatsache gemeint, dass für antisemitische Einstellungen oder Argumentationen keine real existierenden Jüdinnen vorhanden sein müssen; vielmehr bedeutet das, dass die Begriffe „Jude“ oder „Judentum“ nicht vorkommen. So kann der Vorwurf, antisemitische Stereotype zu bedienen, leicht zurückgewiesen werden, und auch der Sprecherin selbst könnte der häufige Gebrauch des Wortes „Jude“ eine Assoziation zum Themenfeld Antisemitismus nahelegen. Häufig handelt es sich dabei nicht (wie beispielsweise im Rechtsextremismus) einfach um eine Strategie, tabuisierten und teilweise strafbewehrten offenen Antisemitismus zu vermeiden, sondern vielmehr um ein Anzeichen dafür, dass die Sprecherin sich des geäußerten Antisemitismus’ wirklich nicht bewusst ist. Dadurch wird viertens der linke Antisemitismus anschlussfähiger, da er nicht so leicht als solcher erkannt und die Sprecherin als unverdächtig angesehen wird. Antisemitische Aussagen werden sagbarer, die Tabuisierung wird aufgeweicht.9 Statt einer rechtlichen oder zumindest gesellschaftlichen Sanktion gibt es in medial aufgegriffenen Fällen eine lebhafte Debatte darüber, ob der Vorwurf gerechtfertigt sei – mit den oben beschriebenen Mechanismen der Zurückweisung: Die Sprecherin sei nicht rechts und damit keine Antisemitin, sondern antirassistisch und antifaschistisch eingestellt und damit doch eine Verbündete im Kampf gegen Antisemitismus, und außerdem habe sie den Begriff „Jude“ überhaupt nicht benutzt. Interessant ist allerdings fünftens, dass es innerhalb der linken und auch der radikalen linken Szene eine Problematisierung dieses Argumentationsmusters gibt. Gruppen und Einzelpersonen kritisieren den Antisemitismus in den eigenen Reihen10 und bemühen sich um Aufklärungsarbeit sowie eine theoretische Diskussion des Problems. Am prominentesten sind dabei sicher die sogenannten Antideutschen, welche sich die Bekämpfung von linkem Antisemitismus und die ihn bedingenden Strukturen zu einer ihrer Hauptaufgaben gemacht haben.11

9 Vgl. Werner Bergmann u. Wilhelm Heitmeyer, Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung?, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 3, Frankfurt a. M. 2005, S. 224–238. 10 Die Formulierung „in den eigenen Reihen“ basiert hier wiederum auf der Selbsteinschätzung der Handelnden, die sich jeweils selbst als Mitglieder der (radikalen) linken Szene verstehen. In der Regel sprechen sie dem jeweiligen Gegenüber in diesen Konflikten ab, „wirklich“ links zu sein. 11 Vgl. Koschmieder, Die Entstehung der „Antideutschen“, S. 183–200.

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Nach dieser Vorstellung der Besonderheiten von linkem Antisemitismus folgt im nächsten Kapitel eine Betrachtung der Ursachen des Phänomens. Ursachen Viele unterschiedliche Theorien geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, warum es Antisemitismus gibt und wie er entsteht. Dabei nehmen unterschiedliche Theoriefamilien jeweils verschiedene Ebenen – Individuum12 , Gruppe13 , Gesellschaft14 –, verschiedene Zeiträume – christliches Mittelalter15 , Bürgerliche Gesellschaft16 , Kapitalismus17 – oder verschiedene Länder in den Blick. Oft sind die Theorien nicht als konkurrierend, sondern als sich ergänzend zu sehen. Auf all diese Ursachen kann hier nicht eingegangen werden. Drei Ursachen, die insbesondere für linken Antisemitismus maßgeblich sind, sollen aber im Folgenden kurz angerissen werden. Eine wichtige Ursache für die Entstehung des modernen Antisemitismus ist die Ablehnung der Folgen der Modernisierung, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert vor allem in Europa stattgefunden hat. Dazu zählen neben der Industrialisierung vor allem die Verstädterung, die Bildung von Nationalstaaten, das Aufbrechen von kleinen Gemeinschaften, die massive Beschleunigung aller Lebensbereiche – und natürlich die Entstehung des Kapitalismus und seinen weitreichenden Folgen.18 Diese für viele Menschen unerklärlichen und bedrohlich wirkenden Veränderungen und ihre teilweise ganz realen negativen 12 Vgl. Rolf Pohl, Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie, in: Wolfram Sender u. a. (Hg.), Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis, Wiesbaden 2010, S. 41–68. 13 Vgl. Werner Bergmann, Gruppenpsychologie und -soziologie des Antisemitismus, in: Nina Horaczek u. Sebastian Wiese (Hg.), Handbuch gegen Vorurteile. Von Auschwitzlüge bis Zuwanderungstsunami, Wien 2010. 14 Vgl. Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001. 15 Vgl. Johannes Heil, Religion und Judenfeindschaft. Historische und gegenwärtige Aspekte, in: Wolfgang Benz (Hg.), Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus, Berlin 2008, S. 23–48. 16 Vgl. Reinhard Rürup, Die „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus, in: Reinhard Rürup (Hg.), Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 74–94. 17 Vgl. Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988, S. 242–254. 18 Vgl. Rürup, Die „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, S. 74–94; Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: Dies. (Hg.), Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000, S. 13–36.

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Konsequenzen, die mittelbar zur Entstehung des modernen Antisemitismus beitrugen, werden auch heute noch von der politischen Linken kritisiert und bekämpft. Bewusst greifen dabei heute nur wenige sich als links verstehende Akteure die antisemitische Kritik an der Moderne auf. Allerdings finden sich eben entsprechende Argumentationsmuster, die antisemitische Stereotype bedienen, häufiger auch in der politischen Linken. Dabei spielt besonders die Personalisierung von Herrschaft, gesellschaftlichen Entwicklungen oder Problemen eine Rolle. Werden bei der Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen – beispielsweise die oben genannten Folgen von Industrialisierung und Nationalstaatsbildung – einzelne Personen oder Gruppen verantwortlich gemacht, finden sich meist antisemitische Argumentationsmuster, auch wenn die Verantwortlichen in der Regel nicht explizit als jüdisch benannt werden. Die beschuldigte Gruppe wird aber immer mit genau den Eigenschaften beschrieben (reich, hinterhältig, im Verborgenen operierend, mächtig, weltweit agierend und so weiter), mit denen auch „die Juden“ in der Wahnvorstellung einer jüdischen Weltverschwörung beschrieben werden. Da sich die Argumentationen strukturell gleichen, hat sich hierfür der Begriff des strukturellen Antisemitismus etabliert. Diese personalisierte Form der Kritik an gesellschaftlichen Zuständen muss als eine der Hauptursachen für linken Antisemitismus gesehen werden – entweder unbewusst, weil die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ausreichend verstanden werden oder weil die personalisierte Kritik für eine politische Mobilisierung nützlich erscheint, oder bewusst, weil der eigene Antisemitismus so artikuliert werden kann, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Eine weitere Ursache für das Vorhandensein von linkem Antisemitismus ergibt sich aus der Personalisierung von Problemen: Der Antisemitismus macht handlungsfähig und bietet einfache Lösungsmöglichkeiten für alle gesellschaftlichen Herausforderungen und Missstände. Wer sonst viele unterschiedliche, sehr komplexe Ursachen zunächst analysieren und dann angehen musste, der bieten sich nun klare und auf unterschiedliche Probleme anwendbare Lösungsstrategien. Das Bekämpfen, die Vertreibung oder gar die physische Vernichtung einer (kleinen) Gruppe beseitigt alles Übel und führt zum Paradies auf Erden19 – interessant gerade für linke Gruppen, die gesellschaftliche Missstände bekämpfen und etwas tun wollen. 19 Saul Friedländer benutzt für diese Vorstellung den Begriff des „Erlösungsantisemitismus“. Vgl. generell Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007. Ähnliche Ansätze finden sich auch in der Theorie vom Nationalsozialismus als politischer Religion von Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998.

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Alle genannten Punkte, das sei an dieser Stelle noch einmal betont, spielen für antisemitische Überzeugungen von Menschen jeder politischen Überzeugung, jeder sozialen Schicht und jeder Altersgruppe eine Rolle. Sie erklären aber eben den linken Antisemitismus besser als viele andere Ansätze. Nach diesem kurzen Überblick über Besonderheiten und Ursachen folgt im nächsten Teil ein Überblick über die drei wichtigsten Felder, in denen sich linker Antisemitismus findet: Verschwörungsideologien, Kapitalismuskritik und israelbezogener Antisemitismus. Verschwörungsideologien Vorstellungen von Verschwörungen, also von einer kleinen Gruppe, die im Verborgenen auf ein geheimes Ziel hinarbeitet, sind weit verbreitet. Daher müssen zunächst ein paar Begriffe unterschieden werden:20 Eine Verschwörungshypothese ist, wie der Name schon sagt, eine (wissenschaftliche) Hypothese, die daher rational, überprüfbar und potenziell widerlegbar sein muss. Wenn sich die Hypothese zu bestätigen scheint und es überprüfbare Beweise aus mehreren seriösen Quellen gibt, dann handelt es sich womöglich tatsächlich um eine Verschwörung. Diese ist aber immer örtlich und zeitlich begrenzt. Außerdem sind immer Gegenargumente zulässig, und weitere Beweise können vorgebracht werden und die bisherigen Annahmen in Zweifel ziehen. Wird hingegen eine Verschwörung angenommen, die nicht örtlich oder zeitlich begrenzt ist – etwa die ganze Welt umspannt oder seit Jahrhunderten andauert –, werden keine Beweise aus seriösen Quellen vorgebracht oder auch nur gesucht, und unpassende Hinweise werden als manipuliert und Teil der Verschwörung angesehen, dann handelt es sich um eine Verschwörungsideologie.21 Offen antisemitische Verschwörungsideologien sind nicht neu, im Gegenteil: Im Mittelalter war der Glaube verbreitet, Juden seien mit dem Teufel im Bunde oder seine Agenten, würden die Brunnen vergiften und (christliche) Kinder entführen.22 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfanden die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ eine große jüdische Weltverschwörung und einen konkreten Plan für die endgültige Erlangung der Weltherrschaft.23 Und 20 Vgl. AAS, No World Order. Wie antisemitische Verschwörungsideologien die Welt verklären, Amadeu-Antonio-Stiftung, Berlin 2014. 21 Der oft gebrauchte Begriff „Verschwörungstheorie“ verschleiert gerade diesen Unterschied, da Theorie nach Wissenschaft und Überprüfbarkeit klingt. 22 Vgl. Johannes, Religion und Judenfeindschaft, S. 23–48. 23 Vgl. Wolfgang Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Zur neuen Attraktivität der alten Verschwörungstheorie, in: Ders. (Hg.), Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus, Berlin 2008, S. 49–66.

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auch heute gibt es zahllose Verschwörungsideologien, die ganz offen behaupten, hinter allen Übeln steckten „die Juden“: Klimawandel, Finanzkrise, die Anschläge vom 11. September, die Flucht bedrohter Menschen nach Europa – kein größeres Ereignis, keine Katastrophe fehlt in der Sammlung. Solche offen antisemitischen Verschwörungsideologien finden sich in der politischen Linken selten, da wie erläutert offener Antisemitismus abgelehnt wird. Das heißt aber nun nicht, dass es dort überhaupt keine Verschwörungsideologien gäbe – im Gegenteil. Nur sind die vermeintlichen Drahtzieher eben keine Juden. Die Finanzkrise ein Komplott einer reichen Elite, der 11. September von der Regierung der USA inszeniert, um eine Rechtfertigung für Kriege aus wirtschaftlichen Interessen zu haben, die sogenannte Flüchtlingskrise von den USA bewusst herbeigeführt, um die EU zu schwächen und zu spalten, der Krieg in der Ostukraine vom Westen verursacht und die Medienberichterstattung nicht nur in diesem Fall manipuliert. Problematisch ist daran nicht nur, dass tatsächliche Probleme nicht angegangen und gelöst werden können, wenn man statt der wirklichen (komplexen) Ursachen einfache, aber einer Wahnvorstellung entsprungene Ursachen vermutet. Auch die Tatsache, dass mancher sich als links verstehende Mensch bei mehrmaligen Nachfragen und Nachbohren am Ende doch bei „den Juden“ als Drahtzieher der Verschwörung landet, ist aufgrund der geringen Fallzahl nicht so gravierend. Das Hauptproblem sind die Verschwörungsideologien, die gerade nicht antisemitisch wirken, weil nicht „die Juden“ als Hintermänner genannt werden, sondern irgendeine andere, manchmal auch namenlose Gruppe. In den allermeisten Fällen verfügen die vermuteten Drahtzieher solcher Verschwörungsideologien über unglaublich viel Macht, kontrollieren schon große Teile der Welt, insbesondere die Finanzmärkte und die Medien, operieren seit langem im Verborgenen und haben alle wichtigen Posten auf der Welt mit ihren Leuten besetzt. Nicht zufällig sind das genau die Eigenschaften, die seit Jahrhunderten „den Juden“ und ihrer Weltverschwörung zugeschrieben werden: sie kontrollieren die Medien und die Finanzmärkte, haben wichtige Posten mit ihren Leuten oder ihren Marionetten besetzt, sind unglaublich reich und operieren schon seit Jahrhunderten im Verborgenen, um ihre Pläne von der Weltherrschaft umzusetzen. In vielen Verschwörungsideologien, gerade in den populären, werden die Strippenzieher gar nicht so genau beschrieben. Auch deswegen fällt vielen Menschen diese Analogie nicht auf. Nimmt man aber eine Verschwörungsideologie für einen Moment ernst und fragt sich, welche Eigenschaften, Ressourcen und Möglichkeiten eine Gruppe haben müsste, um beispielsweise eine so gigantische Operation wie den 11. September 2001 mit Tausenden von Helferinnen, Zehntausenden von Mitwisserinnen und zahllosen manipulierten Medien in aller Welt durchzuführen – dann wird klar, dass eine solche Gruppe genau

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die oben beschriebenen Attribute benötigt. Sie muss also den Juden in der Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung gleichen, auch wenn sie nicht so beschrieben und auch nicht so benannt wird. Ein gutes Beispiel für das Gesagte bietet das Lied „Die Mafia“ der Band „Die Bandbreite“, welche sich als links(radikal) versteht und auch von anderen linken und linksradikalen Gruppen eingeladen oder unterstützt wird. In diesem Lied aus dem Jahre 2013 geht es darum, dass die Geschichte der Bundesrepublik der letzten Jahrzehnte, insbesondere die Morde der RAF, aber auch der Rücktritt von Christian Wulff, die Wahl seines Nachfolgers Joachim Gauck und weitere wichtige politische Ereignisse auf das geheime Wirken einer „transatlantische[n] Mafia“24 zurückzuführen sei. Man erfährt im Laufe des Liedes, wer an der Verschwörung beteiligt ist („Politiker ganz oben der vier großen Fraktionen, Großindustrielle und die Medienmogule“), dass sie die Interessen der USA durchsetzt (so wurde Alfred Herrhausen von der Mafia – und nicht der RAF – ermordet, weil er als Chef der Deutschen Bank die „Dominanz der US-amerikanischen Banken“ in Gefahr brachte) und dass die Presse („gleichgeschaltet“) und die Staatsanwaltschaft nichts gegen sie unternehmen können. Über die Motive dieser Mafia erfahren wir nichts, und auch eine Verbindung zu „Juden“ kommt im Text nicht vor. Allerdings gibt es eine Reihe von Hinweisen, wer „die Herren dieses Landes“ sind: neben bekannten antisemitischen Codewörtern („Bilderberger“, „Warburg“25 , „Goldman Sachs“26 ) und Formulierungen („lassen ihre Puppen tanzen“, „Marionette“) findet sich auch die Behauptung, für politische Morde würde die Mafia „den Mossad an[rufen], um für Ruhe zu sorgen“ – der Verweis auf den israelischen Geheimdienst ist ebenfalls ein eindeutiges Zeichen. So ist, ohne dass es ausgesprochen wird, klar, dass die „transatlantische Mafia“ eigentlich Teil der jüdischen Weltverschwörung ist oder zumindest für diese arbeitet. Dieses Beispiel würde vermutlich nicht weiter verwundern, wenn es sich um ein Lied einer einschlägigen rechtsextremen Band handeln würde. „Die Bandbreite“ ist aber eben eine Band, die sich als links versteht und die – trotz mancher Proteste – auch auf Veranstaltungen von linken Gruppen spielt oder gespielt wird.

24 Alle Textzeilen zitiert nach der von der Band selbst veröffentlichten Version auf Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=J1wbUUnPUB0 [eingesehen am 30.09.2019]. 25 Diese Bank wird häufig genannt, wenn es um die Schuld an Finanzkrisen und den Einfluss auf dem weltweiten Finanzmarkt geht. Der einzige Grund dafür ist, dass sie vor 220 Jahren von einem Juden gegründet wurde – in der Finanzwelt spielt sie keine Rolle: Die Bilanzsumme der weltgrößten Bank ist achthundert Mal so groß wie die der Warburg Bank. 26 Auch diese Bank wird ausschließlich deshalb erwähnt, weil sie vor 150 Jahren von einem Juden gegründet wurde.

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Kapitalismuskritik Antisemitische Wahnvorstellungen haben häufig mit Geld zu tun: „Die Juden“ hätten eine besondere Affinität zu Geld, seien besonders gierig, hätten den Kapitalismus erfunden und eingeführt, um den Rest der Menschheit noch besser ausbeuten zu können, und kontrollierten die Banken und damit auch die Finanzmärkte. Solche Vorstellungen existieren seit dem christlichen Mittelalter27 und sind heute in Deutschland in der Regel tabuisiert, da sie so offensichtlich und plump antisemitisch sind. Doch auch hier bietet sich codierter Antisemitismus als Lösung an. Wie im oben beschriebenen Liedtext werden beispielsweise einzelne „jüdische“ Banken als besonders reich und bedeutend dargestellt, oder ihnen wird die Schuld an der Finanzkrise gegeben. „Jüdisch“ bedeutet dabei, dass entweder der Gründer oder die aktuellen Besitzer der Bank unabhängig von ihrer eigenen Überzeugung vom Antisemiten als Juden angesehen werden.28 Ebenso können statt einzelner Banken auch einzelne als jüdisch angesehene reiche Männer herausgestellt werden. Bekannte Beispiele sind hier beliebige Vertreter der Familie Rothschild oder George Soros. Illustrieren lässt sich das gut an einem in der Literatur oft zitierten Beispiel, nämlich den Protesten gegen das Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2003. Dort tanzten linke Demonstrantinnen verkleidet als Ariel Sharon, zu dieser Zeit israelischer Ministerpräsident, und Donald Rumsfeld, zu dieser Zeit US-amerikanischer Verteidigungsminister, symbolisch um ein goldenes Kalb. Dieses in antisemitischen Karikaturen häufig genutzte Bild wurde noch unterstützt davon, dass Donald Rumsfeld einen Sheriff-Stern trug, der sehr deutlich an einen Judenstern erinnerte.29 Neben diesen Anspielungen stellt sich aber die Frage, warum bei Protesten gegen das Weltwirtschaftsforum gerade der weltwirtschaftlich völlig unbedeutende Staat Israel in den Fokus gerückt wurde – die einfache Antwort lautet, dass es sich hier um einen Code für das alte Stereotyp handelte, dass letztlich doch die Juden die Weltwirtschaft kontrollieren.

27 Vgl. Heil, Religion und Judenfeindschaft, S. 23–48. 28 Wichtig ist hier noch einmal die Klarstellung, dass diese Männer (es sind im Weltbild des Antisemitismus tatsächlich nur Männer) sich nicht selbst als Juden verstehen müssen. Es geht nicht um ihre Religiosität, die Anzahl ihrer Synagogenbesuche oder ob sie den Schabbat einhalten, sondern ausschließlich um eine Zuschreibung durch die Antisemitinnen, also von außen. 29 Vgl. Martin Kloke, Antisemitismus und Antizionismus von links, in: Wolfgang Benz, (Hg.), Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus, Berlin 2008, S. 159–179, hier S. 173.

Gegen Bilderberger, Hochfinanz und Zionisten

Auch wenn der Antisemitismus in dieser Verbindung von „Juden“ und Kapitalismus nicht völlig offen zutage tritt, so ist er doch auch mit wenigen Vorkenntnissen recht klar zu erkennen und wird dementsprechend gerade auch innerhalb der politischen Linken kritisiert und bekämpft. Wesentlich weniger kritisch hingegen wird in der Regel eine problematische Form der Kapitalismuskritik gesehen, die völlig ohne Anspielungen auf vermeintlich „jüdische“ Banken oder ähnliches auskommt und in der politischen Linken weitverbreitet ist. Drei Aspekte, die in der Realität natürlich meist gemeinsam vorkommen, sollen hier herausgestellt werden. Erstens werden lediglich die negativen Auswüchse eines eigentlich guten Kapitalismus kritisiert (weswegen diese Form der Kapitalismuskritik auch als „verkürzt“ bezeichnet wird). Die Ursachen für solche Probleme werden personalisiert: Wären nur die Banker nicht so gierig, dann gäbe es keine Finanzkrise, und hätten nicht einzelne Automanager betrogen, dann gäbe es keinen DieselBetrug. Dahinterliegende komplexere Strukturen und die Funktionslogik des Kapitalismus werden hingegen ausgeblendet. Wie oben erläutert gehen solche Personalisierungen oft mit antisemitischen Stereotypen einher, da der verantwortlichen Gruppe meist „jüdische“ Eigenschaften unterstellt werden, auch wenn sie nicht explizit (oder codiert) als jüdisch bezeichnet wird. Zweitens findet sich in solcher Kapitalismuskritik häufig die Vorstellung einer homogenen Gruppe von reichen und mächtigen Männern, die mithilfe des kapitalistischen Systems das Volk oder – in einer linken Variante – die einfachen Arbeiterinnen ausbeuten. Auch hier werden der verantwortlichen Gruppe oft „jüdische“ Eigenschaften unterstellt: sie agiert im Verborgenen, hat unglaubliche Macht und bereits viel Geld, strebt die Weltherrschaft an und so weiter. Drittens wird häufig wie schon von den Nationalsozialisten unterschieden zwischen schaffendem Kapital, das – von Deutschen in deutsche Fabriken investiert – durch ordentliche Arbeit Werte schafft, und raffendem Kapital, das – aus dem Ausland kommend und (wie die Juden) heimatlos durch die Welt vagabundierend – über Spekulationen, Käufe und Verkäufe versucht, in kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen, ohne mit „echter Arbeit“ etwas zu produzieren. Das raffende Kapital ist dabei verantwortlich für die negativen Folgen des Kapitalismus wie Arbeitslosigkeit oder Werksschließungen. Außerdem ist es wurzellos, unproduktiv, international und modern, ihm werden also vermeintlich „jüdische“ Eigenschaften zugeschrieben. Ein häufig zitiertes Beispiel für diese problematische Form der Kapitalismuskritik findet sich in der Zeitschrift der IG Metall vom Mai 2005. Die Ausgabe trägt den Titel „US-Firmen in Deutschland. Die Aussauger“ und zeigt auf der Titelseite eine geldgierige vermenschlichte Mücke mit Dollarzeichen in den Augen und einem Hut mit der US-amerikanischen Flagge darauf. Im Heft findet

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sich in der Bebilderung der Titelgeschichte „Die Plünderer sind da“ dann ein ganzer Schwarm solcher Tiere, die mit Geldkoffern nach Deutschland geflogen kommen und mit ihrem langen Sauger am Schornstein einer deutschen Fabrik saugen. Fett und sattgefressen ziehen sie dann weiter. Im dazugehörigen Artikel wird kritisiert, dass ausländische (hauptsächlich US-amerikanische) „Finanzinvestoren“ deutsche Firmen kaufen und nach kurzer Zeit wieder verkaufen – mit Gewinn und auf Kosten der Mitarbeiterinnen. Dabei geht es nur um Geld: „Rücksicht auf Menschen, Regionen oder Traditionen nehmen die amerikanischen Finanziers nicht.“30 Sehr plastisch zeigt dieses Beispiel die Personalisierung der Probleme – es sind die konkret im Text namentlich genannten Finanzinvestoren, die für die negativen Folgen verantwortlich sind und diese aus Habgier in Kauf nehmen. Vor allem aber erkennt man die Trennung in gutes und schlechtes Kapital: Die deutsche Fabrik (die ja ebenfalls Kapital benötigt) schafft Werte und nimmt dabei auf Menschen, Regionen und Traditionen Rücksicht, das internationale Kapital tut das hingegen nicht. Diese bildliche Darstellung ist schon deswegen irritierend, weil im Artikel erklärt wird, dass auch „deutsches Geld“, also Geld, das Deutschen gehört, an solchen Käufen beteiligt ist. Außerdem müssen ja deutsche Kapitalisten die Anteile an den Firmen verkaufen (und damit viel Geld verdienen), damit die Investoren überhaupt einsteigen können. Die Gegenüberstellung lässt sich also inhaltlich nicht halten, wird aber dennoch so visualisiert. Schuld am Verlust von Arbeitsplätzen haben damit also die US-amerikanischen Kapitalisten, deren Charakterisierung Assoziationen weckt: Menschen dargestellt als Mückenplage, die weiterzieht, wenn es nichts mehr zu holen gibt, mit Brille und Zigarre im Mund der stereotype Kapitalist, dazu die US-Flagge auf dem Zylinder, der Saugrüssel an eine lange (Juden-)Nase erinnernd – ohne dass das Wort „Jude“ an irgendeiner Stelle ausgesprochen werden muss, können entsprechende Bilder abgerufen werden. An diesen Vorstellungen über Kapitalismus (und der Kritik daran) ist zum einen natürlich problematisch, dass sie inhaltlich falsch sind und sich daher auf der Grundlage dieser Einschätzung die Probleme auch nicht lösen oder die negativen Konsequenzen beheben lassen. Zum anderen (und für das Thema Antisemitismus relevanter) ist problematisch, dass die Verursacher der negativen Seiten und Auswirkungen des Kapitalismus jedes Mal mit Eigenschaften beschrieben werden, mit denen „die Juden“ seit Jahrhunderten von Antisemitinnen beschrieben werden. Bewusst oder unbewusst werden so antisemitische Stereotype – Juden sind besonders reich, besonders gierig oder kontrollieren Banken und Finanzmärkte – aufgegriffen und verbreitet.

30 IG Metall, in: metall. Das Monatsmagazin, Jg. 57 (2005) Nr. 5, S. 15.

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Israelbezogener Antisemitismus In diesem Abschnitt geht es um im Zusammenhang mit Israel artikulierten Antisemitismus, also darum, dass „Israel“ als Synonym für „die Juden“ verwendet wird. Da es zu diesem Thema immer wieder Missverständnisse gerade innerhalb der politischen Linken gibt, sind einige Klarstellungen notwendig. Zunächst ist mit Walter Laqueur festzuhalten: „Dass Kritik an Israel nicht per se Antisemitismus darstellt, ist derart selbstverständlich, dass man es eigentlich kaum noch einmal wiederholen müsste.“31 Die Kritik muss dabei weder berechtigt noch sachlich vorgetragen oder inhaltlich korrekt sein, um nicht unter Antisemitismusverdacht zu geraten: Nicht jeder haltlose Vorwurf gegenüber israelischer Politik ist judenfeindlich. Allerdings sollte immer die Frage gestellt werden, warum eine Akteurin es für notwendig hält, unter allen Staaten auf der Welt gerade Israel zu kritisieren. Das mag in manchen Fällen gute Gründe haben (beispielsweise biographische), häufig ist aber diese Obsession schon ein Teil des Problems, und oft wird als Rechtfertigung vorgebracht, dass Israel sich eben von allen Staaten den schlimmsten Verbrechen schuldig machen würde – was offensichtlich falsch ist. Ebenso ist interessant, dass es die Wortschöpfung „Israelkritik“ im allgemeinen Sprachgebrauch für kein anderes Land auf der Welt gibt. Es liegen viele Vorschläge vor, wie sich israelbezogener Antisemitismus von normaler Kritik an israelischer Politik oder Gesellschaft unterscheiden lassen. Da es oft nicht möglich ist, die Motive der Sprecherinnen zu erkennen und somit die antisemitische Intention nicht das ausschlaggebende Kriterium sein kann, sollen hier vier von Aribert Heyder, Julia Iser und Peter Schmidt vorgeschlagene Kriterien zur Unterscheidung herangezogen werden.32 Diesen Autorinnen zufolge sollten Aussagen dann als israelbezogener Antisemitismus gewertet werden, wenn sie eines der nachfolgenden Kriterien erfüllen. Angeführt werden: 1. die Nichtanerkennung des Existenzrechtes oder des Rechtes auf Selbstverteidigung für Israel, sofern nicht, wie zum Beispiel von Anarchistinnen aus ideologischen Gründen, die Existenz jeglicher Staaten abgelehnt wird.33 31 Walter Laqueur, Gesichter des Antisemitismus. Von den Anfängen bis heute, Berlin 2008, S. 16. 32 Vgl. Aribert Heyder u. a., Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabus, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 3, Frankfurt a. M. 2005, S. 146f. 33 Schon an diesem Punkt zeigt sich, wie schwierig eine solche starre Definition ist: Einige ultraorthodoxe Juden lehnen aus religiösen Gründen einen Staat Israel ab, da dieser erst mit der Ankunft des Messias wiederentstehen dürfe. Diese Haltung steht natürlich nicht im Verdacht, antisemitisch zu sein.

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Häufig wird argumentiert, dass Israel aufgrund seiner vermeintlichen Untaten sein Existenzrecht verwirken würde – was wiederum bei keinem anderen Staat auf der Welt behauptet wird, unabhängig von allen Kriegen oder Massenmorden. Außerdem wird behauptet, der Staat Israel sei ein künstliches Gebilde – als wären alle anderen Staaten gleichsam natürlich gewachsene Lebensformen. 2. eine Gleichsetzung der israelischen Politik, insbesondere gegenüber den Palästinenserinnen, mit der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen im nationalsozialistischen Deutschland34 , da solche Vergleiche der Verharmlosung oder gar Rechtfertigung der NS-Verbrechen dienen: Die Behauptung, dass es solche Verbrechen in vielen Ländern gab und gibt, soll die von Deutschen begangenen Taten weniger schlimm erscheinen lassen; und die Behauptung, dass sogar und gerade Israel – also Jüdinnen – solche Verbrechen begehen, relativiert die deutschen Verbrechen nicht nur, sondern lässt sich als Rechtfertigung interpretieren, da es ja keine Unschuldigen getroffen hätte. Die Gleichsetzung funktioniert entweder über die direkte Erwähnung des NS („Israel wendet Nazi-Methoden an“), oder über die Verwendung von eindeutig belegten Begriffen („Endlösung der Palästinenserfrage“, „(Konzentrations-)Lager“, „Vernichtungskrieg“).35 3. das Anlegen doppelter Standards für die Beurteilung der israelischen Politik, also die Verurteilung bestimmter Handlungen Israels, die man bei anderen Ländern unterstützt oder zumindest stillschweigend akzeptiert. Als ein prominentes Beispiel hierfür steht der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, der zwischen 2006 und Mitte 2015 mit 62 Resolutionen Israel häufiger verurteilt hat als alle anderen Staaten auf der Welt zusammen.36

34 Auch hier zeigt sich die Problematik einer starren Definition: Die Gleichsetzung von israelischer und nationalsozialistischer Politik kann nach Peter Widmann unter bestimmten Bedingungen – zum Beispiel in einer innenpolitischen Debatte in Israel – als rhetorisches Mittel gesehen werden, mit dem keineswegs antisemitische Überzeugungen kommuniziert werden sollen. Vgl. Peter Widmann, Israelkritik und Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus, Berlin 2008, S. 137–158, hier S. 156. Für eine Betrachtung der deutschen Linken ist das Kriterium aber sehr gut geeignet. 35 Der linke Publizist Jakob Augstein schreibt beispielsweise, dass die israelische Regierung und Netanyahu „so rechts wie die deutschen Rechtspopulisten“ sei und schlussfolgert, „Faschismus“ sei „kein Phänomen der Vergangenheit“ Jakob Augstein, Die völkische Revolution, in: Spiegel Online, 07.12.2015, URL: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/rechtes-denken-ineuropa-die-voelkische-revolution-kolumne-a-1066432.html [eingesehen am 30.09.2019]. 36 Vgl. Alex Feuerherdt u. Florian Markl, Vereinte Nationen gegen Israel, Berlin 2018.

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4. die Übertragung tradierter antisemitischer Stereotype auf den Staat Israel als „kollektiven Juden“, dem vermeintlich jüdische Eigenschaften wie Rachsucht oder Geldgier unterstellt werden.37 Die Artikulation von israelbezogenem Antisemitismus wird häufig nicht als solche erkannt, findet recht große Zustimmung in der Bevölkerung und kann mit dem Verweis auf antiimperialistische Einstellungen relativiert werden.38 Insofern ist diese Form des Antisemitismus im linken Lager besonders häufig zu finden.39 Illustrieren lässt sich das Gesagte gut anhand des Gedichtes „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass. Der sich als links verstehende Nobelpreisträger für Literatur schreibt in einem im April 2012 in der Süddeutschen Zeitung40 veröffentlichten Werk über einen aus seiner Sicht drohenden atomaren Konflikt zwischen Israel und dem Iran. Offener Antisemitismus findet sich nicht, Worte wie „Juden“ oder „jüdisch“ kommen im Text nicht vor. Dennoch lohnt es, sich eine Reihe von Punkten anzuschauen. Grass geht davon aus, dass die israelische Regierung einen atomaren Angriff auf den Iran plant, der das „iranische Volk auslöschen könnte“. Die Behauptung, Israel wolle nicht nur eventuell iranische Atomanlagen bombardieren, sondern alle Männer, Frauen und Kinder im Iran töten, kann als Gleichsetzung mit der Shoah verstanden werden. Israel, so Grass weiter, gefährde mit seinem Verhalten „den ohnehin brüchigen Weltfrieden“. Selbst wenn es so etwas wie den Weltfrieden zu dieser Zeit gegeben hätte, stellt sich doch die Frage, warum gerade Israel für Kriege auf der ganzen Welt verantwortlich gemacht werden sollte. Jedenfalls plant Israel laut Grass ein Verbrechen, „das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre“. Auch hier findet sich eine deutliche Anspielung auf die Verbrechen der NS-Zeit, von denen später die 37 Vgl. Aribert u. a., Israelkritik oder Antisemitismus?, S. 146f. 38 Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Israelfeindschaft zwischen Antiimperialismus und Antisemitismus – eine Analyse zu Erscheinungsformen und Motiven im deutschen Linksextremismus, in: Ulrich Dovermann (Hg.), Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2011, S. 143–161. 39 Nach 1945 und nach der Shoa war die (west-)deutsche Linke zunächst solidarisch mit dem neugegründeten Israel. Das änderte sich radikal in den 1960er Jahren, insbesondere im Zusammenhang mit dem Sechstagekrieg 1967. Ausschlaggebend waren hier vor allem innenpolitische Gründe – wie so oft ging es nicht wirklich um Israel oder israelische Politik. Vgl. generell Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Hanau 1994. 40 Das Gedicht wurde zeitgleich auch einer spanischen und einer italienischen Zeitung abgedruckt. Zitiert wird hier nach der online zugänglichen Version Günter Grass, Was gesagt werden muss, in: Süddeutsche Zeitung, 10. 04.2012, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/ gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-was-gesagt-werden-muss-1.1325809 [eingesehen am 30.09.2019].

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Bevölkerung (wahrheitswidrig) behauptete, nichts gewusst zu haben. Um dieses Verbrechen zu verhindern, dürfe Deutschland kein U-Boot an Israel liefern, das „mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert“ wird. Hier findet sich das alte Stereotyp von den geldgierigen Juden, die sogar noch aus der Shoah Profit schlagen wollen, auf Israel übertragen. Auch stellt sich die Frage, wie Israels Existenzrecht in der Praxis aussehen soll, wenn dem Land keine Waffen geliefert würden. Schließlich behauptet er, dass das israelische Atomprogramm bisher verschwiegen wurde und dass auch er selbst sich lange nicht getraut hat, diese (bei Wikipedia nachzulesende) Tatsache auszusprechen, weil man dafür als Antisemit gebrandmarkt würde. Auch diese Aussage ist nicht nur offensichtlich unsinnig, sondern bedient die klassischen antisemitischen Stereotype, dass „die Juden“ die Medien kontrollieren oder ihnen zumindest vorschreiben, worüber berichtet werden darf, und dass der Antisemitismus-Vorwurf als Waffe eingesetzt würde, um Kritik an israelischer Politik mundtot zu machen. Das Interessante am Gedicht von Grass ist, dass all diese Dinge eben nicht offen zu finden sind und daher von vielen Menschen nicht gesehen werden, die dann wiederum die sich daran entzündende Aufregung nicht verstehen. Und natürlich können der Autor und seine Verteidiger leicht alle Vorwürfe abstreiten und wiederum behaupten, daran könne man eben doch sehen, dass Kritik an Israel nicht erlaubt sei. Gerade auch deswegen handelt es sich hier um einen sehr exemplarischen Fall. Zusammenfassende Thesen Es sollte deutlich geworden sein, dass sich linker Antisemitismus seiner Ideologie und den auftretenden Stereotypen nach nicht von „normalem“ Antisemitismus unterscheidet, sondern dass vielmehr „normaler“ Antisemitismus eben auch bei linken Gruppen und Personen zu finden ist. Einige der vielen Ursachen für die Verbreitung antisemitischer Einstellungen spielen hier eine größere Rolle, insbesondere der Kampf gegen die Verwerfungen moderner, kapitalistischer Gesellschaften und die Personalisierung von Problemen. Linker Antisemitismus tritt logischerweise in all den Feldern auf, in denen die entsprechenden Gruppen und Personen politisch aktiv sind. Besonders relevant sind in diesem Zusammenhang Verschwörungsideologien, Kapitalismuskritik und israelbezogener Antisemitismus. Das Besondere am linken Antisemitismus ist dabei, dass er nicht offen artikuliert und seine Existenz von den Akteurinnen oft geleugnet wird – und er aber andererseits auch auf massiven Widerstand innerhalb des eigenen politischen Lagers stößt. Letztlich ist er für eine progressive Linke eine große Herausforderung, denn tatsächlich ist Antisemitismus nicht ausschließlich ein Problem

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jüdischer Menschen, auch wenn diese oft unter konkreten Anfeindungen oder Verfolgungen zu leiden haben. Denn Antisemitismus ist auch immer, vielleicht sogar vor allem ein Problem der gesamten Gesellschaft; erstens, weil eine offene, demokratische Gesellschaft die Ausgrenzung eines Teiles ihrer Mitglieder auf Dauer nicht erträgt,41 zweitens, weil Antisemitismus grundsätzlich ein Zeichen für Probleme in der Gesellschaft darstellt,42 und drittens schließlich, weil sich Antisemitismus nicht nur „gegen jüdische Bürger, sondern zugleich gegen die Fundamente der Demokratie richtet“.43 Die vielfältigen Herausforderungen der Moderne kann jedenfalls nicht angehen, wer daran glaubt, dass alle Probleme letztlich von einer kleinen Gruppe verursacht werden, die sich nachts auf einem Prager Friedhof trifft.

41 Vgl. Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, München 2004, S. 241. 42 Vgl. Rürup, Die „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, S. 75. 43 Jürgen Zarusky, Die Leugnung des Völkermords. „Revisionismus“ als ideologische Strategie, in: Wolfgang Benz (Hg.), Auf dem Weg zum Bürgerkrieg? Rechtsextremismus und Gewalt gegen Fremde in Deutschland, Frankfurt a. M. 2001, S. 81.

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Antifaschismus in Ostdeutschland Eine (noch immer) eigene Geschichte

„So entstand eine ostdeutsche Linke, die mit den westdeutschen Traditionen – ja mit der Westlinken überhaupt – kaum etwas zu tun hatte.“1

Um an die Wurzeln eines spezifischen ostdeutschen Antifaschismus zu gelangen, müssen zunächst einige, allerdings ausreichend abgesicherte, Vorannahmen aufgestellt werden, die es erlauben, von ostdeutschen Eigenheiten und Eigenentwicklungen in Bezug auf den historischen wie aktuellen Antifaschismus in Ostdeutschland schließen zu lassen, auch auf Genese, Gestalt und aktuelle Formen „der Antifa“ im Allgemeinen und Ausprägungen linker Militanz in Ostdeutschland im Besonderen. Vorannahmen: Blackbox Ostdeutschland und der lange Schatten der DDR Dies führt direkt zur ersten Vorannahme: Bezüglich der Genese einer wie auch immer gearteten ostdeutschen Eigenentwicklung ist schon die Annahme eines geteilten Werte- und Deutungshorizonts, einer ostdeutschen Selbstkollektivierung, als zweifelhafter Versuch zu werten, eine Gesellschaft zu umklammern, die dominant in sich und aus sich selbst heraus in Abgrenzung zu einem imaginierten Anderen, meist dem Westen, steht. Zu vielfältig sind die Spaltungslinien in der ostdeutschen (Teil)-Gesellschaft, zwischen Generationen, zwischen Geschlechtern, zwischen Regionen, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen jenen die blieben, jenen die hinzukamen, jenen die zurückkehrten und jenen,

1 David Schweiger, Vorwärts und nicht vergessen. Eine kleine Geschichte und Typologie der ostdeutschen Linken anhand der Auseinandersetzungen mit der Leipziger Gruppe the future is unwritten im Bündnis …umsGanze!, in: Phase 2, Zeitschrift gegen die Realität, H. 48/2014, URL: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/vorwaerts-und-nicht-vergessen-466/?druck=1 [eingesehen am 19.07.2019].

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die nicht zurückwollen.2 Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, weil es den Container Ostdeutschland, so gern er medial wie wissenschaftlich aufgefüllt wird, in dieser gezeichneten Homogenität nicht gibt, auch wenn der Titel des Aufsatzes einen solchen Zusammenhang konstruieren mag. Anders gesagt und zugespitzt: Zwischen Leipzig-Connewitz oder der Dresdner Neustadt auf der einen, dem Erzgebirge, der Sächsischen Schweiz und der Region Ostsachsen auf der anderen Seite, zwischen dem, was als #dasandereSachsen verhandelt wird und den #sächsischenVerhältnissen klaffen elektorale, politische, generationelle und lebensweltliche Differenzen.3 Während in Leipzig der Oberbürgermeister die breit aufgestellten zivilgesellschaftlichen Proteste gegen rechte Manifestationen unterstützt, werden in Dresden die marginalisierten und oft von außen erst hereingetragenen Gegenproteste kriminalisiert.4 Während die AfD in Mecklenburg-Vorpommern bei der Bundestagswahl gerade einmal auf 18,6 Prozent der Zweitstimmen kam, erhielt sie in Sachsen 27 Prozent und wurde somit stärkste Kraft im Land. Während bei der Europawahl die AfD in Rostock nur auf etwa 12,8 Prozent kam, erlangte sie in Chemnitz fast das doppelte. Und, während in Thüringen Rot-Rot-Grün regiert, ist Sachsen seit 1990 ununterbrochen fest in der Hand der CDU.5 Kurz, der Osten Deutschlands ist zu heterogen für generalisierbare Annahmen. Schon seit den 1980er Jahren wird immer wieder darauf hingewiesen, dass „die politische Kultur eines Landes, einer Region oder einer Kommune“ begrenzt werde „durch ein entsprechendes Wir-Bewußtsein“6 , dass im Rahmen „europäischen Denkens eher regionale Bezüge“ an Gewicht gewännen und dass über die Beschäftigung mit regionalen politischen Kulturen Indikatoren ins Blickfeld rückten, die im Zusammenhang mit der Frage nach regionalen 2 Vgl. zur interessanten, wenn auch bisher wenig zufriedenstellenden Debatte darüber, was „ostdeutsch“ sei, zum Einstieg das brillante Interview mit Patrice G. Poutrus, „Das klingt nach völkischer Schicksals-gemeinschaft“, in: die tageszeitung, 15.07.2019. 3 Vgl. die beiden Hashtags bspw. beim Kurznachrichtendienst Twitter. Während ersterer als Synonym für den Kampf gegen rechte Umtriebe und eine progressive Zukunftssicht steht, bezeichnet zweiterer jene dominierende Wahrnehmung, wonach die sächsische Justiz, die dominierende CDU und die politische Kultur im Land auf dem rechten Auge blind sei. Vgl. hierzu Michael Lühmann, Sächsische Befunde. Blicke in das eigene Land, in: Dresdner Hefte, Jg. 35 (2018), H. 1, S. 32–40. 4 Vgl. Danny Michelsen u. a., Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Göttingen 2017. 5 Daran haben, bei allen Brüchen, auch die Wahlen von 2019 nichts grundlegend geändert. Vgl. insgesamt Maria Steinhaus u. a., Pegida und die Paradoxien der ‚sächsischen Demokratie‘, in: Tino Heim (Hg.), Pegida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2917, S. 143–196; siehe auch Lühmann, Sächsische Befunde. 6 Hans-Georg Wehling (Hg.), Regionale politische Kultur, Stuttgart 1985.

Antifaschismus in Ostdeutschland

Ungleichheiten bspw. Erklärungen unterhalb der Dichotomie Westdeutschland vs. Ostdeutschland erwartbar werden lassen. Exemplarisch nennt hier der Doyen der regionalen politischen Kulturforschung, Hans Georg-Wehling, „Identitätsfragen, […], die Entwicklung eines regionalen Parteiensystems, Regierungshandeln und Eigenheiten der regionalen Medienlandschaft“7 . Hieraus leiten Werz und Koschkar „einen Bruch zwischen den globalen Verhältnissen auf der einen sowie den lokalen Bedingungen von Individuen und Gruppen auf der anderen Seite“ ab, auf denen „kultureller Nationalismus und diverse territoriale Gemeinschaften“ gedeihen könnten.8 Dies führt zur zweiten Vorannahme, die ein wenig paradox erscheint. Denn bei aller Unterschiedlichkeit regionaler politischer Kulturen gibt es Ostdeutschland natürlich als historischen Erfahrungsraum, als vielgestaltigen Erinnerungsort9 , als vielgestaltiges Gedächtnis10 , als Sozialisationsmuster11 , ja, auch als Forschungsgegenstand.12 Wie die in der DDR gebürtige Filmwissenschaftlerin Angelika Nguyen jüngst in Replik auf Jana Hensels Versuch der ersten Vorannahme, ein ostdeutsches Betroffenheitskollektiv zu erschaffen, entgegnete, kann sie sehr wohl den Ossi erkennen, weil sich die Ossis in Geschichten, in Erinnerungen, in der Sprache, in Bildern und Artefakten des untergegangenen Staates wiederentdecken können – allein die Haltung, die Einstellung, die Frage, wie dem Erlebten gedacht wird, divergieren erheblich.13 „Heute, mehr als 7 Hans Georg Wehling u. Rosemarie Wehling, Wegmarken südwestdeutscher Geschichte. Stuttgart 2004, zit. nach Nikolaus Werz u. Martin Koschkar, Einleitung. Regionale politische Kultur im Vergleich, in: Dies. (Hg.), Regionale politische Kultur. Fallbeispiele und vergleichende Aspekte, Wiesbaden 2016, S. 1–20, hier S. 5. 8 Ebd. S. 7. 9 Vgl. zur Vielgestaltigkeit der Erinnerungsorte Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009. 10 Vgl. zu den konkurrierenden Gedächtnissen Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: Ders. (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, S. 11–27, hier S. 16ff. 11 Schon die Tatsache, dass – etwa in den Erhebungen des Thüringen-Monitors – „ein kontinuierlich starker und höchst signifikanter Zusammenhang zwischen einem positiven DDR-Bild und dem Wunsch nach einer Rückkehr zur sozialistischen Ordnung mit dem Rechtsextremismus“ gemessen wurde, deutet darauf hin, dass es fatal wäre, die DDR-Sozialisation und die positive Identifikation mit ihr als Erklärungsfaktor auszublenden. Vgl. Michael Edinger u. a., 19902005. Das vereinigte Deutschland im Urteil der Thüringer. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2005, Erfurt 2005, S. 72. 12 Vgl. Michael Lühmann, Eine (notwendigerweise) lange Geschichte. Über Konjunkturen und Herausforderungen der Ostdeutschlandforschung in Zeiten des Rechtsrucks, in: miteinanderthema #7, i.E., vgl. Astrid Lorenz (Hg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, Opladen 2011. 13 Es macht in der Debatte einen großen Unterschied, wo sich Protagonist*innen, Beobachter*innen, Deuter*innen in der Erinnerungslandschaft verorten. Ob sich also der Zugriff über das v.a. offiziell geprägte „auf den Opfer-Täter-Gegensatz fokkusiert[e]“ Diktaturgedächtnis vollzieht

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28 Jahre nach dem Mauerfall, erkenne ich Ost-Leute immer noch, vielleicht mehr denn je. Es ist ein bestimmtes Sozialverhalten, eine Art, unauffällig und zugleich aufmerksam zu sein, das Geschirr zurückzustellen, sich die Hand zu geben und natürlich die gemeinsame Sprache, die mit den Jahrzehnten nicht verschwunden ist“, so die in der DDR aufgewachsene Filmwissenschaftlerin Angelika Nguyen. „Manchmal“, so Nguyen weiter, „kramen wir Vokabeln unserer ostdeutschen Kindheit aus: Plaste, Kosmonauten, Pittiplatsch der Liebe, das Wolkenschaf, Fahrerlaubnis. […]. Da ist etwas Vertrautes, ohne Frage. Uns gibt es als Gruppe und ich verteidige sie gegen Klischees. Mein Ost-Feeling geht aber nicht so weit, dass ich den ostdeutschen Rassismus als Gegenwehr gegen das westdeutsche Establishment verteidige.“14 Auf den ersten Blick klingt der Rekurs auf den gemeinsamen Erfahrungsraum banal. Fast dreißig Jahre nach Revolution und Mauerfall sind sich Medien und Wissenschaft nicht selten darin einig, dass die DDR-Vergangenheit als Erklärungsmuster immer weiter in den Hintergrund rücke und Platz machen müsse für jene Erfahrungen von Zurücksetzung und Bruch in den Jahren nach 1990. Wie die Wissenschaft die DDR schon vor Jahren zur Fußnote der Geschichte zu erklären versuchte, so gilt auch der Rückgriff auf die DDR als Erklärungsmuster für aktuelle ostdeutsche Entwicklungen häufig als Camouflage der Deprivationserfahrungen der postsozialistischen Wendejahre.15 Aber, wie noch zu zeigen sein wird, gibt es für viele Phänomene doch hinreichend Hinweise darauf, dass Entwicklungen der DDR der achtziger Jahre weit hineinreichen in die ostdeutschen Seelenhaushalte auf der einen und in Eigenlogiken des Politischen auf der anderen Seite. Die geringere oder zumindest qualitativ andere Stärke der ostdeutschen Zivilgesellschaft, der grassierende Rechtsextremismus und die Wahlerfolge rechter Parteien in Ostdeutschland, aber eben auch die Ausprägungen antifaschistischen Denkens und Handelns besitzen, organisatorisch, ideen- und erfahrungsgeschichtlich, eine häufig vernachlässigte eigenständige oder über „das vielfach dominante[…] Arrangementgedächtnis, das vom richtigen Leben im Falschen weiß“ und welches anders als das dichotome Diktaturgedächtnis die Graustufen des DDR-Alltags einpreist und dabei „zwischen ironischer Anrufung und ostalgischer Verehrung der ostdeutschen Lebensvergangenheit oszilliert“ oder über das Fortschrittsgedächtnis kommt, welches die DDR „vor allem von ihrem Anfang her denkt“, als „legitime Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung.“, Sabrow, DDR erinnern, S. 18f. 14 Angelika Nguyen, Doppelt heimatlos?, in: Zeit online, 04.06.2018, URL: https://www. zeit.de/politik/deutschland/2018-05/ostdeutschland-heimat-ddr-filme-das-schweigendeklassenzimmer [eingesehen am 19.07.2019]. 15 Lutz Niethammer hat etwa darauf hingewiesen, dass „die Entdeckung ostdeutscher Gemeinschaftsgefühle aber nicht nur der ernüchternden Begegnung mit dem ‚Wessi‘ geschuldet ist […], sondern auch der bei aller Ambivalenz doch tief prägenden Erfahrungsgeschichte der Arbeitskollektive der DDR“. Lutz Niethammer, Das Kollektiv, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, S. 269–280, hier S. 279.

Antifaschismus in Ostdeutschland

ostdeutsche Perspektive, die bisweilen weit vor dem Umbruch 1989/90 ihren Ausgang nimmt. Für die hier zu behandelnde linke Szene ist der westdeutsche Einfluss indes weit weniger bedeutend. Während linke DDR-Oppositionelle eher nach Osteuropa schauten, blickte die entstehende Antifa, aufgrund konkreter Bedrohungslagen, nicht selten weiter als bis knapp vor die eigene Haustür. Und die westdeutsche radikale Linke interessierte und begeisterte sich oftmals mehr für die offizielle ostdeutsche Linie des Antifaschismus, denn für die inoffizielle.16 Gleiches gilt auch für die Neunziger Jahre: „Die DDR-Linke der neunziger Jahre speiste sich aus zwei wesentlichen Quellen: aus der Gegnerschaft zur DDR und zum Sozialismus/Kommunismus, wie man ihn erlebt hatte und aus der Erfahrungen des (rassistischen, nazistischen) Ausnahmezustands im Zusammenbruch der DDR und dem daraus folgenden antifaschistischen Selbstschutz. […] Auch das ganze Gerede vom antiimperialistischen Kampf oder dem revolutionären Antifaschismus ging an den ostdeutschen Lebensrealitäten bis in die späten Neunziger komplett vorbei. So entstand eine ostdeutsche Linke, die mit den westdeutschen Traditionen – ja mit der Westlinken überhaupt – kaum etwas zu tun hatte.“17

Anders als die vielfach ländlich verwurzelte und bis in die Mitte der Gesellschaft ausgreifende rechtsextreme Szene ist die radikale Linke (nicht allein) im Osten heute eher eine sich stetig wandelnde Blackbox, die, natürlich mit Ausnahmen, nicht selten gekennzeichnet ist von temporären Mitgliedschaften in den großen Universitätsstädten Ostdeutschlands. Kurzum, ebenso wenig wie es den Container Ostdeutschland gibt, ebenso wenig kann man die DDR als geteilten Erfahrungshorizont oder westdeutsche Ideentransfers ausblenden, wenn man sich der spezifischen Gestalt des ostdeutschen Antifaschismus – vom Ideengebäude bis hin zum Legitimationsmuster „antifaschistischer Aktion“ – annähern will. Deshalb sollen im Folgenden zunächst die Wurzeln des staatsoffiziellen ostdeutschen Antifaschismus, seine spezifische Genese und Bedeutung für und in der DDR betrachtet werden, bevor ein Blick auf den nichtoffiziellen, unabhängigen und mit der offiziellen Staatsräson konfligierenden Antifaschismus am Ende der DDR gerichtet wird. Dies ist notwendig, um an die Wurzeln des Post-89er-Antifaschismus zu gelangen, der in den neunziger Jahren zunehmend militante Formen angenommen hat.

16 Vgl. etwa die Erinnerungen der beiden Aktivisten Paul und Max an die Umbruchszeit 1989 und erste Kontakte mit der Westberliner Antifa-Szene, Christin Jänicke u. Benjamin PaulSiewert, Einleitung, in: Dies. (Hg.), 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung, Münster 2017, S. 7–19, hier S. 16f. 17 Schweiger, Vorwärts und nicht vergessen.

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Zum staatsoffiziellen Antifaschismus in der DDR Erinnerungsort, Gründungsmythos, Staatsdoktrin, Legitimationsideologie, Erziehungsziel, Lebenslüge oder Integrationsangebot18 – der Antifaschismus in der DDR ist, so unumstritten er zum Selbstbild der DDR gehörte, einer der Begriffe, der die Lebenswirklichkeit in der DDR in ihrer ganzen, zeitlich bedingten und veränderlichen, paradoxalen Realität abzubilden vermag. Nicht umsonst entwickelte sich bereits in den frühen 1990er Jahren ein heftiger, auch und vor allem ideologisch aufgeladener Streit um Begriff und Wirklichkeit des DDRAntifaschismus.19 So galt er der einen Seite als letzte Legitimationsressource für die berechtigte Existenz eines anderen, ja, eines besseren Deutschland.20 Schließlich gehörte, so das pointierte Urteil des Historikers Jens Gieseke, „der ‚Antifaschismus‘ – vielleicht noch mehr als die Idee des Sozialismus selbst – aus der Perspektive ihrer Verteidiger zum innersten Legitimationskern der DDR.“21 Die Kritiker dieses Letztrettungsversuches, die sich letztlich der Grenzen des verordneten Antifaschismus bewusst waren22 , stellten hingegen massiv 18 Aktuellere Überblicke und methodische Zugriffe zum umkämpften Begriff liefern u. a. Anette Leo, Antifaschismus, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, S. 30–42; Eckhard Jesse, Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen. Historisch-politische Streifzüge, hier das Kapitel Antifaschismus in der Ideokratie der DDR – und die Folgen. Das Scheitern (?) einer Integrationsideologie, Köln 2915, S. 93–104; Jürgen Danyel, DDR-Antifaschismus. Rückblicke auf zehn Jahre Diskussion, offene Fragen und Forschungsperspektiven, in: Anette Leo u. Peter Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus. Berlin 2001, S. 7–19; Rüdiger Schmidt, Sieger der Geschichte. Antifaschismus im anderen Deutschland, in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDRLegenden auf dem Prüfstand, Bonn 2010, S. 208–229. 19 Vgl. die umfängliche Auswahlbibliographie von Inge Schmöker u. Jürgen Danyel, Neuere Literatur zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Auswahlbibliographie 1989–1994, in: Jürgen Danyel (Hg.), Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 247–264. 20 Vgl. pointiert Christoph Butterwegge: „Ursprünglich war der Antifaschismus nämlich die einzige Möglichkeit der Reaktion auf den Nationalsozialismus, für machtpolitische Schachzüge instrumentalisiert und damit historisch diskreditiert wurde er später.“ Ders., Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996, S. 52, zit. nach Michael Lausberg, Die extreme Rechte in Ostdeutschland 1990–1998, Marburg 2012, S. 25. 21 Jens Gieseke, Antifaschistischer Staat und postfaschistische Gesellschaft. Die DDR, das MfS und die NS-Täter, in: Historical Social Research, Jg. 35 (2010), H. 3, S. 79–94, hier S. 80. 22 Der Antifaschismus als Legitimitätsressource der DDR ist häufig diskutiert und mit Attributen wie „sinnentleertem“, „verordneten“, „instrumentalisierten“, „delegitimierten“ versehen worden. Vgl. in etwa Herfried Münkler: Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 45/1998, S. 16–29. Dem entgegen spricht Christoph Classen vom elitären Antifaschismus als „Loyali-

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auf die Instrumentalisierung des Antifaschismus ab. Ihnen galt er als reines Machtinstrument zur Errichtung der Diktatur und zur Sicherung der Macht jener 1945 von Moskau entsendeten Gruppe von Exilanten, die auf dem Boden der späteren DDR einen Unrechtsstaat etablierten. Diesen deklarierten sie, eine Erzählung der reinen antifaschistischen Lehre beständig wiederholend,23 rein instrumentell als antifaschistisch, um das Machtinteresse der KPD, bzw. später der SED gleichzeitig zu nobilitieren und zu camouflieren.24 Schon diese beiden widerstreitenden Positionen zeigen die Bandbreite der Deutungen, die sich weitet, wenn ein zeitlicher Horizont unterlegt wird oder wenn der Erfahrungshaushalt der unterschiedlichen Generationen, Kohorten und Milieus in der DDR über die Zeiten noch weiter in Kontext gesetzt wird. So konnte zwar der „Aufbaugeneration und ihren Kindern ein politischer Mythos […] geschaffen werden, doch hatte er nicht ausreichend Kraft, sich auf die folgenden Generationen zu übertragen.“25 Im Gegenteil26 , zeigte eine zu DDR-Zeiten

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tätsfalle“. Das Antifaschismus-Bild der DDR-Führung stand demnach deutlich entgegen den Erfahrungen der Bevölkerung; vgl. Christoph Classen: ,Guten Abend und Auf Wiederhören‘. Faschismus und Antifaschismus in Hörfunkkommentaren der frühen DDR, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 237–255. Im Folgenden wird weitgehend vom verordneten Antifaschismus die Rede sein, da das Attribut vergleichsweise wertneutral erscheint und der Realität von Einsetzung auf der einen und dankbarer Annahme seitens der Bevölkerung auf der anderen Seite am ehesten zielführend sein dürfte. Zur Genese, zur Wirkung und auch zu den blinden Flecken kommunistischer Darstellungen des Antifaschismus, wie er nach 1945 als „offizielle ostdeutsche Erinnerung an die NS-Zeit“ Eingang in die SBZ/DDR-Wirklichkeit hatte vgl. Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, S. 23–53, Zitat, S. 23. Wesentliche Elemente der Erzählung waren zum ersten die Komintern-These, wonach der Faschismus „im wesentlichen ein diktatorischer, terroristischer und imperialistischer Finanzmarktkapitalismus“ sei, dass, zweitens, der Zusammenbruch der Weimarer Republik den Sozialdemokraten anzulasten sei, dass drittens vor dem Sieg des Kommunismus die Katastrophe stehen müsse, und, bei Herf in Unterpunkten ausdifferenziert, die antisemitische Ideologie ein „Überbauphänomen“ sei, was sich darin äußerte, dass die jüdische Frage keine Rolle für den antifaschistischen Kampf spiele, wohingegen „ein Nationalismus, der sich sowohl aus dem Marxismus-Leninismus als auch aus der überlieferten deutschen Ablehnung des Westens speiste, […] zu einem Hauptaspekt der Kontinuität nach 1945 und unter dem SED-Regime nach 1949 werden [sollte].“ Ebd., S. 24ff. Vgl. zur Debatte Jesse, Antifaschismus, S. 97ff. Raina Zimmerling, Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000, S. 167. Wohl auch deshalb spielte diese Generation im Umbruch 1989/90 bis auf wenige Personen kaum eine Rolle. Vgl. im Folgenden: Thomas Ahbe, Der DDR-Antifaschismus. Diskurse und Generationen – Kontexte und Identitäten. Ein Rückblick über 60 Jahre, Leipzig 2007; vgl. auch Walter Süß, Zu Wahrnehmung und Interpretation des Rechtsextremismus in der DDR durch das MfS, Berlin 2000.

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geheim gehaltene Studie des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung zum Geschichtsbewusstsein der DDR-Jugend, dass „inzwischen die aufklärende und erzieherische Wirkung des erstarrten DDR-Antifaschismus auf die Jugend […] [gering] war.“27 Insbesondere die Jahrgänge ab 1970 zeigten eine deutlich reservierte Haltung gegenüber der DDR, dem Sozialismus und dem Antifaschismus28 und eine sich erhöhende Zustimmung zum Nationalsozialismus, weshalb Ahbe zu dem Schluss kommt, dass „bei den in den 70er Jahren und später in der DDR Geborenen die Distanz gegen über antisemitischen, nationalistischen und rechtsextremen Einstellungen nachzulassen beginnt – was die rechtsextreme Jugendszene Ende der 80er Jahre und den rechtsextremen und fremdenfeindlichen Gewaltausbruch in den neuen Bundesländern bis 1993 erklärt.“29

Ein weiteres Puzzleteil des antifaschistischen Alltags in der DDR verweist überdies auf weitere Funktionen, aber auch auf Grenzen des DDR-Antifaschismus. Einigermaßen gesichert und unumstritten ist, dass dem zunächst mythologisch 27 Ahbe, Der DDR-Antifaschismus, S. 42. Auch Kai Arzheimer verweist darauf, dass „nach 1972 geborene Ostdeutsche einer Reihe von positiven Aussagen über den Nationalsozialismus […] eher zustimmen, als ihre Altersgenossen aus der alten Bundesrepublik.“ Kai Arzheimer, Von „Westalgie“ und „Zonenkindern“. Die Rolle der jungen Generation im Prozess der Vereinigung, in: Jürgen W. Falter u. a. (Hg.), Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich, München 2006, S. 212–234, hier S. 222. 28 Umfragen des Leipziger Jugendinstituts zeigen den massiven, fast schon exponentiell verlaufenden Loyalitätsverfall in den letzten Jahren der DDR. So schreibt Süß unter Berufung auf die Studie von Peter Förster u. Günter Roski, DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch, Berlin 1990, S. 39 u. S. 41: „Lehrlinge, die nach ihrer ,Identifikation mit der DDR‘ befragt wurden, erklärten 1985 noch zu 51 %, sie würden sich ,stark‘ mit diesem Staat identifizieren, ,nicht identifizieren‘ wollten sich nur 6 %. Drei Jahre später, im Oktober 1988, war der Anteil mit ,starker‘ Zustimmung auf 18 % zusammengeschmolzen, während sich 28 % nicht mit der DDR identifizierten. Dieser Wandel im Weltbild beschränkte sich nicht auf die DDR. Vertrauen darauf, daß ,der Sozialismus (sich) in der ganzen Welt durchsetzen‘ wird, hatten 1984 noch 50 %, im Mai 1988 waren es ganze 10 %.“, Süß, Zu Wahrnehmung und Interpretation, S. 42f. 29 Ahbe, Der DDR-Antifaschismus, S. 49; Es ist, wenig überraschend, diese Altersgruppe, die, wie eingangs erwähnt, der AfD in Sachsen, aber auch zuvor in Mecklenburg-Vorpommern überproportional hohe Gewinne zusicherte. Vgl. zu diesem Aspekt mit weiteren Belegen: Michael Lühmann, Demaskiert zur Kenntlichkeit, in: Der Freitag, 08.09.2016. Die Studie von Christoph Wowtscherk zeigt am Beispiel Hoyerswerda eindrücklich die Kontinuitäten, aber auch die Dynamisierungen von rechten Übergriffen und Pogromen gegen Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen in der DDR der späten achtziger und Ostdeutschlands in den frühen neunziger Jahren. Vgl. Christoph Wowtscherk, Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht? Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991, Göttingen 2014.

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aufgeladenen, weitgehend verordneten Antifaschismus als Staatsdoktrin im Anfang ein entlastendes Element innewohnte. Er fungierte, neben der legitimatorischen Absicherung der neuen Machthaber, vor allem als Angebot an all jene nicht von der Entnazifizierung betroffenen „kleinen Nazis und Mitläufer […], die schließlich auch im Osten Deutschlands die Mehrheit der Bevölkerung bildeten“30 und die nun „die Chance [bekamen,] auf die antifaschistische Seite überzuwechseln“.31 Ein solches Angebot bedurfte gleichwohl einer ständigen Rückversicherung, was in der DDR über alle Zeiten zu einer Ritualisierung des antifaschistischen Selbstbildes führte, der zwar anfänglich „alte und neue Antifaschisten“32 , also jene vom Hitler-Regime verfolgten Kommunisten mit den per Integrationsangebot geläuterten überzeugten Hitler-Anhängern und Anhängerinnen, zu verbinden vermochte. Letztlich allerdings zerstörte der ritualisierte Antifaschismus über die Jahre den Glauben an die Plausibilität des antifaschistischen Kampfes in der DDR – zum einen durch die ständige Ausrufung faschistischer Zustände, zum anderen durch die Ignoranz faschistischer Zustände in der ausgehenden DDR.33 Beispiel für Ersteres war etwa die Titulierung jeglicher Erhebungen gegen die Ostblock-Machthaber, etwa beim Arbeiter- bzw. Volksaufstand in der DDR 1953, bei der Bezeichnung der – in diesem Sinne falsch herum gebauten – Mauer als „antifaschistischen Schutzwall“ (die Panzersperren jedenfalls standen auf der falschen Seite), oder bezüglich der zumindest in den ersten Jahrzehnten noch plausiblen, später aber immer weniger formulierten wie geglaubten faschistischen Zustände in der Bundesrepublik. Die andere, bereits angesprochen Seite der Delegitimation des staatlichen Antifaschismus wuchs sich in der, bereits in Lethargie befindlichen, DDR zu einer ernsten Herausforderung heraus. Die weitgehende staatliche (und staatssicherheitliche) Blindheit gegenüber der neuaufkommenden realen 30 Vgl. Jürgen Danyel, Zum Umgang mit der Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR, in: Ders (Hg.), Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995, S. 31–46, hier S. 42. Jens Gieseke kommt etwa 15 Jahre später zu einem weitaus härteren Urteil: Die SED war nicht nur der „große Freund der kleinen Nazis“, sondern auch der stille, in der Regel unausgesprochene Dulder vieler „ganz normaler Männer“, die zum Beispiel als Mitglieder von Einsatzgruppen der SS an Massakern beteiligt waren. Nimmt man andere Phänomene der staatlichen Vergangenheitspolitik hinzu, wie die tendenzielle Vernachlässigung des Holocaust und damit der jüdischen Opfer, die Stilisierung des kommunistischen Widerstands oder die Integration von NSDAP-Mitgliedern und anderen NS-Belasteten in der Tragweite, so drängt sich ein Bild auf, das in viel stärkerem Maße als bislang reflektiert eine subkutan postfaschistische Gesellschaft zeigt.“ Gieseke, Antifaschistischer Staat, S. 91f. 31 Leo, Antifaschismus, S. 39. 32 Ebd. 33 Instruktiv das Interview mit Bernd Wagner, „Ich sollte die Nazi-Skinheads von der Straße kriegen“, in: die tageszeitung, 07./08.03.2020.

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Bedrohung durch junge Nazis in der ausgehenden DDR, in der, so Eckhard Jesse, es „die merkwürdig Paradoxie [gab], dass der ‚Antifaschismus‘ von oben einen ‚Faschismus‘ von unten begünstigt“34 habe, unterminierte spätestens mit dem nicht aus der Öffentlichkeit zu verdrängenden Überfall von Skinheads auf die Berliner Zionskirche am 17. Oktober 1987 den Glauben an die Plausibilität und vor allem die Wirksamkeit des antifaschistischen Selbstbildes der DDR.35 Ursprünglich auch, aber eben längst nicht nur auf westliche Einflüsse zurückgehend,36 etablierte sich in den frühen achtziger Jahren, auch durch die Nähe, mithin die Kontakte zur West-Berliner Naziszene, von Ost-Berlin ausgehend die Skinhead-Kultur in den Fußballstadien der Republik.37 Dabei zeigte sich bei den Sicherheitsorganen der DDR, neben der Überforderung durch dieses Phänomen, eine politisch stark konnotierte Blindheit gegenüber rechten Manifestationen in den vermeintlich antifaschistischen Stadien der Republik. Allzu oft fälschte die Staatssicherheit die Fallzahlen, weil sie machtlos blieb (und wohl auch bleiben sollte) gegen die Ausbreitung der Neonazis, ausgerechnet beim Vorzeigeklub BFC Dynamo Berlin. Für das Zeigen des Hitlergrußes oder antisemitischer Gesänge wurden Täter jedenfalls „nur selten identifiziert bzw. strafrechtlich verfolgt“, und wenn doch, so „wurden die meisten Strafen […] für das Delikt Körperverletzung verhängt; zudem finden sich Taten, bei denen ‚Rowdytum‘ (§ 215 StGB der DDR), ‚Widerstand gegen staatliche Maßnahmen‘, ‚Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit‘ und ‚Öffentliche Herabwürdigung‘ geahndet wurden“.38 Der im StGB der DDR in § 92 ebenfalls

34 Jesse, Antifaschismus, S. 98. 35 Noch 1989 ließ die DDR verlautbaren, dass „im Unterschied zur BRD […] im sozialistischen deutschen Staat der Faschismus mit allen seinen Wurzeln, mit Stumpf und Stiel ausgerottet [wurde]“ (DDR-Auslandspresseagentur 1989, zit. nach Hanna Haag u. a. (Hg.), Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis, Wiesbaden 2017, S. 69. 36 Danyel, Spätfolgen, S. 28. 37 Vgl. Dietmar Wolf, der die Entstehung auf 1982/83 datiert und die „Fan-Kurve“ als „Brutkasten der DDR-Naziszene“ benennt, vgl. Dietmar Wolf, Die Rückseiten des offiziellen Antifaschismus. Neofaschismus und antifaschistische Selbstorganisierung in der DDR, in: Bernd Gehrke u. Wolfgang Rüddenklau (Hg.), …das war doch nicht unsere Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, S. 178–198, hier S. 178ff. 38 Christoph Lorke, „Ungehindert abreagieren“. Hooliganismus in der späten DDR im Spannungsfeld von Anstandsnormen, Sozialdisziplinierung und gesellschaftlichen Randlagen, in: Deutschland Archiv, 03.05.2012, URL: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/135223/hooliganismus-in-der-ddr?p=all, [eingesehen am 19.0702019]. Vgl. bereits Süß, Zu Wahrnehmung und Interpretation, S. 17f., wonach die HA XX der Staatssicherheit bereits seit 1978/79 zunehmend „Vorkommnisse […] schriftlicher staatsfeindlicher Hetze mit faschistischem Charakter”registrierte.

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existente Straftatbestand „Faschistische Propaganda, Völker- und Rassenhetze“ wurde hingegen eher selten angewendet.39 Kurzum: Die ausgehende DDR hatte ein größer werdendes Neonazi-Problem. Dies zeigen die Ausführungen von Bernd Wagner und Harry Waibel aus heutiger Sicht ebenso wie die zeitgenössischen Warnungen vor allem des Katholiken, Filmregisseurs und DDR-Bürgerrechtlers Konrad Weiß, der bereits im Frühjahr 1989 im Samisdat in Bezug auf den Stalinismus darauf hinwies, dass dieser nicht nur den „antifaschistischen Staat und die antifaschistische Idee“ diskreditiert habe, sondern dass seither „alle Fehler, alle Mängel dieses Staates und dieser Gesellschaft […] Argumente für die eigene moralische Überlegenheit [wurden] […]. Die latente Bereitschaft zur Umkehr schlug um in einen neuen, jedoch in der tiefsten Seele gehaltenen Fanatismus. Diese rückbekehrten Faschisten lebten vierzig Jahre lang nach außen hin angepaßt, als politisch indifferente oder sich sozialistisch gebärdende Bürger. Sie sind es, denke ich, die geduldig auf ihre Stunde gewartet und nun an ihre Enkel den braunen Stafettenstab weitergereicht haben.“40

Es zeigt sich, dass der ostdeutsche Antifaschismus, auch als Reaktionsmuster auf neofaschistische Umtriebe in der Transformationszeit und im Prinzip bis heute nicht verstanden werden kann ohne deren lange Vorgeschichte. Jene Annahmen jedenfalls, die den Mythos einer antifaschistischen DDR insofern weiterleben lassen, als sie die Ursachen für den ostdeutschen Rechtsextremismus und deren Widerpart hauptsächlich in der Transformationserfahrung nach 1989 verorten, bleiben blind für jene hier beschriebenen Überhänge, Traditionsmuster und Eigenlogiken.41 Ein mit Blick auf die „Zäsur“ von 1989 beinahe

39 Vgl. zum Gesamtkomplex etwa Bernd Wagner, Die Stasi und Neonazis in der DDR, in: Journal Exit Deutschland, URL: http://journals.sfu.ca/jed/index.php/jex/article/download/ 127/153 [eingesehen am 19.07.2019]; Harry Waibel, Der gescheiterte Antifaschismus der SED – Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus in der DDR, Frankfurt a. M. 2014; vgl. auch Dirk Moldt, Neofaschismus in den 80er Jahren in der DDR. Sechs Thesen, in: Horch und Guck, H. 40/2002, S. 50–51. 40 Konrad Weiß, Die neue alte Gefahr – Junge Faschisten in der DDR, in: Kontext 5, März 1989, URL: http://www.kontextverlag.de/weiss.winterberg.html [eingesehen am 19.07.2019]. 41 Schon Behrends u. a. merkten vor 15 Jahren an, dass es notwendig sei „ohne die ökonomischen und mentalen Verwerfungen der Systemtransformation auszuschließen“, dass, „wenn in der öffentlichen Debatte […] für die Anerkennung der spezifischen Eigenheiten Ostdeutscher im vereinten Deutschland gestritten wird, dann müssen auch die Schattenseiten der vergangenen DDR-Gesellschaft – und was davon noch heute virulent ist – als solche kritisch thematisiert werden.“ Jan C. Behrends u. a., Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.) Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 9–21, hier S. 12f.

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generalisierbarer Befund – erst jüngst wies der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk darauf hin, dass „das Leben vor und nach 1989 […] bei den meisten viel stärker miteinanderverknüpft [ist] als historische Epochenzäsuren vorgeben.42 Staatsunabhängiger Antifaschismus in der ausgehenden DDR Gerade das Entstehen eines organisierten, nicht staatlich verordneten Antifaschismus in der DDR, die Gründung erster Antifa-Gruppen, folgte Entwicklungspfaden, die sich bis heute deutlich von westlichen Pfaden unterschieden. So sei etwa bis heute „[d]ie Fahnendichte“, ein einfaches Beispiel, um ein „vielfaches niedriger als auf vergleichbaren Demonstrationen im Westen.“43 Im Rückblick erinnert sich Hauke Benner, der in den achtziger und neunziger Jahren in der autonomen Bewegung aktiv war: „In den ersten Monaten der Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westlinken nach dem Mauerfall gab es viele Unterschiede, Missverständnisse, an manchen Stellen auch eine Bevormundung und Besserwisserei durch die Westlinken und Autonomen. […] Obwohl wir dieselbe Sprache sprachen stellten wir verdutzt fest, dass wir häufig aneinander vorbeiredeten und wohl aus verschiedenen Welten kamen.“44

Doch die Unterschiede zum Westen liegen vor allem in konkreten, mit der Gründung einer staatsunabhängigen Antifa zusammenhängenden Faktoren, die dann doch so etwas wie eine Einigkeit für den ostdeutschen Fall darstellen: Der antifaschistische Staat ignorierte bzw. leugnete, trotz vorliegender Kenntnisse, das beginnende Scheitern zentraler Glaubenssätze, die zum einen die Notwendigkeit eines staatsfernen, weil auf Staatsseite zur Leerformel erstarrten, antifaschistischen Kampfes notwendig erscheinen ließen. Andererseits 42 Ilko-Sascha Kowalczuk, „Und was hast du bis 1989 getan?“, in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.2018. 43 David Schweiger, Vorwärts und nicht vergessen. 44 Hauke Benner, Autonome zu Zeiten der Wende, in: telegraph, H. 129–130/2014, URL: http:// telegraph.cc/autonome-zu-zeiten-der-wende/ [eingesehen am 19.07.2019]. Ähnlich erinnert sich Dietmar Wolf, einer der Mitbegründer der ostdeutschen Antifa an die Zeit nach 1989: „Nach anfänglich großem Interesse und großer Bereitschaft zur Zusammenarbeit machten viele Antifaschisten und Antifaschistinnen aus der DDR die Erfahrung von Bevormundung, Herabwürdigung und ideologischen Eingliederungsversuchen durch die Westgruppen. Das führte schnell dazu, dass auch in den antifaschistischen Gruppen der Begriff des Ost-West-Konflikts Einzug hielt.“ Peter Nowak, „Für viele waren Nazis eine Nebenerscheinung“. Interview mit Dietmar Wolf, in: die tageszeitung, 09.10.2017. Vgl. auch den Beitrag von Tom Pflicke in diesem Sammelband, der die habituellen und sprachlichen Differenzen zwischen Ost- und Westlinken auf dem Aktionsfeld des Ostberliner Häuserkampfes 1990 anspricht.

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war die Bedrohungslage für linke Subkulturen, insbesondere Punks, in der DDR sowohl durch Staat und Staatssicherheit45 als auch und gerade durch zunehmende Angriffe von Neonazis, eine real existierende Gefahr. Denn die im Umfeld der DDR-Fußballstadien entstehenden und von „unberatenen“46 , unangepassten, nicht mehr im realsozialistischen Staat ankommenden Jugendlichen in der DDR aufgefüllten „Fascho“- (so die häufige Selbstbezeichnung)47 Skinhead- oder Neonazi-Szenen48 begnügten sich Mitte bis Ende der achtziger Jahre nicht mehr mit dem Zeigen des Hitlergrußes in Stadien oder dem Skandieren neonazistischen Lied- und Sprechgutes. Recht früh suchten sie auch die direkte Konfrontation mit den sog. „Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern“ sowie mit alternativen Subkulturen, vor allem den in der späten DDR sichtbar werdenden Punks, Gruftis und anderen Szenen, und mit in den Augen der Rechten potentiellen Opfern wie Behinderten oder Homosexuellen.49 Und so verwundert es nicht, dass die Formierung der ersten Antifa-Gruppe in der DDR nicht begann wie bei vielen dogmatischen, undogmatischen, alternativen oder später autonomen Spaltprodukten der radikalen West-Linken, nämlich in Gegnerschaft zu einem nicht selten erst theoretisch herzuleitenden Feind – sei es der Faschismus-Ruf der K-Gruppen, der Atom- oder Polizeistaat, die Mega- oder Staatsmaschine –, sondern ganz konkret im Angesicht der ständigen und sich verstärkenden körperlichen Bedrohung durch Naziangriffe. Das heißt nicht, dass es solche Übergriffe und daraus entstehenden Motivation in der alten Bundesrepublik nicht gab, dass keine konkreten und wachsenden Neonazistrukturen vorhanden gewesen wären oder das umgekehrt die Ost-Antifas 45 Vgl. hierzu Dietmar Wolf, Feindlich-Negative Antifa? Oder: Vom Missverhältnis des staatsoffiziellen Antifaschismus der DDR zum unabhängigen Antifaschismus ihrer letzten Generation, in: Jänicke u. Paul-Siewert (Hg.), 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland, S. 22–47. 46 Bernd Lindnder, Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit, in: Annegret Schüle u. a. (Hg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 93–112. 47 Vgl. Dirk Teschner, Junge Faschisten in der DDR, in: telegraph, H. 3–4/1998, URL: http://telegraph.cc/archiv/telegraph-3-4-1998/junge-faschisten-in-der-ddr/ [eingesehen am 19.07.2019] Interessant ist die Fortdauer solcher Selbstzuschreibungen, Mehr als einmal riefen die Fans des für seine ultrarechte Fanszene bekannten Fußballvereins Lok Leipzig „Wir sind Lokisten, Mörder und Faschisten“ oder zeigten entsprechende Banner, vgl. Ronny Blaschke, Angriff von Rechtsaussen. Wie Neonazis den Fußball missbrauchen, Münster 2011, Zitat S. 16, eine entsprechende Bildquelle auf S. 23. 48 Die Skin-Szene und die organisierten nazistischen Strukturen der zweiten Hälfte der 1980er Jahre sind dabei nicht immer wesensgleich, es verband sie aber „ein Selbstbild nach den Maßstäben des Daseinskampfes, Gewaltanwendung als soziale Technik, Unberechenbarkeit im Sozialverhalten […], Desillusionierung als Erfahrungswert der bisherigen Biographie“. Zit. nach Hans-Gerd Jaschke, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder, Opladen 1994, S. 131. 49 Vgl. Teschner, Junge Faschisten; vgl. Wagner, Neonazis in der DDR.

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gänzlich ohne theoretischen Unterbau oder ohne die Ablehnung staatlicher Strukturen operiert hätten. Aber die Dominanz der konkreten körperlichen Bedrohung als Einstieg in den organisierten Antifaschismus scheint ein stärker ostdeutsches Spezifikum zu sein, dies gilt vor allem für das Verhältnis zur Militanz im Sinne körperlicher oder sachbeschädigender Gewalt.50 Wie in der DDR auch gehörte die „konflikthafte Entmischung dissidenter Jugendkulturen wie Punks, Skinheads und zum Teil Rocker“51 auch zum Alltag linker Radikalität im Westen. Aber koordinierte militante (Kommando-)Angriffe auf neonazistische Infrastrukturen auf der einen und die weitaus dominanteren Diskussionen um „voluntaristische Politik- und Organisierungsmodelle“ im Angesicht „der einsetzenden Zerfalls- und Neuzusammensetzungsprozesse der Neuen Linken“52 auf der anderen Seite sind dann doch Entwicklungen, die in der DDR eher nicht die Regel darstellten. Als Ausgangspunkt einer Organisierung erster Antifa-Gruppen in der DDR kann hier relativ klar die Zeit nach dem Überfall auf die Berliner Zionskirche im Anschluss an ein Punkkonzert am 17. Oktober 1987 gelten.53 Unter den Augen der Staatssicherheit drangen ca. 30 bis 40 West- und Ost-Berliner Skinheads nach Ende des Konzerts der West-Berliner Band Element of Crime und der Ost-Berliner Band Firma in die Zionskirche, verprügelten Konzertbesucher und skandierten Nazi-Parolen.54 Der Versuch das Ereignis totzuschweigen, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, scheiterte an westlichen Medienberichten. Unter diesem öffentlichen Druck wurden dann polizeiliche Ermittlungen eingeleitet, Strafverfahren durchgeführt und der Überfall öffentlich verurteilt. Doch trotz eines gewissen Aktionismus, den Partei, Jugendorganisation und Sicherheitskräfte für kurze Zeit an den Tag legten, nahmen rechte Übergriffe deutlich zu, weshalb sich in Potsdam, Ost-Berlin, Dresden und anderswo erste Antifa-Gruppen bildeten, die sich – vielfach noch unter dem Schutzdach oder

50 Vgl. Benjamin Paul-Siewert u. Christin Jänicke, Von der aufgezwungenen Selbstverteidigung zur Gegenmacht. Subjektive Militanzverständnisse in Zeiten des Umbruchs, in: Dies (Hg.), 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland, S. 96–114. 51 Nils Schuhmacher, „Küsst die Faschisten“. Autonomer Antifaschismus als Begriff und Programm, in Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 42–43/2017, S. 35–41, Zitate S. 36. 52 Ebd. 53 Vgl. etwa Dietmar Wolf, Enough is enough. Autonome Antifa in Deutschland nach 1945. Antifaschistische Selbstorganisation in der DDR, in: telegraph, H. 112/2005, S. 20–33, Ders., Rückseiten des offiziellen Antifaschismus, S. 118ff. 54 Eine ausführliche Darstellung des gesamten, gewaltvollen Tages liefert und die Rolle des MfS beleuchtet u. a. Dirk Moldt, „Keine Konfrontation!“ Die Rolle des MfS im Zusammenhang mit dem Überfall von Skinheads auf ein Konzert in der Berliner Zionskirche am 17. Oktober 1987, in: Horch und Guck, H. 40/2002, S. 14–25.

Antifaschismus in Ostdeutschland

im Umfeld der Kirchen agierend – zunächst auf Aufklärung, Information und weitgehend auf Selbstverteidigung bei rechten Übergriffen beschränkten.55 Bis auf das 1988 in Halle an der Saale entstandene sog. SkinheadVernichtungs-Kommando (SVK), welches sich „ausschließlich mit militantem Straßenwiderstand gegen Neonazis zu wehren [begann]“56 , blieb Gewalt zunächst ein vielfach abgelehntes Mittel der Auseinandersetzung. Insbesondere „rohe Gegengewalt“ blieb „die Ausnahme“.57 Dies gilt etwa für die besonders gut erforschte DDR-weit erste Antifa-Gruppe in Potsdam, die bereits im Vorfeld ihrer Gründung im Januar 198858 mit einer Plakat- bzw. Flugblattaktion auf das Neonazi-Problem in der DDR aufmerksam zu machen versucht hatte.59 Doch statt mit Plakaten die Öffentlichkeit aufzurütteln oder eine politischen Debatte anzustoßen, die über das kirchliche Umfeld in die breite Gesellschaft ausstreut, rief die Potsdamer Gruppe zunächst das MfS auf den Plan.60 Gleichwohl gelang es den Potsdamern in den letzten Tagen der DDR, zu einem zumindest lokal relevanten, zivilgesellschaftlichen Akteur der DDR-Opposition zu werden.61 Doch wie anderen mehr oder weniger radikalen linken Gruppierungen und Vereinigungen auch – allen voran der Versuch einer linken Sammlung jenseits der SED unter dem Namen „Vereinigte Linke“62 – gelang es linken Ideen im Allgemeinen nicht, die Geschicke der Revolution, schon gar nicht den Zug Richtung Einheit wenn schon nicht aufzuhalten, so ihn doch mitzugestalten. Auf den 55 Vgl. Wolf, Feindlich-negative Antifa?, S. 23ff. 56 Ebd., S. 27. Über Existenz und Wirken des SVK gibt es widersprüchliche Angaben, Aktivisten der im November 1989 entstandenen Antifaschistische Aktion Halle bezeichneten das SVK als „Phantom“, Jänicke u. Paul-Siewert, Einleitung, S. 12. 57 Peter Ulrich Weiß, Außenseiter der Opposition. Alternative Antifa-Szene und ostdeutsche Demokratiebewegung, in: Frank Bösch u. Martin Sabrow (Hg.), ZeitRäume 2016, Potsdam 2016, S. 111–126, hier S. 120. 58 Vgl. ebd., S. 117. Auf Basis von Erinnerungsberichten Potsdamer Antifaschisten und Antifaschistinnen geht Wolf von einer Gründung im November 1987 aus. Vgl. Wolf, Feindlichnegative Antifa?, S. 26. 59 Das Flugblatt mit dem Titel „Warnung“ versucht zum einen für die Existenz „neofaschistischer Jugendgruppen“ zu sensibilisieren, auf die Brutalität und mögliche Opfergruppen hinzuweisen, insbesondere versucht es auch davor zu warnen, dass es sich nicht um unpolitische „dumme Jungenstreiche“. Vgl. Das erste Flugblatt der Antifa-Gruppe Potsdam vom 5./6.November 1987, URL: http://www.antifa-nazis-ddr.de/die-antifa-potsdam-dokumente-1987-bis-1989/ [eingesehen am 19.07.2019]. Wie wichtig insbesondere die letztgenannte Warnung ist, zeigt sich vielfach beim Blick auf den Umgang der DDR-Sicherheits- und Justizbehörden mit dem Phänomenbereich rechts, der über 1989/90 hinausreicht. 60 Vgl. zur Überwachung und Unterwanderung der Potsdamer Gruppe, Wolf, Feindlich negative Antifa?, S. 28–37. 61 Vgl. Weiß, Außenseiter der Opposition, insbes. S. 121–124. 62 Einen knappen Blick darauf wirft Ulrich Peters, Unbeugsam und widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90, Münster 2014, S. 11–27.

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Straßen wendete sich das Blatt, sehr zum Unmut nicht weniger Bürgerrechtler, in Richtung bedingungslose Einheit – was vor der Revolution stimmte, galt recht bald wieder während der Revolution: Volk und Opposition besaßen nur wenige Berührungspunkte.63 Und so gingen nicht linke und basisdemokratische Gruppierungen als Sieger aus der Volkskammerwahl 1990 hervor, sondern die konservative „Allianz für Deutschland“, nicht die Manifeste der Bürgerbewegungen wurden honoriert, sondern „der „Zehn-Punkte-Plan“ Kohls vom 28. November 1989 und die Rede des Kanzlers vor der Dresdner Frauenkirche am 19. Dezember 1989,64 und wohl auch die Formel von blühenden Landschaften.65 Jedenfalls, gerade einmal ein reichliches Viertel entfiel auf die im Herbst 1989 angetretenen Bürgerbewegungen und Parteien. Rechnet man hier die Stimmen heraus, die sich im März 1990 schon von der basisdemokratischen Erneuerung der DDR verabschiedet hatten – etwa der Demokratische Aufbruch oder die SPD –, so bleiben für den „harten Kern“ der Bürgerbewegung – Bündnis 90, Grüne Partei, Unabhängiger Frauenverband und die Vereinigte Linke – gerade einmal fünf Prozent. Die DSU hingegen, eine rechtskonservative Parteigründung, deren Programm im Prinzip aus dem bedingungslosen Beitritt zur Bundesrepublik bestand und deren Überreste heute bisweilen mit der AfD kooperieren, überflügelte im Alleingang, als Teil der Allianz für Deutschland, die basisdemokratischen, linken und radikal-linken Utopien jenseits der SED.66 Es mag wohl stimmen, was der Historiker Kowalczuk hierzu schreibt: „Nie hat jemand jene gezählt, die 1989 nicht mitmachten. Es war die Mehrheit. Bei den Wahlen am 18. März 1990 gewannen jene, die die einfachsten Lösungen versprachen.“67 Hinzu kam, dass schon im Mikrokosmos der etwa 1500 bis 2000 Personen zählenden Vereinigten Linken68 , die als einzige Gruppierung strikt bei der Ablehnung einer Wiedervereinigung zu Gunsten einer demokratisierten, sozialistischen DDR blieb, wenig Einigkeit über künftige 63 Vgl. den äußerst bissigen Kommentar von Marko Martin, Das Schweigen der Anderen. Vom verleugneten Erbe der DDR-Bürgerrechtler, in: Die Welt, 21.01.2009. 64 Vgl. hierzu und zur Dekonstruktion des Mythos vom Einheitskanzler ebenso brillant wie prononciert Markus Driftmann, Gelobt wird aus den falschen Gründen. Helmut Kohl und die deutsche Wiedervereinigung, in: Deutschland Archiv, Jg. 39 (2006), H. 5, S. 868–875. 65 Vgl. hierzu Michael Lühmann, Ostdeutsche Lebenslügen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 62 (2017), H. 11, S. 59–64. 66 Die DSU war der Versuch, ein Pendant zur CSU in Ostdeutschland aufzubauen. Insbesondere in den beiden wiederentstehenden „Freistaaten“ Sachsen und Thüringen erlangte sie zweistellige Stimmenanteile – die regionalen Hochburgen der DSU im März 1990 ähneln sich dabei den Hochburgen der AfD 2013ff. 67 Kowalczuk, „Und was hast du bis 1989 getan?“. 68 Sebastian Gerhardt, Vom Kampf gegen die Politbürokratie zur Verteidigung der DDR. Unabhängige Linke im Kurzen Herbst der Utopie 1989/90, in: Marcel Bois u. Bernd Hüttner (Hg.), Beiträge zur Geschichte einer pluralen Linken, Berlin 2010, S. 37–40.

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strategische Ziele bestand. Die ohnehin kleinen, losen und teils tief zerstrittenen Akteure der zunehmend zerfallenden Vereinigten Linken, sie diffundierten in unterschiedlichste Zusammenhänge, Szenen und Orte, „die meisten noch bestehenden Basisgruppen […] in die im Osten zeitweise recht starke Hausbesetzerbewegung, in die autonome Antifa, in Kulturprojekte, Medieninitiativen und Ökokommunen.“69 Doch auch hier, in den Antifa-Gruppierungen in den ostdeutschen Städten, nicht minder jener in der Provinz, rückte Politik, mehr noch als in den letzten Jahren der DDR, in den Hintergrund. „Die Gewalt kam zu uns und nicht wir zu ihr!“70 „Gewalt gegen Menschen, militantes Vorgehen gegen Nazis fanden wir damals ganz, ganz schlimm. Wir waren in der Anfangszeit ziemlich blauäugig. Wir wollten ganz klar nur politische Arbeit machen, so mit all den Idealen, die man damals hatte.“ Die anfängliche Ablehnung wich jedoch dem Standpunkt, „daß wir die Faschos einfach militant bekämpfen müssen, weil es anders wahrscheinlich nicht möglich ist“.71

Das Gefühl, militanten Selbstschutz vor politische Arbeit stellen zu müssen, die in den Ursprüngen der DDR-Antifa stärker angelegt gewesen ist als im Westen der Republik – wo insbesondere die Autonomen sich in Ablösung vom politischen Impetus der APO entwickelten hin zu sich bisweilen selbstreferenziell gebärdender antipolitischer eskalierender Gewalt als Signum linker Militanz – ist ein durchgängiges und bis heute erinnertes Motiv in Ostdeutschland. „Wir arbeiteten an Ideen, wie wir eine bessere Gesellschaft installieren können, und das einzige, was passierte, war, dass ein Haufen Nazis durch die Straßen marschierte“, so das Urteil auch von Stephan Martin, einem der Gründer der ersten Antifa-Gruppierungen in Ostdeutschland, der den Übergang zur Militanz ganz ähnlich beschreibt: „Wir waren die totalen Hippies, Gewalt war nicht unser Ansatz. Aber spätestens nach dem dritten Nazi-Überfall auf ein Haus, in dem viele von uns gewohnt haben, sagten wir: Jetzt reicht es, jetzt müssen wir uns wehren. Einfach, weil die Nazis in unseren Wohnungen standen und uns die Köpfe einschlagen wollten. Die Volkspolizei war in dieser Zeit völlig überfordert. Es kam mehrfach vor, dass Zivilbeamte zu einem Treffpunkt von 69 Gerd Bedszent, Vereinigte Linke - Versuch einer Bilanz, in: ak - analyse & kritik, 18.12.2009. 70 Michael Wuttke, „Die Gewalt kam zu uns und nicht wir zu ihr!“, in: telegraph, H. 133–134/2018/2019, URL: http://telegraph.cc/die-gewalt-kam-zu-uns-und-nicht-wir-zuihr/ [eingesehen am 19.07.2019]. 71 O. V., Der nationalistischen Stimmung entgegenstellen. Gespräch mit einer Antifa-Gruppe aus Halle/Saale, URL: https://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/antifa/node10. html [eingesehen am 19.07.2019].

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uns geschickt wurden, und uns davor warnten, dass gleich die Nazis kommen. Dann sind die wieder weggerannt oder haben aus der Ferne zugeschaut.“72

Vor diesem Erfahrungshintergrund, aber unter Berücksichtigung existierender Übernahmen und Besetzungen von Themen und Sprache seitens westdeutscher Antifa-Aktivisten, die den Osten für sich entdeckten, wurden Antifa-Initiativen letztlich nicht nur in Richtung militante Aktion gedrängt, sie gerieten dadurch, wie zu DDR-Zeiten, zugleich in die gesellschaftliche Defensive. Statt politischer Selbstverwirklichung und gesellschaftspolitischer Problematisierung des Neonazismus im Ostdeutschland der neunziger Jahre73 wurde militante Auseinandersetzung zum Regelfall, die ihren Rechtfertigungsgrund und ihre Legitimität aus dem Vorhandsein von neonazistischen Strukturen und Denkmustern74 suchte, womit die ostdeutsche Antifa sich indes in jene legitimatorische Falle bewegte, die sie als (gewaltbereite) „Chaoten“ und gerade nicht als Kämpfer gegen den Neonazismus identifizierte.75 Gewalteskalationen u. a. in Leipzig taten dann ihr Übriges und schlossen Teile der Antifa vom eher zaghaft geführten zivilgesellschaftlichen Kampf gegen rechte Hegemonien insoweit aus, als dass sie nicht als legitime Gegenmacht galten, die sie anfangs gern sein wollten, aber nun durch das Gewaltkorsett über die eigenen Kreise hinaus kaum sein konnten. Für Leipzig lässt sich dieser Prozess relativ deutlich in den frühen 1990er Jahren lokalisieren, als die Hausbesetzerszene, auch in Leipzig ein „Kerngeschäft“ der radikalen Linken, mit neuen Gruppen konfrontiert wurde, mit „Aussteigern“, die wenig ortsverbunden und der „traditionellen“ Besetzerszene eher reserviert bis ablehnend gegenüberstanden und infolge deren Zuzugs 72 Erik Peter, „Wir waren die totalen Hippies“, Gespräch mit Stephan Martin, in: die tageszeitung, 01.12.2017, Eindrücklich beschrieben sind solche Überfälle etwa bei Steffen (Jahrg. 1971), Überfall, in: Connie Mareth u. Ray Schneider (Hg.), Haare auf Krawall. Jugendsubkultur in Leipzig 1980-1991, Leipzig 2010, S. 258–261. 73 Vgl. Paul-Siewert u. Jänicke, Von der aufgezwungenen Selbstverteidigung, S. 111. Dass beides dennoch zusammenging, auch daran wird erinnert, aber die Priorisierung bleibt dennoch klar: „Naja und so waren dann die 90er für mich vor allem durch die Antifa geprägt, wobei ich hier Antifa immer als konkrete Anti-Nazi-Arbeit verstanden habe, und dabei versucht habe, für Bewegung und Projekte darüber hinaus offen zu sein.“, Tina und ihr Trupp, ...denn das ist die Lehre aus der DDR, in: arranca!, H. 49/2016, URL: https://arranca.org/archive?path= %2Fausgabe%2F49%2Fdenn-das-ist-die-lehre-aus-der-ddr [eingesehen am 19.07.2019]. 74 Anfang der neunziger Jahre kam die Forderung „Deutschland den Deutschen“ unter sächsischen Jugendlichen auf Zustimmungsraten von 40% (14–18jährige) bzw. 35% (14–25jährige); vgl. hierzu Peter Förster u. a., Jugend Ost. Zwischen Hoffnung und Gewalt, Wiesbaden 1993, S. 18. 75 Bernd Wagner, Rechtsradikalismus in der Spät-DDR. Zur militant-nazistischen Radikalisierung. Wirkungen und Reaktionen in der DDR-Gesellschaft, Berlin 2014, S. 509.

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Kriminalität und Gewalt anstiegen.76 Zum Fanal kam es, als in der Nacht vom 27. auf den 28. November 1992 eine „Straßenschlacht“ zwischen jenen „crash kids“ und der Polizei, die aus einer Verkettung vieler Umstände entstand, eskalierte. Zerstörungswut hier und eskalierende Polizeigewalt da verstärkten einen bereits in Gang gekommenen Prozess – „weg von den ,Peacern‘ und ,Mehltütchenwerfern‘ hin zu den ,Mollis‘“77 in der Szene –, der stellvertretend für das Verhältnis von ostdeutscher Antifa auf der einen und Stadt, Polizei und Bevölkerung auf der anderen Seite selbst dort stehen kann, wo eigentlich vorher stille Duldung herrschte: Das Bild der „guten“ und „friedlichen“ Besetzer wich dem der „Chaoten“, die der „Bevölkerung“ nun gegenüberstanden. Die Stadt verschärfte mit dem „Leipziger Weg“ die Gangart gegenüber den Besetzer*innen, Polizei und Politik kämpften für eine deutliche Verschärfung im Umgang mit Connewitz und die Szene erschuf den „Mythos“ Connewitz, der fortan dafür herhielt, eben jenen „Leipziger Weg“ zu bekämpfen. Fortan war jene Konfliktlinie angelegt, die im Prinzip bis heute ihre Wirkung entfaltet, aber eben selbst dort die mitagierende radikale Linke und ihren Kampf gegen neonazistische Strukturen in der Stadt sowie gegen Staat und Polizei für längere Zeit von einem gemeinsamen Bündnis mit der Stadtgesellschaft entfernte. Dass damit das ohnehin nicht sonderlich viele Bündnispartner habende Projekt der gesellschaftlichen Aufklärung rechter Bedrohung im Osten verlor noch weiter an Unterstützung. Allein die Gefahr von rechts, die blieb zunächst unverändert hoch. Ausblick Die jüngsten, sicherheitspolitische überwölbten und (auch) vom Leipziger OBWahlkampf überschatteten, Auseinandersetzungen um den Leipziger Stadtteil Connewitz im Herbst des Jahres 2019, kulminierend um den Jahreswechsel 2019/2020, bis hin zur Demonstration gegen das Verbot von linksunten.indiymedia im Januar können mithin als Reaktivierung dieses Konfliktes gelesen werden, in dem die Rollen frühzeitig verteilt, die Choreographie schon geschrieben und das Konfliktmuster auf allen Seiten verhärtet scheint.78 Das gerade 76 Vgl. im Folgenden Dieter Rink, Der Traum ist aus? Hausbesetzer in Leipzig-Connewitz in den 90er Jahren, in: Roland Roth u. Dieter Rucht, Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz?, Opladen 2000, S. 119–126, hier S. 124f. 77 Ebd., S. 125. 78 Die derzeit laufenden, notwendigen Forschungen hierzu, Interviews, Presseauswertung und insbesondere die Auswertung der Debatte beim Kurznachrichtendienst Twitter sind in vollem Gange und können der Qualitätssicherung der Daten wegen noch keinen Eingang in diesen Aufsatz finden.

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nicht auf Deeskalation ausgerichtete Verhalten der Polizei am Vorabend und im Verlauf der Silvesternacht 2019/2020 in Connewitz, die rohe und brutale Gewalt gegen Polizist*innen im Laufe der Nacht, die Medienstrategie der Polizei infolgedessen und die massive politische Überreaktion, sie haben unter einem Brennglas gezeigt, wie notwendig es ist, einen Ausweg aus der Spirale zu finden.79 Gewalteskalation, ein verhärteter Konflikt um „Freiräume“ in Zeiten der in Leipzig derzeit besonders heftig wirkenden Gentrifizierung, der politische ausgerufene Kampf gegen „rechtsfreie Räume“, die Warnung vor „linkem Terror“, die nur sehr schleppende Ahndung eines rechtsextremen Überfalls auf Connewitz vor nunmehr über vier Jahren und viele Entwicklungen mehr haben das beschriebene Konflikt- und Wahrnehmungsmuster weitgehend verhärtet.80 Fazit „Der Osten“ blieb zumindest in den 1990er Jahren weiterhin geprägt von einer weitgehend generalisierbaren Wahrnehmung in Bezug auf radikal linken Antifaschismus, nämlich jener, erstens, (mitverschuldet oder nicht) auf sich allein gestellt zu sein, zweitens auch dauerhaft gefährdet zu sein durch die Permanenz, auch tödlicher, Übergriffe von rechts und drittens schwierigen Kämpfen um autonome Räume.81 Generell und für die gesamte Bundesrepublik mag gelten, was Nils Schuhmacher für die frühen neunziger Jahre konstatierte: Antifaschismus „als eine von Erschrecken geleitete Politik war […] stark geprägt von moralischer Skandalisierung, die sich festmachte an – aus heutiger Sicht 79 Vgl. zu den Vorgängen der Silvesternacht Aiko Kempen u. Konrad Litschko, Einen Eskalation in Connewitz – mit Ansage, in: die tageszeitung, 03.01.2020; zur Einschätzung der Polizei vgl. das Interview mit dem Leipziger Polizeipräsidenten Torsten Schultze, ”Verbrecher, anders kann ich diese Leute nicht nennen”, in: Zeit online, 03.01.2020, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-01/leipzig-connewitz-torsten-schultzesilvesternacht-angriffe-polizei-polizeipraesident/komplettansicht [eingesehen am 31.01.2020]. 80 Dass das Bemühen um Deeskalation durchaus Früchte tragen kann, zeigte sich im Rahmen der Demonstration gegen das Verbotsverfahren ggü. Linksunten.indymedia: Zwar blieb diese Demonstration auch nicht frei von Gewalt – insbesondere Übergriffe auf Journalist*innen und auf genossenschaftliche Strukturen sorgten für mediale Kritik und szeneinterne Auseinandersetzungen –, allerdings konnte durch eine geänderte Einsatztaktik der Polizei und durch eine enge Kooperation von Anmelder*in, Versammlungsbehörde und Polizei eine Eskalation wie am Neujahrsmorgen 2020 weitgehend verhindert werden. Vgl zu dieser und weiteren Beobachtungen zunächst Deniz Yücel, Erst als sie ein Steinhagel trifft, hat die Polizei genug, in, Welt online, 26.01.2020, URL: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus205349165/Indymediain-Leipzig-Erst-als-Steine-fliegen-hat-die-Polizei-genug.html [eingesehen am 31.01.2020]. 81 Vgl. exemplarisch Jakob Warnecke, „Nazifreie Zone“ – Hausbesetzungen und antifaschistische Praxis in Potsdam um 1990, in: Jänicke u. Paul-Siewert (Hg.), 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland, S. 48–60.

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bescheidenen – Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien ab 1988, einer zunehmenden Präsenz rechter Jugendkulturen auf der Straße sowie ab 1989/90 an einer in Ausmaß und tödlicher Massivität bis dato unbekannten Welle rechter und rassistischer Gewalt.“82 Gerade letztere konnte auf dem Boden der ehemaligen DDR besonders wüten, auch weil an deren Ende der Antifaschismus als diskursives Korrektiv ausfiel bzw. stark diskreditiert war, da „Antifa und Rotfront“ an den untergehenden Staat gebunden waren.83 Hinzu kam, neben den beschriebenen diskursiven Entmischungen etwa am Beispiel Connewitz, ein genereller Befund: „In den neuen Bundesländern waren Protestkultur und alternative Milieus weniger fest verankert, zudem war die extreme Rechte dort weniger stigmatisiert und dominierte mancherorts den (jugendkulturellen) öffentlichen Raum.“84 Alle drei Effekte – das Fehlen bzw. Marginalisiertsein von linken Trägermilieus, sich verschärfende Frontstellungen und rechte Alltagshegemonie im ländlichen, aber auch im urbanen Raum – drängten den Antifaschismus als gesellschaftlichen Auftrag und Brückenkopf in die Zivilgesellschaft zurück. Der offizielle Antifaschismus, von Anfang an ein lediglich verordnetes Konstrukt, blieb in der kurzen Phase seiner staatsunabhängigen Variante in der DDR randständig und stigmatisiert – und er blieb es aus beschriebenen Gründen auch in den Jahren nach 1989/90. Hatte der Antifaschismus als gesellschaftliche Legitimationsformel in den Jahren vor 1989 nicht nur an Zugkraft verloren, so sehr, dass sich antifaschistische Initiative im antifaschistischen Staat selbst zu organisieren begann, so stand der Antifaschismus als gesellschaftliches Projekt sowohl aufgrund seiner Erblast, aber auch aufgrund rechter Hegemonien und der aufkommenden Gewaltfrage wieder am Rande. Der staatsoffizielle Antifaschismus der DDR besaß nur noch wenig Inhalt, der staatsunabhängige Antifaschismus der DDR besaß keine Unterstützung und der Antifaschismus der Jahre nach 1989 nur wenig gesellschaftlichen Rückhalt. Gegenseitig bedingende Gewaltspiralen und -eskapaden auf Seiten der Antifa und der Polizei, militante rechte Angriffe wie der „Sturm auf Connewitz“ im Januar 2016, der massive Sicherheitsdiskurs der sächsischen CDU, der Extremismusdiskurs, die „sächsische Demokratie“85 und die „sächsischen Verhältnisse“ auf der einen, der „Mythos Connewitz“, „das andere Sachsen“ auf der anderen 82 83 84 85

Schuhmacher, „Küsst die Faschisten“, S. 37. Vgl. Wagner, Rechtsradikalismus, S. 509. Schuhmacher, „Küsst die Faschisten“, S. 37. Der Begriff der „sächsischen Demokratie“ geht auf Wolfgang Thierse zurück, der damit sein Kritik vorbrachte, wonach in Sachsen Veranstaltungen von Neonazis mehr Rechte besäßen als die Gegenproteste und die Polizei die Neonazis beschütze, vgl. o. V. „Das ist sächsische Demokratie“, in: taz.de, 23.02.2011, URL: https://taz.de/Thierse-wegen-Aeusserungen-angezeigt/ !5126085/ [eingesehen am 20.08.2019].

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Seite – bis heute spiegelt sich in der Debatte um Leipzig-Connewitz, im Agieren der radikalen Linken und vis á vis der konservativ bis rechtskonservativen Bevölkerungsmehrheit mit fließenden Grenzen zu extrem rechtem Denken (und Handeln), die Schwierigkeit über Antifaschismus in Sachsen, in Ostdeutschland zu sprechen, ohne in die skizzierten Schablonen und wechselseitigen Vorwürfe zu verfallen. Weitere Forschungen in diesem Feld, auch unter Einbezug der handelnden Akteure der radikalen Linken, werden hier nicht nur den Diskurs auf eine wissenschaftlich-sachliche Ebene heben.86 Sondern sie könnten im Anschluss auch helfen, wechselseitiges Verständnis jenseits rechtsextremer Diskurse zu fördern und somit auch dazu beitragen, Gräben zu schließen. Denn in der Auseinandersetzung mit den realen neu-rechten Hegemonieversuchen – diskursiv wie durch Gewaltakte – in Ostdeutschland wird es mehr brauchen als brüchige ad-hoc-Bündnisse, wechselseitige Bezichtigungen, Gewaltakte und daraus folgende Stigmatisierungen von antifaschistischem Engagement.

86 Vgl. den letzten Absatz des vorigen Kapitels.

Alexander Deycke

Postautonomie – organisatorische und strategische Entwicklungen in der undogmatischen radikalen Linken seit den 1990er Jahren In den 1970er Jahren avancierte „Autonomie“ zu einem zentralen Leitbegriff jenes Teils des linksradikalen Spektrums, der sich nicht in einem der starren Theoriegebäude marxistisch-leninistischer Provenienz häuslich eingerichtet hat, sondern sich als undogmatisch begreift. Damit ist zunächst ein Verweis auf die Kantsche Begriffsprägung im Sinne individueller (vernunftgeleiteter) Selbstbestimmung intendiert.1 In der Tradition der italienischen AutonomiaBewegungen2 steht Autonomie vor allem aber auch für die organisatorische Unabhängigkeit, vornehmlich diejenige von bürokratischen (marxistischen) Partei- und Gewerkschaftsapparaten sowie den Institutionen des Staates. Wann genau sich schließlich die kollektive Identität einer Bewegung der Autonomen herausbildete, lässt sich nicht mit Exaktheit bestimmen; vielmehr ist von fließenden Formierungsprozessen mit einer Ausgangsbasis im linksradikalen Milieu der Sponti- und Alternativbewegungen auszugehen.3 Gemeinhin wird berichtet, dass sich Ende der 1970er Jahre im Kontext der Anti-AKWProteste „autonome Gruppen“ durch militante Aktionen hervortaten. Aber erst zu Beginn der 1980er Jahre mehrten sich die Beispiele für „den Autonomen“ zugeschriebene Aktivitäten, etwa bei den gewaltsamen Protesten gegen ein 1 Vgl. George Katsiaficas, The Subversion of Politics, European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life, Oakland 2006, S. 6f. 2 In den 1960er Jahre stellten sich in Italien zumeist ungelernte Fabrikarbeiter gegen die Bevormundung durch die Kommunistische Partei Italiens und die durch sie dominierten Gewerkschaften. In wilden Streiks und Sabotageaktionen begehrten diese gegen Lohnunterschiede und die tayloristische Modernisierung der industriellen Fabrikproduktion auf. Daran anknüpfend traten im darauffolgenden Jahrzehnt eine „Autonomia Operaia“ (Arbeiterautonomie) und eine „Autonomia Creativa“, eine im gesellschaftlichen Reproduktionsbereich agierende und gegenkulturell ausgerichtete Bewegung, auf den Plan. Deren Träger waren nicht länger „die Fabrikarbeiter, sondern […] das marginale Proletariat von Studenten, jugendlichen Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und alten politischen Kernen der Autonomia aus den 60er Jahren.“ Geronimo, Feuer und Flamme. Zur Geschichte der Autonomen, Berlin 1995, S. 43. Im Wechselspiel gegenseitiger Inspiration zwischen der Praxis der sozialen Bewegungen und deren intellektueller Reflexion entstanden die neomarxistischen Theorien des Operaismus und auf diesen aufbauend des Postoperaismus (s. u.). 3 Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 135.

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öffentliches Rekrutengelöbnis im Bremer Weserstadion oder im Rahmen der Hausbesetzungswelle 1980/81.4 Anfang der 1980er Jahre erschienen auch erste Selbstverständigungstexte einer „Autonomen Bewegung“5 . Seitdem prägen die Autonomen den undogmatischen Linksradikalismus in der Bundesrepublik. Doch wer in jüngerer Zeit Berichte über Protestgroßereignisse wie die Hamburger Anti-G20-Proteste im Juli 2017 verfolgt, wer Szenepublikationen zur Hand nimmt oder wer aktuelle Verfassungsschutzberichte und Broschüren zum Thema „Linksextremismus“ aufschlägt, dem werden dabei „Organisierungen“6 oder Bündnisse begegnen, die als „postautonom“ bezeichnet werden. Ausgehend von einer schlaglichtartigen Skizzierung einiger Charakteristika der Bewegung der Autonomen werden im Folgenden diejenigen in den 1990er Jahren beginnenden organisatorischen und strategischen Entwicklungen einschließlich sich wandelnder Aktionspraktiken rekonstruiert, die sowohl szeneintern, als auch von externen Beobachtern mit dem Schlagwort „Postautonomie“ belegt werden. Dabei soll zunächst aufgezeigt werden, dass postautonome Strukturen und Praktiken, anders als es mancher Zeitungsbericht oder die späte Übernahme des Begriffes durch die Verfassungsschutzbehörden7 suggerieren mag, keine allzu junge Erscheinung darstellen. Im Fokus stehen anschließend zwei Formationen, die im Kontext der Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm gegründet wurden bzw. erstmals öffentlichkeitswirksam in Erscheinung traten: das „Kommunistische Bündnis“ …ums Ganze! (uG) und die Interventionistische Linke (IL). Grundlage der Analyse sind neben sozialwissenschaftlichen Forschungspublikationen (post)autonome Selbstverständigungsdokumente und -literatur. Abschließend wird der Versuch einer Bewertung des unverkennbaren Trends zur Postautonomie unternommen. Die Autonomen: Bewegung, Subkultur und Szene Es gibt drei sowohl in der sozialwissenschaftlichen Literatur wie auch in der radikalen Linken selbst immer wieder, mehr komplementär oder gar synonym 4 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2008, S. 11–87; Geronimo, Feuer und Flamme, S. 92–122. 5 Vgl. „Thesen zur autonomen Bewegung“ in, Kongreßlesebuchgruppe (Hg.), Der Stand der Bewegung. 18 Gespräche über linksradikale Politik. Lesebuch zum Autonomie Kongreß Ostern 1995, Berlin 1995, S. 274ff. 6 „Organisierung“ ist ein in der radikalen Linken auch für bereits relativ verfestigte Strukturen gerne verwendeter Terminus, mit dem gegenüber dem Wort „Organisation“ eine Betonung von Dynamik und Entwicklungsoffenheit vorgenommen werden soll. 7 Vgl. Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Hg.), Verfassungsschutzbericht 2010, Berlin 2013, S. 134ff.

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als konkurrierend, jedoch selten kohärent verwendete Begriffe, um das facettenreiche Phänomen der Autonomen analytisch zu erfassen: Bewegung, Subkultur und Szene. So erfüllen die Autonomen Sebastian Haunss zufolge sämtliche Kriterien, welche von der Bewegungsforschung für eine soziale Bewegung formuliert wurden: „Sie bilden ein informelles Netzwerk dicht miteinander verknüpfter Gruppen und Personen, die ein Set gemeinsamer Überzeugungen teilen und im Rahmen konflikthafter Mobilisierungen versuchen, gesellschaftlichen Wandel mithilfe variabler Formen des Protests herbeizuführen.“8 Die fehlende thematische Fokussiertheit, so schränkt Haunss selbst ein, lässt die Autonomen jedoch gleichzeitig wiederum zu einem Sonderfall im Kanon der bekanntesten sozialen Bewegungen werden.9 Um vor allem den Tatsachen Rechnung zu tragen, dass die autonome Identität durch eine spezifische Gestaltung der individuellen Lebenswelt bis ins Private geprägt ist, dass spezifische Moralvorstellungen, symbolische Stile, Codes und Rituale den Alltag bestimmen, findet ebenso der Begriff der Subkultur Verwendung.10 Dass die Autonomen sich in ihrer mittlerweile über vier Jahrzehnte währenden Geschichte auf etablierte lokale Infrastrukturen von Info- und Buchläden, Kneipen, Zentren und besetzten Häusern stützen können, kommt hingegen stärker zum Ausdruck, wenn von einer Szene bzw. lokalen Szenen der Autonomen gesprochen wird.11 Ideenwelt der Autonomen Mit der Aussage „Es gibt weder ‚Durchschnittsautonome‘ noch ‚eine Wahrheit‘ über sie, die verallgemeinert werden könnte“12 konterte der unter dem Pseudonym „Geronimo“ schreibende Bewegungschronist einst ein szeneninternes, leninistisch argumentierendes Kritikpapier. Tatsächlich lassen sich fast jeder kategorischen Aussage über „die Autonomen“ relativierende Beispiele 8 Sebastian Haunss, Die Autonomen – eine soziale Bewegung zwischen radikaler Gesellschaftskritik und Subjektivismus, in: René Schultens u. Michaela Glaser (Hg.), ,Linke Militanz‘ im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen, DJI, Halle (Saale) 2013, S. 26–46, hier S. 30. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. Jan Schwarzmeier, Die Autonomen. Zwischen Subkultur und sozialer Bewegung, Göttingen 1999. 11 Eine detaillierte, differenzierte Diskussion verschiedener sozialwissenschaftlicher Konzepte von sozialer Bewegung, Subkultur und Szene findet sich bei Sebastian Haunss, Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 79–90. 12 Geronimo, Feuer und Flamme. Ein unendlicher Fortsetzungsroman, in: Ders. u. a., Feuer und Flamme 2. Kritiken, Reflexionen und Anmerkungen zur Lage der Autonomen, Berlin 2011, S. 48–149, hier. S. 134.

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entgegenstellen. Dennoch gibt es sowohl szeneintern als auch unter externen Beobachtern eine gewisse Übereinstimmung darüber, was die Identität der Autonomen kennzeichnet. Die Autonomen, die sich in vielem als Erben der Spontis13 betrachten, schreiben deren seit Mitte der siebziger Jahre verstärkten Trend zur Subkulturalisierung, auch Subjektivierung und Privatisierung („Das Private ist politisch“, „Politik der ersten Person“) linksradikaler Politik, fort. Eigenverantwortlichkeit, darin zeigen sich libertäre Einflüsse, und Selbstbestimmung werden – bei Zurückweisung des Konkurrenzprinzips – eine große Bedeutung beigemessen. Bereits an die Fortentwicklung der eigenen Persönlichkeit wie auch an die bewusste Gestaltung des Alltags werden hohe moralische Anforderungen gestellt. Die Trennung von privater und politischer Sphäre gilt als aufgehoben. Hinter der Formel der „Politik der ersten Person“ verbirgt sich die Vorstellung, subjektive Bedürfnisse zum Ausgangspunkt für politisches Handeln zu nehmen, ferner die Ablehnung von Stellvertretern und Repräsentanten der eigenen Politik. Mit den späten Spontis teilen sie auch den Abschied vom Industriearbeiter als revolutionärem Subjekt. Anarchistisches Denken („Wir haben alle einen ,diffusen Anarchismus‘ im Kopf “14 ) bestimmt die Ideenwelt der Autonomen insofern, als dass die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, insbesondere der „bürgerliche“ Staat sowie seine Institutionen und Repräsentanten als deren Garanten zentrale Feindbilder darstellen. Er soll weder durch revolutionären Akt erobert noch durch Reformen modifiziert, sondern schlicht zerschlagen werden. Für die Praxis heißt dies: „Wir führen keinen Dialog mit den Herrschenden, denn das ist der erste Schritt zur Integration.“15 Trotzdem will man durch kontinuierliche Kämpfe ebendiesen Herrschenden Verbesserungen der eigenen Situation abringen, in denen die „erlaubten Bahnen des Protests“ überschritten werden. Dabei sei jedoch das Kämpfen mit dem Horizont „systemübergreifender Ziele“ selbst wichtiger als das Erreichen von Verbesserungen: „Der Weg, die Art und Weise unserer Kämpfe ist das 13 Die Bezeichnung „Sponti“ war zunächst „eine unter den K-Gruppen verbreitete abwertende Bezeichnung für Gruppen, welche Parteikonzepte ablehnten und damit aus der Sicht der Marxisten-Leninisten ein zu großes Vertrauen auf die Spontaneität der Massen setzten.“ In einer „ironischen Selbstadaption“ (Wolfgang Kraushaar) übernahmen die Geschmähten den Begriff. Sebastian Kasper, Das Ende der Utopien. Der Wandel der Spontis in den langen 1970er-Jahren, Freiburg 2018, S. 47, URL: https://freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/ freidok:15229/datastreams/FILE1/content [eingesehen am 10.07.2019]. 14 Diese Feststellung blieb über drei Dekaden Bestandteil einer seit 1981 wiederholt modifizierten Thesensammlung zur autonomen Identität. Vgl. „Thesen zur autonomen Bewegung“ in: Kongreßlesebuchgruppe (Hg.): Der Stand der Bewegung, S. 276; ak wantok, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Perspektiven Autonomer Politik, Münster 2010, S. 7–16, hier S. 11. 15 Ak wantok, Einleitung, S. 10.

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Ziel.“16 Weder über die Ausgestaltung der Zukunftsgesellschaft noch über den Transformationsprozess besteht indes Klarheit bei den Autonomen. Aus dem reichen Fundus anarchistischer und neomarxistischer Theorie bedient man sich unsystematisch und eklektisch; die eine kongruente welterklärende Theorie mit handlungsleitender Funktion gibt es nicht, was dazu führt, dass den Autonomen der Ruf der Theorieabgewandtheit und Tatorientierung vorauseilt. Ein gewisser Einfluss, so heißt es, könne in den 1980er Jahren den sozialrevolutionären Schriften Detlef Hartmanns zugeschrieben werden.17 Zudem wurde in den 1990er Jahren die aus der schwarzen Frauenbewegung stammende Idee einer so genannten „triple oppression“, mithin die Annahme dreier (Klassenkonflikt, Rassismus, Sexismus) ineinander verwobener Gewaltformen, anstelle des einen ökonomischen Hauptwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit, als zentraler Unterdrückungsmechanismus der „bürgerlichen“ Gesellschaft breiter rezipiert.18 Ein solcher, soeben skizzierter anarchistisch-libertärer Idealtypus – darauf muss man hinweisen – blieb und bleibt nicht unangefochten. Dies fällt auf, wenn man in den Debattenorganen gar nicht so selten auch auf orthodox-marxistische Positionen oder andere Abweichungen und Distanzierungen vom vermeintlich idealtypischen Bild trifft. In Ermangelung einer zentralen Instanz, die objektive Kriterien fest- und durchsetzt, ist das Spektrum derjenigen, die sich subjektiv der Bewegung zurechnen, durchaus heterogen. So ist es schwierig, und vielleicht auch wenig sinnvoll, eindeutige Trennlinien zu ziehen, beispielsweise zu einem antiimperialistischen Milieu.19 Aktionsfelder und Militanz Die Themen autonomer Politik werden vor allem von Bekämpfungs- und Abwehrprojekten gegen die empfundenen Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse dominiert; sie besitzen vielfach eine zyklische Relevanz: Anti-AKW-Protest, Antimilitarismus, Antifaschismus, Anti-Sexismus,

16 Ebd. 17 Hartmann, Autor des Buches „Die Alternative. Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Tübingen 1981“, propagierte einen sozialrevolutionären Antiimperialismus als Gegenentwurf zu dessen leninistischer Version, kritisierte die Alternativbewegung und übte Technikkritik. Vgl. Geronimo, Feuer und Flamme, S. 78 u. S. 232f. 18 Vgl. Ingrid Strobl u. a. (Hg.), Drei zu Eins, Berlin 1996. 19 Vgl. Geronimo Marulanda, Zum Ende einer Bewegung und eines Organisationsansatzes, in: revoltmag.org, 19.04.2018, URL: https://revoltmag.org/articles/zum-ende-einer-bewegungund-eines-organisationsansatzes/ [eingesehen am 20.03.2020].

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Anti-Rassismus, Anti-Repressions-Protest, Antiimperialismus (darunter: AntiWirtschaftsgipfel- bzw. später Anti-Globalisierungsproteste), Protest gegen Gefängnisse, Anti-Gentrifizierungsproteste. Mit dem Kampf um „Freiräume“, wohlgemerkt: als „Ausgangsbasis, um den Staat und das System zu stürzen“20 , sei es in besetzten Häusern oder – nicht selten den Kommunen des verhassten Staates abgerungenen – autonomen (Jugend-)Zentren oder der Unterstützung von Geflüchteten, lassen sich jedoch exemplarisch auch Aktivitäten ausmachen, mit denen positiv bestimmbare Nahziele verfolgt werden. In der breiteren Öffentlichkeit werden Autonome vornehmlich mit Gewaltdelikten assoziiert, die regelmäßig Schlagzeilen garantieren. In Selbstreflexionen autonomer Aktivitäten haben Diskussionen über „Militanz“ eine fortwährende Präsenz21 , wobei zu beobachten ist, dass der Militanzbegriff der Autonomen zwischen zwei Bedeutungsebenen oszilliert: Während Militanz einerseits schlicht als Synonym für Gewalt stehen kann, kann andererseits auch ein spezifischer Gestus, der eine kämpferische Haltung zum Ausdruck bringt, gemeint sein.22 In jedem Fall ist Militanz positiv besetzt. Die konkrete Dosierung von Gewalt im Kampf gegen Staat, Kapital und extreme Rechte ist indes Gegenstand von Debatten und unterliegt einem Rechtfertigungszwang – schließlich wird die Auffassung vertreten, bei der eigenen Gewaltausübung handele es sich um Gegengewalt gegen die strukturelle Gewaltsamkeit des Systems, die einem im Streben nach einer gewaltfreien Zukunftsgesellschaft aufgezwungen werde. Obwohl gelegentlich Sympathien für Aktionen der mittlerweile historischen bewaffneten Guerilla geäußert werden, gilt die eigene Praxis doch als Gegenentwurf zum bewaffneten Kampf von RAF und Revolutionären Zellen. Bestimmte Gewaltschwellen, so der Konsens, sollen – trotz seiner singulären Verletzung – nicht überschritten werden. So fallen in der Gewaltbilanz denn auch Sachbeschädigungen und Konfrontationsgewalt gegen Polizei und die extreme Rechte im Zusammenhang von Eskalationsdynamiken auf Demonstrationen neben klandestinen Sabotageaktivitäten quantitativ besonders ins Gewicht.23 Vieles spricht dafür, einer großen Anzahl der teilweise ritualisierten, auf Öffentlichkeit abzielenden militanten Aktionen symbolischen Charakter sowie Identität und Selbstermächtigung erzeugende Funktionen zuzusprechen, liegt es doch auf der Hand, dass mit ihnen kein Systemumsturz zu erzielen

20 Ak wantok, Einleitung, S. 11. 21 Vgl. Haunss, Identität in Bewegung, S. 121ff. u. S. 169ff. 22 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 403; Klaus Viehmann, Militanz, in: Ulrich Brand u. a. (Hg.), ABC der Alternativen 2.0. Von Alltagskultur bis Zivilgesellschaft, Hamburg 2012, S. 168f. 23 Vgl. Matthias Mletzko, Gewalthandeln linker und rechter militanter Szenen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 44/2010, S. 9–16.

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ist. Die rituellen Praktiken des Schwarzen Blocks, der homogen schwarz gekleideten und vermummten Demonstrationsavantgarde, haben zweifelsohne pragmatische Hintergründe (Schutz vor Tränengas und Strafverfolgung), sind aber zugleich ein Mittel der Inszenierung von Widerständigkeit, symbolischer Systemfeindschaft und Stärke.24 Infrastruktur und Organisationsformen Der Infrastruktur lokaler links-alternativer Szenen – also selbstverwalteten Szenekneipen und Jugendzentren, aber auch linken Buch- und Infoläden sowie Wohnprojekten als Orten, an denen Informationen ausgetauscht und anlassoder gruppenbezogene Plena abgehalten werden – kommt eine zentrale Rolle dabei zu, die netzwerkartige autonome Bewegungsstruktur aufrecht zu erhalten. Gleiches galt für Zeitschriftenprojekte wie die radikal oder die Interim, bevor Onlinepublikationen und -plattformen deren Funktion übernahmen. Gruppenaktivitäten ergeben sich häufig im Zusammenhang mit thematischen Fokussierungen wie paradigmatisch im autonomen Antifaschismus; die Gruppen agieren konspirativ, allein vertrauensvolle persönliche Bekanntschaften bzw. Freundschaften ermöglichen die Kontaktaufnahme. Die Koordinierung der unterschiedlichen Gruppen einer Stadt erfolgt – wenn sie denn stattfindet – in gruppenübergreifenden Plena. Regional und überregional werden unregelmäßig Kongresse zur Vorbereitung von Kampagnen oder zur Selbstvergewisserung veranstaltet.25 In einem frühen Selbstverständigungsdokument der Autonomen heißt es: „Wir haben keine Organisierung an sich. Unsere Organisationsformen sind alle mehr oder weniger spontan. Besetzerrat, Telefonkette, Autonomen-Plenum, und viele viele kleine Gruppen, die sich entweder kurzfristig zusammensetzen, um irgendwelche actions zu machen, auf Demos zusammen sind, etc. und langfristigere Gruppen, die Sachen wie radikal, Radio Utopia oder irgendwelche ganz illegale actions machen. Es gibt keinerlei festere Strukturen wie Parteien etc., auch keinerlei Hierarchie. Die Bewegung hat z. B. bis heute noch keinen einzigen Exponenten hervorgebracht wie z. B. Negri, Dutschke, Cohn-Bendit, etc.“26

In ihrer Entstehungsphase grenzten sich die Autonomen im linksradikalen Spektrum nach zwei Seiten besonders ab: Auf der einen Seite gegenüber der Alternativbewegung, die in ebendieser Zeit in der grünen Partei einen Weg 24 Vgl. Rainer Paris, Vermummung, in: Leviathan, Jg. 19 (1991), H. 1, S. 117–129. 25 Vgl. Haunss, Die Autonomen, S. 29. 26 Thesen zur autonomen Bewegung von 1981, zit. nach Kongreßlesebuchgruppe (Hg.), S. 275.

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fand, ihre Interessen innerhalb des bestehenden Systems durchzusetzen; auf der anderen Seite gegenüber den – schon im Zerfall befindlichen – streng hierarchisch organisierten und dogmatischen K-Gruppen.27 Letztere stellen auch nach Jahrzehnten immer noch die organisationspolitische Negativfolie schlechthin dar, von der sich jede Form der Institutionalisierung kollektiven Handelns zu unterscheiden habe.28 Doch gleichzeitig dürften die Klagen über die (Nicht-)Organisation der Autonomen fast genauso alt sein wie die Bewegung selbst. In einem Reader-Beitrag für die „Libertären Tage“ 1987 wird „die ganze Schwäche und asthmatische Kurzlebigkeit autonomer Politik“29 beklagt. „Wie ein/e Seiltänzer/in von Großprojekt zu Großprojekt“30 hangele man sich. Viele themenbezogene Gruppen zerfielen bereits nach wenigen Monaten wieder, es fehlte an Kontinuität, um nicht immer die gleichen Fehler zu wiederholen, wie auch an klaren, längerfristigen Zielen der zu oft subjektiven Gefühlen Ausdruck verleihenden Gewalt der Autonomen. Im Reader-Beitrag wird außerdem festgehalten, dass die lockeren Strukturen informelle Hierarchien zuweilen eher förderten als verhinderten. Man kam also zu dem Schluss: „Der Aufbau und die Vernetzung militanter Kerne ist für uns Voraussetzung dafür, den Kreislauf sich wiederholender Bewegungsrhythmen zu durchbrechen, Bindeglied zwischen Bewegung und Alltag zu sein. Eine Organisation, die über beides hinausgeht und doch aus beidem bestehen muss.“31 Die 1990er Jahre: Organisationsdebatten und bundesweite Antifa-Strukturen Sebastian Haunss kam in einer Analyse der zwischen 1988 und 2001 erschienenen Ausgaben der Berliner Autonomenzeitschrift Interim zu dem Ergebnis, dass Organisations- und Selbstverständnisdebatten das am häufigsten behandelte

27 Vgl. Haunss, Die Autonomen, S. 27. 28 DASN, Teil einer Jugendbewegung sein; o. V., IL im Aufbruch – ein Zwischenstandspapier, Broschüre 2014, S. 15, URL: http://fels.nadir.org/multi_files/fels/il-zsp-1c-32s-a5-sm.pdf [eingesehen am 18.07.2019]. 29 Autonome L.U.P.U.S-Gruppe, Stand autonomer Bewegung – Langlauf oder Abfahrt im Sturz, in: Arbeitsmappe für die Libertären Tage in Frankfurt, Broschüre, S. 17, Digitalisat online einsehbar unter URL: http://www.anarchismus.de/libertaere-tage/lt1987/lt87-arbeitsmappe. pdf [eingesehen am 12.07.2019]. 30 Ebd., S. 11. 31 Ebd., S. 19.

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Thema aller Beiträge waren, dicht gefolgt vom Thema Geschlechterverhältnisse.32 Wieder wurden die Kampagnenpolitik („Ein-Punkt-Politik“) und die fehlende Lernfähigkeit, aber auch die subkulturelle Isolierung der Autonomen vom Rest der Gesellschaft kritisiert. Widerspruch erfuhr auch der Subjektivismus der Autonomen, der allein die persönlichen Erfahrungen und Empfindungen sowie das subjektive Wollen zum Ausgangspunkt für politisches Handeln mache und einer Analyse der objektiven Verhältnisse im Wege stehe.33 Die Autonomen seien „eher radikale Jugendkultur als altersübergreifende Bewegung“34 und mitnichten frei von – freilich informellen – Hierarchien und Leistungsdruck.35 „Aus dem voluntaristischen Subjektivismus“, hieß es, „resultiert Theoriefeindlichkeit wie Militanzfetischismus.“36 Nach einer um die Jahreswende 1991/1992 in der Zeitschrift Interim mit den genannten Argumenten geführten Diskussion entstanden neue Organisationsansätze als dezidierte Gegenentwürfe zur bisherigen Autonomenpolitik wie die Berliner Gruppe „Für eine linke Strömung“ (FelS), die „Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation“ (AA/BO) und, unabhängig davon, bereits 1989 die Formation „Avanti – Projekt undogmatische Linke“. Da sie sich in zahlreichen Aspekten von bisherigen autonomen Strukturen abgrenzten, ihnen zugleich aber ebenso durch gemeinsame Themen, Ideen und Praktiken wie auch die Nutzung einer gemeinsamen Szeneinfrastruktur verbunden blieben (auch Postautonome sind ein Großstadtphänomen), hat sich für die genannten Gruppierungen und ihre Nachfolger das Label „postautonom“37 etabliert. Auf der rein organisatorischen Ebene unterscheiden die genannten Gruppierungen und ihre Nachfolger sich von klassisch autonomen Gruppen in erster 32 Vgl. Haunss, Identität in Bewegung, S. 134. 33 Ebd., S. 135–143. 34 Heinz Schenk, Die Autonomen machen keine Fehler, sie sind der Fehler!, in: Interim 166, 24.10.1991, zit. nach Für eine linke Strömung (FelS) (Hg.), „Heinz Schenk Debatte“, Berlin 2015, S. 14–22, hier S. 16, URL: https://fels.nadir.org/multi_files/fels/heinz-schenk-debatte_0. pdf [eingesehen am 15.03.2020]. 35 Vgl. Roberto Blanco, Noch ein ketzerisches Papier, in: interim 169, 14.11.1991, zit. nach Für eine linke Strömung (FelS) (Hg.), „Heinz Schenk Debatte“, S. 30–33, hier. S. 32. 36 FelS, Praktische Konsequenzen – Die Gründung der Gruppe FelS. Thesenpapier zur Veranstaltung am 28. Januar 1992, in: Für eine linke Strömung (FelS) (Hg.), „Heinz Schenk Debatte“, S. 57f. 37 Die ersten postautonomen Gruppen bezeichneten sich zunächst nicht als solche. Der Begriff scheint im Verlauf der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und zunächst als Fremdzuschreibung (innerhalb der radikalen Linken) gebräuchlich geworden zu sein. Vgl. Felix Spohnholz, Große Klappe, leere Straßen. Nazi-Mobilisierung und linke Orientierungslosigkeit: Der Berliner autonome 1. Mai ist in der Krise, in: jungle world, 25.03.1998; Bernd Hüttner, Pfeifen im Keller. Stand, Bewegung, Differenzen und Aussichten autonomer und linksradikaler Politik, in: Forum Wissenschaft, H. 4/1998, S. 44–49, hier S. 44.

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Linie durch ihren Anspruch eines überregionalen bzw. nationalen Formats, durch das Streben nach Kontinuität und Arbeitsteilung. Diese findet Ausdruck in kontinuierlich themenspezifisch arbeitenden Arbeitsgruppen sowie einer Politik strategischer, über Szenezusammenhänge hinausgehender Bündnisse. Gleichwohl distanzieren sich die neuen Organisationsansätze aber auch scharf vom Modell einer politischen Partei. Basisdemokratische Reinkultur wird indes zugunsten eher rätedemokratischer Verfahren und Mehrheitsentscheidungen aufgegeben.38 Die AA/BO vermochte 1992 zunächst rund zwanzig linksradikale Gruppen verschiedener Städte – von autonomen Frauengruppen bis hin zu stalinistischen Gruppen – zur kontinuierlichen Zusammenarbeit in einer Organisation zu bewegen, als sich in den Nachwendejahren abzeichnete, dass der Kampf gegen die extreme Rechte zum zentralen Aktionsfeld der Autonomen werden würde. Mit einem „revolutionärer Antifaschismus“39 getauften Konzept versuchten die tonangebenden Gruppen, einen neuen Ansatz linksradikaler Politik zu formulieren. Damit verbunden war der Anspruch, ein breites Spektrum an Themen und Aktivitäten unter dem Label des Antifaschismus als zentralem „Dreh- und Angelpunkt politischer Agitation und Praxis“40 zu bedienen.41 Ferner sollten über den Kampf gegen die extreme Rechte neue Anhänger für eine linksradikale Weltsicht mit antiimperialistischem Einschlag gewonnen werden. Bei der Vorbereitung und Durchführung von Demonstrationen legte die AA/BO Wert auf Kooperationen mit Parteien und Gewerkschaften; in Göttingen sei es sogar phasenweise zu deeskalativen Absprachen mit bürgerlichen Bündnispartnern und der Polizei gekommen. Man machte sich Gedanken über

38 Vgl. Autonome Antifa [M]: Es war einmal... Antifa (M) zur AA/BO, in: Arranca!, H. 5/1994, URL: https://archive.arranca.org/ausgabe/5/es-war-einmal [eingesehen am 17.07.2019]. 39 Hinter der Formel „revolutionärer Antifaschismus“ verbirgt sich die Vorstellung eines Antifaschismus, der seine Aufgabe nicht nur in einer Zurückdrängung der extremen Rechten sieht, sondern sich dem Kampf gegen ein Bündel gesellschaftlicher Verhältnisse (Kapitalismus, Rassismus, Sexismus etc.), die angeblich Faschismus ermöglichen, verschrieben hat. Vgl. Mirja Keller u. a., Antifa. Geschichte und Organisierung, Stuttgart 2011, S. 95ff. 40 Auflösungserklärung der Antifaschistischen Aktion Berlin vom Februar 2003, URL: https://www.anarchismus.at/die-autonomen/491-zur-aufloesung-der-aab [eingesehen am 08.07.2019]. 41 Bei A.G. Grauwacke heißt es dazu: „Mit Kampagnen und Aktionen zum 9. November 1918/1938, dem 8. März (internationaler Frauenkampftag), den Bundestagswahlen 1994, zu dem politischen Gefangenen Mumia Abu Jamal in den USA, zur „Inneren Sicherheit“, zum Verbot der PKK, zur Unterstützung der peruanischen Guerilla MRTA […], bis hin zu Krieg und zum EU-Gipfel 1999 versucht der Organisationsansatz, Antifa-Arbeit mit antiimperialistischer Ausrichtung zu verbinden.“ A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 302.

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eine professionelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, kreierte einen einheitlichen Markenauftritt und bemühte sich um popkulturelle Attraktivität. Gezielt wurden dabei Jugendliche für eine „Jugendantifa“ angeworben. Paradoxerweise wurde die ursprünglich scharf kritisierte Event- und Kampagnenpolitik fortgeführt, professionalisiert und ausgebaut. Nicht wenigen Gründungsmitgliedern gingen die bürokratischen Formalitäten der AA/BO – darunter Statuten, formale Mitgliedschaften und stimmrechtlose Beobachter – oder die positive Bezugnahme auf die Weimarer KPD und deren Symbolik (besonders im Osten der Republik) jedoch zu weit. In einem lockeren, auf Koordination und Informationsaustausch ausgerichteten Bündnis (Bundesweites-Antifa-Treffen – BAT) schlossen sie sich mit weiteren Gruppen zusammen, um pragmatische „Anti-Nazi-Arbeit“ zu betreiben. Als nach der Jahrtausendwende verstärkt staatliche Maßnahmen gegen Rechtsextremismus den linksradikalen Antifa-Aktivitäten ein großes Stück ihres Distinktionsmoments nahmen und die Antiglobalisierungsbewegung mehr und mehr linksradikale Aufmerksamkeit auf sich zog, zerfielen das BAT wie auch die mittlerweile stark geschrumpfte AA/BO. Der antifaschistische Konsens vermochte zudem nicht, die an Bedeutung gewinnende innerlinke Konfliktlinie zwischen antiimperialistischen und antideutschen42 Überzeugungssets zu überbrücken und leitete eine Phase der Refragmentierung der radikalen Linken ein.43 Im Schatten der bundesweiten Antifa-Strukturen gingen die Berliner Gruppe FelS – nach einer kurzen Episode in der AA/BO44 – und die Gruppierung Avanti eigene Wege. Diese erwiesen sich sogar als langlebiger: Avanti entstand 1989 als Fusion zweier Kieler und Lübecker Autonomen-Gruppen, woraufhin im Verlauf der 1990er Jahre eine Ausdehnung auf zeitweilig sieben norddeutsche Städte gelang. Die Gruppierung provozierte Verfechter etablierter Autonomenprinzipien ganz bewusst allein schon dadurch, dass man eine „Leitung“ wählte, für das anzustrebende Gesellschaftsideal den Begriff „Sozialismus“ 42 Zentraler Streitpunkt zwischen Antiimperialisten und Antideutschen ist die Haltung zum Nahostkonflikt. Während die antiimperialistische Solidarität den Palästinensern gilt, welche als Opfer kolonialistischen Expansionsdrangs gesehen werden, solidarisieren sich Antideutsche mit Israel als Staat der Holocaust-Überlebenden und Refugium für bedrohte Juden sowie mit dessen Schutzmacht USA. Zum Antisemitismus in der radikalen Linken siehe den Beitrag von Carsten Koschmieder. 43 Vgl. A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung, S. 291–312; Keller, Antifa, S. 92; Robert Foltin, Post-Autonomie. Von der Organisationskritik zu neuen Organisationsformen? Münster 2016, S. 22ff.; Antifa (M), Es war einmal..., S. 22–24; Antifa (M), Antifaschismus auf antiimperialistischer Grundlage, in: Projektgruppe (Hg.), Antifa. Diskussionen und Tips aus der antifaschistischen Praxis, Berlin 1994, S. 49–66. 44 Für eine linke Strömung, Wir machen in der AA-BO nicht mehr mit. FelS zu Antifaschistischen Aktion-BO und zu den Organisationsansätzen, in: Arranca!, H. 8/1996, S. 68–71.

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verwendete – obwohl man den ehemals real existierenden natürlich als „bürokratisch“ kritisierte – und Mitgliedsbeiträge erhob.45 FelS hingegen verwahrte sich strikt gegen jegliches Funktionärswesen.46 Beide Gruppen wollten sich als nach Weiterentwicklung strebende Suchbewegungen verstanden wissen, die ihre Gegenwartsanalyse und Praxis stets hinterfragen. Sie bekannten sich zu einer Strategie konfrontativer außerparlamentarischer Aktionen, mit denen dem Staat Verbesserungen innerhalb der „bürgerlichen Demokratie“ abgerungen werden sollten. Verstärkt versuchte man, sich in soziale Konflikte, etwa um Arbeitsverhältnisse oder in der Stadtteilpolitik, einzumischen und als kontinuierlich verfügbarer Ansprechpartner für marginalisierte Bevölkerungsschichten aufzutreten. Durch die Praxis eines vermittelbaren „massenhaften, organisierten Regelverstoß[es], z. B. in Form von Blockadeaktionen“, so hieß es bei Avanti, sollte zudem ein revolutionäres Bewusstsein in der breiten Bevölkerung evoziert werden. Keineswegs wollte man „über Formen von spontaner Empörung und Auflehnung gegen Unrecht oder Polizeibrutalität den Stab brechen,“ sich aber klar „abgrenzen von der häufigen rituellen und inhaltsleeren Inszenierung von Militanz.“47 Beide Gruppierungen bekannten sich zu einer Bündnisoffenheit bis hin zu „klassischen ,bürgerlichen‘“ Akteuren, beispielsweise NGOs und Einzelpersonen aus Parteien“48 . Die Interventionistische Linke und …ums Ganze! – Kommunistisches Bündnis Die beiden großen postautonomen Strukturen der Gegenwart, die Interventionistische Linke (IL) und …ums Ganze! – Kommunistisches Bündnis (uG), entstanden in Vorbereitung auf die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm bzw. traten in diesem Zusammenhang erstmals öffentlich in Erscheinung. 45 Avanti – Projekt undogmatische Linke, Grundsatzpapier, S. 84ff, URL: http://www. avanti-projekt.de/sites/default/files/Avanti%20Grundsatzpapier%202004.pdf [eingesehen am 15.03.2020]. 46 Vgl. Für eine linke Strömung, Selbstverständnis, URL: https://fels.nadir.org/de/whois [eingesehen am 15.03.2020]. 47 Avanti – Projekt undogmatische Linke, Grundsatzpapier, S. 76; FelS äußerte sich ganz ähnlich: „Grundsätzlich vertreten wir von FelS eine politische Praxis der unbedingten Legitimität, aber nicht der unbedingten Legalität. Das heißt, eine gezielte und taktisch motivierte subversive Grenzüberschreitung, die im ungünstigsten Fall auch Strafverfolgung nach sich ziehen kann, ist Teil der politischen Praxis. Dabei versuchen wir jedoch politische Aktionen so zu gestalten, dass sie gegenüber den Teilnehmenden wie der Öffentlichkeit verantwortbar sind. Die sprichwörtlichen Steine aus der 13. Reihe auf Mitdemonstrant_innen wie Polizist_innen gleichermaßen tolerieren wir nicht.“ Für eine linke Strömung, Selbstverständnis. 48 Für eine linke Strömung, Selbstverständnis.

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Obwohl die Mitgliedschaft in beiden Formationen den Angaben der Verfassungsschutzberichte zufolge relativ überschaubar zu sein scheint49 , bestimmen sie vor allem durch ihre oftmals federführende Mitwirkung an Protestgroßereignissen, wie zuletzt anlässlich des Hamburger G-20 Gipfels im Juli 2017 oder durch ausdauernde Kampagnen wie „Blockupy“ und „Ende Gelände“, die öffentliche Wahrnehmung linker Radikalität in der Bundesrepublik mittlerweile deutlich mit. Im uG-Bündnis fanden sich in erster Linie Antifa-Gruppen zusammen, denen die Protestprogrammatik anderer Akteure zu oberflächlich erschien und die in vielen Aufrufen und Parolen eine gefährliche Nähe zu rechter Globalisierungskritik und antisemitischen Denkmustern ausmachten. Die uG-Aktivisten begründeten ihre Organisierung mit dem Ziel „einer Kontinuität im politischen Handeln und einer Entwicklung hin zu einer gemeinsamen theoretischen Basis“ und formulierten den Anspruch, „nicht bei blindem Aktionismus stehen zu bleiben“.50 Mit einem positiven Verhältnis zum Begriff des Kommunismus, den man im Bündnisnamen trägt, ist augenscheinlich ein Bruch mit der autonomen Skepsis gegenüber dem marxistischen Vokabular vollzogen, das durch autoritäre Regime in Misskredit geraten ist. Obwohl die Bezeichnung „Bündnis“ auf eine lockerere Kooperation zu verweisen scheint, wird deutlich gemacht, dass dem Formulieren von einheitlichen Positionen ein großer Stellenwert beigemessen wird.51 Paradoxerweise korrespondiert dieser Theoriefokus damit, dass man im Ruf steht, sich eher an militanten Protestpraktiken zu beteiligen als die Genossen von der IL.52 Ein mit den Begriffen Antifaschismus und Antinationalismus (Kampagne „Nationalismus ist keine Alternative“) eingrenzbares Themenspektrum bildet neben fundamentaler Kapitalismuskritik (Gipfelproteste) den Aktivitätenschwerpunkt des Bündnisses.

49 Dem Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz zufolge weisen die postautonomen Strukturen von IL und uG einen Mitgliederstand von rund 1330 Personen auf, während die Gesamtheit der „Autonomen“ bzw. der „gewaltorientierten Linksextremisten“ mit rund 7400 Personen angegeben wird. Vgl. Verfassungsschutzbericht 2018, S. 118ff. Dass es sich bei derartigen Zahlen um sehr grobe Schätzungen handeln muss, wird dadurch angedeutet, dass im selben Bericht die Mitgliedszahlen der MLPD im Vergleich zum Vorjahr um 55% korrigiert werden. Dazu Anlass gegeben habe eine „Neubewertung unter Einbeziehung u. a. der Mitgliedsbeiträge, aufgrund deren Höhe das Mitgliederpotenzial deutlich höher sein dürfte, als es aufgrund der bisherigen Erkenntnisse angenommen wurde.“ Ebd., S. 150. 50 Ak wantok, Interview mit AktivistInnen zu gegenwärtigen linksradikalen Organisationsansätzen, in: Dies. (Hg.), Perspektiven Autonomer Politik, S. 199–211, hier S. 199. 51 Vgl. o. V., „Wir sind nicht die Bewegung“. Ein Gespräch mit drei AktivistInnen über Chancen und Gefahren ihrer Organisierungsvorhaben, in: TOP B3rlin, 25.01.2014, URL: https://topberlin.net/de/texte/interviews/wir-sind-nicht-die-bewegung [eingesehen am 13.03.2020]. 52 Vgl. Foltin, Post-Autonomie, S. 47.

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Mit aktuell 14 Mitgliedsgruppen53 ist uG deutlich kleiner und bei zivilgesellschaftlichen Kooperationen – etwa der Zusammenarbeit mit NGOs, aber auch Bündnissen mit als reformistisch geschmähten Kräften der radikalen Linken – durchaus wählerisch. Anders die IL, in der unter anderem Avanti und FelS aufgingen: Dieser ist an „kurzfristigen taktischen Bündnissen und langfristiger, strategischer Bündnisarbeit“54 gelegen. Sie wendet sich gegen die „zynische Kritik des Bestehenden, die nur kritisiert, ohne Handlungsperspektiven zu öffnen und die alle realen Kämpfe und linken Interventionen denunziert, weil sie den Ansprüchen der vorgeblich richtigen Kritik nicht genügen“55 . Seit den ersten Schritten zu ihrer Gründung im Jahr 2005 hat die IL ihre Strukturen allmählich verfestigt, von anfänglich losen Treffen verschiedener Gruppen und Einzelpersonen über einen „strukturierten Austausch“ bis hin „zu einer verbindlichen Organisationsstruktur“56 . Sie strebt an, sich von einem Netzwerk zu einer einheitlichen Organisation zu entwickeln, wobei der Diskussionsprozess um die Organisationsfrage kaum als abgeschlossen bezeichnet werden kann.57 So treten einige Mitgliedsgruppen noch immer relativ eigenständig auf, firmieren nicht als IL-Ortsgruppe, sondern behalten ältere Gruppenidentitäten bei. Zuweilen finden sich in einer Stadt zwei Mitgliedsgruppen, so in Göttingen und Heidelberg. Laut ihrem Internetauftritt ist die IL in 30 Städten58 vertreten. Emily Laquer, die als IL-Sprecherin nach den G20-Protesten sogar an einer ZDF-Talkshow teilnahm, ist das prominenteste Beispiel für Ansätze einer Re-Personalisierung linksradikaler Politik, das heißt einer Abkehr von einer

53 Basisgruppe Antifaschismus (BA) und AGB – Antifaschistische Gruppe (Bremen), TOP B3rlin –Theorie. Organisation.Praxis (Berlin), critique’n’act (lokales Bündnis der Gruppen e*vibes, Ausser Kontrolle, Undogmatische Radikale Antifa und gruppe polar aus Dresden), Fast Forward (Hannover), Redical [M] (Göttingen), Antifa AK Köln (Köln), Kritik&Praxis (Frankfurt), autonome antifa [w] (Wien), the future is unwritten (Leipzig), antifa nt (München), …resist! (Saarbrücken), LevelUP (Tübingen) und Eklat Münster. Vgl. URL: https://umsganze. org/ [eingesehen am 13.03.2020]. 54 Ak wantok, Interview mit AktivistInnen, S. 209. 55 IL-Zwischenstandpapier, S. 19. 56 Bernhardt, Markus, „Viel Luft nach oben, der Wut Ausdruck zu verleihen“. Gespräch mit Mischa Aschomeit, in: jungewelt.de, 26.02.2019, URL: https://www.jungewelt.de/artikel/ 348044.interventionistische-linke-viel-luft-nach-oben-der-wut-ausdruck-zu-verleihen.html [eingesehen am 12.03.2020]. 57 Vgl. Interventionistische Linke, Organisierungsdebatte. Beiträge aus der Organisierungsdebatte der iL, URL: https://interventionistische-linke.org/projekt/organisierungsdebatte [eingesehen am 18.07.2019]. 58 Aschaffenburg, Berlin, Bielefeld, Bremen, Darmstadt, Düsseldorf, Frankfurt, Freiburg, Göttingen, Graz, Halle, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Heilbronn, Karlsruhe, Kassel, Kiel, Köln, Leipzig, Lübeck, Mannheim, Marburg, München, Münster, Norderstedt, Nürnberg, Rostock, Stuttgart, Tübingen. Vgl. https://interventionistische-linke.org/ [eingesehen am 14.03.2020].

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strikten Anonymitätswahrung des Einzelnen bei den Postautonomen im Allgemeinen und der IL im Speziellen.59 Schließlich: Beide großen postautonomen Formationen sind auch in Österreich vertreten, die IL mit zwei, das uG-Bündnis mit einer Mitgliedsgruppe. Während das uG-Bündnis auf die Eigenständigkeit der Mitgliedsgruppen verweist, verfügt die IL über räteähnliche Strukturen, in denen Mehrheitsentscheidungen getroffen werden.60 Die pauschale Etikettierung von uG als antideutsch und der IL als antiimperialistisch bedarf allerdings einer Differenzierung.61 Die uG-Gruppen begreifen sich als „antinational“, womit eine Trennlinie zu antiislamischen und bellizistischen Positionen sowie der Annahme „einer ,deutschen Spezifik‘ nationaler Ideologie“62 im antideutschen Lager gezogen werden soll. Gleichzeitig gehört marxistischer Antiimperialismus zwar ohne Zweifel zum heterogenen Theoriekanon der IL und schlägt sich beispielsweise in der Solidarität mit dem venezolanischen Maduro-Regime nieder, ist aber keineswegs die alles erklärende ideologische Brille. Grundsätzlich hat Antiimperialismus als Begriff und Ideologie bei den Postautonomen der Gegenwart an Bedeutung verloren. Zu verzeichnen ist eine Verschiebung weg von der Solidarität mit nationalen Unabhängigkeitsbewegungen hin zu einem Internationalismus, der sich positiv auf „Versuche der Selbstorganisierung von unten“63 bezieht, was unter anderem zu einer Idealisierung und Romantisierung der mexikanischen Zapatistas oder der kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien (Rojava) führt. Ein deutliches Differenzierungsmerkmal zwischen IL und uG bildet das Verhältnis zu systemkonformen Akteuren. Denn im Gegensatz zu uG pflegt die

59 Mit denjenigen, die unter Klarnamen in der Öffentlichkeit als IL-Aktivisten in Erscheinung treten, scheint es in der IL so etwas wie eine Gruppe von informellen Wortführern und Vordenkern zu geben. Im Vergleich zur IL ist uG hinsichtlich Klarnamen zurückhaltender und zieht es vor, die imaginäre Pressesprecherin Marlies Sommer sprechen zu lassen. Vgl. exemplarisch ...ums Ganze! Presse, Pressemitteilung (19.5.12): 30.000 gegen Kapitalismus / Polizeiprovokationen, 19.05.2012, URL: https://umsganze.org/pressemitteilung-19-5-12-30000-gegen-kapitalismus-polizeiprovokationen/ [eingesehen am 29.03.2020]. 60 O. V., Politische Erfahrung kann man nicht wie einen Fußball abgeben, in: analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 607, 18.8.2015, URL: https://www.akweb.de/ak_s/ ak607/23.htm [eingesehen am 27.03.2020]. 61 Udo Baron, Vom Autonomen zum Postautonomen. Wohin steuert die autonome Bewegung?, in: Armin Pfahl-Traughber (Hg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2015/16 (II), Brühl 2016, S. 59–79, hier S. 70 u. S. 76. 62 TOP B3rlin, Imagine there’s no countries /It isn’t hard to do /… Here we go again: Endgültige Anmerkungen zur These einer „deutschen Spezifik“ nationaler Ideologie, in: …ums Ganze!Bündnis (Hg.), UGMAG. Linksradikale Betrachtungen, Berlin 2012, Broschüre, S. 6–7, hier S. 6. 63 Foltin, Post-Autonomie, S. 64.

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IL enge Verbindungen zur Partei Die Linke („Mit der Linkspartei wird gekuschelt, vielleicht auch, weil die Partei für einige Genossen Arbeitgeber ist.“64 ), zur Rosa-Luxemburg-Stiftung und zu Gewerkschaften, auch mit der DKP kooperiert man gelegentlich. Zwar sei man „antagonistisch zum Staat“, begrüße jedoch „starke linke Parteien“ in den Parlamenten, glaube aber „nicht daran, dass parlamentarische Mehrheiten in der Lage sind, die Gesellschaft grundsätzlich und in einem emanzipatorischen Sinn zu verändern“. Angesichts dessen brauche es eine außerparlamentarische Linke, die auf „Selbstermächtigung der Ausgebeuteten und Unterdrückten zielt und die in ihren Aktionen das staatliche Gewaltmonopol bestreitet, weil sie nicht nach der Legalität, sondern der Legitimität der eigenen Politik fragt“65 , ohne zwingend mit der parlamentarischen Linken zu konkurrieren. Gerade bei Protestgroßereignissen wie dem Hamburger G20-Gipfel zeigen sich die Dissonanzen zwischen den beiden wichtigsten postautonomen Organisationen, die ihre jeweilige Identität auch durch gegenseitige Kritik und Abgrenzung formen, gleichzeitig wurde bei den Anti-G20-Protesten aber ebenfalls deutlich, dass es keine derartig tiefen Gräben gibt, dass gemeinsam unterzeichnete Demonstrationsaufrufe ausgeschlossen wären.66 Von einer offenen Feindschaft der beiden Formationen kann kaum gesprochen werden. Kooperationen, das zeigten von 2012 bis 2016 schon die Frankfurter Blockupy-Proteste, sind durchaus möglich.67 Theoretische Bezugspunkte: Postoperaismus Die Kritik der Postautonomen an den Autonomen beinhaltet stets den Vorwurf mangelnder Bemühungen um eine theoretisch fundierte Gesellschaftsanalyse, sodass die postautonomen Gruppierungen es von Beginn an als ihre Aufgabe betrachteten, dieses Defizit für sich durch eigene Publikationstätigkeiten und Kongressveranstaltungen68 zu beheben. Obgleich sich, ganz im Sinne eines 64 Erik Peter, Kuscheln im Bündnis. in: taz.de, 10.09.2014, URL: https://taz.de/LinksradikaleZusammenschluesse/!5033589/ [eingesehen am 30.03.2020]. 65 IL-Zwischenstandspapier, S. 21. 66 Vgl. Georg Kirsche-Humboldt, Die Gräben bleiben, in: taz.am wochenende, 20.05.2017. 67 Vgl. Blockupy, Was ist Blockupy, URL: https://blockupy.org/blockupy/ [eingesehen am 12.03.2020]. 68 Vgl. exemplarisch für das uG-Bündnis: No Way out - Von Postoperaismus bis Wertkritik, Kongress 2007, URL: https://umsganze.org/historie/2007-ffm-no-way-out-kongres/ [eingesehen am 12.02.1010]; „So wie es ist, bleibt es nicht!“, Kongress zum Thema Finanzkrise 2010, URL: https://umsganze.org/historie/2010-so-wie-es-ist-bleibt-es-nicht-kongress/ [eingesehen am 12.02.2020]; reproduce(future), Kongress zum Thema Digitalisierung 2016, URL: https://

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Selbstverständnisses als undogmatische Linke, auch in postautonomen Reihen keine festgefügten Welterklärungsansätze herauskristallisiert haben, so ist doch erkennbar, dass bestimmte Konzepte besonders rege diskutiert werden. Hervorzuheben ist dabei der Postoperaismus, als deren zentrale Exponenten die Autoren Antonio Negri (Italien), Michael Hardt (USA) und John Holloway (Mexiko) gelten. Der Postoperaismus schließt an Theoreme des Operaismus an und wurde wie dieser in einem Wechselspiel gegenseitiger Inspiration zwischen verschiedenen sozialen Bewegungen und linksradikalen Intellektuellen entwickelt. Im Gegensatz zu „klassisch“ marxistischen Ansätzen, die in der (gesetzmäßigen) Produktivkraftentwicklung das zentrale Movens geschichtlichen Fortschritts sehen, wird im Operaismus davon ausgegangen, dass die Kämpfe der ArbeiterInnen die Evolution des Kapitalismus entscheidend bestimmen. Das Agieren der Kapitalseite wird vorwiegend als Reaktionsbildung auf eine widerständige ArbeiterInnenschaft betrachtet. Im Postoperaismus tritt an die Stelle des Industrieproletariats die schillernde Figur der „Multitude“ (Hardt/Negri), hinter der sich nicht nur Lohnarbeitende, sondern alle diejenigen verbergen, die in den Bereichen der Produktion wie auch in der gesellschaftlichen Reproduktion (bspw. in der Hausarbeit) ausgebeutet werden. Die Multitude soll allerdings nicht in einer hierarchischen Großorganisation zusammengeführt werden. Vielmehr richten sich die Hoffnungen des Postoperaismus auf eine Vielzahl unabhängig voneinander agierender basisdemokratisch verfasster sozialer Bewegungen und deren Widerstände gegen mannigfache Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse. Die vielfache Selbstorganisation der Multitude, die mit ihren Aktionen dem Kapitalismus die Reproduktion verweigert, so die vage Erwartung, soll schließlich die Grundlage der Zukunftsgesellschaft bilden. Als Antagonisten der Multitude entwerfen Hardt und Negri das „Empire“. Das globale Geflecht nationaler und supranationaler Steuerungsinstanzen regiere die Welt entsprechend den Imperativen des globalen Marktes. Viele ihrer Aktivitäten begreifen postautonome Gruppierungen vor diesem theoretischen Hintergrund als Beitrag bzw. Anstoß zur Selbstermächtigung der Multitude.69

techno.umsganze.org/ [eingesehen am 12.02.2020]; für die IL: 2. Offene Arbeitskonferenz 2009, URL: https://interventionistische-linke.org/projekt/offene-arbeitskonferenz [eingesehen am 12.02.2020]; Strategiekonferenz 2016, URL: https://interventionistische-linke.org/tags/ stratko2016 [eingesehen am 12.02.2020]. 69 Vgl. Martin Birkner u. Robert Foltin, (Post-) Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis, Stuttgart 2010.

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Protestpraktik ziviler Ungehorsam Es ist darauf hingewiesen worden, dass sich die Positionierung der Postautonomen zur Gewaltfrage gegenüber „klassisch“ autonomen Haltungen verändert habe.70 IL und uG labeln einen Großteil ihrer Protestpraxis, allem voran Besetzungs- und Blockadeaktionen, als „(zivilen) Ungehorsam“71 und wollen sich damit von autonomer Militanz abgrenzen. Mit dem Begriff des zivilen Ungehorsams werden in der Politischen Theorie Konzepte eines bewussten, gewaltfreien Bruchs einer gesetzlichen Norm unter Berufung auf ein höheres, zumeist auch verfassungsmäßiges Recht wie etwa die Menschenrechte oder aber moralische Prinzipien benannt72 . Ihm haftet einerseits aus linksradikaler Perspektive das Manko an, durch seine Verwendung mit einer grundsätzlichen Bejahung der herrschenden Rechts- und Gesellschaftsordnung in Verbindung gebracht werden zu können.73 Andererseits gelten gerade Praktiken, die sich als ziviler Ungehorsam verhandeln lassen, als probates Mittel in „strategischen Bündnissen […] für eine Politik des Bruchs mit dem Kapitalismus und der radikalisierenden Selbstermächtigung in der Aktion“ zu werben, ist doch für sie außerhalb der radikalen Linken deutlich einfacher Akzeptanz zu erzielen als eindeutige74 Gewaltpraxen. Wie vieles andere in der radikalen Linken Deutschlands hat die Konjunktur des zivilen Ungehorsams ihren Ursprung in Italien. Dort entstand in den 1990er Jahren die Bewegung der Tute Bianche (weiße Overalls), die sich später in Disobbedienti (Ungehorsame) umbenannten. Namensgebend waren die weißen Overalls, die die Mitglieder der Gruppierung während ihrer Aktionen trugen, um dadurch auf die ‚unsichtbaren‘ Ausgebeuteten hinzuweisen, gleichzeitig sollte Zurückhaltung in puncto Gewaltbereitschaft signalisiert

70 Baron, Vom Autonomen zum Postautonomen?, S. 71f. 71 Vgl. shutdown-hamburg.org, G20-Proteste: Massenhafter Ungehorsam auch im Hamburger Hafen, 11.04.2017, URL: https://umsganze.org/g20-proteste-massenhafter-ungehorsamauch-im-hamburger-hafen/ [eingesehen am 13.03.2020]; IL-Zwischenstandspapier, S. 4 u. S. 24; Friedrich Burschel u. a. (Hg.), Ungehorsam! Disobedience! Theorie & Praxis kollektiver Regelverstöße, Münster 2014. Auffällig ist allerdings, dass IL und uG das Adjektiv „zivil“ häufig weglassen. 72 Zur Debatte in der Politischen Theorie siehe: Andreas Braune (Hg.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart 2017. 73 Dario Azzellini, Von den Tute Bianche zu den Ungehorsamen, in: Arranca! H. 23/2002, S. 27–30, hier S. 30. 74 Gegenstand von juristischen Diskussionen ist beispielsweise die Frage, ob im Zusammenhang mit Sitzblockaden eine Gewalttat gegen diejenigen, die durch die Blockade am Fortkommen gehindert werden, vorliegt. Es hängt somit nicht selten von der Perspektive bzw. vom Gewaltbegriff ab, ob Protestpraktiken als gewaltfrei betrachtet werden oder nicht.

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werden. Als „defensiv-offensive“ Strategie verstand man dabei, sich gleichzeitig ausgiebig um Schutzausrüstung gegen Polizeiknüppel und Tränengas zu kümmern.75 Fernsehbilder jüngerer Protestgroßereignisse in der Bundesrepublik zeugen davon, dass die weißen Overalls den Weg über die Alpen gefunden haben. Weiß uniformierte Mengen, die Polizeiketten durchbrechen und den Braunkohletagebau stürmen, vermitteln medial einen trügerischen Eindruck von einer Leichtigkeit des kollektiven Normbruchs und setzen einen eindrücklichen Kontrapunkt zur bedrohlichen Optik des Schwarzen Blocks. Zu Gewalt wird also zwar nicht offensiv aufgerufen, andererseits aber verurteilt man sie auch nicht grundsätzlich. Ausschreitungen wie beispielsweise diejenigen im Hamburger Schanzenviertel am Freitagabend des G-20 Gipfels wurden zwar nicht von postautonomen Gruppen initiiert, gleichzeitig aber auch nicht explizit kritisiert, sondern ambivalent bewertet, wobei der Diagnose eines positiven Symbolwerts des Widerstands auch Klagen über die negativen Auswirkungen für das eigene Wirken (Vertrauensverlust, Isolierung, Ablenkung von Inhalten etc.) gegenüberstehen, wie in den Blogbeiträgen auf der IL-Seite zu lesen ist.76 Thomas Seibert, eine Art spiritus rector der IL, verortet seine Gruppierung mit ihrer Praxis des zivilen Ungehorsams in den „radikalen Strömungen der Mehrheitslinken“, denen die „minderheitslinke Revolte“ gegenüberstehe, welche die Gefahr „fundamentalistischer Gewalt“ berge, welche sich „gegen die Gesellschaft […] – nicht zugunsten einer anderen Gesellschaft“ ausspreche. Sie mahne jedoch die „Mehrheitslinke“: „jede wirkliche wie jede mögliche Gesellschaft – Gesellschaft überhaupt – ist und wird ein Zwangsverhältnis sein“.77 Das uG-Bündnis gewinnt dem „riot“ im Schanzenviertel demgegenüber Positiveres ab: „Die Vielfalt der Aktionsform hat sich dabei praktisch ergänzt, auch wenn das einige lieber nicht so laut sagen wollen. Denn ohne militante Aktionen an anderer Stelle, die viel Polizei gebunden haben, wären wohl weder der Blockadefinger noch die Hafenblockade so relativ erfolgreich gewesen. […] [D]er kleine „Hamburger Aufstand“ [war] ein Schritt nach vorne. Das gilt, obwohl während der militanten Aktionen auch viel MackerScheisse passiert ist; welchen Sinn es etwa haben soll Kleinwagen anzuzünden und Unbeteiligte zu gefährden erschließt sich uns nicht. […] Wenn die Kids aus dem Viertel gemeinsam mit Aktivist*Innen aus ganz Europa eben jenen Bullen, die beide aufs übels-

75 Vgl. Azzellini, Von den Tute Bianche zu den Ungehorsamen, S. 27ff. 76 Vgl. exemplarisch die Beiträge im Debattenblog der IL zum Thema G20: URL: https://blog. interventionistische-linke.org/g20-gipfel [eingesehen am 18.07.2019]. 77 Thomas Seibert, Minderheitslinke Revolte und mehrheitslinke Kritik, in: Debattenblog der IL, September 2017, URL: https://blog.interventionistische-linke.org/g20-gipfel/ minderheitslinke-revolte-und-mehrheitslinke-kritik [eingesehen am 13.03.2020].

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te drangsalieren, mal zeigen, dass das Blatt sich auch – zumindest für ein paar Stunden – wenden kann, wenn der hochgerüstete Sicherheitsstaat mal ein wenig die Kontrolle verliert, dann ist das gut und nicht schlecht.“78

Es ist angesichts dessen strittig, ob die Postautonomen tendenziell eine Scharnierfunktion „zwischen gewaltbereiten Linksextremisten und gemäßigten Linken“ einnehmen und Gewalttätigkeit und deren Akzeptanz Vorschub leisten,79 oder ob sie eine mäßigende Rolle in der Gewaltfrage spielen. Postautonomie – Formel für ein linksradikales Wiedererstarken? Die nachgezeichneten organisatorischen und strategischen Entwicklungen geben kenntnisreichen Beobachtern der Materie Anlass zur Sorge, dass, sollten sie sich vertiefen und fortsetzten, möglicherweise mit einer neuen, „nicht zu unterschätzenden Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat“80 , mithin mit einer gesteigerten Potenz linksradikaler Aktivitäten zu rechnen sei. Doch geht die Gleichung grundsätzlich auf, dass ein höherer Grad der Organisation automatisch einhergeht mit – je nach Blickwinkel – gesteigerten Chancen zur Überwindung oder zunehmenden Gefahren für die Stabilität des bestehenden politischen Systems? Helmuth Lethen, Literaturwissenschaftler und einstmals Mitglied der maoistischen KPD-AO, hat die These aufgestellt, dass die sektenartigen K-Gruppen der politisch emotional aufgeheizten siebziger Jahre, die auf den „Schlachtfeldern“ der Anti-AKW keineswegs durch Zurückhaltung auffielen, eine gesamtgesellschaftlich betrachtet stabilisierende Rolle gespielt und „dass sie der objektiven Funktion der Staatserhaltung“81 gedient hätten. Revolutionäre Energien, um 1968 herum freigesetzt, seien durch die Apparate der ML-Bewegung absorbiert worden: „Der Apparat war ein selbstdestruktiver Trichter, der Bewegungsenergien im Selbstlauf von Wiederholungen im Inneren verschlang.“82 Anstatt Revolution zu machen, verstrickten sich die K-Gruppen in „symbolische Praktiken“ wie monatelange Demonstrationsplanungen, die gegenseitige Kontrolle der Genossinnen und Genossen, die permanent zu letztlich fruchtlo-

78 …ums Ganze!, Ein Gruß aus der Zukunft. Mitteilung des ...ums Ganze!-Bündnis zum Verlauf der G20-Proteste in Hamburg, URL: https://www.g20hamburg.org/de/content/ein-gruss-ausder-zukunft [eingesehen am 13.03.2020]. 79 Baron, Vom Autonomen zum Postautonomen, S. 72. 80 Ebd., S. 78. 81 Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, Göttingen 2012, S. 18. 82 Ebd.

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ser Aktivität angehalten wurden und stetig Gefahr liefen, des Revisionismus oder sonstigen Abweichlertums überführt, mithin nach zermürbenden Verfahren ausgeschlossen zu werden. Darauf, dass auch die postautonome Organisierung nicht nur neue Kräfte freigesetzt zu haben scheint, sondern ebensolche bindet, deutet jedenfalls das resümierende Urteil eines/er IL-Genossen/in in der Zeitschrift Arranca hin: „Vor Ort in Berlin erweist sich der bereits in den letzten Jahren enorm gestiegene Arbeitsaufwand, der mit der Pflege einer bundesweiten Struktur und der damit korrelierenden Bauchnabelschau einhergeht, schon jetzt eher als Bremse für interventionistische Politik.“83 Ein/e andere/r berichtet in ähnlicher Weise: „Wir waren hauptsächlich damit beschäftigt, Gremien zu besetzen, Bündnistreffen zu besuchen, bei Demonstrationen und Kampagnen zu unterstützen, Projekte anderer Arbeits- und Ortsgruppen abzunicken und eigene Projekte im Plenum zu präsentieren. Soziale Kämpfe wurden zu einer Nebenbeschäftigung.“84 Es liegt zudem nahe, die These zu formulieren, dass längerfristig orientierte radikale politische Organisationen, die auf Mitgliederzuwachs abzielen und Koalitionen mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren oder zumindest eine kontinuierliche, nicht nur die eigene Szene adressierende Öffentlichkeitsarbeit anstreben, wie es die genannten postautonomen Gruppierungen für sich beanspruchen, nicht selten einem Sachzwang der relativen Mäßigung unterliegen. Schließlich stellen sichtbare Strukturen und sich offen bekennende Mitglieder denkbar leichte Ziele für die Strafverfolgungsbehörden dar, sollten sich Anhaltspunkte für das Vorliegen krimineller oder gar terroristischer Vereinigungen bieten. Schwedische Forscher kamen jüngst in einer Studie über gewaltvorbeugende Maßnahmen in der linksradikalen Szene Schwedens85 zu dem Schluss, dass unter anderem Szenegrenzen überschreitende Kooperationen – eine Kernstrategie insbesondere der IL – im sechsjährigen Untersuchungsraum eine Abnahme von politischer Gewalt mit sich gebracht hätten.86

83 DASN: Teil einer Jugendbewegung sein. Das im IL-Zwischenstandspapier avisierte Parteimodell folgt anachronistischen Vorstellungen von linker Organisierung, in: Arranca!, H. 48/2015, URL: https://archive.arranca.org/ausgabe/48/teil-einer-jugendbewegung-sein [eingesehen am 07.07.2019]. 84 Zweiter Mai, Kommt ihr mit in den Alltag? Eine praktische Kritik an der Interventionistischen Linken und ein Mutmacher zum Andersmachen, in: Arranca!, H. 49/2016, URL: https:// archive.arranca.org/ausgabe/49/kommt-ihr-mit-in-den-alltag [eingesehen am 15.07.2019]. 85 Zum autonomen Linksradikalismus in Schweden siehe den Beitrag von Jens Gmeiner in diesem Sammelband. 86 Vgl. Magnus Wennerhag u. Jan Jämte, Brottsförebyggande åtgärder mot radikala vänsterrörelser – effekter och erfarenheter, Myndigheten för samhällsskydd och beredskap, Stockholm 2019. S. 19, URL: https://www.msb.se/RibData/Filer/pdf/28819.pdf [eingesehen am 15.03.2020].

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Abschließend: Mit Blick auf derartige Überlegungen und die bald dreißigjährige Geschichte der Postautonomie scheint es doch eher wenig Anlass zu geben, in den organisatorischen und strategischen Entwicklungen, die das Phänomen kennzeichnen, ein Patentrezept für eine Überwindung der gesellschaftlichen Marginalisierung der radikalen Linken zu erblicken und gesteigerte sicherheitspolitische Herausforderungen zu erwarten.

Autor*innenverzeichnis

Dr. Marcel Bois studierte Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte an den Universitäten Konstanz und Hamburg. Im Jahr 2014 promovierte er an der Technischen Universität Berlin mit einer Arbeit über den Linkskommunismus in der Weimarer Republik. Derzeit bearbeitet er ein Postdoc-Projekt zur Biografie der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. Alexander Deycke studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Göttingen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dr. Barbara Fontanellaz ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Sie ist Direktorin des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung EHB. Ihre Arbeits- und Forschungsthemen liegen im Bereich politischer Extremismus sowie Hochschulentwicklung. Dr. Maximilian Fuhrmann promovierte an der Universität Bremen über die Wirkmächtigkeit des Extremismuskonzepts. Jens Gmeiner studierte Politikwissenschaft und Skandinavistik in Göttingen und Schweden. Er promovierte 2018 mit einer Arbeit über die Wandlungsprozesse der schwedischen Konservativen und ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Peter Imbusch ist Professor für Politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozialstrukturanalyse (Macht und Herrschaft, soziale Ungleichheit) und der Gewalt- und Konfliktforschung (Makro-Gewalt, Terrorismus, Konflikttheorien). Gegenwärtig untersucht er die „Legitimationen politischer Gewalt“. Prof. Dr. Hubert Kleinert ist Professor im Fachgebiet Sozialwissenschaften und Kommunikation an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen. Er war Bundestagsabgeordneter und hessischer Landesvorsitzender der Grünen.

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Autor*innenverzeichnis

Dr. Carsten Koschmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Otto-SuhrInstitut für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Dr. Wolfgang Kraushaar, promovierter Politikwissenschaftler, studierte an der Universität Frankfurt am Main Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik und ist seit 1987 Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Anna Carola König studiert im Master Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Ihr Bachelorstudium absolvierte sie in den Fächern Deutsch und Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim. Sie ist seit 2018 studentische Mitarbeiterin in der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Michael Lühmann studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Leipzig und Göttingen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Prof. Dr. Tom Mannewitz ist Juniorprofessor für Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden an der TU Chemnitz. Anne-Kathrin Meinhardt studierte Politik-Wirtschaft, Französisch und Geografie für das gymnasiale Lehramt in Göttingen, Poitiers (Frankreich) und Rom (Italien). Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Dr. Matthias Micus war von 2017 bis 2019 Leiter der Bundesfachstelle Linke Militanz. Aktuell leitet er die Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Tom Pflicke studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Göttingen. Er ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Bundesfachstelle Linke Militanz am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Philipp Scharf hat in Göttingen Politikwissenschaft studiert. Er war studentische Hilfskraft und ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Autor*innenverzeichnis

Dr. Julian Schenke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen (FoDEx) am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er hat sich promoviert mit einer Arbeit über das politische Potenzial von Studierenden in Geschichte und Gegenwart. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen qualitativer politischer Kulturforschung und Bewegungsforschung.

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