Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung: Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung [1 ed.] 9783428535484, 9783428135486

Auf der Grundlage der phänomenologischen Betrachtung und Methodik stellt Julia Hänni in der vorliegenden Publikation die

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Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung: Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung [1 ed.]
 9783428535484, 9783428135486

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 257

Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung

Von Julia Franziska Hänni

Duncker & Humblot · Berlin

JULIA FRANZISKA HÄNNI

Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung

Schriften zur Rechtstheorie Heft 257

Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung

Von Julia Franziska Hänni

Duncker & Humblot · Berlin

Ausgezeichnet mit dem Walther Hug Preis der Universität St. Gallen (HSG) für die beste juristische Dissertation des akademischen Jahres 2010.

Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13548-6 (Print) ISBN 978-3-428-53548-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83548-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit „Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung“ (Unter­ titel: „Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwendung“) wurde von der Universität St. Gallen (HSG) am 22. März 2010 als Dissertation an­ genommen. Begutachtet wurde die Arbeit durch die Herren Prof. Dr. iur. Lukas Gschwend und Prof. Dr. iur. Walter Ott. Datum der Verteidigung war der 16. De­ zember 2009. Den Walther Hug Preis der Universität St. Gallen für die beste ju­ ristische Dissertation des akademischen Jahres verlieh die HSG am 20. Septem­ ber 2010. In dieser Arbeit wird die scholastische Denktradition mit ihrer Unterscheidung zwischen existentia und essentia wieder aufgenommen und als eine der Grund­ lagen des geltenden Rechts dargestellt. Gestützt auf diese Grundlage und auf die phänomenologische Methode wird eine für die Rechtsanwendung unerlässliche emotionale Kompetenz der Entscheidungsträger entdeckt und anhand von Bei­ spielen in die Rechtsmethodik eingeführt. Als philosophischer Hintergrund die­ nen Grundzüge der phänomenologischen Werttheorie, wie sie von Franz Bren­ tano, Edmund Husserl, Max Scheler und Nicolai Hartmann entwickelt wurde und gegenwärtig weitergeführt wird. Kernelemente der phänomenologischen Wertthe­ orie werden für das Verständnis des heutigen juristischen Kontexts aufgegriffen und aktualisiert. Für das Entstehen dieser Arbeit bin ich verschiedenen Personen zu Dank ver­ pflichtet. In erster Linie meinem Referenten, Herrn Prof. Dr. iur. Lukas Gschwend, der mich für die Grundlagenfächer begeistern konnte und mich stets wohlwollend unterstützt hat. Gleichermaßen gilt mein Dank meinem Korreferenten, Herrn Prof. Dr. iur. Walter Ott, der mich ins rechtsphilosophische Denken eingeführt und mir damit eine neue Welt eröffnet hat. Ihm sei ganz herzlich gedankt für die kritischen Anmerkungen und die wertvollen Diskussionen. Herrn Prof. Dr. iur. Tobias Jaag danke ich für seine stetige wertvolle Unterstüt­ zung während meiner Assistenzzeit an seinem Lehrstuhl, während der ich das wis­ senschaftliche Arbeiten kennenlernen und die vorliegende Arbeit schreiben konnte. Ich danke Herrn Prof. Jaag auch für die Durchsicht von Teilen des Manuskripts. Ebenfalls sehr herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Alois Maria Haas, der mir stets mit wertvollen Ratschlägen zur Seite stand und mir seine Privatbibliothek jederzeit zur Benützung zur Verfügung stellte. Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Frau lic. iur. Daniela Kühne, Herrn Dr. iur. Lorenz Engi, MA, und Herrn lic. iur. Philip Conradin. Für das sorg­

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Vorwort

fältige Korrektorat danke ich Herrn Günther Fässler und Frau Lydia Blüm. Frau Susanne Weiss danke ich für unzählige Hinweise für formale und inhaltliche Ver­ besserungen des Texts. Meinen Eltern und meiner Familie danke ich für die beständige und aufrichtige Unterstützung. Zürich, den 15. Dezember 2010

Julia Franziska Hänni

Inhaltsverzeichnis A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.

Ausgangspunkt und Ziel der Arbeit: Drei zu analysierende Fragen . . . . . . . . . 17

II. Aktualität und Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1. Wertethik und postmodernes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2. Hermeneutisch-phänomenologische Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Zum Wertbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Wert, Wertgehalt und Wertträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Objektive und subjektive Elemente des Wertbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3. Ethische Dimension des Wertbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 IV. Kernaussagen und juristische Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Überblick über die Kernaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Die Objektivität der Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 b) Die Rangordnung von Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 c) Wertgefühl und Werterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Der Rechtsanwender als Entscheidungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Ideengeschichtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I.

Entwicklung der Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Ideale Ausdeutung und Intentionalität bei Lotze und Brentano . . . . . . . . . . . 31 2. Entstehung der phänomenologischen Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Phänomenologische und materiale Wertethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4. Formale Wertethik als Gegenposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

II. Grundlagen des phänomenologischen Denkens bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Idee und idealer Wertgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Beziehungsstruktur Idealität – Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 III. Die Vorgaben der kantischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Ethischer Apriorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

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Inhaltsverzeichnis 2. Der Kategorische Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Das Erfordernis des Methodendualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 IV. Die Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Das Phänomen als Gegenstand objektivierender Wahrnehmung . . . . . . . . . . 42 2. Wahrnehmung und Mitmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Phänomenologische Reduktion der Mitmeinung am Beispiel der juristischen Sachverhaltserfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Epochein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Phänomenologische Wertphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte . . . . . . . . . . . . . . . 50 I.

Das Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Rechtsanwendung im Lückenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5. Normenkollision und Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6. Wertungserfordernisse der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7. Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II. Aufgaben der Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Grenzen der Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Bewertung und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 a) Erfordernis der Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) Wertungen der Allgemeinheit und bestimmter Kreise . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Ethik der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 III. Wertgehalte als objektive Gegebenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Objektivität als Ausgangspunkt der ethischen Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Der Wert als unveränderliche Qualität im Sinne von Scheler und Hartmann 64 3. Der Wert des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4. Der Wert der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5. Grundsatz des ethischen Mindestschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Inhaltsverzeichnis

9

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Die phänomenologisch-axiologische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Allgemeinheit und Typisierung der juristischen Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Der immerfort zu berichtigende Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Vergleich der unabdingbaren Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Sachgerechtigkeit als Beispiel für die erforderliche Objektivierung . . . . . . . 73 4. Normativität und Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 5. Objektivität und Apriorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 6. Die Zwecksetzung durch den Rechtsanwender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 V. Erfordernis der phänomenologischen Objektivität im Recht . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Der Bezug auf die objektive Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Einheitliches Handeln als Erfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Objektivität und Einzelfallgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Fazit: Phänomenologische Objektivität im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 D. Werterelation und Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 I.

Werterangfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

II. Präferenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Bei Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Bei Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Werthöhe und Wertstärke am Beispiel von Freiheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Antinomische Wertgegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Wertekonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Paradoxie der Entscheidungsnotwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 V. Zur Inkommensurabilität von Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Analoge Formen des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Der Begriff der Inkommensurabilität als denkerische Tradition . . . . . . . . . . 93 3. Moderne Wissenschaftstheorie: Bruchstellen zur Inkommensurabilität . . . . 95 VI. Inkommensurabilität der Rechtswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Konkurrierende Orientierungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Inkommensurable Formen des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 VII. Inkommensurabilität und Wertungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

10

Inhaltsverzeichnis 1. Autonomie von Wertentscheidungen durch problemorientiertes Denken . . . 102 2. Entscheidungsvermögen trotz Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Fazit: Werterangfolgen und die juristische Entscheidungskompetenz . . . . . . 105

E. Das emotionale Autonomieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 I.

Grundlegung des emotionalen Erkenntnisvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen . . . . . . . 107 1. Überwindung der althergebrachten Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit 107 2. Das Emotionale als primäre Erkenntnisgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 a) „Ordre du cœur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Emotionale Akte als Grundlage für Verstandesleistungen . . . . . . . . . . . . 111 3. Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Intentionalität des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Zweifache Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Die Analogie zwischen urteilenden und emotionalen Akten . . . . . . . . . . 116 d) Innere Wahrnehmung als Basis der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Übertragung der emotionalen Kategorien auf die Wertlehre . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Intentionales Fühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Unmittelbar wertender Wahrnehmungsvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Vorziehen und Nachsetzen, Lieben und Hassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Exkurs: Drei Akte des Fühlens bei Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Die kognitive Funktion des intentionalen Fühlens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Leitfunktion und Unterscheidungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Das zweistufige Konzept der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 IV. Phänomenologie des Rechtsgefühls und die Rechtsintuition . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Ausgangspunkt und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Vorwertung als Wertmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Bloßes Abstützen auf die herrschende Sozialmoral und auf Präjudizien? . . . 129 V. Prägung von Entscheiden durch gefühlsgeleitete Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Das Richtigkeitskriterium der Eigenwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Entscheid und Entscheiddarstellung (Begründung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Schranken des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4. Orientierung an der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Inhaltsverzeichnis

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5. Neues Entscheidverständnis: Hermeneutische Kategorien der Rechtsintuition im Begründungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Axiologisches Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Das Element der freien Entscheidbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 6. Fazit: Rechtsgefühl und Rechtsintuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 I.

Wertsubjektivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Wertnihilismus der Uppsala-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Lokalisierung und Temporalisierung als Voraussetzung für Wirklichkeit 138 b) Schulung in Gefühlsaskese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Wertsubjektivismus im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Problematik der Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Verschiedene Bereiche der Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Unerlässlichkeit normativer Elemente auf der faktischen Ebene . . . . . . . 142

II. Der Emotivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 III. Warum keine diskurstheoretische Begründung der Normativität? . . . . . . . . . . . 145 IV. Die Biologie der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Der „emotionale Erfahrungsspeicher“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Erfahrungswissenschaft und kulturelle Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 V. Einwände der Erkenntnislehre und die empirische Unbeweisbarkeit „objektiver Werte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 VI. Die Wandelbarkeit des Wertbewusstseins und die Wertevielfalt unterschiedlicher moralischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Beschränktheit des Wertblicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Daseinsrelativität und Werttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 VII. Der unvermeidliche Bezug zum Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 VIII. Wertantinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Ablesbarkeit und doppelte Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Horizontales und vertikales Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Teleologische Richtigkeitsintention als Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 IX. Auseinandersetzung mit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Zum Formalismusvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

12

Inhaltsverzeichnis 2. Vernunft und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Sollensethik und Einsichtsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

G. Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 H. Kurzfassung und Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I.

Drei Fragen als Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

II. Ergebnisse und Antworten nach Kapiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Kapitel A.: Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung . . . . . 170 2. Kapitel B.: Ideengeschichtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Kapitel C.: Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte . . . 171 4. Kapitel D.: Werterelation und Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5. Kapitel E.: Das emotionale Autonomieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6. Kapitel F.: Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant . . . . . . . 174 7. Kapitel G.: Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

Abkürzungsverzeichnis Institutionen, Entscheidungen etc., übrige Abkürzungen ABl. Abs. a.D. a. M. App. no ARSP Art. Aufl. Bd. Bde. BGB BGE BGH BGHZ BGr. BvB BVerfG BVGE BvR bzw. ders. d. i. dies. Diss. ed. EGMR/ECtHR Einl. EKAH EMRK Erw. etc. et seq. EU EuGH

Amtsblatt der Europäischen Union Absatz an der Donau am Main/anderer Meinung Application number Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage Band Bände Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof (Deutschland) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Schweizerisches Bundesgericht Feststellung der Verfassungswidrigkeit bei Parteien (nach Art.  21 Abs. 2 GG; Deutschland) Bundesverfassungsgericht (Deutschland) Entscheidungen des Schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerden (nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, 4b GG; Deutsch­ land) beziehungsweise derselbe das ist dieselben Dissertation editor Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/European Court of Human Rights Einleitung Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausser­ humanbereich Europäische Menschenrechtskonvention/Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Erwägung et cetera et sequentes Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

14 EuGRZ EuZW f. ff. Fn. FS H. Hrsg. hrsg. v. i.c. insb. Kap. lit. LS N. Nr. p. pp. Pra RGZ Rn. Rs. Rz. S. Slg. sog. sogl. SR u. a. übers. UNO usw. v. vgl. vol. Vorr. VPB vs. Z. ZBl. ZfRV zit. ZR

Abkürzungsverzeichnis Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgende fortfolgende Fußnote Festschrift Hauptstück Herausgeber herausgegeben von in casu insbesondere Kapitel litera Loseblattsammlung Note Nummer page pages Praxis des Familienrechts (Schweiz) Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Rechtssache Randziffer Seite Sammlung sogenannt sogleich Systematische Sammlung des Bundesrechts und anderer/und andere übersetzt United Nations Organization und so weiter von vergleiche volume Vorrede Verwaltungspraxis der Bundesbehörden 1987–2006 versus Zeile Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung zitiert Zivilrecht

Abkürzungsverzeichnis

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Rechtsquellen AuG BGG BV EMRK

EUV GG IPRG LSVO OR

PartG StGB UNO-Pakt II VwVfG VwVG ZGB

Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16.  De­ zember 2005 (SR 142.20) Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesge­ richtsgesetz; SR 173.110) Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101) Europäische Menschenrechtskonvention/Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.  November 1950 (SR 0.101) Vertrag über die Europäische Union vom 13.  Dezember 2007; ABl. EU 2010 Nr. C 83, S. 13 ff. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht vom 18. Dezember 1987 (SR 291) Lärmschutzverordnung vom 15. Dezember 1986 (SR 814.41) Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilge­ setzbuches vom 30. März 1911 (Fünfter Teil: Obligationenrecht; SR 220) Bundesgesetz vom 18. Juli 2004 über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (Partnerschaftsgesetz; SR 211.231) Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 (SR 0.103.2) Verwaltungsverfahrensgesetz (Deutschland) vom 25. Mai 1976 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfah­ ren (Verwaltungsverfahrensgesetz; SR 172.021) Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210)

A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung I. Ausgangspunkt und Ziel der Arbeit: Drei zu analysierende Fragen In der Rechtsphilosophie gilt es als überholt, von Platonismus und von Phänome­ nologie zu sprechen bzw. sie sogar als Grundlagen des geltenden Rechts zu betrach­ ten. Es ist Ziel dieser Arbeit, zu untersuchen, ob dieser Ausschluss auf einem Vorurteil beruht, und umgekehrt, ob es relevante phänomenologisch-platonische Strukturen des Rechts gibt, auf die wir regelmäßig – bewusst oder unbewusst – zurückgreifen. Phänomenologie bedeutet vom Wortsinn her „Lehre von den Erscheinungen“. Er­ scheinungen konstituieren sich nicht allein durch die Leistungen der Sinne. Denn vom Bewusstsein erfasst werden auch qualitative Merkmale (etwas erscheint als „wichtig“ oder als „wertvoll“). Erscheinungen im phänomenologischen Sinne sind demnach sämtliche Wahrnehmungsobjekte, die in unserem Bewusstsein zur Erscheinung kom­ men. Ein wahrgenommenes Objekt vermittelt uns über die wahrgenommene Qualität Freude, Sinn, Staunen etc. Unsere Wahrnehmung ist so durch verschiedene Formen des emotionalen Angesprochenseins an das Wahrgenommene bereits gebunden. Für die qualitativen Merkmale der wahrgenommenen Objekte verwenden wir den Hilfsbegriff des „Wertes“. Dieser Begriff ist vom Menschen geschaffen, er soll als Sammelbegriff herangezogen werden für etwas, was wir nicht genau darstel­ len können: nämlich für all das, was sich der Wahrnehmung qualitativ anbietet; ein qualitatives Merkmal wird „erfahren“ als eine der Außenwelt zugehörende Quali­ tät1. Diese Eigenart der Wahrnehmung wird phänomenologisch als „gegenständ­ lich“ (oder „objektiv“) umschrieben2. Mit dieser Begrifflichkeit soll der Erfahrnis­ charakter der Qualitätswahrnehmung hervorgehoben werden. Als philosophischer Hintergrund der Betrachtung der gegenständlich-objektiv wahrgenommenen Qualitätsphänomene ist die phänomenologische Wertethik he­ ranzuziehen, die von Max Scheler3 und Nicolai Hartmann4 in ihren Grundlagen 1 Zum Beispiel wird einem Kunstwerk eine ästhetische Qualität, einer Rede eine intellektu­ elle Qualität zuerkannt. 2 Dazu hinten, S. 22 ff. 3 Max Scheler (1874–1928) entwickelt eine stark phänomenologisch geprägte mate­ riale Wertethik; Hauptwerk: „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“, 1913/1916 erschienen. 4 Nicolai Hartmann (1882–1950). Seine „Ethik“, erschienen 1926, gilt als zweites Haupt­ werk zur materialen Wertethik.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

entwickelt wurde. Sie ist die originellste objektive Werttheorie5 und kommt der bewusstseinsphänomenologischen Darstellung der Grundlagen des Rechts am nächsten. Drei noch darzulegende Kernaussagen der phänomenologischen Wert­ ethik6 sollen daraufhin überprüft werden, ob sie die Wertungsgrundlagen des Rechts darstellen können. Hierzu stellen sich drei zentrale Fragen, die analysiert werden sollen: (1) Gibt es phänomenologisch-objektive Strukturen im Recht, auf die wir regelmä­ ßig zurückgreifen, obschon ihre Darstellung in der Rechtsphilosophie als über­ holt gilt? Inwieweit sind dies „objektive Werte“? (2) Wie verhalten wir uns in der Rechtsfindung bei Konflikten innerhalb objektiver Strukturen? Relativiert ein Konfliktfall prinzipiell objektive Strukturen? Rela­ tivieren objektive Strukturen im Recht die Autonomie einer juristischen Ent­ scheidung? (3) Ist es auch überholt, das von der phänomenologischen Wertethik postulierte intuitiv-emotionale Erkenntnisvermögen als eine Grundlage juristischer Wertent­ scheidungen in Betracht zu ziehen? Sind juristische Entscheidungen vielmehr ausschließlich rational? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen setzt das Verständnis der phänome­ nologischen Methodik voraus. Darzustellen sind daher vorab Eigenheiten der phä­ nomenologischen Denkweise, ihre Einbettung in den postmodernen Kontext sowie die Notwendigkeit und Aktualität der phänomenologischen Betrachtungsweise.

II. Aktualität und Betrachtungsweise 1. Wertethik und postmodernes Recht

Die Selbstverständlichkeit, mit der unsere Gegenwart als das Zeitalter der Post­ moderne bezeichnet wird, eröffnet zunächst eine Vielheit von Wertverhalten7. Die postmoderne Kombination von Stilelementen führt zur Abkehr vom Funktiona­ lismus, hin zu einer Fülle von Lebensformen und zu einer Pluralität von Werten. Als Basis dient eine Vielheit der Erlebnis- und Erfahrungsperspektiven, eine em­ pirische Meinungs- und Wertevielheit, die geprägt ist von einem postmodernen, „nachgeschichtlichen“ Bewusstsein8.



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Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 136. Hinten, S. 25 ff. 7 Coriando, S. 1. Unter Wertverhalten sind Wert- und Entscheidungskonstellationen zu ver­ stehen; der Begriff wird in der Axiologie analog zum Begriff des Sachverhaltes verwendet. Zum Begriff Axiologie hinten, Fn. 13. 8 Regenbogen/Meyer, S. 510 f.

II. Aktualität und Betrachtungsweise

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Gleichwohl bedeutet die Bezeichnung „nachgeschichtlich“ keine Abkoppelung von der überlieferten Denktradition, denn postmodernes Denken zeichnet sich aus durch einen Stil, der auf vorhandene Elemente zurückgreift und diese in neue Ver­ bindungen einbringt9 – postmodernes Denken kann insofern auch denkerische Ele­ mente der Metaphysik nicht ausschließen10. Auch im postmodernen Denken sind identitätsstiftende Elemente aufzudecken, aus denen eine Einheit hervorgeht, deren Gehalt jedoch nicht die Selbstortung, sondern die phänomenologische Gegebenheit ist11. Hinter der Pluralität von An­ sichten und Wertungen mit oftmals sehr unterschiedlichen Erfahrungsgrundlagen hält als Einheitsphänomen eine doch bestehende identitätsstiftende Kompetenz der Wahrnehmung hinsichtlich axiologischer Gehalte zusammen, auf die in den nach­ folgenden Ausführungen ein besonderes Augenmerk gerichtet wird. Denn anhand von Wertekonstellationen zeigt sich eine Aktualität von Wahr­ nehmungskompetenzen, wie sie sich etwa im Phänomen des Gewissens offenbart, aber auch in Gesinnung, Wille, Handlung, Absicht, Vorsatz und Zweck. Durch diese Phänomene ist auch das Recht in die Aktualität der Wahrnehmung einbezo­ gen und damit – notwendigerweise – wertbestimmt12. 2. Hermeneutisch-phänomenologische Rechtsphilosophie

Die phänomenologische Wertethik ist sowohl sachlich als auch methodologisch als hermeneutische Phänomenologie zu verstehen. Sie hat zum wesentlichen Ziel, die primäre Grundkonstitution der emotionalen Affinität zu Wertverhalten darzu­ stellen und damit die axiologische Prägung einiger grundlegender menschlicher Handlungsweisen aufzuzeigen13. Vor dem Hintergrund der hermeneutischen Phänomenologie soll analysiert wer­ den, was unter Wert, Wertgehalt und Wertungskompetenz verstanden werden kann und wie diese Begriffe weiter auszudifferenzieren sind, um eine wertphänomeno­ logische Analyse des Rechts darstellen zu können. Untersucht werden soll, in wel­ cher Weise sich eine Werteaffinität auch im juristischen Handeln als bestimmend zeigen kann. Entsprechend beziehen sich die hier zu analysierenden Leitfragen auf die juristische Wertungskompetenz. Die Wertethik versucht, die alltäglichen Phänomene des Wertes und der Wertung zu ergründen; vor diesem philosophischen Hintergrund sollen die in der Jurispru­

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10

Regenbogen/Meyer, S. 511. Coriando, S. 1. 11 Vgl. Coriando, S. 3 f.; Vendrell Ferran, S. 77; hinten, S. 69 ff., 124 ff. 12 Vgl. Hartmann, Ethik, S. 164 f. 13 Axiologie ist die Lehre von den ethischen Werten; „axiologisch“ bedeutet: bezogen auf die Lehre von ethischen Werten. Der Begriff wird synonym zu „wertphilosophisch“ und „wert­ ethisch“ verwendet.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

denz erforderlichen Wertungen phänomenologisch beleuchtet werden. Das so he­ ranzuziehende Denken der hermeneutisch-phänomenologischen Wertphilosophie ist einem Verständnis verpflichtet, das der Rechtsphilosophie nicht die Funktion registrierender Aufzählung kontingenter Erfahrungs- oder Regelungsbereiche zu­ schreibt, sondern es als ihre primäre Aufgabe ansieht, durch die faktische Vielheit hindurch ethisch relevante Einheitsphänomene sichtbar zu machen14. Diese sol­ len primär anhand von Wahrnehmungsgegebenheiten analysiert werden. Die Ein­ heitsphänomene sind sowohl in Auseinandersetzung mit der Metaphysik Schelers und Hartmanns als auch mit Bezug auf die Faktizität des Rechts zu untersuchen. Die Beschreibung des Phänomens „Wert“ vor dem Hintergrund der hermeneu­ tisch-phänomenologischen Philosophie verlangt ein entsprechendes Verständnis der Vieldeutigkeit des Sprachgebrauchs. Eine Doppeldeutigkeit des Wertbegriffs kann sich beispielsweise ergeben aus der Beziehung der Sprache zu überlieferten Wertvorstellungen und gleichermaßen dadurch, dass die Sprache die Verschieden­ heit des Überlieferten überwinden und vergegenwärtigen kann. So bietet sie eine Grundlage für die phänomenologische Annäherung an Objektivität, die Partikula­ rismen in sich vereinigend einzubeziehen vermag. Gerade die Hermeneutik kann so eine Aktualität der phänomenologisch-platonischen Ansätze aufzeigen15. Denn die Sprache wird sich der wahrgenommenen Wirklichkeit in der Pluralität ihres Bedeutungsgeschehens nähern können, ohne in einen unüberwindbaren Partiku­ larismus zu verfallen. Freigelegt werden soll durch die phänomenologische Wert­ philosophie der Bezug zwischen faktischer Verschiedenheit und der vereinigenden Kraft von Wahrnehmung und Denken16.

III. Zum Wertbegriff 1. Wert, Wertgehalt und Wertträger

Zunächst ist zu untersuchen, auf welche Begriffsbestimmung von „Wert“ sich die hermeneutisch-phänomenologische Philosophie stützen kann. Ausgangspunkt der phänomenologischen Untersuchung ist die Wahrnehmungsgegebenheit, nicht etwa eine abstrakte Begriffsbestimmung des Wertes. Der Wertbegriff soll ent­ sprechend der ihm als Phänomen zukommenden Allgemeingültigkeit hergeleitet werden17. Einige grundlegende Aspekte des Wertbegriffs sind jedoch  – zur Ver­ ständlichkeit und mit Bezugnahme auf die Terminologie Schelers – vorweg kurz anzuführen.

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15

Husserl, Hua, Bd. 2, S. 24, Z. 12 ff.; Coriando, S. 2. Alwart, S. 39 f. 16 Vgl. Coriando, S. 2. 17 Werte werden von der materialen Wertethik nicht aus einer Definition heraus, sondern als Phänomen der Wahrnehmung betrachtet. Entsprechend soll der Inhalt der Werte phänomenolo­ gisch, auf die Wahrnehmung bezogen, dargestellt werden.

III. Zum Wertbegriff

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In der Bestimmung des Wertbegriffs bei Scheler wird Bezug genommen auf axiologische Hilfsbegriffe, insbesondere auf die Unterscheidung zwischen „Wert“, „Gut“ und „Ding“. Das „Ding“ wird beschrieben als natürlicher (empirischer) Ge­ genstand der Wahrnehmung18. Dieser Gegenstand kann Wertqualitäten enthalten; Scheler bezeichnet den empirischen Gegenstand daher auch als Wertträger19. Die Einheit des Wertträgers mit einer qualitativen Wertigkeit wird als „Gut“ be­ zeichnet20. Ein Gut in diesem Sinne ist auch ein Rechtsgut. Es setzt sich zusam­ men aus einem Gegenstand der Erfahrung und der ihm zugehörigen Wertqualität, zu der wir eine Affinität besitzen21. So verbindet Scheler schließlich die Begriffe „Gut“ und „Wert“, um die für ihn charakteristische Erscheinungsweise von Werten darzustellen: „[…] in den Gütern werden Werte ‚wirklich‘. Im Gute […] ist […] der Wert objektiv […] und wirklich zugleich“22. Scheler unterscheidet demnach zwischen Wertgehalt und dessen empirischer Erscheinung, in seinen Worten zwischen Wertqualität und Wertträger23. Mit Be­ zug auf die Begriffsbestimmung bedeutet dies, dass als „Werte“ im Sinne der ma­ terialen Wertethiker primär Wertqualitäten bzw. Wertgehalte zu verstehen sind24. Hieraus lässt sich folgern, dass auch (Rechts-)Güter aus der Sicht der Phänome­ nologen keineswegs als ideelle Werte zu bezeichnen sind; (Rechts-)Güter sind für sie gerade etwas Reales (Wertträger), worin der Wert als Qualität wirklich wird25. Inwieweit ist es sinnvoll, von dieser Unterscheidung zwischen Wertqualität und Wertträger auszugehen? Die Unterscheidung ist für die Darstellung des Wertbe­ griffs angemessen, weil sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften des empirischen Wertträgers auf eine andere Art erfahren werden als die Werte; die Eigenschaften

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19

Scheler, Formalismus, S. 42 f. Man kann das Erfordernis des Wertträgers mit folgendem Beispiel verdeutlichen: Ein Ge­ danke ist für andere an sich nicht zugänglich. Um ihn weiterzugeben, bedarf es eines materiel­ len Trägers: Im Kehlkopf müssen Luftschwingungen erzeugt werden, die für andere als Laute wahrnehmbar sind. Dasselbe gilt für einen Schriftsteller, der seine Gedanken verbreiten will: Erst mit der Niederschrift der Gedanken in einem Buch als materiellem Träger ist ihm dies möglich. Ein Träger im Sinne Schelers kann jede empirische Seinskonstellation sein wie zum Beispiel Handlung, Objekt etc. 20 Scheler beschreibt den Wert als am Träger „haftend“; zum Beispiel Scheler, Formalismus, S. 47 f. Gemeint ist ein Durchdrungensein des Trägers von einer bestimmten qualitativen Wer­ tigkeit; Scheler, Formalismus, S. 44; Henckmann, Scheler, S. 104. 21 Dies ist eine Begriffsbestimmung des Rechtsgutes aus axiologischer Sicht. Aus juristi­ scher Sicht ist das Rechtsgut zu definieren als Schutzgut einer Norm. 22 Scheler, Formalismus, S. 43 f. 23 Diese Unterscheidung geht letztlich zurück auf die Erkenntnis, dass sich Wahrnehmungs­ verläufe nach den Erkenntnisgegenständen richten, wie dies in der Ethik Kants, insbesondere aber auch in der Bewusstseinspsychologie Franz Brentanos zum Ausdruck kommt; hinten, S. 31 ff., 112 ff.; vgl. auch Hartmann, Ethik, S. 122. 24 Hinten, S. 22 ff. 25 Scheler, Formalismus, S. 45; vgl. auch Augsberg, S. 61.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

des Trägers können sich ändern, ohne dass sich notwendigerweise die Wertqua­ lität ebenfalls verändern müsste26. Dies zeigt sich darin, dass Wertqualitäten bei sehr unterschiedlichen Eigenschaften des Trägers durch verschiedene Personen in einheitlicher Weise wahrgenommen werden können: Die Wertqualität des Schö­ nen findet die eine Person in einem Kunstwerk als Wertträger, eine andere in einer Landschaft. Die Wertqualität „schön“ steht als Einheitsphänomen der Wahrneh­ mung für sehr unterschiedliche Erlebnisstrukturen27. Dieses Einheitsphänomen der Wahrnehmung impliziert denn auch den zweifa­ chen Ansatzpunkt einer begrifflichen Annäherung an das Phänomen des Wertes der materialen Wertethiker: „Wert“ im Sinne der materialen Wertethiker ist grund­ sätzlich ein Gehalt, eine Eigenschaft am „Ding“, die Scheler aber gleichermaßen erkenntnistheoretisch definiert: als eine Qualität, durch welche „der Gegenstand unser Wertgefühl anspricht“28. Werte sind demnach für Scheler „unreduzierbare Grundphänomene der fühlenden Anschauung“29. 2. Objektive und subjektive Elemente des Wertbegriffs

Die von Scheler beschriebene fühlende Anschauung, das ursprüngliche Wertge­ fühl, ist ein gegenständliches Bewusstsein in dem Sinne, als es Werte als materiale Qualitäten intendiert. Es ist ein Billigen, Bejahen, Vorziehen oder Ablehnen. Das ursprüngliche Wertgefühl nimmt damit Wertqualitäten als intentionale (zu in­ tendierende) Gegenstände wahr30. Insofern impliziert ein subjektives Element der Wahrnehmung – die fühlende Anschauung – einen intendierten Gegenstand als et­ was „Objektives“, als eine allgemeine (Wert-)Qualität31. Aus phänomenologischer Sicht werden Wertqualitäten genau in diesem Sinne „objektiv“ (gegenständlich) als Einheitsphänomene wahrgenommen; sie haben

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Henckmann, Scheler, S. 104. Für weitere Beispiele siehe sogl. hinten. Die Wertqualität „schön“ wird insofern als objektiv bezeichnet, als sie sich für verschie­ dene Erlebnisstrukturen als intendierte Qualität erweist, die einen (Wieder-)Erkennungscharak­ ter hat; siehe dazu sogl. hinten. 28 Vgl. auch Hessen, S. 25. Hessen selbst definiert den Wertbegriff nicht. Zur Problematik dazu Matz, S. 81. 29 Scheler, Formalismus, S. 270. Mit diesem zweifachen Ansatz der Definition ist zugleich das wichtigste Grundgesetz der Phänomenologie vollzogen: Der Grundsatz der „synthetischen Einheit von noesis und noema“; Husserl, Hua, Bd. 3, Unterbd. 1, S. 213, das heißt das stets gleichzeitige Auftreten von Akten der Wahrnehmungsintention und des Wahrnehmungsgegenstands; dazu hinten, S. 74 ff. 30� Der Begriff des Gegenstandes (bzw. gegenständlich) ist phänomenologisch sehr weit zu verstehen; er umfasst alle denkbaren Wahrnehmungsobjekte. Zum Intentionalitätsbegriff hin­ ten, S. 31 ff., 112 ff. 31 Daraus ergibt sich die Implikation einer materialen Wertbetrachtung: Erst wenn Werte Ge­ gebenheiten sind, sind sie aus Sicht der materialen Wertethik etwas prinzipiell Realisierbares. Denn realisieren lassen sich nur positive Inhalte, nie aber inhaltsleere Formen und Abstraktio­ nen; vgl. Hartmann, Ethik, S. 118 f.

III. Zum Wertbegriff

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„Widerfahrnischarakter“32. Im juristischen Kontext entspricht dieser Erfahrung, dass Werte in der Form von Grundwerten oder höchsten Werten einer Rechtsord­ nung bei der Auslegung des Rechts intendiert werden und so einen allgemeinen Anspruch auf Berücksichtigung erheben. Zu diesem expliziten Anspruch tritt ein meist impliziter auf Selbstverständlich­ keit, der bedeutet, dass Wertqualitäten bereits in präreflexiver Wahrnehmung er­ schlossen werden und daher Teil einer ursprünglichen, intuitiven Wahrnehmung sind. Wertqualitäten können sich daher bereits bei der Sachverhaltserfassung als für den Rechtsanwender bestimmend erweisen33. Die subjektive Wahrnehmung intendiert nach diesem Verständnis zwar einen Gegenstand34 und, wenn es sich dabei um eine Wertqualität handelt, auch ein Rich­ tigkeitskriterium35. Dennoch ist damit noch nicht gesagt, inwieweit die Wahrneh­ mung selbst ihre Intention überschauen und den Gegenstand überhaupt erfassen kann. Der Begriff der Wertqualität ist daher insbesondere gegenüber dem subjek­ tiven Element der Bewertung (bzw. Wertung) klar abzugrenzen36. Die Bewertung benennt die vom Betrachter hergestellte Beziehung zwischen einem Objekt, das heißt dem intendierten Gegenstand, und einem vom Betrachter selbst herangezogenen Maßstab37. Die Bewertung selbst verändert weder das (Rechts-)Gut noch die Wertqualität, doch erachtet sie beispielsweise Rechtsgüter im Vergleich als höher- oder gerin­ gerwertig. Sie ist insofern die Stellungnahme zu einem Gut bzw. Rechtsgut. Die Bewertung (Wertung) ist damit auch klar zu unterscheiden von einem „objektiven Wert“ im Sinne einer Wertqualität; die Bewertung ist aus der Sicht der phänome­ nologischen Wertethik relativ, auf Person, Zeit und Umstände bezogen38. Die Wert­ qualität als Intention der Bewertung gilt dagegen als absolut oder „objektiv“39. Der Unterschied von (objektiver) Wertqualität und (subjektivem) Bewertungs­ maßstab kann anhand eines Beispiels veranschaulicht werden: Wird der Grundsatz der Fairness in der Verfassung statuiert, so gilt dieses Ziel absolut („objektiv“).

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Bzw. (Wieder-)Erkennungscharakter; Steinfath, S. 206. Vgl. Werner, S.  132. Diese präreflexiven Strebungen können gleichwohl volitiv sein; Steinfath, S. 207; hinten, S. 106 ff. 34 Eine Qualität wird intendiert als Gegenstand der Wahrnehmung; vgl. vorne, Fn. 30. 35 Dazu sogl. hinten, S. 24 ff. 36 Gleichermaßen ist der Begriff der subjektiven Wahrnehmung ein objektivierender, verge­ genständlichender Wahrnehmungsbezug; vgl. vorne, S. 22 ff.; hinten, S. 69 ff. 37 Entsprechend dieser Unterscheidung gibt es in der Geschichte der Philosophie Positio­ nen, welche den Wert ausschließlich als subjektive Bewertung verstehen; Werner, S. 146 ff. Die Position, die besagt, dass der Wert kein intendierter Gegenstand, sondern nur die Bezugsetzung des Bewertenden sei, wird als Wertsubjektivismus bezeichnet; vgl. dazu hinten, S. 138 ff. 38 Das Wesentliche an der Theorie der materialen Wertethik ist demnach, dass zu den subjek­ tiven Dimensionen der Bewertung eine objektive hinzukommt und dargestellt wird; subjektive Wertungen sind aus ihrer Sicht nicht die Letztbegründung der Orientierung an Werten. 39 Dazu das Beispiel sogl. hinten.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

Der Maßstab hingegen, nach welchem die Gerichte diesen verfassungsrechtlichen Grundsatz als gewahrt oder aber verletzt ansehen, ist in der Praxis von Fall zu Fall, das heißt nach subjektiven Gesichtspunkten, herauszubilden. Diese Bewertungs­ kriterien werden immer nur eine (relative) Annäherung an den Verfassungsgrund­ satz oder das intendierte Gerechtigkeitspostulat sein. Eine Schwierigkeit der axiologischen Begriffsbildung besteht nun darin, dass Wertqualität und Bewertung in der Wahrnehmung stets zeitgleich auftreten. Es scheint ein Charakteristikum des Wertbegriffs zu sein, dass er sowohl subjektiv-re­ lative als auch objektiv-normative Dimensionen in sich vereinen muss40. Die phä­ nomenologische Wertethik versucht, diese Doppelstruktur des Wertes, in der Kon­ flikte angelegt sind, zu erklären, indem sie die Charakteristik der Wertqualität im Sinne eines einigenden Phänomens der Wahrnehmung als „objektiven Wert“ dar­ stellt41. Der „objektive Wert“ ist damit der Einheitspol aller ihn intendierenden Be­ wusstseinsinhalte, die durch Rechtsanwender gesetzt werden. 3. Ethische Dimension des Wertbegriffs

Wird von den phänomenologischen Wertethikern der Begriff „objektiver Wert“ bzw. „objektiver Wertgehalt“ verwendet, so impliziert dies Inhalte mit weiter ge­ hender Bedeutung als „intersubjektiv geteilte Präferenzen“42 oder typische Nei­ gungen. Solche Werte beinhalten auch eine normative Dimension, einen unbeding­ ten Anspruch auf ethische Verbindlichkeit43. Diese normative Objektivität beinhaltet jedoch eine Besonderheit hinsichtlich ihrer Durchsetzbarkeit: Ein „objektiver Wert“ (eine materiale Wertqualität) ent­ spricht aus der Sicht der Phänomenologen einer normativen Dimension und kann auf der Ebene der Faktizität niemals adäquat dargestellt oder gar direkt, für die konkreten Fälle, in das positive Recht integriert werden44. Die normative Wert­

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Werner, S. 131. Als „objektiver Wert“ gelten demnach in der Verfassung enthaltene Grundprinzipien, im Beispiel vorne, S. 23 das Prinzip der Fairness. Die Konflikte zwischen Wertqualität und Wer­ tung sind aus der Sicht der materialen Wertethik keine Schwäche der axiologischen Begriffsbe­ stimmung, sondern entsprechen einem Wahrnehmungsprodukt, das – wie zu zeigen sein wird – seinerseits Differenzierung ist und zur Einzelfallentscheidung regelmäßig (mit) herangezogen wird; vgl. hinten, S.  102 ff. Was von der materialen Wertethik als Wertqualität beschrieben wird, ist weder Wertung noch Nützlichkeitsüberlegung, sondern wird durch eine Vielzahl von Handlungen angestrebt. 42 Darauf stellt etwa Habermas in seiner Diskurstheorie ab; vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 331. Allgemeingültige Definitionen von Gütern als Wert entsprechen einer verall­ gemeinernden Stellungnahme von menschlichen Bewertungen und sind daher nicht gleichzu­ setzen mit Wertqualitäten im objektivistischen Sinne. 43 Vgl. Werner, S. 132. 44 Die Positivierung dieser Werte würde aus der Sicht der materialen Wertethiker zu einer starren Dogmatisierung, zu einer „Tyrannei der Werte“ führen; dazu hinten, S.  101. Mit der

IV. Kernaussagen und juristische Fragestellung

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qualität ist hinsichtlich der faktischen Ebene inkommensurabel45 und daher für die Falllösung niemals direkt ableitbar46; vielmehr erfordert sie ihre Bestimmung durch den Rechtsanwender. Die Umsetzung der Wertqualität von der normativen auf die faktische Ebene verlangt vom Rechtsanwender, Entscheidungen zu treffen, mit welcher Gewich­ tung die normativen Gebote auf der Ebene der Faktizität anzuwenden sind47.

IV. Kernaussagen und juristische Fragestellung 1. Überblick über die Kernaussagen

a) Die Objektivität der Werte Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zum Wertbegriff sollen die Kernaussagen der phänomenologischen Wertethik in kurzer Form festgehalten werden. Sie betreffen (a) die Objektivität und (b) die Rangordnung der Werte so­ wie (c) die Werterkenntnis und werden mit Blick auf die Rechtswirklichkeit in den folgenden Kapiteln vertieft48. Eine erste Kernaussage der materialen Wertethik betrifft die bereits themati­ sierte Objektivität der Werte. Phänomenologisch stellt sich Objektivität im Sinne der gegenständlichen Intendierbarkeit als Einheitsphänomen für das Bewusstsein dar49. Gegenständlichkeit ist so keinesfalls als sinnenfällige Gegebenheit zu verste­ hen. Werte werden vielmehr durch einen fühlbaren Gehalt, den „Wertgehalt“ oder die „Wertmaterie“, bestimmt50. Wertgehalte werden wahrgenommen mit Bezug auf Handlungskonstellationen und Entscheidungssituationen, leiten sich aus phäno­ menologischer Sicht aber nicht von diesen ab51. Werte bzw. Wertgehalte sind aus Sicht der materialen Wertethiker vielmehr be­ reits im Wahrnehmungsvollzug gegebene qualitative Urphänomene und Differen­ Analyse der Objektivität soll auf etwas Normatives verwiesen werden, ohne dass dies bis ins Letzte konkretisiert wird, das aber de facto zur Achtung verpflichtend wirkt; dazu hinten, S. 69 ff.; vgl. auch das Beispiel vorne, S. 23 f. 45 Vgl. bereits Platon, Menon, 81c; und hinten, S. 92 ff. 46 Vgl. auch Böckli, S. 21. 47 Wo immer ein ethisches Phänomen hervortritt, ist „Urdualität“, ein polares Spannungsver­ hältnis zwischen normativer und faktischer Ebene, vorhanden; Greiner, S. 3. 48 Siehe Kap. C.–E. 49 „Gegenständlich“ bezieht sich auf die Charakteristik eines Wahrnehmungsobjektes; vorne, S. 22 ff. 50 Scheler, Formalismus, S. 41, 249. 51 Scheler, Formalismus, S. 64; Hartmann, Ethik, S. 151. Gleichermaßen werden auch die Rechtswerte in der konkreten Anwendung des Rechts nicht durch die Entscheidungssituation erzeugt, sondern gehören bereits zu einem Rechtssystem; dazu auch hinten, S. 69 ff.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

zierungskriterien, ohne dass deren konkreter Gehalt abstrakt bestimmt würde52. Im Verhältnis zur konkreten Erfahrung zeigen sich Wertverhalte für die Phänomeno­ logen als „a priori“53 und im dargelegten Sinne objektiv. Scheler bezeichnet daher seine Position als „ethischen Absolutismus und [Wert-]Objektivismus“54. Das Gewicht der Werte als Maßstab moralischen Handelns im Sinne einer naturrechtlichen Verbindlichkeit wird verdeutlicht durch Hartmanns Gleichsetzung materialer Wertgehalte mit dem Tugendbegriff der antiken griechischen Philoso­ phie und dem Apriorismus der christlichen Philosophie: „Allgemein gesprochen, es ist für die Ethik überhaupt gleichgültig, welche […] Deutung man dem Wertreich gibt, welche religiöse oder philosophische Weltanschauung man dahin­ ter beginnen lässt, […]. Für die Ethik kommt es nur auf die Apriorität der Werte selbst an.“55

b) Die Rangordnung von Werten Aus Sicht der materialen Wertethiker stehen Werte im Verhältnis zueinander in einer Bezüglichkeit (Rangordnung), die im Sachgehalt der Wertqualitäten begrün­ det ist56. Entsprechend ist die konkrete Werterfahrung für eine einzelne Wertent­ scheidung immer verbunden mit unserem ebenso primären Gefühl für Werterela­

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Henckmann, Scheler, S.  103. Vgl. dazu das Beispiel vorne, S.  22, zur Wertqualität „schön“. Die Wertqualität des Schönen findet die eine Person in einem Kunstwerk, eine andere in einer Landschaft. Die Wertqualität ist als Intention objektiv; sie steht als stets intendiertes Einheitsphänomen der Wahrnehmung für sehr unterschiedliche Erlebnisstrukturen. 53 Bereits an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Scheler eine Begriffsbestimmung des Apriori wählt, die sich beispielsweise von derjenigen Kants unterscheidet. Schelers Apriori ist mit der unmittelbaren Anschauung verknüpft: Als Apriori bezeichnet Scheler „alle jene […] Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der […] denken­ den Subjekte und […] durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zu Selbstgegeben­ heit kommen“; Scheler, Formalismus, S. 67. Die Anschauung ist Erlebnisweise, ein Gerichtetsein auf ein Objekt, das einer Person unmittelbar gegenwärtig ist; hierin stimmen Kant und die Phänomenologen überein. Allerdings ist diese Anschauung bei Scheler eine spezifische Erfahrung; Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 433. Diese Erfahrung ist die intuitive Gege­ benheit der Sache selbst als ein Ganzes. Kant grenzt seinen Begriff des Apriori dagegen streng vom Begriff der Erfahrung ab als ihr vorangehend, von ihr unabhängig und nicht auf ihr beru­ hend; Kant, KrV, Einl., B1, 2 ff., S. 45 ff.; dazu hinten, S. 37 ff., 157 ff. 54 Scheler, Formalismus, S. 14. 55 Hartmann, Ethik, S. VI, 136 f. Hartmann bezeichnet die Ethik der antiken Griechen als eine hochentwickelte materiale Wertethik, wenn auch nicht unter axiologischer Terminolo­ gie. Die Verbindung zur christlichen Philosophie bezieht sich auf den Willen Gottes im Sinne eines Vermittlers der Werte; vgl. Hartmann, Ethik, S. 137. Vgl. dazu auch Scheler, Formalis­ mus, S. 297 ff. Es zeigt sich eine für das 20. Jahrhundert typische Wende: Anstatt eine umfas­ sende Konzeption des Naturrechts darzustellen, wird versucht, Gerechtigkeitsprinzipien zu ent­ wickeln; vgl. Coing, S.  128. Zur naturrechtlichen Darstellung der materialen Wertethik vgl. Hänni, Wertobjektivismus, S. 237 ff. 56 Hartmann, Ethik, S. 544 ff.; Scheler, Formalismus, S. 104 ff., 122 ff. Die Erkenntnis einer Rangordnung der Werte ist dem gleichen Wertbewusstsein unterworfen wie die Erkenntnis der Werte; Hartmann, Ethik, S.  271 ff.,  283, 285 f. Die Begrenztheit des Werterangbewusstseins

IV. Kernaussagen und juristische Fragestellung

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tionen: Wenn beispielsweise ein Autofahrer in eine Wohnquartierstraße einbiegt und ein Kind erblickt, das offensichtlich auf die Straße springen will, wird der Auto­mobilist hupen und die Lärmemission der Sicherheit des Kindes hintanstel­ len; der Wert der Sicherheit des Kindes ist unmittelbar einsichtig stärker57 als der Wert der Ruhe in einem Wohnquartier58. Gestützt auf solche Beobachtungen skizzieren Scheler und Hartmann Rangord­ nungen von Werten, die auf den elementaren Grundgüterwerten des Lebens be­ ruhen. Gemäß Hartmann unterscheiden sich die Werte nach ihrer Höhe und ihrer Stärke, wobei Letztere sich in einem sog. Fundierungsverhältnis darstellt59. Dabei werden Güterwerte als fundierende, höhere geistige Werte dagegen als fundierte Werte bezeichnet. Es gibt fundierende starke Werte (zum Beispiel das Leben) und fundierte höhere Werte (die Werte des Guten, des Schönen). Fundierte höhere Werte verlangen immer die Realisierung der fundierenden Werte60. Scheler und Hartmann beabsichtigen, Regelmäßigkeiten von Präferenzen in Wertentscheidungen festzuhalten, erheben aber keineswegs Anspruch auf Voll­ ständigkeit der skizzierten Rangfolgen61. Kern der Wertetafeln ist nicht ihre Ableit­ barkeit von Entscheidungen auf der Ebene des Faktischen62, sondern vielmehr die Feststellung, dass Werte immer relational zu anderen Werten erfahren werden. Ins­ besondere Hartmann versucht, diese Relationalität und Antinomik in ihrer Eigen­ heit festzuhalten63.

ist nach Hartmann dadurch bedingt, dass die Werthöhenverhältnisse immer nur in einem Aus­ schnitt geschaut werden; Hartmann, Ethik, S. 270 ff.; dazu hinten, S. 151 ff. 57 Der fundamentale (stärkere) Wert geht in solchen Konfliktfällen in der Regel dem höheren Wert vor. Ein weiteres Beispiel: Angenommen, es bricht in der Schweiz eine hochansteckende Seuche aus. Aufgrund der polizeilichen Generalklausel (Art. 36 Abs. 2 BV: in diesem Fall die öffentliche Gesundheit) darf die individuelle Freiheit von bereits Erkrankten eingeschränkt werden, indem diese unter Quarantäne gestellt werden. Der stärkere Wert der öffentlichen Ge­ sundheit geht dem Wert der individuellen Freiheit vor. Vgl. zur Wertstärke und Werthöhe und für weitere Beispiele zu den Werterangfolgen hinten, S. 86 ff. 58 Beispiel aus Ott, Grundriss-Skriptum (Auflage 2002), S. 66. 59 Dazu hinten, S. 85 ff. 60 Hartmann, Ethik, S. 369, 550 ff., 556. 61 Die skizzierten Rangfolgen werden als Versuche bezeichnet, Präferenzen der Wertung nachzuvollziehen; Hartmann, Ethik, S. 548. 62 Vgl. Scheler, Formalismus, S. 107; Hartmann, Ethik, S. 272 ff., 274. Dies wäre ein Zirkel­ schluss und gleichermaßen ein unzulässiger Schluss vom Sein aufs Sollen: Aus der Beschrei­ bung des tatsächlichen Verhaltens zu Werten würden normative Handlungsanweisungen ab­ geleitet werden. 63 Hinten, S. 88 ff.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

c) Wertgefühl und Werterkenntnis Eine weitere bedeutsame Aussage der materialen Wertethik betrifft die Wich­ tigkeit intuitiver Erkenntnismöglichkeiten des Menschen für ethische Entschei­ dungen. Die Phänomenologen gehen davon aus, dass Werte nicht in der Sinneswahrneh­ mung oder im Verstand, sondern stets in einer für sie spezifischen Erkenntnisart, dem Wertfühlen, gegeben sind. Diesem Fühlen ist nach Scheler und Hartmann ein aktives Vermögen inne; es bildet ein kognitives Element der Wahrnehmung und einen primären Zugang zur Welt und zu Sachverhalten. Das von den Phänomenologen umschriebene Fühlen ist abzugrenzen von Af­ fekten und Gefühlszuständen64. Beim Wertgefühl handelt es sich, im Gegensatz zu allem sinnlich-affekthaften Fühlen, um ein geistiges, irrationales Gefühl, das aber als Teil der Vernunft verstanden wird. Die Phänomenologen kritisieren entsprechend nachdrücklich die strikte Tren­ nung von Vernunft und Sinnlichkeit in der Geschichte der Philosophie. Sie for­ dern eine Überwindung der rationalistischen Beschreibung der Vernunft um ein intuitives Vorzugselement65. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf Sche­ lers Versuch zurückzukommen, die kantische Erkenntnistheorie um intuitive Ele­ mente zu erweitern66. 2. Der Rechtsanwender als Entscheidungsträger

Um die Kernaussagen der materialen Wertethik aufs Recht anwenden zu kön­ nen, soll dargelegt werden, wo sich Wertungsprobleme im Recht ergeben und wie sich eine Phänomenologie der juristischen Werterfahrung darstellen lässt67. Bereits auf einen ersten Blick wird ersichtlich, dass sich Wertungskonflikte im Recht in reichlicher Fülle stellen. In juristischen Erwägungen ist zum Beispiel zu entscheiden, wem der Vortritt gegeben werden soll, wenn sich das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit mit den Interessen anderer oder mit den Interes­ sen der Öffentlichkeit nicht verträgt oder wenn die freie Meinungsäußerung einer Person die Privatsphäre einer anderen Person beeinträchtigt68.



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Scheler, Formalismus, S. 263. Hartmann, Ethik, S. 117. 66 Dazu hinten, S.  106 ff. Die Überwindung der Dichotomie zwischen rationalen und ge­ fühlsgeleiteten Entscheidungsmechanismen schlägt auch die moderne Neurowissenschaft vor; dazu hinten, S. 146 ff. 67 Hinten, S. 69 ff. 68 Aber auch Konkurrenzfragen oder die Lückenfüllung führen zu ähnlichen Problemen der Wertung; dazu hinten, S. 50 ff.; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 10.

IV. Kernaussagen und juristische Fragestellung

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Da der Gesetzgeber solche Entscheidungen regelmäßig der Interessenabwä­ gung durch den Rechtsanwender überlässt, wird für jeden Einzelfall eine Wertung erforderlich. Das Gericht hat eine sachlich begründete Abwägung der Interessen bzw. der Wertung nach objektiven Kriterien vorzunehmen69. Auch unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln oder die allgemeinen Rechtsgrundsätze erfordern vom Rechtsanwender regelmäßig eine Wertung70. Umgekehrt kann sich die Vielfalt von Rechtsanwendungsproblemen klarer­ weise nicht allein auf Wertentscheidungen stützen. Die Bemühungen um die rich­ tige Auslegung sind verbunden mit einer Vielzahl von Erwägungen, in denen das Werten eines von verschiedenen Elementen ist71. Um die Erkenntnisse und den Gehalt der phänomenologischen Wertethik im Recht adäquat zum Ausdruck zu bringen, ist es unumgänglich, die vorgängig fest­ gehaltene Doppelstruktur des Wertbegriffs zu beachten72. Wendet man die festge­ haltenen Kernaussagen der materialen Wertethik auf juristische Kontexte an, sind daher die folgenden Vorbedingungen unerlässlich: Aus phänomenologischer Sicht gibt es objektive Wertqualitäten; dies impliziert aber nicht, dass es eine objektive Rechtsordnung gibt73. Werte bzw. materiale Wert­ qualitäten werden von den materialen Wertethikern als Elemente des normativen Bereichs beschrieben, dagegen durchbricht die Rechtswirklichkeit verschiedene Bereiche der Geltung74. Orientiert sich das Recht an objektiven Wertqualitäten, so orientiert es sich glei­ chermaßen auch an Grundwerten der Gesellschaft, das heißt an der Faktizität der herrschenden Sozialmoral. Eine Rechtsordnung verbindet demnach regelmäßig normativ-objektive und subjektiv-relative Faktoren75. Als Verbindung zwischen faktischer und normativer Ebene steht sowohl bei Scheler als auch bei Hartmann die Person als Entscheidungsträger76. Die Verant­ wortung für die Richtigkeit einer Wertentscheidung liegt immer bei der Person, die auf ihre eigene Wertungskompetenz zurückgreifen muss. In diesem Sinne ist die phänomenologische Wertethik ein Personalismus77.

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BGE 132 III 49, 50. Dazu hinten, S. 50 ff. 71 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 5. 72 Siehe vorne, S. 22 ff. 73 Nach Scheler und Hartmann hat das Recht nicht „Sittlichkeit zu verwirklichen, sondern nur Sittlichkeit möglich zu machen“; Scheler, Formalismus, S. 558; ebenso Hartmann, Ethik, S. 422 ff.; Reinach, S. 219; zum Verhältnis zwischen Husserl und Reinach: Stella, S. 51 ff. 74 Vgl. hierzu das Schema bei Ott, Rechtspositivismus, S. 23. 75 Das Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Faktoren widerspiegelt sich gemäß der materialen Wertethik in der Doppelstruktur des Wertes. Die Doppelstruktur der Werte ist bei Wertungskonflikten im Recht zu berücksichtigen; vgl. hinten, S. 78 ff., 97 ff. 76 Vgl. Scheler, Formalismus, S. 14. Dazu auch Hartmann, Ethik, S. 227 ff. 77 Scheler, Formalismus, S. 14, 197 ff.

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A. Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

Entscheidungsträger im juristischen Kontext sind in erster Linie Gesetzgeber und Rechtsanwender, wobei hier der Betrachtung des Rechtsanwenders beson­ deres Gewicht zukommen soll78. Entsprechend ist es Ziel dieser Arbeit, im Sinne einer hermeneutischen Frage zu untersuchen, wie die Werteaffinität der Entschei­ dungsträger in die Urteilsfindung einfließen kann und welche Werte bzw. Rangfol­ gen von Werten die Rechtsordnung so prägen. Um diese Analysen vorzunehmen, sind zunächst der philosophische Hinter­ grund und die Entwicklung der materialen Wertethik aufzuzeigen.

78 Zur axiologischen Betrachtung der Rechtsetzung siehe zum Beispiel Wròblewski, S. 499 ff.; Nef, Werteordnung, S. 190 ff.

B. Ideengeschichtliche Perspektive I. Entwicklung der Schulen 1. Ideale Ausdeutung und Intentionalität bei Lotze und Brentano

Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts vertraten viele Philosophen die Auffas­ sung, dass die grundlegenden Fragen der Lebensführung nur durch die Orien­ tierung an Werten beantwortet werden könnten. Diese Werte sollten den Weg zu einem wissenschaftlich begründbaren und klar definierten Sinn des Lebens weisen. Der Begriff Wertethik umfasst so eine Vielzahl inhaltlich verschiedener ethischer Theorien, deren Gemeinsamkeit darin besteht, das Gute oder moralisch Gebo­ tene als Wert zu begreifen. In einem engeren Sinne versteht man unter dem Be­ griff Wertethik die wertphilosophischen Entwürfe des 19. und 20. Jahr­hunderts79. Als historischer Begründer der Wertphilosophie im engeren Sinne gilt Rudolf Hermann Lotze (1817–1881). Durch seine Unterscheidung von Seiendem und Geltendem thematisiert er den metaphysischen Zweck der Welt und etabliert den Begriff des Wertes in der Philosophie: Die „eigentliche erklärende Wissenschaft“, die reine Kausalbetrachtung der Welt, müsse durch die „ausdeutende Ansicht der Natur“, durch die ideale Ausdeutung ihres Wertes und ihrer Einheit, ergänzt wer­ den80. Die beiden Betrachtungsweisen unterscheiden sich und stehen doch neben­ einander; Lotze versteht seine Position als Vermittler der beiden Positionen81. Die kausale und die ideale Vorgehensweise sind methodisch strikt zu trennen; wo es sich jedoch um die Gesamtauffassung der Wirklichkeit handle, könne es nicht genügen, die mechanischen (kausalen) Wirkungsweisen der Natur zu be­ trachten82. Wer nur den Bereich der Natur betrachte, der in Zeit und Raum unserer Beobachtung offen steht, vermöchte nicht ihre Übereinstimmung mit wertvollen Zielen zu bemerken83. Gemäß Lotze kann die Ausdeutung des Sinns des Seien­ den, damit das Geltungsziel, nur durch ein Sittengesetz erfolgen, das sich im Gewissen offenbart84.

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Bohlken, S. 108 f. Lotze, Bd. 2, S. 5 f. 81 Lotze, Bd. 2, S. 8. 82 Lotze, Bd. 2, S. 8 f. 83 Lotze, Bd. 2, S. 17. 84 Lotze, Bd. 2, S. 309. Anzumerken ist, dass Friedrich Nietzsche (1844–1900) verschiedene Begriffe Lotzes übernimmt. Mit seiner Forderung nach „Umwertung aller Werte“ ist Nietzsche für die Entwicklung der Wertphilosophie insofern bedeutend, als er den Wertbegriff erneut her­ vorhebt, um ihn einem breiteren Publikum zugänglich zu machen; Friedrich Nietzsche, Um­

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

Lotze vertieft die Betrachtung des Gefühls und stellt fest, dass „in dem Gefühl für die Werte der Dinge unsere Vernunft eine ebenso ernst gemeinte Offenbarung besitzt, wie sie in den Grundsätzen der verstandesmäßigen Forschung ein unent­ behrliches Werkzeug der Erfahrung hat“85. Die zentrale Feststellung bildet den er­ kenntnistheoretischen Hintergrund der phänomenologischen Wertethik; bereits bei Lotze zeigt sich die besondere Bedeutung emotionaler Akte für die Grundlegung der materialen Wertethik. Bewusstseinsphänomenologisch werden die Erkenntnisse von Lotze insbeson­ dere durch die deskriptive Psychologie Franz Brentanos (1838–1917) rezipiert. Brentano untersucht und klassifiziert Bewusstseinsphänomene und prägt den Be­ griff der Intentionalität als die Fähigkeit des Bewusstseins, sich auf Gegenstände richten zu können86. In seinem bedeutenden Vortrag „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ (1889) un­ terteilt Brentano psychische Phänomene in Vorstellungen (zum Beispiel Träume), Urteile (zum Beispiel empirische Urteile) und Gemütsbewegungen87. Ebenso wie Vorstellung und Urteil soll Gemütsbewegungen eine intentionale Struktur, ein ak­ tives Vermögen eigen sein: Werte bzw. Wertqualitäten werden über die gemüts­ bewegenden intentionalen Akte des Liebens und Hassens, des Gefallens und des Missfallens erfasst88. Indem gemütsbewegenden Akten die Funktion der Werterkenntnis zugespro­ chen wird89, ist Brentanos Darstellung der Intentionalität für die erkenntnistheoretische Funktion des Wertfühlens von besonderer Bedeutung90. 2. Entstehung der phänomenologischen Schule

Brentanos Auseinandersetzung mit dem Wertbegriff sollte sich vor allem in zwei Schulen auswirken: Die „Grazer Schule“ begründet mit ihren Hauptvertre­ tern Alexius Meinong (1853–1920)91 und Christian von Ehrenfels (1859–1932)92 eine subjektiv-psychologische Wertethik. Ein Wert wird beschrieben als Fähigkeit eines Gegenstandes, in einem Individuum bestimmte subjektive Gefühle hervorzu­

wertung aller Werte, aus dem Nachlass zusammengestellt und hrsg. von Friedrich Würzbach, 2. Aufl., München 1977. 85 Lotze, Bd. 1, S. 275. 86 Intentional heißt zweckbestimmt, auf etwas gerichtet; vgl. hinten, S. 112 ff. Der Begriff leitet sich ursprünglich ab von intentus, lateinisch für aufmerksam. 87 Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, S. 15 ff.; hinten, S. 112 ff. 88 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 106 f. Vgl. hinten, S. 116 ff. 89 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 362. 90 Vgl. hinten, S. 115 ff. 91 Alexius Meinong, Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, Berlin 1906. 92 Christian von Ehrenfels, Über Fühlen und Wollen, Saarbrücken 2006.

I. Entwicklung der Schulen

33

rufen. Dadurch grenzt sich die Grazer Schule deutlich von einer objektiven Posi­ tion ab, wie sie Brentano noch vertritt. Dem Relativismus (der nur subjektiven Geltung der Werte) der Grazer Schule setzt die andere, die „phänomenologische“ Schule, einen Objektivismus und Ab­ solutismus  – eine unbedingte Geltung der Werte  – entgegen93. Edmund Husserl (1859–1938), der Begründer der phänomenologischen Schule, distanziert sich vom Psychologismus der Grazer Schule und entwickelt die Methode der Phä­ nomenologie94. Die phänomenologische Betrachtung impliziert eine methodolo­ gische Unterscheidung zwischen dem (der Erfahrungserkenntnis) Erscheinenden und der sich dahinter verbergenden „Sache selbst“95, das heißt dem Wesen als der eigentlichen intentionalen Qualität eines Gegenstandes, die vom Bewusstsein un­ mittelbar intendiert wird96. Durch die Beschreibung der „Sache selbst“ soll jenseits der begrifflichen Konstruktion Erkenntnis über die transzendentalen Strukturen des Bewusstseins ermöglicht werden97. Bei Husserl bleibt die phänomenologische Analyse des Bewusstseins im Vordergrund; phänomenologische Aspekte der Wert­ philosophie werden nur vereinzelt behandelt98. Dennoch bildet die phänomenolo­ gische Analyse des Bewusstseins, wie Husserl sie vornimmt, die zentrale methodologische Grundlage der phänomenologischen Wertethik. 3. Phänomenologische und materiale Wertethik

Max Scheler orientiert sich maßgeblich an der Phänomenologie Husserls und entwickelt eine stark phänomenologisch geprägte materiale Wertethik, die durch sein 1913/1916 erschienenes Werk „Der Formalismus in der Ethik und die mate­ riale Wertethik“ begründet wird. Als zweites Hauptwerk zur materialen Wertethik gilt die 1926 erschienene „Ethik“ von Nicolai Hartmann. Unter einer materialen Ethik wird eine Theorie verstanden, welche ethische Ge­ setze auf eine inhaltliche Bestimmung des richtigen Handelns zurückführt. Mate­ riale Prinzipien finden Scheler und Hartmann in den Werten: Ihre Ethik ist deshalb



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Henckmann, Materiale Wertethik, S. 85. Diese Phänomenologie ist eine Gegenströmung gegen den Psychologismus, dessen Be­ streben es ist, alle beschreibbaren Sachverhalte und Werte psychologisch zu erklären. Die Schule macht es sich zum Ziel, zu untersuchen, was in der Wahrnehmung gegeben ist, im Zen­ trum der Betrachtung steht das Phänomen. 95 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 65, Z. 29. 96 In der Folge wird anstelle der Bezeichnung „Sache selbst“ der von Husserl weitgehend synonym verwendete Begriff „Wesen“ (bzw. „wesentlich“) verwendet; siehe dazu das Beispiel hinten, S. 46 ff. 97 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 65, Z. 29 ff. Auf Husserls Transzendentalphilosophie als Grund­ lage der phänomenologischen Wertphilosophie ist ausführlicher zurückzukommen; vgl. hinten, S. 42 ff., 69 ff. 98 So zum Beispiel in seinem Nachlass über Ethik und Wertlehre; Husserl, Hua, Bd. 28.

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

eine Wertethik99. Entsprechend definiert Scheler die Philosophie als „Wertkritik des Bewusstseins“100. Ziel der materialen Wertethiker ist es, zu einer „von allen positiven psychologischen und geschichtlichen Erfahrungen unabhängigen Lehre von den sittlichen Werten“ zu finden101. Nebst der von Scheler und Hartmann entwickelten Wertethik ist die Theorie der Wertantwort die am stärksten rezipierte phänomenologische Wertlehre. Sie wurde von Dietrich von Hildebrand (1889–1977) entwickelt. Zu jedem Wert gibt es da­ nach eine entsprechende bzw. auf ihn antwortende Stellungnahme102. Von Hilde­ brand orientiert seine Wertethik stark am Wert des Heiligen und nennt sein ethi­ sches Hauptwerk „Christliche Ethik“ (1959). Als weitere Vertreter der materialen Wertethik sind Johannes Hessen (1889 bis 1971), Alexander Pfänder (1870–1941) und Hans Reiner (1896–1991) zu nennen. Pfänder richtet seine Wertethik auf eine Philosophie der Lebensziele aus. Reiner, der bisher letzte Vertreter einer systematisch angelegten materialen Wertethik, ver­ sucht eine Verbindung mit der kantischen Sollensethik zu erreichen, wie dies auch Hartmann vornimmt103. 4. Formale Wertethik als Gegenposition

Neben der vorne dargestellten subjektiv-psychologischen Abgrenzung zur Gra­ zer Schule kann die materiale Wertethik auch gegenüber der formalen Wertethik abgegrenzt werden. Die formale Wertethik wird in der südwestdeutschen Schule des Neukantianis­ mus von Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert (1863–1936) entwickelt, in direkter Fortsetzung der Lotzeschen Wertphilosophie. Die formale Wertethik steht hinsichtlich der Geltung der Werte der von ­Scheler begründeten, heute bekannteren Richtung der materialen Wertethik entgegen. Zwi­ schen den beiden Hauptrichtungen besteht Übereinstimmung bezüglich der Ableh­ nung eines Relativismus oder psychologischen Subjektivismus der Werte. Werte werden demnach von beiden Hauptrichtungen als absolute, objektive Maßstäbe und Wegweiser moralischen Handelns anerkannt, ohne sie – dies wird für die ma­ teriale Wertethik noch darzustellen sein – aus der Relation zum Subjekt heraus­ zunehmen104.



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Henckmann, Scheler, S. 117. Scheler, Frühe Schriften, Bd. 1, S. 12 ff.; dazu Henckmann, Scheler, S. 41. 101 Scheler, Formalismus, S. 30. 102 Das heißt eine innere Stellungnahme des emotionalen Bewussteins; von Hildebrand, S. 162 ff.; Bohlken, S. 114. 103 Henckmann, Materiale Wertethik, S. 87. 104 Hinten, S. 153. 100

II. Grundlagen des phänomenologischen Denkens bei Platon

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Der Gegensatz von formaler und materialer Wertethik zeigt sich jedoch in den unterschiedlichen Antworten auf die Fragen nach dem ontologischen Status und aus dem Weg zur Erkenntnis der Werte. Für diese Unterscheidung wird oft auch das Begriffspaar Wertidealismus und Wertrealismus verwendet. Die formalen Wertethiker bzw. die Wertidealisten sind der Auffassung, den Wer­ ten komme der Status des „reinen Geltens“ zu und sie besäßen die Seinsweise blo­ ßer Idealität105. Nach dieser Ansicht werden Werte intellektuell erfasst mittels einer kognitiven Geltungsreflexion106. Die materiale Wertethik bzw. der Wertrealismus geht dagegen davon aus, dass sich die Werte als Gegenstände intuitiv über das Wertgefühl wahrnehmen las­ sen107. Scheler nennt diesen epistemologischen Vorgang in Anlehnung an Husserl „phänomenologische Wesensschau“108. Werte sind nach Ansicht der Wertrealisten Selbstgegebenheiten: unreduzierbare Entitäten109. Nebst der Betrachtung der Entwicklung der phänomenologischen Wertethik sind drei ideengeschichtliche Positionen auszuführen, ohne deren Kenntnis die materiale Wertethik nicht zugänglich ist: Es sind dies die Kernpunkte der Denkpo­ sitionen Platons, Kants und Husserls. Die für die materiale Wertethik wesentlichen Elemente der Ontologie Platons, der Ethik Kants und der Bewussteinsphänomeno­ logie Husserls sollen daher im Folgenden kurz dargestellt werden.

II. Grundlagen des phänomenologischen Denkens bei Platon 1. Idee und idealer Wertgehalt

Das Denken der hermeneutisch-phänomenologischen Wertphilosophie ist einem Verständnis verpflichtet, das der Rechtsphilosophie nicht die Funktion registrie­ render Aufzählung kontingenter Erfahrungs- oder Regelungsbereiche zuschreibt, sondern es als ihre primäre Aufgabe ansieht, durch die faktische Vielheit hindurch ethisch relevante Einheitsphänomene sichtbar zu machen110. Die Vielschichtigkeit zeigt sich im Sprachgebrauch und fordert hermeneutische Kategorien, die diese Vielschichtigkeit, aber auch die vereinigende Kraft von Wahrnehmung und Den­ ken erklären können111. 105

Good, S. 31. Schnädelbach, S. 205 f. 107 Beispielsweise einen Würfel nehmen wir nicht unmittelbar wahr, sondern über unsere Sinne und unser Bewusstsein. Entsprechend nehmen wir eine Wertqualität nicht an sich, son­ dern über das intentionale Wertgefühl wahr. 108 Scheler, Formalismus, S. 67 ff. 109 Die materialen Wertethiker gehen entsprechend von einer Existenz einer denkunabhängi­ gen Realität aus; dazu hinten, S. 140 ff. 110 Vgl. vorne, S. 19 ff.; Husserl, Hua, Bd. 2, S. 24, Z. 12 ff.; Coriando, S. 2. 111 Vgl. Coriando, S. 2. 106

36

B. Ideengeschichtliche Perspektive

Ein Grundmodell, das die Beziehung des Vielen zum Einen darzustellen ver­ sucht, findet sich in der Ideenlehre Platons. Folgt man Platon, so konstituiert sich die Wirklichkeit durch die Seinsweise der Idee. Ideen sind ein Allgemeines, ihrer­ seits unabhängig von Einzeldingen und Sinneswahrnehmungen, die nach Platon das Konkrete erst erklären können. Denn nach Platon kann sich kein einzelner Begriff auf etwas ganz Konkretes beziehen, das sich ändert und vergeht, wie zum Beispiel ein Baum in seinen un­ terschiedlichen Formen und Gestalten. Vielmehr intendiert der Begriff die ewige und unveränderliche Idee, gewissermaßen die „Baumheit“, die ihm zugrunde liegt. Nach Platon sind diese Ideen seit jeher da, unabhängig von der menschlichen Fä­ higkeit zu denken und zu abstrahieren, vielmehr setzt unser Denken sie archety­ pisch bereits voraus112. Ideen sind bei Platon gleichermaßen ethisch einigende Grundlagen113. Als über­ geordnete Sphäre umschließen Ideen das reale Sein und geben dem mensch­lichen Streben Sinn und Bedeutung. Die uns erscheinenden Dinge sind nur unvollkom­ mene Abbilder jener Ideen, denen wahres Sein zukommt und die für Platon in einem ewigen Kosmos existieren. Nach Platon hat die Seele sie dort vor der Geburt erschaut; jede Erkenntnis der Ordnung, die der unvollkommenen Welt zugrunde liegt, ist demnach nur eine Erinnerung an jenen Kosmos. Zu ihm, dessen Einheit sich auf der Erde als Göttliches, Wahres, Gutes und Schönes zeigt, sehnt sich die Seele im Sinne ihrer ethischen Bestimmung zurück. Der einzelne Mensch wie die ganze Gesellschaft sind zum möglichst reinen Ausdruck jener Einheit zu bilden114. 2. Beziehungsstruktur Idealität – Realität

Die Beziehung zwischen realer und idealer Geltungsebene ergibt sich im plato­ nischen Denken aus der Seinsweise der Idee. Die Seinsweise der Idee ist die Seins­ weise dessen, wodurch alles an ihr Teilhabende so ist, wie sie selbst ist. Platon zeigt im Dialog „Lysis“ dieses Grundverhältnis auf: Sucht man das Wesen eines φίλον (philon; ein Liebenswertes) in einem anderen, um dessentwillen es φίλον ist, so erweist sich, dass dieses andere bereits φίλον sein muss. Wird diese Rück­ führung ad infinitum weiterverfolgt, fällt sie in sich zusammen, wenn sie nicht auf etwas Erstes und Absolutes stößt. Von diesem Ersten (der Idee) ist alles andere nur Abbildung (Teilhabe)115. Teilhabe ist einerseits in sich differenzierende Wirklichkeit und andererseits In­ tention zurück auf den Ursprung. Platonisches Denken begreift also die Wirklich­ keit als Teilhabe am Ursprung, als Bild von Urbildern, von archetypischen Ideen. 112

Platon, Phaidon, 74b ff. Bzw. „Forderungen“; Landmann, S. 79. 114 Wucherpfennig, S. 41. 115 Hartmann, Ethik, S. 124; vgl. Platon, Lysis, 219c ff.

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III. Die Vorgaben der kantischen Ethik

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Unmittelbar ist die je verschiedene Abbildung auf ihren Ursprung bezogen. In ver­ schiedener Seinsintensität werden verschiedene Formen der Idee und so die Bild­ haftigkeit der Wirklichkeit vermittelt116. Axiologisch ausgedrückt ist ein sinnlich erfahrbarer Wert Abbild der ihn konsti­ tuierenden Wertqualität; dem Bildcharakter der Wirklichkeit entspricht der Bild­ charakter der erscheinenden Werte. Sie bestimmen als Prinzipien der Handlung die Wirklichkeit mit; sie können in mannigfacher Abstufung gar realisiert sein, doch bleibt ihre Seinsweise eine ideale. Empirisch festgehaltene Werte sind demnach nicht gleichzusetzen mit objektiven Werten, vielmehr intendieren sie die Idee ih­ res idealen Wertgehalts117. Kern der Beziehungsstruktur zwischen Idealität und Realität ist bei Platon letzt­ lich die epistemologische Bedeutung, denn ein Bild vermittelt rückerinnernde Ähnlichkeit zur Idee bzw. zur Wertqualität als Intention. Einsicht in die Bildhaf­ tigkeit eröffnet Einsicht in die analoge Struktur von ideal zu real bzw. von Vielheit zu Einheit und bringt dadurch Erkenntnis118. Die Bedeutung des in der platonischen Philosophie bildhaft dargestellten Er­ fordernisses der Differenzierung zwischen Idee und realem Sein konkretisiert sich damit in einer auch für den Juristen zentralen Erkenntnisfunktion: dem ana­logen bzw. problemorientierten Denken. Auf die Bedeutung dieser Erkenntnisleistung hinsichtlich Wertungsfragen im juristischen Kontext ist zurückzukommen119.

III. Die Vorgaben der kantischen Ethik 1. Ethischer Apriorismus

Scheler und Hartmann wurden nicht nur geprägt durch ihre wertphilosophischen Vorgänger; in ihren Werken beziehen sie sich nachdrücklich auch auf Kant. Trotz scharfer kritischer Auseinandersetzung mit Kants „formaler Ethik“  – der Titel von Schelers Hauptwerk weist darauf hin120 – wird die Ethik Kants als die bis an­

116

Beierwaltes, Denken, S. 73 ff. Hartmann, Ethik, S. 150 ff. Absolute Wertgehalte entsprechen der Idee, die sich der Welt in mannigfaltiger Abstufung präsentiert. 118 Beierwaltes, Denken, S. 86. Die „Entfaltung der Einheit“ in den Modus von Vielheit; das Motiv des sich Ausdifferenzierens, Vervielgliederns des Ursprungs bzw. der Gottheit erscheint immer wieder: zum Beispiel im altägyptischen Osiris-Mythos, oder auch in der frühen christ­ lichen Philosophie bei Eriugena (um 810–877), der den Gedanken einer simultanen Einheit des Vielen im Ursprung anhand seiner auf Proklos (412–485) zurückgehenden Zahlen- und Kreis­ paradigmen darstellt. Mythos ist selbst eine Form des Abbildes; vgl. Beierwaltes, Denken, S. 114. 119 Vgl. hinten, S. 102 ff. 120 Der Titel lautet: „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“. 117

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

hin vollkommenste anerkannt121. So bezeichnet Hartmann die materiale Wertethik nicht als Gegensatz zur kantischen Ethik, sondern als inhaltsbestimmende Ergän­ zung jenes ethischen Apriorismus, der das Wesen der Ethik Kants ausmacht122. Was ist nun jener ethische Apriorismus der Ethik Kants, der ergänzt werden soll? In der „Kritik der reinen Vernunft“ überprüft Kant in einer differenzierten Stellungnahme den Grundsatz der Empiristen, wonach alle Erkenntnis mit der Er­ fahrung anfängt123. Zeitlich geht auch bei Kant die Erfahrung jeder Erkenntnis vor­ aus; damit ist nun aber noch nicht gesagt, dass auch alle Erkenntnis der Erfahrung entspringt. Denn nach Kant ist das, was wir Erfahrung nennen, bereits etwas Zusammen­ gesetztes: zum einen bestehend aus den von außen kommenden – und a posteriori durch die Sinne wahrgenommenen  – Eindrücken; zum anderen besteht sie aber auch aus einer Erkenntnis a priori, die wir aller Erfahrung vorausliegend von vorn­ herein besitzen und die die Möglichkeit der Erfahrung erst bedingt124. Dies lässt sich am Beispiel des Raums verdeutlichen125: Raum ist die Form, in der uns alle sinnlichen Erscheinungen gegeben sind. Eine konkrete räumliche Vor­ stellung ist jedoch erst dann möglich, wenn einem die Idee Raum bereits bekannt ist126. Entsprechend sind wir es, welche diese Form, die Raumvorstellung, an die Dinge heranbringen. Es ist also nicht unsere Erkenntnis, die sich nach den Gegen­ ständen richtet, sondern die Gegenstände richten sich nach unserer Erkenntnis127. Alle Objekte der Erfahrung richten sich nach in uns als apriorische Vorstellungen vorausgesetzten Regeln128. Nach Kant bedingt demnach erst ein Erkenntnisvermögen a priori, das der Mensch aller Erfahrung vorausliegend von vornherein besitzt, die Möglichkeit der Erfahrung129. Er bezeichnet dieses Erkenntnisvermögen als „transzendentale Erkenntnis“130 bzw. als „transzendentales Erkenntnisprinzip“131. Diese „transzen­ dentale Erkenntnis“, die Erkenntnis a priori, unterscheidet sich von der empiri­ schen Erkenntnis durch Notwendigkeit und strengste Allgemeinheit132. 121

Scheler, Formalismus, Vorwort zur 1. Aufl., S. 9 f. Hartmann, Ethik, Vorwort, S. V. 123 „Es ist nichts im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war“; Leibniz, § 27. 124 Kant, KrV, Einl., B 5, S. 47 f. 125 Ebensolche Kategorien sind nach Kant Zeit und Kausalität; Kant, KrV tr. Ästh., B  46, 47 ff., S. 78 ff.; Kant, KrV, Vorr. zur 2. Aufl., B XXVII, S. 31. 126 Um sich einen Gegenstand vorstellen zu können, muss die Idee Raum bereits a priori im Erkenntnisvermögen sein; Kant, KrV, Einl., B 6, S. 48. 127 Kant, KrV, Vorr. zur 2. Aufl., B XIII ff., S. 23 ff. 128 Kant, KrV, Vorr. zur 2. Aufl., B XVI ff., S. 25 f. 129 Diese Erkenntnis ist ein Vermögen, durch das die Dinge Objekte unserer Erfahrung wer­ den können; Kant, KrV, Einl., V (II 17). 130 Kant, KrV, B 26, S. 63; Eisler, S. 539. 131 Kant, KU, Einl., B XXXIV, S. 257. 132 Kant, KrV, Einl., B 5, S. 47. 122

III. Die Vorgaben der kantischen Ethik

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Nach Kant liegt also in uns ein Vorverständnis des Apriorischen, das ebenso für unser moralisches Urteilsvermögen gilt. Dieses Vermögen, unabhängig von der Erfahrung Gegebenheiten zu erkennen, entspringt der reinen Vernunft133. Die Ver­ nunft ist demnach ein umfassendes Erkenntnisvermögen134, das die Verstandesbe­ griffe zu einem in sich geschlossenen Ganzen der Erkenntnis verbindet, was nach Kant eben nur durch Überschreiten der Erfahrung möglich ist. Der Vernunft zu­ fließen kann aber gleichermaßen nur das, was der Sinnesapparat dem Menschen liefert, das heißt die Erscheinung. Insofern ist der Sinnesapparat die Schranke menschlicher Erkenntnis135. 2. Der Kategorische Imperativ

Durch seine epistemologischen Untersuchungen hat Kant die Möglichkeit un­ bedingter Erkenntnis neu definiert: Wenn Erfahrung etwas Zusammengesetztes ist, bestehend aus den vorausgesetzten Regeln, wie wir etwas verstehen, und dem, was uns die Sinne vermitteln, sind nur die apriorischen Regeln unseres Verstehens ste­ tig und unveränderlich136. Sie geben der von den Sinnen vermittelten Materie Form und Ordnung. Nur wenn man vom Objekt der Erfahrung diese formgebenden Re­ geln unterscheiden kann, ist man im Bereich unbedingten Wissens, und nur unbe­ dingtes Wissen kann Basis für eine allgemeingültige (absolute) Ethik sein137. Wie begründet nun Kant eine absolute Ethik? Die ethische Grundnorm in der Philosophie Kants ist der Kategorische Imperativ. Er soll das geeignete Instrument sein, die Übereinstimmung der subjektiven Maximen mit einer uneingeschränk­ ten Allgemeingültigkeit herzustellen, indem er fordert: Handle so, dass die Ma­ xime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann138. Es erfolgt somit die Überprüfung der Maxime an der Idee eines allgemei­ 133

Eisler, S. 39. Sie bildet dasjenige Verstandesvermögen, welches in sich die Prinzipien enthält, etwas a priori zu erkennen; Kant, KrV, B 17, S. 57 f. 135 Kant, KrV, Einl., B 12 f., S. 53 f. 136 Als „Regeln des Verstehens“ sind bei Kant nicht empirische Regeln des Verstehens, son­ dern streng apriorische Regeln gemeint, die sich aus der reinen Vernunft ergeben, wie sie vorne, S. 37 ff., dargestellt wurde. 137 Spader, S. 23 ff.; Kant, KrV, Einl., B 5, S. 47. 138 Kant, MdS, BA 52, S. 51. Zu den verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Im­ perativ siehe hinten, S. 157 ff. Zur Veranschaulichung des Mechanismus (noch ohne Berücksich­ tigung des normativen Gehalts der Formel!) ein Beispiel: Eine Person möchte ihr Vermögen vergrößern und fragt sich, ob sie zu diesem Zweck stehlen darf (Überprüfung der WillensMaxime). Gemäß der Formulierung des Kategorischen Imperativs ist die Maxime der Vermö­ gensvergrößerung durch Diebstahl als allgemeines Gesetz zu formulieren; dieses Gesetz würde lauten: Jede Person darf ihr Vermögen vergrößern und zu diesem Zweck andere Personen be­ stehlen – es ergibt sich ein Widerspruch zwischen der Maxime und dem allgemeinen Gesetz (das Vermögen der Personen würde aufgrund der Diebstähle durch andere Personen vermin­ dert), nach dem Diebstahl dem Sittengesetz widerspricht. 134

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

nen Gesetzes (Universalisierung). Der Kategorische Imperativ fordert zu keiner konkreten Handlung auf, sondern verlangt eine bestimmte Weise des Handelns im Allgemeinen, die unbedingte Geltung beanspruchen kann. Der Kategorische Im­ perativ ist somit Leitlinie, wie der Mensch sein Handeln an einer selbst gesetzten Perspektive ausrichten kann und nach welchem Maßstab des Vernünftigen dabei vorzugehen ist. Der Kategorische Imperativ gebietet, Handlungen zu vollbringen, die nicht Mittel zu einem Zweck, sondern an sich moralisch sind139. Ein häufiges Missverständnis ist vorab klarzustellen: Der Kategorische Impe­ rativ ist kein von Kant aufgestelltes Moralprinzip, aus dem Maximen und Regeln abgeleitet werden sollen. Kant richtet nicht die Forderung des Kategorischen Im­ perativs an die Menschen140. Vielmehr wird die Arbeitsweise unserer praktischen Vernunft untersucht, und Kant entdeckt dabei, dass ihr allgemeines Prinzip der Kategorische Imperativ ist. Der Kategorische Imperativ ist demnach eine Analyse über die Arbeitsweise unserer praktischen Vernunft. Er zeigt an, wie Maximen überprüft werden müssen, damit sie den Charakter moralischer Gesetze erhalten141. Das moralische Prinzip ist demnach formal zu bestimmen: Es muss die Allge­ meingültigkeit eines Naturgesetzes haben. Der Inhalt dieser moralischen Gesetze wird durch den Mechanismus bestimmt. Diesen Kategorischen Imperativ soll der Mensch befolgen. Anders gesagt: An seine Vernunft soll sich der Mensch halten142. 3. Das Erfordernis des Methodendualismus

Für Kant ist es die Vernunft, die unserem Verstehen Regeln gibt, welche die von den Sinnen gelieferte Materie ordnen143. Alle praktischen Prinzipien hingegen, die nicht zum formgebenden Bereich der Wahrnehmung gehören, sondern ein Objekt der Erfahrung als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktischen Gesetze, sondern vielmehr Regeln der Lebensklugheit vermitteln144. Anhand der Folgen einer konkreten Handlung kann entsprechend keine allge­ meingültige Ethik hergeleitet werden. Konkrete Beispiele von Handlungsgesche­ 139

Kant, MdS, BA 52, S. 51. Vgl. zum Beispiel Anzenbacher, S. 63. 141 Anzenbacher, S. 63. 142 Kant leitet aus dem Kategorischen Imperativ auch eine allgemeine Form für Rechtssätze ab. Sein allgemeines Rechtsgesetz lautet: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch ­deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“; Kant, MdS, A 33 f., S. 338. Jeder kann seine Rechte nur so weit gebrauchen, als er durch den Gebrauch nicht die Freiheit anderer beeinträchtigt; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 15, 101. 143 Kant, KrV, Vorr. zur 2. Aufl., B XX ff., S. 27 ff. Kant sucht ein rein aus der Vernunft abge­ leitetes Prinzip für das Handeln. Ein solches darf nicht von anderen Tatsachen abhängen oder durch sie bedingt sein; Spader, S. 23 ff. 144 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 99 ff. 140

III. Die Vorgaben der kantischen Ethik

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hen können den Prinzipien der Vernunft zwar zur Seite gestellt werden, aber „jedes Beispiel, das mir […] vorgestellt wird, muss selbst zuvor nach Prinzipien der Mo­ ralität beurteilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. zum Muster zu dienen“145. Der von Kant dargestellte Dualismus prägt ebenso die Rechtsphilosophie: Zwar kann das Sollen von natürlichen und soziologischen Tat­ sachen geprägt sein, aber es kann nicht aus ihnen abgeleitet werden146. Die phänomenologische Wertethik teilt den Methodendualismus Kants für ihre ethischen Normen: Absolute Wertqualitäten bestehen nach Scheler als apriorische Gegebenheiten unabhängig davon, ob sie verwirklicht werden, und Ethik kann sich nicht auf historische, psychologische oder biologische Erfahrung aufbauen147. Indem Scheler seine ethischen Untersuchungen als Versuch bezeichnet, „die Idee einer absoluten Ethik, und zwar materialer Art, neu zu begründen“148, und diese Grundlegung nach Hartmann dadurch gekennzeichnet sein soll, den ethi­ schen Apriorismus bei Kant zu ergänzen, ist die materiale Wertethik an die Vor­ gaben zur Unbedingtheit im kantischen Sinne gebunden: Jede allgemeingültige Ethik, die als Basis für moralische Urteile nicht nur die Gesetzmäßigkeit, sondern auch Inhalte heranzieht, hat nachzuweisen, dass diese Inhalte nicht Bedingungen unterworfen, sondern stetig und unveränderlich sind149. Wertqualitäten – und ebenso werterkennende Gefühle – sind durch die Vorbe­ dingungen der kantischen Ethik demnach nur insoweit geeignete Grundlagen für moralische Entscheidungen, als sie zu jenem formgebenden Bereich der Wahrneh­ mung gehören und nicht zum Bereich des Sinnlichen, des Bedingten150. Zu untersuchen ist daher insbesondere die Frage, inwiefern Werteaffinität und Werterkenntnis zum von Kant dargestellten formgebenden apriorischen Bereich der Wahrnehmung gehören und so als Teil der Vernunft dargestellt werden können151.

145 Kant unterscheidet also streng zwischen dem empirischen Handlungsgeschehen und des­ sen ethischer Bewertung; Kant, MdS, BA 29 f., S. 36. 146 Dazu Zippelius, Wertungsprobleme, S. 99 ff.; Radbruch, S. 96 ff., 100; Engisch, Idee der Konkretisierung, S. 101 f. 147 Das Gute soll sein, unabhängig davon, ob je gut gehandelt wurde oder nicht; Scheler, For­ malismus, S. 66 f. Auch wenn niemals geurteilt worden wäre, dass ein Betrugsdelikt negativ ist, bliebe es doch negativ. Insofern sind auch ethische juristische Sätze a priori; Zippelius, Wer­ tungsprobleme, S. 104; dazu hinten, S. 75 ff. 148 Scheler, Frühe Schriften, S. 386. 149 Spader, S. 47. Ethik kann sich nach Kant nicht auf Beispielen oder der Erfahrung auf­ bauen. Kant ist demnach ein klarer Gegner des Eudämonismus und damit auch des Utilitaris­ mus, der Moralität mit den nützlichen Folgen von Handlungen oder Handlungsregeln begrün­ det. Was gut ist, erweist sich in eudämonistischen Ethiktheorien erst a posteriori, das heißt aus der Erfahrung. Bei Kant dagegen sagen empirische Begründungen als hypothetische Impera­ tive nur etwas über die Legitimität von Handlungen, nicht aber über deren Moralität; Kant, MdS, BA 46 ff., S. 47 ff. 150 Spader, S. 23 ff. 151 Hinten, S. 106 ff.

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

IV. Die Phänomenologie Husserls 1. Das Phänomen als Gegenstand objektivierender Wahrnehmung

Für die phänomenologische Wertethik insbesondere Schelers erlangt die Be­ wusstseinsphänomenologie Husserls eine zentrale Bedeutung. Die wichtigsten Grundlagen der Husserlschen Phänomenologie werden hier kurz dargestellt152. Sie sind die Grundlagen der Phänomenologie schlechthin. Mit seinem Werk „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi­ schen Philosophie“ (1913) begründet Husserl die moderne Strömung der Phäno­ menologie. Ihr Ziel ist es, zu untersuchen, was in geistigen Anschauungen gege­ bene Phänomene153 sein können; was Gegenstand der Intention oder des Denkens sein kann. Die Phänomenologie erarbeitet sich durch ihre eigenständige Methodik eine moderne Analyse der Phänomene, bei der das tatsächlich Wahrgenommene möglichst erlebnisgetreu wiedergegeben werden soll. Die Phänomenologie Husserls stellt explizit nicht eine von der realen Welt los­ gelöste zweite Welt dar, sondern will innerhalb des einen Seinsuniversums, das für Bewusstseinsphänomene eine existenziale und eine essenziale Seite hat, eine Blickwendung von der einen auf die andere erreichen154. Es stellt sich die Frage, unter welchen methodologischen Vorgaben eine solche Blickwendung erreicht werden kann. Ausgangspunkt der phänomenologischen Philosophie sind Erfahrungsgegen­ stände. Wie für Kant ist auch für Husserl die primäre Zugangsart zur Welt der rea­ len Raumdinge die äußere, die sinnliche Erfahrung155. Die sinnliche Wahrnehmung ist gegenüber allen weiteren Erfahrungsweisen dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Gegenstände im Modus der Selbstgegenwart darstellt156; sie besitzt den Vor­ zug „originär gebender Leistung“157. Dieser Vorzug darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sinnliche Erfah­ rung unvollkommen ist. Diese Unvollkommenheit ergibt sich bereits anhand eines einfachen Beispiels: Beobachtet man ein Wahrnehmungsobjekt wie zum Beispiel einen Würfel, so sieht man nie den Würfel als Ganzes, sondern maximal drei Flä­ 152 Sie sind im folgenden Kapitel zur Rechtswirklichkeit in Bezug zu setzen; vgl. hinten, S. 69 ff. 153 Phänomen – von phaínesthai (griechisch für „sich zeigen“, „ans Licht kommen“) – wird in der Phänomenologie in einem weiten Sinne als „das (den Sinnen, der Erkenntnis) Erschei­ nende“ beschrieben. 154 Reinach, S. 226; Avé-Lallemant, S. 169. 155 Husserl, Hua, Bd. 3, S. 88, Z. 23 ff.; Husserl, Ströker, Bd. 5, S. 10, Z. 9 f., S. 11, Z. 22 ff. 156 Husserl, Hua, Bd. 3, S. 11, Z. 2 ff.; Schäfer, S. 10. 157 Husserl, Ströker, Bd. 5, S. 11, Z. 8. „Eine originäre Erfahrung [die Erfahrung der Selbst­ gegebenheit] haben wir von den physischen Dingen in der ‚äußeren Wahrnehmung‘, aber nicht mehr in der Erinnerung oder vorblickenden Erwartung“; Husserl, Ströker, Bd. 5, S. 11, Z. 10 ff. Vgl. auch Husserl, Hua, Bd. 6, S. 107.

IV. Die Phänomenologie Husserls

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chen von ihm; von unserer Wahrnehmung intendiert wird dennoch der Würfel als Ganzes. Demnach ist es ein Charakteristikum des Wahrnehmungsobjekts, die Wahrnehmung stets zu überschreiten. Die äußere Wahrnehmung ist immer nur in der Lage, ihr Wahrgenommenes einseitig und demzufolge beschränkt wieder­ zugeben158, denn in keiner abgeschlossenen Wahrnehmung oder Wahrnehmungs­ reihe erscheint ein „Raumding“ (ein konkreter Gegenstand) allseitig, das heißt in der Totalität der ihm möglicherweise zukommenden Eigenschaften159. Indem das Objekt die Wahrnehmung stets übersteigt, bildet es einen irreellen160 intentionalen Einheitspol unterschiedlicher Bewusstseinsweisen von ihm; das Objekt selbst er­ weist sich den Bewusstseinsweisen gegenüber als transzendent, als die Wahrneh­ mung übersteigend161. Husserl nennt den durch die Wahrnehmung intendierten Einheitspol „Synthesis der Rekognition“162. Die Transzendenz irreellen Beschlos­ senseins gehört für Husserl zur Gesamtheit aller wahrnehmbaren Objekte und da­ mit zum Sinn der Welt163. In seiner vollkommenen Seinsfülle erweist sich das Objekt somit auch bei Hus­ serl als eine (im Unendlichen liegende) Idee, die in endlichen Wahrnehmungsver­ läufen immer nur mehr oder weniger annähernd, jedoch nie ganz erreicht werden kann164. Die einheitsstiftende Idee oder Qualität der wahrgenommenen Gegen­ stände nennt Husserl Wesen. Es ist „objektive Transzendenz“165, das heißt das­ jenige Sein, das sich prinzipiell nur in Appräsentation (Mitwahrnehmung) und Vergegenwärtigung darstellt und das den Menschen auf eine immer schon beste­ hende intentionale Gegebenheitswelt verweist166. Dass ein Objekt trotz der unendlich vielen Erscheinungsweisen immer wie­ der als dasselbe identifiziert werden kann, charakterisiert sein Wesen als intentionalen Einheitspol für das Bewusstsein167. Umgekehrt setzt jedes individuelle Erfahren und Bewusstsein eine Repräsentationsfunktion voraus, ein Wiedererken­ 158

Husserl, Hua, Bd. 1, S. 96, Z. 24 ff. Husserl, Hua, Bd. 11, S. 3, Z. 27 ff.; Schäfer, S. 10. 160 Nach Husserl liegt der intendierte Einheitspol im Unendlichen; Husserl, Hua, Bd.  1, S. 96 f., Z. 17 ff. 161 Schäfer, S. 10; Husserl, Ströker, Bd. 5, S. 89, Z. 15. 162 Husserl, Hua, Bd. 11, S. 326, Z. 24 ff. 163 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 65, Z. 17 ff. Unter Welt versteht Husserl die Gesamtheit aller wahr­ nehmbaren Objekte. 164 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 97, Z. 17 ff. 165 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 136, Z. 23 f. 166 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 169, Z. 19 ff. Das bedeutet, dass für Husserl die Idee oder Qualität eines Gegenstandes nicht Produkt oder Artefakt der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit ist; sie ist gleichzusetzen mit der Wirklichkeit an sich im Sinne Kants. Die Wahrnehmung des re­ alen Gegenstandes bestimmt sich auf dessen Einheitspol (das Wesen des Gegenstandes) bezo­ gen als subjektiv-immanent und gleichzeitig als transzendent. Ein reales Objekt wird erfahren, gleichzeitig jedoch hinsichtlich seiner umfassenden Erscheinungsmöglichkeiten nicht wahrge­ nommen bzw. erfasst. Der Begriff der Transzendenz schließt also den Begriff der Immanenz nicht aus, vielmehr sind beide Eigenschaften am Objekt wahrnehmbar. 167 Schäfer, S. 12; Husserl, Ströker, Bd. 5, S. 89, Z. 4 ff. 159

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

nen-Können des Typischen im Singulären, das von Husserl als assoziatives Wahrnehmungsvermögen umschrieben wird168; es erzeugt „deskriptiv eigentümliche […] Einheitsformen“169. 2. Wahrnehmung und Mitmeinung

Der Begriff „transzendent“ bedeutet bei Husserl also nicht ein dem Zugang des Bewusstseins schlechthin verschlossener Seinsbereich, sondern weist hin auf die Eigenart irreellen Beschlossenseins eines Objekts in der Mannigfaltigkeit seiner Bewusstseinsweisen170. Ein positiv (immanent) wahrgenommenes Objekt ist somit so weit transzendent, als es Unabschließbarkeit beinhaltet, weil es unbegrenzte Er­ fahrungs- bzw. Erscheinungsweisen bereithält171. Aus phänomenologischer Sicht ist das wahrgenommene Objekt daher in charak­ teristischer Weise immer ein Zusammengesetztes von wirklicher, eingeschränkter Feststellung des Objekts und von weiteren, die Feststellung ergänzenden, unerfüll­ ten Mitmeinungen172. Im Wesentlichen nehmen wir die Welt nach Husserl daher in Akten des objektivierenden Meinens wahr173. Diese sind ein Versuch, den wahr­ genommenen Gegenstand zu kategorisieren, sich dessen Einheitspol zu nähern174. Da die Phänomenologie zeigen kann, dass die Sinneswahrnehmung ihr Objekt immer nur einseitig, in Perspektiven, darzustellen vermag, wendet sich Husserl ge­ gen das lediglich auf die Sinneserfahrung gestützte Wissen175 ebenso wie gegen die Überbewertung rein psychologischer Erkenntnisse176. Husserl fordert die wissen­ schaftliche Einbeziehung der beschriebenen Wahrnehmungsphänomene und das Verstehen der Wirklichkeit aller Sinnesdaten als eine prinzipiell nur vorbehaltli­ 168

Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 396; Lembeck, S. 32. Husserl, Hua, Bd. 19, Unterbd. 1, S. 36. Gegenstand der Assoziation sind somit Bewusst­ seinsinhalte, die „durch […] Kontinuität, Ähnlichkeit oder Kontrast“ verbunden sind; Bernet/ Kern/Marbach 1989, S. 189; Thomas Rolf, in: Vetter, S. 46 f. 170 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 65, Z. 29 ff.; Schäfer, S. 10. 171 Husserl, Hua, Bd. 1, S. 97, Z. 1. 172 Husserl, Hua, Bd. 8, S. 45, Z. 1 ff.; Husserl, Hua, Bd. 1, S. 96, Z. 17 ff. 173 Coriando, S. 80; Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 401. Das Produkt der Wahrnehmung setzt sich zusammen aus Wahrnehmung und Mitmeinung, wobei Erstere präsentiert und Letz­ tere mit präsentiert. Dieser Vorgang geschieht nach Husserl gleichzeitig; Husserl, Hua, Bd. 1, S. 150. Das Mitmeinen betrifft noch nicht erfahrene, aber erwartete Merkmale eines Gegen­ standes, welche die Wahrnehmung auf ihn überträgt. Für diesen Vorgang prägt Husserl den Begriff des „Apperzeptierens“. „Was von einem wahrgenommenen Gegenstand in weiterge­ hender Erfahrung erfahren ist, [wird] ohne weiteres ‚apperzeptiv‘ auf jeden ähnlichen [Wahr­ nehmungsgegenstand] übertragen“; Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 399. 174 Das Sein eines wahrgenommenen Objekts ist nicht deshalb, weil „Bewusstsein und Sein sich deckten“; vielmehr ist Sein jedem Bewusstsein nur in Erscheinungen gegeben; Scheler, Formalismus, S. 70. 175 Husserl, Hua, Bd. 2, S. 23, Z. 25 ff. 176 Husserl, Hua, Bd. 2, S. 3 ff., Z. 25 ff. 169

IV. Die Phänomenologie Husserls

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che, präsumtive Wirklichkeit177, die sich in Teilaspekten gibt178. Die Seinsthesis, die eine äußere Wahrnehmung der in ihr erscheinenden Erfahrung erteilt, wird da­ her keine umfassende Grundlage bieten179. Diese Wirklichkeit der äußeren Wahrnehmung nehmen wir aber ohne weiteres Hinterfragen als Realität an. Die Einstellung der fraglosen Gültigkeit bezeichnet Husserl als die „Generalthesis der natürlichen Einstellung zur Welt“180. Wenn auch Sinnbezüge durch neue Erfahrungen modifiziert werden, so wird doch das Sein der Realität nicht infrage gestellt. Anstatt nun in dieser Einstellung zu verbleiben, soll sie mit einer Blickwendung radikal geändert werden. Der erkenntnistheoretische Anspruch der Phänomenolo­ gie richtet sich entsprechend darauf, diese fraglose Geltung in eine objektivierbare Geltung der Realität zu überführen181. Für die Überführung in eine möglichst objektive Geltung wird ein methodolo­ gisches Vorgehen erforderlich, das Husserl Reduktion nennt182. Die immer schon vorgenommene Realitätsannahme soll durch die Reduktion, eine urteils- bzw. glaubensenthaltende Einstellung gegenüber der erscheinenden Wirklichkeit, in methodologischen Zweifel gezogen werden. Das hierfür erforderliche Innehalten, das epochein, soll so die Grundlage für eine adäquat erfüllende Anschauung er­ möglichen183.

177

Husserl, Hua, Bd. 1, S. 96, Z. 17 ff. Hinweise, dass Phänomene keine absolute Bedeutung haben können, ergeben sich dar­ aus, dass sie an unsere körperliche Sinneswahrnehmung gebunden sind; unsere Sinne sind in ihrer Wahrnehmung jedoch sehr begrenzt. Das menschliche Auge beispielsweise kann Farben nur innerhalb des VIS-Spektrums (ca. 400–800 nm) unterscheiden. Für Bienen jedoch, deren Sehspektrum im Infrarotbereich liegt, sind auf Blüten Muster zu sehen, die sich dem mensch­ lichen Auge entziehen und nur mit technischen Hilfsmitteln sichtbar gemacht werden können; am gleichen Objekt erscheinen unterschiedliche Phänomene. 179 Husserl, Hua, Bd. 3, S. 108, Z. 3 ff.; Schäfer, S. 13. Die Objektivität ist demnach bei rea­ len und idealen Gegenständen eine viel ähnlichere, als die „natürliche Einstellung“ uns vermu­ ten lässt. Die Existenz beider, des Idealen und des Realen, kann nur wahrnehmend „gemeint“ werden; Hartmann, Ethik, S. 153 f. 180 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 424; Lembeck, S. 35 f. 181 Vgl. Prechtl, Husserl, S. 56. 182 Husserl, Hua, Bd. 2, S. 44, Z. 23 ff. Husserl unterscheidet zwei verschiedene Reduktio­ nen. Die in den „Ideen“ ausdrücklich gesondert behandelte „eidetische Reduktion“ soll weg von der Tatsache hin zum eidos und damit zur Wesenserkenntnis führen. Die zweite, die tran­ szendental-phänomenologische Reduktion hat die Ausschaltung des Realitätsfaktors zum Ziel, mit dem die Welt natürlicherweise wahrgenommen wird. Die transzendentale Phänomenolo­ gie setzt beide Reduktionen zusammen voraus; dazu Avé-Lallemant, S. 164. Wesensschau ist so weder Verallgemeinerung noch Vergegenwärtigung, sondern ein eigener methodologischer Zugang. 183 Prechtl, Husserl, S. 55. 178

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

3. Phänomenologische Reduktion der Mitmeinung am Beispiel der juristischen Sachverhaltserfassung

a) Epochein Für eine Richterin oder einen Richter besteht regelmäßig die Notwendigkeit des Innehaltens gegenüber der „Generalthesis der natürlichen Einstellung“, und zwar bereits bei der Erfassung des Tatbestands. Das Festhalten des Tatbestands er­ scheint zunächst unproblematisch, bildet dieser doch die Summe aller rechtlich re­ levanten äußeren Tatsachen, aus denen die Rechtsfolgen abgeleitet werden. Tatbestandselemente sind allerdings immer Phänomene, Erscheinungen im Be­ wusstsein184. Denn nur was den Parteien, Zeugen und Sachverständigen bewusst ist, kann in den prozessualen Tatbestand Eingang finden. Soweit der Sachverhalt nicht ausschließlich in Urkunden festgehalten ist, erfährt das Gericht den Tatbe­ stand auf dem unvermeidlichen Umweg über dessen Erscheinungen im Bewusst­ sein der Parteien, Zeugen und Sachverständigen185. Ein Gericht wird beispielsweise Zeugen anweisen, nur das Sachdienlichste zu berichten und nur das darzulegen, was sie tatsächlich erfahren haben. Doch wer­ den immer auch weitere Elemente an den Sachverhalt herangetragen; es erscheint regelmäßig auch bei der noch so um Korrektheit bemühten Tatsachenschilderung nicht das, was die Parteien oder Zeugen wirklich sahen, sprachen etc.186. Als Bei­ spiel sei die Befragung von Zeugen zum Hergang eines Verkehrsunfalls ange­ führt, deren Ergebnisse sehr häufig widersprüchlich sind: Ein Unfallfahrzeug wird von verschiedenen Zeugen oftmals als von unterschiedlicher Farbe beschrieben; oder auf die Frage, ob sich ein Verkehrsteilnehmer vorsichtig verhalten habe, wer­ den verschiedene Zeugen regelmäßig eine sehr unterschiedliche Beurteilung ab­ geben187. b) Reduktion Die Abweichung der Beurteilungen und die Schwierigkeit der Wiedergabe des tatsächlich Erlebten erklärt Husserl dadurch, dass Bewusstseinseinstellungen et­ was Zusammengesetztes sind. Sie stammen aus den zwei bereits erwähnten Quel­ len: einerseits der Wahrnehmung der Außenwelt, andererseits jedoch auch aus Mitmeinungen hinsichtlich der Wahrnehmung der Außenwelt. Jede Person nimmt erwartete Lebenssituationen vorweg, realisiert sie in ihrem Bewusstsein in deut­ 184 Über alle übrigen Lebenssachverhalte außerhalb des Bewusstseins, die zwar sind und existieren, wird keine Partei, kein Sachverständiger und kein Zeuge berichten können. 185 Urkunden sind ihrerseits Aufzeichnungen von Sachverhalten; die Problematik der adäqua­ ten Erfassung im Bewusstsein stellt sich indirekt auch bei ihnen. 186 Vgl. zum Beispiel BGE 120 Ia 31, 32. 187 Troller, Phänomenologische Methode, S. 6.

IV. Die Phänomenologie Husserls

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licher Bildfolge, oft noch bevor sie sich in der Außenwelt tatsächlich ereignen188. Außenweltlich und innerweltlich Gesehenes und Empfundenes bilden die Gesamt­ heit unseres Bewussteins, wobei die beiden Quellen in unserem Erleben nicht klar trennbar sind189. Für das Gericht wird gerade darum ein Innehalten erforderlich, damit es die wesentlichen Eindrücke für die Bestimmung des rechtlich relevanten Tatbestands aus den Wahrnehmungen und Erinnerungen der Parteien herauslösen und das Gesche­ hene objektivieren kann. Denn wie Husserl anmerkt kommen Phänomenen trotz der Variabilität ihrer Erscheinungsformen auch wesentliche Eigenschaften zu, welche sie schließlich auszeichnen: „[…] in jeder […] Zweiheit und in jeder belie­ bigen Mannigfaltigkeit [liegt] eine Einheit und Selbigkeit im strengsten Sinne“190. Diese Einheit des einzelnen Gegenstandes soll erfahrbar gemacht werden, indem man ihn abstrahiert und auf diejenigen Eigenschaften reduziert, die ihm notwendi­ gerweise zukommen müssen191. Im oben angeführten Beispiel der Befragung zum Hergang eines Verkehrsun­ falls ist die Farbe des Unfallfahrzeuges wohl unwesentlich; hingegen muss aus den Zeugenberichten ein wesentlicher Eindruck entstehen, wie sich der Unfallverursa­ cher verhalten hat. Die Richterin oder der Richter hat die Aufgabe, jene Inhalte, welche im Zeitpunkt einer rechtlich bedeutsamen Handlung im Bewusstsein der Parteien erscheinen, nachvollziehbar auf die wesentlichen Elemente zu reduzieren, so dass die juristisch relevanten Elemente auch nach Monaten und Jahren als sol­ che wieder rekonstruierbar und somit nachvollziehbar sind. Das zentrale Erforder­ nis hierbei ist, dass der gerichtlich festgehaltene Tatbestand dem wirklich Gesche­ henen so nah als möglich kommt, denn die gerichtlich festgehaltenen Tatsachen sind die Grundlagen des Urteils192. Es bleibt anzumerken, dass sich die so immer wieder erforderliche phänomeno­ logische Reduktion gemäß Husserl als ein Wesenszug des Bewusstseins selbst er­ weist, indem sie erst die Möglichkeit schafft, immer in Themen und ihre Kontexte eingebunden, das heißt stets in „Einstellungen“ befindlich zu sein. Die Grund­ modalität der Reduktion schafft die Voraussetzung für ein Bewusstsein des Einge­ stelltseins. Sie ist Voraussetzung der intentionalen Objektwahrnehmung und glei­ chermaßen die Grundlage der phänomenologischen Selbstreflexion193.

188 Im Bewusstsein erscheinen immer auch Bilder, Klänge etc., die wir uns selber geben und an die äußeren Gegebenheiten herantragen. 189 Troller, Phänomenologische Methode, S. 5. 190 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 388. 191 Vgl. hinten, S. 69 ff., 73 ff. 192 Troller, Phänomenologische Methode, S. 5, 11. 193 Vgl. Lembeck, S. 40. Zur phänomenologischen Reduktion im juristischen Kontext siehe auch hinten, S. 73 ff.

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B. Ideengeschichtliche Perspektive

4. Phänomenologische Wertphilosophie

Scheler übernimmt von Husserl die phänomenologische Methode der Wesens­ schau und führt diese in die Wertethik ein. Dabei folgt Scheler nicht ausschließlich dem Husserlschen Denken, sondern entwirft eine analoge, begrifflich jedoch selb­ ständige Grundlegung der phänomenologischen Wertphilosophie194. In Schelers Terminologie wird die Husserlsche Begrifflichkeit des Wesens in den Begriff des Apriori umgewandelt. Als Apriori bezeichnet Scheler „alle jene idea­ len Bedeutungseinheiten und Sätze, die unter Absehen von jeder Art von Setzung der sie denkenden Subjekte und ihrer realen Naturbeschaffenheit und unter Ab­ sehen von jeder Setzung eines Gegenstandes, auf den sie anwendbar wären, durch den Gehalt einer unmittelbaren Anschauung zu Selbstgegebenheit kommen“195. Das „absehen von …“ scheidet also auch bei Scheler die Sphäre der Idealität von derjenigen der Realität, die Welt der Wesenheiten oder essentiae von der Welt der Erscheinungen im Bewusstsein, das heißt des Daseienden oder der existentiae196. Hinter diesem „absehen von …“ verbirgt sich nichts anderes als die phänomeno­ logische Reduktion197; apriorische Erkenntnis bei Scheler ist Wesens­erkenntnis198. Im wertphilosophischen Kontext impliziert die phänomenologische Reduktion das Erfahren der Wertqualität199. In gleicher Weise wie Objekte der sinnlichen Wahrnehmung nur perspektivisch gegeben sind, überschreitet die Richtigkeitsin­ tention der Wertqualität die Wahrnehmung: Das durch die Richtigkeitsintention Angestrebte übersteigt stets seine Realisierung und wird von den Phänomeno­ logen im Sinne des erwähnten intentionalen Einheitspols200 als „objektive Wert­ qualität“ dargestellt. 194

Beruft man sich auf Scheler und seine Konzeption der Phänomenologie, so hat man sich insbesondere auf die mittlere, die eigentliche phänomenologische Phase zu konzentrieren; Henckmann, Schelers Lehre vom Apriori, S. 120. 195 Scheler, Formalismus, S. 67. 196 Henckmann, Schelers Lehre vom Apriori, S. 122; Scheler, Formen der Sympathie, S. 307. Der Gegensatz von essentia und existentia beherrscht das Denken der Phänomenologen. Durch das „absehen von …“ drehen zwei Sphären auseinander. Die eine ist die Sphäre des Apriori; sie umfasst die Totalität der „idealen Bedeutungseinheiten und Sätze“. Die andere Sphäre ist diejenige der Realität und jeder Art von „Setzung“. Sie muss deshalb analog zur ersten Sphäre ebenfalls als eine Totalität, eine Welt für sich gedacht werden; Henckmann, Schelers Lehre vom Apriori, S. 122. 197 Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 934. Scheler verwendet nirgendwo Husserls Ausdruck der „Epoché“. Stattdessen spricht er von „absehen von“, „Ablösung“, „Herauslösen“; vgl. zum Beispiel Scheler, Formalismus, S. 74; Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 441. 198 Vgl. Henckmann, Schelers Lehre vom Apriori, S.  123; Avé-Lallemant, S.  162 ff., 165. Scheler legt großes Gewicht darauf, dass es sich auch im Bereich des Apriorischen um eine Sphäre der Erfahrung handle; Scheler, Formalismus, S. 71. Er betrachtet das Apriorische als et­ was Gegebenes, nicht als etwas durch die Vernunft Erzeugtes; vgl. Henckmann, Schelers Lehre vom Apriori, S. 125. 199 Troller, Die Begegnung, S. 121. 200 Vorne, S. 42 ff.

IV. Die Phänomenologie Husserls

49

Das phänomenologische Erfahren der Wertqualitäten („Wertschau“) erfordert demnach das Absehen von allen möglichen Variationen der Daseinsformen von Wertträgern201, von konkreten Daseinsformen von Werten. Durch das Ausblen­ den der möglichen Variationen der Erscheinungsweisen von Wertverhalten soll auf eine Beständigkeit von grundlegenden Wertqualitäten aufmerksam gemacht werden202. Schelers Darstellung der Reduktion vollzieht sich durch das Hervorheben un­ seres intuitiven Ansprechens auf Wertqualitäten, das ethischen Entscheidungen re­ gelmäßig zugrunde liegt203. Nur durch ein Zurückgreifen auf unser intuitives Wer­ tungsvermögen kann Werterkenntnis angeeignet werden204. Vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund des Denkens von Platon, Kant und Husserl lassen sich nun die Kernaussagen der phänomenologischen Wertethik analysieren. Sie sollen mit Bezug auf die Wertbedingtheit des Rechts dargestellt werden.

201 Zum Beispiel Sachverhalte und Gegebenheiten sind Wertträger. Zum Begriff des Wert­ trägers siehe vorne, S. 20 ff. 202 Vgl. hinten, S. 69 ff. 203 Die phänomenologische Reduktion als „Wertschau“ soll nach Scheler durch die Konzen­ tration auf die „aus der Person, dem Ich und dem Weltzusammenhang herausgelöste Aktinten­ tion“ erreicht werden; Scheler, Formalismus, S. 74. Vgl. hierzu auch Scheler, Zur Ethik und Er­ kenntnistheorie, S. 443 ff.; dazu hinten, S. 118 ff. 204 Hinten, S. 106 ff.

C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte I. Das Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung 1. Fragestellung

Zunächst sind nun die Wertungserfordernisse und Wertungslücken im Recht darzulegen: Erst die rechtstheoretische Betrachtung von Entscheiden zeigt die Wertbedingtheit des Rechts und damit auch die Notwendigkeit axiologischer Prä­ missen für eine Rechtsordnung. Um die Wertbedingtheit aufzuzeigen, ist zuerst auszuführen, wo sich Zugangsmöglichkeiten außerrechtlicher Wertmaßstäbe für die Rechtsordnung ergeben. In einem zweiten Schritt ist zu untersuchen, inwiefern sich phänomenologischallgemeinbegriffliche Charakteristika als objektive axiologische Prämissen einer Rechtsordnung aufzeigen lassen. Es soll untersucht werden, ob und in welcher Weise sich die Objektivität im phänomenologischen Sinne in der Rechtswirklich­ keit zu zeigen vermag205. 2. Ermessen

Das Erfordernis des Wertens scheint auf den ersten Blick das Charakteristikum einer eigenen Begriffsklasse zu sein, nämlich der Ermessensklauseln206. Von Er­ messensermächtigungen sind Beurteilungsspielräume abzugrenzen; sie beinhal­ ten ebenfalls ein Wertungserfordernis für den Rechtsanwender, jedoch eröffnen Ermessensermächtigungen eine größere und auch subjektivere Entschließungs­ freiheit. Bei Ermessensklauseln steht der Rechtsanwender regelmäßig vor einer Wahl­ möglichkeit; die Norm eröffnet verschiedene Vorgehensweisen ihrer Anwendung auf den Sachverhalt. Diese Wahlmöglichkeiten innerhalb der Bestimmung sind ge­ setzgeberisch intendiert207. Innerhalb der Bestimmung ermöglicht die Gesetzgebung dem Rechtsanwen­ der, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine von der Norm ge­ 205

Hinten, S. 69 ff. Engisch, Einführung, S. 145 ff., 152. 207 Dazu Engisch, Einführung, S. 151.

206

I. Das Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung

51

tragene (richtige) Entscheidung zu fällen. In einem solchen Fall beinhaltet die von der Gesetzgebung eingeräumte Befugnis eine Delegation zur Bewertung und Ent­ scheidung an die rechtsanwendenden Behörden, wie sie unter Berücksichtigung aller in concreto zu ermittelnden Tatsachen und Umstände zu treffen ist208. Das Ermessen der rechtsanwendenden Behörden ist an die gesetzlichen Richt­ linien wie an die sorgfältige Ermittlung und Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gebunden209. Das Gewicht der Wertung bei Ermessensentscheiden zeigt sich insbesondere mit Blick auf das Verfahrensrecht. Ermessensentscheide der Verwaltungsbehörden können in der Regel nicht durch höhere Gerichte nach­ geprüft und korrigiert werden210; die einmal getätigte Wertung ist in solchen Fäl­ len nicht anfechtbar. Erst der Missbrauch von Ermessen macht eine Ermessensent­ scheidung rechtswidrig211. Auch wenn kein Ermessensmissbrauch begangen wird, verbleibt oft eine Un­ sicherheit hinsichtlich der „richtigen“ Entscheidung bzw. der angemessenen Be­ wertung der Wahlmöglichkeiten beim Rechtsanwender. Es besteht ein restlicher Raum des subjektiven juristischen Für-richtig-Haltens, auch nachdem die recht­ lichen Vorgaben und die tatsächlichen Umstände sorgfältig gewürdigt worden sind. In diesem restlichen Raum verbleiben noch immer Wahlmöglichkeiten. Sie auszufüllen erfordert eine individuelle Wertung, die ihrerseits gerichtlich nicht nachprüfbar ist, aber doch auf das „objektive Recht“ zielt212. Wo die Wertentscheidungen nicht justiziabel sind, liegt in der – auf definierte Beurteilungsspielräume beschränkten  – Entscheidungsmacht ein schöpferisches Moment der Rechtsanwendung. Durch den Spielraum ist die Richterin oder der Richter bei Ermessensklauseln berufen, an den axiologischen Grundlagen des Rechts mitzuwirken213.

208

Vgl. Häfelin/Müller/Uhlmann, Rz. 461; Engisch, Einführung, S. 152. Zum Beispiel BGE 134 IV 17, 25; 130 III 520, 522; 105 Ia 172, 176; vgl. auch § 40 des deutschen VwVfG. 210 Das Bundesgericht prüft etwa bei Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenhei­ ten nach Art. 82 ff. ausschließlich Rechtsfragen; Art. 95 f. und 98 BGG; Häfelin/Müller/Uhlmann, Verwaltungsrecht, Rz. 446a, 473 ff., 1936 ff. Bei der verwaltungsinternen Rechtspflege ist die Rechtsmittelinstanz (die Verwaltungsbehörde) hingegen in der Regel nicht auf die bloße Rechtskontrolle beschränkt; für die Bundesebene Art. 49 lit. c VwVG. Die Verwaltungsbehör­ den auferlegen sich jedoch bei der Angemessenheitsüberprüfung eine große Zurückhaltung; VPB 64 Nr. 43; 59 Nr. 63, S. 529 f.; Häfelin/Müller/Uhlmann, Rz. 474, 1938. 211 ZBl. 99 (1998), S. 524 ff. (Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich); Häfe­ lin/Müller/Uhlmann, Rz. 463 ff., 1938. Oft werden Ermessungsentscheidungen gerade durch das Merkmal definiert, dass sie gerichtlich nicht nachprüfbar sind; Engisch, Einführung, S. 145. 212 Engisch, Einführung, S. 152. 213 Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, Vorwort, S. VIII. 209

52

C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

3. Rechtsanwendung im Lückenbereich

Wertungserfordernisse in der Rechtsanwendung sind nicht auf Ermessensklau­ seln beschränkt. Immer wieder regeln Gesetzestexte gewisse Sachverhalte nicht, weil der entsprechende Fall zum Zeitpunkt des Erlassens nicht vorgesehen war. Auch die stetige Veränderung und Entwicklung der Gesellschaft sowie technische Neuerungen bringen Rechtsfragen mit sich, die gesetzlich erst zu regeln sind. Sol­ che Fälle weisen auf das Fehlen einer erforderlichen gesetzlichen Regelung214 bzw. auf anfängliche oder nachträgliche Lücken im Gesetz hin215. Auch wenn eine einschlägige, den Sachverhalt regelnde Gesetzesnorm noch nicht vorhanden ist, sind die Gerichte verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständig­ keit vorgelegte Rechtsfälle, die neue Fragen aufwerfen, zu bewerten und zu ent­ scheiden216. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Rechtsverweigerungsverbot der Ge­ richte217. Bereits das Feststellen von Lücken durch die Gerichte ist in der Regel ein wer­ tender Akt, denn nicht jedes Schweigen des Gesetzgebers ist als Lücke einzu­ stufen218. Die Frage, ob eine Gesetzeslücke vorliegt, betrifft so in erster Linie die Abgrenzung zum sog. rechtsfreien Raum und zum qualifizierten Schweigen219. Bei echten Lücken hingegen, wo eine vom Gesetz notwendigerweise zu beantwor­ tende Rechtsfrage offen geblieben ist, dürfen bzw. müssen diese Lücken durch die rechtsanwendenden Behörden  – mit den hierfür erforderlichen Wertungen  –

214

BGE 126 II 71, 80 f.; 118 II 199, 200. Die anfängliche Lücke besteht, wenn ein Sachverhalt nicht geregelt ist, der bei voller Ver­ wirklichung der gesetzgeberischen Idee in das Gesetz hätte aufgenommen werden müssen. Nachträgliche Lücken können sich infolge Veränderungen der Verhältnisse oder infolge neuer technischer Entwicklungen ergeben. Auch durch einen Bedeutungswandel der Rechtsnormen und unter dem Einfluss neuer, in die Rechtsordnung aufgenommener Wertvorstellungen kön­ nen nachträgliche Lücken entstehen; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 935; Riemer, § 4, Rz. 76 ff. Vgl. zu den nachträglichen Lücken zum Beispiel BGE 130 II 137, 144 ff.; 118 Ib 153, 159 ff.; 101 II 109, 115; zu den anfänglichen Lücken BGE 101 II 11, 12. 216 Art. 1 Abs. 2 und 4 ZGB. 217 Vgl. Art. 4 des französischen Code Civil von 1804: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“ Zu beachten ist allerdings das Analogieverbot im Strafrecht und das Verbot der teleologischen Reduktion jeweils zulasten des Angeklagten; zum Analogiever­ bot (und zu zulässigen Analogieschlüssen im Strafrecht) siehe BGE 134 IV 297, 302; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 823a ff. 218 Es gibt zahlreiche Lebenssachverhalte, die bewusst von der Gesetzgebung nicht ge­ regelt sind, wie zum Beispiel die Unterstützungspflicht unter Geschwistern im schweizeri­ schen Familienrecht: nur Verwandte in gerader Linie sind unterstützungspflichtig; Art.  328 Abs. 1 ZGB e contrario. Das Gericht darf jene „Lücken“ des Gesetzes nach dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht schließen; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 935; Bydlinski, Grundzüge, S. 59 ff. 219 Riemer, § 4, Rz. 85 ff., 87 ff.; BGE 112 II 104, 105 f.; 123 II 69, 73; Rüthers, Rechtstheo­ rie, Rz. 864; Riemer, § 4, Rz. 75 ff. 215

I. Das Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung

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ausgefüllt werden220. Rechtsanwendende Behörden hatten beispielsweise zu ent­ scheiden, ob ein Willensvollstrecker für seine Handlungen im Rahmen der Erb­ schaftsverwaltung wie ein Beauftragter verantwortlich gemacht werden kann; eine entsprechende Regelung im ZGB fehlt221. Bei der häufig vorkommenden und gesetzgeberisch intendierten Lückenfüllung intra legem hält das Gesetz auf eine Rechtsfrage zwar eine Antwort bereit, diese Antwort ist aber noch nicht unmittelbar für die Lösung des konkreten Rechtspro­ blems brauchbar. Wenn zum Beispiel in Art. 27 Abs. 2 ZGB von den Schranken der Selbstbindung gesprochen wird, muss die Richterin oder der Richter weitere Abklärungen und Wertungen vornehmen, was genau darunter zu verstehen ist, und wo das Gesetz auf die Würdigung der Umstände oder auf wichtige Gründe ver­ weist, ist ein Billigkeitsentscheid zu fällen222. Als Methoden der Lückenfüllung verweist die Gesetzgebung auf Gewohnheits­ recht, wo dies fehlt, auf Richterrecht223. Die Lückenbereiche zeigen, dass in der Rechtsfindung hier regelmäßig Wertungen außerhalb der gesetzlichen Bindungen getroffen werden müssen, weil die erforderlichen gesetzlichen Wertungen feh­ len224. Die rechtsanwendenden Behörden haben sich an bewährte Lehre und die Gerichts- und Verwaltungspraxis (Präjudizien) zu halten225. Vom Lückenproblem abzugrenzen, jedoch gleichermaßen mit einer Wertung zu verbinden, ist die gerichtliche Gesetzesberichtigung (Rechtsfindung „contra legem“226). Bei der Gesetzeskorrektur geht es darum, „Fehler“ bzw. sachlich un­ befriedigende, ungerechte Lösungen, welche eine Rechtsordnung vorschlägt, zu korrigieren227. In diesen Fällen werden bestehende Rechtsnormen durch richter­ liche Eigenwertungen ersetzt228. Auch hierzu ein Beispiel: Ausländische Ehegatten von Schweizerinnen oder Schweizern haben Anspruch auf Erteilung und Verlän­ gerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit ihrem schweizerischen Ehepart­ ner in ehelicher Gemeinschaft zusammenwohnen229. Das Schweizerische Bundes­ gericht hatte wiederholt zu entscheiden, ob die kantonalen Behörden verpflichtet sind, eine Aufenthaltsbewilligung zu verlängern, wenn ein Ehepartner vermutlich 220 Riemer, § 4, Rz. 103, 110. Eine echte Lücke liegt beispielsweise dann vor, wenn ein Ge­ setz die Wahl eines Organes vorsieht, das Wahlverfahren jedoch nicht statuiert. 221 BGE 101 II 47, 53. 222 Art. 4 ZGB; Riemer, § 4, Rz. 92 ff., 139 ff. Darunter fällt auch das Ermessen; vgl. vorne, S. 50 f. 223 Art. 1 Abs. 2 ZGB. 224 Entsprechend sind im Lückenbereich die Gerichte „Ersatzgesetzgeber“; sie schaffen Richterrecht; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 822; Riemer, § 4, Rz. 122, 129 ff. 225 Art. 1 Abs. 3 ZGB; Riemer, § 4, Rz. 156 ff. 226 Die Gesetzesberichtigung oder -korrektur wird in der Schweiz auch als die Ausfüllung einer unechten Lücke bezeichnet; zum Beispiel BGE 114 II 230, 233. 227 Riemer, § 4, Rz. 104; Engisch, Einführung, S. 177; vgl. auch Gächter, S. 356, der in sei­ ner Analyse der Innentheorie Eugen Hubers und Bruno Huwilers den Vorzug gibt. 228 Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 828, 935. 229 Art. 42 AuG.

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

im Hinblick auf die Verlängerung der Bewilligung die Einreichung eines Schei­ dungsbegehrens verweigerte230, und verneinte dies: Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes wurden die kantonalen Behörden demnach nicht verpflichtet, die Aufent­ haltsbewilligung zu verlängern231. 4. Auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe

Ein Rechtssystem besteht ferner aus einer Vielzahl von Begriffen, deren kon­ krete Anwendung der Auslegung bedarf. Juristische Begriffe wie Handlungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Sittenwidrigkeit, Angemessenheit etc. bedürfen einer weiteren bestimmenden Definition232. Denn aufgrund der deskriptiven Merkmale der erwähnten Begriffe ist der angegebene Sinn des Normativen noch nicht genügend bestimmt. Die eigentliche Bedeutung wird bezüglich solcher Begriffe erst mit dem erforderlichen Beurteilungsspiel­ raum und damit mit einer Wertung erschlossen, die den normativen Begriff im Ein­ zelfall zur Anwendung bringt233. Begriffe dieser Art wurden daher bereits als „wertausfüllungsbedürftige Be­ griffe“234 umschrieben. Die Bezeichnung soll verdeutlichen, dass der normative Gehalt jener juristischen Begriffe von Fall zu Fall durch Wertungen ausgefüllt wer­ den muss235. Ob eine Gesinnung „gemein“236 oder ein Beweggrund „verwerflich“237 ist, kann nur aufgrund einer Wertung entschieden werden. Präjudizien können die Freiheit dieser Wertung einschränken, doch verbleibt beim Rechtsanwender zu­ mindest die Entscheidung, ob dem Präjudiz im konkreten Fall gefolgt werden kann oder nicht. Auch Generalklauseln und allgemeine Rechtsgrundsätze erfordern für ihre An­ wendung eine konkretisierende, auf den Fall bezogene Wertung.

230 BGE 128 II 145, 154; 127 II 49; 56 ff.; 128 II 97, 102 zu Art. 7 Abs. 1 Satz 1 ANAG (auf­ gehoben). Vgl. zur heutigen Rechtslage auch Art. 50 Abs. 1 und Art. 118 Abs. 2 AuG. 231 BGE 128 II 145, 155. 232 Kramer, S. 58 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 44 ff. 233 Zum Beispiel das öffentliche Interesse, Art. 5 Abs. 2 BV. 234 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 10. 235 Engisch, Einführung, S. 144. Unter unbestimmte Rechtsbegriffe können auch Tatsachen­ begriffe fallen, zum Beispiel Dunkelheit, Horde, Mensch etc.; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 12. 236 Zum Beispiel Art. 233 Abs. 1 StGB. 237 Zum Beispiel Art. 47 Abs. 2 StGB.

I. Das Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung

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5. Normenkollision und Interessenabwägung

Bei Normenkollisionen finden auf denselben Sachverhalt Rechtsnormen An­ wendung, die inhaltlich verschieden sind. Eine solche Normenkollision ergab sich beispielsweise nach der Einführung des Wiener Kaufrechts, das anders als das schweizerische Recht keine maximalen Verwirkungsfristen für die Mängelrüge kennt; die rechtsanwendenden Behörden mussten entscheiden, auf welche Weise der Konflikt zu lösen sei238. Normenkollisionen ergeben sich regelmäßig in Ver­ bindung mit einem Kompetenzkonflikt, zum Beispiel wenn durch den Bund er­ lassene Normen dem kantonalen Recht widersprechen oder wenn durch die Euro­ päische Union erlassene Richtlinien im Widerspruch stehen zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten239. Im Bereich des öffentlichen Rechts ergeben sich sehr oft Probleme der Wertung, wenn unterschiedliche Interessen gegeneinander abzuwägen sind. Angemessene Interessenabwägungen vorzunehmen und gerechte Problemlösungen zu finden, er­ weist sich als eine Schwierigkeit der Rechtsfindung240. In solchen Interessenabwägungen ist im Einzelfall zu entscheiden, welchem In­ teresse der Vorzug gegeben werden soll, wenn beispielsweise das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit241 mit entgegenstehenden öffentlichen Interes­ sen kollidiert, wenn die Medienfreiheit242 die Privatsphäre öffentlicher Personen gefährdet243 oder wenn das Grundrecht auf Eigentum244 übergeordneten Interessen der Gemeinschaft entgegensteht245. 238 Die Gewährleistungsklage verwirkt nach schweizerischem Recht schon nach einem Jahr (Art. 201 Abs. 1 OR), während die Mängelanzeige nach dem Wiener Übereinkommen inner­ halb von zwei Jahren möglich ist (Art. 39 Abs. 2 des UN-Kaufrechts). Das Handelsgericht des Kantons Bern empfahl den rechtsanwendenden Behörden für solche Fälle, anlässlich derer das Gericht mit einer vom Gesetz nicht gelösten und in der Literatur kontrovers diskutierten Frage befasst ist, wie im Lückenbereich selbst nach der Regel zu entscheiden, die sie als Gesetz­geber aufstellen würden (Art. 1 Abs. 2 ZGB); Handelsgericht des Kantons Bern, 17. Januar 2002, Nr. 8805, Erw. III; dazu vorne, S. 52 ff. 239 Als Beispiel einer reinen Normenkollison ohne Kompetenzkonflikt kann das Rauchverbot in Gastronomiebetrieben und der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeführt werden. Gemäß Art. 110 Abs. 1 lit. a BV könnte der Bund Vorschriften über den Schutz von Ar­ beitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlassen, etwa ein Verbot, in geschlossenen Räumen von Gastwirtschaftsbetrieben zu rauchen. § 22 des Zürcher Gastgewerbegesetzes vom 1. Dezember 1996 (LS 935.11) lautet hingegen wie folgt: „Für rauchende und nicht rauchende Gäste sind ge­ trennte Plätze anzubieten, soweit es die Betriebsverhältnisse zulassen.“ 240 Eine Abwägung von sich gegenüberstehenden Interessen ist zum Beispiel nötig im Rah­ men der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder beim Vertrauensschutz (Art. 9 BV). 241 Art. 10 Abs. 2 BV. 242 Art. 17 BV. 243 Art. 13 BV; Art. 8 EMRK; vgl. dazu auf europäischer Ebene das EGMR-Urteil von Han­ nover vs. Germany, App. no 59320/00, §§ 43–81, ECtHR 2004-VI. 244 Art. 26 BV. 245 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 2. Als Beispiel kann hier die Kontroverse um die Dul­ dungspflicht von Lärmemissionen öffentlicher Werke bzw. die Entschädigungspflicht aus der

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

Bei solchen Konstellationen verlangt das Gesetz regelmäßig eine wertende Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen; Einschränkungen der Grundrechte sind nur bei überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen zu­ lässig. Sie müssen zudem verhältnismäßig sein246. Auch der Kerngehalt von Grundrechten wird von der Verfassung nicht positiv festgeschrieben. Sein jeweiliger Inhalt ist auch in der Lehre oftmals umstritten; entsprechend ist er auf die wertende Konkretisierung durch die Rechtsprechung angewiesen247. Hinsichtlich der Falllösung stellt sich somit immer wieder die Frage, wie die einander entgegenstehenden Interessen im Einzelfall zu gewichten sind, das heißt, in welcher Rangordnung sie zueinander stehen. Die gesetzlichen Bestimmungen legen in der Regel nicht fest, wie die Gewichtung zu erfolgen hat. Der Auswahl un­ ter verschiedenen Möglichkeiten des Vorzuggebens liegt eine Beurteilung der ge­ wählten Variante und insofern eine Wertung zugrunde. Interessenabwägungen füh­ ren so regelmäßig zu Wertentscheidungen248. 6. Wertungserfordernisse der Sprache

Oft kann sich das Wertungserfordernis bereits aus dem Gesetzestext ergeben. Dies trifft einerseits zu bei unklarer oder mehrdeutiger Formulierung der Bestim­ mungen. Gewisse Wertungserfordernisse ergeben sich aber auch schon aus der Sprache selbst. Da die Interpretation der Sprache vom gesellschaftlichen Kontext mit geprägt wird, impliziert sie eine Wandelbarkeit der Begriffe. So heben die Arbeiten der modernen sprachanalytischen Philosophie hervor, dass für die Bedeutungsinterpretation von Texten Maßstäbe mit einbezogen wer­ den, an denen sich die Sprache selbst orientiert. Solche Maßstäbe sind nach der Konzeption Wittgensteins etwa der Gebrauch von Begriffen im sprachlich-sozia­ len Kontext einer Gesellschaft: Erst dadurch, dass wir wissen, wie ein Begriff von der Gesellschaft verwendet wird, kennen wir auch seine Bedeutung249. Entsprechend wird der Rechtsanwender auf das sprachlich-soziale Verhalten der Gesellschaft im Sinne eines Vorverständnisses und einer Vorwertung für die Inter­ Enteignung nachbarrechtlicher Abwehrrechte im Bereich des Flughafens Zürich herange­ zogen werden. Die Gerichte haben zu entscheiden, ob öffentlichen oder privaten Interessen der Vorzug gegeben werden soll; vgl. dazu zum Beispiel BVGE A  1923/2008, Urteil vom 26. Mai 2009. 246 Art. 36 Abs. 2 und 3 BV. 247 Zippelius, Wertungsprobleme, S.  17. Vgl. dazu Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten. Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, Bern 2001. 248 Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 22. 249 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil 1, Nr. 43; vgl. auch Wittgenstein, Trac­ tatus logico-philosophicus, Nr. 3.328.

I. Das Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung

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pretation von Rechtsregeln Bezug nehmen. Isolierte Texte und auch die RechtsSprache allein vermögen ihre Interpretationsmöglichkeiten nicht entscheidend zu begrenzen, wie dies für die Subsumtion erforderlich ist250. 7. Vorverständnis

Das für die Erschließung der Begriffe notwendige sprachliche Vorverständnis entspricht einer bereits vorgenommenen gesellschaftlichen Interpretation und Be­ wertung des Gesetzestextes, auf die der Rechtsanwender zur Begründung juristi­ scher Entscheidungen zurückgreift. Das Vorverständnis reduziert sich jedoch nicht auf die Sprache. Denn hervor­ zuheben ist ebenso die unmittelbare Beziehung zwischen den zu interpretierenden Texten und deren Interpreten. Der Interpret tritt nicht neutral, sondern mit seinem Vorverständnis an einen Text, das heißt mit seiner geschichtlich-individuellen Be­ dingung des Verstehens, die den Verstehensprozess leitet und für die Interpretation des Textes mit bestimmend wirkt251. Vor allem durch Essers Werk hat die Hermeneutik Eingang in die moderne Rechtsmethodik gefunden252. Als hermeneutisches Vorwissen ist insbesondere auf die Werterfahrung hinzuweisen. So leitet Esser aus der vorverständnisgeprägten Struktur des Verstehens ab, dass eine Richterin oder ein Richter mit einer aus außerdogmatischen Quellen schöpfenden materialen Richtigkeitsüberzeugung an den zu interpretierenden Text herantritt253. Durch die Wertungserfordernisse der Sprache und insbesondere das Vorver­ ständnis wird die Werteaffinität des Rechts wesentlich erweitert; bereits bei der Lektüre des Gesetzestextes und bei der Sachverhaltserfassung fließen die herme­ neutischen Kategorien der Wertung ins Recht ein. Auf das wertende Vorverständnis ist insbesondere in Zusammenhang mit der Phänomenologie der emotionalen Erkenntnis vertieft zurückzukommen254.

250

Dazu Herbert, S. 290 ff.; Hänni, Hermeneutik, S. 209 ff. Gadamer, insb. S. 281 ff., 305 ff. 252 Dazu Kramer, S. 269. 253 Esser, S. 134 ff., 149 ff.; Kramer, S. 267. 254 Hinten, S. 106 ff., 135 ff.

251

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

II. Aufgaben der Methodenlehre 1. Auslegungskanon

Die Offenheit einer Rechtsordnung für Wertungen, die sich aus Rechtsquellen, Sprache und Vorverständnis ergibt, soll durch die Sinnermittlung der Norm mittels der juristischen Methodenlehre beschränkt werden. Der Gesetzeszweck soll durch das Heranziehen der Auslegungskriterien genauer ermittelbar sein. Ausgangspunkt der Auslegung von rechtlichen Normen ist nach der bundesge­ richtlichen Rechtsprechung der Wortlaut der Norm, das heißt die grammatikali­ sche Auslegung255. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung soll so die sorg­ fältige Wahrnehmung und Analyse des Gesetzeswortlautes die erste Voraussetzung für eine sachgerechte Auslegung sein256. Ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm keine klare Herleitung der Rechtsfolgen, so sind weitere Auslegungshilfen her­ anzuziehen. Anhand der systematischen, der historischen und der teleologischen Auslegung soll eine sachgerechte Interpretation der anzuwendenden Norm er­ reicht werden257. Hinter dem systematischen Auslegungskriterium steht der Gedanke, dass der Sinn von Texten oft erst aus dem Kontext erschlossen werden kann. Grundlegend für die systematische Auslegung ist daher die Vorstellung, dass die Summe der Normen einer Rechtsordnung eine Einheit, ein System bildet258. Die Einzelnorm steht zunächst im Kontext des jeweiligen Gesetzes. Darüber hinaus können wei­ tere Gesetze einer Rechtsordnung maßgeblich sein, insbesondere üben auch Wer­ tungen der Verfassung einen gewichtigen Einfluss auf die Bestimmung der Syste­ matik einer Norm aus259. Die historische Auslegung versucht, den Normzweck gesetzlicher Vorschriften aus dem Kontext ihrer Entstehungsgeschichte zu ermitteln260. Das entscheidende 255 BGE 121 III 219, 224 f.; 123 II 464, 468; 124 IV 106, 109; 129 III 335, 340. Auf die da­ mit zusammenhängende Problematik wegen des Wertungserfordernisses der Sprache ist vorne bereits hingewiesen worden, S. 56 f. Zur Kritik am Wortlaut der Norm als Ausgangspunkt der Rechtsanwendung siehe Amstutz/Niggli, Rz. 15 ff. 256 Dazu Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 731 ff., 743. 257 Von Savigny hat 1840 die Methoden als den Stand der juristischen Methodendiskussion zusammengefasst und diese vier Elemente der Auslegung hervorgehoben; von Savigny, Bd. I, S. 213; Bd III, S. 244. Dieser Kanon der Gesetzesauslegung wird bis heute als der gültige ange­ sehen; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 699 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 42 ff.; Kramer, S. 47 ff. 258 Engisch, Einführung, S. 209 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 49; Höpfner, S. 3 ff.; und Karl Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, Heidelberg 1935. 259 Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 777. Eine relativ neue Auslegungsregel, die mit der syste­ matischen Auslegung in enger Verbindung steht, betrifft die systemkonforme Auslegung; BGr. 2C_419/2008, Urteil vom 30. März 2009, Erw. 3.2. Sie dient der Vermeidung eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht und führt zur Verwerfung aller Auslegungsergebnisse, die gegen höherrangiges Recht verstoßen; vgl. dazu auch Höpfner, S. 157. 260 Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 780.

II. Aufgaben der Methodenlehre

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Element der historischen Auslegung ist das Wissen um den Entstehungskontext der Norm. Der Rechtsanwender muss den ursprünglichen Regelungswillen und Normzweck nachvollziehen können261; diesen zu ermitteln stellt jedoch regelmä­ ßig bereits eine Interpretation dar262. Die teleologische Auslegung erfordert die Interpretation des Gesetzestextes im Hinblick auf den Zweck der Bestimmung. Dabei bezieht sie sich auf einen objek­ tiv in der Norm enthaltenen Zweck, der sich durch die Entwicklung der Rechtsord­ nung möglicherweise mit ändern kann. Gegen die teleologische Auslegung wird häufig vorgebracht, dass die so erforderliche Festsetzung des objektivierten Geset­ zeszwecks durch den Rechtsanwender fast uneingeschränkt erfolgen könne263. Von den Gerichten und in der Lehre wird der Normzweck als zentrales Element der Ge­ setzesauslegung angesehen264. Gleichwohl darf dieses Kriterium keinesfalls sche­ matisch als gewichtigstes Auslegungselement gehandhabt werden, sondern ist vor dem Hintergrund des Einzelfalls zu würdigen und zu bewerten265. Beim Vorgang der teleologischen Reduktion wird ein vordergründig klarer, aber verglichen mit der Teleologie des Gesetzes zu weit gefasster Wortsinn einer Norm auf jenen Anwendungsbereich reduziert, der sich aus der ratio legis ergibt266. Als Beispiel für die Anwendung der teleologischen Reduktion verweist die deutsche Literatur auf den zu weit gefassten Wortsinn des § 181 BGB267. Nach dieser Be­ stimmung ist die Selbstkontrahierung des Stellvertreters ausgeschlossen, um In­ teressenkonflikte zu vermeiden, durch die vom Vertreter Verträge abgeschlossen werden können, die ihn begünstigen, den Vertretenen jedoch benachteiligen. Wenn beispielsweise eine Angestellte einer Bäckerei ein Gebäck kauft und den entspre­ chenden Betrag in die Kasse legt, so ist dieser Vertrag als Selbstkontrahierung an­ zusehen und nach der vorher genannten Bestimmung nichtig. Da jedoch kein In­ teressenkonflikt vorliegt, erscheint dieses Auslegungsergebnis als nicht sinnvoll. Durch die Formel der teleologischen Reduktion beschränken die Gerichte daher die Anwendbarkeit des § 181 BGB auf jene Fälle, bei denen tatsächlich ein Inte­

261

Bydlinski, Grundzüge, S. 19 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 795. Die Materialien sind regelmäßig uneinheitlich und widersprüchlich; vgl. BGE 112 II 167, 169 f.; 116 II 721, 727. Zahlreiche Personen sind beteiligt und der Gesetzesentwurf wird lau­ fend wieder geändert; im Vordergrund steht daher eine kritische Würdigung der Materialien; Riemer, § 4, Rz. 56. 263 Bydlinski, Grundzüge, S. 26 f. 264 Riemer, § 4, Rz. 43; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 725; BGE 131 III 33, 35; 122 III 469, 479; 115 II 136, 142 ff.; 98 II 161, 162. Von den Gerichten gelegentlich herangezogen wird auch das sog. realistische (soziologische) Auslegungselement. Durch dieses Kriterium soll den tatsäch­ lichen gesetzesrelevanten Verhältnissen zur Zeit der Entstehung des Gesetzes Rechnung getra­ gen werden. Diese sollen sinngemäß für die konkrete Auslegung übernommen werden, sofern das Ergebnis praktikabel ist; dazu BGE 127 V 156, 160 f.; Riemer, § 4, Rz. 48 f. 265 Riemer, § 4, Rz. 34. 266 Kramer, S. 193, der sich kritisch zu dieser Rechtsform äußert. 267 Larenz/Canaris, S. 212. 262

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

ressenkonflikt besteht. Die Entscheidung, wann die Formel der teleologischen Re­ duktion erforderlich wird, bedarf einer Wertung268. 2. Grenzen der Auslegungskriterien

Die klassischen Auslegungskriterien sind zwar ein Grundpfeiler der Auslegung, dennoch vermögen sie oft kein klares Ergebnis zu vermitteln. Die einzelnen Aus­ legungselemente führen vielfach zu unterschiedlichen Auslegungsergebnissen269. Hierzu ein Beispiel: Gemäß dem Organisationsreglement der Rechtswissenschaft­ lichen Fakultät der Universität Zürich270 ist die Teilnahme an Abstimmungen in der Fakultätsversammlung bei Prüfungsleistungen beschränkt auf Personen, wel­ che die betreffende Prüfung abgelegt haben271. Gemäß dem Wortlaut dieser Regle­ mentierung dürften Fakultätsmitglieder, die diese Prüfung nicht abgelegt, sondern direkt doktoriert haben, nicht an der Abstimmung teilnehmen  – trotz einer auf einem höheren Niveau abgelegten Prüfung. Dieses Ergebnis dürfte dem Zweck der Norm (teleologisches Auslegungselement) widersprechen272. Das grammati­ kalische und das teleologische Auslegungselement stehen sich im herangezoge­ nen Beispielfall entgegen. Insbesondere durch das Fehlen eines anerkannten Kriteriums, um die Hierarchie der Auslegungskriterien untereinander festzulegen, erhält die Gegensätz­ lichkeit der Ergebnisse eine besondere Aktualität273. Aufgrund der fehlenden Rangordnung sind demnach durch das Heranziehen der Auslegungsregeln oftmals keine ausreichenden normativen Prämissen für die Entscheidung vorhanden274. Dasselbe Sachproblem, am Maßstab derselben Rechtsnorm gemessen, kann von 268 Für Fälle von teleologischer Reduktion nach schweizerischer Rechtsprechung vgl. BGE 87 I 10, 16; 130 III 76, 82. 269 Dies gilt sogar für das systematische und das grammatikalische Auslegungselement; vgl. BGE 124 III 266, 271; 126 III 129, 140 ff.; 117 IV 229, 231. Die Auslegungselemente sind re­ gelmäßig nicht aus sich heraus schlüssig, sondern erfordern ihre kritische Würdigung; Riemer, § 4, Rz. 40 f. Vgl. auch etwa BGE 131 II 656, 667 ff.; 131 III 97, 100 ff., 103. Zum Verhältnis der Auslegungskriterien zur teleologischen Reduktion siehe Riemer, § 4, Rz. 73. 270 LS 415.411. 271 § 10 Abs. 2 Ziff. 1 des Organisationsreglements der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich vom 16. Dezember 1998. 272 Vgl. Riemer, § 4, Rz. 33. 273 BGE 131 III 33, 35; 125 III 57, 58 f.; 127 II 215, 223; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 85 ff.; Esser, S.  124 ff.; Engisch, Einführung, S.  98 ff., 104, 121; Riemer, § 4, Rz.  62; Bydlinski, Rechtsbegriff, S. 553 ff.; a. M. Koch/Rüßmann, S. 176 ff.; Ernst Zeller, Die Auslegung von Ge­ setz und Vertrag. Methodenlehre für die juristische Praxis, Zürich 1989. Auch bei den letztge­ nannten Autoren vermag jedoch die Hierarchie der Auslegungskriterien das Wertungserforder­ nis nicht zu beseitigen; vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 725 ff.; Koch/Rüßmann, S. 180. 274 Vgl. Alexy, Theorie, S. 20. „Surely, we have a multitude of various principles of inter­ pretation […] but all of them are only a kind of direction indicator. Even at their best, they only tell us: go in this direction“; Aarnio, S. 644.

II. Aufgaben der Methodenlehre

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verschiedenen Gerichten bei methodengetreuer Auslegung unterschiedlich beur­ teilt werden275. Den Gerichten bleibt bei vielen wertbezogenen Einzelaspekten der Rechts­ anwendung oft ein erheblicher Beurteilungsspielraum. Eine hierfür erforderliche Wertung ist in den Fällen sich widersprechender Auslegungskriterien unumgäng­ lich. Im Einzelfall muss daher als ethisches Element276 durch eine Abwägung fest­ gelegt werden, welchem Auslegungskriterium das stärkste Gewicht zukommen soll, welches das sachlich überzeugendste ist und welches zur gerechtesten Lö­ sung führt. Wird die juristische Methodenlehre auf ihre Funktionsweise untersucht, er­ weist sie sich damit oftmals nicht als Korrektur materiell unrichtiger Entschei­ dungen, sondern vielmehr als eine Theorie der konkreten Wertverwirklichung. Die klassischen Kriterien der juristischen Methodik stellen sich dar als formale Instrumente zur Verwirklichung materialer Wertentscheidungen. Insofern hat die Rechts­anwendung unter Berücksichtigung der Auslegungselemente eine primär vermittelnde Funktion: Sie erlaubt es, die Wertmaßstäbe einer jeweiligen Gesamt­ rechtsordnung zu verwirklichen277. 3. Bewertung und Entscheidung

a) Erfordernis der Wertung Die Erfordernisse der Wertung im Recht stehen der Tatsache nicht entgegen, dass es in einer Vielzahl von Fällen feststeht, wie die erforderliche Wertung durch den Rechtsanwender zu erfolgen hat. Dies kann sich aus der Norm selbst, aus Prä­ judizien oder aus der Lehre, aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, aus Rechtsver­ gleichung oder auch aus außerrechtlichen Argumenten ergeben278. Solche Fälle dürften in der täglichen Anwendung zahlreich sein279. Dennoch ist die Rechtsanwendung in erheblichem Maße mit Wertungsfragen verflochten. Wie dargestellt, gehen diese Wertungserfordernisse nur schon bei der Rechtsauslegung wesentlich weiter, als dies die Hinweise auf wertausfüllungs­ bedürftige Begriffe und Kollisionsfragen zuerst vermuten lassen. Wertungen las­ 275

Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 994. Riemer, § 4, Rz. 59. 277 Umgekehrt kann die Rechtspraxis durch diese formale Methodik auch für Unrechtssys­ teme eine weitgehende methodische Rechtfertigung bieten; Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 991 ff.; vorne, S. 60 ff. 278 Kramer, S. 221 ff. 279 Alexy, Theorie, S. 24 f. Die Einschätzung eines Falles als „klar“ beinhaltet allerdings be­ reits selbst ein Werturteil; sie ist die Entscheidung darüber, dass keine Argumente vorliegen, die eine andere Lösung des Falles erfordern würden; Alexy, Theorie, S. 25; vgl. dazu auch Heller, S. 59. 276

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

sen sich als konstitutive Elemente der Rechtsauslegung und damit auch der Rechts­ ordnung darstellen280. Die Darstellung des Wertungserfordernisses impliziert ein subjektives Element in der Rechtsfindung. Es wäre dennoch unrichtig, aus dem Wertungserfordernis des Rechts abzuleiten, dass bei den notwendigen Wertungen den Rechtsanwendern die Möglichkeit geboten wird, den subjektiven moralischen Überzeugungen und Ansichten freien Ausdruck zu verleihen. Auch beim Erfordernis der subjektiven Wertung muss eine Richtigkeitsinten­ tion bestehen, um zwischen den vertretbaren Lösungen die angemessenste zu wäh­ len. Aus der Sicht der rechtsanwendenden Behörde gilt es durchaus, unter den Ent­ scheidungsvarianten die bestmögliche zu finden, um eine richtige Entscheidung zu fällen281. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn Richtigkeitskriterien als Grund­ lage des Rechts gelten. Aus der Darlegung der Notwendigkeit der Wertung folgt demnach die Notwen­ digkeit zu untersuchen, woran sich Wertungen normativ orientieren können. Es stellt sich die Frage, welche allgemeinen Charakteristiken diese Wertungen auf­ weisen, wonach sie sich ausrichten und wie weit sie juristisch begründbar sind. b) Wertungen der Allgemeinheit und bestimmter Kreise Plausibel erscheint zunächst die Vorstellung, dass der Entscheidende sich an die „Wertungen der Allgemeinheit oder bestimmter Kreise“ zu halten habe282. Hier­ gegen kann jedoch eine Reihe von Einwänden erhoben werden. Einerseits lassen sich die Wertungen der Allgemeinheit in vielen Fällen nicht exakt feststellen. Auch mithilfe sozialwissenschaftlicher Methoden wird man häu­ fig auf Wertungen stoßen, die nicht genügend klar definiert sind, um als Entschei­ dungsgrundlage dienen zu können. In der Allgemeinheit werden sich häufig di­ vergierende Wertungen ergeben. Beispielsweise besteht in der Bevölkerung ein Grundkonsens zum Schutz des Rechts auf Leben, das heißt auf die physische und psychische Integrität. In einzelnen Sachfragen jedoch, wo dieses Recht von den rechtsanwendenden Behörden konkret heranzuziehen ist, wie etwa bei ge­ setzgeberischen Entscheidungsnotwendigkeiten im Gesundheitswesen, zeigt sich die Pluralität der Meinungen. Welchen soll die rechtsanwendende Behörde dann folgen283? 280 Vgl. Denninger, S. 14; Rüthers, Wertordnung, S. 52; Hebeisen, S. 1128 ff. Daraus ergibt sich die Wichtigkeit eines hermeneutischen Verständnisses der Rechtswissenschaft; Canaris, S. 147; hinten, S. 106 ff., 135 ff. 281 Neumann, S. 49 f.; Bung, S. 16. 282 Engisch, Einführung, S. 124; vgl. auch Perelman, S. 144. 283 Alexy, Theorie, S. 27; vgl. hinten, S. 98 ff.

II. Aufgaben der Methodenlehre

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Gleichermaßen ist das generelle Mittragen der Entscheidungen durch die Bevöl­ kerung mit konstitutiv für das Bestehen und Funktionieren einer Rechtsordnung284. Hieraus wird deutlich, dass die Alternative nicht lauten kann: entweder Orien­ tierung an eigener Vorstellung oder an den Vorstellungen derer, in deren Namen Recht gesprochen wird. Erforderlich ist vielmehr ein Verständnis von Recht, das eine gemeinsame Richtigkeitsintention zulässt und es dennoch erlaubt, den ver­ breiteten Überzeugungen und den Ergebnissen vorangegangener juristischer Dis­ kussionen Rechnung zu tragen285. Das Erfordernis der Richtigkeitsintention ergibt sich aber auch aus dem Gegen­ stand der Beurteilung. Von den rechtsanwendenden Behörden muss zum Beispiel entschieden werden, ob ein Asylbewerber, dessen Asylgesuch abgewiesen wurde, auszuschaffen ist oder ob dies gegen das Non-Refoulement-Gebot verstößt286, ob die Enteignung eines Grundstücks gerechtfertigt287 oder ob eine Hausdurch­ suchung verhältnismäßig ist288. Auch für eine Vielzahl von juristischen Fällen, die wenig Aufsehen erregen, sind die erforderlichen Wertungen moralisch relevant. Denn durch juristische Entschei­ dungen werden die Interessen von zumindest einer Person betroffen. Diese Betrof­ fenheit kann sich für die Person direkt, aber auch dadurch ergeben, dass sich diese Person für die Interessen anderer oder einen ideellen Zweck einsetzt289. Die Frage, ob die Einschränkung der Interessen einer Person berechtigt ist, stellt sich auch als eine Frage der Ethik. Es liegt daher nahe, die in den juristischen Ent­ scheidungen erforderlichen Wertungen als ethisch relevante aufzufassen. c) Ethik der Entscheidung Diese Stelle markiert den Übergang von rechtstheoretischer zu rechtsphiloso­ phischer Fragestellung und zeigt das Erfordernis, materiale Richtigkeitskriterien für die Rechtsauslegung heranzuziehen290. Denn anders als die Rechtsphilosophie verfügt die juristische Methodenlehre aus sich heraus nicht über materiale Wer­ tungskriterien. Sie ist daher bereits von ihrem Erkenntnisgegenstand her ungeeig­ net, wirksame Schranken gegen die Verwirklichung formell gültiger, inhaltlich je­ doch umstrittener Rechtsvorschriften zu errichten291. 284

In Deutschland wird das Urteil durch die entscheidende Behörde „im Namen des Volkes“ verkündet; vgl. Zippelius, Methodenlehre, S. 21. 285 Alexy, Theorie, S. 28. 286 Art. 25 BV; Art. 69 AuG; BGE 133 II 6, 9. 287 Zum Beispiel BGE 131 II 728 zur materiellen Enteignung. 288 Zum Beispiel BGE 130 I 360, 361 ff. 289 Vgl. Alexy, Theorie, S. 26. 290 Alexy, Theorie, S. 26. 291 Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 993.

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

Durch die Wertbedingtheit eines Rechtssystems und den formalen Charakter der anerkannten Auslegungsmethoden erfordert die Rechtsfindung axiologische Prä­ missen. Eine rechtsphilosophische Frage wird sich entsprechend dafür interessieren, inwieweit die Wertungsvorgänge objektivierbar sind. Diese Frage soll nun anhand der phänomenologisch-objektiven Darstellung von Werten analysiert werden.

III. Wertgehalte als objektive Gegebenheiten 1. Objektivität als Ausgangspunkt der ethischen Betrachtung

Das Prinzip der phänomenologischen Wertethik ist es, normative ethische Ge­ halte als Objektivität zu begreifen, um unser Wertungsverhalten zu erklären. Aus der Sicht der phänomenologischen Wertethik ist es ohne strenge Objektivierung nicht möglich, eine Richtigkeitsintention darzustellen292. Für materiale Wertethi­ ker haben grundlegende ethische Wertgehalte objektive Geltung. Das Richtige, das Gute oder eine gerechte Lösung anzustreben, war schon immer Intention des Menschen, auch wenn die Interpretationen, wie diese ethischen Ziele auszuge­ stalten sind, sehr unterschiedlich sein können. Die Objektivität der Wertgehalte wird von der phänomenologischen Wertethik insofern als ethische Vorbedingung verstanden293. Entsprechend ist das Kriterium der Objektivität auch in der Rechtsfindung her­ anzuziehen; es ist zu überprüfen, inwiefern sich axiologische Prämissen im Recht maßgeblich an Objektivität orientieren. Hierzu soll zunächst ein Überblick gegeben werden über die Darstellung der Werte in einem traditionell-naturrechtlichen Sinne entsprechend der materialen Wertethik. Daran anschließend ist die phänomenologische Annäherung an Objektivität darzustellen und mit der Rechtswirklichkeit in Verbindung zu setzen. 2. Der Wert als unveränderliche Qualität im Sinne von Scheler und Hartmann

Objektivität im Sinne von Scheler und Hartmann bedeutet, dass Wertqualitäten unabhängig von den sie anstrebenden und fühlenden Subjekten gelten; sie sind un­ abhängig von der konkreten Erfahrung. Entsprechend betonen materiale Wertethi­ ker die Unabhängigkeit der Werte von subjektiven Neigungen und sozialen Kon­ ventionen. Darin liegt die Abgrenzung zur subjektivistischen Position, gemäß der sich alle Erkenntnisse und Werte im individuellen Bewusstsein konstituieren oder von gesellschaftlichen Konventionen abhängig sind. 292

Damit ist die „strengste Allgemeinheit“ im kantischen Sinne gemeint; vorne, S. 37 ff. Hartmann, Ethik, S. 151 ff.

293

III. Wertgehalte als objektive Gegebenheiten

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Aus objektivistischer Sicht gelten Werte unabhängig von verschiedenen empi­ rischen Handlungs- und Seinsgebieten, stehen aber zu diesen in Relation. Bereits Sokrates hält in diesem Sinne an der Objektivität fest: „dass nämlich jedes Ding bald schön, bald hässlich, jedes Tun bald gut, bald böse ist – nicht bloß heißt –, be­ weist lediglich, dass Dinge und Handlungen keine Werte und Unwerte sind, son­ dern nur an solchen teilhaben können; es bedeutet nichts gegen das Sein der Werte und Unwerte“294. Aus objektivistischer Sicht ist das ethisch Gebotene richtig, unabhängig davon, ob es bejaht oder gewollt wird. Werte erscheinen in Bezug auf Handlungskons­ tellationen und Entscheidungssituationen von Individuen, leiten sich aber nicht von ihnen ab. Der Gehalt des Wertes wird somit nicht einfach von Subjekten oder von Gruppen gesetzt, sondern kann vielmehr von ihnen erfahren oder erfasst werden295. Diese Position ist klar zu unterscheiden vom Definieren und dogmatischen Fest­ halten jener Inhalte, die als ethisch bezeichnet werden. Denn gerade wenn die sitt­ lichen Gebote absolut sind („ethischer Absolutismus“), können sie nicht  exakt ge­ fasst werden, und es bleibt der Philosophie „nur übrig, sie festzustellen, […] den inneren Gründen ihrer Absolutheit nachzugehen und sie ans Licht zu ziehen“296. 3. Der Wert des Guten

Es stellt sich die Frage, wie von der materialen Wertethik ein konkreter Wert umschrieben wird, beispielsweise der höchste Wert des Guten oder der Wert der Gerechtigkeit. Der Fundamentalwert des Ethischen ist als positiver Wert das Gute, als negati­ ver Wert das Böse. Für Scheler ist es nicht möglich, den höchsten Wert „gut“ in einem Willensakt anzustreben; er erscheint einzig mit der Realisierung eines hö­ heren Wertes. Scheler beschreibt den Wert des Guten daher als denjenigen absolu­ ten „Wert, der an dem Akte der Realisierung desjenigen Wertes erscheint, der […] der höchste ist“297. Nur mit der Entscheidung zugunsten des höchsten Wertes kann das Gute angestrebt werden298.

294

Zit. nach Landmann, S. 10, der sich auf Xenophons Erinnerungen an Sokrates bezieht. Scheler, Formalismus, S. 64. 296 Hartmann, Ethik, S. 21. 297 Scheler, Formalismus, S. 47. 298 Dagegen versteht Scheler „gut“ im unendlichen Sinne nur in der Idee Gottes; Scheler, For­ malismus, S. 47 f.; Henckmann, Scheler, S. 121. Für Hartmann dagegen ist es kritisch, einen Gottesbegriff einzuführen. Scheler begeht in Hartmanns Augen eine Grenzüberschreitung, die gerade zur Aufhebung aller ethischen Selbständigkeit führt und die Gefahr in sich birgt, dass (autoritäre)  theologische Moral hinzutritt; vgl. Hartmann,  Ethik, S.  248 f., am Beispiel des Schelerschen Personalismus. 295

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

Bei Hartmann dagegen wird das Gute als „Teleologie der Werte in der realen Welt“299 bestimmt, wonach es das Ausgerichtetsein auf einen höchsten, absoluten Wert in allen konkreten ethischen Wertbeziehungen darstellt. Die konkreten Werte erweisen sich nur dadurch als gut, als es ihnen um das Gute geht, das sich ihnen je­ doch wie allen konkreten Dingen entzieht. In diesem Sinne ist das Gute zwar der höchste Wert, steht aber nicht über allen anderen Werten, sondern teilt sich „al­ len ethischen Werten […] mit“300: Da sich das Gute auf eine Vielfalt intendierbarer Werte bezieht, ist auch der Sinn des Guten vielfältig gegliedert301. 4. Der Wert der Gerechtigkeit

Wie wird nun zum idealen Wert der Gerechtigkeit Stellung bezogen? Die Ge­ rechtigkeits- und Gleichheitsidee ist aus objektivistischer Sicht eine streng ide­ elle Forderung; im Konkreten erstreckt sie sich auf Grundlagen und Urrechte des Menschseins überhaupt, lässt dabei jedoch Raum für Unterschiede in der viel­ schichtigen Realität. Das positive Recht wird klar vom Wert der Gerechtigkeit (Gerechtigkeitsidee)  getrennt. Wo kodifiziert wird, soll nach einem Prinzip der Gleichheit vorgegangen werden302. Der Wert der Gerechtigkeit basiert nach Hartmann wesentlich auf dem Prin­ zip der Gleichbehandlung. Das elementare Gebot der Gleichbehandlung bildet die Grundlage der Verwirklichung höherer Werte, wie beispielsweise der Freiheit303. Die paritätische Grundfunktion der Gerechtigkeit ist so Grundbedingung des so­ zialen Lebens304 und ebenso von Freiheit305. Recht soll sich gleichermaßen an der Gerechtigkeitsidee orientieren. Die Kodi­ fikation der Gerechtigkeits- oder Gleichheitsidee als solcher ist aus Sicht der ma­ terialen Wertethiker undenkbar, der Rechtsanwender kann sich ihr nur nähern, denn es ist das Wesen der Ethik, in der Freiheit der Erfüllung des Richtigen von Fall zu Fall zu bestehen. Entsprechend basiert beispielsweise die Rechtsprechung zum Gleichheitsgebot306 nicht auf einem starren Gleichheitskonzept, sondern lässt sachlich begründete Ungleichheiten zu, die von Fall zu Fall und gestützt auf Prä­ 299

Hartmann, Ethik, S. 380 f. Henckmann, Materiale Wertethik, S. 94 f. 301 Hartmann, Ethik, S. 384. 302 Hartmann, Ethik, S. 422. 303 Hartmann, Ethik, S. 422. 304 Vgl. Sameli, S. 120. Auch Kant sieht die Aufgabe des Rechts darin, dass es eine Sphäre in­ dividueller Wirkungsmöglichkeiten schaffen soll; Kant, MdS, A 33 f., S. 337 f. 305 Einsicht in die Notwendigkeiten des Eingebundenseins und der Gleichbehandlung er­ möglichen erst Freiheit; Hartmann versteht Freiheit nicht als Beliebigkeit gegenüber diesem Erfordernis. Der Gedanke, wonach Freiheit erst durch die Einsicht in die Eingebundenheit ent­ stehen kann, geht auf Spinoza zurück; vgl. Spinoza, 2 § 11; Senn, Vom Recht der grossen und der kleinen Fische, S. 217; vgl. auch Sameli, S. 158 ff. 306 Art. 8 BV. 300

III. Wertgehalte als objektive Gegebenheiten

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judizien zu erschließen sind307. Das ethisch Gebotene geht demnach weit über das rechtlich Gebotene hinaus308. Entsprechend richtet sich die Rechtsforderung nicht an die Gesinnung, sondern an die Handlung. Gesinnung kann im Gegensatz zur Handlung oder Duldung nicht erzwungen werden. Sie entzieht sich dem Gericht; auch in der materialen Wertethik erfolgt die grundlegende Trennung der Legalität von der Moralität309. Hartmann erkennt dennoch positivem Recht im Sinne einer Schutzinstanz für die niedrigen Güterwerte eine gewisse Moralität zu: Denn als Schutzinstanz für die elementaren Güterwerte schützt positives Recht indirekt auch höhere Werte, die zwar von seiner Ordnung nicht direkt erfasst werden, aber nur durch den Schutz der gesicherten niedrigen Werte verwirklicht werden können310. Eine Rechtsordnung muss die Verwirklichung der höchsten Werte erlauben und schützen, das heißt, es muss den Rechtsunterworfenen ein Maß an Selbstverwirklichung ermöglichen311. Die praktische Rechtswissenschaft befasst sich so aus Sicht der materialen Wertethik vorwiegend mit den vom objektiven Wert der Gerechtigkeit abgeleiteten Werten, das heißt mit der Stufe der Konsequenzen ihrer höchsten Werte312. So er­ achtet Hartmann aufgrund der Mitverantwortung des Einzelnen für die Rechtsord­ nung (Beteiligung an der Gesetzgebung, Unterwerfung unter die Rechtsordnung) anstelle des Wertes der Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne vielmehr die Solidari­ tät als zentralen Wert; durch sie soll der Mensch seine Aufgabe als Gemeinschafts­ bildner wahrnehmen313. 5. Grundsatz des ethischen Mindestschutzes

Aus Sicht der materialen Wertethik umfasst eine Rechtsordnung somit nur einen Ausschnitt möglicher ethischer Gebote. Dieser Ausschnitt wird regelmäßig be­ schrieben als das erforderliche ethische Mindestmaß einer Rechtsordnung314. Dieser ethische Mindestgehalt, der einen Grundbereich ethischer Werte des Zu­ sammenlebens schützt, schließt die Relevanz auch höherer Werte für eine Rechts­ ordnung nicht aus315. Aus Sicht der materialen Wertethik muss eine Rechtsordnung die Verwirklichung der ethischen Werte ermöglichen und schützen, höhere ethi­ 307

Vgl. zum Beispiel BGE 127 I 202, 209; 125 I 166, 168. Dazu hinten, S. 67 ff. 309 Hartmann, Ethik, S. 422 ff. 310 Hartmann, Ethik, S. 419 ff.; vgl. auch Scheler, Formalismus, S. 558. 311 Hubmann, Naturrecht, S. 310. 312 Thematisiert werden sie nach Hartmann in der Ethik; Hartmann, Ethik, S. 422. 313 Hartmann, Ethik, S. 424 f. 314 Engi, S. 568 ff. 315 Die Bedeutung höherer Werte für die Rechtsordnung zeigt sich nach Hartmann darin, dass eine Rechtsordnung für diese Schutz oder Raum gewähren muss; Hartmann, Ethik, S. 419 ff.; vorne, S. 66 f. 308

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

sche Werte können jedoch in der Regel keine erzwingbaren Rechtswerte sein316. Beispielsweise kann Anteilnahme nicht zur Rechtspflicht werden; dennoch weisen einige Bestimmungen des Familienrechts und zur sozialen Sicherheit Elemente je­ nes ethischen Gebotes auf317. Bezüglich des Wertes der Freiheit sind nur einzelne Elemente, etwa ein Paritätsgebot oder spezifische Freiheitsrechte, juristisch durch­ setzbar318. Nicht alle persönlichen Bereiche werden von einer Rechtsordnung er­ fasst; weil aber die Rechtsordnung die persönliche Freiheit schützt, nimmt sie im­ mer wieder Bezug auch auf Persönlichkeitswerte319. Die Konzeption des Mindestgehaltes ist wichtig, weil gerade bei den naturrecht­ lich begründeten Freiheitsrechten ein Freiraum des Menschen bestehen soll, auf den der Staat keinen Zugriff haben darf320. Eine Verrechtlichung der hohen Werte zu Verhaltensnormen führte in die starre Dogmatik und Absolutsetzung von Wer­ tungen. Gleichermaßen führte sie in eine massive Beschränkung der Freiheit – und im Extremfall sogar zur Reduzierung der Freiheit auf eine moralische Pflichterfül­ lung. Die Pflichterfüllung oder eine Political Correctness kann und soll die Rich­ tigkeitsintention, die juristischen Entscheiden zugrunde liegt, nicht ersetzen321. Ein ethischer Wert, der über dem Wert der Freiheit liegt, ist aus Sicht der mate­ rialen Wertethik demnach wohl Teil  der juristischen Richtigkeitsintention, aber niemals Gegenstand einer materiell festzulegenden juristischen Positivierung322. 316 Vielmehr sind sie als Schutzrechte zu konzipieren; vgl. Hubmann, Naturrecht, S. 310. Das Verhältnis von Recht und ethischem Wert ergibt sich auch nach Scheler in einer negativen Be­ stimmung: Es ist für ihn charakteristisch für die Rechtsordnung, dass sie materiell nicht sagen kann, was recht ist, vielmehr sagt sie, was nicht sein soll; Scheler, Formalismus, S. 216; Eley, S. 155. Befasst sich das Recht mit höheren ethischen Werten, sind die entsprechenden Rechts­ sätze oftmals als Abwehrrechte konzipiert (etwa bei den Freiheitsrechten), oder aber ein mate­ rielles Bestimmungskriterium für die Wertung, das den Fall abschließend regeln würde, wird nicht genannt; dazu Isensee, S. 143 ff. 317 Zum Beispiel Art. 159 Abs. 3 ZGB – Ehegatten schulden einander Treue und Beistand; Art. 12 PartG – Partnerinnen oder Partner leisten einander Beistand. 318 Sameli, S.  115. Das Erfordernis des ethischen Minimums in der Rechtsordnung äußert sich dadurch, dass beispielsweise eine Unwahrheit von Äußerungen nicht generell verboten wird, sondern nur dort, wo sie die Rechtsordnung infrage stellt, etwa bei Täuschung und Be­ trug; Hubmann, Naturrecht, S. 305; vgl. zum Wert der Wahrhaftigkeit auch Hartmann, Ethik, S. 460 ff.; Nohl, S. 86. Das Gebot, sich nicht selber belasten zu müssen, ist ein Grundelement der Angeklagtenrechte im Strafprozess; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II; BGE 130 I 126; 121 II 273, 282. 319 Art. 10 Abs. 2 BV; vgl. Hubmann, Naturrecht, S. 305. 320 Im Zweifelsfall sind Verbote in jenem geschützten Bereich zu verneinen; BGE 106 IV 138, 141. 321 Zur Problematik der zunehmenden Positivierung der naturrechtlichen Freiheitsidee vgl. Andreas Kley, Freiheitskataloge als Garantie oder Gefahr für die Freiheit?/Les „catalogues des libertés“: garants ou dangers pour la liberté?, in: Daniel Brühlmeier/Hervé de Weck (Hrsg.), Freiheit in Gefahr? Terrorismusbekämpfung im Spannungsfeld von Sicherheit und Menschen­ rechten/Liberté en péril? Combat contre le terrorisme, sûreté et droits de l’homme, Biel 2009, S. 127 ff. (deutsch), S. 249 ff. (französisch). 322 Hubmann, Naturrecht, S. 310; Sameli, S. 142 ff., 148 ff.; dazu auch Engi, S. 570.

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung

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Die apriorische Einbezogenheit von Werten in eine Rechtsordnung bewirkt nicht die Einschränkung der Autonomie der Entscheidfindung. Es stellt sich nun die Frage, ob die naturrechtlich hergeleitete objektive Gel­ tung von ausgewählten ethischen Grundwerten für die Rechtsordnung phänome­ nologisch nachvollzogen und als Grundlage der Rechtsordnung dargestellt wer­ den kann.

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung 1. Die phänomenologisch-axiologische Betrachtung

Die vorgängig angeführte naturrechtlich-ideelle Darstellung von objektiven Wertgehalten durch Scheler und Hartmann kann auch durch eine induktive phäno­ menologische Annäherung beschrieben und verdeutlicht werden. Hierfür ist die von Husserl entwickelte und von Scheler selbst hinsichtlich der axiologischen Intentionalität weitergeführte phänomenologische Methode heranzuziehen und nochmals genauer zu analysieren323. Kern der von Husserl entwickelten Phänomenologie ist die Unterscheidung zwischen Erscheinung im Bewusstsein (Phänomen)324 und dem eigentlichen We­ sen, dem intentionalen Bewusstseinspol eines Wahrnehmungsobjektes. Diesem Einheitspol will sich die phänomenologische Methodik von der erlebten Rea­ lität der Wahrnehmung her nähern. Die Phänomenologie versucht, anhand kon­ kreter Daseinsformen auf die allgemeinste Form („Wesen“) eines Gegenstandes zu schließen. Aus phänomenologischer Sicht ergibt sich aus dieser allgemeinsten Form auch die juristische Begriffsintention. Trotz der Variabilität ihrer Erscheinungsformen kommen Phänomenen auch wesentliche Eigenschaften zu, welche sie als Gegenstände einer entsprechenden Klasse auszeichnen: „[…] in jeder […] Zweiheit und in jeder beliebigen Mannig­ faltigkeit [liegt] eine Einheit und Selbigkeit im strengsten Sinne“325. Diese Einheit des einzelnen Gegenstandes soll erfahrbar gemacht werden, indem man ihn abs­ trahiert und auf diejenigen Eigenschaften reduziert, die ihm notwendigerweise zu­ kommen müssen. Die angeführte Unterscheidung ist auch hinsichtlich axiologischer Kontexte he­ ranzuziehen. Wie gegenüber allen Wahrnehmungsobjekten ist die Erfahrung auch bezüglich der Wertwahrnehmung beschränkt und unvollkommen. Ein Wert kann nicht in der ihm zukommenden Qualität allseitig wahrgenommen werden, sondern 323

Die Grundlagen finden sich vorne, S. 42 ff. Die Erscheinung ist ein Wahrnehmungsprodukt, von Mitmeinung behaftet und insofern keine objektive Geltungsgrundlage; vorne, S. 44 ff. 325 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 388. 324

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

nur in Teilaspekten. Eine Wertqualität wird angestrebt, übersteigt aber aus Sicht der phänomenologischen Wertethiker das Wahrnehmungskontinuum und bildet so einen Einheitspol verschiedener Bewusstseinsweisen des betreffenden Wertes. Auch eine Wertqualität verfügt über ein irreelles Beschlossensein, das eine Viel­ zahl von Erfahrungs- und Seinsbereichen aufweist326. Untersucht man die Apriorität von Werten aus der juristischen Erfahrungs­ perspektive, so ist eine strenge Allgemeinheit und Objektivität von den die Rechtsordnung prägenden Werten induktiv zu erschließen. Mithilfe der phäno­ menologischen Annäherung soll untersucht werden, inwiefern sich allgemeinbe­ griffliche, aber auch objektiv-axiologische Gebote an eine Rechtsordnung richten können. 2. Allgemeinheit und Typisierung der juristischen Begriffe

a) Der immerfort zu berichtigende Begriff Gemäß der Analyse der Husserlschen Bewusstseinsphänomenologie hat die Wahrnehmung ihren Ursprung in der Erfahrung327; gleichermaßen tendiert sie stets dazu, das Beurteilte unter allgemeine Begriffe zu bringen328. Die Begründung unserer Fähigkeit, neue Gegenstände der Erfahrung – zum Bei­ spiel einen konkreten Rechtsfall – bekannten Elementen zuzuordnen, liegt nach Husserl darin, dass unser Assoziationsvermögen eine Verbindung von Gleichem mit Gleichem herstellt329. Auf assoziativen Gleichheitssynthesen330 beruht die Uni­ versalität der Leistung der Begriffsbildung: Jeder Gegenstand, der in Wirklichkeit oder in Möglichkeit konstituiert ist, kann als Terminus in Vergleichsrelationen auf­ treten331. Diese ideierende Qualität der Wahrnehmung ist auch für die Rechtswirk­ lichkeit bedeutend und zeigt sich etwa anhand der Verbindung zwischen Einzelfall und allgemeinem Rechtsprinzip332. Unterschiedliche Fälle, bei denen die Vertragstreue aus der Sicht eines Rechts­ anwenders gewahrt wird, gleichen sich durch die Identität eines Allgemeinen, das 326

Vgl. vorne, S. 42 ff., 48; und Avé-Lallemant, S. 176. Als Erfahrung bezeichnet Husserl die Selbstgegebenheit (Evidenz) einzelner wahrgenom­ mener Gegenstände; dazu vorne, S. 42 ff. 328 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 381; Engisch, Idee der Konkretisierung, S. 258. 329 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 385. Richtigerweise müsste man von „Ähnlichem mit Ähnlichem“ sprechen; vergleichbare Gegenstände sind notwendigerweise nie gleich; vgl. hin­ ten, S. 93. 330 Husserl verwendet hierfür den Begriff des „eidetischen Identifizierens“; Husserl, Erfah­ rung und Urteil, S. 396. 331 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 396. 332 So zum Beispiel beim Begriff von Treu und Glauben; Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV; vgl. so­ gleich hinten. 327

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung

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aus dem Individuellen abstrahiert werden kann. Die unterschiedlichen Fälle ha­ ben durch die Gemeinsamkeit der Vertragstreue eine Beziehung zueinander und „heißen nun gleich“333. Verglichen werden zwar unterschiedliche Rechtstatsachen, doch werden diese zu einer Gleichartigkeit verknüpft334. Diese Gemeinsamkeit der Fälle ist insofern apriorisch335, als es keine wirk­liche Existenz, das heißt kein konkretes Vorliegen der einzelnen Fälle voraussetzt, um als Prinzip verstanden zu werden336. Selbst bei der juristischen Beurteilung außer­ gewöhnlicher Interessenkonflikte stellt sich eine Assoziation zu ähnlichen Fällen ein; es werden allgemeine Rechtsgedanken intendiert, unter denen die Interessen­ abwägung erfolgt. Dass spontan solche allgemeinen Rechtsprinzipien anklin­ gen, wenn einer Richterin oder einem Richter eine Rechtstatsache vorgetragen wird, ist ein wichtiges Element der Entscheidfindung337; die juristische Tatsachen­ analyse erfolgt stets mit Rücksicht auf vorhandene Wert- und Ordnungsgesichts­ punkte338. Juristische Sachverhalte werden demnach typisierend und typisiert erfahren. Was individuell neu erfahren wird, erinnert an Gleiches oder Ähnliches339. Auf der Basis der vorhergehenden Beurteilung kann sich die Erfahrung erweitern; oder sie kann sich in weitere Kategorien aufteilen340, so wie sich zum Beispiel unter dem Aspekt von Treu und Glauben der Vertrauensschutz341 und zumindest teilweise auch das Verbot von Rechtsmissbrauch herausgebildet haben342. Mit der fortschreitenden Erfahrung über verschiedene Fallgruppen können sich immer weitere Merkmale ergeben, die den betrachteten Sachverhalten gemein­ sam sind. Es zeigt sich so die Ausbildung eines Begriffs, der sich unter verschie­ denen Aspekten der Wahrnehmung als intendiert erweist. Der intendierte allge­ meine Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben kann dargestellt werden als „eine […] Idee, [als] Idee eines offenen und immerfort zu berichtigenden Begriffs“343.

333

Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 393; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 117. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 388. 335 In Husserls Terminologie „ideal“; Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 401. 336 Vgl. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 396. 337 Hartmann, Ethik, S. 160 ff.; Alexy, Grundrechte, S. 125 ff., 133. 338 Vgl. Coing, S. 291; Heck, S. 111; zur Bedeutsamkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze für das schweizerische Verwaltungsrecht siehe Jaag, Ius Publicum, Kap. I 1, I 2. 339 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 399; vgl. dazu auch vorne, S. 42 ff. 340 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 399; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 117. 341 Art. 9 BV. 342 Dies trifft zumindest für die Fallgruppe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens zu; Gächter, S. 172 ff. und 213 f. 343 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 401. Die Wichtigkeit des Allgemeinbegriffs im Recht zeigt sich auch in der hohen Gewichtung der Rechtsbeständigkeit. Dem Allgemeinbegriff scheint rechtlich seinerseits ein Wert beigemessen zu werden, und zwar der Wert der Rechtsbe­ ständigkeit; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 118. 334

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

b) Vergleich der unabdingbaren Merkmale Das objektivierende Zurückgreifen auf Allgemeinbegriffe ist so ein wesent­ liches Element jeder Rechtsordnung. Der Gehalt grundlegender Rechtsbegriffe wird laufend anhand konkreter Fälle erschaut, erfahren, ergänzt oder berichtigt. Das Gewicht der Herleitung des Allgemeinbegriffs zeigt sich auch dadurch, dass bedeutende Rechtsordnungen wie das römische und das angloamerikanische Recht, aber auch das Völkerrecht344 als einheitliche Gebilde aus einem Fallrecht hervorgegangen sind345. Die Formel des fortwährend zu berichtigenden Begriffs besagt letztlich nur, dass wir Arten der Erkenntnisgegenstände intendieren und dass jeder Art notwen­ dig ganz bestimmte Merkmale zukommen. Unter welchen Gesichtspunkten die Erfahrungen generalisiert werden, ist damit jedoch noch nicht vorgezeichnet346. Um den allgemeinen Gehalt einer Norm oder eines Grundsatzes zu bestim­ men, bedarf es nach Husserl der phänomenologischen Reduktion347. Im juristi­ schen Kontext bedeutet dies, dass der Vergleich einer Vielzahl ähnlicher Fälle er­ forderlich wird, wodurch sich als wesentlich die Invariante ergebe, „ohne die ein derartiges wie dieses Ding, als Exempel seiner Art, überhaupt undenkbar wäre“348. Hierin liegt der apriorische Gehalt des intendierten Grundsatzes, der sich als das bestimmt, „was einem Gegenstand notwendig zukommen muss, wenn er ein Ge­ genstand dieser Art sein soll“349. Die von Husserl geforderte phänomenologische Reduktion lässt sich – zur Ver­ anschaulichung der Methodik – anhand eines konkreten Beispiels illustrieren350. Will man etwa das allgemeine Wesen des Staates analysieren, so ergibt sich dies durch einen Vergleich aller beliebigen Merkmale, die einer staatlichen Gemein­ schaft notwendigerweise zukommen müssen. Für den Rechtsstaat haben sich hier­ für beispielsweise das Legalitätsprinzip, die Gewaltenteilung und die Gewährung von Grundrechten herausgestellt; Gemeinschaften ohne Legalitätsprinzip, ohne Gewaltenteilung und ohne die Gewährung von Grundrechten sind anderer Art als die Konzeption des Rechtsstaates351. Betrifft diese erforderliche Objektivierung – die phänomenologische Reduktion – nicht isolierte Begriffe, sondern zu beurtei­ lende Lebenssachverhalte, erweist sie sich als wesentlich komplizierter, wird aber dennoch von den Gerichten angestrebt. 344 Das Völkerrecht kann aufgrund der starken Bedeutung des Völkergewohnheitsrechts als eine zunehmend einheitliche Rechtsordnung bezeichnet werden, auch wenn eine internationale obligatorische Gerichtsbarkeit noch immer fehlt. 345 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 120. 346 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 401; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 118. 347 Vgl. vorne, S. 44 f., 46 ff. 348 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 411. 349 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 426. 350 Vgl. auch das Beispiel vorne, S. 46 ff. 351 Vgl. auch die Beispiele bei Zippelius, Wertungsprobleme, S. 118.

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung

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3. Sachgerechtigkeit als Beispiel für die erforderliche Objektivierung

Die Erforderlichkeit des objektivierenden Sachbezugs betrifft nicht nur die ju­ ristische Begriffsbildung, sondern auch das Entscheidverhalten. Ein Beispiel, wel­ ches das Nachvollziehen der phänomenologischen Denkweise ermöglicht und das für juristische Entscheidungen regelmäßig herangezogen wird, ist das Kriterium der Sachgerechtigkeit. Ein Entscheid wird als sachgerecht bezeichnet, wenn er von Gründen, die sich „aus der Sache“ ergeben, getragen wird352. Die Gerichte begründen also dort, wo der Wortlaut der Normen für die Entscheidung nicht auszureichen scheint, ihre Urteile aufgrund von sachlichen Gegebenheiten und Notwendigkeiten353. Die­ ses Erfordernis kann einerseits aus tatsächlichen, zum Beispiel aus biologischen oder astronomischen Gegebenheiten resultieren; etwa sind die Gerichte für die Berechnung von Fristen an Sonnenjahre und damit an astronomische Tatsachen gebunden354. Sachgerechte Entscheide müssen aber auch regelmäßig der Sache in einer ethi­ schen Bestimmung  – oder dem Menschen  – gerecht werden355. Das Erfordernis der Sachgerechtigkeit bezieht sich auf das Ergebnis, den Inhalt der Entscheidung. Es muss plausibel und vertretbar sein, den Anliegen der Gerechtigkeit entsprechen und darf das übergeordnete Recht nicht verletzen356. Die rechtsanwendenden Be­ hörden scheinen der Ansicht zu sein, dass sich dort, wo zwischen mehreren fak­ tisch möglichen Varianten eine Entscheidung zu treffen ist, aus der Sache auch an­ gemessene Maßstäbe und Richtlinien für gesetzliche Vorschriften und gerichtliche Entscheide im Sinne der Gerechtigkeit ableiten lassen357. Mit dem Kriterium der Sachgerechtigkeit ist notwendig eine Wertung verbun­ den, mit der man der Sache selbst  – der Synthesis der Rekognition  – auch für ethisch relevante Entscheide gerecht werden muss358. Um dieses Erfordernis der Angemessenheit zu erfüllen, werden Wertgesichtspunkte wie das Verfahrensziel, 352

Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 33 f., 97 ff.; zum Beispiel BGE 131 I 402, 408; 82 III 119, 126. 353 Hubmann, Sachgerechtigkeit, S. 259. 354 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 53. Das Bundesgericht verweist zum Beispiel auf sach­ gerechte Standorte und Linienführungen (BGE 124 II 146, 157), sachgerechte Grenzziehung (BGE 113 Ia 457, 459) oder sachgerechte Gewinnausscheidung (BGE 131 I 402, 408). 355 Jaag, Gewährleistung sachgerechter Entscheidungen, S. 415. Dazu zum Beispiel BGE 130 III 585, 591; 135 I 14, 15; 82 III 119, 126. 356 Das ergibt sich aus Art. 5 Abs. 1 BV; Jaag, Gewährleistung sachgerechter Entscheidun­ gen, S. 415. 357 Hubmann, Sachgerechtigkeit, S. 264; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 97. Mit dem Krite­ rium der Sachgerechtigkeit wird „ein einer Gegebenheit eigentümliches Wesensmerkmal“ zur Grundlage eines juristischen Urteils gemacht wird; Gutzwiller, S. 139. 358 Vgl. vorne, S. 42 ff.

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

die Bedeutung des Eigentums oder die Grundsatznorm der gerichtlichen Unabhän­ gigkeit herangezogen359; es dürfte aber offenkundig sein, dass Wertungen, die der Sache des Menschen360 gerecht werden müssen, sich nicht allein aus jenen Grund­ sätzen erschließen lassen361. Auch wenn sich die materielle Bestimmung der sach­ gerechten Entscheidung regelmäßig als schwierig zu definieren erweist, sind das Ziel und die Notwendigkeit, sachgerechte Entscheidungen zu treffen, weitgehend anerkannt362. Wird nach einer sachgerechten Lösung gesucht, so setzt dies eine Methode des „immerfort zu berichtigenden Begriffs“363 im Sinne Husserls voraus364. Die ein­ zelnen Argumente zur sachgerechten Lösung müssen vom Gericht bestimmt und miteinander verglichen und objektiviert werden können, so dass die vorzugswür­ digere Entscheidung aus mehreren Varianten auswählbar wird. Dadurch, dass den Argumenten aus der Sache im Einzelfall ein jeweils unterschiedliches Gewicht zu­ kommt, wird die der Objektivierung eigene, notwendige Wertung verdeutlicht; man spricht von plausiblen, einleuchtenden, von sachlich gerechtfertigten Gründen365. Die Rechtsprechung ist damit offensichtlich der Ansicht, dass von sachlichen Umständen bzw. der Sache des Menschen Anforderungen ausgehen, die zu be­ rücksichtigen vernünftig, zu vernachlässigen unvernünftig ist. Sachliche Vorgege­ benheiten, die bei der Suche nach einer angemessenen Entscheidung zu berück­ sichtigen sind, stellen Anforderungen an die Rechtsordnung und gleichermaßen an eine ethische Wertungskompetenz des Rechtsanwenders366. 4. Normativität und Objektivität

Die so im Sinne von Husserl intendierten Rechtsbegriffe werden innerhalb der Geltung des Rechtssystems entwickelt und sind bereits mit einer Wertung verbun­ den. Insoweit sie Begriffsintentionen sind, die stetig bei unterschiedlichen sie be­ treffenden Sachverhalten berücksichtigt werden, sind sie Teil der normativen Verbindlichkeit einer Rechtsordnung. Die mit der juristischen Begriffsbildung verbundene Wertung zeichnet sich aus durch die Ideation eines streng Allgemeinen, nämlich dem Erfordernis, dem 359

Zum Beispiel BGE 135 I 14, 17; 131 I 31, 34. BGE 135 I 14, 15; 133 I 1, 3. Vgl. in BGE 131 I 31, 34 auch die französische Version der Wendung, bei der von „cause“ und nicht „cas“ des Klägers gesprochen wird und somit das Anliegen und nicht nur der Fall gemeint ist. 361 Hubmann, Sachgerechtigkeit, S. 269. 362 Jaag, Gewährleistung sachgerechter Entscheidungen, S. 416; vgl. dazu auch Mastronardi, N. 294 ff. 363 Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 401. 364 Vorne, S. 70 ff. 365 Vgl. Hubmann, Sachgerechtigkeit, S. 269 f. 366 Hubmann, Sachgerechtigkeit, S. 270, 279. 360

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung

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Menschen gerecht zu werden. Die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundes­ gerichts legt damit einen – indessen nicht immer einfach zu konkretisierenden – objektiven Wert der Rechtsordnung zugrunde; verbunden damit ist eine unbedingte Richtigkeitsintention367. Für die Ideation von Rechtsbegriffen ist demnach in den dargelegten Fällen ein bereits zugrunde liegender Wert angestrebt; streng nach dem phänomenologischen Grundgesetz der Korrelation von Intention (noesis) und Wahrnehmungsobjekt (Intendat; noema)368. Axiologisch wird diese Unbedingtheit ethischer Gebote an eine Rechtsordnung mit dem Begriff der „Objektivität“ umschrieben. Die Rede von der Objektivität verweist auf etwas Indisponibles, ein Objekt der Erkenntnis, das angestrebt wird und in seinem Sosein zu erkennen oder auch zu verkennen ist. Objektivität in die­ sem Sinne bildet eine Erkenntniskategorie sui generis369. Damit werden auch „ob­ jektive Wertgehalte“ durch die beschriebenen assoziativen Analogien durch den Rechtsanwender intendiert und gehören zum Gehalt der Rechtsordnung370. Begrifflich ist Objektivität im ethischen Sinne demnach nicht nur von Subjek­ tivität, sondern auch von der Normativität einer Rechtsordnung zu differenzieren. Die begriffliche Unterscheidung ist allerdings nicht so zu verstehen, dass sich die beiden Begriffskategorien gegenseitig ausschließen371. Am Beispiel der Sachgerechtigkeit zeigt sich, dass objektive ethische und nor­ mative juristische Sätze nebeneinander auf die Rechtswirklichkeit einwirken, dass die Normativität einer Rechtsordnung demnach eine Offenheit auch für objektive ethische Begriffe beinhaltet. Anforderungen an eine Rechtsordnung, wie der Sache des Menschen gerecht zu werden, sind mithin deren Essenz. 5. Objektivität und Apriorität

Objektivität bezeichnet die Unabhängigkeit eines Phänomens davon, ob es durch einen Gegenstand oder Vorgang realisiert wird oder nicht372 und intendiert damit eine gewisse Apriorität. Die Gehalte ethischer Werte stehen aus der Sicht der phänomenologischen Wertethik a priori zur Rechtsordnung, und zwar insofern, als ihre Prägung der Rechtsordnung nicht von einer konkreten Verwirklichung abhän­ gig ist373. 367

Der Rechtsfindung wird als Intention (als „objektiver Wert“) vorausgesetzt, dem Men­ schen gerecht zu werden. 368 Husserl, Hua, Bd. 26, S. 35; Scheler, Formalismus, S 272. 369 Bung, S. 25. 370 Vgl. vorne, S. 69 ff. 371 Wie auch hinsichtlich der Abgrenzung vom subjektiven Begriff: Wert und Wertung be­ stehen nebeneinander; vorne, S. 22 ff. 372 Vgl. vorne, S. 22 ff., 25 f. 373 Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 104 f.

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

Apriorität bedeutet hier also nicht Apriorität gegenüber jeglicher Erfahrung die­ ser Werte, wohl aber Apriorität gegenüber der Verwirklichung der Werte374. Nach dieser Bestimmung besteht ein Wert darin, den Anliegen des Menschen gerecht zu werden, auch dann, wenn kein Gericht jemals gerecht urteilt. Diese Apriorität lässt sich auch negativ darstellen, indem sich beispielsweise der Wert der Freiheit ge­ rade dann offenbart, wenn er in einem konkreten Fall durch die Gerichte nicht ge­ währleistet wird375. Ebenso wird der Wert der Gleichbehandlung im Sinne eines fundamentalen Prinzips dann besonders wahrgenommen, wenn eine ungerechte Behandlung vorliegt376. Die so beschriebene Apriorität ist demnach nicht auf das Formale beschränkt377. Materiale Gehalte können juristische Handlungen bestimmen, indem sie festle­ gen, nach welchen Maßstäben eine juristische Handlung beurteilt werden soll. Der Grundsatz der Gleichbehandlung verbietet eine ungleiche Behandlung, soweit nicht sachliche Gründe eine solche rechtfertigen378. Liegt ein sachlich vernünfti­ ger Grund für eine rechtliche Ungleichbehandlung vor, so bestimmt sich das, was man für vernünftig, sachgerecht, einleuchtend hält, aus einer bereits bestehenden ethischen Grundhaltung379. Die axiologische Betrachtung des Rechts weist demnach auf die Wichtigkeit des Methodendualismus hin: Wenn wir die tatsächlich vorkommenden Handlun­ gen in achtbare und weniger achtbare einteilen, so gehen wir bereits mit dem Wertmaßstab der Achtbarkeit an diese Handlungen heran380. Diese Werteprägung besteht unabhängig davon, ob sie im sozialen Dasein der Rechtswirklichkeit rea­ lisiert wird381. Indem die Rechtswirklichkeit bereits mit einem Beurteilungsmaß­ stab wahrgenommen wird382, ist sie a priori wertbezogen383. Dadurch ist es auch im 374

Zippelius, Wertungsprobleme, S. 105. Vgl. zur unterschiedlichen Konzeption der Apriori­ tät zwischen den Phänomenologen und Kant vorne, Fn. 53. 375 Sameli, S. 90 f.; Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 14 f. 376 Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 197. 377 Scheler, Formalismus, S. 73 f. 378 Gleichermaßen schreibt der Gleichheitsgrundsatz eine differenzierende Behandlung vor, wenn dies gestützt auf tatsächliche Unterschiede geboten erscheint; BGE 131 I 105, 107; Jaag, Ius Publicum, Kap. I. 2. f. 379 Fließt die ethische Grundhaltung in juristische Entscheide mit ein, so bedeutet dies den­ noch nicht, dass die persönliche Wertung allein die Entscheidfindung bestimmen kann. Etwa Präjudizien wirken bei Wertungsfragen mit bestimmend. Aus der Entscheidung, ob im konkre­ ten Fall dem Präjudiz gefolgt werden soll oder nicht, ergibt sich jedoch regelmäßig wieder eine Wertung und damit ein Miteinbeziehen der persönlichen Voreinstellung; vgl. dazu vorne, S. 61 ff. 380 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 105. 381 Scheler, Formalismus, S. 40, 66. Hartmann kann daher herleiten, dass Wertgehalte vom Subjekt nicht anhand von deren Wirklichkeit erkannt werden; Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, S. 137; Hartmann, Ethik, S. 119 ff.; Sameli, S. 89 ff. 382 Auf die in diesem Sinne direkte Verbindung von Wert und Wirklichkeit weist Hessen, S. 59 ff., 180 ff. hin. 383 Das Wesen des Gegenstandes ist für uns intendierbar, unabhängig davon, ob der Ge­ genstand tatsächlich vorhanden ist oder nicht; Scheler, Formalismus, S.  68 f. Der Wert der

IV. Phänomenologie der juristischen Werterfahrung

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Kontext des Rechts sinnvoll, auf die überlieferte Unterscheidung zwischen essentia und existentia denkerisch zurückzugreifen384. 6. Die Zwecksetzung durch den Rechtsanwender

Wird auf die Wertqualität als Richtigkeitsintention im Sinne der phänomeno­ logischen Wertethik Bezug genommen, so ist das Grundgesetz der assoziativen Wahrnehmung und des Urteilens auch für die hierfür erforderlichen Wertungen charakteristisch; der Rechtsanwender nimmt eine zentrale Position ein385. Rechtswerte werden durch die beschriebenen assoziativen Analogien durch den Rechtsanwender wieder erkannt und objektiv intendiert. Wird beispielsweise von einem Schuldner ein Vertrag korrekt erfüllt, obgleich sein Aufenthaltsort dem Gläubiger nicht mehr bekannt ist, wird dieses Verhalten als loyal angesehen und ihm damit ein gewisser Wert zuerkannt. Ähnliche Fälle werden auf der Grundlage des bereits Bewerteten betrachtet, und so erfolgt eine Anerkennung jenes Verhal­ tens durch ein generelles Urteil386. Auch wenn die zu beurteilenden Fallkonstellationen sehr wandelbar sein kön­ nen, prägen ethische Einheitsphänomene die Rechtsordnung: Der Fairnessgrund­ satz387 lässt sich im Einhalten von Verträgen oder auch in der Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht wiederfinden388. Ein wesentlicher Bereich jenes Grundsatzes wird von einer Rechtsordnung zum Beispiel auch durch das Verbot des widersprüch­ lichen Verhaltens geschützt389. Trotz der Verschiedenheit der Beispiele ist ihnen die Achtung eines (Rechts-)Wertes gemeinsam390. Institute des Zivil- und Verfahrensrechts, denen kein direkter Wertbezug anhaf­ tet, wie zum Beispiel das Pfandrecht oder die Einrichtung des Grundbuches, können durch die Zwecksetzung des Rechtsanwenders materialen Wertprinzipien unterstellt werden391. Da weder Gesetzgebung noch Rechtsanwendung ohne diese Kompe­ tenz der Zwecksetzung auskommen, bezeichnet sie Scheler als kulturellen Akt392. Nächsten­liebe besteht auch dann noch, wenn sie niemals ausgeübt wird. Das Wesen wird ge­ rade dadurch zur Anschauung gebracht, dass man vom individuellen Dasein des Gegenstandes oder des Vorganges absieht; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 104. 384 Hartmann, Ethik, S. 120 f. 385 Vgl. vorne, S. 69 ff. 386 Vgl. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 390. 387 Bzw. Solidarität; siehe vorne, S. 66 f. 388 Die Fürsorgepflicht im Arbeitsrecht ergibt sich insbesondere aus Art. 27 ff. ZGB (Persön­ lichkeitsschutz) und Art. 328 OR. 389 Vgl. Hubmann, Naturrecht, S. 306. 390 Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 124. 391 Hubmann, Naturrecht, S.  309. Ebenso sind Rechtsinstitute wie die gerichtliche Unpar­ teilichkeit keine wertfreien Prinzipien, sondern an den Grundwerten der Verfassung orientiert; vgl. Hubmann, Sachgerechtigkeit, S. 263. 392 Albert Márquez, S. 71; Scheler, Formalismus, S. 125. Scheler bezieht sich explizit nur auf die Gesetzgebung.

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

Für den Rechtsanwender bringt die Apriorität von Werten immer auch ein Span­ nungsverhältnis393. Beispielsweise bei der Interessenabwägung ist in einer Wer­ tung festzulegen, welches der zu berücksichtigenden Interessen überwiegt und so­ mit den Vorzug erhalten soll. Das Spannungsverhältnis zum nicht berücksichtigten Rechtsgut bleibt bei einer Entscheidung bestehen; durch argumentative Erläute­ rung wird die Nichtberücksichtigung erklärt. Diese Tatsache verleiht Wertungen eine stetige Aktualität394. Soll eine juristische Wertung vertretbar sein, so misst sie sich nach einem Krite­ rium der möglichst objektiven Entscheidfindung. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum einen aus dem Faktum, dass eine juristische Entscheidung die Interessen zu­ mindest einer Person regelmäßig tangieren wird395. Dadurch besteht die ständige Forderung an den Rechtsanwender, ungeachtet der Vielfalt der Fälle die Einheitlichkeit der Rechtsordnung im Sinne der Sache für den Menschen zu wahren. Glei­ chermaßen besteht das Erfordernis, dass die Entscheidung für eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle maßgebend sein soll. Die Perspektive der Objektivität vermag demnach eine wesentliche Eigenheit juristischer Wertungen aufzuzeigen: Das Spannungsverhältnis zwischen einer an­ gemessenen Entscheidung und dem Anspruch des Rechts auf allgemeine Gültig­ keit kann durch die Gleichzeitigkeit von objektiven Wertbezügen und der Relativi­ tät ihrer Anwendung im Einzelfall erst dargestellt werden396.

V. Erfordernis der phänomenologischen Objektivität im Recht 1. Der Bezug auf die objektive Struktur

Die Ausführungen zur Wertbedingtheit des Rechts und zur phänomenologi­ schen Objektivität werden nachfolgend in kurzer Form zusammengefasst. Eine Rechtsordnung erfordert regelmäßig Wertungen durch die rechtsanwen­ denden Behörden. Das Element der Wertung ist ein konstitutives Element der Rechtsordnung und die Rechtsfindung keine rein rechtswissenschaftliche „Er­ 393

Vgl. auch hinten, S. 97 ff. Hartmann, Ethik, S. 166. Insofern hat gemäß Hartmann alles ideale Sein eine Beziehung zur Realität, bestehe diese in Übereinstimmung oder in Nichtübereinstimmung mit ihr. Ethisch ideales Ansichsein ist nicht gleichgültig gegen ethische Wirklichkeit, welche ihm widerspricht; es nagelt diesen Widerspruch als ein Spannungsverhältnis fest; Hartmann, Ethik, S. 161 f. 395 Vorne, S. 63. 396 Vgl. Engisch, Idee der Konkretisierung, S. 199 ff. An dieser Stelle ist auf das Denken Georg Jellineks zu verweisen, insbesondere auf sein Werk „Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe“, 2. Aufl., Berlin 1908. Wie das Spannungsverhältnis gelöst und so die rechte Mitte zwischen Rechtssicherheit und individu­ eller Gerechtigkeit gefunden wird, ist wiederum Gegenstand einer Wertentscheidung; siehe vorne, S. 61 ff. 394

V. Erfordernis der phänomenologischen Objektivität im Recht

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kenntnis“. Aus der bestehenden Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsmacht lässt sich ein besonderer Auftrag der rechtsanwendenden Behörden herleiten: Sie haben in all den Fällen, bei denen nicht schon sichere Argumente die Erkenntnis zu einer Rechtsgewissheit führen, diese Gewissheit zu schaffen, indem sie sich für eine der vertretbaren Wertungen entscheiden397. Um die Vielzahl der Wertungsgesichtspunkte, die inmitten komplizierter Inte­ ressenentscheidungen liegen, leichter zu differenzieren, muss der mit der Sache betraute Rechtsanwender auf seine Wertungskompetenz und die Erfahrung vor­ angehender Fälle zurückgreifen können. Phänomenologisch zeigt sich, dass sich die Rechtsfindung immer wieder auf Gehalte stützt, denen sie sich in assozia­ tiver Wahrnehmung als intentionalen Einheitspolen juristischer Begriffsbildung annähert und sie als objektiv behandelt398. Unsere so immer bereits bestehende Erfahrung ist geordnet und ordnend und führt nicht zu einem beliebigen Wert­ empirismus; sie stützt sich auf eine assoziierende, fundiert einigende Wertungs­ kompetenz399. Würde der Entscheidung im Einzelfall in ihrer Besonderheit zu viel Gewicht eingeräumt, wäre die Folge eine beträchtliche Unübersichtlichkeit und Ungewiss­ heit. Diese Unübersichtlichkeit ergäbe sich nicht nur wegen divergierender Inter­ essen, sondern auch durch die unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen400. Das Recht kann sich nicht ausschließlich auf die Partikularismen der Werterlebnisse stützen, sondern ist vielmehr bestrebt, einheitliche Handlungsgrundlagen darstellen zu können401. Wir beziehen uns regelmäßig und auf selbst­ verständliche Weise auf objektive Strukturen, um Recht überhaupt anwenden zu können402.

397

Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 3. Vorne, S. 69 ff., 75 ff. 399 Dazu hinten, S. 106 ff. 400 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 122. Darum ist es ein unverzichtbares Postulat der Ge­ rechtigkeit selbst, dass das Recht ein gewisses Maß an Allgemeinheit wahrt, auch wenn in einem konkreten Fall private und öffentliche Interessen eine Ausnahme von der Regel zu for­ dern scheinen; vgl. Hume, Buch 3, Teil II, Abschnitt 6, Nr. 3. Hinzuweisen ist auf die (berech­ tigte)  Kritik Kants, wonach Hume bei seinen Untersuchungen zur Allgemeinheit allerdings nicht über die Kausalität der synthetischen Urteile hinauskommt; siehe Kant, KrV, Einl., B 20, S. 59. 401 Vgl. Reinach, S. 25. 402 Sich auf objektive Vorgegebenheiten des Rechts zu stützen, impliziert somit nicht die Ver­ absolutierung von Rechtswerten, sondern versucht, objektive Strukturen darzustellen, die wir bei der Rechtsanwendung voraussetzen; vgl. vorne, S. 73 ff. 398

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

2. Einheitliches Handeln als Erfordernis

Ein Rechtssystem steht durch das Wertungserfordernis in Verbindung mit einer Vielzahl von Wertgehalten, die gedanklich vorausgesetzt werden, wenn man die Rechtsordnung als ein Sinnganzes interpretiert403. Die Inhalte jener Werte, die wir als Differenzierungskriterien objektiviert an die Sachverhalte herantragen, erwei­ sen sich als Maßstäbe für die Beurteilung der für die Falllösung einschlägigen Sachverhaltselemente404. Um die Notwendigkeit der Objektivität ethischer Entscheidungen im Recht dar­ zustellen, ist darauf hinzuweisen, dass „ein einheitliches menschliches Handeln geboten ist“405; dass die ethischen Gebote mit rechtlichen Geboten vereinbar sein müssen: „[…] das, was richtigerweise rechtlich geboten ist, kann nicht prinzi­ piell von dem verschieden sein, was richtigerweise sittlich geboten ist“406. Sollen die Gesetze richtig sein, so müssen sie an ethischen Normen ausgerichtet werden; ethische Grundsätze müssen im Recht ihren Niederschlag finden407. Gebote der Rechtsordnung teilen in diesem Bereich das Schicksal des Richtigkeitsbezugs mit ethischen Prinzipien aller Art408. Es stellt sich die Frage, ob dieses Erfordernis die Trennung von Recht und Mo­ ral aufzuheben vermag. Dies ist zu verneinen, denn das Recht kann und soll nicht alle Wertgehalte übernehmen; nicht einmal alle diejenigen, welche zwischen­ menschliche Verhältnisse regeln. Nur muss es möglich sein, Richtigkeitskriterien zugrunde zu legen, wo immer in der Rechtsanwendung ethisch relevante Entschei­ dungen erforderlich sind409. 3. Objektivität und Einzelfallgerechtigkeit

Wie konkretisiert sich nun die Richtigkeitsintention für die Entscheidung mit Blick auf die objektive Struktur des Rechts? Bei der Analyse der Objektivität der Werte auf die Strukturen des Rechts ist die Durchbrechung verschiedener Bereiche zu beachten410. Eine Rechtsordnung ist eine normative Ordnung, die sich immer auf Realitäts­ faktoren bezieht. Sie ist objektiv, aber auch ein sozialhistorisch geprägtes, wandel­ bares Gebilde. Konfliktfälle zwischen dem einerseits für die Sache des Menschen 403

Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 751 f.; Rensmann, S. 43 ff. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 10. 405 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 7. 406 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 7; Hartmann, Ethik, S. 574. 407 Vgl. Troller, Die Begegnung, S. 115; Bung, S. 24. 408 Vgl. Bung, S. 24; Moore, S. 293 ff., 317; Sieckmann, S. 287. 409 Vgl. Hubmann, Naturrecht, S. 305; Engi, S. 568 ff. 410 Vgl. vorne, S. 28 ff.

404

V. Erfordernis der phänomenologischen Objektivität im Recht

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Gebotenen (zum Beispiel der Gleichberechtigung der Menschen) und anderer­ seits gesellschaftlich-faktischen Anforderungen (zum Beispiel bestehenden Struk­ turen in Wirtschaft oder überlieferten Traditionen) können zu Konflikten füh­ ren. Das Recht gehört nicht zum Bereich der Verbindlichkeit, dennoch wird eine Orientierung an objektiven Geboten und universalisierbaren Werten notwendig. Umgekehrt scheint eine abschließende Konkretisierung und Determinierung der Rechtswerte unmöglich, da gesellschaftlich-politische Faktoren, aber auch die Un­ terschiedlichkeit ethischer Gebote zu Konflikten führen können. Der Vorwurf der unzulänglichen Determinierbarkeit der herangezogenen „ob­ jektiven Werte“ in der Realität411 verkennt die unterschiedlichen Bereiche der Gel­ tung bzw. den Methodendualismus412. Die Anerkennung der Notwendigkeit des Methodendualismus auch in der juristischen Entscheidfindung impliziert die An­ erkennung von Wertekonflikten. Durch die Gleichzeitigkeit von objektiven Wert­ bezügen und der Relativität ihrer Anwendung kann das Spannungsverhältnis für die Rechtsfindung erst dargestellt werden413. „Objektiv“ – im Sinne der phänomenologischen Wertethik – spricht daher auch nichts gegen die Kollision und das Erfordernis der Abwägung von Rechtswer­ ten414. Aspekte objektiver Werte einer Rechtsordnung sind in der Realsphäre ge­ geneinander abzuwägen. Ihnen kommt Verbindlichkeit als intentionale Orientierung, aber nicht eine Gleichheit in der Gewichtung, in der konkreten Situation zu415. Die Anerkennung einer Objektivität der Wertgehalte der Rechtsordnung be­ deutet daher auch keine Verabsolutierung von Werten, vielmehr ist Objektivität in der Einzelfallgerechtigkeit zu suchen416. Entsprechend ist auch die Einheit der Rechtsordnung zwar objektiv, aber nicht starr vorgegeben417. Sie wird in allen Zweifelsfragen durch die Rechtsfindung der Gerichte hergestellt418.

411

Angesprochen wurden Freiheit, Fairness, Gerechtigkeit, die Sache des Menschen. Vgl. auch Albert Márquez, S. 391 ff. 413 Vgl. Engisch, Idee der Konkretisierung, S.  199 ff. Der Konflikt zwischen der Rechts­ sicherheit und dem Grundsatz, dass das Recht möglichst dem Einzelfall gerecht werden soll, zeigt sich bei der Praxis zur Rechtsbeständigkeit materiell unrichtiger Entscheidungen und Verwaltungsakte. Vgl. dazu auf europäischer Ebene zum Beispiel EuGH Rs. C-2/06, Kempter, Slg. 2008 I-411 ff.; EuZW 2008, S. 148 ff. Der Gedanke der Rechtssicherheit drängt dazu, rechtliche Einsichten, die man an lebendigen Fällen gewonnen hat, zu Rechtsgrundsätzen oder zu Rechtssätzen zu verallgemeinern; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 20 f.; vorne, S. 70 ff. 414 Vgl. Albert Márquez, S. 395 ff. 415 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 104. 416 Hartmann, Ethik, S. 596. 417 Zippelius, Methodenlehre, S. 49, bzw. die „Einheit der Verfassung“ soll gewahrt werden; Rüthers, Rechtstheorie, N. 755. 418 Rüthers, Rechtstheorie, N. 755. 412

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C. Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

4. Fazit: Phänomenologische Objektivität im Recht

Unser Rechtssystem weist Eingangsmöglichkeiten für objektive axiologische Strukturen auf. Etwa allgemeine Rechtsgrundsätze sind immerfort anzupassende und zu berichtigende Rechtsbegriffe und intendieren Objektivität im phänomeno­ logischen Sinne; dies wurde am Beispiel von Treu und Glauben dargestellt419. Mit dieser Objektivierung ist immer wieder eine Wertung verbunden, wie etwa das Beispiel der Sachgerechtigkeit zeigt; der Sache des Menschen gerecht zu werden ist ein „objektiver Wert“ der Rechtsordnung. Wir beziehen uns demnach regelmäßig und in selbstverständlicher Weise immer wieder auf objektive ethische Strukturen, um Recht anwenden zu können. Die ein­ gangs gestellte erste Frage420 ist demnach positiv zu beantworten: Unsere Rechts­ ordnung weist eine Offenheit für objektive phänomenologische Strukturen auf. Diese stehen für die Richtigkeitsintention in der Rechtsfindung.

419

Vorne, S. 70 ff.; vgl. auch S. 73 ff. Vorne, S. 18.

420

D. Werterelation und Inkommensurabilität I. Werterangfolgen Die These der Objektivität löst noch nicht das Problem der Erkenntnisgewissheit von Werten. Das Erfordernis der Objektivität für sich allein bringt noch kein Richt­ maß für die Interessenabwägung und andere Wertentscheidungen. Doch gerade das Problem der Entscheidungsgewissheit prägt alle juristischen Werte­konflikte421. Durch Rechtsgüter und Rechtswerte können Kriterien zur Abwägung von In­ teressen herangezogen werden; jedoch kann erst eine Einsicht in die Bezüglich­ keit von Werten zueinander oder in spezifischere Bevorzugungsregeln Konflikt­ entscheidungsmechanismen bereithalten422. Um die Entscheidungsgewissheit in Wertfragen zu begründen, müssen Anhaltspunkte gefunden werden, die Regelmä­ ßigkeiten und Präferenzen von konkret vorgenommenen Werteabwägungen erklä­ ren können. Scheler und Hartmann skizzieren Rangordnungen von Werten423. Diese sollen ein Versuch sein, unsere Präferenz für gewisse Werte nachzuvollziehen und sie darzustellen424. Eine Rangordnung von Werten intendiert nicht ein formales Sub­ sumtionsverhältnis der Werte425, vielmehr soll ein Zusammenspiel verschiedener Relationen aufgezeigt werden. Die Rangfolgen sind daher – dies ist zentral – nicht als eine normative Forde­ rung an eine Rechtsordnung zu verstehen. Sie sind nicht zu verwechseln mit dem Erfassen eines idealen Wertgehaltes, sondern sollen Regelmäßigkeiten im Entscheidverhalten darstellend nachvollziehen426. Ausgangspunkt der Wertetafeln ist die Untersuchung von Präferenzen bei konkreten Wertentscheiden, die durch Per­ sonen oder Gesellschaften vorgenommen werden. Durch eine phänomenologische Betrachtung der Wahrnehmung axiologischer Konfliktfälle und des Entscheidverhaltens von Rechtsanwendern kann ein allge­ 421

Zippelius, Wertungsprobleme, S. 106. Hubmann, Naturrecht, S. 309. 423 Für Hartmann tragen seine in der Folge darzustellenden Präferenzkriterien den Charakter von „Bruchstücken“ der von ihm jenseits der Erkennbarkeit vorgeschlagenen objektiven Rang­ ordnung der Werte. Hartmann will sich „bei dem allgemeinen Dunkel, das den Systemcharak­ ter der Wertetafel verhüllt“, nur an das halten, was die erkennbaren Typen von Gesetzlichkeit zeigen; Hartmann, Ethik, S. 548. 424 Hartmann, Ethik, S. 286. 425 Hartmann, Ethik, S. 286. 426 Vgl. vorne, S. 26 f. 422

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

meiner Konsens über Wertungen, im Speziellen aber auch die Autonomie der juris­ tischen Wertentscheidung veranschaulicht werden.

II. Präferenzkriterien 1. Bei Scheler

Aus objektivistischer Sicht stehen Werte bzw. materiale Wertqualitäten im Ver­ hältnis zueinander in einer objektiven, im Sachgehalt begründeten Rangordnung, die ebenfalls durch das primäre Wertgefühl, durch eine intuitive „Vorzugsevidenz“, vermittelt wird: „[…] so ist dieses Höhersein […] eine im Wesen der betreffenden Werte selbst gelegene Relation. Darum ist die ‚Rangordnung der Werte‘ selbst et­ was absolut Invariables, während die ‚Vorzugsregeln‘ in der Geschichte noch prin­ zipiell variabel sind“427. Scheler versucht, die Kernelemente der Rangordnung festzuhalten. Er skizziert folgende Rangordnung der Werte, bei der jedem positiven Wert ein negativer Un­ wert gegenübersteht428: Im untersten Rang finden sich die Werte des Nützlichen und Schädlichen, des Angenehmen und Unangenehmen, entsprechend der Lust-/ Unlustmotivation. Erkannt werden diese untersten Werte mit körperlichen Emp­ findungen, wie etwa das Unangenehme durch körperlichen Schmerz erfahren wer­ den kann. Um einen Rang höher stehen die Werte des vitalen Fühlens, etwa das Gefühl der Lebenskraft oder Mattheit, das sich zum Beispiel im Gegensatz von Gesundem und Krankem zeigt. Auf der nächsthöheren Stufe stehen die geisti­ gen Werte, Kulturwerte wie die intellektuellen, sittlichen und ästhetischen Werte. Diese dritte Stufe kann erfasst werden durch geistiges Fühlen, zum Beispiel in Akten der Freude und Trauer, der Teilnahme. Den obersten Rang schließlich bil­ den die Werte des Heiligen und Unheiligen. Diese höchste Stufe der Werte kann einem letztlich nur durch die Wahrheitserkenntnis in einer umfassenden persön­ lichen Liebe zuteilwerden, im religiösen Fühlen, zum Beispiel in Akten der Selig­ keit oder Verzweiflung429. Des Weiteren fasst Scheler fünf Kriterien zur Bestimmung der Werteranghöhe zusammen. Zum einen sind die Werte umso höher, je dauerhafter sie sind, je ur­ sprünglicher sie erscheinen und je weniger sie an der „Extensität und Teilbarkeit“ teilnehmen, „je weniger sie durch andere Werte fundiert sind“, „je tiefer die Befrie­ digung“ ist, die mit ihrem Fühlen verknüpft ist, und je weniger ihr Fühlen relativ ist zur Setzung bestimmter wesenhafter Träger des „Fühlens“ und „Vorziehens“430. 427

Scheler, Formalismus, S. 105 f. Damit eine Entscheidung stattfinden kann, braucht es mindestens eine Zweiheit von zu Wählendem, daher die Gespaltenheit der Werte; vgl. Landmann, S. 81. 429 Scheler, Formalismus, S. 104 ff., 126. 430 Scheler, Formalismus, S. 107. 428

II. Präferenzkriterien

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Scheler führt diesbezüglich an, dass beispielsweise der Wert des Angenehmen einen sinnlich fühlenden Träger voraussetzt. Dagegen kann der Wert des Guten un­ abhängig von einem sinnlich fühlenden Wesen angenommen werden; er ist daher höherrangig einzustufen431. Scheler setzt die Höhe der Werte auch ins Verhältnis zum Schwierigkeitsgrad ihrer Erfassung durch das denkende und erkennende Be­ wusstsein („Grad der Vergeistigung“): Das Erfassen eines ranghohen Wertes erfor­ dert ein entsprechend hohes Maß an intentionalem Fühlen. Ebenso ist die Höhe der Werte mit dem Schwierigkeitsgrad ihrer Realisierung verbunden: Es fällt leicht, das Angenehme anzustreben und das Unangenehme zu meiden. Dagegen bleibt das Heilige meist verborgen432. Dem entsprechend der Werthöhe an Intentionalitätsfähigkeit zunehmenden menschlichen Fühlen ordnet Scheler auch einen Personen- bzw. Gemeinschafts­ typus zu. Auf der untersten Stufe den Genießer und die Maße, auf der zweiten Stufe den Helden und die Lebensgemeinschaft, auf der nächsthöheren Stufe den Künstler und die Nation, und schließlich den Heiligen und die Glaubens- oder Kulturgemeinschaft433. Obwohl Scheler ausführt, dass diesen Wertpersonentypen keine Individualgültigkeit zukommt, erscheint die Einteilung etwas schematisch. Es wäre durchaus denkbar, dass gerade der Genießer befähigt ist, höherrangige Werte zu erfahren, und gerade Glaubensgemeinschaften haben sich der schreck­ lichsten Verbrechen schuldig gemacht. In seiner Theorie der Rangfolge von Werten nennt Scheler Kriterien, nach de­ nen sich eine Rangordnung aufbauen kann, er sagt aber nicht, welche er für die geltende oder richtige Rangordnung hält. Das System der in einem Kulturkreis, einer Epoche, einer Gesellschaft herrschenden Regeln des „Vorziehens“ und „Nachsetzens“434 sittlicher Werte nennt Scheler „Ethos“ (herrschende Sozial­ moral); die herrschende Sozialmoral ist für ihn kein absoluter Wert, sondern le­ diglich Ausdruck des Anstrebens einer Wertqualität. Dies zeigt, wie sehr der his­ torische, kulturelle und gesellschaftliche Relativismus Bestand seiner absoluten Ethik ist435. 2. Bei Hartmann

Gemäß Hartmann führt der Weg zur Einsicht in die Rangordnung der Werte über die elementaren Werte des personalen Lebens und die Güterwerte, also über die niedrigen Werte wie zum Beispiel Nahrung, Kleidung. Erst auf der Grundlage die­ 431

Vgl. Scheler, Formalismus, S. 115 ff. Scheler, Formalismus, S. 126. 433 Scheler, Formalismus, S. 126. 434 Scheler gebraucht den Begriff „Nachsetzen“ im Sinne von hintansetzen, zurücksetzen, nachordnen. Das Begriffspaar „Vorziehen und Nachsetzen“ ist als „Vorordnen und Nachord­ nen“ zu verstehen. 435 Scheler, Formalismus, S. 305 ff.; Henckmann, Scheler, S. 120. 432

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

ser „fundierenden“ Werte können dem Menschen die höheren sittlichen Werte zu­ teilwerden436; auf der Basis der Personen- und Güterwerte führt Hartmann seine Rangfolge der sittlichen Grundwerte des Guten, des Edlen, der Fülle sowie der Tu­ genden fort437. Einsicht in die Rangordnung der Werte erfolgt analog zu Scheler durch das primäre Wertbewusstsein. Die Werthöhe muss nach Hartmann jeweils in jedem einzelnen Akt neu erfasst werden438. Vielbeachtet sind Hartmanns Unterscheidungskriterien der Werterangfolge: Werthöhe und Wertstärke stehen sich im umgekehrten Verhältnis gegenüber, wobei der höhere Wert der schwächere, der niedrigere Wert der stärkere ist. Hartmann führt dazu aus, dass eine Verletzung des höheren Wertes zwar weniger stark geahndet wird, doch sei seine Erfüllung moralisch wertvoller. Es wiegt leichter, jemanden nicht zu lieben als jemanden zu bestehlen, doch ist es moralisch wertvoller, jeman­ den zu lieben als jemanden nicht zu bestehlen439. Die tatsächliche Vielfalt moralischer Gesellschaftssysteme lässt Hartmann gleichwertig nebeneinander bestehen, auch wenn dies für unseren Verstand wider­ sprüchlich erscheinen mag. Es wäre verfehlt, anzunehmen, dass sich diese Systeme letztlich gegenseitig ausschließen. Hartmann spricht sich – ähnlich wie Scheler – daher aus für eine Raum für Gegensätze lassende Einheit der Ethik über „der Viel­ heit und Vergänglichkeit der ‚Moralen‘“440.

III. Werthöhe und Wertstärke am Beispiel von Freiheitsrechten Es stellt sich die Frage, ob die von Hartmann postulierten Vorzugsgesetze in der Rechtswirklichkeit nachweisbar sind und inwiefern sie zur juristischen Konflikt­ lösung herangezogen werden können. Eine gewisse Orientierung über ihre Grundwerte wird die Rechtsordnung selbst vermitteln. Eine Rechtsordnung wird zeigen, in welche Rangfolgen sie berück­ sichtigte Werte setzt, womit sie zumindest eine elementare Rangordnung ihrer Grundwerte offenbart441. 436

Hartmann, Ethik, S. 217. Aus der Sicht Hartmanns kommt die im Wesentlichen auf Personen- und Güterwerte ba­ sierende Werterangfolge Schelers nicht über die allgemeinsten Umrisse des Werthöhenverhält­ nisses hinaus, und entsprechend müssten feinere Höhenunterschiede herausgearbeitet werden; Hartmann, Ethik, S. 280. Zur weiteren Auseinandersetzung Hartmanns mit der Rangfolge und den Vorzugsgesetzen Schelers siehe Hartmann, Ethik, S. 278 ff., 284 ff. Zu Schelers emotiona­ len Vorzugsakten hinten, S. 120 f. 438 Hartmann, Ethik, S. 287. 439 Vgl. Hartmann, Ethik, S. 276 ff. Entsprechend wurde die Wertstärke auch umschrieben als die „Sollensmacht eines Wertes gegenüber der Realsphäre“; Böckli, S. 21. 440 Hartmann, Ethik, S. 158. 441 Vgl. Nef, Werteordnung, S. 192. 437

III. Werthöhe und Wertstärke am Beispiel von Freiheitsrechten

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Gewisse Werterangfolgen, an die wir uns im geltenden Recht halten, können zum Beispiel anhand der Verfassung veranschaulicht werden. Die Ordnung der Rechtswerte, wie sie der Verfassung zugrunde liegt, ergibt sich aus dem Verhältnis, in welchem sich die einzelnen Normen gegenüberstehen. Hieraus wird ersichtlich, welchen Rang innerhalb der Verfassung die einzelnen von ihr geschützten Werte einnehmen und welche Werte anderen im Falle von Konflikten vorgehen442. Besonders aufschlussreich für eine Werterangfolge in der Verfassung ist das Verhältnis zwischen Grundsatz und Vorbehalt, zum Beispiel im Bereich der per­ sönlichen Freiheit mit den entsprechenden Ausnahmebestimmungen. Der Grund­ satz, also die persönliche Freiheit, kann nur gewährleistet werden, bis es zur Wer­ tekollision mit der Ausnahmebestimmung kommt, das heißt, wenn ein Konflikt mit den von der Ausnahmebestimmung geschützten Werten vorliegt. Die Werte der Ausnahmebestimmung erscheinen so in der konkreten Situation wichtiger als jene Werte, die von der Verfassung durch den Grundsatz geschützt werden443. Freiheitsrechte sind zwar zentrale Ansprüche, die sich aus der Bundes­verfassung ergeben, sie können jedoch aufgrund von überwiegenden Interessen unter Vor­ behalt der Wahrung des Kerngehalts eingeschränkt werden444. Die öffentlichen In­ teressen schützen Rechtsgüter wie die physische und die psychische Integrität, die Gesundheit, die Sicherheit und das Vermögen, Ruhe vor Störung und Belästigung. Diese Güter sind auch dann zu respektieren, wenn man sich für seine Handlungen auf ein Freiheitsrecht beruft; am Schutz dieser Güter finden die verfassungsmäßi­ gen Freiheitsrechte ihre Grenzen445. Da die Verfassung es erlaubt, die Freiheitsrechte anhand von polizeilichen Rechts­ gütern zu beschränken, räumt sie im Konfliktfall bestimmten Gemeinschaftswer­ ten den Vorrang ein, die man als weniger hoch taxieren wird. Denn man wird im Allgemeinen ein bloßes Lebensrecht, die körperliche Integrität, die Gesundheit oder die Sicherung des Vermögens als elementarere Werte bezeichnen, die Würde und freie Entwicklung der Menschen, ethische und geistigen Werte als höhere446. Die von Hartmann aufgezeigten Kollisionsregeln der Werthöhe und Wertstärke, die sich in einem umgekehrten Verhältnis gegenüberstehen, lassen sich somit an­ hand dieser Beispiele in der Rechtsordnung nachweisen. Die Güterwerte sind die grundlegenderen, die weniger verzichtbaren und insofern die stärkeren Werte einer 442 Der Wert, der durch eine einer anderen Norm vorgehende Norm geschützt wird, ist vom Verfassungsgesetzgeber als der wichtigere eingestuft worden; Nef, Werteordnung, S. 192. 443 Vgl. für weitere Beispiele Nef, Werteordnung, S. 195 ff.; Hubmann, Naturrecht, S. 310 f. 444 Art. 36 BV. Die Wahrung des Kerngehalts spielt in der Praxis der Gerichte eine unter­ geordnete Rolle und wird hier deshalb nicht weiter vertieft. 445 Nef, Werteordnung, S. 197; Sameli, S. 123 f. 446 Jene Werte, die durch die öffentliche Ordnung geschützt werden, sind so als die stärkeren Werte anzusehen, weil sie als Voraussetzung der höheren Werte erscheinen; Nef, Werteordnung, S. 198. Höhere Werte gegenüber den Polizeigütern sind zum Beispiel die persönliche Freiheit oder die Glaubens- und Gewissensfreiheit; Art. 10 Abs. 2 und Art. 15 BV.

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

Rechtsordnung. Die Verwirklichung der höheren Werte setzt das Vorhandensein der niedrigeren voraus. So ist die geistige Entfaltung des Menschen nur dort mög­ lich, wo sein Leben und seine grundlegenden materiellen Besitztümer gewähr­ leistet sind447. Die besonders starke Wirkung der fundierenden Rechtswerte beschränkt sich nicht auf den Bereich der Freiheitsrechte, da Rechtsgütern wie dem öffentlichen Interesse gleichermaßen der Status eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu­ kommt448. Bei sämtlichen Handlungen haben Behörden und Verwaltung diesen Rechtsgrundsatz zu beachten. Dessen Wertigkeit fließt in sämtliches Handeln der Behörden ein. Die besondere Bedeutung des Wertstärkenverhältnisses zeigt sich auch mit Blick auf die strafrechtlichen Bestimmungen einer Rechtsordnung. Die Bedeutung der Güterwerte wird von den Rechtsordnungen als so grundlegend erachtet, dass sie strafrechtlich geschützt sind. Während die Verletzung der höchsten Werte straf­ rechtlich außer Betracht bleibt, wird die Verletzung der stärksten, also grundlegen­ den Werte, wie zum Beispiel der körperlichen Integrität, als Verbrechen oder als Vergehen beurteilt449. Sowohl das Werthöhenverhältnis als auch das Wertstärkenverhältnis kommen in den Rechtsnormen somit zum Ausdruck, wobei ersteres der Rechtsordnung als Richtlinie für die Beschränkung des Zwanges gilt, letzteres hingegen als Richtli­ nie zur Ausgestaltung des Rechtsschutzes450.

IV. Antinomische Wertgegensätze 1. Wertekonflikte

Allerdings können zwischen Werten, die durch Rechtsordnungen geschützt oder gefördert werden, Antinomien bestehen; die konkrete Situation kann bewirken, dass Rechtswerte in Konflikt geraten. Als Beispiel hierfür kann das Verhältnis zwischen dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Legalitätsprinzip ange­ führt werden. Die beiden Grundsätze werden in der Regel nebeneinander beste­ hen, doch ist ein Konfliktfall möglich, wenn das Prinzip des Vertrauensschutzes gebietet, ein Gesetz nicht anzuwenden, obwohl eigentlich alle Voraussetzungen dafür erfüllt wären451. 447

Sameli, S. 130; Hubmann, Naturrecht, S. 310. Jaag, Ius Publicum, S. 6. 449 Hubmann, Naturrecht, S. 310. 450 Hubmann, Naturrecht, S. 310 f.; Sameli, S. 127 ff., 132. 451 Dies ergibt sich beispielsweise in den Fällen, wo eine Behörde dem betroffenen Privaten eine im Widerspruch zum Gesetz stehende konkrete Zusicherung gegeben hat, auf die er sich verlassen durfte; vgl. Häfelin/Müller/Uhlmann, Rz. 629; BGE 125 I 267, 274. 448

IV. Antinomische Wertgegensätze

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Werthäufungen erschweren die Entscheidung in der Rechtsfindung. Wenn die Meinungsfreiheit nur aufgrund von überwiegenden privaten oder öffentlichen In­ teressen eingeschränkt werden darf, so sind diese öffentlichen Interessen kein ein­ facher Grundwert, sondern ein Rechtsgefäß, das seinerseits schon das Ergebnis von Wertentscheidungen ist. Das öffentliche Interesse ist der gemeinsame Nenner, auf den von Fall zu Fall unterschiedliche Werte gebracht werden452. Erst anhand der Frage, welche Interessen zu berücksichtigen sind, entsteht der reale Werte­ konflikt. In der Rechtsanwendung ergibt sich regelmäßig auch die Kollision der Rechts­ werte mit sich selbst; beispielsweise kollidiert der Wert der Freiheit mit sich selbst in der Kartellfrage, oder die Religionsfreiheit kollidiert mit sich selbst im Kopf­ tuchstreit453. Wenn ein Wert mit sich selbst kollidiert, scheint es unmöglich, auf­ grund einer formalen Anwendung der Kriterien der Wertstärke oder der Werthöhe eine Entscheidung zu treffen454. Um die Unbestimmtheit solcher Wertekonstellationen zu reduzieren, wurde die Wertintensität als zusätzliches Kriterium vorgeschlagen455. Dieses Kriterium kann am Beispiel der Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit eines Bierlieferungs­vertrags veranschaulicht werden. Nach der Rechtsprechung des deutschen Bundesge­ richtshofs ist ein Bierlieferungsvertrag nichtig, wenn durch diesen Vertrag die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Wirtes beinahe vollständig eingeschränkt wird456. Die abstrakte Abwägung der Rechtswerte von Vertragstreue einerseits und des Wertes der Freiheit bzw. der Wirtschaftsfreiheit andererseits kann noch nicht zu diesem Ergebnis führen, denn die Freiheit ist zwar der fundamentalere und stär­ kere Wert, Vertrauen und Vertragstreue sind aber höherwertig. Anhand der Gege­ benheiten des konkreten Falles wurde vom Gericht geprüft, in welchem Umfang der Vertrag die Freiheit des Wirtes beeinträchtigt, und es wurde eine Verletzung der Wirtschaftsfreiheit festgestellt. Ein Vertrag verpflichtet also nicht dort, wo die Ver­ tragserfüllung die wirtschaftliche Existenz des Vertragspartners gefährden würde. Im Konflikt zwischen höherem und stärkerem Wert ist demnach demjenigen Wert der Vorzug zu geben, der aufgrund der Umstände des Falles in höherer Intensität als ein anderer Wert auf dem Spiel steht457.

452 Die Wertentscheidung kompliziert sich weiter dadurch, dass auch die Wahrscheinlich­ keit berücksichtigt werden muss, mit der die Werte voraussichtlich betroffen sein werden, zum Beispiel bei der Interessenabwägung. Auch die Intensität, mit der Werte gefordert oder be­ einträchtigt werden, spielt mit hinein; vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, S.  126; dazu sogl. hinten. 453 Die Religionsfreiheit der Unterrichtsperson kollidiert mit den Grundsätzen der konfessio­ nellen Neutralität einer staatlichen Bildungsinstitution; BGE 123 I 296. 454 Ott, Wertgefühl, S. 113. 455 Zum Beispiel von Hubmann, Naturrecht, S. 314. 456 BGHZ, Urteil vom 25. April 2001; VIII ZR 135/00, Erw. 1 ff. 457 Vgl. Hubmann, Naturrecht, S. 316.

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

Auch anhand der Regelung der Notwehr und des Notstands lässt sich das Kri­ terium der Wertintensität458, das sich auf die Unmittelbarkeit des Wertes bezieht, verdeutlichen. Nach den Grundsätzen der Notwehr und des Notstandes ist nur zum Schutz eines Rechtsgutes, das sich in gegenwärtiger Gefahr befindet, die Ver­ letzung eines anderen Rechtsgutes zulässig459. Dies wird veranschaulicht durch das folgende Beispiel: Einem Alpinisten gelingt es nicht mehr, vor Einbruch der Nacht seinen Rückweg zu finden. Anstatt über eine gefährliche Bergpassage abzu­ steigen, entscheidet er, in eine nahe gelegene Alphütte einzudringen. Da die Hütte jedoch verschlossen ist, entschließt sich der Alpinist, das Fenster zu beschädigen, um in die Hütte gelangen zu können. Durch diese Handlung erfolgt eine Eigen­ tums- und Besitzverletzung gegen den Eigentümer der Hütte. Gleichwohl ist die Rechtswidrigkeit nicht gegeben, da der Alpinist unmittelbarer in seiner physi­ schen Inte­grität betroffen ist als der Eigentümer der Hütte in seinen Besitz- und Eigentums­rechten460. Diese Unmittelbarkeit der betroffenen Rechtsgüter fällt auch bei Interessen­ abwägungen ins Gewicht. Bei einer erforderlichen Entscheidung zwischen meh­ reren gleichrangigen Rechtsgütern kann oftmals das eine Rechtsgut sehr viel un­ mittelbarer betroffen sein als ein anderes mit beteiligtes Rechtsgut; die Gerichte gewichten es dann als höher461. Werden die vorgeschlagenen Ausdifferenzierungskriterien zusammengefasst, so ist demjenigen Rechtsgut der Vorzug zu geben, das aufgrund des Sachverhalts in höherer Intensität oder in größerer Nähe oder zusammen mit einem anderen Rechtswert auf dem Spiel steht462.

458

Hubmann handelt die Konstellation unter dem Kriterium der „Wertnähe“ ab, die er von der „Wertintensität“ differenziert; beide Kriterien beziehen sich jedoch auf die Unmittelbarkeit des Wertes; Hubmann, Naturrecht, S. 314 ff. 459 Art. 15 f. und Art. 17 f. StGB. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gleichermaßen zu beachten; in ein höherwertiges Rechtsgut darf nur eingegriffen werden, wenn dies die Um­ stände des Einzelfalls gebieten; BGE 107 IV 12, 15. 460 Vgl. zu diesem und zu weiteren Beispielen zum rechtfertigenden Notstand Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafrecht Allgemeiner Teil I, Zürich 1998, S. 119. 461 Hubmann, Naturrecht, S.  315. Vgl. dazu BGE  108 II 228, 232 bezüglich der Durch­ setzung der Preisbindung des Schweizerischen Bierbrauervereins gegen die Denner AG. Bei der Interessenabwägung, bei der sich die wirtschaftlichen Interessen des Bierbrauervereins und der Denner AG entgegenstanden, gewichtete das Bundesgericht beim Antrag auf vorsorgliche Maßnahmen dasjenige wirtschaftliche Interesse (i.c. das Interesse des Bierbrauervereins) als höher, das im Hauptprozess mit größerer Wahrscheinlichkeit wiederhergestellt werden kann; dies entspricht ebenfalls dem Kriterium der Wertnähe bzw. Wertintensität. 462 Hubmann, Naturrecht, S. 316.

IV. Antinomische Wertgegensätze

91

2. Paradoxie der Entscheidungsnotwendigkeit

Trotz der klar nachweisbaren Bedeutung der Werterangkriterien Hartmanns in der Rechtswirklichkeit zeigt die Erfahrungsperspektive ein Phänomen der Offen­ heit von Wertungsvarianten und damit auch die Entscheidungsnotwendigkeit. Die Frage, ob es bei einem unausweichlichen Wertungskonflikt im Einzelfall gerecht ist, dem einen oder dem anderen Wert den Vorzug zu geben, ist einer rechtlich oft­ mals nicht normierten und nicht abschließend normierbaren Entscheidung über­ lassen, die dennoch nicht zufällig sein darf. Im normativen Bereich sind so durchaus korrelative Wertordnungen denkbar, ohne dass diese im Bereich des Faktischen in jedem Einzelfall direkt realisierbar wären463. Die Aussage, dass eine Bezüglichkeit und Rangordnung von Werten be­ steht, ist zu unterscheiden von der Aussage, welche Bezüglichkeiten von Werten konkret dargestellt oder berücksichtigt werden können464. Die Korrelationsgesetze bewirken keineswegs stetige, unveränderbare und streng rationale Gesetze ihrer Erscheinungs- und Anwendungsweisen465. Beim Heranziehen der Rangfolgekriterien zeigt sich so das klassische Problem der Anwendung normativer ethischer Gehalte auf der Ebene der Faktizität: Die Durchbrechung der unterschiedlichen Bereiche der Geltung erfordert ethische Entscheidungen des Rechtsanwenders, der im Einzelfall die allgemeinen Wer­ tungskriterien relativieren kann. Die Einbeziehung der eigenen Wertungskompe­ tenz wird unumgänglich; durch die Kompetenz des Entscheidungsträgers erfährt die Anwendung naturrechtlicher Prinzipien ihre Normierung maßgeblich mit466. Dieser innere Konflikt der Entscheidungsnotwendigkeit scheint Bestandteil des Rechtssystems zu sein und birgt den Nachteil der Unbestimmtheit – jedoch auch einen gewichtigen Vorteil: die große Anpassungsfähigkeit an die konkrete Situation. Wo wir demnach aus den Rangfolgekriterien der Werte im Einzelfall die ge­ rechte Lösung nicht ableiten können, haben wir keine andere Wahl, als eine Ent­ scheidung zu treffen467. Es zeigt sich ein Paradoxon: Die Unfähigkeit, das Re­ ale direkt zu determinieren, ist selbst unendlich wertvoll: Diese Unfähigkeit ist gleicher­maßen der Wert der Freiheit468. 463

Vgl. Coing, S. 115, 122; Marcic, S. 59; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 114, wobei sich Zippelius nur auf die Werte, jedoch nicht auf eine Bezüglichkeit oder Rangordnung von Wer­ ten bezieht. 464 Diese Unterscheidung ergibt sich aus dem Methodendualismus; vorne, S. 40 f. Aufgrund von Wertungsantinomien im faktischen Bereich ist eine Ordnung von Werten im normativen Bereich nicht von der Hand zu weisen; vgl. Griffin, S. 37. Die Antinomie bezieht sich nicht auf das Verhältnis der Werte selbst, sondern auf das ihrer Erfüllung; Hartmann, Ethik, S. 611. 465 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 129. 466 Hubmann, Naturrecht, S. 319. 467 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 124. 468 Hartmann, Ethik, S. 300.

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

V. Zur Inkommensurabilität von Werten 1. Analoge Formen des Vergleichs

Das von Hartmann aufgezeigte Paradoxon schützt einen Bereich des Nichtde­ terminierbaren auf der faktischen Ebene und ist typisch und ein Merkmal für die Autonomie juristischer Wertentscheidungen. Es soll im Folgenden unter dem Be­ griff der Inkommensurabilität analysiert werden. Der Begriff „Inkommensurabilität“ leitet sich ab von mensura (lat. für Maß) und bedeutet „nicht mit dem gleichen Maßstab messbar“. Der Begriff soll einige Unbestimmbarkeitsphänomene juristischer Werteabwägungen festhalten. Eine Interessenabwägung zum Beispiel lässt sich nicht für alle Fälle mit unter­ einander addierbaren oder vergleichbaren Präferenzkriterien erklären. In sehr vie­ len Fällen treten zusätzliche Werteabwägungs- oder Orientierungserfordernisse hinzu. Diese zeigen die Relevanz einer zur direkten Vergleichbarkeit alternativen Form von axiologischen Ähnlichkeitsrelation, bei der nicht die Verwirklichung, sondern die Intention im Vordergrund steht: Wird von einer Rechtsordnung bei­ spielsweise eine möglichst große Freiheit aller Rechtsunterworfenen intendiert, so kann und soll diese in ihrer umfassenden Bedeutung nicht verwirklicht werden, da die eigene Freiheit regelmäßig mit der Freiheit anderer kollidiert469. Die Realisie­ rung der intendierten Werte ist im Bereich des Faktischen beschränkt – und inso­ fern steht die Realisierung des Wertes dem intendierten Wert selbst nach. Die erforderlichen Beschränkungen erweisen sich in solchen Fällen als mit der Realisierung des Wertes zwingend verbunden. Hartmann bezeichnet dieses Phä­ nomen als „Gesetz der Nichtidentität“ von intendiertem und realisiertem Wert470. Wenn Werte wie Freiheit oder auch Solidarität in die Güterabwägung mit hinein­ spielen, ergibt sich so eine Grundkategorie von Konfliktfällen der nicht vollstän­ dig realisierbaren Werte. Die darzustellenden inkommensurablen Wertekonflikte treten bei juristischen Abwägungen regelmäßig nebeneinander auf; untereinander völlig unterschiedli­ che Rechtsgüter wie zum Beispiel die Freiheit und die Sicherheit können in Kon­ flikt geraten als unterschiedliche der Verfassung zugrunde liegende Werte, die sich gegenseitig hemmen471.

469

Kant, MdS, A 33 f., S. 338; vorne, Fn. 142. „Gesetz der Nichtidentität von erstrebtem (intendiertem) Wert und realisiertem Wert des Strebens“; Hartmann, Ethik, S. 262. 471 Wenn das öffentliche Interesse gegenüber der Eigentumsfreiheit abzuwägen ist, etwa im Zusammenhang mit einer Baubewilligung, steht ein individueller Freiheitswert einem funda­ mentalen Gemeinschaftswert gegenüber; vgl. zum Beispiel BGE 97 I 792, 795. Beide Werte sind weder vollständig realisierbar noch lassen sie sich gegenseitig kompensieren. 470

V. Zur Inkommensurabilität von Werten

93

Um sich mit dem Inkommensurabilitätsgedanken vertraut zu machen, sind im Folgenden besonders prägnante Aussagen zum Inkommensurabilitätsproblem in der Geschichte der Philosophie heranzuziehen. Mit dem Problem der Inkommen­ surabilität befasst sich auch die moderne Wissenschaftstheorie472. 2. Der Begriff der Inkommensurabilität als denkerische Tradition

Die Wahrnehmung des Ähnlichkeits- bzw. Unvergleichbarkeitsproblems reicht bis in die antike griechische Philosophie zurück; mit dem Ähnlichkeitsgedanken setzt sich bereits Plotin (205–270) auseinander. In Plotins Abhandlungen über die Tugend wird eine These vorgetragen über zwei Formen von Ähnlichkeit. Die eine Form von Ähnlichkeit besage eine Proportion zweier Gegenstände auf gleicher Ebene, das heißt innerhalb derselben Spezies. Die andere Form von Ähnlichkeit beziehe sich auf die Rede von Urbild und Abbild. In dieser zweiten Form von Ähnlichkeit gebe es Über- und Unterordnung, ein Ers­ tes und Zweites und eine seinsmäßige Abhängigkeit des Zweiten vom Ersten473. In der zuletzt genannten Ähnlichkeitsrelation würden nicht mehr Gegenstände von derselben Spezies auf der gleichen Basis verglichen, sondern ein eidos mit einem anderen, an ihm partizipierenden eidos. Entsprechend gebe es hier keine Umkehr der vermeintlich gleichen Bezüglichkeiten, so dass, wenn das Nach­ geordnete dem Übergeordneten gleich ist, deswegen nicht auch das Übergeord­ nete dem Nachgeordneten gleich sein müsse474. Der scheinbare Widerspruch weist darauf hin, dass Ähnlichkeitsrelationen stets einen doppelten Bezug haben, zwi­ schen Ähnlichem und Unähnlichem zugleich. Dasselbe lässt sich sogar für die Gleichheitsrelation sagen. Die Gleichheit ist immer relativ hinsichtlich eines ge­ meinsamen Gesichtspunktes. Nur aufgrund von sich unterscheidenden Merkmalen kann überhaupt Gleichheit festgestellt werden; nur Unterschiedliches kann ähn­ lich sein475. Auch bei Pseudo-Dionysius (ca. nach 500)476 findet sich der Hinweis: „Zwi­ schen Ursache und Verursachtem gibt es keine Umkehrung“477. Diese zentrale 472

Dazu hinten, S. 95 f. Plotin, 1, II, 19, S. 1 ff., 9. Die These, dass es keine Proportionalität zwischen dem Unend­ lichen und dem Endlichen gebe, knüpft ursprünglich an die mathematische Nichterreichbarkeit irrationaler Größen durch rationale Größen an; vgl. Aristoteles, De caelo, 1, 6, 274a, Z. 7 f. 474 Plotin, 1, II, 19, S. 9. Die Unterscheidung Plotins beruht auf dem platonischen „Parmeni­ des“, wo der Ähnlichkeitsbegriff bereits zur Debatte gestellt wird; Platon, Parmenides, 132d; Hirschberger, S. 42. 475 Vgl. Ott, Grundriss-Skriptum, S. 212 ff.; Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, S. 3 ff., und Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 388. 476 Pseudo-Dionysius Areopagita; der Name ist das Pseudonym eines unbekannten Autors. 477 „Nur bei Gleichrangigem ist es möglich, dass es gegenseitig ähnlich ist, dass sich die Ähn­ lichkeit gegenseitig auf beides bezieht, so dass beides gemäß einer vorangehenden Idee des 473

94

D. Werterelation und Inkommensurabilität

Stelle seines Werks macht auf eine doppelte ontologische Differenzierung der Ähnlichkeitsrelation aufmerksam: Die Ursache darf zum einen nicht mit der Wir­ kung verwechselt werden; zum anderen ist sie ihrer Wirkung gegenüber inkommensurabel478. Auch die christliche Scholastik äußert sich zur Ähnlichkeitsrelation. Etwa Tho­ mas von Aquin setzt sich mit der Unumkehrbarkeit der Ähnlichkeitsrelationen auseinander: „Wenn wir das Verursachte gegenüber der Ursache als weniger voll­ kommen ansehen, dann soll damit nicht gesagt sein, dass es eine Proportion gebe zwischen Gott und den Geschöpfen, wie sie unter Dingen besteht, die unter ein und dieselbe Gattung fallen“479. Die Stelle bei Thomas nimmt die sog. Lateranen­ sische Analogie der Scholastik auf, wonach die Welt zwar Gott ähnlich sei, nicht aber auch Gott der Welt, denn: infiniti ad finitum non est proportio480. Bei Cusanus (1401–1464)481 findet sich eine Differenzierung der Ähnlichkeits­ theorie in die Begriffe des Hinaufsteigens (ascensus) und der reductio oder resolutio482. Mit diesen Begriffen weist Cusanus darauf hin, dass die Ähnlichkeit eine doppelte Bedeutung umfasst: Trennung und Verbindung zugleich. Cusanus ver­ wendet den Begriff in einer doppelten Fassung, wonach das Unendliche nicht mit dem Endlichen und das Endliche nicht mit dem Unendlichen kommensurabel ist. Die Inkommensurabiliät beinhaltet also zwei Seiten: einerseits die Verschiedenheit von allen Gegenständen zum Sein und andererseits die Einheit aller Gegenstände in der Ähnlichkeit483. Das Prinzip der Inkommensurabilität findet sich bei Cusanus nicht nur zwi­ schen Gott und der Welt, sondern auch zwischen Urbild und Abbild im Allge­ meinen. Wie es zwischen dem Endlichen und Unendlichen keinen Maßstab gibt, gibt es ihn auch nicht zwischen konkretem Gegenstand und Idee. Wieder steht ein Ähnlichen gegenseitig ähnlich ist; bei der Ursache und dem Verursachten hingegen werden wir eine gegenseitige Beziehung nicht anerkennen“; Pseudo-Dionysius, 913d. Vgl. dazu auch den Thomas-Kommentar; von Aquin, Kap. IX, LIII, N. 832. 478 Hirschberger, S. 44. 479 Von Aquin, Kap.  IX, LIII, N. 834. Bezugnehmend auf Pseudo-Dionysius fährt er fort: „Darum hat Dionysius ausdrücklich gesagt, dass die Geschöpfe hinter Gott zurückstehen, nicht nach einem bestimmten Maß, sondern unendlich und unvergleichbar; von Aquin, Kap. IX, LIII, N. 834; Hirschberger, S. 42. 480 Die Lateranensische Analogie stammt aus dem zweiten Kapitel des IV. Konzils in Late­ ran (11.–30. November 1215); Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum: definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 1965, Nr. 806. Die Konzilspassage des Fund­ ortes wird von Przywara wie folgt übersetzt: „Weil zwischen Schöpfer und Geschöpf eine noch so große Ähnlichkeit nicht angemerkt werden kann, dass zwischen ihnen eine immer größere Unähnlichkeit nicht angemerkt werden muss […]“; Przywara, S. 253; Gertz, S. 222. Die Stelle findet sich auch bei Cusanus, De docta ignorantia, Kap. I, 3. Vgl. dazu auch Beierwaltes, Pla­ tonismus im Christentum, S. 146. 481 Nikolaus von Kues (Cusanus). 482 Für eine weitergehende Vertiefung der Begriffe vgl. Flasch, S. 235 ff. 483 Hirschberger, S. 50.

V. Zur Inkommensurabilität von Werten

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Unendliches einem Endlichen apriorisch gegenüber und kann daran nicht gemes­ sen werden484. Ein Urbild kann nicht in der ihm zukommenden Qualität verwirk­ licht werden485. Es wird also in der Geschichte der Philosophie unterschieden zwischen zwei charakteristischen Formen der Ähnlichkeit. Die erste Form bildet die senkrechte Denkrichtung einer vertikalen Proportion, das heißt, ein relationales Verhältnis vom Abbild zum Urbild wird dargestellt und abgegrenzt gegenüber einer horizon­ talen Relation, wie sie mit der Begriffsbildung innerhalb derselben Spezies im Stil der aristotelischen bzw. neuzeitlichen Logik gegeben ist486. Für den problemorientierten Ähnlichkeitsbegriff des analogen bzw. relationa­ len Denkens487 nennt Cusanus in einer Zeile das entscheidende Charakteristikum, das auch in der modernen Wissenschaftstheorie wieder herangezogen wird: Für das Maß gibt es nicht wieder ein Maß488. Das ursprünglich Intendierte (Urbild) ist somit nicht ein allgemeiner Begriff, der weiter logisch vollkommen subsumierbar wäre489. Ein Wert wie zum Beispiel Freiheit wirkt zwar bestimmend für die Hand­ lungsgründe, doch kann sie selbst in ihrer Objektivität nicht verwirklicht ­werden490. Diese relationale Ähnlichkeitslehre, die beschreibt, dass alles Partizipierende hinter dem Ursprung zurückbleibt, beinhaltet die Aussage, dass der intendierte Ur­ sprung nie voll erreicht wird, und schafft Raum für einen gewissen Relativismus menschlicher Setzungen in der Wissenschaft491. 3. Moderne Wissenschaftstheorie: Bruchstellen zur Inkommensurabilität

Die Begriffsbestimmung des Cusanus hat ein wichtiges Prinzip prägnant fest­ gehalten, mit dem sich auch die moderne Wissenschaftstheorie beschäftigt: Unter Inkommensurabilität versteht man auch in der modernen Wissenschaftstheorie et­ was Vergleichbares „ohne gemeinsames Maß“492. 484

Hirschberger, S. 46 ff. Ein Ideal kann keineswegs so, wie es ist, geschaut werden; vgl. ­Cusanus, Opera omnia, Bd. 2, Nr. 11 ff. 485 Diese Äußerung führt zurück zum platonischen „Phaidon“; Vgl. Platon, Phaidon, 75b. 486 Hirschberger, S.  43. Auch Proklos beruft sich auf eine zweifache Art von Ähnlichkeit. Proklos betont die Unterscheidung zwischen Idee und allgemeinem Begriff. Im Gegensatz zum Allgemeinbegriff wohnt der Idee die Transzendenz, der Charakter des Logos als ein Sein-set­ zender Grund inne, worauf bereits in Platons „Politeia“ verwiesen worden sei; Proklos, S. 31 f. 487 Vorne, S. 36 f. 488 Cusanus, Opera omnia, Bd. 10, Kap. 13, S. 76 f., Z. 14 ff. 489 Vgl. Hirschberger, S. 49. 490 Hinten, S. 97 ff. 491 Vgl. Hirschberger, S. 49. Dieser Relativismus entspricht Schelers und Hartmanns Lehre der Daseinsrelativität; Scheler, Formalismus, S. 274; dazu hinten, S. 151 ff. 492 Schaber, Sind alle Werte vergleichbar?, S. 154.

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

Der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn (1922–1996) hat die moderne Diskussion um Inkommensurabilität maßgeblich geprägt. Er lehnt die konsistente Begründbarkeit einer dem aktuellen Wissensstand nach falschen Be­ hauptung ab und plädiert in der Folge für einen neuen Ansatz in der wissenschaft­ lichen Geschichtsschreibung493. Danach vollzieht sich die Entwicklung der Wis­ senschaften nicht linear, sondern erweist sich als eine Entwicklung mit Brüchen494. Die Bruchstellen belegt Kuhn mit dem Begriff der Inkommensurabilität495. Wissenschaftstheoretische Inkommensurabilität besagt, dass zwischen zwei (historischen) Theorien bzw. Paradigmen keine Verbindung derart besteht, dass die eine auf die andere reduziert werden kann496. Nach Kuhn impliziert Inkom­ mensurabilität jedoch nicht das völlige Fehlen einer Möglichkeit des Vergleichs. Es gibt einen gemeinsamen Kern auch inkommensurabler Theorien, der einen Ver­ gleich ermöglicht497. Das Problem der Inkommensurabilität ist auch Gegenstand der modernen rechts­ philosophischen Debatte. Die Diskussion gestaltet sich gerade in der rechtsphiloso­ phischen Diskussion als enorm vielfältig498. Auch wenn unterschiedliche Schlüsse aus dem Phänomen der Inkommensurabilität gezogen werden können, wird gleich­ wohl einheitlich darauf aufmerksam gemacht, dass Werte in der Rechtsanwendung, aber auch in der Rechtstheorie, oftmals als austauschbarer behandelt werden, als sie tatsächlich sind499. Die grundlegenden Werte einer Rechtsordnung sind in ihrer Intention nur sehr schwer austauschbar; entsprechend bestehen zahlreiche Werte­ konflikte. 493

Kuhn, S. 15 ff. Das heißt, auf Paradigmen – Kuhn versteht darunter allgemein anerkannte wissenschaft­ liche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern  – folgen wissenschaftliche Revolutionen. Als wissenschaft­ liche Revolutionen begreift Kuhn jene nichtkumulativen Entwicklungsepisoden, in denen ein älteres Paradigma ganz oder teilweise durch ein nicht mit ihm zu vereinbarendes neues ersetzt wird; Kuhn, S. 10, 104. Wissenschaftliche Revolutionen werden nach Kuhn interessanterweise maßgeblich durch das Gefühl hervorgerufen, das heißt durch ein „wachsendes […] Gefühl ein­ geleitet, dass ein existierendes Paradigma […] aufgehört hat, in adäquater Weise zu funktionie­ ren. […]. Bei der […] wissenschaftlichen Entwicklung ist das Gefühl eines Nichtfunktionie­ rens, das zu einer Krise führen kann, eine Voraussetzung für die Revolution“; Kuhn, S. 104. 495 Kuhn, S. 159 ff. 496 Kuhn, S. 160 f.; Schaber, Sind alle Werte vergleichbar?, S. 153 f. 497 Kuhn, S. 172 ff. Ein einfacher Term-zu-Term-Vergleich ist demnach nicht möglich, kann aber dennoch stattfinden durch unabhängig vom Paradigma geteilte Werte wie zum Beispiel Genauigkeit, Einfachheit, Konsistenz. 498 Insbesondere in der rechtsphilosophischen Debatte ist beim Begriff der Inkommensura­ bilität das Phänomen klar zu unterscheiden von den unterschiedlichen Theorien zu den Folgen des Phänomens. Das Problem der Inkommensurabilität kann vor dem Hintergrund relativisti­ scher (zum Beispiel Joseph Raz, The Morality of Freedom, Oxford 1990) oder objektivistischer Theorien (zum Beispiel Hirschberger, S. 39 ff.) oder als Phänomen auch unabhängig von der zugrunde liegenden Theorie analysiert werden; vgl. Schaber, Zur Inkommensurabilität mora­ lischer Werte, S. 203; Lukes, S. 184 ff. 499 Griffin, S. 35. 494

VI. Inkommensurabilität der Rechtswerte

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VI. Inkommensurabilität der Rechtswerte 1. Konkurrierende Orientierungssysteme

Es stellt sich die Frage, inwiefern die Antinomik und Nichtaustauschbarkeit von Werten auch in der Rechtsanwendung zum Ausdruck kommen und auf welche Weise sie zu berücksichtigen sind. Einerseits beinhaltet die Rechtsordnung Werte, die andere Werte beschränken. Wie bereits dargestellt, beinhalten Werte wie die Solidarität oder die Gleichheit für eine Rechtsordnung einen Wert, obwohl sie die Verwirklichung anderer Rechts­ werte, etwa der Freiheitsrechte, begrenzen können500. Gleichermaßen sinnvoll erscheint auch immer wieder das antinomische Ver­ hältnis zwischen zwei Werten, die sich entgegenstehen und gegenseitig hemmen. Eine beiderseitige Verwirklichung dieser Rechtswerte ist in juristischen Entscheid­ fragen unmöglich. Die für eine Rechtsordnung bedeutenden Werte der Freiheit und der Sicherheit beispielsweise stehen oftmals antinomisch zueinander; ihre Bedeutung erlangen sie durch das Verhältnis ihrer Gewichtung im Einzelfall501. Bei ihrer Abwägung kann es in der Regel nicht um eine vollständige Realisierung eines dieser Werte gehen, vielmehr sind sie in der Rechtsfindung in ihrer Verschie­ denheit aufeinander zu beziehen502. In Belangen des Grundrechtsschutzes ist dies von besonderer Bedeutung. So wurde beispielsweise vom EuGH festgehalten, dass der Vollzug einer Verordnung des Rates, welche das Einfrieren von Geldern mutmaßlicher Terrorismusunterstüt­ zer vorschreibt, Grundrechte verletzt, wenn die EU-Gerichte nicht befugt sind, die betreffenden Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates akzessorisch auf ihre Über­ einstimmung mit Menschenrechten zu überprüfen503. Sicherheitsmaßnahmen wie die entsprechenden Resolutionen der UNO werden in der EU zwar hoch gewich­ tet, doch erhalten Grundrechte, insbesondere Verteidigungsrechte504, die in ihrem Kern auch Freiheitsrechte sind505, bei den konkreten Umständen des Falles ein be­ sonders starkes Gewicht. Der EuGH erklärte die entsprechende Verordnung des Rates für nichtig506. 500

Vgl. vorne, S. 92. Sameli, S. 97, 116, 139. 502 Hartmann spricht vom „Komplementärverhältnis“; Hartmann, Ethik, S.  585 ff. 503 Würden nicht die Unionsgerichte im Zusammenhang mit deren Umsetzung in das Uni­ onsrecht das Vorliegen von Menschenrechtsverletzungen überprüfen, so wären Adressaten von Sanktionsbeschlüssen ohne Rechtsschutz; EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi, ABl. C 285 vom 8. November 2008, S. 2 f.; EuGRZ 2008, S. 480 ff. 504 Art. 6 EMRK; dazu gehört insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör. 505 Sie werden in der EMRK systematisch unter Abschnitt I „Rechte und Freiheiten“ behandelt. 506 Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit […] dem AlQaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, vom 27. Mai 2002, ABl. L 139 vom 501

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

In solchen Fällen wird ersichtlich, dass das antinomische Verhältnis zwischen zwei Rechtswerten nicht nur die Unmöglichkeit der beiderseitigen Verwirklichung festhält, sondern auch, dass solche Werte regelmäßig in einem positiven Sinne aufeinander bezogen sind. Gerade durch die Antinomie verschiedener Wertkom­ ponenten können Werte ihren Sinn für die konkreten Entscheidungssituationen er­ langen507. Obwohl sich solche Wertkomponenten widersprechen, sind sie bei der Rechts­ findung miteinander zu vergleichen; für rechtsanwendende Behörden besteht re­ gelmäßig eine Unausweichlichkeit der Wahl508. Die Inkommensurabilität mo­ ralischer Werte sollte daher aus juristischer Sicht nicht als Unvergleichbarkeit, sondern vielmehr als Unbestimmtheit verstanden werden. Freiheit und Sicherheit lassen sich als wertvolle Größen nicht exakt einordnen, obwohl sie juristisch ge­ geneinander abgewogen und so verglichen werden können509. Die Unbestimmtheit ist ihrerseits jedoch nicht gleichzusetzen mit Zufälligkeit. Denn gerade in jenen Fällen, die kein allgemeines Festhalten erlauben, wie die Wertkomponenten gegeneinander abzuwägen sind, würde es als besonders sto­ ßend empfunden werden, wenn rechtsanwendende Behörden zufällig entscheiden würden510. Solange die Kriterien der Wertung nicht in kommensurabler Weise be­ stimmt sind, kann das Anwendungskriterium nur bedeuten: Alle relevanten Fak­ ten sind gewissenhaft zu beachten; alle Argumente, die für oder gegen die konkrete Bewertung sprechen, sind sorgfältig zu prüfen. Gestützt darauf ist zu entschei­ den511. Wesentlich erscheinen die Gegebenheiten des Einzelfalls, die allgemeine Bewertungstendenzen umkehren können. 2. Inkommensurable Formen des Vergleichs

Das Phänomen der Inkommensurabilität ergibt sich nicht nur bei der Kollision der angeführten antinomischen Werte, sondern auch hinsichtlich der Werthöhe: Es gibt beispielsweise für Gesellschaften zentrale Werte, die nicht durch eine Reihe weniger zentraler Werte kompensiert werden können. Jene zentralen Werte wer­

29. Mai 2002, S. 9 ff. Das Einfrieren von Geldern ist ein Vermögenswert, der als elementarerer Wert der Freiheit vorgehen müsste. Der Fall wurde vom Gericht jedoch genau umgekehrt ent­ schieden. 507 „Denn jeder einzelne Wert erlangt seinen eigenen Wertcharakter erst durch sein axiologi­ sches Gegengewicht in seinem Gegenwert“; so, „dass […] jeder Wert nur in Synthese mit an­ deren Werten zu seiner wahren Sinnerfüllung kommt – und zwar der Idee nach schließlich in Synthese mit allen; […] denn jeder Wert erreicht seinen vollen Wertcharakter erst durch sein axiologisches Gegengewicht in der Synthese mit ihm“; Hartmann, Ethik, S. 578. 508 Griffin, S. 37. 509 Vgl. Schaber, Zur Inkommensurabilität moralischer Werte, S. 211. 510 Schaber, Zur Inkommensurabilität moralischer Werte, S. 210. 511 Finnis, S. 144 ff.

VI. Inkommensurabilität der Rechtswerte

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den im Vergleich zu den zweitgenannten Werten als inkommensurabel höher emp­ funden. Zu jenen Werten zählt etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht die Freiheit oder die Gleichheit512. Schwierigkeiten beim direkten Vergleich ergeben sich aber auch bei folgender Gruppe von Beispielen: Bei Fragen etwa zur medizinischen Versorgung im Alter, bei denen unter Evaluation der Kostenelemente entschieden wird, unter welchen Voraussetzungen welchen Personen wie viel Hilfe zugesprochen werden soll, sind wir ablehnend berührt; ein Vergleich erscheint unpassend. In ähnlicher Weise hat das deutsche Bundesverfassungsgericht entschieden: Eine Gesetzesbestimmung, nach der es als letzte Möglichkeit erlaubt sein soll, Luftfahrzeuge abzuschießen, wenn diese als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden513, wurde als mit dem grundrechtlichen Anspruch des Rechts auf Leben und der Men­ schenwürde nicht vereinbar erachtet514. Eine Güterabwägung des Rechts auf Le­ ben wird in diesen Fällen als problematisch angesehen und im Urteil des Bundes­ verfassungsgerichts ausgeschlossen. Eine inkommensurable Form des Vergleichs kann sich so auch in negativer Weise ergeben. Auch hinsichtlich moralisch weniger relevanter Gegebenheiten wird in ver­ schiedenen Fällen der Vergleich zweier Werte abgelehnt, und gerade diese Ab­ lehnung kann ein Verständnis der einbezogenen Werte zeigen. Wir denken, dass Freundschaft, Liebe, die Erhaltung der Sicherheit und der Schutz von Verwundba­ rem wie auch die Gleichbehandlung von Menschen in einem speziellen Sinn wert­ voll sind und diesen Werten ein spezieller Status zukommt, nicht nur ein stärke­ res Gewicht515.. Dieses Handeln ist Ausdruck des Respekts vor einer Wertigkeit; es kann nicht als willkürlich erachtet werden. Insofern zeigt auch die Rechtswirklichkeit ein Phänomen der Respektierung inkommensurabler oder „objektiv“ höherer Werte im Sinne einer Differenzierungsleistung, zum Beispiel in der vergleichenden Ab­ wägung516: Diese Werte werden als „objektive“ Werte besonders respektiert517. Das Phänomen der Inkommensurabilität weist so darauf hin, dass es bestimmte Werte 512

BVerfG, 1 BvB 1/51 vom 23. Oktober 1952. Vgl. dazu das Urteil des BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15. Februar 2006 zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben; Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen). Es stellte sich die Frage, ob die als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 vom Bundestag beschlossenen Bestimmungen des Luftsicherheits­ gesetzes (LuftSiG) mit dem Grundgesetz vereinbar sind. In § 14 Abs. 3 LuftSiG heißt es: „Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist […] zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ 514 Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG. 515 Lukes, S. 186. 516 Diese Werte werden als zu anderen Werten inkommensurabel höher stehend beschrieben; Lukes, S. 186; Anderson, S. 108. 517 Lukes prägt hierfür den Begriff der für eine Gesellschaft heiligen Werte; Lukes, S. 188. 513

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

gibt, darunter gehört das Recht auf Leben, die wir immer wieder aus einer verglei­ chend-kompensierenden Bewertung ausschließen518. Zurückzukommen ist auf die Unbestimmtheit der inkommensurablen Werte. Das Recht auf Leben wird als grundsätzlich nicht messbar bezeichnet. Dennoch gibt es Fallkonstellationen, bei denen dieser Wert kommensurabel wird; etwa wenn bei Rettungsaktionen von Menschen Entscheidungen getroffen werden hin­ sichtlich der Hilfeleistung für eine möglichst große Anzahl Personen519. In solchen Fällen ist hinzunehmen, dass die zuständigen Behörden Güterabwägungsanalysen anstellen müssen, ohne die ihre Akte als irrational kritisiert würden520. Der Wert des Lebens wird auch in weiteren Fällen wie bei der Wehrpflicht521 oder beim straf­ losen Schwangerschaftsabbruch522 gegenüber anderen Werten wie der Sicherheit oder der persönlichen Freiheit abgewogen523. Gleiche Werte können sich so zugleich als inkommensurabel und als kommen­ surabel zeigen. Es besteht beispielsweise oftmals keine Möglichkeit, eine beson­ ders aufwendige Hilfeleistung im Sinne eines allgemeinen Anspruches rechtlich vorzusehen, doch kann es sich im Einzelfall als unumgänglich erweisen, eine weit über der Norm liegende Unterstützung zu gewähren524. Es ist in einer Vielzahl von Fällen angemessen oder gerade vernünftig, nichtrationale Motivationen bei Entscheidungen mit einzubeziehen. Das Versagen und der Nutzen des Vergleichs verschiedener Werte und Güter sind so stetig präsent, und die Konfliktsituation untereinander inkommensurabler Werte ist in juristischen Entscheidungen nichts Außergewöhnliches525. Bei dieser Vielheit von Erscheinungsweisen ist eine autonome, einigende Kom­ petenz der Wahrnehmung unerlässlich. Die juristische Entscheidungsautonomie ist umso umfassender, je mehr Möglichkeiten wir haben, zwischen qualitativ un­ terschiedlichen Zielen wählen zu können. Autonomie umfasst demnach eine we­ sentlich weitere Bestimmung als die Abwesenheit von Zwang und Manipulation. Gerade die juristische Entscheidungsautonomie muss die Freiheit beinhalten, zwi­ schen kommensurablen und inkommensurablen Größen wählen zu können526; im 518

Inkommensurabilität weist darauf hin, dass es gewisse Werte gibt, für die es zum vorn­ herein problematisch ist, in eine vergleichende Bewertung mit einbezogen zu werden; Griffin, S. 37. 519 Lukes, S. 191; vgl. auch die Beispiele bei Griffin, S. 37. 520 Lukes, S. 194 f. 521 Art. 59 Abs. 1 BV. 522 Art. 119 StGB. 523 Zum Beispiel BGE 114 Ia 452, 455 ff. 524 Zum Beispiel wenn entschieden werden muss, ob eine Suchaktion nach Verschütteten trotz Gefährdung der Helfer fortgesetzt werden soll; vgl. hinten, S. 129 f. 525 Griffin, S. 35 f.; Anderson, S. 107. 526 Wir wollen Entscheidungen zwischen unvergleichbaren Optionen nicht dem Zufall über­ lassen, sondern selbst treffen können; vgl. Schaber, Zur Inkommensurabilität moralischer Werte, S. 210; Raz, S. 119.

VI. Inkommensurabilität der Rechtswerte

101

konkreten Fall muss die Möglichkeit bestehen, Werte als inkommensurabel oder „objektiv“ zu belassen, wie dies das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Abwägung der Werte Leben gegen Leben beispielsweise im Urteil zur Verwen­ dung von Flugzeugen als Tatwaffe festgehalten hat527. Oder anders gesagt: Die Nötigung, als kommensurabel zu behandeln, was in Fallkonstel­lationen inkom­ mensurabel ist, stellt eine Beeinträchtigung der juristischen Entscheidungsauto­ nomie dar528. Der Gehalt der dargelegten Differenzierung ist dabei nochmals besonders her­ vorzuheben: Die Behandlung von Werten als inkommensurabel höher ist gerade nicht gleichzusetzen mit der Verabsolutierung jener (Rechts-)Werte für sämtli­ che Fallkonstellationen. Das Phänomen der Inkommensurabilität gewisser Rechts­ werte, die sich durch die Umstände des Sachverhaltes ergeben können, intendiert also eine spezielle Gewichtung für den Einzelfall. Würden Werte in rigider Weise ins Extreme gezogen, so führte dies in eine starre Überhöhung von Werten einer Gesellschaft. Die Verabsolutierung eines Wertes endet in der „Tyrannei der Werte“529. Gleichermaßen werden aber Personen, die absolut keine Affinität zu solchen Werten haben, nicht als gesellschaftskonform empfunden. Die Darstellung der Antinomik soll so aufzeigen, dass inhärente Werte direkt Verpflichtungen und Verhaltensnormen hervorbringen können, ohne einen in der Rechtswirklichkeit verabsolutierenden Charakter aufzuweisen530. Es bleibt anzumerken, dass die Phänomene der Antinomik innerhalb einer Rangordnung von Werten beschrieben werden, das heißt gerade nicht gegen eine Rangordnung von Werten sprechen531. Insgesamt zeigt sich ein Verhältnis von Grundsatz und Ausnahme: Kommensurable Rangkriterien vermögen Abwägungs­ konstellationen im Grundsatz einer Lösung zuzuführen, indem der stärkere Wert einem höheren Wert und das Leben vieler dem Recht auf Leben einiger vorgeht. Gleichwohl ergeben sich immer wieder Fälle, bei welchen diese Grundtendenzen umgestoßen werden.

527

Vorne, Fn. 513. Raz, S. 118. 529 � Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart u. a. 1967, S. 37 ff. 530 Hartmann, Ethik, S. 577 f.; vgl. auch Lukes, S. 190. 531 Hartmann stellt die Phänomene der Antinomik innerhalb der Rangordnungen dar; sie be­ treffen die Realisierung von Werten; Hartmann, Ethik, S. 577 ff., 611. 528

102

D. Werterelation und Inkommensurabilität

VII. Inkommensurabilität und Wertungskompetenz 1. Autonomie von Wertentscheidungen durch problemorientiertes Denken

Die Ausführungen zur Werterelation und Inkommensurabilität von Rechtswer­ ten werden nachfolgend in kurzer Form zusammengefasst. Mit der Beschreibung von Wertungskriterien anhand des Beispiels von Frei­ heitsrechten der Bundesverfassung lassen sich somit grundlegende Wertungsent­ scheide in einem Rechtssystem nachvollziehen und Faktoren definieren, die für eine Rangordnung der Werte im Rechtssystem bestimmend sind. Eine Rechtsordnung umfasst verschiedene Bereiche, in welchen die gesetz­ lichen Bestimmungen keine abschließenden Lösungen anbieten. Aus der Wertig­ keit einer Rechtsordnung im Sinne einer ableitbaren Rangfolge sind die erforder­ lichen Entscheidungen regelmäßig herzuleiten, nicht jedoch in allen Fällen532. So zeigt sich, dass in bestimmten Fällen andere Kriterien als Messbarkeits­ grundlagen zur Lösung von Wertekonflikten herangezogen werden müssen. Es scheint inkommensurable Formen von Ähnlichkeitsrelationen zu geben, die auch für juristische Entscheidungen bestimmend sind. Inkommensurabilität beschreibt ein Faktum von Unbestimmtheit in dem Sinne, als konkret immer wieder Entschei­ dungssituationen auftreten, bei welchen die zugrunde liegenden Wertkomponen­ ten nicht wie Zahlen oder Vektoren addierbar, das heißt nicht mit einem Maßstab zu messen sind. Entsprechend lassen sich inkommensurable Werte in einer juristi­ schen Abwägung nicht gegenseitig kompensieren533. Aus phänomenologischer Sicht ist das Problem der Entscheidungsgewissheit mit dem Status der Werte zu erklären. Ein objektiver Wertgehalt im Sinne der ma­ terialen Wertethik steht immer im Verhältnis der Inkommensurabilität zu einem positiven Rechtswert. In den tatsächlichen Beziehungen zwischen Personen oder Gesellschaften sind die gemäß den Rangfolgen intendierten Werte nicht immer verwirklicht. Ein ethischer Wertgehalt ist gegenüber den in der Rechtswirklichkeit berücksichtigten Werten inkommensurabel; er ist nicht vollständig realisierbar und dennoch Intention534. Wertqualitäten haben demnach aus der Sicht der phänomenologischen Wert­ ethik nicht die Kraft von Seinskategorien, welche die Wirklichkeit mit Notwen­ digkeit bestimmen, vielmehr lassen sie dem Menschen im Einzelfall die Freiheit, sich für oder gegen sie zu entscheiden; zwischen Wirklichkeit und Wert besteht ein Spannungsverhältnis535. 532

Vgl. Scheler, Formalismus, S. 107; Hartmann, Ethik, S. 272 ff., 274. Griffin, S. 35 f. 534 Wie dies am Beispiel der Freiheit dargestellt wurde; vgl. vorne, S. 91 ff., 97 ff. 535 Scheler, Formalismus, S. 206 ff.; Hartmann, Ethik, S. 70 ff., bzw. es wirken die Gesetze der Antinomik und des Komplementärverhältnisses; Hartmann, Ethik, S. 562 ff. und 585 ff. 533

VII. Inkommensurabilität und Wertungskompetenz

103

Die Wertedebatte wurde eingeschränkt durch die Annahme, dass Wertungs­ widersprüche nur scheinbar existierten; es handelt sich jedoch um eine  – von Hartmann durch das Antinomik- und Komplementärverhältnis dargestellte – elementare Eigenheit von Wertentscheidungen536. Wie Hartmann richtig anmerkt, ist vom Menschen immer Entgegengesetztes zugleich verlangt537. Der Rechtsanwen­ der kommt so nicht umhin, den axiologischen Gegensatz als einen kontradiktori­ schen zu behandeln538. Werden beispielsweise die Pressefreiheit und der Schutz der Privatsphäre gegen­ einander abgewogen, wird der Urteilende nicht grundsätzlich einen Wert vor allen anderen vorziehen; vielmehr wird einem Wert in der konkreten Fallgestaltung der Vorrang eingeräumt. Wertantinomien werden auf der konkreten Handlungsebene in eine gegenseitige Abgrenzung und Ergänzung verwandelt; erst durch sie kann die Zahl der möglichen, der ethisch vertretbaren Lösungen eingeschränkt wer­ den539. Das ethische Denken vollzieht sich wie das juristische von Fall zu Fall540. So zeigt sich hier eine typische Eigenart des juristischen Denkens. Das juris­ tische Denken geht nicht von einem erkannten festgelegten Zusammenhang von ableitbaren Rechtserkenntnissen aus, sondern zeigt sich als ein im Wesentlichen analoges, problemorientiertes Denken541. Werden objektive Werte einander gegen­ übergestellt, so eröffnet sich ein Raum der argumentativen Abwägung und Ana­ lyse der Konsequenzen der Verschiedenheit. Das eröffnet dem Rechtsanwender die Möglichkeit, gewisse Werte als nicht vergleichbar darzustellen, wie dies das deut­ 536

Vgl. auch Griffin, S. 38. Hartmann, Ethik, S. 570. 538 Im Bestehen dieses axiologischen Gegensatzes liegt nach Hartmann eine der absoluten Schranken der menschlichen Willensentscheidungen; Polarität kann in diesem Fall nicht über­ wunden werden; Hartmann, Ethik, S. 573. 539 Coing, S. 112 ff. 540 Coing, S. 112 f. 541 Hartmann unterscheidet zwei grundsätzliche Denkweisen und stellt sie einander gegen­ über: die systematische und die aporetische (problemorientierte) Denkweise, und beschreibt sie wie folgt: „[…] die systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das Erste […]. Nach dem Standpunkt wird hier nicht gesucht, er wird […] eingenommen. Pro­ blemgehalte, die sich mit dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen“; Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, S. 163. Von der zweiten Denkweise sagt Hartmann: „[…] die aporetische Denkweise verfährt in allem umgekehrt […]. Sie kennt keine Zwecke der Forschung neben der Verfolgung der Probleme selbst […]. Das System selbst ist ihr nicht gleichgültig, aber es gilt ihr […] nur als Ausblick […]. Sie zweifelt nicht daran, dass es das System gibt, nur dass es vielleicht in ihrem Denken latent das Bestimmende ist. Darum ist sie seiner gewiss, auch wenn sie es nicht erfasst“; Hartmann, Diesseits von Idealismus und Re­ alismus, S. 164. Coing nennt das juristische Denken entsprechend ein offenes System; Coing, S. 290, 295. Zu verweisen ist auch auf Viehwegs Topik, der insofern eine wichtige Rolle zu­ fallen kann, als dass sie die Problemorientierung thematisiert. Sie kann das Hierarchieproblem der Auslegungskriterien zwar nicht lösen, ist aber bestrebt, Metakriterien zu suchen, um das „vernünftige“, „bestmögliche“ oder „zweckmäßigste“ Auslegungsergebnis zu erzielen; dies entspricht auch der (nicht als topisch deklarierten) Praxis; Schluep, Einladung zur Rechtstheo­ rie, S. 1092 f.; Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München 1965. 537

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D. Werterelation und Inkommensurabilität

sche Bundesverfassungsgericht beispielsweise im oben dargestellten Urteil zur Verwendung von Flugzeugen als Tatwaffe gegen Menschen entschieden hat542. Auf die Wichtigkeit, diese spezifische Ähnlichkeitsrelation in problemorientierter Weise differenziert darzustellen, wird seit vielen Jahrhunderten aufmerksam ge­ macht. Für juristische Wertungs- und Abwägungskompetenzen ist die so erforder­ liche Differenzierung eine wesentliche Grundlage der Entscheidungsautonomie. 2. Entscheidungsvermögen trotz Inkommensurabilität

Hinsichtlich der praktischen juristischen Anwendbarkeit von Werterangfolgen lässt sich somit festhalten, dass abschließend determinierte Wertungskriterien, die sich rational zu einem Maximalwert addieren würden, zur Konfliktlösung in ein­ zelnen Fällen nicht herangezogen werden können. Dennoch besteht die axiologische Forderung der Synthese der bei der Rechts­ findung in Konflikt geratenden Werte543. Da regelmäßig mehrere Möglichkeiten angemessener Lösungen bestehen, wird der Rechtsanwender diese Entscheidungs­ möglichkeiten einschränken544. So ist von der folgenden Aussage Nagels auszugehen, der festhält: „[…] there can be good judgement without total justification, either implicit or explicit. The fact that one cannot say why a certain decision is the correct one, given a particular balance of conflicting reasons, does not mean that the claim to correctness is meaningless […]. What makes this possible is judgement – the faculty […] described as practical wis­ dom, which reveals itself over time in individual decision rather than in the enunciation of general principles.“545

Die Kompetenz der Rechtsanwender, inkommensurable Werte dennoch in Be­ zug zu setzen, wird demnach die Entscheidungsvariablen jedenfalls erheblich re­ duzieren546. Oder anders gesagt: Die Notwendigkeit, objektive Rechtswerte in die Rechtsfindung mit einzubeziehen, hindert unsere Entscheidungen nicht daran, in einem ursprünglichen Sinne vernünftige Entscheidungen zu sein547.

542

Urteil des BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15. Februar 2006; vorne, Fn. 513. Diese besteht unabhängig von ihrer Erfüllbarkeit; Hartmann, Ethik, S. 574. 544 Finnis, S. 144 ff. 545 Nagel, S. 134 f.; die Wichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall ist ein Charakteristikum objektiv denkender Philosophen; vgl. auch McDowell, S. 229. 546 Finnis, S. 144 ff. 547 Vgl. Finnis, S. 233. Entsprechend ist darauf hinzuweisen, dass, auch wenn wir keine ge­ meinsame Werteskala finden, um zwei Güter zu vergleichen, dies nicht bedeutet, dass es eine solche nicht geben könnte, das heißt, dass die Güter tatsächlich inkommensurabel wären. Die praktische Vernunft kann die Wertestruktur verfehlen. Vernünftige Entscheide im phänomeno­ logischen Kontext beziehen sich jedoch immer maßgeblich auch auf emotionale Akte; dazu sogl. hinten, S. 106 ff. 543

VII. Inkommensurabilität und Wertungskompetenz

105

3. Fazit: Werterangfolgen und die juristische Entscheidungskompetenz

Die von den Phänomenologen dargestellten Wertpräferenzsysteme, insbeson­ dere das von Hartmann formulierte umgekehrt proportionale Verhältnis von Wert­ stärke und Werthöhe, lassen sich in der Rechtswirklichkeit nachweisen. Es gibt je­ doch immer wieder Einzelfälle, in denen sich das Grundproblem der Polarität der Wertung nicht lösen lässt548. Solche Fälle verhalten sich inkommensurabel; das Verhältnis der Präferenz­ kriterien wird umgekehrt (oder aufgehoben), und die intendierten Rechtswerte werden als inkommensurabel höher als die Vergleichswerte eingestuft; die Werte lassen sich nicht vollständig realisieren. Die eigene Wertungskompetenz eröffnet ein zusätzliches Entscheidungsmoment für die konkrete Situation. Auch die eingangs gestellte zweite Frage ist demnach positiv zu beantwor­ ten: Objektive Werte und Werterelationen hemmen nicht die juristische Entschei­ dungsautonomie; vielmehr lässt sich anhand objektiver Strukturen die Problema­ tik der Entscheidung sowie die Autonomie und Ethik der juristischen Abwägung von Werten erst darstellen549.

548

Vgl. Hartmann, Ethik, S. 573. Vorne, S. 18.

549

E. Das emotionale Autonomieprinzip I. Grundlegung des emotionalen Erkenntnisvermögens Die Wertungs- und Entscheidungserfordernisse im Recht weisen allesamt auf die zentrale Funktion der eigenen Urteilskompetenz hin. Es ist demnach von grundlegender Wichtigkeit, zu analysieren, auf welche erkenntnistheoretischen Elemente sich eine juristische Wertungskompetenz maßgeblich stützt. Scheler und Hartmann betonen, dass alle autoritativ vorgegebenen Prinzipien der Gerechtigkeit fragwürdig erscheinen; als letzte moralische Instanz der kon­ kreten Handlung kann immer nur die Person gelten550. Sie plädieren in Anlehnung an Kant dafür, sich zum Maß der Entscheidung auf die eigene Urteilskraft, das eigene Vermögen der Urteilsbildung zu verlassen551. Das so heranzuziehende Urteilsvermögen stützt sich allerdings nicht ausschließ­ lich auf rationale Elemente der Kognition. Vielmehr wird von den Phänomenolo­ gen ein Vernunftbegriff vorgeschlagen, der gerade für Entscheidungen, die eine er­ hebliche ethische Relevanz aufweisen, auch intuitive Elemente der unmittelbaren Anschauung zulässt552. Für Scheler haben Werte demnach keine primär rational erfassbare Bedeutung, sondern erschließen sich dem Gefühl als zentralem Mittel der Werterkenntnis553. Es handelt sich dabei, im Gegensatz zu allem sinnlich-affekthaften Fühlen, um ein geistiges, aber irrationales Gefühl. Hartmann verwendet das platonische Motiv des „Schauens“ für die Beschreibung des Wertfühlens554. Dieses spezifische Erkenntnisvermögen zum Erfassen von Wertqualitäten wird von Scheler in Anlehnung an Brentano „intentionales Fühlen“ genannt555. Für die Phänomenologen hat das Wertfühlen eine intentionale Struktur und eine kognitive Funktion556. Nach der Auffassung der Phänomenologen ist dem Urteilsvermögen demnach eine maßgebliche emotionale Kompetenz eigen, die Wertekonstellatio­ nen in differenzierter Weise erfahren kann. Werte sind somit nicht in Sinneswahr­ nehmung oder Verstand, sondern stets in einer für sie wesenseigenen emotionalen 550

Hartmann, Ethik, S. 274. Vgl. auch Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 127. 552 Insbesondere der Rationalismus erfuhr diesbezüglich eine sehr einseitige Rezeption; vgl. hinten, S. 108. 553 Scheler, Formalismus, S. 259 ff. 554 Hartmann, Ethik, S. 121. 555 Henckmann, Materiale Wertethik, S. 89 f. 556 Scheler, Formalismus, S. 263. 551

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen

107

Erkenntnisart gegeben. Einige Autoren, zum Beispiel Husserl und von Hildebrand, sprechen in Anlehnung an „Wahrnehmung“ von „Wertnehmung“, andere von „Wert­ fühlen“ (zum Beispiel Hartmann und Hessen)557. Emotionale Akte ermöglichen Werterkenntnis; jedoch sind nicht alle Gefühle als Instrumente der Werterkenntnis geeignet558. Die Erkenntnis ethischer Wert­ gehalte ist für die Phänomenologen eine spezifische Funktion, die von Beobach­ tung und allen anderen Sinneseindrücken verschieden ist559. Aus dem weit ge­ fächerten Spektrum emotionaler Akte wird somit ein spezifisches, in der Folge näher darzustellendes emotionales Erkenntnisvermögen beschrieben, das unsere Wertungskompetenz leiten soll.

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen 1. Überwindung der althergebrachten Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit

Scheler eröffnet seine Analyse der erkenntnisbringenden emotionalen Akte mit einem Rückblick auf die Geschichte der Philosophie. Um die Funktion emotio­ naler Akte für ethische Entscheidungen zu differenzieren, bedarf es der Überwin­ dung eines seit langem bestehenden „Vorurteils“, nämlich der strikten Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit560. Alles, was nicht der Vernunft zugerechnet wer­ den kann, einer affekthaften Sinnlichkeit zuzuschreiben, um so in der Vernunft nur rationale Erkenntniszüge zuzulassen, ist für den menschlichen Geist nach Scheler unangemessen561. 557

Henckmann, Scheler, S. 104. Dazu hinten, S. 118 ff. 559 Scheler, Formalismus, S. 87. 560 Scheler, Formalismus, S. 267 f. „Die Philosophie neigt bis in die Gegenwart zu einem Vor­ urteil, das seinen Ursprung in der antiken Denkweise hat. Es besteht in einer der Struktur des Geistes völlig unangemessenen Trennung von ‚Vernunft‘ und ‚Sinnlichkeit‘“; Scheler, Forma­ lismus, S. 259. 561 Nach Scheler wurde bereits in frühen Auffassungen dem Gefühl eine Form des Erkennens attestiert; die Intentionalität des Fühlens wurde beschrieben, aus der Sicht Schelers jedoch ohne diesem Fühlen eine genügend herausgearbeitete eigenständige Bedeutung im Handeln zuzu­ sprechen; Scheler, Formalismus, S. 276. Als herausragende Philosophen dieser Zugangsweise zum Affektiven nennt Scheler Spinoza, Descartes und Leibniz. In der Darstellungsweise jener Autoren bestand nach Scheler jedoch ein Ungenügen dahingehend, dass das Affektive vorwie­ gend als „verworrene und dunkle Form der Erkenntnis“ dargestellt wurde. Aus diesem Man­ gel würde ein sich aus dem Affektiven konstituierender Weltbezug als Richtschnur des Erken­ nens im Vergleich zu den rationalen Vernunfteinsichten kaum darstellbar sein, es würde die stetige Rückführung des Affektiven auf das klarere Rationale implizieren. Gerade die Reduzie­ rung des Gefühls auf Verstand ist nach Scheler seine Abwertung. Entsprechend fehle bei die­ sem Ansatz die Darstellung der Unreduzierbarkeit, des eigenen Erlebnisbeitrags des Emotiona­ 558

108

E. Das emotionale Autonomieprinzip

Eine strikte Trennung zwischen gefühlsgeleiteten Akten und der Vernunft führte nach Scheler dazu, dass „alles Alogische im Geiste, Anschauen, Fühlen, Streben, Lieben, Hassen“, bloß Folge der psychophysischen Beschaffenheit des Menschen oder von der Umgebung des Menschen und deren Wirkungen abhängig wäre. Af­ fekte im Sinne von unmotivierten Reaktionen auf die Umwelt können jedoch nicht die Funktionen der intuitiven Wahrnehmung der Menschen spiegeln562. Entspre­ chend richtet sich Schelers Fragestellung auf eine ursprüngliche emotionale Invol­ viertheit, die es uns im Sinne der Selbstentgrenzung erst ermöglicht, Gegenstände und Sachverhalte zu erfassen563. Ein gefühlsgeleitetes Anschauen, das nach Scheler Teil  der Gesetzmäßigkeit unserer Handlungen ist, wurde aufgrund einer starken Abwertung emotionaler Akte im Rationalismus und vor allem in dessen Rezeption nicht ausreichend ana­ lysiert564. Für Scheler ist Ethik nicht weiter als entweder absolute apriorische und dann rationale Ethik oder aber als relative empirische und emotionale Ethik zu ver­ stehen: In einem neuen Ansatz soll die phänomenologische Philosophie die alt­ hergebrachte Trennung überwinden. Für Scheler stellt sich daher die für die ganze Phänomenologie fundamentale Frage, ob es nicht eine absolute und emotionale Ethik geben müsse565. Die Bezugnahme der Phänomenologen auf eine absolute Ethik steht in Verbin­ dung zur kantischen Ethik. Für Schelers Versuch ist es wesentlich, sich auf Kant zu beziehen – der Titel seines axiologischen Hauptwerkes tönt es an566 –, und zwar durch Ergänzung des kantischen Vernunftbegriffs durch das Komplement eines primären emotionalen Erkenntnisvermögens. Nach Scheler birgt auch das Emoti­ onale des Geistes einen ursprünglichen apriorischen Gehalt567.

len. Jedoch kann auch mit der Unreduzierbarkeit des Affektiven allein, wie sie etwa bei Kant und Tetens beschrieben wurde, keine kognitive emotionale Erkenntnisfunktion hergeleitet wer­ den; Scheler, Formalismus, S. 277. Gewisse Affekte können nach diesem Verständnis zwar als unreduzierbar interpretiert werden, gleichermaßen werden sie aber zu nur subjektiven Zustän­ den herabgesetzt; Scheler, Formalismus, S. 275. Der Ansatz der Vereinbarkeit der Unreduzier­ barkeit des Emotionalen mit einer gleichermaßen welterschließenden (intentionalen) Funktion wird von Scheler als Ausgangspunkt für seine eigene Position verwendet; vgl. P. Kaufmann, S. 100 ff.; Coriando, S. 21 f. 562 Scheler, Formalismus, S. 259. 563 Vgl. Vendrell Ferran, S. 213. 564 Scheler, Formalismus, S. 260; Scheer, S. 632 ff.; Stocker, S. 59. Insbesondere der Ratio­ nalismus erfuhr diesbezüglich eine sehr einseitige Rezeption; vgl. dazu in der englischen Auf­ klärung etwa die Ausführungen Shaftesburys zum wertempfindenden Gefühl des „­reflected sense“; Shaftesbury, S. 66, und die Untersuchungen zum „moral sense“ bei Hutcheson, S. 111 ff. Nach Scheer, S. 632 ff., ist die Aufklärung nicht als „Wende zur Vernunft“, sondern vielmehr als „Wende hin zum Subjekt“ zu verstehen. 565 Scheler, Formalismus, S. 260. 566 Der Titel „Der Formalismus in der Ethik […]“ spielt auf die „formale Ethik“ Kants an. Zur Auseinandersetzung hinten, S. 157 ff. 567 Scheler, Formalismus, S. 82.

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen

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Scheler lehnt wie Kant jegliche eudämonistische Begründung von Ethik ab; das Abstützen auf Erfahrungstatsachen, auf die Folgen einer Handlung bzw. auf die Maximierung des Glücks kann weder für Kant noch für Scheler das Richt­ maß einer ethischen Entscheidung begründen568; ein Richtmaß muss sich vielmehr im normativen Bereich durch ein apriorisch-intuitives Wertungsvermögen zeigen. Zunächst sind die Strukturen darzulegen, auf welche Scheler eine apriorische emotionale Erkenntnisfunktion stützen kann. Schelers Lehre vom emotionalen Apriori gründet im Wesentlichen auf der phänomenologischen Darstellung intui­ tiver Wahrnehmungsvorgänge. Die beiden maßgeblichen Kriterien, welche Sche­ ler für seinen Versuch heranzieht, sind die Unreduzierbarkeit und die Intentionalität des Fühlens569. 2. Das Emotionale als primäre Erkenntnisgrundlage

a) „Ordre du cœur“ Um die Eigenständigkeit der emotionalen Kompetenz darzustellen, bezieht sich Scheler auf den Mathematiker und Religionsphilosophen Blaise Pascal (1623 bis 1662)570. Pascal geht von einer eigenständigen Gesetzmäßigkeit des Fühlens aus, die in gleicher Weise absolut ist wie die reine Logik571. Bei Pascal finden sich Vor­ zeichen dessen, was Scheler als die beiden Grundmerkmale des wertbildenden Fühlens herausarbeiten wird572: die Intentionalität und die Eigengesetzlichkeit des affektiven Lebens573. Pascal hält fest, dass das rationale mathematische Denken grundlegende Bedürf­ nisse des Menschen unbefriedigt lässt und wesentliche Fragen des Menschseins nicht beantworten kann. Er setzt der Verstandeslogik eine „logique du cœur“ ent­ gegen. Der semantisch weit gefasste Begriff „cœur“ beschreibt bei Pascal eine spe­ zifische Weise des Fühlens und nicht eine Gesamtheit allen Fühlens schlechthin574. 568

Vgl. vorne, S. 37 ff. Scheler, Formalismus, S. 275 ff.; Coriando, S. 19 f. 570 Scheler bezeichnet Pascal als einen der „wenigen Denker“, die an dem Vorurteil der Tren­ nung von Vernunft und Gefühl „gerüttelt“ haben, ohne jedoch zu „einer Gestaltung“ zu gelan­ gen; Scheler, Formalismus, S. 260. 571 Mit dem Begriff „cœur“ meint Pascal, so Scheler, jedoch „eine absolute und ewige Ge­ setzmäßigkeit des Fühlens, Liebens und Hassens, die so rein ist wie die der reinen Logik, die aber in keiner Weise auf intellektuelle Gesetzmäßigkeit reduzierbar ist“; Scheler, Formalismus, S. 268. Für Pascal sind diejenigen Menschen, die jener Ordnung intuitiv teilhaftig wurden, we­ sentlich seltener als die Vertreter der wissenschaftlichen Erkenntnis; vgl. Scheler, Formalismus, S. 260. 572 Gestützt auf die darzustellenden Grundmerkmale will Pascal die ursprüngliche Kraft des affektiven Weltzugangs aufzeigen; vgl. Coriando, S. 37. 573 Scheler, Formalismus, S. 268. 574 Scheler, Formalismus, S. 269; Coriando, S. 35. 569

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E. Das emotionale Autonomieprinzip

Die Begriffe des Emotionalen sind bei Pascal stark religiös geprägt, weisen aber – etwa im Gegensatz zur Affektenlehre Descartes’ – einen wenig systema­ tischen Charakter auf. Die Textpassagen der „Pensées“ bereiten durch ihre Knapp­ heit und vermeintliche Einfachheit der Sätze erhebliche, meist unterschätzte Schwierigkeiten. Bei jeder Interpretation ist die Charakteristik des Pascalschen Denkens in genauer Erschließung jeweils herauszuarbeiten575. Im Fragment 277576 befindet sich der bekannte und meist zusammenhangslos zi­ tierte Satz Pascals: „Le cœur a des raisons qui la raison ne connaît pas“577. ­Scheler weist darauf hin, dass diese Worte Pascals oft missverstanden wurden, in dem Sinne etwa, als würde hier „den Bedürfnissen des Herzens und des Gemüts“ ein erfor­ derliches Mitreden mit dem Verstand in einem sekundären Sinne eingeräumt, ge­ wissermaßen als eine „nachträgliche Ergänzung“ oder Möglichkeit der Berichti­ gung578. Gerade nicht diese „Nachgiebigkeit des Denkens“579, sondern vielmehr eine eigene Ordnung, eine Eigengesetzlichkeit, habe Pascal abzugrenzen versucht, die „so bestimmt, genau und einsichtig“ ist wie die der Logik und der Mathematik580. Dieser Gedanke Schelers findet sich im Fragment 282 bestätigt, das festhält: „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das Herz; in der Weise des letzteren kennen wir die ersten Prinzipien […]. Denn die Erkenntnis der ers­ ten Prinzipien, zum Beispiel es gibt Zeit, Raum, Bewegung, Zahlen, ist ebenso gewiss wie irgendeine, die uns die urteilende Vernunft vermittelt. Und es ist dieses Wissen des Herzens und des Instinkts, auf das sich die Vernunft stützen muss, auf das sie alle Ableitungen grün­ det […]. Die Prinzipien lassen sich erfühlen, die Lehrsätze lassen sich erschließen, und bei­ des mit Sicherheit, obgleich in unterschiedlicher Weise.“581

575

Vgl. Coriando, S. 28. Die Nummerierung stützt sich auf die Herausgabe Wasmuth. 577 „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“; Pascal, Chevalier, 477, S. 1221; Pascal, Wasmuth, 277, S. 141; Coriando, S. 28. 578 Scheler, Formalismus, S. 269. 579 Scheler, Formalismus, S. 269. 580 Scheler, Formalismus, S. 269. Pascal sei also nicht so zu verstehen, als hätte er sagen wol­ len, wenn der Verstand gesprochen habe, komme dem Gefühl oft auch noch ein Gewicht zu. Der Satz von Pascal sage vielmehr aus, dass es eine Erfahrungsart gebe, deren Gegenstände dem Verstand verschlossen seien, die uns aber echte objektive Gegenstände zuführe. Diese Ordnung und die Gesetze dieses Erfahrens sind so bestimmt, genau und einsichtig wie jene der Logik und der Mathematik. Pascals Begriff „cœur“ deckt sich demnach nicht mit den Begriffen Affekt, Gefühl oder Stimmung, sondern geht auf eine ursprüngliche emotionale Involviertheit zurück, auf der Scheler seine Lehre vom Emotionalen aufbaut; Scheler, Formalismus, S. 26 f. Vgl. dazu auch Hover, S. 143 ff. 581 Pascal fährt fort: „Es ist ebenso unnütz wie lächerlich, wenn die Vernunft, um zuzustim­ men, vom Herzen Beweise für seine ersten Prinzipien verlangt, wie es lächerlich sein würde, wenn das Herz von der Vernunft, um allen Lehrsätzen, die sie beweist, zuzustimmen, ein Ge­ fühl fordern würde“; Pascal, Chevalier, 479, S. 1221 f.; Pascal, Wasmuth, 282, S. 141 f. 576

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen

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b) Emotionale Akte als Grundlage für Verstandesleistungen „Cœur“ ist bei Pascal eine spezifische Erkenntnisgrundlage, in welcher uns die ersten Prinzipien wie Raum, Zeit, Bewegung in ihrer einfachen Vorgegebenheit er­ schlossen sind und gleichermaßen ein Vermögen, das dem Verstand die Grundlage für seine eigene, aposteriorisch-vermittelnde Erkenntnisgewinnung bereithält582. Festgehalten wird die Unmittelbarkeit des emotionalen Gegenstandbezuges im Sinne eines einheitlich-weltstiftenden Erfühlens583: Die Gegenstände sind im „cœur“ wesensmäßig je schon enthalten; „cœur“ bezieht sich apriorisch auf sie. Gestützt auf diese emotionale Grundlage kann sich das Leben auf die ersten Prin­ zipien aufbauen. Das im „cœur“ gegebene Wissen um Zeit, Raum und Bewegung etwa vermittelt dem Leben die Grundkoordinaten für seinen Vollzug584. Insofern ist „cœur“ bei Pascal ein Doppelbegriff; es ist das Vermögen der Tran­ szendenz, an dem der Mensch teilhat und das ihm vorausgeht. Pascal nennt die Weise, wie sich das Vorausgehende der emotionalen Erkenntnisfähigkeit zeigt, „ordre du cœur“585. Durch die Ordnungsfunktion ist der emotionalen Erkenntnis­ fähigkeit ein aktives, auch intentionales Vermögen gegeben, das von Pascal damit grundlegend vorgezeichnet wird586. Der unmittelbare Bezug des vorausgehenden Empfindens im Sinne des „ordre du cœur“ wird von Scheler aufgegriffen587 und aus dem religiösen Kontext heraus­ gelöst588. Unter dem Begriff des Wertfühlens postuliert Scheler ein an Pascal angelehntes grundlegendes emotionales Unterscheidungsvermögen, ein ursprüngliches emo­ tionales Involviertsein in die Welt und ihre Geschehnisse, das Besonderheit quali­ 582 Vgl. Coriando, S. 30. Nach Pascal ist nicht nur die Erfahrungsart des „cœur“ eine eigen­ ständige; auch die Gegenstände dieses Zugangs und Erfahrens seien solche, die nur dem „cœur“ einsichtig sind, das heißt Gegenstände, die dem „Verstande“ verschlossen bleiben, für die dieser „so blind ist wie Ohr und Hören für die Farbe“; Scheler, Formalismus, S. 269. Die Herleitung der Erkenntnisfähigkeit des Emotionalen ergibt sich bei Pascal im religiösen Kon­ text: „Es ist das Herz, das Gott spürt, und nicht die Vernunft.“ Das Herz ist also bei Pascal glei­ chermaßen ein religiöses Vermögen, in dem sich das Göttliche offenbart; vgl. Pascal, Wasmuth, 278, S. 141. Vgl. zu den Ursprüngen des Pascalschen „cœur“ im biblischen und augustinischen Denken Hover, S. 48 ff. 583 Hastedt, S. 149. 584 Coriando, S. 31. Pascal beschreibt also eine im religiösen Kontext zweifache Rezeptivi­ tät des Herzens: Im Herzen ist nach Pascal Gott gegeben, aber auch die ersten Prinzipien. Das gestaltende Moment besteht darin, dass der Mensch das Gefühlte ausdrücklich in Lebensent­ würfe umwandeln kann bzw. sich je schon faktisch nach ihnen gerichtet hat; vgl. Pascal, Was­ muth, 278, S. 141. 585 Coriando, S. 31. 586 Zum Begriff der Intentionalität siehe sogl. hinten, S. 112 ff. 587 Scheler, Formalismus, S. 270. 588 Primäre Erkenntnisgegenstände („erste Prinzipien“) der emotionalen Wahrnehmung sind bei Scheler im Gegensatz zu Pascal nicht Zeit und Raum, sondern Wertverhalte.

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E. Das emotionale Autonomieprinzip

tativ erfahrbar macht und Wichtigkeitsbesetzung ermöglicht589. Diese Gefühle ers­ ter Ordnung eröffnen so einen eigenen Zugang, welcher die Partikularität der Welt positiv und negativ differenziert. Dadurch, dass sie Wichtigkeitsbesetzung ermög­ lichen, beinhalten Gefühle selbst kognitive Anteile590. In kognitiven primären emotionalen Akten der Eröffnung von Welt und von Sachverhalten sind so Vorzugstendenzen bereits gegenständlich („objektiv“) ge­ geben, die man als primäre Werthaftigkeit bezeichnen kann. Die Reflexion des Verstandes ist diesem ursprünglichen Weltbezug, der bereits ein wertender ist, nachgeordnet: Es bedarf eines neuen Aktes der Reflexion zur Betrachtung des­ sen, was uns auf diese Weise gegenständlich erscheint. Ein intuitives Moment der Sachverhaltseröffnung können wir somit erst in einem zweiten Schritt be­ schreiben591. Bei Scheler ergibt sich durch ein emotionales Involviertsein, ein grundlegen­ des Wissen um Sachverhalte nach wertenden Gesichtspunkten bereits vor der Re­ flexion. Für ihn ist die Vorwertung bewusstseinsimmanent gegeben; sie lässt sich nicht reduzieren auf die Tätigkeit des Verstandes. Scheler erklärt die Unreduzier­ barkeit der Vorwertung gestützt auf den Intentionalitätsbegriff und die Bewusst­ seinsphänomenologie Franz Brentanos. 3. Intentionalität

a) Intentionalität des Bewusstseins Der Vortrag mit dem Titel „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“, den Bren­ tano 1889 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft hielt, gilt als grundlegendes Werk der modernen Bewusstseinsphänomenologie. Brentano versucht, entspre­ 589 Die primär emotionale Eröffnung von Welt und von Sachverhalten wurde auch empirisch nachgewiesen; vgl. dazu die Forschungsarbeiten von Hauser, S. 163 ff.; Joseph LeDoux, Emo­ tional Memory Systems in the Brain, Behavioural Brain Research 58, 1993, und die Zusam­ mentragung bei Goleman, S. 19 ff., 35 ff., 38. Das Gewicht der emotionalen Wichtigkeitsbe­ setzung zeigt empirisch auch die Lernpsychologie auf: Ein emotionaler Bezug zum Lernstoff muss vorhanden sein, damit er überhaupt gespeichert werden kann; vgl. dazu aus entwick­ lungspsychologischer Sicht zum Beispiel Martin Dornes, Der kompetente Säugling, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1998. Als weiteres Beispiel der Wichtigkeit von emotionalen Sachverhalten sei die Beziehung zwischen Mutter und Kind genannt, bei der sich ein Verstehen durch vorwiegend emotionale Kommunikation ergibt; de Sousa, S. 125. 590 Vgl. Hastedt, S. 21, 149. 591 Scheler, Formalismus, S. 265. Scheler verwendet die Begriffe Lieben und Hassen für die emotionale Eröffnung von Welt, weil sie im Gegensatz zu anderen emotionalen Begriffen, zum Beispiel der Achtung, nicht aus einer Beurteilungsperspektive resultieren. Achtung beispiels­ weise beruht auf einer Wertbeurteilung. Der Liebe fehlt diese Distanz; vgl. Good, S. 23. Für Scheler sind Lieben und Hassen „ganz ursprüngliche und unmittelbare Weisen des emotio­nalen Verhaltens“; Scheler, Formen der Sympathie, S. 152.

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen

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chend seiner geistigen Prägung durch den Aristotelismus und die Scholastik, eine Psychologie vom „empirischen Standpunkt“ zu entwickeln592. Brentano verwendet den Begriff „empirisch“ wesentlich anders, als dies im heutigen Sprachgebrauch üblich ist. Seine Konzeption basiert auf der Maxime der präzisen Umschreibung unserer eigenen Wahrnehmung; sein Begriff des „empirischen Standpunkts“ in­ tendiert nicht die Beobachterperspektive einer Drittperson, sondern das eigene Er­ leben. Das Erleben der eigenen Wahrnehmung soll analysiert werden und Aus­ gangspunkt der Psychologie sein593. Grundlage von Brentanos Untersuchung ist die Frage, wie eine Beteiligung des Bewusstseins an der Fundierung von Ethik möglich ist, ohne dabei auf emotivis­ tische oder skeptizistische Grundzüge zurückgreifen zu müssen594. Im erwähn­ ten Vortrag wird so der Versuch unternommen, ein im Menschen liegendes „sitt­ liches Bewusstsein“ auf ursprüngliche Erfahrungsgründe zurückzuführen, aus denen sich Gemütsakte sowie apriorische Wert- und Vorzugstendenzen darstellen lassen595. Bewusstseinszustände auf eine Gesetzlichkeit hin zu analysieren, leitet Bren­ tano zum Phänomen der Intentionalität als deren Grundstruktur, und er beschreibt sie als die Fähigkeit des Bewusstseins, sich auf Gegenstände außerhalb seiner selbst beziehen zu können596. Intentionalität ist, „[w]as die Scholastik des Mit­ telalters die […] Inexistenz eines Gegenstandes genannt hat, […] und was wir […] die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht die Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nen­ nen würden“597. Bewusstseinsinhalte beziehen sich intentional auf ihre Wahrnehmungsinhalte; es ist also in der Vorstellung etwas – ein Objekt – vorgestellt, im Urteil etwas an­

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Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, Vorwort, S. 1. Brentano vertritt ein Konzept der Introspektion (Selbstbeobachtung) und steht damit dem Behaviorismus (der Verhaltensanalyse) entgegen; vgl. Huemer, S. 4. 594 Es interessiert Brentano die Frage, „wie der Anteil des Gefühls am Zustandekommen der ethischen Grunderkenntnisse mit ihrer Gültigkeit für alle vernünftigen Wesen zu verein­ baren sei“; Brentano, Grundlegung und Aufbau der Ethik, S. 149. Diese Fragestellung beschäf­ tigte Husserl ab 1902; sie bildet den Leitfaden für Husserls Ethikvorlesungen ab 1908; Spahn, S. 30 f. Zum Emotivismus hinten, S. 144 ff. 595 P. Kaufmann, S. 138. 596 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S.  107 f.; P. Kaufmann, S.  132. Die intentionale Eigenheit des Bewusstseins ermöglicht es, die Subjektivität der Selbstwahr­ nehmung zu transzendieren und sich auf Gegenstände und Sachverhalte direkt zu beziehen; ­Kaletha, S. 292; Husserl, Hua, Bd. 2, S. 12. 597 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 106. Das Zitat ist im Zusammen­ hang zu verstehen: Brentano entwickelt hier nicht eine umfassende Definition der Intentiona­ lität, sondern zieht die Intentionalität als Kriterium heran, um psychische Phänomene von physischen zu unterscheiden. Aus dem Zitat geht hervor, dass das von uns intendierte Objekt Teil des psychologischen Wahrnehmungsaktes ist; Huemer, S. 7; vgl. vorne, S. 44 ff. 593

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E. Das emotionale Autonomieprinzip

erkannt oder verworfen etc.598. Da kein physisches Phänomen ähnliche Merkmale aufweist, definiert Brentano psychische Phänomene als „solche […], welche in­ tentional einen Gegenstand in sich enthalten“599. Beispiele für psychische Phäno­ mene sind das Vorstellen, das Denken eines allgemeinen Begriffs, die Erinnerung, ebenso Mut, Absicht, Wille. Physische Phänomene dagegen sind Farben, Figuren, eine Landschaft, Geräusche, Geruch und ähnliche Gebilde, die in der Phantasie er­ scheinen600. Mit dieser scheinbar voraussetzungsfreien und selbstverständlichen Einteilung ist eine Grundentscheidung der Phänomenologie bereits vollzogen: Alles Phy­ sische erscheint nur aufgrund seiner Gegebenheit im Psychischen601; diesem al­ lein kommt außer der intentionalen auch eine „reelle“, in der Evidenz des Be­ wusstseins unbezweifelbar gegebene Existenz zu602. Gestützt auf diese Erkenntnis spricht Brentano die bereits in der Scholastik thematisierte „objektive Inexistenz“ eines Gegenstandes an603. In allen Fällen sind die physischen Phänomene das, was gehört, gesehen etc. wird, aber nie das, was als physische Entität zwar existiert, aber nicht gesehen, gehört etc. wird, also nicht der physische Gegenstand und seine Eigenschaften, sondern die Bewusstseinsinhalte, in denen jener Gegenstand gegeben ist604. Das Psychische präsentiert als Akt die äußeren Objekte und kann nicht auf deren Basis­ elemente zurückgeführt werden. Um überhaupt für uns eine wahrnehmbare Exis­ tenz zu haben, müssen Gegenstände im Bewusstsein präsentiert werden können605. 598 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 106. Psychische Phänomene sind demnach das einzige mögliche Objekt der Wahrnehmung. Ein weiteres Kriterium, das Brentano zur Unterscheidung psychischer und physischer Phänomene heranzieht, ist, dass psychische Phänomene stets in der Einheit des Bewusstseins (das heißt mit ihm verschmolzen) erscheinen; Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 107 f., 175 ff.; Huemer, S. 5 f. 599 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 107. Brentano macht in diesem Zusammenhang auf Parallelen zu Aristoteles aufmerksam, der ebenfalls von dieser „psychi­ schen Einwohnung“ spricht. Er beschreibt, dass das Empfundene im Empfindenden ist, nicht objektiv in der Welt; der Sinn nehme das Empfundene ohne die Materie auf, das Gedachte sei in dem denkenden Verstande. Auch Thomas von Aquin war der Ansicht, so Brentano, das Ge­ dachte sei intentional in dem Denkenden, das Begehrte in dem Begehrenden; Brentano, Psy­ chologie vom empirischen Standpunkte, S. 106 (Fn. 67). 600 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 97. 601 Intentionalität ist so gleichermaßen zu bezeichnen als ein Darstellungsverhältnis, wonach sich alles Gegenständliche in subjektiven Gegebenheiten realisieren muss; Husserl, Hua, Bd. 2, S. 12; Kaletha, S. 292. 602 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 109; Coriando, S. 67. 603 Vorne, S. 113. 604 Wird an eine Stadt gedacht, so denken wir ein psychisches Objekt der Wahrnehmung, das Teil des Denkaktes ist, nicht jedoch an die Stadt als physisch-konkretes Objekt. Insofern be­ steht kein Unterschied, ob das intendierte Objekt physisch existiert oder nicht; Huemer, S. 7. 605 Bewusstseinsakte haben selbst eine Existenz, indem sie Objekt anderer Bewusstseinsakte sein können. Andererseits haben sie als Bewusstseinsakte, welche einen Bewusstseinsinhalt in­ tendieren, auch eine wirkliche Existenz, die den physischen Phänomenen fehlt, weil sie nie ein Objekt intendieren; Vendrell Ferran, S. 51.

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen

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Oder wie es Brentanos Schüler Husserl ausdrückt: „Die Erscheinungen selbst er­ scheinen nicht, sie werden erlebt[!].“606 In diesem Sinne ist die Wirklichkeit zu bezeichnen als intentionales Präsentie­ ren von Vorstellungsbildern im Bewusstseinszusammenhang607. Das äußere Sein wird intendiert und so in verschiedenen Erlebnissen: vorstellend, liebend, urtei­ lend, täuschend usw. dem Bewusstsein präsentiert608. b) Zweifache Intentionalität Die den Bewusstseinsakten eigene Intentionalität erweist sich für Brentano als eine zweifache. Sie richtet sich erstens auf das, was Brentano als primäres (äuße­ res) Objekt bezeichnet, zum Beispiel den Ton in einem Akt des Hörens und die Farbe im Akt des Sehens. Zweitens erfasst jedes psychische Phänomen jedoch auch sich selbst, in dem Sinne, dass wir uns in einem Akt des Hörens nicht nur des Tones, sondern auch des Hörens selbst bewusst sind, ohne dass dafür ein zweites physisches Phänomen erforderlich ist609. Diesen zweiten Akt, der Inhalt seiner selbst ist, bezeichnet Brentano als „sekun­ däres Objekt“ und umschreibt es wie folgt: „In demselben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt wird, erfassen wir zugleich das psychische Phänomen selbst, und zwar nach seiner doppelten Eigentümlich­ keit, insofern es als Inhalt den Ton in sich hat, und insofern es zugleich sich selbst als In­ halt gegenwärtig ist. Wir können den Ton das primäre, das Hören selbst das sekundäre Ob­ jekt nennen.“610

Durch die Darstellung des „sekundären Objekts“ als zweiter bewusstseinsphä­ nomenologischer Akt, der Inhalt seiner selbst ist, wird die Funktion des Bewusst­ seins als Innenseite des Verhaltens hervorgehoben611. Die von Brentano entwickelte neue Auffassung der doppelten Struktur des Bewusstseins zeigt gleichermaßen eine Erkenntnisfunktion auf612: Die Fähigkeit, sich selbst als Inhalt gegenwärtig zu sein, enthält in sich eine kognitive Orientierungsfunktion. Sie wird beschrieben als Form von Intelligenz, die unmittelbar-intuitiv („blitzartig“) funktioniert613. 606

Husserl, Logische Untersuchungen, S. 350. „Erlebnis ist das Die-Welt-Meinen; die Welt selbst ist der intendierte Gegenstand“; Husserl, Logische Untersuchungen, S. 387. 608 Coriando, S. 77. 609 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 146. 610 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 146. Das Vorstellen hat so selbst eine intentionale Basis, die es vom reinen Meinen abhebt und sich gleichermaßen zur Welt ent­ grenzt; Coriando, S. 78. 611 Dies entspricht der heute herrschenden Auffassung der Funktion des Bewusstseins; ­Vendrell Ferran, S. 27. 612 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 162 f. 613 Vendrell Ferran, S. 27. 607

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E. Das emotionale Autonomieprinzip

c) Die Analogie zwischen urteilenden und emotionalen Akten Die Gesamtheit der intentionalen Erlebnisse lässt sich nach Brentano in drei Klassen unterteilen, nämlich in Vorstellen, Urteilen und in die emotionalen Phä­ nomene des Liebens und des Hassens614. Unter die letzte Kategorie fallen Gefühle wie Willensakte615. Zwischen der zweiten und dritten Klasse von Akten ergibt sich nach Brentano eine besondere Parallelität, und zwar deshalb, weil sich „unter den Gemütsbezie­ hungen ein Gegensatz [findet] von Liebe und Hass, wie unter den Urteilsbeziehun­ gen ein Gegensatz von Anerkennen und Verwerfen, bei der Vorstellung aber [ist] ein ähnlicher Gegensatz nicht vorhanden“616. Genau in dieser Verwandtschaft der auftretenden Polarität zwischen urteilenden und emotionalen Akten (anerkennen und verwerfen bzw. gefallen und missfallen) liegt nach Brentano die Analogie zwi­ schen emotionalen Akten und Urteilen617. Die Lehre von der Analogie des Bereichs des Urteilens und des emotionalen Be­ reichs ist von besonderer Bedeutung, denn als besondere Erlebnisklasse sind auch die Gefühle eine Grundkategorie des intentionalen Bewusstseins618. In der Aner­ kennung der Intentionalität der fühlenden Bewusstseinsakte liegt die Begründung der Erkenntniskraft von Gefühlen619 und gleichermaßen die Grundlage der Wert­ theorie620. Gefühle haben nicht eine vom Urteilen geliehene Intentionalität, son­ dern sind per se (intentionale) Akte eigener Art, die sich wesentlich auf Werte als Phänomene von Qualität richten621. Emotionale Akte werden bereits bei Brentano mit dem Wertbegriff als ihrem Erkenntnisobjekt verknüpft: „Es handelt sich, wie dort [beim Urteil] um Wahr­ heit und Falschheit, hier [bei den emotionalen Akten] um Wert und Unwert eines Gegenstandes.“622 Da Liebe und Hass nichts anderes sind als allgemeine Namen

614

Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 15 ff., 317 ff. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 357 ff. 616 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 405. 617 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 361 f. Die Lehre von der Evi­ denz und ihren Analogien auf dem emotionalen Gebiet steht im Zentrum von Brentanos Unter­ suchungen. In Brentanos Vortrag wird damit ebenso die  – von der modernen Psychologie bestätigte  – Verwandtschaft zwischen moralischen Handlungen und Urteilen beschrieben; P. Kaufmann, S. 138. 618 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 320 f. 619 Coriando, S. 78; Vendrell Ferran, S. 27. 620 Chisholm, S. 18. 621 Vendrell Ferran, S. 21; Rocher, S. 166. 622 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 361 f. Mit diesen Worten eröff­ net Brentano richtungweisend die Grundlagen der phänomenologischen Wertethik in der Inten­ tionalität des Fühlens; P. Kaufmann, S. 134 f. 615

II. Die Frage nach einer ethischen Eigengesetzlichkeit des Emotionalen

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für positive und negative emotionale Bewertungen, bilden sie die Basis von Wert­ urteilen. Sie können im Hinblick auf das Erfühlte richtig oder falsch sein623. d) Innere Wahrnehmung als Basis der Ethik Brentano weist darauf hin, dass dasjenige, worauf wir uns durch das Bewusst­ sein beziehen, nicht im realen Sinne existieren muss624. Gleichermaßen gibt sich die äußere Wahrnehmung nur mittelbar durch die innere Wahrnehmung; die innere Wahrnehmung ist die einzige Wahrnehmung, die im eigentlichen Sinn des Wortes möglich ist625. Entsprechend hat sich auch das Streben nach Erkenntnis nicht am (physischen) Objekt zu orientieren, sondern es kann sich nur aus dem genuin Psy­ chischen ergeben626. Brentano sucht eine Synthese zwischen dem Festhalten an der Allgemeingültig­ keit ethischer Prinzipien und dem wertenden Subjekt. Denn für ihn sind „die letzte Quelle unserer Erkenntnis vom Guten und vom Besseren […] innere Wahrneh­ mungen als charakterisierte, auf allgemeine Gegenstände gerichtete Akte des Lie­ bens und Bevorzugens“627. Unser unmittelbares Erleben eines als richtig charak­ terisierten Bevorzugens schafft für ihn eine neue Basis der Ethik ebenso wie der Erkenntnistheorie628. Das Fundament der Ethik wird so aus einem intentionalen Erlebnis hergeleitet, das einen emotionalen Ursprung hat. Desgleichen erfolgt eine für die spätere Phä­ nomenologie typische Wende zum Subjekt und zu seinen Bedingungen: Bevor Ge­ setze zeitlicher Veränderungen formuliert werden können, muss untersucht wer­ den, worin diese Phänomene im Subjekt bestehen und wie sie sich ordnen629. 623 Entsprechend ist für Brentano ein Objekt an sich gut, wenn es korrekt ist, positive Emo­ tionen für dieses Objekt zu empfinden; Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 362; Huemer, S. 10. Auch in neuesten Theorien zur Erkenntniskraft von Gefühlen wird der Wertbezug der Gefühle betont, indem Emotionen als Werturteile definiert werden; so zum Bei­ spiel bei Nussbaum, S.  19 ff. Vgl. auch Tappolet: „Quand les circonstances sont favorables, nos émotions fournissent accès cognitif fondamental aux valeurs. Tout comme les expériences perceptuelles nous permettent d’avoir conscience des formes et des couleurs, les émotions con­ sisteraient en des représentations de valeurs. Nos émotions pourraient donc être qualifiées de perceptions des valeurs“; Tappolet, S. 8 f. Werturteilende Gefühle können wie urteilende Akte richtig oder falsch sein; Tappolet, S. 202 f.; Vendrell Ferran, S. 203. 624 Diese Tatsache wird von Brentano unter dem Begriff der „intentionalen Inexistenz“ ver­ deutlicht. Allerdings distanziert sich Brentano später etwas von dieser Lehre. Hierzu P. Kaufmann, S. 133. 625 Das heißt aus der Evidenz der unmittelbaren inneren Wahrnehmung; Brentano, Psycholo­ gie vom empirischen Standpunkte, S. 109. 626 P. Kaufmann, S. 131. 627 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 282. 628 Vgl. Franziska Mayer-Hillebrand, in: Brentano, Grundlegung und Aufbau der  Ethik, Vor­ wort, S. VII; P. Kaufmann, S. 144. 629 P. Kaufmann, S. 131.

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E. Das emotionale Autonomieprinzip

III. Übertragung der emotionalen Kategorien auf die Wertlehre 1. Intentionales Fühlen

a) Unmittelbar wertender Wahrnehmungsvollzug Scheler bezieht sich in grundlegender Weise auf die Ordnungsfunktion inten­ tionaler Akte des Fühlens als Orientierung für ethische Entscheidungen. Der In­ tentionalitätsbegriff Brentanos wird im „ursprünglichen intentionalen Fühlen“630 zum zentralen Erkenntnismittel für Wertgehalte. Das „intentionale Fühlen“ als in­ tuitiver unmittelbarer Wahrnehmungsvollzug soll in Abgrenzung von verschiede­ nen emotionalen Begriffen veranschaulicht werden631. Vom intentionalen Fühlen im Sinne Schelers abzugrenzen sind zunächst die Wahrnehmungen des Gewissens. Das Gewissen kann nach Scheler deshalb nicht die oberste Instanz sittlicher Erkenntnis sein, weil es wesentlich negativ funktio­ niert; es wehrt sich zwar gegen ein bestimmtes Verhalten, sagt aber nicht positiv, was gut sei632. Scheler versteht das Gewissen als das, was die eigene Erkenntnis und Erfah­ rung zur ethischen Einsicht beitragen. Es ist ein Zusammenwirken, auch mit den Sätzen der Autorität und den Gehalten der Tradition633. Alle diese subjektiven Er­ kenntnisquellen lassen sich erst dann als gültige Instanz für moralische Urteile an­ führen, wenn sie sich durch die ursprüngliche Erkenntnis634, das intentionale Füh­ len, rechtfertigen lassen635. Abzugrenzen ist das intentionale Fühlen ebenso von Gefühlszuständen (Affekte, sinnliche Gefühle, Stimmungen636). Intentionales Fühlen zeigt sich für Scheler bei­ spielsweise dort, wo es sich als emotionale Wahrnehmung auf Gefühlszustände zu richten vermag, wie zum Beispiel auf einen sinnlichen Schmerz: Denn das inten­

630

Scheler, Formalismus, S. 261. Scheler hält denn auch ausdrücklich fest, dass er zunächst Brentanos deskriptive Psy­ chologie für den Aufbau seiner eigenen axiologischen Theorie verwendet hat; Scheler, Frühe Schriften, S. 385. 632 Scheler, Formalismus, S. 325. 633 Scheler, Formalismus, S. 324 ff. 634 Henckmann, Scheler, S. 115 ff. 635 Das Gewissen wird bei Hartmann anders definiert als bei Scheler. Für Hartmann ist es ein primäres, einem jedem im Gefühl liegendes Wertbewusstsein; vgl. Hartmann, Ethik, S. 134. 636 Zum Beispiel Heiterkeit, Trauer, Ruhe; Scheler, Formalismus, S. 263. Zustand bzw. Zu­ ständlichkeit ist hier der Gegenbegriff zu Intentionalität und intentionales Gerichtetsein. Wer­ den Gefühle reduziert auf Gefühlszustände, so werden sie zu subjektiven Phänomenen; sie können den vorstellenden erkennenden Schritt zur Objektivität der Außenwelt nicht eigens vollziehen; Coriando, S. 17. Beim Fühlen von Werten gewinnt das Fühlen neben seiner inten­ tionalen Struktur noch eine kognitive Funktion; Scheler, Formalismus, S. 265. Vgl. dazu das Schema bei P. Kaufmann, S. 217. 631

III. Übertragung der emotionalen Kategorien auf die Wertlehre

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tionale Fühlen kann sich in unterschiedlicher Weise auf den Gefühlszustand bezie­ hen, indem der Schmerz erlitten, ertragen oder geduldet wird637. Intentionales Fühlen beinhaltet eine Einordnungsmöglichkeit und Flexibilität in der Aufnahme von Gefühlszuständen durch Verleihung von Wertprädikaten. Ähn­ lich dem „sekundären Objekt“ bei Brentano638 vermag sich ein emotionaler Akt durch das intentionale Fühlen selbst in unterschiedlichen Bewertungen zur An­ schauung zu bringen. Das intentionale Fühlen bildet eine eigenständige Funk­ tion von geistigen Aktarten, die Scheler „Wertfühlen“ oder auch „primäres Wert­ gefühl“ nennt639. Solche Modi des Fühlens sind nach Scheler von denen des Vorstellens, Bemer­ kens, Beobachten etc. zu unterscheiden. Scheler markiert mit dem intentionalen Fühlen einen intuitiven Wahrnehmungsvollzug und eine Abgrenzung zu dem, was wir in einer inneren Wahrnehmung640, einer inneren Vorstellung in uns vorfinden, wenn wir fühlen641. Das intentionale Fühlen ist selbst objektivierender Akt des Welt­ bezuges642. Durch die Verleihung von Wertprädikaten in der fühlenden Anschauung ist ein unmittelbarer Weltbezug bereits mit Wertung behaftet643; im Akt des Fühlens ist eine Wertqualität der Welt und von Sachverhalten für uns bereits vollzogen644. In Schelers Auffassung zeigt sich so die konsequente Anwendung des phäno­ menologischen Grundsatzes der strengen Entsprechung von Akt und Gegenstand bzw. noesis und noema645. Zugleich eröffnet sich ein hermeneutischer Aspekt: Der intentionale Zugang zu Sein und Welt ist Vorwertung durch eine gefühlsgeleitete Stellungnahme; die Vorwertung ist bewusstseinsimmanent gegeben646. Was in der 637

Scheler, Formalismus, S. 261 f. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 146; vorne, S. 115. 639 Scheler, Formalismus, S. 261 f.; Scheler, Schriften zur Soziologie, S. 37. 640 Er geht der Wahrnehmung, dem Urteilen, dem begrifflichen Erfassen vor; Scheler, Forma­ lismus, S. 87; Mulligan, S. 589. 641 Scheler, Formalismus, S. 265. 642 Scheler, Formalismus, S. 265. Intentionales Fühlen ist von „dem, was darin gefühlt wird“, völlig verschieden; Scheler, Formalismus, S. 262. 643 Dies ergibt sich bereits bei Brentano; vgl. Brentano, Psychologie vom empirischen Stand­ punkte, S. 361 f.; vorne, S. 112 ff. Dieser Weltbezug zeichnet sich dadurch aus, dass ihm „die Distanz fehlt“; Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, S. 361 f.; vgl. auch Coriando, S. 264; Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 165 f. 644 Nach Scheler verdeutlicht sich dieser unmittelbare emotionale Wahrnehmungsbezug be­ reits beim Sprachgebrauch: Typische emotionale Wendungen wie „etwas lieben und hassen“ werden stets direkt (transitiv) gebraucht (nicht „über“ etwas lieben etc., was eine reflexive Di­ stanz auszudrücken vermöchte); Scheler, Formalismus, S. 266. Die emotionalen Akte des Lie­ bens und des Hassens werden von Scheler, obwohl sie nicht erkenntnisspezifisch sind, als Funktion des intentionalen Fühlens umschrieben; hinten, S. 120 f. 645 Wertqualitäten müssen ihrem Wesen nach im fühlenden Bewusstsein erscheinbar sein. Dies entspricht dem Grundsatz der Phänomenologie, wonach ein Zusammenhang besteht zwi­ schen dem Wesen des Gegenstandes und dem Wesen des intentionalen Erlebnisses; Scheler, Formalismus, S. 272; vgl. auch P. Kaufmann, S. 90 ff., 286; vorne, Fn. 29. 646 Vgl. vorne, S. 106 ff.; hinten, 122 ff. 638

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E. Das emotionale Autonomieprinzip

Reflexion das Primäre ist, das Wahrnehmen, ist dem emotionalen und wertneh­ menden Erleben gegenüber sekundär647. Das intentionale Fühlen ist so ein „objektivierender Akt“, da er Sachverhalte zu eigener Anschauung bringt648. Das Emotionale erlangt damit in voller Aus­ drücklichkeit den Rang eines objektivierenden, eines „objektiven Weltbezugs“649. Im Verlaufe des intentionalen Fühlens „erschließt“ sich uns mittels der ursprüng­ lichen Wertintentionen die Welt der Gegenstände durch eine unreduzierbare Spon­ taneität des Erfassens650. Die Person ist daher wesenseigen und primär durch einen emotional-praktischen Weltbezug ausgezeichnet651. b) Vorziehen und Nachsetzen, Lieben und Hassen Werterkenntnis („Werterfahrung“652) kann sich nach Scheler nebst dem intentio­ nalen Fühlen auch in einer Art des „Vorziehens“ ergeben653. Ebenfalls erkenntnis­ bringend, aber vom intentionalen Fühlen zu unterscheiden sind demnach Akte, die sich im „Vorziehen“ und „Nachsetzen“ aufbauen. Dieses Vorziehen und Nachsetzen bezieht sich auf die Rangordnung von Wer­ ten654. Es ist eine besondere Klasse emotionaler Erlebnisse, die beschrieben wird als eine intuitive Vorzugsevidenz, durch welche der höhere oder niedrigere Rang von Wertqualitäten erfasst wird655. Die Erkenntnisleistung des Vorziehens und Nachsetzens ergibt sich dadurch, dass wir unter den denkbaren Zwecken denjenigen intendieren, der uns am wert­ vollsten erscheint. Das Höhersein eines Wertes ist nach Scheler so im Vorziehen bereits gegeben, das heißt, es ist ein Akt der Werterkenntnis, nicht ein Streben656. Intentionales Fühlen und Vorziehen sind demnach beide keine Urteile, sondern Zu­ gänge zur Welt mittels Wertintention657.

647

Vetter, Emotion, S. 138. Coriando, S. 87. 649 Scheler, Formalismus, S. 265; Coriando, S. 86 f. 650 Scheler, Formalismus, S. 265. 651 Der Geist des Menschen steht in einem fühlenden, lebendigen Verkehr mit der Welt; ­Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 349; P. Kaufmann, S. 171. 652 Scheler, Formalismus, S. 329. 653 Mulligan, S. 588. 654 Scheler, Formalismus, S. 47. 655 Scheler, Formalismus, S. 265. Diese intuitive Vorzugsevidenz lässt sich durch keinerlei lo­ gische Deduktion ersetzen; Scheler, Formalismus, S. 107. Das Vorziehen geschieht oftmals als „instinktives Vorziehen“; Scheler, Formalismus, S. 107. 656 Scheler, Formalismus, S. 105. Bei den Begriffen des Vorziehens und des Nachsetzens geht es somit keineswegs um eine Wahl; Scheler, Formalismus, S. 105. 657 Zur Auseinandersetzung Hartmanns mit den Vorzugsgesetzen Schelers siehe Hartmann, Ethik, S. 284 ff. 648

III. Übertragung der emotionalen Kategorien auf die Wertlehre

121

Obwohl sie keine Arten von Erkenntnis sind658, bilden schließlich Liebe und Hass für Scheler eine zentrale Funktion im Vollzug des Werterfassens659. Das im intentionalen Fühlen und im Vorziehen und Nachsetzen erschlossene Wertreich er­ fährt im erkennenden Subjekt durch Liebe (erkennende Teilhabe)  eine Erweite­ rung, durch Hass eine Verengung. Scheler spricht daher der Liebe die eigentlich entdeckerische Rolle in unserem Werterfassen zu660. c) Exkurs: Drei Akte des Fühlens bei Hartmann Kurz anzuführen ist auch Hartmanns Position hinsichtlich emotionaler Erkennt­ nisakte. Hartmann knüpft in seiner Ethik an Schelers emotionalen Apriorismus des Wertgefühls an: „Alle moralische Stellungnahme ist […] intuitiv, ist unmit­ telbar da und immer im Erfassen der gegebenen Sachlage […] bereits enthalten. Sie wartet nicht erst auf den urteilenden Verstand.“661 Auch für Hartmann tritt so dem Apriorismus des Urteilens und des Denkens ein Apriorismus des Emotiona­ len gleichberechtigt zur Seite. Hartmann schränkt diesen primären emotionalen Erkenntnisakt allerdings ein: Der primär (direkt) erfassende Akt ist für ihn kein eigentlicher Erkenntnisakt, son­ dern ein Gefühlsakt der Stellungnahme; jedoch „[e]rst in der Reflexion auf diese Akte kommt […] Werterkenntnis zustande“662. Die Akte des Wertfühlens werden bei Hartmann entsprechend in drei Hauptmo­ mente unterteilt: Als erstes Moment des Wertfühlens wird eine innere Stellungnahme des emotionalen Bewussteins umschrieben. Von dieser Stellungnahme dif­ ferenziert Hartmann als zweites Moment ein Bewusstsein dessen, wozu Stellung genommen wird (Realmoment), und als drittes Moment das Bewusstsein dessen, aufgrund dessen Stellung genommen wird (Idealmoment)663.

658 Gleichwohl sind Liebe und Hass intentional; Scheler, Formalismus, S. 266. Die Begriffe des Liebens und des Hassens im Sinne Schelers sind von Brentanos Terminologie bei der Klas­ sifizierung von Bewusstseinsakten zu unterscheiden; vgl. vorne, S. 112 ff. 659 Vgl. Mulligan, S. 590. „Dass wir noch häufig hören, dass Liebe und Hass mit Zorn, Wut, Ärger zu den ‚Affekten‘ oder auch zu den ‚zuständlichen Gefühlen‘ gezählt werden, das kann nur mit der einzigartigen Unbildung unseres Zeitalters und dem völligen Fehlen phänome­ nologischer Untersuchungen in allen diesen Dingen erklärt werden“; Scheler, Formalismus, S. 266. 660 Scheler, Formalismus, S. 265 ff. „Nicht eine ‚isolierte‘ Person, sondern nur die ursprüng­ lich sich mit Gott verknüpft wissende, auf die Welt in Liebe gerichtete und sich mit dem Gan­ zen der Geisteswelt und der Menschheit solidarisch geeint fühlende Person ist […] die sittlich wertvolle“; Scheler, Formalismus, S. 15. 661 Hartmann, Ethik, S. 116. 662 Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 554. 663 Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 555.

122

E. Das emotionale Autonomieprinzip

Das erste Moment bildet einen (rein) emotionalen Akt, wohingegen das zweite und das dritte Moment Erkenntnisakte sind. Hartmann nennt das dritte Moment, das inhaltlich von der Konzeption Schelers abweicht, doch wieder „Wertgefühl“664. 2. Die kognitive Funktion des intentionalen Fühlens

a) Leitfunktion und Unterscheidungsvermögen Bevor die dargestellten emotionalen Erkenntnisakte auf die Gegebenheiten des Rechts angewendet werden, ist die Bedeutung der kognitiven Funktion des Wert­ fühlens vorab kurz zusammenzufassen: Bei Scheler soll der Begriff der Intentionalität („intentionales Fühlen“) das Ver­ mögen des eigenständigen Wahrnehmungsvollzugs emotionaler Akte umschrei­ ben. Durch ihre Intentionalität können emotionale Akte einen Gegenstand  – in einer besonderen, nur ihnen zukommenden Art  – präsentieren, und zwar in ad­ äquater Weise665. Durch die Eigenschaft der Intentionalität wird das Fühlen als eigenständige Vollzugsmöglichkeit des Geistes anerkannt; dem Fühlen kommt eine kognitive Funktion zu666. Die Weise des adäquaten Präsentierens, das sich vom verstandesmäßigen Vor­ stellen unterscheidet, ist nach Scheler das Unreduzierbare des menschlichen Ge­ fühlsvermögens667. In der Intentionalität und eigenständigen Vollzugsweise ist eine phänomenologische Gesetzmäßigkeit werterfassender emotionaler Akte be­ gründet668. Die kognitive Funktion werterfassender Akte beinhaltet ein Differenzierungsvermögen669: Das intentionale Fühlen vermag sich auf Gefühlszustände, Stimmun­ gen etc. zu richten, und in der Wahrnehmung der Gefühle zeigt sich dem Menschen eine ursprüngliche Art von Gewissheit, ein unmittelbares Verstehen von zu Unter­ scheidendem670. Niemand wird Liebe mit Hass, Sympathie mit Ressen­timent, Ehr­ furcht mit Zorn verwechseln671. Entsprechend weisen die Phäno­menologen auf die

664

Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 555; P. Kaufmann, S. 285. Auch der frühe Sartre entwirft die Skizze einer Scheler nahestehenden phänomenologi­ schen Theorie des Emotionalen. Nach Sartre ist das emotionale Bewusstsein zunächst unreflek­ tiert, es ist das Bewusstsein von der Welt und bedeutet die Totalitarität der menschlichen Be­ ziehungen zur Welt; vgl. Jean-Paul Sartre, Esquisse d’une théorie des émotions, Paris 1939; Vetter, Emotion, S. 139. 666 Scheler, Formalismus, S. 278. 667 Scheler, Formalismus, S. 260 f. 668 Coriando, S. 24. 669 Scheler, Formalismus, S. 263. 670 Hubmann, Naturrecht, S. 320. 671 Good, S. 21. 665

III. Übertragung der emotionalen Kategorien auf die Wertlehre

123

aktive Leitfunktion der Gefühle, auf ihr maßgebendes Unterscheidungsvermögen im täglichen Handeln und Entscheiden hin. Scheler attestiert dem gefühlsgeleiteten Differenzierungsvermögen, das wir be­ sitzen, eine strenge Apriorität672. Das Ordnungsvermögen hinsichtlich qualitativer Merkmale (Wertqualitäten) ist so unserer Wirklichkeitserfassung vorgegeben673. Eine solche Tendenz ist vorgängig zur aktuellen Erkenntnis, da unsere Wertung die Wahrnehmung bereits mit bestimmt674. Damit eine Handlung beispielsweise als ungerecht beurteilt werden kann, ist ein Vorwissen vorausgesetzt, was Ungerech­ tigkeit bedeutet. Wir sind auf ein unmittelbares Erleben eines als richtig empfun­ denen Bevorzugens angewiesen, das für die Bewertung der konkreten Erfahrung als Maßstab dienen kann675. Das Vorwissen beinhaltet so eine Fähigkeit zur Bewer­ tung, die beachtet oder ignoriert werden kann. Auf dieser Grundkonstitution können nach Scheler erlernte Verhaltensweisen erst aufgebaut werden. Der ursprüngliche Zusammenhang von Wertverhalten und emotionaler Antwortreaktion ist Grundvoraussetzung sowohl für das Verstehen an­ derer Menschen als auch für das Verstehen unserer eigenen Erlebnisse und ist inso­ fern Teil einer Universalgrammatik676. b) Das zweistufige Konzept der Erkenntnis Die Phänomenologen zeigen demnach ein zweistufiges Konzept der Erkenntnis auf: In einer ursprünglichen emotionalen Involviertheit, dem intentionalen Fühlen, wird ein Sachverhalt überhaupt erst erfasst. Und erst in einem neuen Akt der Re­ flexion kann das Erfasste betrachtet werden. Zu unterscheiden ist demnach ein Akt des Erfassens, der bereits wertend ist, und unsere Vorstellung darüber, was wir er­ fasst haben677. Scheler lenkt die Aufmerksamkeit auf eine apriorische Form des Erstrebens. Das intentionale Fühlen stellt eine primär gemütshafte Eröffnung von Welt und 672

Im juristischen Sinne ist unter Apriori, wie bereits erwähnt, das Bestehen vor der Erfah­ rung gemeint. Nach Scheler geht das Apriori dem Sosein notwendig in seinem Sein voraus. Man kann also festhalten, dass Scheler auf eine alte scholastische Tradition zurückgreift, auf die Unterscheidung von essentia und existentia, die das Sein erklärt; Scheler, Erkenntnislehre und Metaphysik, S. 81; Sepp, S. 41 ff. Diese Konzeption ist derjenigen Heideggers sehr ähn­ lich: „Die Wahrheit des Seins und das Wesen des Seins ist weder das Frühere noch das Spä­ tere“, Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 223; vgl. vorne, S. 75 ff. 673 Vgl. Fechner, S. 44. 674 „Bewusstsein […] setzt ja das Haben von […] Wissen schon voraus“; Scheler, Forma­ lismus, S. 16. 675 Franziska Mayer-Hillebrand, in: Brentano, Grundlegung und Aufbau der Ethik, Vorwort, S. VII. 676 Siehe Scheler, Sympathiegefühle, S. 7; Scheler, Formalismus, S. 264. 677 Scheler, Formalismus, S. 264.

124

E. Das emotionale Autonomieprinzip

von Sachverhalten dar678 und die Priorität des gefühlsbedingten Erfassens vor der Tätigkeit des rationalen Verstandes679. Die Teilhabe an Phänomenen ist ohne pri­ märe emotionale Stellungnahme, ohne Vorwerten nicht möglich; und entsprechend setzt das Verstehen eines Sachverhalts eine emotionale Fähigkeit voraus, sich die­ sem gegenüber zu positionieren680. Aus dieser Konzeption geht hervor, dass sowohl die Erkenntnisfähigkeit wie auch die Tätigkeit des Verstandes auf der emotionalen Eröffnung von Sachverhal­ ten basieren. Eine prärationale intuitive Kompetenz zur Teilnahme an Entschei­ dungsgrundlagen zeigt sich demnach für die Phänomenologen als der rationalen Tätigkeit des Verstandes vorgeordnet681 und damit als integraler Bestandteil der Vernunft682.

IV. Phänomenologie des Rechtsgefühls und die Rechtsintuition 1. Ausgangspunkt und Abgrenzungen

Bei Scheler findet sich zwar ein moralisches Wertgefühl, nicht aber ein Rechts­ gefühl wie zum Beispiel bei Kant683. Entsprechend führt Schelers Theorie nicht in die Verankerung einer bestimmten Staatsordnung, die von einer Gemeinschaft zu verwirklichen ist684. Die Implikation des intentionalen Fühlens ergibt sich bei der Auslegung, mit Bezug auf das Phänomen des Rechtsgefühls bzw. der Rechts­ intuition685. Das Rechtsgefühl in einem engeren Sinne ist ein Begriff, der sehr verschie­ dene Interpretationen erfahren hat686. Für Gustav Rümelin etwa war das Rechts­ gefühl zusammen mit dem Gewissen ein angeborener Ordnungstrieb687; dagegen postulierte Jhering die Entstehung des Rechtsgefühls aus der Erfahrung am posi­ 678

Die primär emotionale Eröffnung von Welt und von Sachverhalten wurde auch empirisch nachgewiesen; vgl. vorne, Fn. 589. 679 Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S. 356, 348. Zur Auseinandersetzung mit dem kantischen Vernunftbegriff vgl. hinten, S. 159 f. 680 Vgl. Scheler, Wissensformen, S. 16. 681 Auch für Hartmann tritt dem Apriorismus des Urteilens und des Denkens ein Apriorismus des Emotionalen gleichberechtigt zur Seite; Hartmann, Ethik, S. 116. Vgl. zur Begrifflichkeit Hartmanns vorne, S. 121 f. 682 Die Vernunft wurde erst in neuerer Zeit zum Rationalismus reduziert; ursprünglich war ein breiterer, auch intuitiver Gehalt damit verbunden; Scheer, S. 630 ff.; siehe zum Beispiel Platon, Symposium, 210e ff.; vgl. auch vorne, S. 107 ff., Fn. 564. 683 Dazu vertieft Lege, S. 447 ff. 684 Eley, S. 156. 685 Vgl. Schluep, Recht und Intuition, S. 236. 686 Vgl. dazu auch Meier, S. 28 f., 60 f. 687 Gustav Rümelin, Rechtsgefühl und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1948.

IV. Phänomenologie des Rechtsgefühls und die Rechtsintuition

125

tiven Recht688. Unter dem Begriff kann ebenso ein Gemeinschaftsgefühl verstan­ den werden689. Die von den Phänomenologen beschriebene emotionale Kompetenz des inten­ tionalen Fühlens stellt sich umfassender dar. Das zu beschreibende Rechtsgefühl im Sinne der Phänomenologen stützt sich auf die primär gemütshafte Eröffnung von Welt und von Sachverhalten und ist als gefühlsbedingtes Erfassens der Tätig­ keit des rationalen Verstandes vorgeordnet690. In diesem gefühlsgeleiteten objek­ tivierenden Weltbezug ist eine wertende Stellungnahme im Erfassen einer gegebe­ nen Sachlage bereits enthalten; die Auffassung der Wirklichkeit ist immer schon durchsetzt mit der eigenen Wertung691. Das Rechtsgefühl im phänomenologischen Sinne stützt sich demnach auf den wertenden Wahrnehmungsvollzug und auf die persönliche Erfahrung der sich dar­ aus ergebenden Handlungsnotwendigkeiten. Dieses Rechtsgefühl ist kein Gemein­ schaftsgefühl – dies ergibt sich aus dem Schelerschen Personalismus692 –, sondern eine primäre individuelle Stellungnahme, die auch als Rechtsintuition bezeich­ net werden kann. Sie kann sich nicht aus einer nachträglichen Erfahrung aus dem positiven Recht ergeben, ist sie doch ein ursprüngliches intentionales Involviert­ sein in Sachverhalte, das in die Normbildung eingebracht wird693. Der Begriff des Rechtsgefühls wird hier in einem entsprechend weiten Sinne verstanden. Es bezeichnet so einerseits intuitive Formen der Urteilsfindung oder die Annäherung an das Urteil; oftmals spricht man in diesem Zusammenhang von Judiz694. Zudem soll das Rechtsgefühl inhaltsbezogen als Orientierungsmaßstab und hermeneutisches Hilfsmittel der Normbildung herangezogen werden695. Interpretiert man das Rechtsgefühl als intentionales Wertgefühl, so trägt es den Charakter des Fühlens im Sinne der dargestellten apriorisch-intuitiven Wertung, der ein kognitiver Aspekt eigen ist696. Die Intentionalität ist dem Rechtsgefühl da­ hingehend zuzusprechen, als es auf Rechtswerte, aber auch auf außerrechtliche Werte gerichtet ist, welche die Rechtsordnung prägen697. Das von den Phänome­ nologen dargestellte intuitiv-wertende Element ist eine persönliche Stellungnahme und ein Richtigkeitskriterium für den konkreten Fall, das bereits durch die spontane Wichtigkeitsbesetzung des Sachverhalts in die rechtliche Beurteilung einfließt698. 688

Jhering, S. 31 ff. Dazu Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 115 ff.; Rehbinder, Gemeinschaftsgefühl, S. 174 ff. 690 Scheler, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, S.  356 und 348; Scheler, Wissensformen, S. 109 f.; vorne, S. 118 ff. 691 Vgl. Hartmann, Ethik, S. 116. 692 Scheler, Formalismus, S. 14; vorne, S. 29. 693 Vgl. vorne, S. 118 ff. 694 Dazu Rehbinder, Rechtssoziologie, S. 118. 695 Dazu hinten, S. 135 ff. 696 Scheler, Formalismus, S. 85 f., 88 ff.; Hartmann, Ethik, S. 116 ff.; Hessen, S. 210. 697 Matz, S. 124; Hubmann, Naturrecht, S. 323. 698 Dazu sogl. hinten. 689

126

E. Das emotionale Autonomieprinzip

Um das Rechtsgefühl im Sinne einer primären intuitiven Wertung darstellen zu können, ist in einem ersten Schritt kurz auf die Bezüglichkeit von Recht und Wer­ ten zurückzukommen. Gestützt darauf ist zu untersuchen, in welchen Konstellatio­ nen sich ein auf jene Werte gerichtetes Rechtsgefühl zeigen kann. 2. Vorwertung als Wertmaßstab

Wie bereits dargelegt, erfordert eine Rechtsordnung regelmäßig Eigenwer­ tungen des Rechtsanwenders und weist so eine Offenheit auch für außerrechtli­ che Wertmaßstäbe auf. In den Rechtsordnungen finden sich zahlreiche Ermessens­ klauseln, und immer wieder stehen sich bei der Rechtsanwendung verschiedene Interessen und Rechtsgüter entgegen, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Ein wesentliches Bindeglied zwischen Rechtsordnung und außerrechtlichen Wertmaßstäben bilden auch die Rechts- und Verfassungsgrundsätze699. Rechts­ sätze auf einen Streitfall zu konkretisieren, verlangt oft eine Bewertung700, die sich bereits aus einer sprachlichen Ungenauigkeit des Gesetzestextes ergeben kann701. Auch unser Vorverständnis, mit dem wir juristische Texte analysieren, bringt axio­ logische Prämissen in die Rechtsfindung ein702. Weitere Ansatzpunkte der Wertung ergeben sich über Generalklauseln oder über unbestimmte Rechtsbegriffe. Dazu ein Beispiel: Gemäß der Rechtsprechung zum Gleichheitsgebot nach Art. 8 der schweizerischen Bundesverfassung ist Gleiches nach Maßgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches nach Maßgabe seiner Un­ gleichheit ungleich zu behandeln703. Ein bestimmendes Differenzierungskriterium für die Bewertung des konkreten Falles fehlt; entsprechend muss hier bei der Rechtsauslegung eine Wertung erfolgen704. Die Frage, welches die wesentlichen Gesichtspunkte zur Gleichheit sind, schließt regelmäßig zentrale Elemente der Frage nach Gerechtigkeit mit ein. Ein Rechtssystem hat so eine Offenheit für außerrechtliche Wertmaßstäbe. Ju­ ristische Entscheide stellen sich immer wieder als Entscheide zwischen Wertungs­ varianten dar705. Die Wahl soll dann „richtig“, „vernünftig“ und „sachgerecht“ ge­

699

Vgl. Gächter, S. 400; vorne, S. 54. Nach Venzlaff sind sogar die allermeisten Rechtsbegriffe unbestimmt und bedürfen der Auslegung; vgl. Venzlaff, S. 32. 701 Engisch, Einführung, S.  10; vgl. auch Kriele, Rechtsgewinnung, S.  96; Alexy, Theorie, S. 22 ff. 702 Kramer, S. 265 ff.; vorne, S. 57. 703 BGE 127 I 202, 209; 125 I 166, 168; vgl. bereits BGE 86 I 272, 279 f. 704 Vgl. zum Ganzen auch vorne, S. 50 ff. 705 Alexy, Theorie, S. 23. 700

IV. Phänomenologie des Rechtsgefühls und die Rechtsintuition

127

troffen werden706. Damit stellt sich die Frage nach Orientierungshilfen, welche die Wertung bzw. den Entscheid mittragen707. Aus phänomenologischer Sicht gewinnt genau an diesen Ansatzpunkten der Wer­ tung das Rechtsgefühl als eröffnendes, mit bestimmendes Kriterium für die Urteils­ bildung seine Bedeutung, und zwar im Sinne eines Vorwissens bzw. Vorwertens708. Auf ein Vorwissen stützt sich denn auch die Rechtsprechung ab. Dazu folgendes Beispiel: Bemisst eine Anwältin oder ein Anwalt das Honorar so, dass es außer­ halb jedes vernünftigen Verhältnisses steht und in krasser Weise gegen das Gerech­ tigkeitsgefühl verstößt, kann es nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung wegen Verletzung des Willkürverbots aufgehoben werden, dies gestützt auf Art. 9 BV709. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung setzt somit voraus, dass bekannt ist, was eine klare Verletzung des Gerechtigkeitsgedankens bedeutet. Um die staatliche Le­ gitimität zu gewährleisten, muss das Rechtsgefühl auf eine Vorbekanntheit zurück­ greifen, um zu ermessen, wie die konkrete Wertung erfolgen soll710. Das Rechtsgefühl im Sinne einer Vorwertung kommt auch bei Fragen des Kol­ lisionsrechts zum Tragen. Gemäß Art. 27 Abs. 1 IPRG kann eine ausländische Ent­ scheidung in der Schweiz nicht anerkannt werden, wenn die Anerkennung mit der schweizerischen öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar wäre. Eine An­ erkennung verstößt dann gegen den materiellen Ordre public, wenn das „einheimi­ sche Rechtsgefühl“ durch die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Entscheids in unerträglicher Weise verletzt würde, weil dadurch grundlegende Vorschriften der schweizerischen Rechtsordnung missachtet werden711. 706

Meier, S. 57. Bihler, S. 19. 708 Vgl. Eley, S. 146. Für Hubmann kommt das Rechtsgefühl vor allem bei Interessenabwä­ gungen zum Tragen; Hubmann, Naturrecht, S. 323. Selbst das wissende Teilhaben an der Sach­ verhaltsanalyse entspringt einem Vorwerten; Eley, S. 154; vgl. auch Uhlmann, Rz. 396. 709 BGr. 1P.624/2003, Urteil vom 1. April 2004; BGE 118 Ia 133, 134 betreffend die Festset­ zung des Honorars eines amtlichen Verteidigers. Die Bundesgerichtliche Rechtsprechung be­ zieht sich regelmäßig auch auf die Formel, wonach ein Entscheid willkürlich ist, wenn er „in stoßender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft“; zum Beispiel BGE 125 V 408, 409; 127 I 54, 56; 112 III 88, 89. Es lässt sich nicht nachweisen, dass das Bundesgericht zwi­ schen „Gerechtigkeitsgedanken“ und „Gerechtigkeitsgefühl“ unterscheidet; Uhlmann, Rz. 82. Ebenso ist der französische Begriff „sentiment de la justice“, zum Beispiel BGE 132 I 13, 17, eher mit „Gerechtigkeitsempfinden“ oder „Gerechtigkeitsgefühl“ denn mit „Gerechtigkeitsge­ danken“ zu übersetzen; vgl. Uhlmann, Rz. 82. 710 Nach Eley erfolgt demnach das ethische Handeln aus einer Vorwertung, die als solche zu­ gleich „Vorbekanntheit“ ist; Eley, S. 138 f. 711 BGE 131 III 182, 185. Vgl. auch BGE 103 Ia 199, 204. Dabei sind nach der Recht­ sprechung des Bundesgerichts der Anwendung der Ordre-public-Klausel mit Bezug auf die Vollstreckung eines ausländischen Urteils engere Grenzen gesetzt als im Gebiet der direkten Rechtsanwendung; BGE 102 Ia 308, 313 f.; 98 Ia 527, 533; 97 I 250, 256 ff. mit Hinweisen; siehe auch BGE 107 III 11, 12. Das „einheimische Rechtsgefühl“ in dieser Perspektive ist nicht notwendigerweise ein Gemeinschaftsgefühl, weil ein Rechtsanwender oder ein Gremium von Rechtsanwendern im Einzelfall entscheiden muss, ob ein derartiger Verstoß vorliegt. 707

128

E. Das emotionale Autonomieprinzip

Auch in der Rechtsprechung der deutschen Gerichte wird Bezug genommen auf das wertende Gefühl. So definiert die deutsche Rechtsprechung den Verstoß gegen die guten Sitten in § 138 Abs. 1 BGB als Verstoß gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden712. In der Urteilsbegründung dient diese Berufung auf das Rechtsgefühl als legitimierendes Moment713. Wenn das Bundesgericht auf die allgemeine Rechtsüberzeugung, das Gerech­ tigkeitsempfinden oder den Gerechtigkeitsgedanken verweist714, so spricht es da­ mit die ethische Grundhaltung an, aus der letztlich immer die Entscheidung, was gleich und was ungleich sein soll, getroffen werden muss. Insofern sind Werte für Hartmann Vor-Urteile, eine Voreinstellung des Subjekts oder des Rechtsanwen­ ders715. Die Vorwertung beschränkt sich nicht auf die Subsumtion eines einzelnen Be­ griffes, sondern kann sich auch hinsichtlich des Sachverhalts ergeben: Bei der Rechtsanwendung erfolgt oftmals ein spontanes gefühlsmäßiges Erfassen der rechtlich relevanten Elemente des Falles nach wertbezogenen Gesichtspunkten; es zeigt sich das in der Literatur umschriebene Phänomen des prärationalen Verständnisses für eine Entscheidlage716. Etwa in den Fällen von Rechtsmissbrauch717 zeigt sich dieses Verständnis ergeb­ nisorientiert, und zwar dann, wenn die aus der einschlägigen Norm abzuleitenden Rechtsfolgen dem Richtigkeitsempfinden zuwiderlaufen. Dies wird auch deutlich bei Fällen, bei denen eine Gesetzeskorrektur in Erwägung gezogen wird718. Aus den vorangehenden Beispielen geht hervor, dass bei der Rechtsauslegung oder auch bei der Abwägung immer wieder das Erfordernis einer gefühlsgeleiteten Eigenwertung besteht. Die gefühlsgeleitete Eigenwertung muss sich aber gleicher­ maßen an zentralen Gehalten der Rechtsordnung, der überlieferten Lehre und Pra­ xis und der Rechtsgemeinschaft messen719. Bei der Richtigkeitskontrolle ist es im­ mer erforderlich, einen Konsens zu finden, der die gewählte Lösung trägt.

712

Zum Beispiel RGZ 80, 219, 221; BGHZ 10, 228, 232. Meier, S. 15 f. 714 Etwa bei der Rechtsprechung zum Willkürverbot (BV 9); BGE 125 V 408, 409; 127 I 54, 56; 112 III 88, 89; oder zum materiellen Ordre public der soeben zitierte BGE 131 III 182, 185. 715 Vgl. dazu hinten, S. 135 ff. 716 Vgl. Meier, S. 28, 114 und 147; Weimar, Ordnungsbedürfnis, S. 165; Weimar, Strukturen, S. 110; Kriele, Legitimität, S. 24. 717 Art. 2 ZGB. Die Bestimmung ist eine Grundschutznorm, welche der Durchsetzung der öf­ fentlichen Ordnung und Sittlichkeit dient; vgl. BGE 131 V 97, 102. 718 Ein „ungutes Gefühl“, ein Missbehagen löst die Frage nach der Gesetzeskorrektur aus; Gächter, S. 392 ff., 628; vorne, S. 53 f. 719 Vgl. Gächter, S. 630. 713

IV. Phänomenologie des Rechtsgefühls und die Rechtsintuition

129

3. Bloßes Abstützen auf die herrschende Sozialmoral und auf Präjudizien?

Oftmals wird eingewendet, dass anstelle persönlich-intuitiver Richtigkeits­ kriterien Vorgegebenheiten der herrschenden Sozialmoral das Rechtsgefühl voll­ ständig bestimmen können. Es lässt sich jedoch aufzeigen, dass gerade jene Werte, welche durch die herrschende Sozialmoral getragen werden, regelmäßig nicht die erforderliche Be­ stimmtheit für die Wertentscheidung zu bieten vermögen, wie dies für die Sub­ sumtion erforderlich wäre. In verschiedensten Gesellschaften wird der Schutz des Lebens als Grundwert verstanden. Die Grenzen der Anweisungsmöglichkeiten der herrschenden Sozial­ moral zeigen sich aber sofort dann, wenn die Abwägung dieses Wertes in einem konkreten Fall vorgenommen werden muss, wenn zum Beispiel entschieden wer­ den muss, ob ein Bergführer seine Sorgfaltspflicht auf einer Skitour bei einem La­ winenniedergang verletzt hat720 oder ob eine Suchaktion nach Verschütteten wegen Gefährdung der Helfer eingestellt werden soll721. In Orientierung an der Addition von Meinungen und bei Verzicht auf die eigene Wertung kann eine für solche Fälle angemessene Richtigkeitskontrolle im Einzel­ fall nicht vorgenommen werden722. Das Votum der Mehrheit zu ermitteln und sich diesem anzuschließen wäre im Einzelfall immer wieder unbefriedigend und würde in vielen Fällen auch eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung verhindern. Die Urteilspraxis der Gerichte erfährt immer wieder Änderungen, bevor die Gründe hierfür von einer Mehrheit der Bevölkerung als zwingend notwendig er­ achtet werden. Zum Beispiel ist die Einführung des Frauenstimmrechts durch das Bundesgericht auf kantonaler Ebene ungeachtet der Mehrheit der damals Stimmbe­ rechtigten des Kantons Appenzell Innerrhoden durchgesetzt worden723, wie zum Bei­ spiel auch die Gleichberechtigung hinsichtlich des Tragens des Familiennamens724 auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurückgeht und nicht auf ein Dafür­halten einer Mehrheit der Bevölkerung725. Ein Wechsel der Auslegungsergebnisse wäre ebenso nicht zu erklären, wenn er von einer Minderheit hervorgebracht wird; ein Beispiel hierfür ist die Rechtsprechung zur Sprachenfreiheit der Minderheiten726. 720

Dazu BGE 118 IV 130, 132 ff. Beispielsweise werden Helfer bei großer Lawinengefahr losgeschickt, um Vermisste zu retten; vgl. die Fälle der Eigerrettungen, zuletzt im März 2009. 722 Venzlaff, S. 58. 723 BGE 116 Ia 359 ff., Urteil vom 27. November 1990. 724 Art. 30 Abs. 2 ZGB; dazu zum Beispiel BGE 115 II 193 ff. 725 Vgl. hierzu EGMR, Urteil Ünal Tekeli vs. Turkey, App. no 29865/96 vom 16. Novem­ber 2004; EGMR, Urteil Burghartz vs. Schweiz, Akte 58.121 vom 22. Februar 1994; VPB 58.121, Pra 83 (1994) Nr. 239, 788 ff. 726 Venzlaff, S. 53 ff.; BGE 122 I 236, 238 ff.; 121 I 196, 198; 106 Ia 299, 302; Art. 18 BV. 721

130

E. Das emotionale Autonomieprinzip

„Herrschende Gerechtigkeitsvorstellungen“ haben, wenn sie zuverlässig empi­ risch ermittelt werden können, eine Orientierungsfunktion und ermöglichen die Rechtsdurchsetzung. Auch wenn die Übereinstimmung persönlicher Richtigkeits­ vorstellungen die Durchsetzbarkeit des Rechts fördern, ist das Recht nicht ein­ fach jenen Richtigkeitsvorstellungen anzupassen. Rechtsanwendende Behörden ver­suchen daher, ihre Urteile nicht nur gemäß herrschenden Anschauungen zu fäl­ len, sondern sie auch so zu gestalten, dass sie ihnen „angemessen“, „vernünftig“ oder „verantwortbar“ erscheinen727. So zeigt sich, dass eine rechtsanwendende Behörde sich nicht allein auf die öf­ fentliche Meinung berufen kann, weil die situative Richtigkeitskontrolle ein Kern­ element der erforderlichen Wertung ist. Dasselbe lässt sich auch für Präjudizien sagen. In sehr vielen Fällen werden Präjudizien die Urteilsfindung leiten. Die Ent­ scheidung, ob in einem konkreten Fall dem Präjudiz gefolgt werden kann oder nicht, liegt dennoch beim Rechtsanwender. Wären Präjudizien immer leitend, gäbe es keine Korrektur von Entscheidungen. Das einfache Abstellen auf die Bevölke­ rungsmehrheit oder auf Präjudizien führte so im Hinblick auf die Auslegung im­ mer wieder zu nicht befriedigenden Ergebnissen728. Als wesentlicher Faktor bei der Entscheidfindung kommt ein subjektives Krite­ rium der Wertung mit hinein. Diese Wertung ist von zentraler Bedeutung, wenn der Auslegende weder zufällig eine Entscheidung treffen noch sich kritiklos der herr­ schenden Meinung anschließen will. So wie mit subjektiven Auslegungselementen Vor- und Nachteile angeführt werden können, verhält es sich auch mit dem Abstel­ len auf die Bevölkerungsmehrheit. Die Möglichkeit einer – wenn auch subjekti­ ven – Leitlinie im Rechtsgefühl bei der Rechtsfindung ist von einer kritiklosen Zu­ stimmung zu unterscheiden und dieser vorzuziehen729.

V. Prägung von Entscheiden durch gefühlsgeleitete Faktoren 1. Das Richtigkeitskriterium der Eigenwertung

Es ist nicht erstaunlich, dass das Hinweisen auf einen subjektiven Faktor als Entscheidungselement scharfer Kritik begegnet ist. So wird vorgebracht, das sub­ jektive Element gefährde die Steuerungsfunktion des positiven Rechts bei der Ur­ teilsfällung und müsse deshalb möglichst ausgeschaltet werden730.

727

Vgl. Meier, S. 25, 31. Vgl. vorne, S. 61 ff. Venzlaff, S.  59. Bereits Esser hat neben der Konsensbedürftigkeit des auszuwählenden Auslegungsergebnisses die Notwendigkeit der Richtigkeitskontrolle betont; Esser, S. 139 ff.; vgl. auch S. 159. 729 Venzlaff, S. 61 f.; Esser, S. 139 ff. 730 Zur Problematik der Subjektivität und der Einwände Riezler, S. 190; Hubmann, Natur­ recht, S. 6, 13. 728

V. Prägung von Entscheiden durch gefühlsgeleitete Faktoren

131

Die These der Priorität der emotionalen Erkenntnis zieht jedoch nicht nach sich, dass durch diese Erlebnisbasis alles Erkennen subjektiver Willkür ausgesetzt ist731, vielmehr stellt es eine ursprüngliche, sehr wirksame Ordnungs- und Orientie­ rungsfunktion dar. Insofern werden sich die von den Phänomenologen beschriebe­ nen Einflussmöglichkeiten intuitiver Faktoren gerade nicht als willkürlicher dar­ stellen als die rationalen Faktoren732. Dies zeigt sich auch in der Rechtsfindung, beispielsweise anhand von ­Fällen, welche das regelmäßig durch intuitive Elemente mit bestimmte Rechtsmissbrauchs­ verbot betreffen733. Das Rechtsmissbrauchsverbot verhindert die Durchsetzung bloß formaler Rechte, wenn diese in offensichtlichem Widerspruch zu elementa­ ren ethischen Anforderungen stehen734. Obwohl die zum Rechtsmissbrauchsver­ bot entwickelten Fallgruppen einen bloß typenhaften Charakter aufweisen und es oftmals verschiedene Fälle auch außerhalb jener Fallgruppen gibt735, sind sich die richterlichen Gremien oftmals erstaunlich einig, wann ein Rechtsmissbrauch vor­ liegt. Das Abstützen auf das Gefühl scheint Uneinigkeiten in solchen Fällen nicht zu erhöhen. Die Erkenntnis, dass die angestrebte Entscheidung regelmäßig durch die emo­ tionale primäre Stellungnahme mit bestimmt wird, soll gleichermaßen aufzeigen, dass die persönliche Haltung bei einer Rechtsfrage eine wichtige Rolle spielen kann und – als persönliches Kriterium – auch muss. Der ständige Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Entscheidung muss zu einer dauernden Auseinanderset­ zung mit den durch die Auslegungshilfen vermittelten Erkenntnissen führen736. In diesem Sinne tragen intuitive Wahrnehmungsverläufe wesentlich dazu bei, dass der Rechtsanwender die Norm bei ihrer Anwendung reflektiert737. Die phänomenologische Betrachtung des Emotionalen und seiner Eigengesetz­ lichkeit zeigt auf, dass auch die juristische Urteilsfindung von prärationalen Me­ chanismen der Informationswahrnehmung und -verarbeitung maßgeblich geprägt ist und dass dies eine unserer zentralen Wertungskompetenzen darstellt. Bei der Normbildung kann und soll das Rechtsgefühl nicht vollends durch dogmatischrationale Erwägungen ersetzt werden738, denn auf die Fähigkeit des Rechtsanwen­ ders, nach Gesichtspunkten der eigenen intuitiven Wertung eine Sachgerechtigkeit zu erschließen, stützt sich die Rechtsordnung ab739.

731

Good, S. 27 f. Vgl. vorne, S. 107 ff. 733 Zum Rechtsgefühl als Auslöser der Gesetzeskorrektur vgl. Gächter, S. 628. 734 Honsell, N. 24; BGE 131 V 97, 102; 125 III 257, 261. 735 Honsell, N. 37 ff. 736 Venzlaff, S. 60. 737 Vgl. Eley, S. 146. 738 Vgl. Schwinger, S. 303; Meier, S. 61. 739 „Die Gesetze selbst [sind] heute auf allen Rechtsgebieten so gebaut, dass die Richter und die Verwaltungsbeamten nicht unter Subsumtion fester Rechtsbegriffe, deren Gehalt durch 732

132

E. Das emotionale Autonomieprinzip

Wie die rationale Denkweise besitzt die emotionale Kompetenz eine Eigen­ gesetzlichkeit; sie ist Teil eines allgemeinen und geordneten Wahrnehmungsvoll­ zugs. Die emotionale Kompetenz ist ein persönliches Für-richtig-Halten und in ihrer spontanen Ursprünglichkeit möglicherweise die letzte Instanz, zu der das Be­ mühen um Gerechtigkeit vordringen kann740. 2. Entscheid und Entscheiddarstellung (Begründung)

Um die primäre Wertintention präzisiert in den juristischen Kontext einordnen zu können, ist auf den Gegensatz von Entscheid und Entscheiddarstellung Bezug zu nehmen. Wie bereits ausgeführt, hat sich die Funktionsweise des Rechts an möglichst objektive Kriterien zu halten; persönliche Bezugnahmen sind zu objektivieren. Denn das Gesetz will natürlich nicht auf eine persönliche Meinung der Richterin oder des Richters abstellen, wenn es Wertungen verlangt für unbestimmte Rechts­ begriffe wie zum Beispiel die guten Sitten. Der mit der Sache betraute Rechts­ anwender wird sich darauf berufen, dass die von ihm gewählte Auslegung auch die des Rechts sei741. Es besteht eine Verbindungsnotwendigkeit zwischen der erfor­ derlichen subjektiven Wertung und der Orientierung an in diesem Sinne verpflich­ tenden Wertmaßstäben des Rechts742. Eine Anerkennung der Funktion des Rechts­ gefühls und damit eines subjektiven Elements in der Entscheidbildung wird nicht bedeuten, dass das Gericht in „freier Entscheidung“743 verfahren soll. Eine aus juristischer Sicht dringendere Problematik liegt vielmehr darin, dass wir emotionale Faktoren oftmals nicht kausal-nachvollziehbar erklären und be­ gründen können. Gerade wenn persönliche Wertungsmöglichkeiten im Recht bestehen, ist es besonders wichtig, dass diese transparent erscheinen. Das Be­ wusstsein der Subjektivität zeigt so gleichsam auf, welche zentrale Rolle der Be­ gründung einer juristischen Entscheidung zukommen muss744. Bezüglich der Entscheidung wird oftmals ein intuitiv-wertendes Moment hin­ einspielen, bei der Entscheiddarstellung (Begründung) muss dieses Moment voll­

Auslegung sicher entfaltet wird, ihre Entscheidungen finden und begründen, sondern dass sie aufgerufen sind, selbständig zu werden, mitunter gesetzgeberisch zu entscheiden und zu ver­ fügen“; Engisch, Einführung, S. 10. Die schweizerische Rechtsordnung statuiert dies ausdrück­ lich in Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB. 740 Zippelius, Wesen, S. 64. 741 Venzlaff, S. 59. 742 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 10. 743 Eine Orientierung muss gemäß den verpflichtenden Wertmaßstäben des Rechts erfolgen; gleichwohl kann von einem freien Moment bei der Entscheidbildung beim Rechtsanwender ge­ sprochen werden, dazu sogl. hinten. 744 Venzlaff, S. 59.

V. Prägung von Entscheiden durch gefühlsgeleitete Faktoren

133

ständig rational erschlossen und argumentativ belegt werden745. Denn weder die spontane Neigung zu einer bestimmten Falllösung noch die subjektive Evidenz einer Norm vermögen einen Entscheid zu rechtfertigen746. Ein pauschaler Hinweis auf eine offensichtliche Ungerechtigkeit vermag den Anforderungen an eine juris­ tische Begründung nicht zu genügen747. Die Erkenntnis, dass eine Beurteilung eines Falles regelmäßig durch eine vom Wertgefühl geleitete Stellungnahme mit bestimmt wird und damit durch einen subjektiven Faktor, darf und soll das argumentative Zugänglichmachen eines Ur­ teils in keiner Weise einschränken748. Vielmehr wird von Scheler und Hartmann eine ethische Kompetenz aufgezeigt, die hermeneutisch in Urteile einzufließen vermag. Diese Kompetenz im Sinne einer wertenden Stellungnahme wird bei verschiedenen Rechtssätzen bewusst verlangt und im Sinne der Sachgerechtigkeit regelmäßig vom Gesetzgeber vorausgesetzt749. 3. Schranken des Rechtsgefühls

Ein wertendes emotionales Entscheidungsvermögen ist in mancher Hinsicht, wenn auch meist unausgesprochen, für die Rechtsfindung und auch für die Geset­ zeskorrektur von erheblicher Bedeutung750, zudem kann es auch ein Impuls sein für die Weiterentwicklung der Praxis751. Die Funktionen außerrechtlicher Wert­ maßstäbe und des an außerrechtlichen Wertmaßstäben sich orientierenden Rechts­ gefühls sind also von erheblicher faktischer Bedeutung, da sie die Rechtsfindung und oftmals auch die kritische Hinterfragung eines Ergebnisses leiten752. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Ansatzpunkte für ein wertendes emotio­ nales Erkenntnisvermögen bzw. Rechtsgefühl immer auch eingeschränkt sind. So gibt es im geltenden Recht eine bedeutende Anzahl Bestimmungen, die Sachver­ halte abschließend regeln können, wie etwa technisch-konkretisierende Verord­ nungen, um ein klares Beispiel zu nennen753. 745 Meier, S. 57, 62. Zwischen Normbegründung und Normdurchsetzung sollte unterschieden werden; vgl. auch Eley, S. 136, 142; Wiprächtiger, S. 143, 148 f.; Weimar, Ordnungsbedürf­ nis, S. 164. Dies gilt sowohl für die Sachverhaltsanalyse als auch für die in Betracht gezogenen Wertgesichtspunkte; Coing, S. 115. 746 Das Erleben des Wertgefühls eignet sich so nicht zur Begründung juristischer Entschei­ dungen. Dazu sind rationale Gründe erforderlich; vgl. Hubmann, Naturrecht, S. 328 f. 747 Gächter, S. 400. 748 Venzlaff, S. 59. 749 Zum Beispiel in Fällen, die Treu und Glauben betreffen; Gächter, S. 397. 750 Gächter, S. 394; Meier, S. 133 f. 751 Rhinow, S. 106 ff.; Blankenburg, S. 85 ff.; O. Kaufmann, S. 371 ff. 752 O. Kaufmann, S. 372; Meier, S. 133 f.; Gächter, S. 400. 753 Zu denken ist etwa an die Lärmschutzverordnung, welche beispielsweise Lärmgrenzwerte in der Nähe von Flughäfen eindeutig und abschließend festhält; vgl. die Bestimmungen des An­ hangs V der LSVO.

134

E. Das emotionale Autonomieprinzip

Ebenfalls darf das wertende Rechtsgefühl nicht missbraucht werden, um einen Freiraum für Gesetzesumdeutungen zu bieten754. Die Berufung auf das Rechts­ gefühl sollte nicht überstrapaziert werden, weil sonst eine Instrumentalisierung erfolgt; das eigentliche Vermögen des intuitiv-wertenden Gefühls, wie Hartmann und Scheler es darstellen, würde dadurch sich selbst entfremdet. 4. Orientierung an der Gemeinschaft

Ebenso ist die Orientierung an der Erfahrung unerlässlich. Die Richterin oder der Richter muss sich ständig vor Augen halten, den Kontakt mit der Umwelt, mit den kulturellen Anschauungen einer Rechtsgemeinschaft, mit bewährter Lehre und Rechtsprechung nicht zu verlieren, um daran das eigene wertende Rechts­ gefühl immer wieder zu überprüfen755. Das Rechtsgefühl erhält damit eine Nor­ mierung durch die Gemeinschaft der Rechtsunterworfenen. Wenn die moralische Kompetenz des Einzelnen Geltungsgrundlage einer wer­ tenden Stellungnahme ist, so heißt das zugleich, dass jeder eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz ist. Für den Bereich des Staates und des Rechts führt die Vorstellung der gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller zum demokratischen Anspruch auf Mitentscheidung756. In demokratischen Gesellschaften müssen daher Verfahren vorgesehen sein, um subjektive Wertvorstellungen überprüfbar zu machen im Sinne einer Schranke, um den notwendigen Konsens über gemeinsame Ordnungsregeln herzustellen757. Strukturelle und gerichtsorganisatorische Schranken sind zum Beispiel das Kolle­ gialsystem, der Instanzenzug sowie ein geeignetes System für die Wahl der Rich­ terinnen und Richter und der Verwaltungsbehörden758. Innerhalb dieser Schranken kommt das Wertgefühl im Recht zum Tragen. Es ist ein primäres, persönliches Wertungsvermögen, auf das sich die Normkonkretisie­ rung aufbaut und das sich gleichermaßen an der Gemeinschaft orientiert759.

754

Gächter, S. 398 f. Venzlaff, S. 59. 756 Zippelius, Rechtsgefühl, S. 13. Habermas hat dies in der Form ausgedrückt, dass die allge­ mein verbindlichen Normen einer Gesellschaft ihre legitime Grundlage in einem „herrschafts­ freien Dialog aller mit allen“ finden sollten; Habermas, Legitimitätsprobleme, S.  125; vgl. auch S. 148 f., 153. 757 Meier, S. 58; Zippelius, Rechtsgefühl, S. 65 f. 758 Riemer, § 4, Rz. 185; Wiprächtiger, S. 150. 759 Scheler beschreibt denn auch eine erlernte Komponente des intentionalen Fühlens durch die Gehalte der Kultur und der Tradition im Gewissen; Scheler, Formalismus, S. 324 ff.; vgl. vorne, S. 118. 755

V. Prägung von Entscheiden durch gefühlsgeleitete Faktoren

135

5. Neues Entscheidverständnis: Hermeneutische Kategorien der Rechtsintuition im Begründungsdiskurs

a) Axiologisches Vorverständnis Mit der Analyse der emotionalen Wertungskompetenz soll aufgezeigt werden, dass intuitive Wertungen notwendig mit in Entscheidungen, und gerade auch in juristische Entscheidungen, einfließen. Den reinen Syllogismus in der Rechtsfin­ dung kann es nicht geben, weil hermeneutisch-axiologische Kategorien das Recht prägen. Bereits in der Wahrnehmung des Sachverhalts können sich die für eine wertende Differenzierung notwendigen emotionalen Stellungnahmen vollziehen. Diese pri­ märe Stellungnahme kann für die Wertung entscheidend sein; intuitive Elemente werden so regelmäßig in die praktische juristische Vernunft einbezogen760. Durch das Zurückgreifen auf eigene Wertungskompetenzen tragen außergesetzliche Maß­ stäbe daher stärker zur Auslegung einer Bestimmung bei, als dies auf den ersten Blick scheint761. Insofern wird ersichtlich, dass dem Rechtsanwender eine maßgebliche Kompetenz zukommt, in konkreten Konfliktsituationen eine sachgerechte Abwägung zu finden. Diese Wertungskompetenz ist einerseits erforderlich bei der Vielzahl von Fällen, bei denen ein Wertungsspielraum besteht. Selbst bei Fallkonstellatio­ nen ohne Wertungsspielraum beinhaltet der Wahrnehmungsvollzug bei der Sach­ verhaltserfassung ein emotionales Moment der Wichtigkeitszumessung. Dieses persönliche Element äußert sich oftmals in einer spontanen Wertung mit Blick auf die sich stellenden Rechtskonflikte762. Mit der primären intuitiven Wertungskompetenz soll nicht ein zusätzliches Aus­ legungskriterium gefordert werden, sondern es zeigt sich die hermeneutische Kategorie des Rechtsgefühls als eine primäre intuitive Wertungskompetenz, welche an die Problemlage von Entscheidungen herangetragen wird. Sie stellt sich dar als eine den Wahrnehmungsvollzug erschließende Kompetenz. Ein Sinn für die Rich­ tigkeitsintention einer Entscheidung ergibt sich so aus dem Vorverständnis763.

760

Coing, S. 115. Vgl. Venzlaff, S. 58. 762 Weimar, Ordnungsbedürfnis, S. 165. 763 Vgl. Eley, S. 146.

761

136

E. Das emotionale Autonomieprinzip

b) Das Element der freien Entscheidbildung Insofern drängt sich ein Entscheidverständnis auf, das bei der Entscheidbildung des Rechtsanwenders mit geprägt wird durch intuitiv-wertende Elemente und da­ mit durch subjektive Faktoren. Konkrete juristische Entscheide sind auch durch persönliche Wertvorstellungen, Charaktereigenschaften und die jeweilige soziale Situation und nicht nur durch Gesetz, Präjudizien, Lehre und juristische Tech­niken determiniert764. Ist das Finden juristischer Entscheidungen nicht immer ein bloßer Erkenntnis­ vorgang, sondern kann in ihnen auch ein Element freier Entscheidung liegen, dann ist im Sinne der Methodenehrlichkeit darauf hinzuweisen765. Dies gilt auch für mit­ unter intuitiv geleitete Willensentscheidungen766. Die Darstellung des primär intuitiven Wahrnehmungsvollzugs ist im juristi­ schen Kontext wichtig, um den Einfluss und die Bedeutung außerrecht­licher Fak­ toren bewusst zu machen767. Für eine realistische normative Theorie des Rechts ist ein besseres Verständnis der Bedeutung intuitiver Informationsverarbeitungs­ prozesse hilfreich. Ein präzises Verständnis von Begründung fordert daher, dass der Begründungsdiskurs nicht über die Erschließungsleistungen individueller Ge­ fühlsakte hinweggeht, sondern sie geradezu als unverzichtbare Momente seiner selbst begreift768. Scheler und Hartmann liefern hierfür ein Grundmodell. Das Phänomen der intuitiv-wertenden Stellungnahme in der Rechtsanwendung ist somit nicht zu verstehen als störender subjektiver Faktor; vielmehr ist es eine Erkenntnis, dass emotionale und rationale Faktoren zusammenspielen bei der Bil­ dung eines moralischen oder auch eines juristischen Urteils769. 6. Fazit: Rechtsgefühl und Rechtsintuition

Aus der phänomenologischen Analyse des Rechts auf der Grundlage intuitiver Wertungskompetenzen zeigt sich eine Unreduzierbarkeit emotionaler Erkenntnisakte auch für die juristische Entscheidfindung. Juristische Entscheidungen sind

764

Meier, S. 23. Wiprächtiger, S.  143 ff., 145. Nach Venzlaff können die zur Verfügung stehenden Aus­ legungshilfen erst angemessen gebraucht werden, wenn sich der Rechtsanwender darüber im Klaren ist, dass seine persönliche Haltung bei einer Rechtsfrage eine entscheidende Rolle spielt; Venzlaff, Rechtsgefühl, S. 59. 766 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 1 f. und 38 f. 767 Vgl. Gächter, S. 399. 768 Seibert, S. 523. 769 Dies stimmt in gewisser Weise überein mit dem postmodernen philosophischen Verständ­ nis einer unabdingbaren Gefühlskomponente der Kognition bzw. der Vernunft; vgl. Scheer, S. 630. 765

V. Prägung von Entscheiden durch gefühlsgeleitete Faktoren

137

nicht ausschließlich rational; sie werden insbesondere bei der Entscheidbildung immer wieder von intuitiven Wertungskompetenzen mitgetragen. Auch die eingangs gestellte dritte Frage ist demnach positiv zu beantworten770. Recht muss auch dann gesprochen werden, wenn das Vernunftschema in einem Pa­ radoxon endet. Bei der Entscheidbildung gerade in komplexen Fällen zeigt sich ein ursprüngliches intuitives Erkenntnismoment und Richtigkeitskriterium771 als her­ meneutische Kategorie im Recht. Diese Intuition ist möglicherweise zugleich die letzte Instanz, zu der unsere Bemühungen um Gerechtigkeit vordringen können772.

770

Vorne, S. 18. Vgl. Schluep, Recht und Intuition, S. 254. 772 Vgl. Zippelius, Wesen, S. 64.

771

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant I. Wertsubjektivismus 1. Wertnihilismus der Uppsala-Schule

a) Lokalisierung und Temporalisierung als Voraussetzung für Wirklichkeit Es soll nun eine Auseinandersetzung mit Gegenpositionen und Gegenargumen­ ten zur phänomenologischen Wertethik erfolgen. Zunächst ist die materiale Wertethik mit den von ihr beschriebenen „objektiven Werten“ (Wertqualitäten) abzugrenzen von jeder subjektivistischen Lehre, nach der es keine objektiv gültige, vom Erkennenden selbst unabhängige Erkenntnis gibt. Als wertrelativistische Theorie ist der Subjektivismus zu nennen, zunächst in der Form des Wertnihilismus. Der Wertnihilismus wird in der erkenntnis- und mo­ ralphilosophischen Richtung der „Uppsala-Schule“ begründet. Die Vertreter dieser Schule gehen von der erkenntnistheoretischen Unzulässigkeit von Werturteilen aus und fordern, auf Werturteile grundsätzlich zu verzichten773. Als Begründer der Uppsala-Schule gilt Axel Hägerström (1868–1939). Er ver­ tritt in seinem 1911 erschienenen Werk „On the Truth of Moral Ideas“ eine aus­ gearbeitete wertnihilistische Theorie bezüglich ethischer Werte. Hägerström ver­ neint, dass Werturteilen unabhängig von einer interessenorientierten Einstellung des Subjekts ein objektiver Wahrheitsgehalt zukommen könne. Nach ihm sind ethische Normen vielmehr Gebräuche, die durch Furcht vor der Reaktion bei Ent­ gegenhandlungen gesellschaftlich-moralisch sanktioniert werden774. Diese Kernelemente Hägerströms und der Uppsala-Schule prägten verschie­ dene Denker und wurden insbesondere in der klassischen Soziologie, namentlich im Werk Theodor Geigers, rezipiert775. 773

Die Auseinandersetzung ist daher vor dem Hintergrund des Werturteilsstreits zu positio­ nieren. Unter dem Begriff des Werturteils wird das Urteil über eine Bewertung verstanden; im Werturteilsstreit wird kontrovers diskutiert, ob ein solches Urteil überhaupt möglich ist; dazu die Darstellung aus soziologischer Sicht von Röhl, S. 77 ff. 774 Vgl. zur Uppsala-Philosophie die Selbstdarstellung Hägerströms, S.  110 ff. Allgemein zum Wertnihilismus Bihler, S. 110 ff.; Henkel, S. 326 ff.; Röhl, S. 40 f. 775 Röhl, S. 41. Geiger machte während eines Schwedenaufenthaltes Bekanntschaft mit der Uppsala-Schule; vgl. Theodor Geiger, Über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, Bd. 45, Berlin 1979.

I. Wertsubjektivismus

139

Nach Geiger sind erkenntniszulässige Aussagen über eine Wirklichkeit nur durch „logische Verarbeitung von Beobachtungen“ zu gewinnen, deren Aus­sagen auf gleiche Weise nachgeprüft werden können776. Dagegen seien Werturteile mit sachlichen Argumenten weder zu bejahen noch zu entkräften. Nach Geiger ist zwar feststellbar, dass wir Lust, Unlust, Freude usw. fühlen. Der Inhalt des Gefühls könne aber im Gegensatz zu den Inhalten der Sinneswahrnehmungen niemals als in der raum-zeitlichen Welt vorhanden festgelegt, das heißt lokalisiert oder tempo­ ralisiert werden. Lokalisierung und Temporalisierung seien jedoch die Vorausset­ zungen für die Erfassung eines Gegebenen in der Wirklichkeit777. b) Schulung in Gefühlsaskese Entsprechend hat nach Geiger auch „der Gegenstand selbst […] keinerlei Wert­ eigenschaft, diese wird ihm vielmehr nur beigelegt oder zugeschrieben“778. Etwas Wertvolles ist demnach eine psychische Wirklichkeit, eine Vorstellung. Im Wert­ urteil wird das subjektive Verhältnis zum Gegenstand, an dem wir Gefallen fin­ den, objektiviert und dem Objekt als eine seiner vermeintlichen Eigenschaften zu­ geschrieben779. Da diese Vorgehensweise jedem Werturteil innewohne, seien inhaltliche Aussa­ gen über Werte nicht haltbar780; sämtliche Werturteile müssten als theoretisch fal­ sche Aussagen betrachtet werden781. Entsprechend sei auch von einer grundsätz­ lichen Gleichwertigkeit aller subjektiven Aussagen auszugehen782. In Anbetracht dessen hält es Geiger für notwendig, die Gesellschaft zu einer wertfreien Haltung zu erziehen783. Die Erziehung ist gekennzeichnet durch eine planmäßige „Intellektualisierung“ des Menschen und durch seine „Schulung in

776

Geiger, Des Kaisers Bart, S. 128 f. Für Geiger sind daher Güte, Schönheit oder Wert keine Entitäten, welche Wirklichkeiten anhaften. Raum-zeitlich und daher wirklich gegeben sei vielmehr nur die Tatsache, dass Per­ sonen an diesen Phänomenen Gefallen finden, jenes hoch bewerten, aber ein anderes verab­ scheuen; Geiger, Des Kaisers Bart, S. 129. 778 Geiger, Des Kaisers Bart, S. 128. 779 Geiger, Werturteil, S. 56. 780 Der Wertnihilist könne nicht „fröhlich weiterfahren, Dinge oder Handlungen in allem Ernst als schön oder gut, hässlich oder schlecht zu bezeichnen, sie als objektiv mit diesen Eigenschaften als behaftet zu betrachten, sie wertmessend in Beziehung zu diesen Wertideen und deren vermeintlichen Inhalt zu setzen“; Geiger, Vorstudien, S. 256. 781 Bezüglich des theoretischen Wertnihilismus schließt sich Geiger der Uppsala-Schule an, zieht von dieser gemeinsamen Basis ausgehend aber deutlich weiter gehende Konsequenzen: Werturteile dürfe man nicht einfach als theoretisch sinnlos ansehen (wie dies die wertnihilisti­ sche Uppsala-Schule tut), vielmehr seien Werturteile als falsche theoretische Aussagen zu be­ handeln; Geiger, Vorstudien, S. 256. 782 Werner, S. 51; vgl. auch Bihler, S. 79, 110. 783 Geiger, Des Kaisers Bart, S. 145. 777

140

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

Gefühlsaskese“784. Wenn die Moral bzw. die Werte als Grundlage der Gesellschaft wegfallen, könne die Ordnung als Fundament der Gesellschaft durch die Einsicht in das existenzielle Aufeinander-angewiesen-Sein begründet werden785. 2. Wertsubjektivismus im weiteren Sinne

Auch die gegenüber dem Wertnihilismus gemäßigtere Position des Wertsubjek­ tivismus im weiteren Sinne steht der phänomenologischen Wertethik entgegen. Die Subjektivisten anerkennen grundsätzlich die Werterfahrung; für sie ist es auch zulässig, über erfahrene Werte zu sprechen786. Der Unterschied zwischen phäno­ menologischer Wertethik und Subjektivismus eröffnet sich jedoch im Charakter der Werterfahrung: Für die materialen Wertethiker zeigt sich in der Erfahrung ein Wert, den äußere Dinge an sich haben787. Für Subjektivisten zeigt sich darin ledig­ lich der Wert, den Gegenstände für eine Person haben, die sie erlebt788. Nach der subjektivistischen Position wird die Wertqualität allein aufgrund der Anerkennung durch die positive Stellungnahme eines Subjekts gegenüber einem äußeren Gegen­ stand konstituiert789; die Wertung bedingt den Wert790. 3. Problematik der Einwände

a) Verschiedene Bereiche der Geltung Es stellt sich die Frage, wie die Einwände des Subjektivismus gegenüber dem Objektivismus zu würdigen sind. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen objektivistischer und subjektivis­ tischer Position und die daraus folgenden Konsequenzen lassen sich anhand von Beispielen darlegen. Die Ergebnisse des Objektivismus und des Subjektivismus werden insoweit übereinstimmen, als die phänomenologisch dargestellten „ob­ jektiven Werte“ vielfach gleichermaßen von einem breiten Konsens der Anerken­ nung getragen werden – liegt dieser Konsens vor, sind sie auch anerkannte Werte im Sinne der Subjektivisten791. Ein Unterschied, je nachdem, ob Werte unabhängig 784 Die eigenen Werturteile seien im gesellschaftlichen Handeln pragmatisch zurückzustel­ len; Geiger, Vorstudien, S. 284. 785 Geiger, Vorstudien, S. 270. 786 Kutschera, S. 225. 787 Dementsprechend vertreten phänomenologische Wertethiker einen Wertrealismus; vgl. vorne, S. 34 f. 788 Kutschera, S. 225. 789 Subjektivismus und Objektivismus trennen sich also in der Frage, ob das Bestehen von Wertsachverhalten allein von unseren Präferenzen abhängt; Kutschera, S. 220. 790 Werner, S. 93 f.; Reininger, S. 46. 791 Dies gilt für Werte wie zum Beispiel die Solidarität.

I. Wertsubjektivismus

141

vom eigenen oder kollektiven Nutzen anerkannt werden, kann sich jedoch in der Haltung zu und teils auch im praktischen Umgang mit einigen Schutzgütern der Rechtsordnung zeigen, über die kein allgemeiner Konsens herrscht792. Der Unterschied lässt sich beispielsweise in der Haltung zu Tieren oder zu um­ weltrechtlichen Aspekten darstellen. Ein Tier zu misshandeln verbietet sich für den Objektivisten bzw. Realisten nicht nur dann, wenn er selbst Interesse an des­ sen Weiterleben hat; eine Landschaft zu erhalten sieht er sich nicht nur dann ge­ halten, wenn er selbst, oder hinreichend viele andere, ein Interesse an ihr haben793. Diesbezüglich lässt sich in der Rechtswirklichkeit ein Wandel hin zur objek­ tivistischen Position feststellen, indem etwa gesetzgeberisch festgestellt wurde, dass Tiere keine Sachen sind794. Im Natur- und Umweltrecht wird dagegen noch immer häufig mit den eigenen Interessen an einer gesunden und intakten Umwelt argumentiert. Aus objektivistischer Sicht wäre es viel überzeugender, von einem Wert der Natur selbst zu sprechen, für deren Erhaltung wir verantwortlich sind795. Die entsprechenden Tendenzen zeigen sich etwa mit der Anhebung des Status der Pflanzen durch die Eidgenössische Ethikkommission796. Aus den Gedanken der Uppsala-Schule und der Soziologie Theodor Geigers re­ sultiert eine auch aus axiologischer Sicht sicher wichtige Forderung nach Vermei­ dung eines Wertepathos und eine ebenso wichtige Propaganda- und Ideologie­ kritik. Das Aufmerksammachen auf die Problematik einer Stimmungsdemokratie in der öffentlichen Debatte ist ein sicher sehr berechtigtes Anliegen. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Wertnihilismus mit seinen Kernaussagen hinsicht­ lich der Forderung nach Wertfreiheit diese wichtigen Hinweise nicht selbst über­ schreitet. Wird der Wertnihilismus nach Geiger der materialen Wertethik gegenüberge­ stellt, ergeben sich zunächst Probleme hinsichtlich der unterschiedlichen Bereiche 792

Kutschera, S. 222. Die entsprechenden Werte werden als objektiv anerkannt, wenn man sich verpflichtet sieht, diese Werte zu respektieren und ihnen gleiche Rechte einzuräumen wie denjenigen, die einem selbst nahe stehen – unabhängig davon, ob sie einem sympathisch oder nützlich sind; Kutschera, S. 223. Die Gegenüberstellung betrifft die Haltung; über das tatsächliche Verhalten ist damit noch nichts ausgesagt. 794 Art. 641a Abs. 1 ZGB; vgl. auch § 90a BGB. Damit können beispielsweise Heilkosten, die über den Verkaufswert des Tieres hinausgehen, einem Schädiger in Rechnung gestellt werden; § 251 Abs. 2 Satz 2 BGB. Weiter wird man aber selbstverständlich ein Tier nach den Vorschrif­ ten über den Kaufvertrag kaufen und nach den sachenrechtlichen Vorschriften übereignen kön­ nen; Art. 641a Abs. 2 ZGB. 795 Kutschera, S. 223. In diesem Zusammenhang zu nennen ist auch der Grundsatz der Würde der Kreatur, der in Art. 120 Abs. 2 BV festgehalten ist. 796 So die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich zur Tragweite des Art. 120 Abs. 2 BV (Würde der Kreatur); vgl. den Bericht vom 14. April 2008 der EKAH, Die Würde der Kreatur bei Pflanzen. Die moralische Berücksichtigung von Pflanzen um ihrer selbst willen; S. 20 ff. Der Bericht bezieht sich in besonderer Weise auf die Intuition; S. 4 des Berichts. 793

142

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

der Geltung, das heißt hinsichtlich der Unterscheidung zwischen normativer und faktischer Ebene. Kritik an Ideologie und Propaganda, wie sie von Wertnihilis­ ten dargestellt wird, betrifft die Untersuchung empirischer Elemente der sozialen Wirklichkeit und ist damit der faktischen Ebene zuzuordnen. Die Behauptung ob­ jektiver Wertgehalte im normativen Bereich der Verbindlichkeit steht jener Kritik der Objektivierung persönlicher oder politischer Bewertungen oder Standpunkte im faktischen Bereich nicht entgegen. Hinsichtlich der faktischen Ebene gehen auch Vertreter der materialen Wertethik von der Relativität der Werte und Bewer­ tungen aus; Ideologiekritik findet sich sowohl im Bereich des Wertsubjektivismus als auch im Bereich des Wertobjektivismus797. Unterschiede ergeben sich jedoch bezüglich der Frage, inwieweit Aussagen über Bewertungen sinnvoll sind, da Wertobjektivisten Werturteilen Sinn und Orien­tierungsfunktion zuerkennen. Dem Einwand der mangelnden Geeignetheit einer Orientierungsfunktion von Werten seitens der Wertnihilisten wird bereits von soziologischer Seite begegnet. So schreibt etwa Karl-Heinz Hillmann hinsichtlich der positiven Sozialmoral: „Ohne das Vorhandensein von Werten als allgemeine Wegweiser für die individuelle Welt­ orientierung und als zentrale Stabilisatoren des sozialen Handelns, ohne Werte als […] ‚Gegengewicht‘ gegenüber der organisch vorgegebenen Verhaltensunsicherheit und Un­ fertigkeit würden sich Menschen orientierungslos in einer chaotisch erscheinenden Welt vorfinden […]. Durch das Fehlen eines biogenetisch vollständig programmierten Instinkt­ apparates könnten Menschen ohne soziokulturelle Werte keine stabilen sozialen Beziehun­ gen aufbauen und aufrechterhalten. Gesellschaftliche Kooperationen und Integrationen wä­ ren somit unmöglich.“798

b) Unerlässlichkeit normativer Elemente auf der faktischen Ebene Diese Kritik von soziologischer Seite ist auf normative Gehalte zu übertragen; in der Rechtswirklichkeit ist auf die häufige Verwendung und das Gewicht von Werten hinzuweisen. Auch in Rechtsordnungen wird auf Werte im Sinne einer Ori­ entierungsfunktion zurückgegriffen. So ist beispielsweise der Beitritt zur EU nur möglich, wenn ein Beitrittskandidat die Kriterien des der EU zugrunde liegenden Wertekatalogs erfüllt799. Die Voraussetzung der gegenseitigen Achtung gemeinsa­ mer demokratischer und anderer Grundwerte im Integrationsprozess beruht auf 797

Dazu hinten, S. 151 ff., und zum Beispiel Tappolet, S. 123. Hillmann, S. 60; Werner, S. 138. 799 Vgl. Art. 2 und 7 des Unionsvertrags; ABl. EU 2010 Nr. C 83, S. 13 ff. Genannt werden die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Vgl. auch die Art. 3 Ziff. 1 und 5, Art. 8, Art. 13, Art. 21 Abs. 2, Art. 32, Art. 42, Art. 49 und die Präambel des Unionsvertrags. Auch außerhalb des Rechtssys­ tems gibt es in sehr verschiedenen Kulturen moralische Übereinstimmungen. Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit gelten wohl in allen Kulturen als Tugenden; vgl. Kutschera, S. 246 f.; Scheler, Formalismus, S. 323 ff. 798

I. Wertsubjektivismus

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der Annahme, dass eine politische Gemeinschaft für ihren Zusammenhalt gemein­ samer Grundwerte bedarf, welche die Richtung ihrer Handlungen vorgeben, diese mit Legitimität und Sinn versehen und Solidarität zwischen den Bürgern stiften800. Als weiteres Beispiel können auch die Rechtswerte, welche in den verfassungs­ mäßigen Rechten gewährt werden, herangezogen werden. Auch sie erfüllen Ord­ nungsfunktionen. Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts wird entsprechend verschiedentlich als „Wertordnungsjudikatur“ dargestellt801. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Aussage, dass über Werturteile nicht sinnvoll kommuniziert werden kann, als nicht mit der Rechtswirklichkeit verein­ bar. Die fehlende Möglichkeit, sich über Werte zu verständigen, und auch deren Einschätzung als bloß subjektives Werturteil hätten zur Folge, dass jeder vertre­ tene Standpunkt gegenüber allen anderen gleichberechtigt wäre. Da dann ein Kon­ flikt zwischen einander widerstreitenden Werten prinzipiell unlösbar wäre, müsste die Durchsetzung solcher Werte zur Auflösung der Normordnung führen802. Es stellt sich damit hinsichtlich der Verwirklichung des Wertnihilismus, aber auch des Wertsubjektivismus die Frage, wie von der subjektiv-faktischen Ebene auf die normative gelangt werden kann und wie eine Ordnung ohne objektive Orientierungs­ kriterien sich formieren ließe. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich hinsichtlich der insbesondere von subjek­ tivistischer Seite geforderten vollständigen Ausklammerung normativer Elemente aus der Tatsachenebene. Wie insbesondere die Arbeiten Hilary Putnams zeigen konnten, dürfte ein vollständiger Verzicht auf normative Aussagen auch in der Tat­ sachenebene nicht gelingen, da deskriptive Aussagen vielfach gleichermaßen nor­ mative Elemente beinhalten803. Die von Geiger vorgeschlagenen Elemente, welche an die Stelle der Bewertung treten sollen, sind das Axiom, dass die Wirklichkeit nur in Zeit und Raum erfahrbar sei, sowie die Einsicht in das existenzielle Aufein­ ander-angewiesen-Sein. Beidem liegt selbst ein Werturteil zugrunde804. 800 Innerhalb einer Gemeinschaft wird regelmäßig auf diejenigen Wertvorstellungen verwie­ sen, die innerhalb einer Gesellschaft anerkannt und gemeinsam geteilt werden. Stehen sich alle Bewertungen gleichberechtigt gegenüber, ist es nicht ersichtlich, was einen Menschen dazu be­ wegen könnte, gegen seine eigene Bewertung zu handeln; Werner, S. 101. 801 Rensmann, S. 1. Zur Entstehung der grundrechtlichen Wertordnungsjudikatur im „LüthUrteil“ Rensmann, S. 43 ff. 802 Werner, S. 99; Bihler, S. 113. Der Behauptung, durch Werturteile entstünden soziale Un­ gerechtigkeiten, kann ebenfalls nicht gefolgt werden. Soziale Ungerechtigkeiten können nicht durch den Verzicht auf Werturteile behoben werden, da ein Werturteil überhaupt erst erforder­ lich ist, um eine soziale Ungerechtigkeit festzustellen. 803 Hilary Putnam weist auf die Problematik der Dichotomie hin: „Wenn wir sagen, dass der Lehrer unserer Kinder grausam ist, handelt es sich dann um eine faktische oder eine wer­ tende Aussage?“; Putnam, S. 34. Normen sind Erwartungen; Meyer, S. 140 f.; vgl. auch Coing, S. 291. 804 Sowohl die Definition der Wirklichkeit als auch die Beschreibung sozialer Grundelemente ist mit einer Wichtigkeitsbesetzung vorgezeichnet; das Festhalten der Grundelemente der Wirk­ lichkeit und des Zusammenlebens erfordert eine Wertung.

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F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

II. Der Emotivismus In enger Verbindung zum Wertnihilismus und dem Wertsubjektivismus stehend, gilt auch der Emotivismus als wertrelativistische Gegenposition zur phänomeno­ logischen Wertethik. Der Emotivismus ist eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Strömung, die – wie der Subjektivismus – Wertbegriffen keinerlei Wahrheitsge­ halt zuspricht. Als Hauptvertreter des Emotivismus gelten Alfred Jules Ayer und Charles L.  Stevenson. Im Unterschied zum Subjektivismus, nach dem ethische Aussagen Behauptungen über eigene Präferenzen sind, sind solche Aussagen nach den Emotivisten Ausdruck dieser Präferenzen805. Moralische Ausdrücke wie „gut“ und „richtig“ haben lediglich eine emotive Bedeutung: In wertenden Äußerungen werden emotionale Erfahrungen oder indi­ viduelle emotionale Einstellungen des Urteilenden zum Ausdruck gebracht. Die Bedeutung moralischer Ausdrücke bestehe entweder darin, eigene Gefühle oder Einstellungen mitzuteilen oder die Gefühle und Einstellungen anderer zu beein­ flussen, so dass diese bestimmte Handlungen vollziehen (sog. „perlokutionärer Akt“). Emotionale Einstellungen seien demnach nicht kognitiv; moralischen Ur­ teilen wird der Erkenntnischarakter vollständig abgesprochen806. Scheler attestierte dem Emotivismus, eine befriedigende Erklärung bezüglich der körperlich-sinnlichen Empfindung (Gefühlszustände)  zu bieten. Der Emoti­ vismus beinhaltet aber nicht nur eine Erklärung der rein körperlichen Empfindun­ gen, sondern erweitert dieses Modell auch auf die allgemeine Werttheorie und auf den Bereich der Normen. Genau dieser Anspruch, alle Wertaussagen auf Gefühls­ ausdrücke des Affekts reduzieren zu können, wird von Scheler als realitätsfremd kritisiert807. Eine empirische Analyse, welche auf der Ebene der Deskription verbleibt, um­ geht auch aus juristischer Sicht die sich für das Recht in zentraler Weise stellenden Fragen der Rechtfertigung. Neben der sicher berechtigten Frage nach den perloku­ tionären (beeinflussenden) Wirkungen eines moralischen Urteils808 wird im juris­ tischen Kontext die Frage nach seiner Rechtfertigung ebenso aufgeworfen809. Der Rechtsanwender hat regelmäßig zu unterscheiden zwischen verallgemeinerbaren Folgerungen zur Sache und Schlüssen, die sich aus seinen persönlichen Einstel­ lungen ergeben810. 805

Kutschera, S. 125. Ayer, S.  135 ff.; Stevenson, Ethics and Language, S.  144; Stevenson, Facts and Values, S. 133; Prechtl, Emotivismus, S. 130. 807 Scheler, Formalismus, S. 182 ff. 808 Das heißt den Wirkungen der Äußerungen auf den Zuhörenden oder Rechtsunterworfenen. 809 Vgl. Kellerwessel, S. 80 f. 810 Aus dem Satz „A ist falsch“ und dem Satz „Ich finde A falsch“ können unterschiedliche Folgerungen gezogen werden. Vgl. Kellerwessel, S. 82; vgl. auch vorne, S. 61 ff. 806

III. Warum keine diskurstheoretische Begründung der Normativität?

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Wie dargestellt werden konnte, stellen sich im Recht ethische Konflikte, bei de­ nen es entscheidend ist, beurteilen zu können, ob ein Argument relevant ist811. Eine empirische Untersuchung, welche die Beeinflussung moralischer Sätze analysiert, kann keineswegs die Relevanz ethischer Argumente erklären; um diese geht es aber regelmäßig bei juristischen Entscheidungen812. Die Gesetzgebung geht so davon aus, dass es Wertungskompetenzen gibt, mit­ tels derer beurteilt werden kann, dass zum Beispiel ein bestimmter Rechtferti­ gungsgrund (zum Beispiel Notwehr und Notstand)  nicht zur Sache gehört813. Ebenso werden Praxisänderungen der Gerichte nicht als bloße Änderungen ver­ standen, sondern auch als Korrektur der bisherigen Rechtsprechung814. Der Anspruch auf die Akzeptanz eines moralischen oder juristischen Urteils hängt so nicht primär von Affekten des Rechtsanwenders und den entsprechenden perlokutionären Akten auf die Rechtsunterworfenen ab, sondern mitunter von ko­ gnitiven intuitiven Wertungen, die für ein Urteil sprechen815. Mit der Ausklamme­ rung moralisch-evaluativer Aussagen zugunsten empirisch-deskriptiver und der Reduzierung der Gefühle auf Affekte würde der rechtstheoretische Diskurs zu stark reduziert816.

III. Warum keine diskurstheoretische Begründung der Normativität? Aus Schelers Analyse ergibt sich, dass der ursprüngliche Zugang zu ethischen Prinzipien weder über den Aufbau rational-argumentativer Begründungsverfah­ ren noch im Anschluss an faktisch vorliegende Überzeugungstatbestände gewon­ nen werden kann. Für die Phänomenologen setzen rational-argumentative Be­ gründungsverfahren einen Erlebniszusammenhang voraus, der von ihnen selbst nicht mehr zureichend thematisiert werden kann. Genau dieser Erlebniszusam­ menhang muss aber beschrieben werden, wenn die Sphäre des Moralischen nicht in einem disponiblen Sinn aufgefasst werden soll. Scheler setzt also radikaler an als der Begründungsdiskurs, wenn er in seinem phänomenologischen Programm den „Ursprung der Normativität“817 im Zuge einer Reflexion auf die Weise zu er­ fassen sucht, in der die unmittelbaren Tatsachen des Ethischen überhaupt erst zu­ gänglich sind.

811

Vorne, S. 61 ff., 102 ff. Kellerwessel, S. 71. 813 Kellerwessel, S. 80. 814 Eine Änderung der Praxis lässt sich regelmäßig nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis entspricht; zum Beispiel BGE 132 III 770, 777; 135 I 79, 82. 815 Vgl. Kellerwessel, S. 73. 816 Vgl. Anzenbacher, S. 277. 817 Sander, S. 75. 812

146

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

Als Quelle dient immer der unmittelbare Erlebnisverkehr mit der Welt, den Scheler selbst als Quelle aller philosophischen Einsicht herausstellt818. Genau in diesem unmittelbaren Erleben zeigt sich, dass sich der Mensch schon auf einer grundlegenden Ebene des Bewusstseins auf Wertqualitäten bezogen findet, noch bevor eine prädikativ vermittelte Einsicht in den Träger solcher Qualitäten gewon­ nen ist. Der gesuchte Ursprung von Normativität gründet demnach in spontanen Werterlebnissen, die sich durch die spontane Wichtigkeitsbesetzung bereits im Wahrnehmungsvollzug zeigen819. Diese spontane Wichtigkeitsbesetzung hat sich denn auch als Grundlage für die juristische Wertungskompetenz erwiesen820. Die Wichtigkeitsbesetzung der Wahrnehmung vollzieht sich in einer Weise, die über die einzelnen Eigenschaften ihres Gegenstandes noch nicht ausdrücklich in­ formiert ist und sich deshalb auch noch keine genaue Vorstellung desselben ma­ chen kann. Insgesamt wird so deutlich, dass sich insbesondere Schelers Denken durch eine grundlegende Offenheit gegenüber der sich kundgebenden Verstehens­ herausforderung der erlebten Realität auszeichnet821. Dieses Denken lässt sich nicht auf ein rational-argumentatives Begründungsverfahren reduzieren.

IV. Die Biologie der Gefühle 1. Der „emotionale Erfahrungsspeicher“

Die von Scheler kritisierte vorherrschende Interpretation eines Dualismus von Verstand und Gefühl zeigt sich häufig in der Annahme, dass Gefühle das na­ türliche Erbe des Menschen zum Ausdruck bringen, der Verstand hingegen eine geistige Dimension beinhalte. Gegen diesen Dualismus wird auch von neurobio­ logischer Seite nahegelegt, Gefühl und Verstand gleichermaßen als zentrale Ent­ scheidungsmechanismen zu begreifen. Einige bekannte Neurologen machen auf die wichtige Rolle von Gefühlen im Entscheidungsprozess aufmerksam. Gefühle werden als für Rationalität unerläss­ lich dargestellt, weil die Welt uns vor unüberschaubare Wahlmöglichkeiten stelle: „Im Idealfall lenken uns Gefühle in die richtige Richtung, führen uns in einem Entscheidungsraum an den Ort, wo wir die Instrumente der Logik am besten nut­ zen können.“822 Ein „emotionaler Erfahrungsspeicher“, den wir im bisherigen Le­ ben erworben haben, helfe uns, Entscheidungen zu vereinfachen, indem von vorn­ herein gewisse Optionen ausgeschlossen und andere hervorgehoben würden823. 818

Seibert, S. 514 f. Siehe vorne, S. 118 ff., 124 ff. 820 Siehe vorne, S. 124 ff., 136 f. 821 Seibert, S. 514. 822 Damasio, Irrtum, S. 13. 823 Goleman, S.  48. Gefühle werden daher als Grundlage für Entscheidungen dargestellt: „Gefühle helfen uns, schwierige Probleme zu lösen, die […] Urteilsfähigkeit verlangen und 819

IV. Die Biologie der Gefühle

147

Ist das limbische System  – jener Teil  des Gehirns, der für Gefühle zuständig ist824 – beschädigt, so bleibt der Verstand unversehrt, jedoch ist die Fähigkeit, Ent­ scheidungen treffen zu können, stark eingeschränkt. Entsprechend wird emotiona­ len Akten von neurobiologischer Seite eine zentrale Entscheidungsfunktion zuge­ wiesen: „Bewusstsein und Einsicht können nur ‚mit Zustimmung‘ des limbischen Systems in Han­ deln umgesetzt werden. […] Das bewusste Ich ist nicht in der Lage, über Einsicht oder Wil­ lensentschluss seine emotionale Verhaltensstruktur zu ändern; dies kann nur über emotional bewegende Interaktionen geschehen.“825

Gefühle werden daher von neurobiologischer Seite als für die Rationalität uner­ lässlich beschrieben826. Die Ergebnisse neurologischer Forschungen bestätigen so, dass „das emotionale Gehirn am rationalen Denken genauso beteiligt [ist] wie das denkende Gehirn“827. Die Ansichten der zitierten Neurobiologen weisen auf die Vitalkraft der Gefühle hin, auf die auch aus psychologischer Perspektive aufmerksam gemacht wird828. Wie von psychologischer Seite deutlich gemacht wird, beschränkt sich die Bedeu­ tung der Emotionen für Entscheidungen nicht auf den Bereich des Bewusstseins. Ein Großteil des Gefühlslebens ist, wie Freud deutlich gemacht hat, unbewusst. Entsprechend können auch vorbewusste emotionale Anstöße unsere Wahrnehmun­ gen stark beeinflussen829. Die Untersuchungen der Neurobiologie können so eine Rahmenperspektive bie­ ten, welche die rein verstandesorientierte Erkenntnistheorie infrage stellt. Insofern eröffnet auch die neurobiologische Perspektive die Möglichkeit, einen erweiterten Begriff von Rationalität zu entwickeln, der sich mit auf Gefühle abstützt830.

Entscheidungsprozesse erforderlich machen […]. Die effektivste Lösung von schwierigen Pro­ blemen verlangt Flexibilität und eine sinnvolle Zusammenstellung von Informationen. Das können nur mentale Prozesse und die geistige Besorgnis, die durch Gefühle geweckt wird, leis­ ten“; Damasio, Effekt, S. 209 f.; vgl. auch LeDoux, S. 126 ff. 824 In der Neurobiologie gilt das limbische System als zuständig für Gefühle; vgl. dazu Allan N. Shore, Affect Regulations and the Origin of the Self, Hillsdale 1994. Das limbische System entscheide, in welchem Maße Verstand und Vernunft zum Einsatz kommen; Roth, Aus Sicht des Gehirns, S. 164. 825 Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 452 f. 826 Vgl. auch Goleman, S. 48 f. und 72 ff. 827 Vgl. Goleman, S. 48 f. 828 Vgl. Goleman, S. 19 ff. 829 Goleman, S. 77 f.; de Sousa, S. 176 ff. 830 de Sousa, S. 179.

148

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

2. Erfahrungswissenschaft und kulturelle Dimension

Aus phänomenologischer Perspektive ergibt sich dennoch eine gewisse Distanz zu den Gefühlsdefinitionen, welche sich auf die Forschungsergebnisse der Neuro­ biologie stützen. Die Entscheidungsgrundlagen werden neurobiologisch oftmals als emotionale Verhaltensstruktur und so gleichsam als biologischer Mechanismus umschrieben831; emotionale Akte werden auf affektive Grundgefühle reduziert832. Die Darstellungen sind nicht von einer die Entscheidungsfreiheit auszeichnenden Beteiligung des Gefühls geprägt, wie sie die Phänomenologie als unerlässliche Grundlage der autonomen ethischen Entscheidung darstellt833. Einer Reduktion der Gefühle auf die Verhaltenssteuerung im Sinne eines bio­ logischen Mechanismus ist aus phänomenologischer Sicht nicht nachvollziehbar, weil wir eine Verschiedenartigkeit von Gefühlen erleben, die nicht von allen Men­ schen auf die gleiche Weise empfunden werden und somit Handlungen differen­ ziert motivieren können. Das Erkennen eines Gefühls eröffnet Wahl- und Entschei­ dungsmöglichkeiten834; es ist die Grundlage der differenzierenden Wahrnehmung der emotionalen Intelligenz835. Insofern wird nur ein Gefühl, das sich auf Auto­ nomie gründen kann, unüberschaubare Wahlmöglichkeiten in ihrer Komplexität reduzieren können836. Auch methodologisch bieten sich Kritikpunkte: Denn neurobiologische Ob­ jekte oder Forschungsergebnisse legen sich nicht selbst aus; sie werden von den Autoren gedeutet. Werden emotionale Akte aus neurobiologischer Sicht im obi­ gen Sinne als Verhaltenssteuerung ausgedeutet, deckt sich der biologisch ana­ lysierte Untersuchungsgegenstand plötzlich nicht mehr mit dem Gegenstand der Inter­pretation837. Verdeutlicht wird dadurch eine kulturelle Dimension: Die Erfahrungswissen­ schaft, die den Menschen zum Objekt der Untersuchung macht, steht in der Ge­ schichte des Menschen und liefert nur eine der Möglichkeiten der Welterschlie­ ßung838. Phänomenologisch gesprochen stellt die Naturwissenschaft ebenso wie

831 Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 452 f.; LeDoux, S. 110 ff.; Roth, Aus Sicht des Gehirns, S. 180 ff. 832 Roth, Aus Sicht des Gehirns, S. 146. 833 Siehe vorne, S. 107 ff. 834 Auf dieser Freiheit beruht das Prinzip der strafrechtlichen Verantwortung; dazu Gschwend, Konsequenzen, S. 148; Gschwend, Verantwortung, S. 304, 305 f. 835 Goleman, S. 78. 836 Vgl. Christen, S. 145; vorne, S. 118 ff. 837 Hastedt, S. 72; Coing, S. 80. Gerade in dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass ein Werk mit der Überschrift „Aus Sicht des Gehirns“, so bei Gerhard Roth, schon im Titel kritik­ würdig ist. Klassisch wird in der Philosophie die Missachtung eines solchen Unterschiedes als Kategorienfehler bezeichnet; Hastedt, S. 70 ff. 838 Hastedt, S. 74.

V. Einwände der Erkenntnislehre

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die Technik „eine der Weisen der Entbergung dar“, und die Welt ist aus einer In­ nerlichkeit heraus immer schon erschlossen839.

V. Einwände der Erkenntnislehre und die empirische Unbeweisbarkeit „objektiver Werte“ Oft wird gegen die phänomenologische Wertethik eingewendet, dass ihre Aus­ sagen mit den heutigen wissenschaftlichen Methoden nicht bewiesen werden kön­ nen, insbesondere die Existenz objektiver Wertqualitäten. Aus objektivistischer Sicht kommt den Werten ein Sein sui generis zu. Hart­ mann spricht in Anlehnung an die Ideenlehre Platons von einem idealen Ansich­ sein. Ideales Sein entzieht sich der sinnlichen Wahrnehmung und geht auch über die sammelbaren Daten an Erfahrung über Tatsachen (Naturerscheinungen) hin­ aus, befindet sich also jenseits des realen Seins. Damit wird der ontologische Sta­ tus der Wertqualitäten im Bereich der Metaphysik angesiedelt. Meta-(griechisch für „nach, hinter“)Physik bedeutet ja gerade außerhalb der Physik, außerhalb des physikalisch Messbaren. Damit entzieht sich auch die Existenz objektiver Werte unseren anerkannten wissenschaftlichen Methoden. Hieraus ergibt sich le­ diglich, dass eines unserer leistungsfähigsten Mittel der Kritik, die empirische Überprüfung, definitionsgemäß nicht anwendbar ist. Es lässt sich daraus jedoch nicht schließen, dass objektive Werte oder Wertqualitäten als Intentionsobjekt nicht existieren840. Wird der Status der Werte wie bei Scheler primär phänomenologisch interpre­ tiert, so bleibt der Fokus der Betrachtung auf der Wahrnehmung. Ausgangspunkt der Phänomenologie ist das direkt Erlebte841. Mit Blick auf die Erlebnisphänomene erstrebt die Wahrnehmungsintention ihr axiologisches Wahrnehmungsintendat als Gegenständliches („Objektives“); damit ist aber noch nichts über dessen Seins­ status ausgesagt. Anstelle einer Darstellung der Ontologie wird bei Scheler so primär auf ursprüngliche evidente Wahrnehmungsphänomene verwiesen842. Doch auch daraus lässt sich nicht schließen, dass Wertqualitäten als gegenständlich-ob­ jektive Wahrnehmungsintentionen nicht existieren. Erkenntnistheoretische Einwände können sich jedoch insofern ergeben, als ver­ sucht wird, die Objektivität der Werte mit empirisch-logischen Mitteln zu bewei­ sen. Empirische Wissenschaft kann als exakt anerkannt werden, weil sie unab­ hängig von der individuellen Wahrnehmung Gültigkeit hat. Die wissenschaftliche 839

Vgl. Heidegger, Die Frage nach der Technik, S. 69 ff., 74; Hastedt, S. 74. Vgl. dazu die Anselmschen Gottesbeweise. 841 Vgl. Vendrell Ferran, S. 71 f. Die Phänomenologie will in dem Sinn eine radikale Wissen­ schaft sein, als sie sich direkt an den Sachen – am tatsächlich Erlebten – orientiert. 842 Diese Evidenz bezieht sich auf die Lebenserfahrung, auf das unmittelbar Erlebte; vgl. Böckli, S. 14. 840

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F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

Methode erfordert immer eine Prämisse, aus der Ergebnisse erst abgeleitet wer­ den können. Innerhalb dieses Systems findet die wissenschaftliche Methode An­ wendung; es kann bewiesen werden, ob Ergebnisse korrekt abgeleitet wurden. Was hingegen nicht bewiesen werden kann, ist die Richtigkeit der Prämisse, das heißt, ob die postulierte Annahme der Wahrheit entspricht (sog. „Impotenz der wissen­ schaftlichen Methode“)843. Die wissenschaftliche Methode hat lediglich die Funk­ tion eines Code. Inwiefern sie mit der Wahrheit übereinstimmt, steht in Abhängig­ keit zum Wahrheitsgehalt der angenommenen Prämissen. In diesem Sinne ist die von Scheler postulierte „Vorzugsevidenz“ ebenso eine Prämisse, die einer Untersuchung zugrunde gelegt wird, wie einer empirischen Untersuchung eine empirische Prämisse zugrunde gelegt wird. Die rationaler Er­ kenntnis vorausliegende phänomenologische Evidenz ist allerdings keines natur­ wissenschaftlichen Beweises fähig844. Als Überzeugungsbewusstsein hat sie den­ noch eine wesentliche erkenntnistheoretische Bedeutung. So hat sich bereits Aristoteles auf eine „evidente Wahrheit“ berufen, die nicht beweisbar, aber „of­ fenbar richtig“ ist845. Auf die Erkenntniskategorie der Evidenz stützt sich auch die Rechtswissenschaft; Evidenz erweist sich etwa als Beweismittel846, und ein auf Evidenztäuschung beruhendes unrichtiges Urteil ist wie jedes andere anfechtbar847. Um die Wahrheit einer evidenten Gegebenheit zu prüfen, bedürfte es einer idea­ len Perspektive. Doch mit der Kritik, dass auch phänomenologisch nicht auf das absolut wahre Urteil verwiesen werden kann, sind die theoretischen Grundlagen dieser Lehre noch nicht erschüttert, sind die Möglichkeit objektiver Werte und die Evidenz von Gefühlsleistungen nicht grundsätzlich infrage gestellt848. Vielmehr stellt sich wiederum die grundsätzliche Frage, inwiefern einer These ihre empiri­ sche Unbeweisbarkeit zum Vorwurf gemacht werden kann.

843 Brecht, S. 148. Daher steht in neuerer Zeit vermehrt die Zweckmäßigkeit der Prämisse im Vordergrund. 844 Böckli, S. 14. 845 Dazu Aristoteles, Zweite Analytik, 1. Buch, Kap. 3; vgl. auch Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, S. 498 ff. 846 Im angloamerikanischen Recht ist anstelle des deutschen Begriffs „Beweis“ von „evi­ dence“ die Rede; vgl. Achterberg, S. 9. 847 Achterberg, S. 8 f. Die Offenkundigkeit ist daher in jedem juristischen Urteil zu begrün­ den. 848 Matz, S. 76.

VI. Die Wandelbarkeit des Wertbewusstseins

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VI. Die Wandelbarkeit des Wertbewusstseins und die Wertevielfalt unterschiedlicher moralischer Systeme 1. Beschränktheit des Wertblicks

Im Gegensatz zu den Objektivisten sprechen die Wertrelativisten den Werten nur eine zeitlich beschränkte Geltung zu, die in Abhängigkeit steht zur geschicht­ lichen Entwicklung der Völker und Kulturen. Häufiger Kritikpunkt aus relativis­ tischer Sicht ist daher die Tatsache (die wohl die Anerkennung empiristischer und relativistischer Werttheorien verbreitet hat), dass in verschiedenen morali­ schen Systemen verschiedene Wertauffassungen herrschen, je nach Mensch, Kul­ tur, Zeitgeist etc. Von grundlegender Wichtigkeit sind diesbezüglich Hartmanns Ausführungen zur Wandelbarkeit historischer Moralauffassungen: Diese kommen nach Hartmann erst zustande durch die Beschränktheit des menschlichen Wert­ blicks. Eine Person verfügt lediglich über eine stark eingeschränkte Wahrneh­ mungsfähigkeit; sie kann aus ihrer Situation nur Ausschnitte der Welt der Wert­ gehalte erfahren. Für eine umfassende Einsicht bleibt sie wertblind. Ihr Wertblick gleitet gleich einem Lichtkreis über die Ebene der an sich seienden Werte849. Es vollzieht sich demnach kein Wandel der Werte; es gibt vielmehr verschiedene, je­ weils unvollständige Perspektiven auf deren unveränderliche Sphäre. Die Varia­ bilität des Wertbewusstseins betrifft das Auftreten und Verschwinden des Wert­ gefühls, nicht seinen intendierten Gehalt850. Aus der Relativität der jeweils herrschenden Wertauffassung ist demnach kein Relativismus der Werte zu folgern. Die Wertqualitäten werden nicht vom Men­ schen geschaffen, sondern von Menschen je nach ihrer individuellen Entwicklung, Kultur und Geschichte entdeckt. Der Ethik kommt die Aufgabe einer Zusammen­ schau der verschiedenen Erkenntnisse zu851. Nach Scheler bedeuten die Variationen des Ethos nichts anderes als die Behaup­ tung der Notwendigkeit des geschichtlichen Hervortretens verschiedener Wert­ formen, und zwar so vieler und so lange, bis der gesamte Gehalt der absoluten Wertordnung in Erscheinung getreten ist – dies aber ist ein unendlicher Prozess852. Scheler lehnt daher jede Ethik ab, die in Anspruch nimmt, das gesamte sittliche Sein erschöpfend darstellen zu können853.

849

Vgl. Hartmann, Ethik, S. 158. Hartmann, Zur Grundlegung, S. 311. 851 Bohlken, S. 113 f. 852 Scheler, Frühe Schriften, S. 387. 853 Henckmann, Scheler, S. 110.

850

152

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

2. Daseinsrelativität und Werttäuschung

Von Scheler geht noch ein weiterer Ansatz zur Erklärung unterschiedlicher Mo­ ralvorstellungen aus: Um die Vereinbarkeit zu erklären, ist eine Unterscheidung zwischen der Sphäre des Apriorischen und derjenigen des Daseins unerlässlich. Wann immer von Werterfahrungen von Personen ausgegangen wird, muss Rela­ tivität angenommen werden, da menschliche Erfahrung auf den sich stetig verän­ dernden Erscheinungsformen von Wertqualitäten basiert. Werterfahrungen einzel­ ner Individuen haben daher einen relativen Charakter. Scheler bezeichnet diesen Erklärungsansatz als „Lehre von der Daseinsrelativität der Werte“854. Wertobjek­ tivisten anerkennen somit die Relativität der Werte bezüglich der Werterkennt­ nis überall dort, wo von real-konkreten Werterfahrungen gesprochen wird. Abso­ lut gilt hingegen – das ist zu Beginn der Arbeit vorweggenommen worden855 – der Wertgehalt856. Das intentionale Fühlen ist nicht Bedingung für das objektive Sein, sondern nur für das Erkennen der Wertqualitäten. In der gesamten Sphäre der daseinsrelativen Werterkenntnis kann es nur induktive Erfahrungserkenntnis ge­ ben857. Theorien hingegen, die eine uneingeschränkte Relativität aller Werterfah­ rungen behaupten, unterliegen aus objektivistischer Sicht dem Fehler, die Rela­ tivität einer jeden eigenen Position als absolut zu setzen858. Ein weiterer relativistischer Kritikpunkt betrifft die Werttäuschung: Wenn es Werttäuschung gibt, liegt es nahe, das Ansichsein der Werte in wertrelativistischen Zweifel zu ziehen. Dem stellt Hartmann entgegen, dass, wo immer Täuschung und Irrtum möglich sind, dies auf Nichtübereinstimmung mit der Sache oder sachlogi­ schen Strukturen zurückzuführen ist. Das heißt, die Sache ist in dem Sinne Voraus­ setzung der Täuschung, als diese erst durch das Nichterfassen der Sache hervorge­ rufen werden kann. Wie dargestellt, gehen gerade rechtsanwendende Behörden von sachlogischen Gegebenheiten aus. Anstelle untereinander gleichberechtigter subjek­ tiver Bewertungen werden in jenen Fällen Richtigkeitsintentionen als maßgeblich er­ achtet859. Werttäuschung impliziert demnach gerade nicht eine Beliebigkeit der Ur­ teile, sondern die Wertbesetzung des zugrunde liegenden Richtigkeitskriteriums860. 854

Vgl. Scheler, Formalismus, S. 274 und 275 ff. Vorne, S. 20 ff. und 25 f. 856 Für Hartmann existiert zumindest die Möglichkeit einer historischen Weiterentwicklung des Wertbewusstseins, also einer Vervollkommnung nicht nur auf der personalen, sondern auch auf der gesellschaftlich-geschichtlichen Ebene: „Es gibt ein individuelles Reifen des Wertor­ gans im Einzelmenschen, und es gibt ein geschichtliches Reifen des Wertorgans in der Mensch­ heit. Ob das letztere immer Fortschritt bedeute, muss dahingestellt bleiben; vielleicht bringt es die Enge des Wertbewusstseins mit sich, dass es auf der anderen Seite immer wieder verliert, was es auf der einen gewinnt“; Hartmann, Ethik, S. 158. 857 Vgl. Scheler, Formalismus, S. 275 f. 858 Vgl. Zehnpfennig, S. 176. 859 Vorne, S. 61 ff. 860 Vgl. Hartmann, Ethik, S.  156 f. Dieses Argument geht auf Platon zurück. Vgl. Platons Widerlegung des protagoräischen Relativismus; Platon, Theaitetos, 177c  ff.; dazu Bostock, S. 84 ff. 855

VII. Der unvermeidliche Bezug zum Subjekt

153

VII. Der unvermeidliche Bezug zum Subjekt Subjektivisten hegen Zweifel an der objektiven, subjektunabhängigen Existenz von Werten; die Irrealität der Werte legt die Annahme der Subjektivität nahe861. Sind Werte relativ bezüglich des Subjekts, dann ist auch ihre Seinsweise rela­ tiv, und sie lassen sich als eine Wertung des Subjekts auffassen. Insbesondere bei Scheler sehen Subjektivisten eine gewisse Widersprüchlichkeit zwischen der Objektivität der Werte und ihrer individuellen Ausrichtung, denn Scheler spricht vom „An-sich-Guten für mich“862. Scheler präzisiert jedoch, dass mit dem „Ansich-Guten“ nicht zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es von einer Person als „an-sich-gut“ empfunden wird, dies hätte subjektive Geltung. Die Aussage ­Schelers ist vielmehr in Zusammenhang mit seinem Personalismus zu verstehen: Im Hinblick auf die sich in einem individuellen Geiste auszubildende Philosophie versteht er unter der vorne zitierten Aussage, dass das Erschauen eines Wertge­ haltes in ein persönliches Sollen mündet, im Sinne eines Hinweises auf den We­ senswert einer Person, der günstig ist für deren persönliche Wertverwirklichung. ­Scheler sieht den notwendigen Bezug zum Subjekt somit darin, dass dieses durch die Vertiefung des Wertebewusstseins die Realisierung der ethischen Werte indivi­ duell vollziehen kann. Scheler spricht von der Erkenntnis der Werte als Chance zur individualisierenden – nicht subjektivistischen – Selbstverwirklichung863. Gegen den Vorwurf des Subjektivismus argumentiert Hartmann, dass objek­ tive Werte vorgefunden werden und in keiner Weise willkürlich verschiebbar sind. Denn das Sein der Werte ist nicht relativ auf die Person als wertendes Subjekt, sondern auf die Person als solche bezogen. Werte sind somit ein möglicher Be­ zugspunkt für die Wertqualität, wie kategoriale Strukturen – zum Beispiel geome­ trische Gesetze  – Bezugspunkte sind für räumliche Gebilde. Die Relativität der Werte zum Subjekt soll daher nicht verstanden werden als Relativität auf das Da­ fürhalten oder die Wertung des Subjekts, sondern auf das Sein des Subjekts als werterfahrende Persönlichkeit. Gerade hinsichtlich der bezughaften Struktur der Wertqualität ist Relationalität von der Relativität abzugrenzen: Das Sein eines Wertes wird durch die Relationa­ lität zum Subjekt und sein Dafürhalten nicht tangiert; die Abhängigkeit unserer Urteile von subjektiven Parametern belegt noch keine Abhängigkeit der beurteil­ ten Sachverhalte von diesen Parametern864. Oder anders gesagt: Eine Absolutheit der Wertqualität schließt das Ansichsein der Bezogenheit mit ein865.

861

Hartmann, Ethik, S. 155. Scheler, Formalismus, S. 482. 863 Dazu Scheler, Formalismus, S. 486 ff. 864 Vgl. Kutschera, S. 249. 865 Hartmann, Ethik, S. 140 f.

862

154

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

VIII. Wertantinomien 1. Ablesbarkeit und doppelte Paradoxie

Jenseits der Diskussion, ob es absolute Werte gibt oder nicht, stellt sich immer auch die Frage, wie weit uns die Theorie des Wertobjektivismus in der Rechts­ wissenschaft hilfreich ist. Hilft dem Juristen, der sich vor die wichtigsten Antino­ mien gestellt sieht, die Versicherung, es gebe eine Rangordnung der Werte und sie sei grundsätzlich erkennbar, in genügend hohem Maße866? Eine Anwendung der von Scheler und Hartmann postulierten Wertetafeln kann im Einzelfall schwierig sein. Bei der von Hartmann vertretenen Wertetafel be­ steht ein weiteres Problem bezüglich der zueinander indirekt proportionalen Abstufungs­kriterien. Wenn ein Wert mit sich selbst kollidiert, ist es unmöglich, aufgrund der Wertstärke eine Entscheidung zu fällen867. Wie bereits ausgeführt, stellt sich in der Jurisprudenz immer wieder das Pro­ blem der Wertantinomie, das heißt der Kollision der Werte mit sich selber oder mit anderen Werten, wobei jeweils nur die eine Variante auf Kosten der anderen ver­ wirklicht werden kann868, wie beispielsweise bei der Kollision des Wertes der Frei­ heit in der Kartellfrage869. Wie Hartmann ausführt, haben Wertekonflikte antinomischen Charakter. Die Ausdifferenzierung (Polarität) der Realität bringt es mit sich, dass Werte kollidie­ ren, und zwar in zweifacher Weise. Einerseits zeigt sich stetig die Nichtidentität von Intention und intendiertem Wert870; die Verwirklichung steht hinter der Inten­ tion zurück871. Andererseits kann jeder Wert mit sich selbst oder mit einem Gegen­ wert kollidieren, wobei nur der eine Wert verwirklicht werden kann872. Die Antino­ mik lässt sich so auf eine doppelte Paradoxie zuspitzen873; sie zeigt sich einerseits in einem horizontalen, andererseits in einem vertikalen Verhältnis.

866 Vgl. Hans Nef, Das Werturteil in der Rechtswissenschaft, in: Zeitschrift für Schweize­ risches Recht 86 (1967), S. 317 ff. 867 Ott, Wertgefühl, S. 114 f. 868 Ott, Wertgefühl, S. 113. 869 Beim Zusammenschluss von Großunternehmen berufen sich diese auf die Wirtschaftsfrei­ heit, beschränken dadurch jedoch häufig die Freiheit anderer Unternehmen sowie der Konsu­ menten. 870 Hartmann, Ethik, S. 302. 871 Es besteht eine Diskrepanz zwischen „erstrebtem Wert“ und dem „Wert des Strebens“; Hartmann, Ethik, S. 262. 872 Zum Beispiel ein Güterwert mit der Freiheit oder die Freiheit mit sich selbst. 873 Hartmann, Ethik, S. 300.

VIII. Wertantinomien

155

2. Horizontales und vertikales Verhältnis

Im horizontalen Verhältnis stehen sich gegeneinander abzuwägende Werte in der konkreten Situation oftmals gegensätzlich oder inkommensurabel gegenüber, etwa wenn der Wert der Freiheit mit dem Wert der Sicherheit oder der Wert der Gleichheit mit Güterwerten kollidiert874. Die Verwirklichung des einen Wertes schließt die Verwirklichung des anderen in solchen Fällen regelmäßig aus. Und dieses Sich-Ausschließen hebt nichtsdestoweniger den beiderseitigen Wertcharak­ ter selbst nicht auf875. Die Willensentscheidung kommt jedoch nicht umhin, den Gegensatz als kontradiktorisch zu behandeln876. Bezüglich der Spannung zwischen positiven Wertgegensätzen sieht sich der Rechtsanwender in Wirklichkeit stets vor der Notwendigkeit, Wertekonflikte zu lösen. Konkret werden diese Fälle in der Regel so gelöst, dass hinsichtlich der beiden kollidierenden Werte oder Rechtsgüter eine Abwägung vorgenommen wird; die Rechtsgüter werden miteinander verglichen. Der Vorzug wird demjenigen Wert gegeben, der nach den einschlägigen Bestimmungen, der Praxis oder auch nach unserem Rechtsgefühl elementarer ist. Daraus erwächst eine Erfahrungs-Wertord­ nung, die für künftige Urteile in ähnlichen Fällen herangezogen wird. Wo Wert gegen Wert steht, muss demnach der eine Wert der Entscheidung zu­ grunde gelegt werden. Für die konkrete Entscheidung ist der Rechtsanwender hier­ für immer davon abhängig, dass er Werte vergleichen, in Bezug setzen etc., also re­ lativieren kann. Insofern ist die praktische Anwendung immer relativ. Hinter den Bestrebungen, richtige Entscheidungen zu fällen, scheint jedoch durchwegs das Ziel zu stehen, im Sinne einer teleologischen Richtigkeitsintention einen elemen­ tarer eingestuften Wert zu realisieren877. Das vertikale Verhältnis bezeichnet Hartmann als das „Gesetz der Nichtiden­ tität von ethischem Wert und intendiertem Wert“. Es ist ein Verhältnis von Vorbild und Nachfolge878; im senkrechten Verhältnis zeigt sich die Problematik von Inten­ tion und Realisierung. In der ethischen Wirklichkeit sind die Werte immer nur zum Teil real, nur zum Teil verwirklicht, und paradoxerweise ist es teils wertvoll, dass Werte nicht verwirklicht werden879. Würde beispielsweise die Freiheit für jede Per­ son uneingeschränkt verwirklicht, so würde dies die Freiheit anderer massiv be­ einträchtigen, so dass dieser Wert nicht in seinem vollen Umfang realisiert wer­ den kann880. 874

Vorne, S. 97 ff. Hartmann, Ethik, S. 303 f.; vgl. dazu das Beispiel der antinomischen Werte Sicherheit und Freiheit; vorne, S. 97 f. 876 Hartmann, Ethik, S. 273; vorne, S. 91. 877 Vorne, S. 61 ff. 878 Hartmann, Ethik, S. 263 f. 879 Hartmann, Ethik, S. 301. 880 Kant, MdS, A 33 f., S. 338; Zippelius, Wertungsprobleme, S. 15, 101. 875

156

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

Um dies zu verstehen, ist auf die phänomenologische Realitätsstruktur des Wer­ tes zurückzukommen. Die zentrale Funktion des Wertes ist seine Intendierbarkeit als Einheitspol mannigfaltiger Bewusstseinsweisen. In dieser Synthesis der Re­ kognition ist er nicht verwirklichbar; realisierbar sind nur einzelne Aspekte bzw. Intentionen. Der Verwirklichung solcher Aspekte kommt ein Eigenwert zu; dieser steht aber in einem inkommensurablen Verhältnis, im Verhältnis einer Entwertung gegenüber dem intendierten Einheitspol oder Wert. Die vollkommene Realisie­ rung eines Wertes führte zu seiner Selbstaufhebung. Es ist gerade die aktive Rich­ tigkeitsintention, in welcher der höhere Wert zur Verwirklichung kommt881. Erreichen und Erreichbarkeit zeigen so selbst ein axiologisches Doppelgesicht; die Verwirklichung von Werten ist in sich selbst axiologisch antinomisch; sie hat sowohl Wert- als auch Unwertcharakter. Aus diesem Verhältnis ergibt sich para­ doxerweise, dass keineswegs die nicht mögliche Realisierung, sondern erst die Nichterstrebbarkeit die Realisierung eines höheren Wertes verhindert882. Die Ir­ realität der intendierbaren Werte ist so für den Rechtsanwender ein grundlegen­ der Wert883. 3. Teleologische Richtigkeitsintention als Synthese

In jener teleologischen Richtigkeitsintention, in Hartmanns Worten im Wert der strebend intendierten Verwirklichung, vereinigen sich die beiden Gegensätze von Wertekonflikt (horizontales Verhältnis) und Realisierung (vertikales Ver­hältnis). Jedoch ist diese Vereinigung keine prinzipielle Synthese, welche die Antinomie auflösen könnte, denn ihre Realisation ist stets nur ein Mittelwert, auf einen kon­ kreten Zeitpunkt oder Sachverhalt bezogen884. Für die konkrete Entscheidung kann sich die Richtigkeitsintention demnach nur als teleologisch intendierter Mittelwert darstellen. Der Rechtsanwender kann, wenn seine Eigenwertung erforderlich ist, daher nicht anders, als von Fall zu Fall, nach Maßgabe seines Rechtsgefühls für die Stärke der Beteiligung verschiedener Rechtswerte in einer Situation, ent­scheiden885. Eine vollständige Synthese der Phänomene hieße, die entgegengesetzte Wert­ bezogenheit von Entscheidnotwendigkeiten in ihrer polaren Struktur zu verken­ nen886. An die Stelle einer Ableitbarkeit von Werturteilen aus Wertetafeln tritt eine axiologische Darstellung einer einigenden Kraft der Richtigkeitsintention. Es zeigt

881

Hartmann, Ethik, S. 301 f. Hartmann, Ethik, S. 263 f. 883 Vgl. Hartmann, Ethik, S. 301 f. 884 Hartmann, Ethik, S. 302. 885 Hartmann, Ethik, S. 297. 886 Hartmann, Ethik, S. 303.

882

IX. Auseinandersetzung mit Kant

157

sich eine problemorientierte – additive Vorzugstendenzen überschreitende – Kom­ petenz der Wahrnehmung, auf die unser Wertungsvermögen angewiesen ist. Werterangfolgen stellen sich somit dar als Zweck ihrer ursprünglichen Inten­ tion: als Ausdruck einer inneren Erkenntnis- und Differenzierungsleistung887.

IX. Auseinandersetzung mit Kant 1. Zum Formalismusvorwurf

Da sich die phänomenologische Wertethik maßgeblich auf Kant stützt und sich dennoch gegen einzelne Elemente seiner Ethik stark auflehnt, soll diese Auseinan­ dersetzung abschließend kurz dargestellt und gewürdigt werden. Trotz des Aufbaus der materialen Wertethik auf der kantischen Ethik findet sich auch Polemik. Sie betrifft, nebst der Kritik der aus phänomenologischer Sicht zu wenig berücksichtigten emotionalen apriorischen Erkenntnis, auch den „Formalis­ mus“ der „Pflichtethik“ Kants, die auf materiale Prinzipien (Werte) und deren Er­ kenntniskritik auszubauen sei888. Bei Kant ist Erkenntnis von An-sich-Seiendem wegen der unvermeidlichen Sub­ jektbedingtheit aller Erkenntnis ausgeschlossen. Hartmann geht von der Möglich­ keit der realen Erkenntnis aus und wirft Kant vor, er sei „außerstande, ein A priori sich vorzustellen, das nicht in einer Funktion des Subjekts bestünde“889. Mit seiner „materialen“ Wertethik distanziert sich auch Scheler betont von der kantischen Ethikkonzeption. Der rationalen Gewissensethik stellt Scheler die For­ derung und Begründung eines objektiven Idealismus als Grundlage der Ethik ent­ gegen890. Der Begriff „material“ wird dem Begriff „formal“ gegenübergestellt; gemeint ist damit die inhaltliche Bestimmtheit in Abgrenzung zur vernunftgesetz­ lichen Bestimmtheit. Wie jedoch verschiedentlich gezeigt werden konnte, hat die formale Ethik Kants gerade auch einen unbedingten materialen Bezug891. Da nach Kant die verschie­ denen Formulierungen des Kategorischen Imperativs Ausdruck desselben Geset­ zes sind, schließt die Grundformel892 des Kategorischen Imperativs, die das Prinzip des Formalismus festlegt, wesensnotwendig die Person als Zweck an sich selbst 887

Hartmann, Ethik, S. 544 f. Scheler, Formalismus, S. 30 f., 45 ff., 101 ff.; Hartmann, Ethik, S. 108 ff.; vgl. dazu vertieft auch Günter Fröhlich, Form und Wert, Würzburg 2011, S. 145 ff. 889 Hartmann, Ethik, S. 104. 890 Henckmann, Scheler, S. 115. 891 Vgl. zum Beispiel Alphéus, S. 67 ff. 892 „[…] handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemei­ nen Naturgesetz werden sollte“; Kant, GMS, BA 52, S. 51. 888

158

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

(Selbstzweckformel893) und des Weiteren eine intelligible Welt als ein Reich der Zwecke (Autonomieformel894) mit ein. Kant selbst bezeichnet zwar die Selbst­ zweckformel und die Autonomieformel des Kategorischen Imperativs als „For­ malprinzipien“, dies, weil auch sie von allen subjektiven Zwecken abstrahiert sind895. Doch zeigen sie die materiale Seite von Kants Ethik: Anders als im heute üblichen Sprachgebrauch, der den Begriff Formalismus in einem engeren Sinne versteht, werden in jenen Formulierungen materiale Prinzipien dargestellt, denn sie bezeichnen als oberstes Kriterium des sittlichen Wollens das Sein der Person sowie das Wesensgesetz ihres Wirkens als Zweck an sich selbst und damit als un­ bedingten Wert896. Das sittlich Gute ist somit das Seinsgesetz und das Sein der Persönlichkeit im normativen Bereich, durch sie wird das Gute verwirklicht; dies ist das mate­ riale Korrelat zum Formalismus897. Die materiale Wertethik ist sich des materia­ len Korrelats der kantischen Ethik durchaus bewusst898. In der „Formalismuskri­ tik“ geht es den materialen Wertethikern daher nicht vorweg darum, Kants Ethik als leer bzw. formal zu kritisieren. Die Begriffe material bzw. formal und a ­priori bzw. a  posteriori sind nicht miteinander verknüpft, können daher keine Gegen­ sätze sein899. Kritisiert wird vielmehr die Unzulänglichkeit bzw. die inhaltliche Er­ gänzungswürdigkeit der kantischen Ethik900. Für Hartmann ist es unmöglich, sich etwas als Zweck vorzunehmen, ohne dass man darin ein Wertvolles erblickte. In der Natur des Zweckes liege es, dass sein Inhalt wertvoll oder wenigstens als ein wertvoller gemeint ist901. Scheler und Hartmann sind so der Auffassung, dass ethi­ sche Prinzipien axiologisch erweiterte Inhalte haben können, ohne deswegen ihre ­Apriorität zu verlieren („materiale Wertapriori-These“)902.

893 „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“; Kant, MdS, BA 67, S. 61. 894 „[…] handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller vernünfti­ gen Wesen) dienen sollte“ bzw. „Demnach muss ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der ­Zwecke wäre“; Kant, MdS, BA 84, S. 72. 895 „Alle Vernunfterkenntnis ist entweder material, und betrachtet ein Objekt; oder formal, und beschäftigt sich bloß mit der Form des Verstandes oder der Vernunft selbst, und den allge­ meinen Regeln des Denkens überhaupt“; Kant MdS, BA IV f. Formal ist bei Kant der Katego­ rische Imperativ, der darstellt, wie die Vernunft arbeitet. 896 Vgl. Schmucker, S. 123, 156. 897 Schmucker, S. 123. 898 Vgl. Hartmann, Ethik, S. 107 f. 899 Hartmann, Ethik, S. 109 f. 900 Spader, S. 33 f.; Blosser, S. 69 ff. 901 Hartmann, Ethik, S. 128. 902 Morgenstern, S. 127 f.

IX. Auseinandersetzung mit Kant

159

2. Vernunft und Gefühl

Wie für Kant ist auch für Scheler alle sittliche Einsicht selbstgesetzlich (autonom)903. Neben den Apriorismus des Denkens und des Urteilens, der nicht bestritten wird, tritt jedoch bei Scheler ein Apriorismus des Emotionalen904; aus dem Wertgefühl kann durch Synthese von Wahrnehmung und Allgemeinvorstel­ lung ein Werturteil gebildet werden; diese Urteilsbildung verankert Scheler als „die letzte Triebkraft unseres intellektuellen und die letzte Triebkraft unseres sitt­ lichen Lebens“905. Scheler geht es um die Etablierung eines Apriorismus des Emotionalen. So kri­ tisiert er Kants „Verbannen des Gefühls“ aus der Moral906. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass Kant dem Gefühl der Achtung in seiner Ethik einen sehr hohen Stellenwert beimisst907; Achtung für das Gesetz beschreibt Kant als die Sitt­ lichkeit selbst908. Entscheidendes Kriterium zur Beurteilung einer Maxime ist bei Kant die Frage nach der Universalisierung, das heißt, ob diese Maxime nach dem Kategorischen Imperativ das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann909. Die Ach­ tung vor dem Gesetz ist nach Kant ein durch die Vernunft selbst bewirktes Ge­ fühl910, dessen Gegenstand lediglich das Gesetz ist911. Moralität kommt nur dem Handeln aus Achtung fürs Gesetz zu912. Und auch bei Kant ist die Achtung eine Schätzung des Wertes, und zwar des Wertes eines an sich guten Willens913. Im Zentrum der Ethiken Kants und Schelers stehen sich daher das aus reiner Vernunft gegebene Sittengesetz und die an sich seiende Ordnung objektiver Werte gegenüber. Beide müssen auf spezifische Weise der Natur des Menschen nahe ge­ bracht werden; beide müssen für den Menschen Erkenntnisgegenstand sein. Um diese Beziehung darstellen zu können, berufen sich sowohl Kant als auch Scheler auf eine besondere Art von Gefühl: Nach Kant ist die Achtung, nach Scheler ist das intentionale Wertfühlen vermittelnde Instanz914.

903

Pohlmann, S. 712. Hartmann, Ethik, S. 117. 905 Scheler, Frühe Schriften, S. 102 ff.; Henckmann, Scheler, S. 101. 906 Scheler, Formalismus, S. 247. 907 Achtung ist „das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist“; Kant, KU, B 97, S. 344. 908 Kant, KpV, 1.  Teil 1. Buch 3. H., A 134 f., S. 196. 909 Für Kant ist dies die Arbeitsweise der Vernunft; vgl. zum Kategorischen Imperativ vorne, S. 39 f. 910 Kant, GMS, BA 20, S. 30; KpV, 1. Teil 1. Buch 3. H., A 134 f., S. 196 f. 911 Kant, MdS, BA 16, S. 27 f.; KpV, 1. Teil 1. Buch 3. H., A 139, S. 199. 912 Kant, KpV, 1. Teil 1. Buch 3. H., A 133, S. 195 ff. 913 Kant, GMS, BA 20, S. 30. 914 Weiper, S. 185 ff. 904

160

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

Die Frage, ob Scheler in seiner Auseinandersetzung mit Kant dessen Einbezie­ hen des Gefühls gerecht geworden ist, ist daher eher ablehnend zu beantworten. Achtung hat für Kant gerade auf der Gefühlsseite des Sittengesetzes Bedeutung. Kant beschreibt die Achtung als moralisches Gefühl915 und als das (einzige) a ­priori erkennende Gefühl, das nicht sinnlich bedingt ist916. Die Kritik Schelers enthält aber einen richtigen Kern insofern, als für Kant die Erkenntnis des Sittengesetzes ausschließlich rational ist. Für Kant ist Achtung nicht Erkenntnis-, sondern Motivationsinstanz917. 3. Sollensethik und Einsichtsethik

Ein weiterer Punkt, der zur Auseinandersetzung mit Kant führt, ist dessen Pflichtbegriff in der Ethik918. Bei Kant erfolgt jede ethische Handlung aus der Pflicht, der eigenen Vernunft Folge zu leisten. Scheler beruft sich in Auseinander­ setzung mit der Sollensethik darauf, dass jedes Sollen in einem Wert fundiert ist: Wird ein ethischer Wert erfühlt, so fühlt man gleichzeitig, dass seine Verwirkli­ chung sein soll. Dieses Gebot hat absoluten Charakter, existiert also grundsätzlich, und zwar unabhängig von jeder spezifischen Situation und subjektiver Neigung. Wenn eine Person in einer bestimmten Situation das Fehlen der Verwirklichung eines moralischen Wertes fühlt, wird dieses Gebot für sie zur Pflicht („Impera­ tiv“): Die Person weiß sich verpflichtet, die Verwirklichung des Wertes anzustre­ ben und entsprechend zu handeln919. Nach Scheler kann das Sollen niemals aus sich selbst ethische Gehalte definie­ ren, sondern es bestimmt sich im praktischen Handeln, als Gegenkraft, durch Ver­ meiden der negativen Werte: „Alles Sollen ist […] darauf ausgerichtet, Unwerte auszuschließen, nicht aber, positive Werte zu setzen!“920

915

Kant, KpV, 1. Teil 1. Buch 3. H., A 133, S. 195. Kant, KpV, 1. Teil 1. Buch 3. H., A 133, S. 195 ff. 917 Vgl. Weiper, S. 185 ff.; Scheler, Formalismus, S. 247 f. 918 „Dann darf weder der Begriff der ‚Pflicht‘ noch derjenige der ‚Norm‘ den Ausgangspunkt der Ethik bilden, oder sich als den ‚Maßstab‘ ausgeben, aufgrund dessen erst eine Scheidung von Gut und Böse möglich wäre. […] Wo wir selbst evident einsehen, dass eine Handlung oder ein Wollen gut ist, da reden wir nicht von ‚Pflicht‘. […] wo diese Einsicht eine […] ideal voll­ kommene ist, da bestimmt sie auch das Wollen ohne irgendwelches sich dazwischen schieben­ des Zwangs- oder Nötigungsmoment eindeutig. […] Einsichtsethik und Pflichtethik sollte man also nicht […] zusammenwerfen“; Scheler, Formalismus, S. 200 ff. 919 Anzenbacher, S. 226. 920 „Der letzte Sinn eines jeden positiven Satzes, zum Beispiel, es soll sein, dass Gerechtig­ keit in der Welt ist, es soll sein, dass Schadenersatz geleistet werde, enthält also stets und not­ wendig den Hinblick auf einen Unwert: den Hinblick nämlich auf das Nichtsein eines positiven Wertes“; Scheler, Formalismus, S. 216. 916

IX. Auseinandersetzung mit Kant

161

„Es liegt […] jedem Sollenssatz ein positiver Wert zugrunde, den er selbst aber niemals ent­ halten kann. Denn was überhaupt gesollt ist, ist […] niemals das Sein des Guten, sondern nur das Nichtsein des Übels“.921 Sollen setzt somit nach Scheler bereits voraus, dass bekannt ist, was gut ist. „Weiß ich aber, was gut ist, so bestimmt dieses fühlende Wissen unmittel­ bar meinen Willen […].“922

Insofern sind nach Scheler alle Imperative selbst nur berechtigt, wenn sie auf ein ideales Sollen und indirekt auf den dazugehörigen Wert zurückgehen923. ­Scheler teilt mit Kant die Ansicht, dass beispielsweise Glaubens- und Liebespflichten niemals im Sinne von Willensverpflichtungen verstanden werden dürfen. Äußer­ lich sichtbare Pflichterfüllung, beispielsweise durch Kultushandlungen, birgt hier die Gefahr des bloß äußeren Ausdrucks, der „Werkheiligkeit“ oder des pflicht­ schuldigen bloßen Glauben- bzw. Liebenwollens anstelle des echten Geistes­ aktes924. Die Abgrenzung zu Kant ergibt sich für Scheler nun aber im Folgenden: Ge­ mäß Scheler zeigt die sittliche Einsicht, dass jeder Imperativ in einem apriori­ schen Wertgehalt fundiert ist. Scheler wendet sich vor allem dagegen, dass die Bestimmtheit des moralisch Guten ein Sollen sei925. Das Imperativische ist also nicht identisch mit dem Wertgehalt, sondern ist seine Folge926. Handeln aus Pflicht schreibt Scheler der reflexiven Beurteilungsseite zu; dagegen geht für ihn das in­ tentionale, werterfassende Fühlen jeder Beurteilung voraus. Das Wesen des Guten besteht, so betont Scheler, nicht in seinem formalen Gesolltsein, sondern in seinem materialen Gehalt. Der Pflichtgedanke sei nur dort erforderlich, wo Einsicht fehle. An die Stelle des pflichtbewussten Willens soll daher eine Ethik der „sittliche[n] Einsicht“ treten927. Gewisse Autoren sind allerdings der Ansicht, dass ein Teil  von Schelers Kri­ tik an der kantischen Sollensethik auf unrichtige Interpretation zurückzuführen ist. So ist die kantische Ethik grundsätzlich als „Vernunftethik“ zu bezeichnen und nicht als „imperativische Ethik“, denn sie begründet sich nicht aus dem Begriff des Pflichtsollens, sondern aus unbedingt-praktischer Vernunftnotwendigkeit. Sie ist als rationale Einsichtsethik und nicht als „blinde Pflichtethik“ zu verstehen928. Dieser Auffassung ist allerdings entgegenzuhalten, dass Scheler gerade die ratio­ nale Einsicht als ungenügende Grundlage für ein ethisches Sollen versteht; ohne

921

Scheler, Formalismus, S. 217. Scheler, Formalismus, S. 217; Eley, S. 155. 923 Scheler, Formalismus, S. 193 f. Für Scheler gibt es aber im Gegensatz zu Hartmann kein ideales Seinsollen, das nicht auf die Individualität der Person bezogen ist; vgl. Bohlken, S. 114. 924 Scheler, Formalismus, S. 227 f. 925 Eley, S. 155. 926 Scheler, Formalismus, S. 211; Henckmann, Scheler, S. 123 ff. 927 Scheler, Formalismus, S. 202. 928 Die rationale Einsicht bezieht sich auf die Einsicht in das Sittengesetz; vgl. Alphéus, S. 60 ff. 922

162

F. Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

intuitive Involviertheit kann sich nach Scheler für das Individuum gerade keine un­ bedingte ethische Handlungsnotwendigkeit ergeben929. Wenn auch die Kritik Schelers an Kant in den aufgezeigten Punkten anfechtbar ist, und sich gerade dadurch die Bedeutung der kantischen Ethik für die Phäno­ menologie noch verdeutlicht, so verbleibt doch eine außerordentliche Erkenntnis­ leistung in Schelers authentisch-kraftvoller Darstellung von wertenden Wahrneh­ mungsakten, auf die wir uns auch in der Rechtswirklichkeit stützen.

929

Vgl. P. Kaufmann, S. 314.

G. Würdigung Als Ergebnis sind die vorstehenden Ausführungen in kurzer Form würdigend zusammenzufassen. Eine Rechtsordnung ist kein in sich geschlossenes, lückenloses Begriffssystem. Da, wie dargelegt, in einer Vielzahl von Fällen die Entscheidung weder aus den Normen noch aus anderen Sätzen des Rechtssystems oder unter Zuhilfenahme von Regeln der juristischen Methodenlehre angemessen begründet werden kann, ver­ bleibt dem Rechtsanwender ein Spielraum der Wertung930. Entsprechend kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Urteil durch die Richterin oder den Richter in einem rein rationalen Erkenntnisvorgang aus der Norm abgeleitet werden kann931. Wird sich die Rechtsanwendung nicht in einem rationalen Erkenntnisvorgang erschöpfen, so impliziert dies, dass auch persönliche Elemente des Rechtsanwenders an die Wahrnehmung des Sachverhalts mit heran­ getragen werden932. Ausgangspunkt der Rechtsfindung ist aber immer die Einheit der Rechtsordnung. Die Objektivität der Rechtsordnung als Gesamtheit der staatlichen und völ­ kerrechtlichen Regeln beeinflusst und leitet die menschlichen Verhaltensweisen. Die Rechtsnormen stehen zueinander in einer einheitlich auszulegenden Normen­ hierarchie. Recht im subjektiven Sinne ist der Anspruch, der dem Einzelnen aus jenem objektiven Recht erwachsen kann. Es stellt sich als eine Kernaufgabe des Rechtsanwenders dar, diese Einheitlichkeit zu wahren933. Entsprechend ist der Rechtsanwender auch im Bereich der erforderlichen Eigen­ wertungen angehalten, einheitliche Orientierungskriterien anzuwenden. Als ur­ sprüngliches und in diesem Sinne primäres Orientierungsvermögen zeigt sich die Wahrnehmung selbst. Sie bildet eine hermeneutische Kategorie, die Werteaffinitä­ ten des Entscheidungsträgers bereits beinhaltet und so als seine Handlungsgrund­ lage verstanden werden kann. Die der phänomenologischen Wertlehre zugrunde liegende Ethik lehnt sich stark an das Konzept der kantischen Ethik an, postuliert aber eine Nichtreduzierbarkeit des Gefühls, welche die Macht des Verstandes deutlich einschränkt. In persön­ licher Begriffsbildung zeigen sich durch die Werteaffinität des Entscheidungsträ­ 930

Vorne, S. 50 ff., 61 ff.; Alexy, Theorie, S. 22. Dieser Standpunkt ist von der Freirechtslehre, von der Interessenjurisprudenz und von den Lehren Essers und Viehwegs widerlegt worden. 932 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 128. 933 Rüthers, Rechtstheorie, Rz. 763. 931

164

G. Würdigung

gers intendierte Orientierungsfunktionen für die Erschließung eines Sachverhalts. Diese Orientierung bestimmt sich im Wesentlichen nach einem emotionalen Er­ kenntnisvermögen, das als emotionales Autonomieprinzip dargestellt wurde. Die emotionale Kompetenz gehört nach den Phänomenologen in die Ganzheit des geistigen Lebens, ebenso wie das Denken und das Wollen. Das intentionale Fühlen erreicht den Status eines eigenen und gleichzeitig zur Erkenntnis fähigen, auf die ideale und die äußere Welt gerichteten Gefühlsvermögens, das neben dem Verstand zur menschlichen Vernunft gehört. Der ursprüngliche  apriorische Ge­ halt des intuitiven Erkenntnisvermögens ist selbständig, unabhängig vom Denken, und so Gegenstand der Eigengesetzlichkeit und nicht der Willkür des emotionalen Lebens934. Wird in der praktischen juristischen Theorie auf kognitive emotionale Elemente zurückgegriffen, so müssen ihnen Kriterien oder Kategorien zugrunde liegen, wel­ che für die Relevanz oder Richtigkeit einer Begründung maßgeblich sind. Als intentionale Kategorie und Korrelat der emotionalen Akte steht der Begriff des Wertes. Dieser Begriff definiert für die emotionale Richtigkeitsintention als Wert­ qualität einen ethischen Bezugspunkt, der in unmittelbarer Wahrnehmung primär gegeben und verständlich ist. Bei der begrifflichen Fassung des Wertes wird eine Sinn-Richtung dargestellt, die Wertqualitäten bündelt und sich zugleich entzieht; sie lässt sich phänomenolo­ gisch in keinem geschlossenen Handlungssystem darstellen, sondern gewährt sich nur einem objektivierenden Zugriff935. Wertqualitäten können nicht durch die An­ gabe einer Anzahl von Handlungsweisen ersetzt werden; als normative Gegeben­ heiten stellen sie ein Motiv für eine Vielzahl von Handlungsweisen dar936. Da unsere Ansprüche auf Wahrheit, Gerechtigkeit usw. durch einen Unbedingt­ heitsbezug ausgezeichnet sind, der sich nicht auf subjektive Wertungen und reale Bedingungsverhältnisse reduzieren lässt, werden jene Wertqualitäten aus phäno­ menologischer Sicht als „Objektivität“ dargestellt937. Das, was als Wert bzw. Wert­ qualität beschrieben wird, geht weder auf Wertung, noch auf Nützlichkeitsüber­ legung zurück, sondern ist etwas, das vom Menschen durch eine Vielzahl von Handlungen angestrebt wird und dennoch nicht erreicht werden kann. Der Wert ist das Sinnvolle und Grundsätzliche, das sich zu verstehen gibt und sich zugleich ent­ zieht, in das wir aber immer schon hineingehalten sind938. Die Richtigkeit und ethi­ sche Legitimität einer Entscheidung ergibt sich demnach regelmäßig aus der Über­ einstimmung mit dem Wert939. 934

Vetter, Emotion, S. 138. Coriando, S. 1 ff. 936 Werner, S. 132. 937 Vgl. Krijnen, S.  553. Insofern ist es auch geboten, an dem naturrechtlichen oder wert­ analytischen Ansatz festzuhalten; vgl. Coing, S. 129. 938 Coriando, S. 263. 939 Werner, S. 132. 935

G. Würdigung

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Wann immer eine Wertungskompetenz maßgeblich ist, wird sie begleitet von einem Wahrnehmungserlebnis. Werteinsichten sind immer mit bestimmt von der Person des Erkennenden und von der Erlebnissituation940. Wohl erlebt man erfasste Werte inhaltlich immer wieder gleich, doch das Erlebnis ist je nach der konkre­ ten Situation immer wieder ein anderes. Der Wert einer Freundschaft etwa begeg­ net immer als derselbe, aber das Erlebnis, in dem der Wert sich offenbart, wan­ delt sich941. Da jede primäre emotionale Wahrnehmung die Welt bereits mit Willen und Er­ wägungen durchgliedert, zeigt sich die Wichtigkeit der Selbsthaltung942, die als un­ mittelbare Wahrnehmungskompetenz aus einer Innerlichkeit in den Blick genom­ men werden muss943. Die Wahrnehmung kann nicht am Maßstab des Abgrenz- und Definierbaren, am Richtmaß des feststellbaren Vorhandenseins bleibender Merk­ male, sondern nur unter selbstreflexiver Wendung nach innen unter Berufung auf das persönlich Erlebte dargestellt werden. Die Werterfahrung der Wahrnehmung, auf die Scheler verweist, ist also von ur­ sprünglicher Bedeutung für die hier untersuchten Wertentscheidungen sowie für jede angemessene Beurteilung überhaupt. Die Normativität des Rechts beinhaltet Entscheidungsnotwendigkeiten, welche wir oftmals durch eine primäre intuitive Wertungskompetenz erfahren. Die intuitive Wichtigkeitsbesetzung und Wertung steht für ein eröffnendes Denken, das einen wertbestimmten Grundsatz, beispiels­ weise die Interessenabwägung, mit definiert. Wie dargelegt, gehen sowohl Scheler als auch Hartmann für ihre Wertethik von Wertqualitäten als Einheitsphänomenen und objektiven Entitäten aus. Mit dem Ausgangspunkt der Objektivität maßt sich Ethik nicht an, endgültig festzu­ legen, was im gegebenen Fall geboten ist, so wie eine kognitive Erkenntnistheo­ rie nicht sagt, was in dieser oder jener Seinsfrage das Wahre ist944. Weder Scheler noch Hartmann sind der Auffassung, dass sich Werte oder Werterangfolgen vom normativen Bereich für die konkrete Handlungsebene als Schema von Handlungs­ anweisungen abschließend umsetzen lassen. Keine konkrete Gestaltung von Wert­ entwürfen erreicht die intendierte Wertqualität vollkommen und soll daher nie zum Idealtypus aller Kulturentwicklung hochstilisiert werden945. Vielmehr berücksichtigt die phänomenologische Wertlehre eine sprunghafte Di­ versifikation konkreter Wertverhalte als Gegenüber zu den objektiven Wertqualitä­ ten, im Sinne eines Spannungsverhältnisses. Bei der Durchbrechung der verschie­ 940

Hartmann, Ethik, S. 157 ff., 167; zur Relativität der Werterfahrung vgl. auch Kelsen, S. 17. Sameli, S. 94. 942 Coriando, S. 263. 943 Coriando, S. 254. Es ist anzumerken, dass Scheler selbst den – für ihn von Luther falsch verstandenen – Begriff der Innerlichkeit in seiner Luther-Kritik heftig ablehnt; vgl. Scheler, Schriften zur Soziologie, S. 211. 944 Vgl. Hartmann, Ethik, S. 35. 945 Krijnen, S. 553. 941

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denen Ebenen der Geltung ergeben sich Inkommensurabilitätsprobleme, welche ihrerseits der Wertungskompetenz die Autonomie für Differenzierungsmöglichkei­ ten eröffnen946. Die Werte mit ihren innewohnenden Rangordnungen sind allgemeingültig, das heißt, ihnen steht die Forderung einer universalen Beachtung zu. Objektive Werte beinhalten Flexibilität. Es bedeutet keinen Einwand, dass sie tatsächlich nicht überall und in jeder Epoche Anerkennung und Verwirklichung finden; indem die Rechtsbegriffe nicht durch eine erweiterte starre Festlegung von moralischen In­ halten ergänzt werden, ist auch das Konzept des ethischen Minimums des Rechts gewahrt. Es liegt so für die Phänomenologen im Wesen der Werte, dass sie im Un­ terschied zu Seinskategorien keine absolute Notwendigkeit beinhalten, sondern dem Menschen die Freiheit der Entscheidung lassen947. Bei Fragen der Wertung hat die Judikative dieses Mandat der Konkretisierung und Aktualisierung der Ver­ fassungswerte erteilt erhalten; die rechtsanwendenden Behörden müssen die wirk­ same Geltung der der Verfassung zugrunde liegenden Werte auch im Lichte ge­ wandelter tatsächlicher Umstände sicherstellen948. Die phänomenologische Wertphilosophie grenzt sich durch ihre umfassendere Betrachtungsweise entscheidend ab gegenüber jeder naturalistischen, systemischfunktionalen oder historisch-kulturellen Ethikkonzeption und eröffnet eine Mög­ lichkeit der Perspektive auf Einheitsphänomene jenseits eines Pluralismus der Werte. Gerade wenn Rechtsordnungen vermehrt für eine postmoderne, globali­ sierte Gesellschaft akzeptierbar sein sollen, ist es unerlässlich, sich Grundwerten als Einheitsphänomenen, so verschieden sie auch gelebt werden, bewusst zu wer­ den. In jeder Gesellschaft finden sich zum Beispiel die Werte der Fairness und der Unparteilichkeit, auf die in einem weitesten Sinne immer wieder zurückgegriffen werden muss949. Auf einen vereinheitlichenden Gehalt der Regeln des Zusammen­ lebens ist eine pluralistische Gesellschaft angewiesen950. Oder anders gesagt: Das Viele als zusammenhangsloses Vieles kann nicht gedacht werden951. Wie dargelegt, geht das ethisch Gebotene weit über das rechtlich Gebotene hinaus. Objektive Wertgehalte als solche können nicht kodifiziert werden, da sie selbst auszudrücken versuchen, was angestrebt, aber nicht für jeden Einzelfall konkretisiert werden kann, wie zum Beispiel die Intention der Gerechtigkeit. Eine Kodifizierung eingesehener Werte mündete in ein Festhalten der herrschenden 946

Vgl. vorne, S. 102 ff., und das Urteil des BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15. Februar 2006. Hubmann, Naturrecht, S. 311; vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, der besagt, das natürliche Recht sei jenes, „das überall die gleiche Kraft besitzt, unabhängig davon, ob es anerkannt ist oder nicht“. 948 Rensmann, S. 272 f. 949 Es wird beispielsweise in allen Kulturen als ungerecht empfunden, jemanden für eine Tat zu verurteilen, die er nicht begangen hat; vgl. auch die weiteren Beispiele bei Ott, GrundrissSkriptum, S. 68. 950 Für die Wertegemeinschaft Europa vgl. vorne, Fn. 799. 951 Vgl. Flasch, S. 235. 947

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positiven Sozialmoral. Der Gehalt der materialen Wertethik wird nicht im Auf­ oktroyieren von objektiven Werten auf der empirischen Handlungsebene liegen952. In der Erörterung von Sinn und Werten werden vielmehr Möglichkeiten ausge­ bildet, konkret gegebene Sach- bzw. Wertverhalte einzugrenzen und in die Objek­ tivität begrifflicher Verständlichkeit und Kategorialisierung einzubringen. Diese Orientierung an und Auseinandersetzung mit Richtigkeitskriterien ist auch im Recht geboten. Es entspricht der Erfahrung, dass der Rechtsanwender bei der Ur­ teilsfindung den Anspruch an sich hat, aus den vertretbaren Lösungen die best­ mögliche auszuwählen. Die entscheidende Frage zu Richtigkeit oder Objektivität im Bereich des Rechts heißt nicht, mit welcher Zwecksetzung man von Objekti­ vität sprechen kann. Entscheidend ist vielmehr, wie wir mit der Vorstellung von Objektivität im Recht praktisch umgehen953. Wo der Rechtsanwender werten muss, ist immer auch ein persönliches Moment der Wertung im Entscheid mit enthalten. Dieses persönliche Element äußert sich oftmals in einer spontanen Wertung mit Blick auf die sich stellenden Rechts­ konflikte; es stellt eine spezifische Wertungskompetenz dar und entspricht der von den Phänomenologen aufgezeigten primär emotionalen Eröffnung von Welt und von Sachverhalten. Die für jede Wertung erforderliche Angemessenheitsprüfung soll auf die Orien­ tierung an der eigenen Wahrnehmung, die zugleich Wertempfinden ist, als ein Richtigkeitskriterium zurückgreifen. Insofern wird auch ersichtlich, dass dem Rechtsanwender eine maßgebliche Kompetenz zukommt, in konkreten Konflikt­ situationen eine sachgerechte Abwägung der Werte zu finden. Das richtige Judiz ist Ausgangspunkt der Angemessenheit der Beurteilung im Einzelfall der (freien) Wertung. Im konkreten Fall bleibt die Angemessenheit oder Vertretbarkeit regelmäßig durch eine Evidenz der intuitiven Wertung mit bestimmt, ohne dass ein weiteres Richtmaß für Gerechtigkeit angegeben werden könnte954. Was üblicherweise als „emotional“ unberücksichtigt bleibt, birgt ein unverkennbar starkes und eigenständiges Urteilsvermögen, das auch für juristische Entscheide von zentraler Wichtigkeit ist955. Die intuitive Sachverhaltserfassung und Konfliktlösung erschließt so als her­ meneutische Kategorie die Rechtswirklichkeit. Sie ist gleichzeitig spontanes und eigenständiges Richtigkeitskriterium956. Die Rechtsanwendung ist auf dieses emo 952 Wenn ideale Werte wie Normen auf eine Zwangsebene gerückt bzw. institutionalisiert werden zur Ablesung und Ableitung von Urteilen, bedeutet dies eine Verkennung der ethischen Normativität, welche die materiale Wertethik ihren postulierten Werten zuerkennt. 953 Vgl. Neumann, S. 63. 954 Zippelius, Wertungsprobleme, S. 120. 955 Vgl. Schluep, Recht und Intuition, S. 254. 956 Insofern bezeichnet Kant das Gewissen als inneren Richter oder Gerichtshof des Men­ schen; Kant, MdS, Tugendlehre, A 100 f., S. 573 f. Vgl. auch Zippelius, Wesen, S. 64.

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tionale Erkenntnisvermögen angewiesen, das ein Komplement zur rationalen Ar­ gumentation und damit Teil der praktischen juristischen Vernunft ist. Diese emotionale Kompetenz kann durch dogmatische Überlegungen umge­ stoßen werden, oder aber sie ist so stark, dass sie die dogmatischen Überlegungen umstoßen wird957. Es hat sich sogar gezeigt, dass dieses intuitive Denkvermögen die ursprünglichste Art des Denkens – und auch des juristischen Denkens ist958.

957

Vgl. Eley, S. 140. Vgl. Zippelius, Wertungsprobleme, S. 198.

958

H. Kurzfassung und Ergebnisse der Untersuchung I. Drei Fragen als Gegenstand der Untersuchung In der vorliegenden Untersuchung „Vom Gefühl am Grund der Rechtsfindung“, (Untertitel: Rechtsmethodik, Objektivität und Emotionalität in der Rechtsanwen­ dung) wird die scholastische Denktradition mit ihrer Unterscheidung zwischen existentia und essentia wieder aufgenommen, und zwar anhand der phänomeno­ logischen Werttheorie, wie sie von Franz Brentano, Edmund Husserl, Max Sche­ ler und Nicolai Hartmann entwickelt und geprägt wurde und gegenwärtig weiter­ geführt wird. Der Rückgriff auf die scholastische Denktradition erfolgt anhand von drei zu Beginn der Untersuchung gestellten Fragen (siehe A. I.). Diese drei Fragen ent­ sprechen den drei Kernaussagen der phänomenologischen Wertethik und beziehen sich auf die Objektivität von Werten, auf die Relationalität von Werten unterein­ ander und auf die erkenntnistheoretische Analyse des Gefühls als Grundlage für ethische Entscheidungen. Mit den drei Fragen soll analysiert werden, ob die Kern­ aussagen der phänomenologischen Wertlehre Wertungsvorgänge in der Rechtsan­ wendung erklären können. Die drei Fragen haben folgende Inhalte: Die erste Frage bezieht sich auf das Problem, ob es bei Wertungsvorgängen überhaupt möglich ist, Objektivität zu intendieren. Dies scheint auf den ersten Blick ausgeschlossen zu sein: So wenig beispielsweise der Wert der Freiheit als immer zu berücksichtigender Wert in der schweizerischen Rechtsordnung gilt, kann dieser Wert noch viel weniger anderen Rechtssystemen oder Kulturen aufge­ zwungen werden. Die Verfasserin zeigt auf, dass dem Recht trotz dieser Art von of­ fenkundig nicht praktizierbarer Objektivität eine andere, eine subtilere und phäno­ menologische Objektivität zugrunde gelegt werden kann, die für ethische Fragen unserer Rechtsordnung Gültigkeit beanspruchen darf (vgl. C. IV.1.–5., C. V.4.). Die zweite Frage bezieht sich auf Vorzugstendenzen bei Wertekonflikten. Hier stellt sich die Frage, welche Vorzugstendenzen sich anhand der phänomenologi­ schen Darstellung von Wertpräferenzen, insbesondere bei Nicolai Hartmann, in der Rechtswirklichkeit nachweisen lassen. Grundsätzlich werden die von Hart­ mann vorgeschlagenen Vorzugstendenzen in der Rechtswirklichkeit bestätigt  – es sei denn, die zu vergleichenden Werte sind inkommensurabel (D. V. und VI., D.VII.3.). Mit der dritten Frage wird schließlich untersucht, ob eine gefühlsgeleitete, intu­ itive Entscheidungskompetenz, die von den Phänomenologen (und in der Postmo­

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H. Kurzfassung und Ergebnisse der Untersuchung

derne überhaupt) als wichtige erkenntnistheoretische Grundlage anerkannt wird, bedeutsam ist für das Recht und für ethisch relevante Entscheide in der konkreten Rechtsfindung. Auch diese Frage wird bejaht (siehe E.IV. und V., E. V.6.). Diese drei Kernfragen werden zu Beginn der Untersuchung gestellt (siehe A. I.) und in den Hauptkapiteln des Buches (Kapitel C.–E.) analysiert. Die philosophi­ schen Grundlagen zum Verständnis dieser Fragen werden gleich in den Kapiteln A. und B. ausgearbeitet.

II. Ergebnisse und Antworten nach Kapiteln 1. Kapitel A.: Phänomenologische Wertethik in juristischer Betrachtung

Das erste Kapitel befasst sich mit dem Begriff des Wertes, welcher der Arbeit zugrunde liegt. Der Begriff des Wertes hat nach der phänomenologischen Wertthe­ orie eine existenzielle und eine essenzielle (ideelle, wesenhafte) Seite. Die ideelle Seite eines Wertes ergibt sich aus der ständigen Übersteigung der Wertqualität ge­ genüber ihrer Intention: Beispielsweise intendieren wir den Wert der Freiheit; die­ ser Wert lässt sich in concreto jedoch nicht vollkommen verwirklichen, weil eine absolute Freiheit andere Individuen in ihren geschützten Rechten stark einschrän­ ken würde. Der Wert der Freiheit kann nicht vollständig verwirklicht werden, doch bleibt er für die Rechtsfindung westlicher Rechtsordnungen stets Intention. (Hier zeigt sich auch, dass der Begriff der Objektivität im phänomenologischen Sinne nichts mit Kulturimperialismus zu tun hat; vielmehr beschreibt dieser Begriff die Tatsache, dass das ethisch Intendierte stets seine Realisierung übersteigt!) Der Wert hat also eine „objektive Seite“, nämlich die Wertqualität, die darin be­ steht, dass sie einen das Bewusstsein übersteigenden, intentionalen Einheitspol bildet, welcher der Wertung zugrunde liegt. Die existenzielle Seite besteht hinge­ gen darin, dass der Wert, um für uns erfahrbar zu sein, stets an einen „materiellen Träger“ gebunden sein muss. Dieses Erfordernis könnte mit der Niederschrift von Gedanken verglichen werden: Der Gedanke ist den anderen nicht zugänglich. Um ihn zugänglich zu machen, bedarf es eines materiellen Trägers, zum Beispiel der Niederschrift in einem Buch. Das Buch ist dann der materielle Träger, in welchem der Gedanke zum Ausdruck kommt. Allgemein ist anzumerken, dass der Begriff des Wertes von den Phänomenolo­ gen sehr weit gefasst wird: Dem Wertbegriff unterstehen alle qualitativen Gege­ benheiten, beispielsweise auch der Wert der Ruhe in einem Wohnquartier.

II. Ergebnisse und Antworten nach Kapiteln

171

2. Kapitel B.: Ideengeschichtliche Perspektive

Das zweite Kapitel widmet sich der ideengeschichtlichen Grundlegung der phä­ nomenologischen Werttheorie. Als Basis der phänomenologischen Werttheorie und zur Information der Leserin, des Lesers wird die Ideenlehre Platons (B.II.), die Ethik und Erkenntnistheorie Kants (insbesondere der Kategorische Impera­ tiv; B.III., B.III.2.) und die phänomenologische Methode Husserls (B.IV.) kurz zu­ sammengefasst. Die Phänomenologie Husserl, die noch kaum eine Wertlehre enthält, hat zum Ziel, Bewusstseinsakte auf ihre Inhalte zu untersuchen. Husserl zeigt auf, wie Wahrnehmungsobjekte stets unsere Wahrnehmung überschreiten: Beobachtet man ein Wahrnehmungsobjekt wie zum Beispiel einen Würfel, so sieht man davon ma­ ximal drei Flächen; intendiert wird dennoch der Würfel als Ganzes. Demnach ist es ein Charakteristikum des Wahrnehmungsobjekts, die Wahrnehmung zu über­ schreiten. Husserl zeigt auf, wie alle Elemente der Wirklichkeit nur perspektivisch gegeben sind, das Bewusstsein sie aber in assoziativer Wahrnehmung einem Ein­ heitspol verbindet (B.IV.1.). Die phänomenologischen Grundlagen Husserls bilden den Ausgangspunkt für die weiteren Kapitel: Nachdem die philosophischen Grundlagen und die Ent­ wicklung der phänomenologischen Wertethik dargestellt worden sind (Kapitel A. und B.), kann sich die Autorin den drei eingangs gestellten Fragen, das heißt der Auseinandersetzung mit den Kernaussagen auf der Grundlage der phänomeno­ logischen Methodik zuwenden (Kapitel C.–E.). Die Auseinandersetzung mit den Kernaussagen behandelt die Frage der Objektivität der Wertqualität (Kapitel C.), die Relationen von Werten (Werterangfolgen; Kapitel D.) und die Maßgeblich­ keit des Gefühls für das Entscheiden von ethisch relevanten Sachverhalten in der Rechtsanwendung (Kapitel E.). 3. Kapitel C.: Die Wertbedingtheit des Rechts und die Apriorität der Werte

Dem Kriterium der Objektivität widmet sich das dritte Kapitel. Die Verfasserin untersucht, inwieweit diese phänomenologische Objektivität auch der Rechtsord­ nung zugrunde gelegt werden kann. Zunächst werden die Einfallstore außerrecht­ licher Werte in ein Rechtssystem dargelegt (C. I.). Es wird aufgezeigt, wo genau der Übergang liegt zwischen rechtstheoretischer und rechtsphilosophischer Be­ trachtung und in welchem Maß die juristische Auslegungslehre auf Wertungen an­ gewiesen ist (vgl. C. I., C.II.). Vor diesem Hintergrund der Wertbedingtheit des Rechts wird untersucht, inwie­ fern Phänomene von objektiver Richtigkeitsintention sich auch in der Rechtsfin­ dung aufzeigen lassen. Dies zeigt sich anhand der Begriffsbildung von allgemei­ nen Rechtsgrundsätzen sowie bei der Sachgerechtigkeit (zumindest für Personen

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H. Kurzfassung und Ergebnisse der Untersuchung

betreffende Sachverhalte), wo sich das Bundesgericht für ethische Grundfragen der Rechtsfindung „objektive Werte“ im Sinne der Phänomenologie zugrunde legt (so zum Beispiel die „Sache des Menschen“; C.IV.2.–4.). Die Objektivität des Intendier­ ten widerspricht dem Abwägungserfordernis und der Relativität seiner Anwendung nicht; vielmehr zeigt sich die scholastische Unterscheidung zwischen existentia und essentia: Der Sache des Menschen gerecht zu werden ist ein objektiv intendierter und damit apriorischer Zweck der Rechtsordnung, dem ethisch relevante juristische Entscheidungen zugrunde gelegt werden müssen. Wie dieser anerkannte Zweck er­ reicht wird, ist unter sorgfältiger Abwägung von Fall zu Fall zu untersuchen. 4. Kapitel D.: Werterelation und Inkommensurabilität

Werte werden normalerweise relational, das heißt in Beziehung zueinander wahrgenommen; entsprechend widmet sich das vierte Kapitel den Werterelationen. Wenn ein Kind im Spiel plötzlich auf die Straße rennt, wird ein Autofahrer augen­ blicklich abbremsen und hupen, weil er unmittelbar einsichtig den Wert des Le­ bens des Kindes höher einstuft als den Wert der Ruhe in einem Wohnquartier. Ge­ stützt auf solche Beobachtungen hat die phänomenologische Wertethik Rangfolgen von Werten formuliert, mittels derer wir juristische Wertekonflikte lösen können. Hierfür werden die Vorzugstendenzen von Hartmann herangezogen, der die Krite­ rien der Werthöhe und der Wertstärke einander gegenüberstellt; sie lassen sich an verschiedenen Beispielen in der Rechtswirklichkeit nachweisen: Angenommen, es bricht in der Schweiz eine hoch ansteckende Seuche aus. Aufgrund der polizeili­ chen Generalklausel (Schutz der Polizeigüter, Art. 36 Abs. 2 BV: in diesem Fall der öffentlichen Gesundheit) darf die individuelle Freiheit von bereits Erkrankten eingeschränkt werden, indem diese unter Quarantäne gestellt werden. Der stärkere Wert der öffentlichen Gesundheit geht dem Wert der individuellen Freiheit vor. Diese Tendenz ist maßgeblich für die Mehrheit der juristischen Werteabwägun­ gen; gleichwohl kann sich dieses Verhältnis auch umkehren: In spezifischen Fäl­ len wird etwa das Recht auf ein faires Verfahren (dieses Recht wird in der EMRK als ein Freiheitsrecht geschützt) zum Beispiel für Terrorverdächtige dem Bedürf­ nis und dem Wert der Sicherheit anderer Menschen und der Gemeinschaft überge­ ordnet, und Terrorverdächtige werden aufgrund der Verletzung ihrer Verfahrens­ rechte aus der Haft entlassen. In solchen Fällen geht der höhere Wert der Freiheit dem elementareren Wert der Sicherheit vor. Eine Werteabwägung ist daher immer wieder mit einem Phänomen von Unbe­ stimmtheit versehen, das die Autorin unter dem Begriff der Inkommensurabilität abhandelt. Der Begriff „Inkommensurabilität“ bedeutet „nicht mit dem gleichen Maßstab messbar“ und wird in der denkerischen Tradition sowie in der modernen Rechtsphilosophie diskutiert (R. Chang, St. Lukes, J. Griffin, J. Raz). Die Verfasserin kommt zum Schluss, dass die von den Phänomenologen darge­ stellten Wertpräferenzsysteme, insbesondere das von Hartmann formulierte um­

II. Ergebnisse und Antworten nach Kapiteln

173

gekehrt proportionale Verhältnis zwischen Werthöhe und Wertstärke, sich in der Rechtswirklichkeit nachweisen lässt. Es gibt jedoch immer wieder auch Phäno­ mene von Inkommensurabilität, bei denen das Verhältnis umgekehrt wird; letz­ tes Kriterium für die Wertentscheidung muss die eigene Wertungskompetenz sein. 5. Kapitel E.: Das emotionale Autonomieprinzip

Entscheidend schließlich für die Lösung von Wertekonflikten ist das Wert­gefühl („intentionales Fühlen“), welches das emotionale Autonomieprinzip begründet und dem das umfangreichste Kapitel der Untersuchung gewidmet ist. Als maßgebliches erkenntnistheoretisches Instrument für ethische Entscheidun­ gen verweisen die Phänomenologen auf das Gefühl. Das Gefühl („intentionales Fühlen“) ist für sie Mittel zur Werterkenntnis. Werterkennende Gefühle sind abzu­ grenzen von sinnlichen Erfahrungen und Affekten (Gefühlszuständen). Werterkennende Gefühle zeichnen sich aus durch ihre Intentionalität und ihre Unreduzierbarkeit. Der Begriff der Intentionalität bedeutet, dass sich emotionale Akte auf Wahrnehmungsobjekte richten können; sie können sich auf Wertqualitä­ ten beziehen und bilden daher eine innere, intuitive Basis für ethische Entschei­ dungen. Die Unreduzierbarkeit beschreibt eine primär emotionale Eröffnung von Welt und von Sachverhalten: Bereits bei der Wahrnehmung von Sachverhalten er­ möglicht ein ursprüngliches emotionales Involviertsein in die Welt eine spontane Wichtigkeitsbesetzung, indem emotionale Akte  – analog dem urteilenden Ver­ stand – Elemente von Sachverhalten bejahen oder verwerfen können. Diese Wich­ tigkeitsbesetzung wird erst in einem sekundären Akt reflektiert. Das Phänomen der spontanen intuitiven Wichtigkeitsbesetzung zeigt sich bei der Rechtsanwendung und wird thematisiert im Zusammenhang mit dem Begriff des Rechtsgefühls bzw. der Rechtsintuition. Dargelegt werden verschiedene Fälle, bei denen die gefühlsgeleitete Entscheidung im Recht zum Tragen kommt, wie etwa bei Fällen von Rechtsmissbrauch, aber auch beim Willkürverbot, bei Fragen des Ordre public etc. Gefühlsgeleitete Erkenntniselemente erweisen sich als her­ meneutische Kategorie für die Sachverhaltsanalyse und die Rechtsfindung. Im Sinne der Methodenehrlichkeit sind die gefühlsgeleiteten Aspekte eines ju­ ristischen Urteils darzulegen. Um die Transparenz und die Zugänglichkeit der Ur­ teile zu wahren, sind jene gefühlsgeleiteten Elemente bei der Urteilsbegründung rational-argumentativ zu erschließen. Ein präzises Verständnis von Begründung fordert daher, dass der Begründungsdiskurs nicht über die Erschließungsleistun­ gen individueller Gefühlsakte hinweggeht, sondern sie geradezu als unverzicht­ bare Momente seiner selbst begreift959.

959

Vgl. Seibert, S. 523.

174

H. Kurzfassung und Ergebnisse der Untersuchung

6. Kapitel F.: Gegenargumente und die Auseinandersetzung mit Kant

Nachdem die Kernaussagen der phänomenologischen Wertlehre dargelegt und analysiert worden sind (Kapitel C.–E.), werden in Kapitel F. Gegenargumente und Gegenpositionen zur phänomenologischen Wertethik behandelt, wie Subjek­ tivismus, Emotivismus und wissenschaftstheoretische Einwände. Auch die Aus­ einandersetzung hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der phänomenologischen Wertethik und der Ethik Kants sowie die daraus hervorge­ hende Kritik Schelers an Kant werden zum Schluss des Kapitels dargestellt. 7. Kapitel G.: Würdigung

Im abschließenden Kapitel G. werden die Ergebnisse der Untersuchung gewür­ digt. Die Unreduzierbarkeit des Gefühls gerade hinsichtlich juristischer Entschei­ dungen wird nochmals explizit festgehalten und die Rechtsintuition als maßgebli­ ches Element der Rechtsfindung in ethischen Fragen dargestellt, denn Recht muss auch dann gesprochen werden, wenn das Vernunftschema in einem Paradoxon en­ det; in solchen Fällen hilft die Intuition960. Die spontane Rechtsintuition als emotionale Kompetenz des Rechtsanwenders bei der Werteabwägung im Recht wird so als die letzte Instanz bestimmt, zu der unsere Bemühungen um Objektivität gelangen können.

960

Vgl. Schluep, Recht und Intuition, S. 254.

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Personen- und Sachverzeichnis Achtung, Gefühl der (Kant)  159, 160 Allgemeinbegriff  70 analoges Denken  37, 103 Analogie zwischen urteilenden und emotio­ nalen Akten bei Brentano  116, 117 Anstandsgefühl  128 antinomische Wertgegensätze  88, 89 Aposteriori  38, 41, 111, 158, siehe auch Er­ fahrung Appräsentation (Mitwahrnehmung)  43 Apriori  48, 123, siehe auch Apriorität –– emotionales  109, 123 –– unterschiedliche Begriffsbestimmung bei Kant und Scheler  26 apriorische Erkenntnis bei Kant  38, 39 Apriorität  50, 70, 75, 76, 78, 158 –– der Rechtswerte  75 ff. –– emotionales Apriori  123 assoziative Wahrnehmung  44, 77 –– juristische  70, 71, 72, 79 Auseinandersetzung mit Kant  157 ff. –– Formalismus und Materialismus  157, 158 –– Sollensethik und Einsichtsethik  160 ff. –– Vernunft und Gefühl  159, 160 auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe  54 Auslegungskanon siehe Auslegungslehre Auslegungslehre  58, 171 Autonomie  18, 69, 84, 92, 100, 102, 105, 148, 166 Bedeutung intuitiver Informationsverarbei­ tungsprozesse  136 Begründung  132, 173 –– Begründungsdiskurs  173 –– Begründungspflicht  132, 133 Biologie der Gefühle  146, 147, 148 Brentano, Franz  31, 32, 33, 106, 112, 113 ff., 116, 117, 119, 169 cœur als primäre emotionale Erkenntnis­ grundlage bei Blaise Pascal  111

Cusanus  94, 95 demokratischer Anspruch auf Mitentschei­ dung  134 Diskurstheorie  134, 145, 146 –– Warum keine rein diskurstheoretische Be­ gründung des Rechts?  146 doppelte Struktur des Bewusstseins  115 –– kognitive Funktion  115 drei Akte des Fühlens bei Hartmann  121, 122 Einheit der Rechtsordnung  78, 81, 163, 166 –– Wahrung durch den Rechtsanwender  163 Einheitsphänomen  20, 22, 25, 26, 35, 77, 166 –– in der pluralistischen Gesellschaft  19, 20, 166 –– Wahrnehmung  19, 20 –– Wert als  22 ff. Einzelfallbetrachtung – ethisches Denken  103 emotionale juristische Urteilskompetenz (emotionale Kompetenz)  106, 107, 125, 133, 164, 169, 173, 174 –– als Durchsetzungsvermögen  167, 168 –– als Komplement zur Vernunft  108, 159, 168 –– als ursprünglichste Art des Denkens  168 –– als ursprünglichstes Richtigkeitskriterium  132, 137, 174 –– Eigengesetzlichkeit  164 –– Orientierungsfunktion  164 –– und Wirklichkeitserfahrung, siehe emotio­ nales Apriori emotionales Apriori  109, 123 –– Universalgrammatik  123 emotionales Autonomieprinzip, siehe emoti­ onale juristische Urteilskompetenz (emo­ tionale Kompetenz) emotionales Erkenntnisvermögen  18 Emotivismus  144, 145, 174

Personen- und Sachverzeichnis empirisch im Sinne Brentanos  113, siehe auch Erfahrung Entscheid und Entscheiddarstellung  132, 133, 136 Entscheidbildung  132, 136, 137 Entscheidungsautonomie, juristische  100, 101 Entscheidungsgewissheit – Problem  83, 102 Entsprechung von Akt und Gegenstand  119, siehe auch noesis und noema epochein (Innehalten)  45 Erfahrung  26, 39 –– Husserl  70, 71 –– und Erkenntnis bei Kant  38 Erfordernis der Wertung  61 ff. –– ethische Relevanz  63, 64 Erkenntnis –– juristische Wertungskompetenz  106 –– zweistufiges Konzept der  123, 124 Erkenntnisvermögen  106, 164 –– apriorisches bei Kant  38, 39 Ermessen  50, 51, 53, 126 essentia und existentia  123, 169, 172, siehe auch Apriorität der Rechtswerte Ethik, unbedingte (Kant)  39, 40, 41 ethische Relevanz der juristischen Entschei­ dung  63 ethisches Auslegungselement  61 Eudämonismus  41, 109 Evidenz  114, 117, 149, 150 –– der Gegenstände im Bewusstsein  114 Flexibilität  119, 147, 166 formale Wertethik  34, 35 Gefühl  26, 28, 32, 84, 106, 107, 109, 128, 148, 159, 169, 173, siehe insb. intentiona­ les Fühlen, emotionale juristische Urteils­ kompetenz (emotionale Kompetenz) –– bei der Gesetzesberichtigung  128 –– Blaise Pascal  110 –– der Achtung (Kant)  159 –– englische Aufklärung  108 –– Intentionalität  109, 173 –– Lotze  32 –– Thomas S. Kuhn  96 –– Unreduzierbarkeit  107 ff., 112, 122, 136, 173, 174 Gefühlsaskese  139, 140

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Gegenargumente und Gegenpositionen 138 ff., 174 Gerechtigkeitsempfinden  127, 128 Gesetz der Nichtidentität von Intention und intendiertem Wert  92, 154, 155 Gesetzesberichtigung (Rechtsfindung contra legem)  53 Gesetzeskorrektur  53, 128, 131, 133, siehe auch Gesetzesberichtigung Gesetzesumdeutung  134 Gewissen –– bei Hartmann  118 –– bei Lotze  31 –– bei Scheler  118 Gleichheitsgebot  126 Grenzen der Auslegungskriterien  60, 61 Grundlagen der Husserlschen Phänomenolo­ gie  42 ff. Hartmann, Nicolai  17, 33, 169 Hermeneutik  19, 20, 30, 35, 57, 119, 120, 123, 125, 126, 133, 135, 137, 163, 167, 173, siehe auch hermeneutisch-phänome­ nologische Rechtsphilosophie hermeneutisch-phänomenologische Rechts­ philosophie  19, 20, 30, 35, 135, 163, 167, 173 herrschende Sozialmoral  129, 130 historisches Auslegungskriterium  58 Husserl, Edmund  33, 35, 42 ff., 46, 47, 49, 69, 70, 72, 107, 115, 169, 171 Hutcheson, Francis  108 Idee  37, 41 –– begriffliche und allgemeine Rechtsgrund­ sätze  71 –– Husserl  43, 71, siehe auch Wesen –– Kant  159 –– Platon  35 ff. –– Pseudo-Dionysius  93 Inkommensurabilität  83, 92, 93, 94, 95, 96, 98 ff., 102, 166, 172, 173 –– als denkerische Tradition  93 –– der Rechtswerte  97, 98 –– moderne Wissenschaftstheorie  95, 96 –– und Wertungskompetenz  102, 103 innere Wahrnehmung als Basis der Ethik  117 –– bei Brentano  113

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Personen- und Sachverzeichnis

intentionaler Einheitspol (Husserl)  43, 170 –– als Zielobjekt der Wahrnehmung  171 –– der juristischen Begriffsbildung  70 ff., 79 –– der Wahrnehmung  43 intentionales Fühlen  106, 159, 173 –– Abgrenzung zu Affekten  118 –– Abgrenzung zu Gefühlszuständen  118 –– Abgrenzung zu Stimmungen  118 –– Abgrenzung zum Gewissen  118 –– als emotionales Involviertsein in die Welt und ihre Geschehnisse  111 –– als unmittelbar wertender Wahrnehmungs­ vollzug  118 ff., 122, 123 –– drei Akte des Fühlens bei Hartmann  121, 122 –– Leitfunktion und Unterscheidungsvermö­ gen  122, 123 Intentionalität  31, 32, 69, 107, 109, 111, 112, 115, 116, 118, 122, 125 –– des Bewusstseins  112 –– und Bewusstseinszustände  113 –– zweifache nach Brentano  115 Interessenabwägung  29, 55, 71, 78, 83, 89, 90, 92, 126, 165 intuitive Entscheidungskompetenz  169, siehe auch  emotionale juristische Urteilskom­ petenz (emotionale Kompetenz) –– bei Brentano  115 intuitive Wertung, siehe auch emotionale ju­ ristische Urteilskompetenz (emotionale Kompetenz) –– als Richtmaß für Gerechtigkeit  167 intuitives Moment der Sachverhaltseröffnung  112, siehe auch emotionale juristische Ur­ teilskompetenz (emotionale Kompetenz) Judikative – Mandat der Konkretisierung  166 Judiz  125, 167 juristische Entscheide als Entscheide zwischen Wertungsalternativen  50, 51, 58 ff., 126 juristische Wertungskompetenz  19, 30, 74, 79, 104, 106, 131, 132, 133, 135, 137 juristisches Urteil und moralisches Urteil  136 Kant, Immanuel  26, 37 ff., 49, 66, 76, 92, 106, 108, 109, 124, 155, 157 ff., 167, 171, 174

–– a posteriori  41, siehe auch Erfahrung –– Erkenntnistheorie  39, 40, 165 –– Formalismusvorwurf  157, 158 –– Kritik an Hume  79 –– Raum, Zeit und Kausalität  38 kantische Ethik  37, 38, 41, 108, 157, 158, 162, 163 Kategorischer Imperativ  39, 40, 157, 158, 171 kognitiv  106, 112, 115, 118, 122, 125, 144, 164, 165 Kritik der Beispiele (Kant)  40, 41 Kuhn, Thomas S.  96 Lateranensische Analogie  94 Lieben und Hassen  112, 116, 117, 120 ff. Lotze, Hermann  31, 32 Lücke  52, 53 –– anfängliche  52 –– echte  52 –– Lückenfüllung intra legem  53 –– nachträgliche  52 –– Rechtsanwendung im Lückenbereich  52 –– unechte  53 materiale Richtigkeitskriterien  63 materiale Wertapriori-These  158 materiale Wertethik  33, 34 Methodendualismus  76 –– Kant  40, 41 Methodenehrlichkeit  132, 136 Methodenlehre  58 ff., 61, 63, 163 naturrechtlich  26, 64, 68, 69, 164 Nichtidentität von Intention und intendiertem Wert  155, 156 Nikolaus von Kues, siehe Cusanus noesis und noema  75, 119, siehe auch  Ent­ sprechung von Akt und Gegenstand Non-Refoulement-Gebot  63 Normativität  74, 75, 145, 146, 165, 167 Normenkollision  55 objektiv  22 –– Wertqualität als Intention der Bewertung  23 objektive Inexistenz eines Gegenstandes (Scholastik)  114

Personen- und Sachverzeichnis objektiver Wertgehalt als ethische Dimension  24 Objektivierung  74 –– der juristischen Entscheidung  74 –– juristisch-begriffliche  70, 71 Objektivität  20, 22, 45, 64, 75, 80, 81, 82, 164, 169, 170 –– als Richtigkeitsintenion  163 ff. –– als Richtigkeitskriterium  163 ff. –– bei Soktrates  65 –– der Rechtsordnung  163 –– im Sinne von Scheler und Hartmann  64 –– objektive Wertqualitäten im Recht  74, 75 –– phänomenologische  64, 169, 171 –– phänomenologische Annäherung an  69 ff. –– phänomenologische Objektivität im Recht  69 ff., 79, 80, 82 –– und Apriorität  75, 76 –– und Normativität  74, 75 –– Wertqualitäten  25, 75, 81, 149, 164, 171 ordre du cœur  109, 111 Ordre public  127, 128 Paradoxie  91, 154, 174 –– der Entscheidungsnotwendigkeit  91 –– kontradiktorische axiologische Gegensätze  103 Personalismus  29, 65, 125, 153 Phänomen  17, 19, 20, 22, 33, 42, 69 phänomenologische Objektivität  169, 171, 172 –– im Recht  69 ff., 169 Platon  25, 35, 36, 37, 49, 93, 95, 124, 152, 171 Plotin  93 positive Sozialmoral  142, 167, siehe auch herrschende Sozialmoral Postmoderne  18, 19, 166, 170 praktische juristische Vernunft  168 prärationales Verständnis für eine Entscheid­ lage  128 primär emotionale Akte – Eröffnung von Sachverhalten  112, 167, 173 primäre emotionale Eröffnung von Sachver­ halten  112, 167, 173 Priorität des gefühlsbedingten Erfassens vor der Tätigkeit des Verstandes  124, 125

191

problemorientiertes Denken  37, 102, 103, 157 Propaganda- und Ideologiekritik  141 Pseudo-Dionysius  93, 94 Rangfolge von Werten  83 ff., 172 rational  18, 104, 106, 133, 137, 145, 146, 160, 173 Rationalismus – Rezeption  108 Rechtsanwender  23, 24, 25, 28 ff., 50, 51, 54, 56, 57, 59, 61, 75, 77, 78, 79, 103, 104, 127, 130, 131, 132, 135, 136, 144, 155, 156, 163, 167 –– Wertungskompetenz  167 Rechtsanwendung im Lückenbereich  52 ff. Rechtsgefühl –– als unmittelbar wertender Wahrnehmungs­ vollzug  125 –– Orientierung an der Gemeinschaft  134 –– Überprüfung durch demokratischen An­ spruch auf Mitentscheidung  134 –– Überprüfung durch Orientierung an der Gemeinschaft  134 –– und Hermeneutik  126, 127 Rechtsgefühl und Rechtsintuition  124, 125, 126, 173 –– als intuitives Moment der Sachverhaltser­ öffnung  135, 137 –– bei der Normbildung  131 –– und Vorwissen  127 Rechtsgrundsätze  126 Rechtsmissbrauch  71, 128, 131, 173 Rechtstheorie und Rechtsphilosophie  171 –– Abgrenzung  63 Reduktion –– auf das Wesentliche  45 –– eidetische  45 –– phänomenologische  45, 46 ff., 72, 148 reine Vernunft  38, 39 Relativität  78, 81, 142, 151, 152, 153, 165, 172 –– und Relationalität  153 Richtigkeitsintention  48, 62, 63, 64, 68, 75, 77, 80, 82, 135, 155, 156, 164, 166, 167, 171 Richtigkeitskontrolle  128 ff. Richtigkeitskriterium  167 Sachgerechtigkeit  73 ff., 126, 131, 133, 171

192

Personen- und Sachverzeichnis

–– gegenüber Personen  74, 82 Sachverhaltsanalyse  128, 173 Scheler, Max  17, 33, 169 Schranken des Rechtsgefühls  133, 134 Sein und Sollen  41 Shaftesbury, Earl of  108 sinnliche Erfahrung  42 –– Perspektivität  42 –– Unvollkommenheit  42 sinnliche Wahrnehmung als perspektivische Gegebenheit  42, 43 Spielraum der Wertung  163 subjektiver Faktor –– bei der Wahrnehmung des Sachverhalts  163 –– beim Rechtsanwender  136 –– Transparenz  136 –– und Methodenehrlichkeit  136 subjektives Kriterium der Wertung  130 –– für die Reflexion der Norm  131 –– Kritik  130, 131 –– Transparenz  132 –– und Begründungspflicht  132, 133 –– zur Reflexion der Norm  131, 136 Subjektivismus  138 ff. Synthesis der Rekognition  73, 156 systematisches Auslegungskriterium  58 teleologisch intendierter Mittelwert  156 teleologische Reduktion  59, 60 teleologisches Auslegungskriterium  59, 60 Thomas von Aquin  94, 114 Transparenz  132 transzendentale Erkenntnis –– Husserl  43, 44 –– Kant  38 Unerlässlichkeit normativer Elemente auf der faktischen Ebene  142, 143 Universalisierung  40, 159 Vernunft  76 –– Ergänzung des kantischen Vernunftbe­ griffs durch das Komplement eines pri­ mären emotionalen Erkenntnisvermögens  108, 159 –– intuitive Kompetenzen als Teil der  106, 124

–– praktische juristische mit intuitiven Ele­ menten  135 –– und Gefühl  159, 160 –– und Sinnlichkeit, Überwindung der Ge­ gensätzlichkeit  107, 108 vernünftig  74, 100 –– als juristisches Kriterium  76, 126, 130 Verstand und Gefühl – Biologie der Gefühle  146 Vorverständnis  39, 57, 58, 126, 135, siehe auch Hermeneutik vorwerten, siehe Vorwertung Vorwertung  56, 112, 119, 126 ff., siehe auch Hermeneutik Vorwissen  57, 123, 127, siehe auch Herme­ neutik Vorziehen und Nachsetzen  85, 120, 121 Wahrnehmung  114 –– als Orientierungskriterium  17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 26, 28, 35, 40, 41, 42 ff., 44, 45, 46, 48, 58, 69, 70, 71, 77, 79, 83, 93, 100, 107, 108, 113, 117, 118, 119, 122, 123, 135, 146, 148, 149, 157, 159, 163 ff., 167, 173 –– als perspektivische Gegebenheit (am Bei­ spiel eines Würfels)  42, 43, 171 –– objektive Inexistenz des Gegenstandes  114 –– primäre Verständlichkeit  164 –– und Wertungskompetenz  165 –– zugleich Wertempfinden  167 Wert  164 –– Begriffsbestimmung  20 ff. –– Doppeldeutigkeit  20 –– ethischer Bezugspunkt für die emotionale Richtigkeitsintention  164 –– objektive und subjektive Elemente  22 ff. –– Objektivität  164 –– Qualität  22 –– qualitatives Merkmal  17 Wertantinomie  103, 154 ff. Wertbedingtheit des Rechts  171, siehe auch Wertungserfordernis in der Rechtsanwen­ dung Wertekollision  154, 155, 156 Wertekonflikte  83, 88, 89, 92, 96, 154, 155, 172

Personen- und Sachverzeichnis Werterangfolge  27, 83, 87, 104, 165, 171 –– als Differenzierungsleistung  157 –– und juristische Entscheidungskompetenz  105 Werterelation  27, 83 ff., 169, 172 –– am Beispiel der Ruhe in einem Wohn­ quartier  27, 172 Wertevielfalt  18, 19, 151 –– unterschiedlicher moralischer Systeme 151 Wertfühlen, siehe auch intentionales Fühlen, Wertgefühl –– als grundlegendes emotionales Unterschei­ dungsvermögen bei Scheler  111, 112 Wertgefühl  22, 28, 35, 84, 119, 122, 124, 125, 134, 159, 173, siehe insb. auch  in­ tentionales Fühlen –– und Begründungspflicht  132, 133 Werthöhe und Wertstärke  86, 173 –– am Beispiel von Freiheitsrechten  86, 87 Wertnihilismus  138, 139 Wertqualität  21, 22, 48, 70 –– als intentionaler Einheitspol der juristi­ schen Begriffsbildung  70 Wertsubjektivismus  23, 138 ff., 142 ff. Wertträger  20 ff., 49

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Wertung für ethisch relevante Entscheidun­ gen  73 Wertungserfordernis in der Rechtsanwendung  50 ff., 60, 62, 80, 163 Wertungserfordernisse der Sprache  56, 57 Wertungskompetenz des Rechtsanwenders  74, 102 ff., 135, 157 Wesen, siehe auch  intentionaler Einheitspol (Husserl), Synthesis der Rekognition –– Sache selbst (Husserl)  33 Wichtigkeitsbesetzung –– durch die fühlende Wahrnehmung  112, 125, 143, 146, 165, 173 –– spontane intuitive  135 Willkürverbot  127, 128, 173 wissenschaftliche Methode  150, 174 –– empirische Prämisse  150 –– phänomenologische Prämisse  150 Wortlaut der Norm  54, 58 Würdigung  163 ff., 174 Zweistufiges Konzept der Erkenntnis  123, 173 φίλον (philon, ein Liebenswertes)  36