Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus: Eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich. Hrsg. von Wolfram Fischer [1 ed.] 9783428503841, 9783428103843

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit der amtlichen Bevölkerungsstatistik mit den Machthabern des Dritten Reiches beson

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Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus: Eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich. Hrsg. von Wolfram Fischer [1 ed.]
 9783428503841, 9783428103843

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JUTIA WIETOG

Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus

Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte In Verbindung mit Rainer Fremdling, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hartmut Kaelble und Herbert Matis herausgegeben von Wolfram Fischer

Band 66

Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus Eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich

Von Jutta Wietog Herausgegeben von Wolfram Fischer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Wietog, Jutta:

Volkszählungen unter dem Nationalsozialismus: eine Dokumentation zur Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich I Jutta Wietog. Hrsg.: Wolfram Fischer.- Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ; Bd. 66) ISBN 3-428-10384-X

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0588 ISBN 3-428-10384-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort des Herausgebers Diese Studie ist auf Wunsch des Statistischen Bundesamtes entstanden. Als das Bundesministerium des Ionern im Dezember 1997 den Auftrag dafür gab, war die Hoffnung groß, daß in den statistischen Landesämtern der neuen Bundesländer bisher unausgewertetes Material zu dem Thema Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich vorhanden sei. Doch wie in den alten Bundesländern, so waren hier ebenfalls keine Unterlagen mehr zu finden . In den Archiven sind die Akten der statistischen Ämter meist nur noch ein Torso, wenn nicht gar vollständig vernichtet. Auch die Überlieferung des Statistischen Reichsamts im Bundesarchiv ist lückenhaft; so fehlen z. B. weitgehend die Akten der Abteilung Bevölkerungsstatistik, die im Laufe des Zweiten Weltkrieges in eine Außenstelle nach Würzburg ausgelagert wurde und deren Unterlagen dort verbrannten. Trotzdem konnte dank der Hilfe der Mitarbeiter der erwähnten Institutionen einiges an Material zusammengetragen werden, das diese Studie ermöglichte. Die Statistiker reagierten auf das Thema der Studie positiv. Alle waren sich einig, daß eine Aufarbeitung der Rolle der amtlichen Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich notwendig, ja überfällig sei. Doch wie in anderen Organisationen und Disziplinen, die sich mit der eigenen Vergangenheit in nationalsozialistischer Zeit befassen, schwang bei manchen auch ein Unbehagen mit, gehörten doch einige ihrer wissenschaftlichen Lehrer und früheren Vorgesetzten noch der Generation an, die schon im Dritten Reich zu Amt und manchmal zu Würden gelangt war. Um so höher ist es einzuschätzen, daß das Statistische Bundesamt zusammen mit dem Bundesinnenministerium die Möglichkeit geschaffen hat, die nachfolgende Untersuchung durchzuführen. Zwölf Monate standen dafür zur Verfügung - zu kurz, um das über ganz Deutschland (und darüber hinaus) verstreute Archivmaterial bis in alle Facetten erschließen oder gar auswerten zu können, aber lang genug, um in vielen Bereichen zu gesicherten Erkenntnissen zu kommen. Die relativ kurze Bearbeitungszeit machte es notwendig, sich auf die wichtigsten Archive in der Bundesrepublik Deutschland zu beschränken, so daß Unterlagen, die in Archiven in Österreich, Polen, Tschechien oder gar Moskau lagern, von deren Relevanz aber auch wenig bekannt ist, nicht herangezogen werden konnten. Der Dank der Autorio gilt in erster Linie den Initiatoren der Studie, insbesondere dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Herrn Johann Hahlen. Er und seine Mitarbeiter, besonders Herr Hermann Glaab, haben die Untersuchung mit kritischem Interesse begleitet, ohne auf die erarbeiteten Ergebnisse Einfluß zu nehmen. Der Dank gilt auch den Archivaren sowie den Mitarbeitern der statistischen Landes-

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Vorwort des Herausgebers

ämter und des Statistischen Bundesamtes, die bei der Materialsuche behilflich waren, sowie vielen anderen, die mit Rat und Hinweisen halfen, so auch Dr. Rainer Metschke vom Berliner Datenschutzbeauftragten. Besonderer Dank geht auch an Mitarbeiter des Statistischen Landesamtes Hamburg, Herrn Klaus Jungbluth vom Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz, Professor Eckart Elsner vom Statistischen Landesamt Berlin sowie Herrn Stefan Gruber vom Statistischen Bundesamt für die Unterstützung, die sie ihr zuteil werden ließen. Berlin, im September 2000

Wolfram Fischer

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Die "Erfassung" der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Die Volkszählung 1933: Erste Eingriffe der neuen Machthaber in die amtliche Statistik .. . ...................... . . . ...................... . .......... ......... . ; . . . . . . . I. Die Statistik in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. .. . . 2. Die Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1925 .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .... . 3. Der Kampf um die Volkszählung 1930ff. .. .. .... .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. II. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und die Volkszählung 1933........... . . . ............ . ....... ... .. . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der 30. Januar 1933 und seine Folgen für die amtliche Statistik . . . . . . . . . . . . . 2. Die letzten Verhandlungen über die Volkszählung 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Durchführung der Volks-, Berufs- und Betriebszählung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Die amtliche Statistik auf dem Weg zur Volkszählung 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Wunsch nach einer reichsweiten Erfassung der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Denkschrift des Statistischen Reichsamts und die Vorbereitung der Volkszählung 1938 ... ....... . .. ... . . . .. .. .. .. . .. . .. . . . . . . . .. . .. .. . .. . . . . . .. . .. . . . .... .. III. Die amtliche Statistik zwischen Annäherung und Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Wandel des Statistikgeheimnisses .. . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . V. Die Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1939 .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. 1. Die Werbung und Schulung der Zähler sowie die Durchführung der Volkszählung .......... . ................................. . ......... .. . . ....... . ...... . .. 2. Der Beginn der Volkszählungsauswertung . . . . . . . . .. . .. . . .. . . . . .. . . . . . .. . . . . .

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E. Die Bevölkerungsstatistik unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges ... . I. Das Sofortprogramm . . . . . .. . . . . . . .. .. . .. .. . . . .. . . . . . . . . .. .. . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . II. Die Anlage von Sonderkarteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausländerkartei ..... . . . ...... .. ......... .. ................. . . . .. . ........ . 2. Die Kartei der deutschen Reich·sangehörigen fremder Volkszugehörigkeit ..._. III. Die ,,Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung" .. . .... 1. Der Verzicht auf die Auswertung der Angaben zur Vorbildung . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Behandlung der Ergänzungskarte durch die Statistik ... . . . .... . ...... . .. 3. Die Ergänzungskarte und das Meldesystem . .... ................ .... ..... .. .. IV. Die Volkszählung und die Judenverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bevölkerungsstatistik und Wirtschaftsstatistik während des Krieges . . . . . . . . . . . . VI. Das Ende .......... . ........ . ... ... ....... . .. . ... . . . .. . . . ...... . .. . ............. . .

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F. Die amtliche Bevölkerungsstatistik und ihre Einbindung in die nationalsoziali· stischen Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. .. . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . 186

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Inhaltsverzeichnis

G. Biographischer Anhang ...... . .. . ............... . .. . ... ... ............ . ... . ......... I. Friedrich Burgdörfer ...... . .... . .................. . . .. . . ........... . ... . . . .. . .. . . II. Curt Godlewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Richard Korherr- der Inspekteur für Statistik in der SS- und die Statistik der ,,Endlösung der Judenfrage" ... . .................... . . . ................ . .... . .... IV. Roderieb Plate ............ . .. . . . .................. ...... .. . ............ . . . .. . .... V. Wolfgang Reichardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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H . Dokumentenanhang und Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dokumente . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auszug aus einem Schreiben der NSBO vom 14. März 1933 an den Staatssekretär Hans Pfundtner . .. . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . .. . .. . .. . .. . . . .. . .. . . . . . . . .. 2. Schreiben von Achim Gercke an Curt Godlewski vom 14. März 1933 . . . . ... 3. Bericht von Dr. iur. Ernst Rosenthai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. ,,Notwendigkeit und Bedeutung einerneuen Volks-, Berufs- und Betriebszählung" . . . . ....... . ....... . .. . . . .............. . ... . . . ....................... . .. .. 5. Auszug aus einem Schreiben des Reichswirtschaftsministeriums II A Nr. 268/33 vom 9. Oktober 1933 an die Regierungen der Länder ... . . . .. . . . . 6. Gesetzliche Grundlagen der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 17. Mai 1939 ............ . ......................... . . . ..................... . . . . 7. Auszug aus dem Bericht von Dr. Martha Mosse, Reichsvereinigung der Juden, vom 23./24. Juli 1958 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung .. . .. . II. Übersicht über die verschiedenen Karteien und ihre Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I . Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung (Ergänzungskarte) ...... .. ..................... . .......... .. . .......... . ... .... . .. . ... 2. Ausländerkartei . .. . . . . .. . . . .. . . . . .. . .. . . .. . . .. . .. . .. .. . . . . . .. . .. .. . .. . .. . . . . . . 3. Kartei der deutschen Reichsangehörigen fremder Volkszugehörigkeit (Volkstumskartei) . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . . 4. Volkskartei . .. . . . . . .. . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . .. .. . . . . . .. . . . .. 111. Glossar und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Quellen und Literatur . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . .. . . . .. . . .. . .. .. . . . . . . .. . . .. . . . .. 283 I. Archivunterlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 II. Monographien und Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . .. . 299

A. Einleitung Der moderne, rationale Staat wird u. a. gekennzeichnet- und zwar unabhängig von der Regierungsform -durch sein großes Informationsbedürfnis, das wesentlich durch die Statistik, allgemein definiert als die Beobachtung und Beschreibung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Massenerscheinungen und ihrer Regelmäßigkeiten, befriedigt wird. Gleichzeitig gibt die Statistik Möglichkeiten zur Hand, Entwicklungen zu kontrollieren. Im Idealfall ist die Überwachung gegenseitig. Diese gegenseitigen Kontrollmechanismen verlieren in einer Diktatur, die sich einer öffentlichen Kontrolle entzieht und statistische Ergebnisse z. T. zu Staatsgeheimnissen erhebt, jedoch ihre Wirksamkeit. Gleichzeitig wird der Informationsbedarf einer Diktatur mit zentraler Planung und Verwaltung gegenüber dem einer Demokratie immer umfassender und hemmungsloser, und damit wachsen auch die Ansprüche an die amtliche Statistik, die wie jede andere öffentliche Institution in die politischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit eingebunden ist und die im Dritten Reich teilweise als "Mittel einer besonders wirksamen, weil nicht bekämpfbaren Propaganda" angesehen wurde.• Als Götz Aly und Karl Heinz Roth 1984 ihre Studie über "Die restlose Erfassung"2 im Nationalsozialismus veröffentlichten und damit erstmals die amtliche Statistik jener Zeit im breiteren Umfang beleuchteten, hatten sich in der Bundesrepublik Deutschland Befürworter und Gegner gerade eine erbitterte Debatte über Sinn und Unsinn, Vorteile und Gefahren einer umfassenden Volkszählung geliefert. Der Streit hatte zu einer Aussetzung des für 1983 geplanten Zensus geführt und endete vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Jahr 1987 schließlich brachte ein durch eine höchstrichterliche Entscheidung notwendig gewordenes neues Statistikgesetz und die Volkszählung, die allerdings immer noch von Teilen der Bevölkerung boykottiert wurde. Dieses neugefaßte Statistikgesetz verfügte u. a. wesentliche Einschränkungen bei der Weitergabe personen- und institutionenbezogener Daten auch an amtliche Stellen. So unterband es etwa den gewohnten Melderegisterabgleich mit den Unterlagen der Volkszählung. 3 1 Arnold Madle, Wirtschaftsordnung und Statistik, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 9 (1939), s.624. 2 Götz Aly!Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Berlin 1984; überarbeitete Neuausgabe Frankfurt am Main 2000. Zitiert wird im folgenden nach der Neuausgabe. J Siehe hierzu Holger Poppenhäger, Die Übermittlung und Veröffentlichung statistischer Daten im Lichte des Rechts auf informationeHe Selbstbestimmung. Berlin 1995, S.27ff.; Otto Ziegler, Statistikgeheimnis und Datenschutz. Eine Analyse der Entwicklung der statistischen

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Alys und Roths Studie war geprägt von den Auseinandersetzungen der frühen 1980er Jahre und sympathisierte mit den Volkszählungsgegnern. Hierin liegt auch eine der Schwächen des Buches begründet. Zum anderen sind Argumentationsketten zum Teil anhand der Verweise nicht nachvollziehbar, werden Absichtserklärungen von damaligen Akteuren als vollzogene Tatsachen gesehen und kommt es aufgrundvon Mißverständnissen zu Fehlinterpretationen.4 Die beiden Autoren behaupten nicht nur einen praktisch nahtlosen Übergang der amtlichen Statistik der Weimarer Republik in das Gefüge und Gedankengut des nationalsozialistischen Staates und einen von den amtlichen Statistikern in Zusammenarbeit mit den Machthabern vorbereiteten und beabsichtigten Mißbrauch gesammelter personenbezogener Daten, sondern auch eine Übertragung einiger dieser Vorstellungen - von der weitgehenden Erfassung der Bevölkerung bis hin zu familienstatistischen Fragestellungen- in die statistische Arbeit der ersten eineinhalb Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland. Es ist bedauerlich, daß diese Arbeit die einzige größere Untersuchung der Geschichte der Volkszählungen im Dritten Reich blieb. Weder in der Wissenschaft noch in der amtlichen Statistik war bisher das Interesse groß genug gewesen, sich mit diesem komplexen Thema intensiver auseinanderzusetzen. Selbst eine Geschichte des Statistischen Reichsamts existiert nicht; und die Festschriften zu den Jubiläen von statistischen Landesämtern oder städtischen statistischen Ämtern halten nicht immer einer wissenschaftlichen Kritik stand. So würdigte z. B. noch 1983 die Festschrift zum ISOjährigen Bestehen des Bayerischen Statistischen Landesamtes dessen von 1939 bis 1945 amtierenden Präsidenten Friedrich Burgdörfer, ohne auch nur im geringsten auf seine Rolle im Dritten Reich einzugehen.5 Das aber lag insgesamt im Trend der Bevölkerungswissenschaft, zu der die Bevölkerungsstatistik zu zählen ist. Auch diese beginnt sich, abgesehen von einigen Ausnahmen, erst seit kurzem und unter großen Schwierigkeiten mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.6 Aly und Roth gingen davon aus, daß die Reduktion des Menschen auf eine nackte Zahl die Grundlage der Verfolgung darstellte; nicht nur seien damit der Jude, der ,Zigeuner' und andere Verfolgte der Nationalsozialisten entmenschlicht worden, Geheimhaltung und der Übermittlung statistischer Daten vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Datenschutzes. München 1990, S. l54ff. 4 Siehe dazu die verschiedenen Hinweise im folgenden Text. s 150 Jahre. Amtliche Statistik in Bayern von 1833 bis 1983. Zum ISOjährigen Amtsjubiläum herausgegeben vom Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung. München 1983, S. 12 (mit zum Teil falschen Angaben); zu Burgdörfer vgl. unten den Biographischen Anhang G, S. 197 ff. 6 Vgl. hierzu Rainer Mackensen (Hrsg.), Bevölkerungsfragen auf Abwegen der Wissenschaften. Dokumentation des 1. Colloquiums zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert. Opladen 1998; Bemhard vom Brocke, Bevölkerungswissenschaft- Quo vadis? Möglichkeiten und Probleme einer Geschichte der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland. Opladen 1998; Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.), Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik. Nördlingen 19!!6.

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sondern erst die Erfassung, auch durch die Volkszählungen, habe Selektion, Verfolgung und Vernichtung ermöglicht: Es sei "nicht die Ideologie von Blut und Boden, auch nicht das bis Ende 1944 durchgehaltene Prinzip von Kanonen und Butter" gewesen, was die nationalsozialistische Herrschaft festigte und die Voraussetzungen für millionenfachen Mord schuf, "es waren nackte Zahlen, Lochkarten, statistische Expertisen und Kennkarten. Jede Marsch- und Arbeitskolonne existierte zunächst als Zahlenkolonne, jeder Vernichtungsaktion ging die Erfassung voraus, die Selektion an der Rampe beendete die Selektion auf dem Papier."7 Sicher wollten Aly und Roth damit nicht behaupten, es hätte ohne Statistik und ohne Buchführung keinen Massenmord gegeben. Wichtig ist ihre Betonung von Rationalität in den Entscheidungsprozessen, die wegführt von der Fixierung auf die Ideologie, besonders auch auf den Antisemitismus Hitlers als der treibenden Kraft für den Mord an den Juden. Diese Interpretationslinie erfuhr eine Fortsetzung u. a. in dem Buch von Aly und Heim über die "Vordenker der Vernichtung", in dem die "jungen, aufstiegsorientierten Praktiker und Akademiker" im Mittelpunkt stehen und die Arbeit der "Wirtschafts- und Verwaltungsfachleute, der Raumplaner, Statistiker und Agronomen, Arbeitseinsatzspezialisten und Bevölkerungswissenschaftler" ,seiner "Planungselite", wie es dann in Alys Studie über die "Endlösung" heißt, untersucht wird. 9 Diese Verlagerung der Diskussion weg vom Primat der Hitlerschen Ideologie führte zu recht zu einer Betonung einer breiteren, auch die Technokraten einbeziehenden Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen, sie birgt aber auch die Gefahr, ,Nebenkriegsschauplätze' in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken und Randerscheinungen zu zentralen Ereignissen zu erheben. So läßt sich darüber streiten, ob der Statistik, den Zahlen oder gar Lochkarten für die Festigung der Herrschaft eine derartige Schlüsselstellung zukam, wie es Aly und Roth behaupteten. Sicher ist jedoch, daß alle Elemente, die die Verwaltung eines modernen Staates funktionsfähig erhalten, den Herrschenden den für die Durchführung ihrer Pläne notwendigen Handlungsspielraum verschaffen. 111 Schon Raul Hilberg, dessen umfangreiche Arbeit über "Die Vernichtung der europäischen Juden"11 erstmals 1961 erschien, hatte die Verantwortung der Bürokratie und der vielen willfährigen Beamten ins Zentrum seiner Betrachtung gestellt und nach der Art und Weise der Durchführung des Genozids gefragt. Für die Chronologie des Mordens stellte er folgendes Schema auf: Definition der Opfer -+ ihre Enteignung-+ ihre Konzentration (zum Teil in Ghettos)-+ mobile Tötungsoperationen Aly!Roth, Die restlose Erfassung, S. 11. Götz Aly!Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Harnburg 1991, S. 14 u. S. l3. 9 Götz Aly, ,,Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt arn Main 21995, S. 13. 10 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungswissenschaft in Republik und Diktatur 1914- 1945. München 1999, S.404f. 11 Rauf Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. 3 Bde. Durchgesehene und erweiterte Ausgabe Frankfurt arn Main 1990. 7

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in den besetzten Teilen der Sowjetunion bzw. Deportationen und Vernichtungslager im übrigen besetzten Europa. 12 Auch wenn Hilberg später die Bedeutung der Bürokratie nicht minimierte, kehrte er letztlich zu der Klammer all dieses Tuns zurück, zum für die ,Endlösung' als zentral anzusehenden Antisemitismus Hitlers, denn dieser sei "der leitende Architekt der jüdischen Katastrophe" gewesen. 13 Dieser Katastrophe hätte wahrscheinlich der "letzte Impuls" gefehlt, so schreibt Philippe BurTin, wäre Hitler Mitte 1941 gestorben. 14 Ähnlich sieht es auch Ian Kershaw, der ebenfalls glaubt, daß es ohne Hitlers Fanatismus die Ermordung der europäischen Juden wohl nicht gegeben hätte. Doch hätten sich die traditionellen Eliten, die Wehrmacht oder die überkommenen Behörden dem Rassenwahn verweigert, wäre es ebenfalls kaum dazu gekommen. 15 Der Frage, warum dieser "Architekt" so viele ehrgeizige und kompetente Helfer fand, die als Organisatoren und Verwaltungsfachleute oder auch als vermeintlich durchschnittliche Deutsche in den Polizeibataillonen selbst seinen mörderischsten Vorstellungen folgten, ging auch Daniel J. Goldhagen in seiner vieldiskutierten Studie über "Hitlers willige Vollstrecker" 16 nach. Seinem Versuch, den Holocaust mit einem breiten, auf Eliminierung der Juden ausgerichteten und in der deutschen Bevölkerung fest verwurzelten Antisemitismus zu erklären, ist zum Teil heftig widersprochen worden, 17 doch zeigt die Diskussion, daß es bis heute keine allumfassende Antwort - und schon gar nicht eine monokausale- auf diese Frage nach dem Warum gibt und wahrscheinlich nie geben wird. Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht aber ein anderes Problem, nämlich die mögliche Verstrickung der amtlichen Statistik in die Judenverfolgung. Besonders anband der Volkszählung 1939 wird der Frage nachgegangen, wie weit die bis 1933 praktizierte Form des (erst heute so bezeichneten und gesetzlich fixierten) Statistikgeheimnisses unter der nationalsozialistischen Diktatur beibehalten oder durchbrachen wurde. So geht es im folgenden nicht um Ergebnisse und methodische Fragen der Statistik, nicht um eine vollständige Geschichte der Bevölkerungsstatistik oder der statistischen Ämter im Dritten Reich, auch weniger um eine Analyse der vielen öffentlichen Äußerungen von Statistikern, in denen sie sich mit graduellen Unterschieden zum neuen Staat und seinen Grundlagen bekannten, oder gar um eine kollektive Biographie, für die über die Akteure und ihre PersönlichEbd., Bd.l, S.56. Rau/ Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt am Main 1996, S. 30. 14 Philippe Burrin, Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Vdlkerrnord. Frankfurt am Main 1993, S. 174. 15 Vgl./an Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Überarbeitete Neuausgabe. Reinbek bei Harnburg 1994, S.192f.; siehe auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S.405. 16 Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1998. 17 Vgl. etwa Christopher Browning, Der Weg zur ,,Endlösung": Entscheidungen und Täter. Bonn 1998, S. 161-179; zur Diskussion siehe auch Dieter Pohl, Die Holocaust-Forschung und Goldhagens Thesen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), S. 1-4R. 12

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keitsstrukturen viel zu wenig bekannt ist. Im Mittelpunkt des Interesses steht die interne Zusammenarbeit zwischen der amtlichen Bevölkerungsstatistik und den Machthabern des Dritten Reiches, den staatlichen Stellen, der NSDAP, der Gestapo, dem SD. Wurden dabei personenbezogene Daten zum Schaden der betroffenen Individuen für nationalsozialistische Ziele, für die Verfolgung, Deportation und damit zur Ermordung der Juden zur Verfügung gestellt? War die amtliche Statistik hier eine unverzichtbare Institution, die ihre Möglichkeiten bei der Datenerfassung aktiv in die Judenverfolgung einbrachte? Immerhin wertet die Forschung das Gesetz über die Durchführung einer Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 4. Oktober 1937, das die Grundlage der Volkszählung 1939 bildete, die eine Erfassung der Juden nach ,rassischen' oder ,blutmäßigen' Gesichtspunkten vorsah, nicht nur als "Sonderrecht für die Juden", sondern sieht es auch unter dem Gesichtspunkt "Gesetzliche Maßnahmen zur Lösung der Judenfrage". 18 Der Verdacht, daß besonders die bei dieser Zählung eingeführte Frage nach der ,arischen' Abstammung der Großeltern und die dadurch ermöglichte Selektion der ,Rassejuden' und ,jüdischen Mischlinge' deren namentlicher Erfassung für die Gestapo und damit der Vorbereitung des Holocaust diente, ist nicht neu. 1961 z.B., als das Statistische Bundesamt gerade versucht hatte, die Zahl der jüdischen Opfer des Holocaust festzustellen, sprach der Historiker Baruch Ophir von der israelischen Gedenk- und Forschungsstätte Yad Vashem anläßlich eines Besuches zwecks eigener Recherchen die Vermutung aus, daß sich 1939 die Gemeinden Auszüge aus der bei der Volkszählung gesondert auszufüllenden "Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung" verschafft hätten. Dieses hatte Kurt Horstmann, ein Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt, der 1939 im Statistischen Reichsamt mit der Auswertung der Berufszählung und später auch mit der Volkszählung selbst betraut gewesen war, als "nicht möglich" bezeichnet. Auch die Annahme, diese Ergänzungskarten seien 1941 in die Hände der Gestapo gelangt, wurde von ihm als kaum wahrscheinlich angesehen, "weil die statistische Auswertung noch nicht abgeschlossen" gewesen sei. Die Gemeinden hätten zudem einfachere und genauere Möglichkeiten besessen, sich Zahl und Anschriften der Juden zu beschaffen, nämlich über die Meldekartei, die Standesamtsregister, die Lohnsteuerkartei und über die Erfassungsbogen der jährlichen Personenstandsaufnahme für Steuerzwecke. 19 Auch Raul Hilbt:i:g erwähnte fast alle diese Quellen, fügte der Liste aber noch eine weitere hinzu: die Angaben der Jüdischen Gemeinden selbst.20 Derartige Hin18 Joseph Walk (Hrsg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien- Inhalt und Bedeutung. Heidelberg 2 1996; lohn Mendelsohn (Hrsg.), The Holocaust. Selected Documents in Eighteen Volumes. Bd. I : Legalizing the Holocaust. The Early Phase, 1933-1939. New York u. London 1982, S. I . 19 Statistisches Bundesamt, VIII/I a- D21/0l - We/Fr, Vermerk vom 29. Juli 1961. Die Personenstandsaufnahme diente der jährlichen Erfassung der Steuerzahler und wurde von den Finanzbehörden bzw. in ihrem Auftrag durchgeführt. 20 Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden Bd. 2, S. 476-487.

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weise mußten als weitgehend überholt gelten oder gar im Falle der Statistiker als reine Schutzbehauptungen gewertet werden, als durch die Untersuchung von Aly und Roth bewiesen schien, daß die Daten aus der "Ergänzungskarte für Angaben über Abstammung und Vorbildung" bereits 1940 die Grundlage einer reichsweiten J udenkartei lieferten.21 Damit konnten die Autoren die amtliche Bevölkerungsstatistik in eine direkte Linie zum Massenmord an den Juden stellen. Diese Ergebnisse finden jedoch erst seit kürzerem Eingang in die Forschung, etwa in dem 1998 erschienenen Buch von Saul Friedländer über "Das Dritte Reich und die Juden" ,22 der dieser Darstellung und ergänzenden Hinweisen bei Klaus Drobisch23 folgt und zu dem Ergebnis kommt, daß die Volkszählung vom Mai 1939 "die Gelegenheit zur vollständigen Registrierung sämtlicher Juden in Deutschland (einschließlich der Halbund Vierteljuden)" bot. "In jeder Stadt und in jedem Dorf sorgte die örtliche Polizei dafür, daß die Volkszählungskarten von Juden und Mischlingen als Kennzeichen den Buchstaben ,J' trugen; Kopien aller örtlichen Volkszählungslisten sollten an den SD gesandt und an II 11224 weitergeleitet werden. Die Volkszählung fand wie vorgesehen statt. Die Juden wurden registriert, wie geplant war, und die Karteien erfüllten ihre Funktion, als die Deportationen begannen." 25 Abgesehen davon, daß hier ein Mißverständnis vorliegt und zwei unterschiedliche Vorgänge -die Volkszählung 1939 und die kurze Zeit später zur Ergänzung der Melderegister eingerichtete Volkskartei, in der die Karten der Juden tatsächlich mit einem ,J' bzw. mit besonderen Karteireitern gekennzeichnet waren - miteinander vermengt werden, muß dem Kern dieser Behauptung, daß die Volkszählung 1939 die Daten für eine reichsweite Judenregistrierung lieferte und die Voraussetzung für die späteren Deportationen und Massenmorde legte, nachgegangen werden. Will man jedoch die Besonderheiten der amtlichen Bevölkerungsstatistik im Dritten Reich und besonders der Volkszählung 1939 herausarbeiten, so ist das nur möglich, wenn auch auf die Volkszählung von 1925 und ausführlicher auf die von 1933 eingegangen wird, denn obwohlletztere in den Grundzügen schon Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme konzipiert worden war, gab es erste Anzeichen für eine veränderte Handschrift. Gleichfalls muß die Lage der amtlichen Statistik insgesamt in die Betrachtung einbezogen werden, und es geht nicht ohne ein minimales Verständnis für den technischen Ablauf einer Volkszählung, der für den Gang der Ereignisse nicht unwesentlich ist. Angesprochen wird in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie andere Stellen - staatliche, aber auch private -mit individuellen Daten umgingen. Aly!Roth, Die restlose Erfassung, S. 12. Sau/ Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Bd. I: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. München 1998. 2; Klaus Drobisch, Die Judenreferate des Geheimen Staatspolizeiamtes und des Sicherheitsdienstes der SS 1933 bis 1939, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 242. 24 li 112 war die für Judenangelegenheiten zuständige Abteilung des Sicherheitsdienstes (SD). 25 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S.21R. 21 22

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Beschränkt ist die Studie26 auf die amtliche Bevölkerungsstatistik im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937. Zwar wurde die Volkszählung 1939 auch im im Jahr zuvor ,angeschlossenen' Österreich und im Sudetenland, das im Münchener Abkommen vom 30. September 1938 Deutschland zugesprochen worden war, durchgeführt, doch wird der dortige Umgang mit den Volkszählungsdaten hier nicht weiter thematisiert. Ausgeblendet bleiben auch die Zählungen in von Deutschland besetzten Ländern, wie in Polen,27 den Niederlanden, Norwegen28 oder in Frankreich,29 die sich z. T. auf Juden beschränkten, damit reine Registrierungen waren und von vornherein zum Zwecke der Internierung bzw. Deportation durchgeführt wurden, also mit dem, was allgemein unter einer Volkszählung verstanden wird, nichts zu tun haben. Eine Schwierigkeit bei dieser Studie war die Tatsache, daß bis heute keine Geschichte des Statistischen Reichsamts existiert. So konnte die Verankerung dieses Amtes in der Politik des Nationalsozialismus und seine mal größere, mal geringere Wertschätzung durch die Machthaber immer nur schlaglichtartig im Zusammenhang mit den Volkszählungen beleuchtet werden. Seine Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsstatistik und die mögliche Bedeutung, die das Statistische Reichsamt u. Die Zitate des folgenden Textes sind original, also auch mit Schreib- und Grammatikfehlern übernommen worden, ohne daß ständig ein [sie!] hinzugesetzt wurde. Die unterschiedlichen Hervorhebungen in den Originalen sind einheitlich kursiv gekennzeichnet und stammen alle von den jeweiligen Autoren. Ergänzungen und Erklärungen sind in eckige Klammem gesetzt. Die relativ häufigen und zum Teil umfangreichen Quellenzitate sowie der Abdruck einiger Dokumente bzw. von Auszügen daraus im Anhang H sollen es dem Leser ermöglichen, sich ein besseres Bild zu verschaffen und der Interpretation zu folgen. 27 Im besetzten Polen oblag den Landratsämtern die Zusammenstellung der Deportationslisten von Juden und Polen. Zur Erfassung mußten sich die Menschen in die Melderegister zur Volkszählung eintragen. Wer das nicht tat, erhielt keinen Meldeschein und konnte bei einer Kontrolle sofort getötet werden; vgl.lngo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der "Volksturnskarnpf' im Osten. Göttingen 2000, S.339. 28 Vgl. hierzu die kurze Zusammenfassung bei William Seltzer, Population Statistics, the Holocaust, and the Nurernberg Trials, in: Population and Developrnent Review 24 (1998), S.519ff.; ausführlichere Hinweise bei Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945. Berlin 5 1979, und Hi/berg, Die Vernichtung der europäischen Juden, besonders Bd. 2. 29 Zu dem Problern der Judenzählungen und der trotz der vorliegenden Studien nicht vollständig geklärten Ausnutzung dieser Erhebungen bei den Deportationen der Juden durch die Deutschen sowie zur Zusammenarbeit auf diesem Gebiet im besetzten und unbesetzten Teil Frankreichs siehe besonders: Le ,,Fichier Juif'. Rapport de Ia cornmission presidee par Rene Remond au Premier ministre. Paris 1996; Jean-Pierre Azema!Raymond Levy-Bruhl!Beatrice Touchelay, Mission d'analyse historique sur Je systeme de statistique fran~ais des 1940 a 1945. Ms. IN SEE 1998; Juliane Wetze/, Frankreich und Belgien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München 1996, S. 105-135; Ulrich Herbert, Die deutsche Militärverwaltung in Paris und die Deportation der französischen Juden, in: ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen. Frankfurt am Main 1998, S. 170-208; zur Besatzungspraxis allgemein Rita Thalmann, Gleichschaltung in Frankreich 1940-1944. Harnburg 1999.

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hier im Zusammenhang mit der Plan- und Wehrwirtschaft besaß, können nicht eingeschätzt oder miteinander verglichen werden. Ebenfalls nicht in die Betrachtung mit einbezogen wird die Nachkriegszeit und damit die Frage, wie der Aufbau der amtlichen Bevölkerungsstatistik nach 1945 vonstatten ging und welche personellen und ideellen Brüche bzw. Kontinuitäten auftraten. So bleibt auch ein Mann wie Siegfried Koller ausgeblendet, der in der Nachkriegszeit im Statistischen Bundesamt für fast ein Jahrzehnt die Bevölkerungsstatistik mitprägte und mit der Entwicklung des Mikrozensusverfahrens eine wesentliche, noch heute bestehende methodische Neuerung einführte. Koller arbeitete während des Dritten Reiches zwar auf statistischem Gebiet, er gehörte jedoch nicht zur amtlichen Bevölkerungsstatistik, d. h. er war kein Mitarbeiter eines statistischen Amtes. Auch wenn seine Wege zeitweilig die der Bevölkerungsstatistiker kreuzten und er sich zusammen mit dem Professor für Rassenhygiene und aktiven NSDAPMitglied Heinrich Wilhelm Kranz durch das dreiteilige Werk über die "Gemeinschaftsunfähigen"3o um bevölkerungspolitischen Einfluß bemühte, so galten sein Interesse und seine Veröffentlichungen in jener Zeit doch vorwiegend der Medizinalstatistik.31

30 Die Materialübersicht und Problemstellung, die im ersten Band abgehandelt wurde, war von Kranz allein bearbeitet worden, die anderen beide Teile bildeten ein Gemeinschaftswerk: H[einrich] W{ilhelm] Kranz/S[iegfried] Koller, "Die Gemeinschaftsunfahigen". (Ein Beitrag zur wissenschaftlichen und praktischen Lösung des sog. "Asozialenproblems"). II. Teil: Erbstatistische Grundlagen und Auswertung. III. Teil: Vorschlag für ein "Gesetz über die Aberkennung der völkischen Ehrenrechte zum Schutze der Volksgemeinschaft". Gießen 1941. Ein Fazit dieses Buches lautet, daß "Gemeinschaftsunfähigkeit", also "Asozialität" vererbbar sei, damit als genetischer Defekt definiert und somit auf die Liste der durch Sterilisation auszumerzenden und ausmerzbaren Erbkrankheiten gesetzt werden konnte. Kranz und Koller folgten damit der Linie, die viele Eugeniker jener Tage vertraten; vgl. Kar/ Heinz Roth, Schöner neuer Mensch. Der Paradigmenwechsel der klassischen Genetik und seine Auswirkungen auf die Bevölkerungsbiologie des "Dritten Reichs", in: Kaupen-Haas (Hrsg.), Der Griff nach der Bevölkerung, S. 39 ff. 31 Bis Juli 1944 verfaßte Koller 38 "Originalarbeiten", in denen er Bevölkerungsstatistik nur am Rande streifte, sowie 30 kleinere "Auseinandersetzungen und Berichte" . Schwerpunkte dieser Arbeiten sind die Kreislaufforschung, Blutgruppenforschung und Erbforschung. Vgl. Archiv der Humboldt-Universität UKPAK254 Bd. 1, BI. 12-15.

B. Die "Erfassung" der Bevölkerung Die Nationalsozialisten verwendeten den Ausdruck "erfassen" in vielerlei Hinsicht. Die Bedeutung reichte von der ideologischen Durchdringung des Volkes über das ,Durchorganisieren' und die Registrierung für die verschiedensten Zwekke bis hin zur Ergreifung und Ennordung von Menschen. 1 Der Wunsch nach der totalen Dokumentierung der unterschiedlichsten Ereignisse sowie der Registrierung der diversen Vorkommnisse und Gegebenheiten in der Bevölkerung und Wirtschaft manifestierte sich in vielerlei Hinsicht. Ob staatliche Stellen oder kommunale, ob die Partei oder ihre Gliederungen, ob Gestapo oder Sicherheitsdienst, ob Verbände und Forscher oder Hobbyforscher- es waren viele am Werk, die begannen, große Datenmengen zu sammeln und auszuwerten. Doch war dies alles keine ,Erfindung' des Nationalsozialismus. Die Anfänge mancher Karteien reichten mindestens zurück bis in die Weimarer Republik, und die empirische Sozialforschung, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutschen und anderen Ländern entwickelte, zeigte, welchen hohen wissenschaftlichen Gewinn breit angelegte Untersuchungen bringen konnten, wobei an dieser Stelle nur auf die großen Enqueten des 1872 gegründeten Vereins für Socialpolitik hingewiesen sein soll. Ein Beispiel für eine Kartei, die ihren Ursprung in der Weimarer Republik besaß und deren Ziele nationalsozialistischem Gedankengut ähnelten, war die "Kartothek der Generationen", die der Arzt und Hygieniker Rainer Fetscher, seit 1928 Professor an der Technischen Hochschule Dresden, dort 1933 aus seinem Amt entfernt und noch am 8. Mai 1945 von der SS erschossen,2 für das Sächsische Justizministerium angelegt hatte. 1932 waren hier laut einem Bericht der Rheinischen Zeitung 90 000 Personen registriert und 8 000 Stammbäume erstellt. Es ging um Vererbung, um "kriminalbiologische" Belastung, und die Daten sammelte man, wo immer man ihrer habhaft werden konnte. Die persönlichen Angaben, die die Untersuchten über sich und ihre Familien machten, gingen zunächst zur "Prüfung und Ergänzung" an alle Behörden und Institutionen, die relevante Daten besaßen, also an polizeiliche Meldeämter, Gerichte und Gemeindeverwaltungen, aber auch an Krankenhäuser, Wohlfahrtsstellen, Schulen usw. Anband dieser Angaben und Akten entstand "ein Gerüst aus wichtigen Daten- eine erste Skizze, die nun in bestimmter Reihenfolge 1

Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin u. New York 1998,

S.208ff.

2 Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. 8 Bde. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin 1999: Tagebücher 1944, S. 17R, Anm. zu S. 16.

2 Wielog

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durch persönliche Nachforschungen und ärztliche Untersuchungen" zu ergänzen war. 3 Diese Datei machte Schule. Auch in bayerischen Strafanstalten wurden "kriminalbiologische Untersuchungen" vorgenommen und die Ergebnisse beim Zuchthaus Straubing gesammelt; 4 Preußen folgte mit der Einrichtung derartiger "kriminalbiologischer Forschungsstellen" an neun Strafanstalten. In Sachsen beschränkte man sich laut der Rheinischen Zeitung jedoch nicht allein auf die Datensammlung von Kriminellen, sondern wollte "weitere Kreise biologischer ,Minusvarianten"' erfassen: "Fürsorgezöglinge, Trinker, sexuelle Abgeartete, auch Taubstumme z. B., und ähnliche Gruppen." So habe Fetscher "seine Aufgabe hauptsächlich als eine sozialhygienische" betrachtet, "die Kartei als Instrument zur Pflege der Volksgesundung, zur Ausmerzung biologischer Schäden im Volksganzen, also: zur ,Aufartung'" gesehen. Dieser "allmähliche Reinigungsprozeß" sollte aber über den Kreis der Kriminellen hinausgehen. Daher sei die Dresdner Kartei nicht allein für die Rechtspflege bestimmt, sondern diene auch einer ,,Ehe- und Sexualberatungsstelle", der größten im deutschen Sprachgebiet, deren Leiter ebenfalls Rainer Fetscher war. Man wolle "die Fortpflanzungsziffer zugunsten erbgesunder Elternpaare ... verschieben" und "die Fortpflanzung Erbkranker möglichst" einschränken. Die schon bestehenden Karteien sollten ergänzt werden, "bis sie eine Aufnahme des ,erbbiologischen Inventars' der gesamten Bevölkerung darstellen." Die Rheinische Zeitung schloß ihren Bericht mit dem Hinweis auf die Erfolge, die man bei derartigen Registrierungen schon erreicht hatte: "Denkt man an die in vielen Teilen Deutschlands und auch vom Kaiser-Wilhelm-Institut in dieser Richtung geleisteten Vorarbeiten, dann erscheint diese Inventaraufnahme gar nicht mehr so fern liegend. Ihre Verwirklichung wäre eine der größten Taten auf dem Gebiete der Gesundheitsfürsorge."5 Nach 1933 wurden derartige Bestandsaufnahmen weiter vorangetrieben. So sind z. B. die Gesundheitsämter mit ihrer "erbbiologischen Bestandsaufnahme des Deutschen Volkes" zu nennen,6 die damit auch einer alten Forderung einiger Standesbeamter nachkamen, die sich schon 1924 die Einführung von ,eugenischen Listen' über alle Bewohner der Städte gewünscht hatten.7 Selbst einzelne Standesbeamte stellten sich nun ihre persönliche Kartei zusammen - zwecks Verhinderung von Ehen "erbkranker Personen" -, indem sie Informationen vom zuständigen Gesundheitsamt, dem Kreiswohlfahrtsamt, dem örtlichen Fürsorgeamt und der Lungenfürsorgesteile zu einer Sammlung der im Amtsbezirk wohnenden "Erbkranken und mit BArch R 1501/26243, Bl.47, Rheinische Zeitung vom 3. Oktober 1932. Auf dieser Datensammlung baute seit Ende 1937 der kriminalbiologische Dienst im Bereich der Reichsjustizverwaltung auf, vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage". Harnburg 1996, S. 126. s BArch R 1501/26243, Bl.47, Rheinische Zeitung vom 3. Oktober 1932. 6 Wolfgang Ayaß, "Asoziale" im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995, S. 112. 7 Konrad Dürre, Der Standesbeamte im Dienste der Rassenhygiene, in: Zeitschrift für Standesamtswesen, Personenstandsrecht, Eherecht und Sippenforschung 20 (1940), S. 126 (unveränderter Abdruck aus der Standesamtszeitschrift von 1924, S. 279). 3

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ansteckenden Krankheiten ... behafteten Personen" zusammenfügten und diese ständig durch neues Material, das aus Sterilisationsverfahren, aus Untersuchungsergebnissen von Siedlern, Schulkindern, Empfängern von Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen stammte, auf den neuesten Stand brachten. Mit Hilfe des Einwohnermeldeamtes und der eigenen Ortskenntnis schließlich wurden die erfaßten Individuen in "den Zusammenhang mit ihrer Familie und Sippe gebracht".8 Ein anderes Beispiel ist die 1934 geschaffene rassenhygienische Eheberatungsstelle in Tübingen, deren Leitung Robert Ritter übernahm, der dort eine "Erbgesundheitskartei" der vermeintlichen Erbkranken der letzten 40 Jahre anlegte. Später gründete Ritter in Berlin die Rassenhygienische Forschungsstelle und wandte sich der ,,Zigeunerforschung" zu. Hier waren "selbst technische Assistentinnen mit der Sammlung, Einordnung und Verarbeitung der anthropometrischen und photographischen Unterlagen, Genealoginnen mit der Klärung ,verwickeltere[r] Sippenverhältnisse' sowie Kanzlei- und Schreibkräfte mit der Verwaltung und dem umfangreichen Karteikartensystem" befaßt. Dieses "Zigeunersippenarchiv" setzte sich zusammen aus Materialien, die aus eigener Beobachtung und aus Archiven stammten, aber auch aus von der Kriminalpolizei, von Land- und Amtsgerichten, Fürsorgeanstalten und -ämtern, Zuchthaus- und Gefängnisdirektoren, Polizeispitzeln, Schulen und kommunalen Behörden bereitgestellten Unterlagen.9 Einen besonders hohen Stellenwert besaßen Karteien auch und gerade für die Gestapo, 10 die das Erbe der Politischen Polizei antrat und auch deren noch vorhandene Datensammlungen aus der Weimarer Republik übernahm.u In einem ihrer Schulungspapiere aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre hieß es: "Die Karteien sind unentbehrliche Hilfsmittel der Sicherheitspolizei (Geheime Staatspolizei sowie Kripo), daher sorgfältigste Führung derselben. Sie sind die Seelen der Dienststellen". 12 Dabei entwickelte sich in der Gestapo das Karteiwesen so inflationär, daß daraus oftmals eine Arbeitsüberlastung der Gestapo-Mitarbeiter resultierte. Zu den vielen Karteien, die sie anlegten, gehörten eine Zentralkartei aller allgemeinpolitisch oder abwehrpolizeilich aufgefallenen Personen, eine Schutzhaftkartei, eine A-Kartei der im Kriegsfall festzunehmenden potentiellen Gegner des NS-Regimes, eine Kartei 8 Wilhe/m Riegert, Kann der Standesbeamte schon heute Vorarbeiten für das künftige Sippenamt leisten? in: Zeitschrift für Standesamtswesen, Personenstandsrecht, Eherecht und Sippenforschung 16 (1936), S.17. 9 Zimmermann, Rassenutopie und Genozid, S.l27, S. 129, S. 143 (Zitat) u. S. 144. 10 Zum Karteiwesen der Gestapo siehe auch: Johannes Tuchel/Reinold Schattenfroh, Zentrale des Terrors. Prinz-Albrecht-Str. 8. Das Hauptquartier der Gestapo. Berlin 1987, S. 125 ff. . 11 Vgl. Volker Eich/er, Die Frankfurter Gestapo-Kartei. Entstehung, Struktur, Funktion, Überlieferungsgeschichte und Quellenwert, in: Gerhard Pau1/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo- Mythos und Realität. Darmstadt 1996, S. 180f. 12 BArch R58{781 , BI. I 52; vgl. auch GerhardPaul (unter Mitarbeit von Erich Koch), Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung. Die Gestapo in Schleswig-Holstein. Harnburg 1996, S.55.

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der ausländischen Zivilarbeiter, der Abwehrbeauftragten und V-Leute, eine Firmenund Lagerkartei, eine Emigrantenliste, eine Judenkartei, eine Bildkartei, eine Kartei der Stahlhelmangehörigen, der Ausländer einschließlich der Staatenlosen und vieles mehr. Die Hauptkartei der Gestapo in Berlin bestand Anfang 1939 aus fast zwei Millionen Personalkarten und über 640000 Personalakten, die während des Krieges von bis zu 250 Personen bearbeitet wurden. Diese Karteien wurden gegen Kriegsende fast ausnahmslos vernichtet, so daß oft weder ihre Entstehungsgeschichten noch ihre Quellenbasen vollständig nachzuvollziehen sind. Erhalten blieben aber beispielsweise 70000 Dossiers der Staatspolizeistelle Düsseldorf und 19000 Dossiers der Würzburger Gestapo. Alle diese Verzeichnisse hatten eine Allwissenheit oft nur vorgetäuscht, da sie häufig auf veralteten Daten beruhten. Auch gab es keine Verwendung moderner Datenverarbeitungsmethoden, etwa von Lochkarten und entsprechenden Zählmaschinen, doch "zur Organisierung überschaubarer Verhaftungsaktionen ... oder der Judendeportationen von 1941/42 reichten die manuell geführten Karteien ... allemal aus." 13 Die Zwecke und Intentionen der Karteien besaßen eine große Bandbreite. Sie reichten von Verwaltungszwecken über die Drangsalierung, Bespitzelung und Ermordung von Menschen bis hin zu eher obskuren Interessen. Zur letzten Rubrik gehörte u. a. die auf Wunsch von Heinrich Himmler angelegte Hexenkartothek mit über 30000 zusammengetragenen Materialblättern.14 Verwaltungszwecken diente dagegen eine von der "Kanzlei des Führers der NSDAP" zunächst "Warnkartei" genannte vertrauliche Sammlung von Beschwerdeführern und Bittstellern, die den verschiedenen Staats- und Parteidienststellen, darunter auch der SS, zur Verfügung stand und von diesen ergänzt wurde. Diese Kartei sollte verhindern helfen, daß sich die unterschiedlichen Stellen immer wieder mit gleichen oder ähnlichen Eingaben derselben Personen befassen mußten, dabei möglicherweise gegensätzlich entschieden oder Hitler als letzte Instanz angerufen wurde. 15 Angeregt durch die ideologische Ausrichtung auf den Blut- und Bodenkult, die Idealisierung der Familie und auf die Abstammung wurde, oft von Partei- oder staatlichen Stellen zumindest ideell unterstützt, noch eine Reihe weiterer Versuche zur Datensammlung unternommen. So plante 1937 etwa der NS-Lehrerbund zusammen mit dem Reichsnährstand und unterstützt von den Rassenpolitischen Ämtern bei den Gauleitungen der NSDAP "die Schaffung einer Volksgenealogie für das ganze Reich". Dafür sollten Kirchenbücher verkartet und Standesamtsregister ausgewertet 13 Paul, Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung, S. 57 ff., ZitatS. 59; vgl auch die dort angegebene Literatur; Hans-Joachim Heuer, Geheime Staatspolizei. Über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung. Berlin u. New York 1995, S. 89; Robert Gellate/y, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945. Paderbom usw. 2 1994, S. 155. 14 Vgl. dazu den Sammelband Sönke Lorenz!Dieter R. Bauer!Wolfgang Behringer/Jürgen Michael Schmidt (Hrsg.), Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung. Bielefeld 2000. 1s BArch NS 19/2829, BI. 1 ff.

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werden- "bis zurück zum 30-jährigen Kriege oder weiter". Aus diesen "neuen Stammtafeln" sollten sich die "tausendfältigen Fäden der Verwandtschaft unseres ganzen Volkes" ergeben, und auch dem "ärmsten Volksgenossen, vor allen Dingen dem heimatentwurzelten Bewohner der Arbeitergroßstädte" sollte es ermöglicht werden, "die Heimat seiner Sippe, die Scholle seiner Ahnen wieder zu finden". Die Ziele reichten aber noch weiter. Nicht nur sollten die Kirchenbücher, die sonst infolge "der augenblicklichen enormen Inanspruchnahme ... der Vernichtung16 ••• ausgesetzt" seien, auf diese Weise bewahrt werden, sondern die Auswertungen sollten über die rein individuelle Familienforschung noch hinausgehen, denn die "gesamte Bevölkerung der letzten drei Jahrhunderte" werde auf den Stammtafeln erscheinen. Dadurch könne man für beliebige Zeiträume Zählungen veranstalten, die Geburtenund Sterberaten sowie die Heiratsziffern berechnen, aber auch die "eheliche Fruchtbarkeit" zu verschiedenen Zeitpunkten, in Kriegen und Notzeiten, und in den verschiedenen Volksschichten: "Wir stellenfest, wie gross die Inzucht.war, was aus den nachgeborenen Bauernsöhrien wurde. Das soziale Auf und Ab in der Bevölkerung, die Binnenwanderung, die Auswanderung, alles Fragen, die die Gegenwart lebhaft bewegen und Untersuchungen, die Burgdörfer in seinen bekannten Werken für die neueste Zeit durchgeführt hat, können aus den Tafeln für die letzten drei Jahrhunderte herausgelesen werden. Sie werden endlich, wenn auch in beschränktem Umfange, die erforderliche Unterlage abgeben für die erbbiologische Bestandaufnahme des Volkes, die wiederum die Vorbedingung für jede Erbpflege ist." 17

Solche Karteien waren nicht zum Nulltarif zu bekommen. Fünf Pfennige sollten pro Kopf der Bevölkerung dafür z. B. von den Gemeinden des Gaus Westfalen-Nord erhoben werden- ein Betrag, den die Regierung in Bückeburg ablehnte. Wenn, wie hier, der Gauleitung empfohlen wurde, erst einmal die Stellungnahme des Reichsinnenministers einzuholen, 18 kamen auch in Friedenszeiten derartige Versuche meist über erste Probeläufe nicht hinaus. Zudem gab es mit dem Reichssippenamt, im November 1940 hervorgegangen aus dem Amt des Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsministerium des Innern bzw. dessen Nachfolgeinstitution (seit März 1935 die Reichsstelle für Sippenforschung) eine Behörde, der u. a. ähnliche Sammlungsaufgaben oblagen.t9 Auch eine reichsweite Erfassung der ,Asozialen' gelang den verschiedenen Forschern nie. Die Erhebungen in einigen Ländern 16 Durch die bei vielen Gelegenheiten vorgeschriebenen "Ariernachweise" waren die Kirchenbücher als Hauptquelle besonders stark beansprucht. 17 Niedersächsisches StA Bückeburg, L4 Nr.5184, BI. 7ff., Abschrift eines Schreibens des Amtes für Erzieher vom Oktober 1937 auf dem Rundschreiben Nr. 51 der Gauleitung Westfalen-Nord der NSDAP vom 30. Oktober 1937. 18 Ebd., Bl.l2. 19 Das Reichssippenamt war als einzige Behörde zuständig für Abstammungsbescheide, von denen es bis Ende 1940 rund 120000 ausgestellt hatte (mit 170 Mitarbeitern). Darüber hinaus sicherte es u. a. alte Kirchenbücher und wertete jüdische Personenstandsregister aus; vgl. Alexa Loohs, Reichssippenamt, in: Wolfgang BenztHermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus. München 2 1998, S. 694f.; siehe auch die verschiedenen Geschäftsverteilungspläne dieser Behörde in BArch R 1509/alt R 39/20.

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B. Die ,,Erfassung" der Bevölkerung

blieben regional begrenzt und eng verknüpft mit dem Interesse und der Initiativkraft einzelner. 20 Die Liste derartiger Karteien, die individuelle Daten zum Inhalt hatten und von denen nur einige zur Illustration der verschiedenen Interessen und Möglichkeiten herausgegriffen wurden, kann immer weiter fortgesetzt werden. So sind etwa noch die groß angelegten Untersuchungen der Wehrmachtsangehörigen auf ihre Tauglichkeit zu nennen und viele andere- sie alle produzierten zusammen eine Unmenge an Karteikarten. Der Staat selbst leistete dazu bei der Registrierung der Bevölkerung nach 1933 u. a. mit der Einführung des Arbeitsbuches, des Gesundheitsstanunbuches, der Kennkarte, mit einem neuen Meldegesetz, schließlich auch mit der Einrichtung der Volkskartei und gegen Ende des Krieges noch mit der Einführung der Personenkennziffer einen umfangreichen Beitrag. In mancherlei Hinsicht konnte bei einigen dieser Dateien auf Erfahrungen aus früheren Jahren zurückgegriffen werden, doch wurden die meisten entweder im Dritten Reich neu aufgebaut oder aber erheblich erweitert, wobei oft der Versuch unternommen wurde, sie zu perfektionieren. Sie enthielten eine Fülle personenbezogener Daten, die, so der Eindruck, die verschiedensten- auch staatlichen- Stellen ohne oder mit nur geringen Hemmungen zur Verfügung stellten. Diese Sarnmelflut, die auch Ausdruck des Bedürfnisses eines totalitären Staates nach allumfassender Information und Kontrolle ist und einen Einblick gibt in den unkontrollierten Umgang mit zum Teil hochsensiblen Daten (z. B. über Krankheiten oder Sterilisationen) erweckt daneben den Eindruck, daß dem Wort "Kartei" im nationalsozialistischen Deutschland, dem "Wunderland der moralisch nahezu unbegrenzten Möglichkeiten",21 fast etwas Mystisches anhaftete; als ob die Anlage einer Karteikarte schon einen Wert an sich, eine Tat für die Zukunft darstellte. Vor diesem Hintergrund aber ist der Umgang der Statistiker mit den von ihnen erhobenen Daten zu untersuchen, ist zu fragen, wie weit sie sich an überkommene statistische Traditionen der Geheimhaltung hielten bzw. halten konnten oder wie weit sie sich in das neue System nicht nur integrierten, sondern es auch gestalteten.

Ayaß, "Asoziale" im Nationalsozialismus, S. 111. Michael Prinz, Die soziale Funktion moderner Elemente in der Gesellschaftspolitik des Nationalsozialismus, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modemisierung. Darmstadt 1991, S. 310. 20

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C. Die Volkszählung 1933: Erste Eingriffe der neuen Machthaber in die amtliche Statistik I. Die Statistik in der Weimarer Republik 1. Aufbau

Die amtliche Statistik der Weimarer Republik besaß föderalen Charakter. Sie ruhte zunächst auf den beiden Säulen Statistisches Reichsamt und statistische Landesämter. Aber auch in etlichen Ministerien oder in der Reichsarbeits-yerwaltung wurden umfangreiche Statistiken erstellt. Hinzu kamen die verschiedenen statistischen Ämter, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Städten eingerichtet worden waren. Statistisches Reichsamt, statistische Landesämter und die kommunalen statistischen Ämter wirkten nach einheitlichen Kriterien bei den großen Erhebungen zusammen, die sich auf die Bevölkerung, die Berufe, die Betriebe, das Vieh, den landwirtschaftlichen Anbau und die Ernteergebnisse bezogen. Gegen Mitte der 1920er Jahre besaßen fast alle deutschen Länder sowie rund 50 Städte eigene statistische Ämter. In ihnen allen arbeiteten insgesamt noch nicht einma15 000 Menschen, über 50% in den Ländern, ein gutes Drittel im Statistischen Reichsamt und etwa 14% in den Kommunen.' Ihre gemeinsame Verantwortung für die Bevölkerungsstatistik bezog sich jedoch nicht nur auf die anband der Volkszählungen zusammengestellten Daten, sondern ein wesentlicher Teil der Arbeit bestand in der konstanten Sammlung, Aufbereitung und Veröffentlichung der Meldungen über Geburten und Sterbefalle sowie Eheschließungen und auch in der Statistik der Todesursachen,2 wobei die Todesursachenstatistik seit 1932 in der Reichs- und Landesstatistik an die internationalen Gepflogenheiten angepaßt war. 3 Während das 1872 gegründete Statistische Reichsamt der Aufsicht des Reichsamts des lnnem (bis 1878 Reichskanzleramt) unterworfen war und ab 1917 unter die des neugegründeten Reichswirtschaftsamts4 gestellt wurde- nicht unbedingt zur ungeteilten Freude der Statistiker, die mit dem Übergang in ein Spezialressort ohne das Recht auf selbständigen Geschäftsverkehr z. T. eine Zurücksetzung der Statistik 1 Vgl. hierzu Friedrich Zahn, Statistik II: Die amtliche Statistik in den einzelnen Staaten, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. 7. Jena 4 1926, S. 895; Wilhelm Morgenroth, Statistik III: Die städtischen statistischen Aemter, in: ebd., S. 954-961. 2 Vgl. Zahn, Statistik II, S. 900. ' 75 Jahre Berliner Statistik. Hrsg. vom Statistischen Amt der Reichshauptstadt Berlin. 0 . 0 ., o. J. (Berlin 1937), S. 78. 4 Ab 1919: Reichswirtschaftsministerium, BArch R43 11/1157 e, Bl.40-40r.

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C. Die Volkszählung 1933

vermuteten -, unterstanden die statistischen Landesämter überwiegend den Innenministerien der Länder, in Sachsen allerdings dem Wirtschafts- und in Württemberg dem Finanzministerium.5 Die städtischen statistischen Ämter gehörten zu verschiedenen Fachreferaten und waren zum Teil keine eigenständigen statistischen Dienste.6 Eine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den städtischen statistischen Ämtern und der Reichs- und Landesstatistik existierte nicht, auch wenn im Laufe der Zeit immer mehr Statistiker der zentralen Stellen an den Konferenzen der Kommunalstatistiker teilnahmen - allerdings nicht umgekehrt. Institutionalisiert war dagegen die Kooperation des Statistischen Reichsamts und der statistischen Landesämter. Ihre Statistiker trafen sich seit den 1870er Jahren mehr oder minder regelmäßig zu Beratungen in den Konferenzen der Reichs- und Landesstatistiker.7 An dieser Konstellation hatte sich auch Mitte der 1930er Jahre, sehr zum Bedauern der Gemeindestatistiker, nichts geändert. Zwar war der "Verband der deutschen Städtestatistiker" 1933 in die beim Deutschen Gemeindetag gebildete "Arbeitsgemeinschaft für gemeindliche Statistik" umgewandelt worden/ auch gab es dort 1938 allein sechs verschiedene Ausschüsse sowie eine Arbeitsgruppe,9 aber noch 1936 zerfiel die jährlich stattfindende "Statistische Woche" organisatorisch in drei Teile: in die Tagungen der Arbeitsgemeinschaft für gemeindliche Statistik beim Deutschen Gemeindetag, der Deutschen Statistischen Gesellschaft und der Reichsund Landesstatistiker. Während letztere an allen drei Sitzungen teilnehmen konnten, blieben die Gemeindestatistiker auf ihre eigene Veranstaltung und auf die der Deutschen Statistischen Gesellschaft beschränkt. Paul Flaskämper, der Leiter des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt am Main, sah darin "Widersprüche, die bei der Notwendigkeit engsten Zusarnmenarbeitens zwischen staatlicher und gemeindlicher Statistik ... auf die Dauer beseitigt werden müssen." Er hoffte, "dass solche Unstimmigkeiten bald verschwinden werden und die Zusammenarbeit zwischen staatlicher und gemeindlicher Statistik, die ... auch in anderer Beziehung noch nicht befriedigend ist, sich bald fruchtbar gestalten wird." 10 Vgl. Zahn, Statistik II, S. 898f. u. S. 910. Vgl. Morgenroth, Statistik III, Übersicht, S. 954-961. 7 Zahn, Statistik II, S. 900. 8 75 Jahre Berliner Statistik, S. 70. 9 Stadtarchiv Frankfurt/Main, Stadtkanzlei Az. 1401 Bd. 2, Bericht vom 3. Oktober 1938 über die Teilnahme von Professor Paul Flaskämper an der Statistischen Woche in Würzburg im September 1938; die Ausschüsse betrafen die Bevölkerungs-, die Wohlfahrts- und Gesundheits-, die Wohnungs- und Siedlungs-, die Wirtschafts- und Verkehrs-, die Schul- und Kultur-, die Finanz- und Steuer- sowie die Provinzialstatistik (AG). 10 Stadtarchiv Frankfurt/Main, Magistrat Az. 1451 Bd. 1, Bericht vom 2. Juli 1936 über die Dienstreise des Leiters des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt/Main, Professor Paul Flaskämper, nach Berlin und Braunschweig vom 19. bis 26. Juni 1936. Die scharfe Trennung zwischen Kommunal- sowie Landes- und Reichsstatistik verminderte sich in den folgenden Jahren; die kommunalen Statistiker nahmen dann auch an den Tagungen der Reichs- und Landesstatistiker teil, allerdings nur, "soweit Anlaß dazu vorliegt"; vgl. Stadtarchiv Frankfurt/M., Stadtkanzlei Nr. 1401 Bd. 2, Bericht vom 3. Oktober 1938 über die Teilnahme von Professor Paul Flaskämper an der Statistischen Woche in Würzburg im September 193lt 5

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Geändert hatte sich zu diesem Zeitpunkt Mitte der 1930er Jahre jedoch die Ausstattung der Ämter mit Personal. Das Statistische Reichsamt war seit der Mitte der 1920er Jahre zunächst schnell gewachsen, hatte aber zu Beginn der 1930er Jahre als Folge der Finanzkrise des Reiches wieder Personal abbauen müssen. 1932 beschäftigte es 1876 Mitarbeiter und wuchs bis 1935 um fast 1 000 auf 2 817 Beschäftigte. Am Ende der 1930er Jahre arbeiteten schließlich 5000 Menschen im Statistischen Reichsamt, und durch die Aufbereitung der Volkszählung kamen nochmals mehrere 1000 auf Zeit angestellte Hilfskräfte hinzu. 11 Auch die statistischen Dienste der Städte waren zum Teil gewachsen. München z. B., das Mitte der 1920er Jahre 15 Mitarbeiter gehabt hatte, beschäftigte 1934 dann 18 und Dortmund statt 10 nun 14 Personen. Köln, das nach Berlin das größte städtische statistische Amt besaß, welches aber auch gleichzeitig die Funktion des Einwohneramtes wahrnahm, hatte die Zahl seiner Beschäftigten von 19 auf 32 vermehrt.12 Ähnlich war es in den statistischen Landesämtem. In Württemberg verdreifachte sich zwischen 1925 und 1939 die Zahl der Mitarbeiter, in Bayern verdoppelte sie sich beinahe. Die größten Zuwächse wiesen dabei inuner die Jahre nach 1933 auf, 13 wobei aber zu berücksichtigen ist, daß auch hier die Länder und Kommunen wegen der finanziellen Schwierigkeiten zwischen 1930 und 1932 oftmals gezwungen gewesen waren, Personal abzubauen.

2. Die Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1925 Zweimal während der Weimarer Republik zählten die Statistiker das Volk: Am 8. Oktober 1919 geschah es hauptsächlich für Zwecke der Lebensmittelversorgung, die nach dem Krieg damiederlag. Die Fragen waren dementsprechend sparsam formuliert- z. B. fiel die Rubrik Religionszugehörigkeit weg-, die Ergebnisse wegen der folgenden Entwicklungen alsbald obsolet. 1925 schließlich führten Reich und Länder eine kombinierte Volks-, Berufs- und Betriebszählung durch. Sie war wegen der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse- Inflation, Ruhrbesetzung, Hitlerputsch- mehrfach verschoben worden. 14 Die nächste Zählung- und zwar wieder in dieser Kombination -war für 1930 geplant, doch mußte auch hier der Zeitpunkt der Durchführung verlegt werden. 11 !.Adam Tooze, Official statistics and economic govemance in interwar Germany. Thesis submitted for the degree of Ph. D. London School of Economics 1996, S. 222; Wolfgang Reichardt, Die Reichsstatistik, in: Friedrich Burgdörfer (Hrsg.), Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand. Ehrengabe für Friedrich Zahn. 1. Bd. Berlin 1940, S. 82. 12 Morgenroth, Statistik III, Übersicht, S. 954- 961; Stadtarchiv Frankfurt/Main, Stadtkanzlei Nr. 1400 Bd. 1, Fritz Reinhardt: Das Statistische Amt der Stadt Frankfurt a. Main unter Berücksichtigung der Leistungen der Statistischen Aemter deutscher Großstädte, vom 29. September 1934, S. 29, sowie Bericht über Dienstreise nach Köln am 12. und 13. Juli 1935, S. 6. 13 Georg Hoffmann, Die Landesstatistik, in: Burgdörfer (Hrsg.), Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand Bd. I, S. 97. 14 BArch R431/2109, Bl.62.

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Das Fehlen eines statistischen Gesetzes, das den statistischen Ämtern die allgemeine Erhebungsgewalt einräumt und von den Statistikern als "Krönung der Organisation der amtlichen Statistik" angesehen wurde, weil für die einzelnen Erhebungen dann nur noch eine Verordnung des statistischen Amtes oder eines Fachministeriums notwendig gewesen wäre, machte für die großen, nicht alljährlich sich wiederholenden Zählungen besondere Gesetze erforderlich. 15 So wurde auch die Volks-, Berufs- und Betriebszählung von 1925 auf der Grundlage eines Reichsgesetzes und einzelner Ländergesetze abgehalten. Sie war mit dem Wunsch verbunden gewesen, die rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit in Zahlen faßbar zu machen. 16 Als Nebeneffekt suchte die deutsche Statistik mit ihren Volks-, Berufs- und Betriebszählungen Anschluß an den international üblichen Zählrhythmus- jeweils zur Mitte und/oder zum Ende eines Jahrzehnts. Der Erste Weltkrieg hatte auch hier zu einer Abkoppelung geführt, die Deutschland in seinem Bemühen um die Rückkehr auf die internationale Bühne zu überwinden trachtete. Diese Zählung war die umfassendste, die bis dahin zumindest auf preußischem,17 wohl aber auch auf deutschem Boden stattgefunden hatte. Die Kosten hatten sich, anlehnend an die Vorkriegsgepflogenheiten, Reich und Länder geteilt: Das Reich kam für die Berufs- und Betriebszählung auf, die Länder finanzierten die Volkszählung. Dabei habe es, so beschwerte sich das Land Thüringen 1929, eine gesetzliche Grundlage für diese Regelung nie gegeben. Anband der Volkszählungsergebnisse seien in der Kaiserzeit die Matrikularbeiträge der Bundesstaaten, deren Kostgänger das Reich gewesen war, festgelegt worden. Und so habe man die Finanzierung der Volkszählung durch die Bundesstaaten als selbstverständlich angesehen. Ein Abwälzen der Kosten auf das Reich hätte zudem nur eine Erhöhung der Matrikularbeiträge nach sich gezogen, so daß die Staaten so oder so die Finanziers gewesen wären. Auch habe die Beteiligung an den Kosten den einzelnen Staaten im Bundesrat bei der Festlegung der Fragestellung ein größeres Mitspracherecht gesichert. Nun hatte sich die Situation insoweit geändert, als die Volkszählungsergebnisse auch benötigt wurden, um die Steuerüberweisungen vom Reich an die Länder vornehmen zu können, denn die Weimarer Verfassung hatte die finanziellen Abhängigkeiten von Reich und Ländern umgekehrt. Auch die Festsetzung des Fragenkatalogs war nicht mehr Ländersache. 18 Die Zählung verlief unter schwierigen Bedingungen. Das wirtschaftliche Klima war schlecht, es mangelte an Verständnis in der Bevölkerung, die Bereitschaft, sich zählen zu lassen oder gar selbst zu zählen, schien nicht sehr ausgeprägt. Die StatiWilhelm Wink/er, Grundriß der Statistik I. Theoretische Statistik. Berlin 1931, S. 4. BArch R 43 1/2109, BI. 69, Begründung des Reichswirtschaftsministers zum Gesetzentwurf. 17 GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3947, BI. 12, Bericht des Präsidenten des Preußischen Statistischen Landesamts von 1928 über die Erfahrungen mit der Volkszählung 1925. 1" GStAPK HA I Rep. 90 Nr. 1307, Thüringisches Staatsministerium in Weimar an den Reichswirtschaftsminister am 30. Oktober 1929. 15

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stiker kannten dieses Verhalten durchaus. So konstatierte Anfang 1928 der Präsident des Preußischen Statistischen Landesamts, Konrad Saenger, in seinem Erfahrungsbericht über die vorangegangene Volks-, Berufs- und Betriebszählung, daß statistische Erhebungen "niemals volkstümlich" zu sein pflegten. "Der einzelne Haushaltungsvorstand, welcher befragt wird, empfindet meist nur die Arbeit und den Zeitverlust, welche ihm die Ausfüllung der Zählpapiere verursacht, und fühlt sich durch das Eindringen in seine persönlichen Verhältnisse unangenehm berührt". 19 Noch deutlicher sprach im September 1928 der Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Leipzig auf der Konferenz der Städtestatistiker diese Schwierigkeiten an. Die Bevölkerung sei "wenig geneigt", statistischen Erhebungen das "notwendige Verständnis" entgegenzubringen. Aufklärungsversuche hätten "doch nur einen recht mäßigen Erfolg". Es herrschten "Interesselosigkeit, Mangel an staatsbürgerlichem Verantwortungsbewußtsein und schließlich auch geradezu böswillige Renitenz gegen alles Amtliche".20 Die Reaktionen in der Bevölkerung auf die Zählung waren jedoch nicht einheitlich. So wurde z. B. über Frankfurt am Main berichtet, man habe dort "das nötige Verständnis" gezeigt, dagegen sei in Berlin der gesamten Erhebung "im grossen und ganzen kein besonderes Verständnis entgegengebracht" worden. Im Kreis Allenstein habe "sich die Bevölkerung misstrauisch, wenn nicht gerade feindlich" gezeigt: "Das Misstrauen wird von den Berichterstattern auf die Steuerfurcht der Bevölkerung zurückgeführt. Diese zeigte sich besonders bei Heimarbeitern, Kleingewerbetreibenden und Gartenbesitzern, die sich die Erfassung ihrer Betriebe nur damit erklärten, dass sie für diese zu Steuerleistungen herangezogen werden sollten. Im Landkreis Celle hatte sich sogar das Gerücht verbreitet, dass die Erhebung den Zweck habe, die Leistungsfähigkeit Deutschlands für Reparationsleistungen festzustellen."21

Die von den Statistikern wahrgenommenen Befürchtungen der Bevölkerung betrafen also in erster Linie die Fragen der Berufs- und Betriebszählung, nicht die der Volkszählung, auch wenn in einem Zeitungsartikel die Frage nach der Muttersprache laut Konrad Saenger mit den Worten kritisiert worden sei: "Weiss man dort noch nicht, dass wir diesen Statistiken zum Teil den Verlust der Ostmark verdanken!"22 Zu der Besorgnis vor dem Zugriff des Fiskus paßte auch, daß die wenigen, die zunächst Angaben verweigerten, Gartenbesitzer (Landwirtschaftsbogen) oder Händler und Heimarbeiter (Gewerbebogen) waren. Um hier besser durchgreifen zu können, auch um weniger Unkosten mit dem nachträglichen Korrigieren bzw. Ergänzen der Angaben auf den Zählbogen zu haben, forderten etliche Landräte und Magistrate, 19 GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3947, Bl.12r, Bericht des Präsidenten des Preußischen Statistischen Landesamts von 1928 über die Erfahrungen mit der Volkszählung 1925. 20 BArch R 43 l/21 08, BI. 140 r, Weigel, Die Personenstandsaufnahme und die Statistik. 36. Konferenz des Verbandes der deutschen Städtestatistiker am 4. und 5. September 1928 in Hamburg. 21 GStAPK HA I Rep. 77 Nr. 3948, BI. 131 f., Erfahrungen bei der Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925. 22 Ebd., BI. 133.

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die Strafbestimmungen des Volkszählungsgesetzes zu verschärfen und zusätzlich zu erhöhten Geldbußen auch Gefängnisstrafen für Auskunftsverweigerung oder absichtliches Falschausfüllen der Fragebogen einzuführen. Begründet wurde dies z. B. aus Wiesbaden mit der Feststellung, daß sich "grade die Leute, die über Geld nicht verfügten, am widerspenstigsten zeigten."23 Die Befürchtungen, die Angaben zur Volks-, Berufs- und Betriebszählung könnten dem Steuerfiskus zur Verfügung gestellt werden, folgten auch aus den Ähnlichkeiten zwischen den Fragebogen der Statistiker und denen der Personenstandsaufnahme. Diese diente der Erfassung von Bevölkerung und Betrieben für die Steuerveranlagung und zur Ausgabe der Lohnsteuerkarten und wurde aufgrund der Reichsabgabenordnung und des Reichseinkommensteuergesetzes in fast allen Gemeinden alljährlich am 10. Oktober vorgenommen; nur kleinere Gemeinden mit einem intakten Melderegister konnten sich von dieser Pflicht befreien lassen. Die Erhebung umfaßte Angaben zu den in jedem Haushalt lebenden Personen und zu den Betrieben. Diese inhaltliche Nähe zur Volks-, Berufs- und Betriebszählung ließ die statistischen Landesämter und das Statistische Reichsamt um so mehr Wert darauf legen, daß die erhobenen individuellen Daten nicht für das benutzt würden, was die Bürger offenbar am meisten fürchteten: das Offenlegen ihrer Verhältnisse gegenüber dem Finanzamt. Dieser Grundsatz war im Volkszählungsgesetz von 1925 festgehalten. Dessen § 3 lautete: "Die vorzulegenden Fragen dürfen sich nur auf den Personen- und Familienstand, die Staatsangehörigkeit, die Muttersprache, die Religionszugehörigkeit und den Wohnsitz sowie auf die Berufs- und Betriebsverhältnisse beziehen. Jedes Eindringen in die Vermögensund Einkommensverhältnisse ist ausgeschlossen. Über die bei der Zählung über die Persönlichkeit des Einzelnen sowie über die Verhältnisse der einzelnen Betriebe gewonnenen Nachrichten ist das Amtsgeheimnis zu wahren; sie dürfen nur zu statistischen Arbeiten, nicht zu anderen Zwecken benutzt werden." 24

Die Erfahrungen der Statistiker bezogen sich aber nicht nur auf die Reaktionen der Bevölkerung, die gezählt wurde. Sie hatten auch großen Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Zählern gegenübergestanden. Zwar verpflichtete Artikel132 der Weimarer Verfassung jeden Bürger, ehrenamtliche Tätigkeiten zu übernehmen, auch existierte z. B. in Preußen die gesetzliche Möglichkeit, perAnordnungdas Amt des Zählers an Reichs- und Staatsbeamte zu übertragen,2~ doch zogen sich viele aus dieser Arbeit mit den Begründungen zurück, die bei der Ablehnung eines Ehrenamtes anzuerkennen waren: Alter, Krankheit oder dringende Geschäfte. Oft erhielten sie dabei die Unterstützung ihrer Dienststellen, die ihnen nur zu gern die UnabEbd., BI. 136. Gesetz über die Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1925. Vom 13. März 1925. RGBI. I, S.19. 25 Verordnung des Preußischen Staatsministeriums vom 29. April 1925, PrGS, S. 53. 23

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kömmlichkeit bescheinigten.26 Das war eine tiefgehende Erfahrung, die im Gegensatz stand zu den als Ideal empfundenen Vorkriegsgegebenheiten und die sich noch Ende 1932 in den Diskussionen des Verbandes Deutscher Städtestatistiker niederschlug. Laut dem Bericht des Direktors des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt am Main, August Busch, wurde dort die Unverbindlichkeit kritisiert, mit der in den Verhandlungen zwischen dem Städtetag und dem Reichswirtschaftsministerium Zusagen dahingehend gemacht würden, daß die Behörden des Reichs und der Länder "aufgefordert" würden, "einen gewissen Bestand an Zählern zu liefern". Damit habe man schlechte Erfahrungen gemacht, weil "zum Zeitpunkt der Zählung entsprechende Herren nicht zur Verfügung stünden". Laut Busch hatte sich schon bei der Erhebung 1925 gezeigt, "dass Staatsbehörden, wie die Gerichte, auf einem grundsätzlich ablehnenden Standpunkt aus Gründen des Dienstes standen". So seien auch "die bekannten gegenseitigen Berufungen zwischen juristischen Beamten und Studienräten beliebt, dann folgten selbstverständlich die Lehrer der Volks- und Mittelschulen, sodass nach und nach in den meisten Städten von dem vorkriegszeitliehen System der Zähler im Ehrenamt abgegangen werden musste, eine stärkere Heranziehung der Hauseigentümer erfolgte und bezahlte Zähler nur das Amt eines Zubringers übernahmen."27 Die schlechte Resonanz bei der Zählerwerbung trat ein, obwohl über alle Medien - vom Rundfunk, der allerdings erst seit 1923 existierte und noch keine weite Verbreitung besaß, über Zeitungsinserate, Pressenotizen und Aufrufe an Plakatsäulen bis zu Vorträgen in Vereinen - die Bevölkerung zur Mitwirkung aufgefordert worden war. Wiesbaden etwa brachte es über die freiwillige Meldung auf nur 17 Zähler, hatte aber einen Bedarf an 840. Und in Königsberg hatten Postämter und Eisenbahnbehörden schon vorsorglich Vordrucke bereitgehalten, die die Unabkömmlichkeit ihrer zu Zählern ernannten Beamten bestätigten. Zwei Drittel derbenötigten Zähler wurden hier zwangsverpflichtet. 28 Auch die Ergebnisse der Selbstzählung waren weitgehend nicht zufriedenstellend gewesen, da die Fragen oft von der Bevölkerung nicht verstanden wurden. Ebenfalls von unterschiedlicher Qualität war die Arbeit, die die Zähler ablieferten, und das hing nicht vom Bildungsgrad ab. Aus Preußen wurde berichtet, daß 1925 sich die Schutzpolizei "am eifrigsten" an den Zählungen beteiligt und besonders in mehreren Großstädten sich "ein grosses Verdienst" dadurch erworben habe, "dass sie die umfangreichen nachträglichen Feststellungen bei mangelhaft ausgefüllten Zählpapieren ausgeführt" habe. Weniger begeistert zeigte man sich in anderen Orten von etlichen Stu26 GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3947, Bl.14r-15, Bericht des Präsidenten des Preußischen Statistischen Landesamts von 1928 über die Erfahrungen mit der Volkszählung 1925. 27 Stadtarchiv Frankfun/~1ain, Magistrat Az. 1451 Bd. 1, Reisebericht des Direktors des Statistischen Amts, Busch, an den Magistrat von Frankfurt arn Main vom 3. November 1932; vgl. auch die gleichen Erfahrungen des Präsidenten des Preußischen Statistischen Landesamts, in GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3947, BI. 95ff. 2l< GStAPK HA I Rep. 77 Nr. 394R, BI. 94, 97 u. 96.

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denten29 und von den Lehrern, sowohl von denen der Volksschulen wie von denen höherer Lehranstalten. Während sie in einigen Gemeinden bis zu 40% der Zähler gestellt hatten und besonders in den östlichen Landesteilen und auf dem Lande ohne sie die Zählung kaum möglich gewesen wäre, hatten sie in einigen größeren Orten dagegen protestiert, daß andere Behörden überhaupt nicht an der Zählung beteiligt wurden, und sich gegen die zwangsweise Verpflichtung zur Wehr gesetzt- "weil sie die Tätigkeit nicht für standesgernäss hielten" .30 Auch Schüler wurden eingesetzt- in Essenz. B. über 400-, bei denen im allgemeinen nicht der gute Wille, aber die Erfahrung fehlte. Mancherorts war man auch an die politischen Jugendorganisationen herangetreten, wobei z. B. in Kassel "Mitglieder des Reichsbanners und des Jungdeutschen Ordens sich rege als Zähler gemeldet" hätten, "während in Görlitz Stahlhelm, Reichsbanner und Luisenbund , wider Erwarten zum Teil vollständig versagt'" hätten.31 Da das System der ehrenamtlichen Zählertätigkeit und auch die Zwangsverpflichtung zu diesem Ehrenamt sich also weitgehend als untauglich erwiesen hatten, waren viele Kommunen dazu übergegangen, Entgelte zu zahlen, und zwar nicht nur an Arbeitslose, sondern auch an sich freiwillig meldende andere Zähler. Zwischen 3 und 20RM pro Zähler gab es als Aufwandsentschädigung. 32 Trotz dieser Behinderungen hatte die Volks-, Berufs- und Betriebszählung aber einen ansonsten normalen Verlauf genommen. Nachdem die Auswertungen überall dem Ende zugingen, zog eine Sonderauszählung anhand des Urmaterials von 1925 im Preußischen Statistischen Landesamt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich und führte am 10. Dezember 1930 im Preußischen Landtag zu einer kleinen Anfrage des Abgeordneten Borck von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Der Berliner Akademie-Verlag hatte eine Subskriptionsliste herumgehen lassen, auf der er für ein Buch von Heinrich Silbergleit, ehemals Direktor des Berliner Statistischen Amtes und seit 1927 Leiter des Sektion Statistik und Wirtschaft bei der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, warb, das den Titel trug "Die Bevölkerungsund Berufsverhältnisse der Juden im Deutschen Reich". In der Werbeschrift hieß es, sämtliche Übersichten des Tabellenwerks beruhten auf Auszählungen, die auf Antrag der Akademie für die Wissenschaft des Judentums im Preußischen Statistischen Landesamt hergestellt worden seien. Borck fragte daher das Staatsministerium: ,,Aus welchem Grunde ist der Antrag der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, die Auszählungen amtlich vorzunehmen, genehmigt worden und welches allgemeine öffentliche Interesse liegt für diese Arbeit vor? Wer hat die Kosten für diese Arbeit im Preußischen Statistischen Landesamt getragen?"~' 29 Ebd., BI. I 09: In Königsberg hatten einige Studenten so schlechte Arbeit geleistet, daß der Magistrat sie dem Studentenausschuß meldete, der sie vor ein Ehrengericht stellte. ~" Ebd., BI. I 04 ff. '' Ebd., BI. IlOf., Zitat BI. li I. ~ 2 Ebd., BI. I12 ff. 33 GStAPK HA I Rep. 77 Nr. 3920, BI. 63, Kleine Anfrage des Abgeordneten Borck vom IO. Dezember I930.

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Der Antwort des preußischen Innenministers lag eine Stellungnahme des Präsidenten des Preußischen Statistischen Landesamts, Saenger, vom 7. Januar 1931 zugrunde. Dieser betonte, daß nach der Zählung von 1925 immer wieder Behörden und wissenschaftliche Organisationen mit Wünschen nach Sonderauszählungen an das Statistische Landesamt herangetreten seien, denen man "in allen Fallen, in denen ein öffentliches oder wissenschaftliches Interesse vorlag, stets ... gegen Erstattung der Kosten" nachgekommen sei, "weil damit das durch die statistischen Erhebungen gewonnene Zahlenmaterial durch Verarbeitung nutzbar gemacht wurde, wozu das Landesamt selbst mangels verlügbarer Mittel nicht in der Lage war." So habe man auch der Bitte vom "Verein zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums" entsprochen, die jüdische Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Beruf in Preußen gesondert auszuzählen. Die Gründe dafür waren nicht nur die erhofften wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch "ein weitgehendes allgemeines Interesse", "da die jüdische Bevölkerung im Preußischen Staate infolge ihres schon lange andauernden Geburtenrückganges und der starken Einwanderung von Juden nichtdeutseher Staatsangehörigkeit seit den letzten Jahren vor dem Weltkriege tiefgreifende Veränderungen etfahren hat, die - falls genügend Mittel vorhanden gewesen wären- selbst eine rein amtliche Untersuchung gerechtfertigt hätten." So seien aber die gesamten Kosten der Auszählung, immerhin 23 000,- RM, von dem genannten Verein erstattet worden, wodurch es dem Preußischen Statistischen Landesamt möglich gewesen sei, eine Reihe von Angestellten, die sonst infolge der Beendigung von anderweitigen Arbeiten hätten entlassen werden müssen, noch einige Monate weiterzubeschäftigen. Auch seien keine besonderen Sachkosten durch diese Auszählung entstanden, denn man habe die notwendigen Tabellenvordrucke aus den Restbeständen der allgemeinen Aufbereitung der Volks- und Berufszählung nehmen können. Zudem habe "ein Teil der mit der Arbeit betraut gewesenen Angestellten vorübergehend auch für die eigenen Zwecke der Volks- und Berufszählung gearbeitet", doch sei "dem auftraggebenden Verein gleichwohl aber das volle Gehalt dieser Angestellten in Rechnung gestellt" worden. Im übrigen müsse auch darauf hingewiesen werden, "daß sich auch andere statistische Landesämter sowie das Statistische Reichsamt seinerzeit bereit erklärt haben, die entsprechenden Auszählungen für die jüdische Bevölkerung der übrigen deutschen Gebiete gegen Erstattung der Kosten vorzunehmen."34 Mit der Antwort des preußischen lnnenministers, der die Diskussionen mit dem Satz beendete, es bedütfe "keiner weiteren Begründung, daß solche Sonderauszählungen aus zahlreichen Gründen auch im öffentlichen Interesse liegen", war die Angelegenheit vor dem Preußischen Landtag zwar erledigt. Gerügt wurde das Statistische Landesamt allerdings vom Finanzminister, daß es nicht genügend geprüft habe, ob auch Sachmittel hätten erstattet und eine Verwaltungsgebühr hätte erhoben werden müssen. 35 Ebd., BI. 66-66r, Saenger an preußischen Innenminister am 7. Januar 1931. Ebd., BI. 69, Beantwortung der Anfrage durch den preußischen Innenminister vom 14. Februar 1931 ; BI. 68, Schreiben des preußischen Finanzministers vom 8. Februar 1931. 34

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3. Der Kampf um die Volkszählung 1930ff. Spätestens 1929 begannen die Vorbereitungen für die nächste geplante Volks-, Berufs- und Betriebszählung, die im Juni 1930 stattfinden sollte. Für die Verhandlungen des Statistikerausschusses in Köln Mitte Mai 1929 hatte das Statistische Reichsamt einen "ersten Referentenentwurf, der- vielfach ein Maximal-Programm darstellend"- als Beratungsunterlage dienen sollte, ausgearbeitet.36 Mitten in diese Arbeiten hinein brachen die Kurse an der New Yorker Börse zusammen; die Weltwirtschaft geriet in eine schwere und lange Krise, die bald auch die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands vertiefte. Reich und Länder befanden sich in großen finanziellen Schwierigkeiten; jede Ausgabenminderung war daher willkommen. Die Volkszählung gehörte zu den Vorhaben, auf die besonders die kleineren Länder mit ihren Überschaubareren Verhältnissen schnell zu verzichten bereit waren. Anders sah es zunächst noch beim Reich, das wiederum eine Berufs- und Betriebszählung durchführen wollte, und bei der preußischen Regierung aus, die anfangs die Position ihrer Landesstatistiker unterstützte und mit deren Argumenten für eine kombinierte Volks-, Berufs- und Betriebszählung plädierte. Der Reichswirtschaftsminister mußte den Bedenken der Länder jedoch Rechnung tragen und verschob am 17. Dezember 1929 die gesamte Zählung zum erstenmal, wobei er jedoch zu diesem Zeitpunkt noch die Meinung vertrat, daß "eine nochmalige Verschiebung ... über das Jahr 1931 hinaus ... nicht tragbar" sei.37 Das war auch die Überzeugung der Statistiker. Sie begannen, mögliche Alternativen zur Volkszählung zu diskutieren, denn zusammen mit vielen Vertretern der Reichsregierung bzw. Reichsbehörden, aber auch z. B. der preußischen Landesregierung waren sie sich in einem einig: Die Ergebnisse der Zählung von 1925 schienen in vielerlei Hinsicht überholt. In der Wirtschaft hatten u. a. Rationalisierung und die Konjunkturkrise Prozesse in Gang gesetzt, die man nicht mehr überschauen zu können glaubte. Auch die Einwohnerzahlen sollten auf den neuesten Stand gebracht werden, da die Fehler bei ihrer Fortschreibung zu Ungerechtigkeiten beim Finanzausgleich führten, also bei den Steuerüberweisungen des Reiches an die Länder und Gemeinden aus den Abgaben, die das Reich nur allein erheben durfte. Seit dem Ersten Weltkrieg zeigte sich zudem ein Wandel im generativen Verhalten der Bevölkerung. Noch nie zuvor war die Geburtenrate so niedrig gewesen, und da viele Zeitgenossen sinkende Geburtenraten nicht in Zusarnrnenhang brachten mit abnehmenden Sterberaten und nicht an ein mögliches Bevölkerungsgleichgewicht auf niedrigerem Niveau, an die demographische Transition, glaubten, sondern sich besonders an der hohen Geburtenrate der vor- und frühindustriellen Zeit orientierten, waren es nicht nur Statistiker, allen voran Friedrich Burgdör36 Thüringisches HStA Weimar, Thüringisches Statistisches Landesamt 50, Präsident Wagemann an Thüringisches Statistisches Landesamt am 26. April1929. 37 Niedersächsisches StA Bückeburg, L 4 Nr. 6630, BI. 14-14 r.

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fer, 38 die Alarm schlugen, sondern auch viele Zivilisationskritiker und Gegner der , Verstädterung'. Als Alternative zur Volkszählung erschien die Personenstandsaufnahme für die Steuerveranlagung. Diese Ersatzmöglichkeit war von den Städtestatistikern schon 1925 diskutiert worden. Noch im gleichen Jahr waren nach Absprachen zwischen dem Reichsfinanzministerium, dem Statistischen Reichsamt und dem Statistischen Amt der Stadt Berlin diese steuerlichen Erfassungsbogen soweit modifiziert worden, daß sie in vielerlei Hinsicht nahezu identisch waren mit den Haushaltsbogen der Volkszählung. Die Steuerbehörden verzeichneten nun jeden Haushalt, alle dazugehörigen Familienmitglieder, Dienstboten, Zimmermieter, Schlafgänger usw. mit vollem Namen, Stand und Beruf oder Erwerb, Stellung im Haushalt, Familienstand, Geburtstag und Geburtsort, Glaubensbekenntnis und Staatsangehörigkeit. Auch die vorübergehend oder zufällig An- und Abwesenden mußten gesondert aufgeführt werden. Allein die Anstaltsinsassen wurden anders als bei der Volkszählung erfaßt. 39 Wegen dieser weitgehenden Ähnlichkeit und aus finanziellen Gründen plädierten nun manche Städtestatistiker wiederum dafür, die Personenstandsaufnahme für Volkszählungszwecke zu verwenden; denn an ,,Zuverlässigkeit und Vollständigkeit gibt die Personenstandsaufnahme heute - das wird nicht zu bestreiten sein - der Volkszählung kaum etwas nach." 40 Diese Vorschläge setzten sich jedoch nicht durch. So sehr z. B. die preußischen Statistiker sich eine Zählung der Bevölkerung wünschten, eine Personenstandsaufnahme für Steuerzwecke als Ersatz für eine Volkszählung lehnten sie vehement ab: Sie müßte in ihrer Fragestellung erweitert werden und wäre keinesfalls zuverlässig, da sie mit besonderen Fehlerquellen behaftet sei. Da die Finanzämter die Haushaltungslisten nicht aufrechneten, müsse diese Arbeit extra bezahlt werden, denn den Gemeinden, die an den Ergebnissen ein finanzielles Interesse hätten, dürfe diese Arbeit keinesfalls überlassen werden. Außerdem müßten die Statistiker zu lange warten, ehe sie selbst die Zählbogen auswerten könnten, da zunächst einmal die Steuerbehörden die sie interessierenden Daten herauszögen. So komme der Ersatz einer Volkszählung durch die Personen38 Aus einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen zu diesem Problem seien nur genannt: Friedrich Burgdörfer, Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung. Die Lebensfrage des deutschen Volkes, in: Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung 28 (1929), S. 65-256; ders., Volk ohne Jugend. Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers. Ein Problem der Volkswirtschaft- der Sozialpolitik -der nationalen Zukunft. Berlin-Grunewald 1932; das Buch erschien nach 1933 noch in mehreren Auflagen. Vgl. zur Kritik an derartigen Positionen auch Kar[ Lenz, Die Bevölkerungswissenschaft im Dritten Reich. Materialien zur Bevölkerungswissenschaft Heft 35. Wiesbaden: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 1983, S. 131 ff. 39 BArch R 43 I/21 08, BI. 135 ff., Weige1, Die Personenstandsaufnahme und die Statistik. 36. Konferenz des Verbandes der deutschen Städtestatistiker am 4. und 5. September 1928 in Hamburg. "'" Ebd., BI. 138 r.

3 Wielog

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Standsaufnahme keinesfalls billiger und bringe nicht mehr Genauigkeit in die Einwohnerzahlen.41 Auch die Fortschreibung der Volkszählungsdaten, also die Berechnung der Bevölkerung aus den standesamtlichen Meldungen der Geburten und Sterbefalle, kombiniert mit den polizeilichen An- und Abmeldungen, war nach Überzeugung der preußischen Statistiker ein untauglicher Ersatz. Könnten die Zuzüge anband der Anmeldungen noch einigermaßen genau überprüft werden, so sei bei den Fortzügen die Fehlerquote wegen der bekanntermaßen nachlässigeren Handhabung der Abmeldungen sehr hoch. Zwar hatten die Statistiker schon vor dem Ersten Weltkrieg oft Berichtigungszuschläge bei den Abmeldungen in die Berechnung der fortgeschriebenen Einwohnerzahlen eingefügt, diese nach den Volkszählungen auch immer wieder korrigiert, doch hatten sie damit die Fehler nur verkleinern, nicht beseitigen können.42 Als Beispiel für die fehlerhaften Berechnungen nannten die preußischen Statistiker u. a. Berlin, wo sich 1925 nach der Bevölkerungsfortschreibung 116 557 Personen mehr hätten aufhalten müssen, als die Volkszählung tatsächlich ergeben hatte.43 Auch der Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Frankfurt am Main, Busch, übte Kritik an den Folgen, die Veränderungen des preußischen Meldewesens hervorgerufen hätten. Damit sei die Bevölkerungsfortschreibung .,teilweise illusorisch" geworden. Die ortsanwesende Bevölkerung einschließlich eines .,nicht unerheblichen vagabundierenden Teiles" sei .,erheblich grösser" als die Wohnbevölkerung. Ohne die Beseitigung dieser Mängel in der Organisation des Meldewesens könne eine .,einwandfreie Bevölkerungszahl kaum gewonnen werden", zumal wenn man .,die Erfahrungen bezüglich der Einstellung der Bevölkerung zu grösseren Erhebungen bei den steuerlichen Personenstandaufnahmen" in Betracht ziehe.44 Für das Statistische Reichsamt sprachen gegen die Verbindung der Volkszählung mit einer Personenstandsaufnahme besonders auch die von Busch angeschnittenen psychologischen Gründe. Da der Bevölkerung die Aufgaben der Finanzämter vertrauter waren als die der amtlichen Statistik, befürchtete das Statistische Reichsamt, die Steuerzwecke zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Die Statistiker würden zudem die eigenen Argumente unterlaufen, denn man .,würde sich schon in der Propaganda für die Zählung der Möglichkeit begeben, unter Hinweis auf das Amtsgeheimnis zu betonen, daß die Angaben nur für statistische und nicht für andere Zwekke, insbesondere nicht für steuerliche Zwecke verwertet werden." So würde die Bevölkerung die vorgesehenen Fragen als .,steuerliche Zweckfragen" werten und sie 41 Zur Diskussion siehe für Preußen GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3962, BI. 87-87 r, Dr. Saenger am l. November 1929. 42 V gl. hierzu GStAPK HA I Rep. 77 Nr. 3950, BI. 5 r-6, Saenger an preußischen Innenminister am 12. Oktober 1927; BArch NS 5 VI/4521, {Gustavf Rübe/, Einwohnermeldewesen und Bevölkerungsfortschreibung, in: Der Gemeindetag Heft 2 vom 15. Januar 1935, S. 37 . ., GStAPK HAI Rep. 77 Nr.3962, Bl.86ff., Dr. Saenger am l. November 1929. 44 Stadtarchiv Frankfurt/Main, Magistrat Az. 1451 Bd. I, Reisebericht des Direktors des Statistischen Amts, Busch, an den Magistrat von Frankfurt am Main vom 3. November 1932.

I. Die Statistik in der Weimarer Republik

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"zweifellos nicht mit derselben Offenheit beantworten wie bei einer Zählung, bei der diese Garantie gegeben werden" könne. Als warnendes Beispiel nannte das Statistische Reichsamt die letzte Personenstandsaufnahme in Leipzig, deren Ergebnisse "in einem auffallenden Mißverhältnis zu den Ergebnissen der Volkszählung von 1925 und der darauf aufgebauten Fortschreibung" stünden. Daher bestehe "die Gefahr, daß selbst einfache und im allgemeinen auch als unverfänglich betrachtete Fragen wie die nach der Religionszugehörigkeit oder nach dem Familienstand oder wegen der Kirchensteuer oder Ledigen ... [unleserlich) Mißtrauen begegnen; in weit stärkerem Maße gilt dies natürlich bei den Fragen, die sich auf den Beruf (besonders auch Nebenberuf) und auf die gewerblichen und landwirtschaftlichen Betriebe beziehen." Hinzu komme, daß die Volks-, Berufs- und Betriebszählungen im Deutschen Reich Selbstzählungen der Bevölkerung seien und es daher für die amtliche Statistik "unbedingt notwendig" sei, "das Vertrauen der Bevölkerung in die Geheimhaltung der Angaben bei statistischen Erhebungen zu erhalten. Es wäre sehr bedenklich, hiervon auch nur einmal eine Ausnahme zu machen, insbesondere, wenn man die Rückwirkungen erwägt, die ein solches Vorgehen auch auf anderen Gebieten der amtlichen Statistik, wie der Produktionsstatistik, den Viehzählungen usw. voraussichtlich zur Folge haben würde."45 Als Ende 1930 die erneute Verschiebung der Volks-, Berufs- und Betriebszählung absehbar war, protestierte in ihrer Sitzung vom 13. Dezember 1930 auch die Arbeitsgruppe I des vom Reichsministerium des Innern berufenen Reichsausschusses für Bevölkerungsfragen, die sich u. a. mit den Geburtenproblemen zu befassen hatte und der auch die Statistiker Friedrich Burgdörfer, Direktor der bevölkerungsstatistischen Abteilung im Statistischen Reichsamt, und Friedrich Zahn, Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamts, angehörten: "Für die Volkszählung wäre das Jahr 1930 ein bevölkerungspolitisch sehr bedeutungsvoller Zeitpunkt gewesen, da von nun an die Geburtenjahrgänge der Kriegszeit in das erwerbsfähige Alter aufrükken. Leider liess man diesen Zeitpunkt ungenutzt vorübergehen." Die Arbeitsgruppe verabschiedete daher eine Entschließung, in der sie erklärte, sie habe "mit Befremden davon Kenntnis genommen, dass die schon 1930 fällig gewesene Volks-, Berufs- und Betriebszählung abermals verschoben werden musste." Sie bitte daher "erneut und mit Nachdruck, dass die Volkszählung und mit ihr eine das ganze Volk umfassende Familienstatistik alsbald- spätestens 1932 - durchgeführt wird." 46 Um den Sinn aktueller Bevölkerungszahlen zu verdeutlichen, stellten die preußischen Statistiker die Auswirkungen der veralteten Zahlen auf die Steuerverteilung zusammen.47 Allerdings ergaben ihre Berechnungen für die Kommunen nicht im45 Niedersächsisches StA Bückeburg, L4 Nr. 6630, BI. 47-48, Platzer an Reichswirtschaftsminister am 29. August 1931. 46 GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3962, Bl.152-152r, Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe I vom 13. Dezember 1930. 47 Ebd., BI. 205 ff., Stellungnahme zur Frage einerneuen Volkszählung vom Standpunkt der Steuerverteilung, Anlage zum Schreiben Höpkers vom 23. November 1932.

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C. Die Volkszählung 1933

mer nur Einnahmeausfälle. Die Vielzahl der verschiedenen Zuweisungen in die eine oder andere Richtung ließen eine Volkszählung mit korrekten Zahlen für die Städte nicht immer attraktiv erscheinen. Der Deutsche Städtetag allerdings protestierte zunächst immer wieder gegen die Verschiebung der Volkszählung, so auch in einem Brief an den Reichswirtschaftsminister vom 11. Mai 1931. Im Interesse der Kommunen forderte er eine Volkszählung spätestens für 1932. Auch hier tauchte die Kritik an den völlig überholten Zahlen auf und an den Ungerechtigkeiten, wenn diese Daten als Verteilungsschlüssel dienten; sie seien "immer unbefriedigender", "unter Umständen sogar falsch und ungerecht". Für die hoch verschuldeten Kommunen spielten jedoch auch die Kosten eines derartigen Unternehmens eine große Rolle. So sollte die Volkszählung so billig wie möglich sein. Daher forderte der Deutsche Städtetag die Beschränkung auf die wesentlichsten Fragen und den Verzicht auf die Berufs- und Betriebszählung, die im Augenblick wegen der "vorübergehenden" wirtschaftlichen Krise sowieso keine dauernde Bedeutung hätte. Auf die "nicht unbedingt dringlichen Nebenfragen" (z. B. berufsstatistischen und familienstatistischen Charakters) sollte verzichtet werden.48 Beigelegt wurde diesem Brief ein Fragebogenentwurf, den der Städtetag zusammen mit Sachverständigen der Städtestatistik erarbeitet hatte. Er enthielt nur die Fragen nach dem Vor- und Familiennamen, der Stellung im Haushalt, dem ständigen Wohnort der vorübergehend Anwesenden, dem Geschlecht, dem Geburtstag, dem Familienstand, der Staatsangehörigkeit (Reichsdeutscher, Ausländer, staatenlos), dem Stand, dem Beruf oder Erwerb, dem Beschäftigungsort sowie nach den vorübergehend Abwesenden.49 Keines der Länder hätte jedoch gegen eine Volkszählung Protest eingelegt, wäre auch diese vom Reich finanziert worden. Ein derartiges Ansinnen war allerdings bei dessen sich ebenfalls dramatisch verschlechtemder Finanzlage illusorisch und wurde dementsprechend heftig abgelehnt. Auch 1932 sagte daher der Reichswirtschaftsminister zu seinem "Bedauern" die Zählung ab. 5° Selbst Preußen, dessen Statistiker sich schon 1929 der Mühe unterzogen hatten, einen Minimalplan für die Volkszählung zu entwerfen, hatte nun passen müssen. Man rückte auf diese Weise immer mehr von den international üblichen Zählterminen - zu deren Einhaltung sich Deutschland in dem internationalen Abkommen über Wirtschaftsstatistik vom 14. Dezember 1928 für die mit der Volkszählung zweckmäßig zu verbindenden Berufszählungen verpflichtet hatte - ab und überlegte schon, ob nicht vielleicht ganz auf diese Zählung verzichtet werden sollte, um erst 1935 eine neue Bestandsaufnahme vorzunehmen. Das hätte auch den Vorteil gehabt, dann das Saarland - von dessen Votum zum Anschluß an Deutschland man offensichtlich überzeugt war - in die Zählung mit einschließen zu können.5 1 .,. Ebd., BI. 157-15R. 49 Ebd., BI. 161-161 r. 50 BArch R43 I/2109, B1.169. 51 Vgl. hierzu GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3962, BI. 183, preußischer Finanz- an Innenminister am 27. Oktober 1931.

I. Die Statistik in der Weimarer Republik

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Für 1933 begannen sich ähnliche Probleme und Argumentationen abzuzeichnen. Ende Oktober 1932 legte zumindest die Geschäftsstelle des Deutschen Städtetages "keinen besonderen Wert mehr auf eine Volkszählung", weder für 1932 noch für 1933.52 Obwohl der Verband der Deutschen Städtestatistiker den Präsidenten des Statistischen Reichsamts aufgefordert hatte, sich für die Durchführung der Zählung einzusetzen, die unter Zuhilfenahme des freiwilligen Arbeitsdienstes verwirklicht werden sollte,53 schloß sich so mancher Kommunalstatistiker, die finanziellen Bedrängnisse seiner Stadt vor Augen, der ablehnenden Haltung an. August Busch z. B., Direktor des Statistischen Amts der Stadt Frankfurt am Main, der 1931 noch "die Abhaltung einer Volkszählung, selbst unter Berücksichtigung der Kosten, für wichtig gehalten" hatte, stimmte nun der Überzeugung des Städtetages zu und kritisierte dabei auch das Statistische Reichsamt, das "unter allen Umständen eine grassangelegte Zählung durchführen", die Frage der Kosten dabei aber nicht öffentlich diskutieren wolle, weil sich dann eine Zählung nicht mehr verwirklichen ließe. "Bei aller Anerkennung der Bestrebungen des Reichsamts" sei "den Herren erklärt worden, insbesondere habe ich selbst darauf hingewiesen, dass die Stadtverwaltungen unter gar keinen Umständen in der Lage seien, grössere Summen für die Zählung aufzuwenden."54 Das Statistische Reichsamt allerdings gab die Hoffnung nicht auf. Vor dem Hintergrund, daß aus dem Bedürfnis nach neueren Daten heraus auf Veranlassung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zumindest im Bereich des Landesarbeitsamtes Thüringen, wahrscheinlich aber auch darüber hinaus, im Oktober 1932 eine "Volkszählung" durchgeführt wurde, trat dessen Präsident Ernst Wagemann an den Reichswirtschaftsminister heran und legte erneut die Wichtigkeit einer Volks-, Berufs- und Betriebszählung dar: "Die Ergebnisse einer neuen Zählung werden in zunetunenden Maß auch zur Klärung der wirtschaftlichen, insbesondere der Produktions- und Absatzverhältnisse gebraucht. Der verschärfte Geburtenrückgang, die Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer, die Änderungen in der Richtung der Wanderungsbewegungen, die beruflichen Umschichtungen, der Zuwachs an Haushaltungen bei ständiger Verkleinerung der Familie sind Vorgänge, die zu kennen für Zwecke der Arbeitsmarktpolitik, der Bevölkerungspolitik usw. immer nötiger wird. Diese Grundlagen vennag nur eine neue Volks- und Berufszählung mit einer Gliederung der Bevölkerung nach Alter und Familienstand, Größe und regionaler Verteilung der Haushaltungen, Erwerbstätigkeit usw. zu geben. Heute fehlt z. B. ein allgemein anerkannter, durch eine neue Zählung unschwer beizubringender Überblick über die Haushaltungen und die leerstehenden Wohnungen. Daraus entsteht die Gefahr, [daß] die Lage auf dem Bau- und 52 Stadtarchiv Frankfurt/Main, Magistrat Az.1451 Bd. 1, Reisebericht des Direktors des Statistischen Amts, Busch, an den Magistrat von Frankfurt am Main vom 3. November 1932. 53 Niedersächsisches StA Bückeburg, L 4 Nr. 6630, BI. 58, Präsident Wagemann an Reichswirtschaftsminister am 31. Oktober 1932. 54 Stadtarchiv Frankfurt/Main, Magistrat Az. 1451 Bd. 1, Reisebericht des Direktors des Statistischen Amts, Busch, an den Magistrat von Frankfurt am Main vom 3. November 1932.

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C. Die Volkszählung 1933 Wohnungsmarkt unzutreffend beurt(eilt] wird, was unter Umständen zu einer falschen Zielrichtung (in der] Arbeitsbeschaffungspolitik führen kann."55

Am 14. Dezember 1932 teilte das Reichswirtschaftsministerium den Ländern mit, daß es nun eine Volks-, Berufs- und Betriebszählung für 1933 vorsehe und die Länder entsprechende Mittel in den Haushalten bereitstellen sollten.56 Bayern gehörte zu denen, die diesen Entschluß mit dem Wort "endlich" begrüßten und schnell reagierten; schon am 4. Januar 1933 beantragte das dortige Innenministerium beim bayerischen Finanzminister, in den Haushalt 1933 eine erste Rate von 75000RM für die Volkszählung vorzusehen. Für 1934/35 rechnete man mit weiteren 45 000 RM. 57 In dieser Zeit steuerte die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf ihre Höchstmarke zu, war die Wirtschaft in vielen Bereichen zusammengebrochen, und der Wunsch, mit neuen Zahlen auch in der Agrar- und Gewerbepolitik wieder festen Boden unter die eigenen Berechnungen zu bekommen, war groß. Viele statistische Landesämter, allen voran das preußische, hatten in den Jahren zuvor nicht nur aus statistischen Gründen für eine Einhaltung des Volkszählungstermins 1930 plädiert. Sie hatten für die Zählung von 1925 Personal eingestellt, und zwar auf Zeit. Da diese Arbeiten sich 1929 dem Ende zuneigten und sie das eingearbeitete Personal nicht verlieren wollten, mußten neue Gelder fließen. So war eines der Argumente auch ein fiskalisches gewesen: Zähle man jetzt, könne man mit einem Personalstamm arbeiten, der sich bestens auskenne und dementsprechend effektiv und zuverlässig für rasche Ergebnisse sorgen könne. Das wiederum sollte ebenfalls Geld sparen helfen, und zwar nicht nur bei der Volkszählung selbst, sondern auch bei der Arbeitslosenversicherung.58 Denn eines war klar: Alle, die man entließ, würden nur das wachsende Heer der Arbeitslosen vermehren.

II. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und die Volkszählung 1933 In die Zeit dieser erneuten Vorbereitungen fiel die nationalsozialistische Machtübernahme. Schon zuvor war im Juli 1932 durch Papens staatsstreichartigen "Preußenschlag" die demokratisch gewählte preußische Landesregierung unter dem Sozialdemokraten Otto Braun abgesetzt worden. Noch am 27. Januar 1933, ein Tag, bevor Kurt von Schleicher von seinem Amt als Reichskanzler zurücktrat, stand 55 Niedersächsisches StA Bückeburg, L4 Nr. 6630, BI. 58 und BI. 60 (Zitat), Präsident Wagemann an Reichswirtschaftsminister am 31. Oktober 1932. 56 BayHStA, StK 106627, so der Hinweis im Schreiben der Vertretung Thüringens beim Reich an die Bayerische Gesandtschaft am 13. Januar 1933. 57 Ebd., Bayerisches Staatsministerium des Innern an das Staatsministerium der Finanzen am 4. Januar 1933. 5" GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3962, Bl.21 , preußischer Innen- an Finanzminister am 13. November 1929.

II. Machtübernahme durch die Nationalsozialisten

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nicht fest, ob die Volkszählung tatsächlich durchgeführt werden würde. Da das Statistische Reichsamt aber auf alle Fälle die Vorbereitungsarbeiten abschließen wollte, lud es für Mitte Februar zu einem Treffen des berufs- und betriebsstatistischen Ausschusses nach Berlin.59 Am 28. Januar nannte Wagemann den 13. Juni als möglichen Termin, fügte jedoch hinzu, der Reichswirtschaftsminister habe noch keine Entscheidung getroffen.60 Den Beschluß zur Durchführung der Volks-, Berufs- und Betriebszählung hatte die am 30. Januar 1933 eingesetzte neue Regierung zu fassen, und sie faßte ihn auch innerhalb weniger Tage, was den Eindruck entstehen ließ, der ,neue Staat' messe der amtlichen Statistik eine besondere Bedeutung zu. Die Einwände wegen der finanziellen Engpässe, die zu einer Verschiebung um drei Jahre geführt hatten, wurden beiseite geschoben. Schon am 10. Februar 1933 bestimmte die Regierung in einem Erlaß, daß wie 1925 auch bei der kommenden Volks-, Berufs- und Betriebszählung die Länder wieder die Kosten der Volkszählung zu übernehmen hätten. Thüringen, Baden, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt und Sachsen wollten gegen diese Regelung protestieren, und Preußen war nur bereit, innerhalb eines ganz bestimmten Rahmens zu den Kosten beizutragen. Bayern jedoch, das an den Ergebnissen der Berufs- und Betriebszählung stark interessiert war und den dafür vom Reich zu zahlenden Betrag für das eigene Land zehnmal so hoch ansetzte wie für die Volkszählung, hatte gegen diese Regelung nichts einzuwenden, hielt sie sogar "aus staatspolitischen Gründen" für richtig. Denn man sicherte sich auf diese Weise "einen weit größeren Einfluß auf Programm und Durchführung der Zählung, als wenn das Reich der Geldgeber wäre. "61 Die Bedenken der anderen Länder wurden zudem zunächst zurückgestellt, da das Reichswirtschaftsministerium mitteilte, daß eine Gesetzesvorlage an Reichstag und Reichsrat gemacht werden solle. Sie kamen daher überein, ihre Einwände im Reichsrat, also in der Ländervertretung, zur Sprache zu bringen, und sie hofften darauf, daß Sachsen, das größte Land unter ihnen, dort der Beschwerdeführer sein werde. Ehe es dazu kommen konnte, fand am 28. März eine Besprechung im Reichswirtschaftsministerium über den Gesetzentwurf einer Volks-, Berufs- und Betriebszählung statt, an der alle Länder außer Bremen und Schaumburg-Lippe sowie Vertreter des Reichswirtschafts- und des Reichsfinanzministeriums sowie des Statistischen Reichsamts teilnahmen. Den Vorsitz führte der Ministerialbeamte Wolfgang Reichardt,62 der Ende Juli 1933 als Nachfolger Ernst Wagemanns Präsident des Statistischen Reichsamts werden sollte. In dieser Sitzung ließen sich Thüringen, das seit 1929 für eine Übernahme der Kosten der Volkszählung durch das Reich gestritten 59 Thüringisches HStA Weimar, Thüringisches Statistisches Landesamt 55, Mitteilung Wagemanns an das Thüringische Statistische Landesamt vom 27. Januar 1933. 60 Niedersächsisches StA Bückeburg L4 Nr. 6631, BI. 3 f. 61 BayHStA, StK 106627, Staatsministerium des Innern an Staatsministerium des Äußern, für Wirtschaft und Arbeit am 20. April 1933. 62 Vgl. auch den Biographischen Anhang G, S. 242ff.

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C. Die Volkszählung 1933

hatte,63 Sachsen, Baden und Hessen in ihrer die Volkszählung ablehnenden Haltung umstimmen, da den Ländern für die Berufs- und Betriebszählung ein Vergütungssatz- man rechnete mit 8,5 Pfennigen pro Kopf der Wohnbevölkerung64 - garantiert worden war, der ihre Unkosten "bei normalem Geschäfts- und Arbeitsgang voll" decken sollte. Das hatte die Besorgnisse ausgeräumt, die Länder könnten über den Weg der Unterfinanzierung der Berufs- und Betriebszählung durch das Reich zu deren Kosten beitragen müssen. Für Preußen und das Reich bestand zudem die Möglichkeit, durch Kurz- und Hausarbeit bei der Auszählung eine Tarifentlohnung zu vermeiden und die Kosten zu senken. "Ferner könne die Mitwirkung am Erhebungsgeschäft (Zähler) als Pflichtarbeit im Sinne der arbeitsgesetzlichen Bestimmungen erklärt werden." Nicht weiter behandelt wurde auf dieser Sitzung der Wunsch, die Polizei am Zählgeschäft zu beteiligen- "als ausserhalb des Rahmens reichsgesetzlicher Regelung fallend".65 Die Diskussion des Gesetzentwurfes brachte die Aufnahme der Frage nach dem Geburtsort in die Zählung und eine Änderung des § 11 der Durchführungsverordnung.66 Der Geburtsort, so hieß es, war "in Verhandlungen mit dem Reichswirtschaftsministerium seitens der Reichsleitung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei zwecks Untersuchung volksbiologischer Fragen beantragt worden".67 Schon auf dieser Sitzung deutete sich an, daß die Regierung die Entwürfe des Volkszählungsgesetzes und einer Durchführungsverordnung aufgrund des vier Tage zuvor in Kraft getretenen Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich, des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, beschließen würde und eine Zustimmung des Reichsrates dazu nur noch prüfte.68 63 Vgl. GStAPK HA I Rep. 90 Nr. 1307, Thüringisches Staatsministerium in Weimar an den Reichswirtschaftsminister am 30. Oktober 1929; BayHStA, StK 106627, Vertretung des Landes Thüringen beim Reiche an die Bayerische Gesandtschaft am 13. Januar 1933. 64 Die endgültigen Vergütungssätze wurden erst im Frühjahr 1935 festgesetzt: 9 Rpf. pro Kopf der Wohnbevölkerung für die Lieferung der erforderlichen Erhebungspapiere und die Bearbeitung des Urmaterials der Berufs- und Betriebszählung einschließlich der Familien- und Haushaltungsstatistik und jeweils 6 Rpf. pro Kopf für die Sonderauszählungen der Juden und Ausländer; vgl. Thüringisches HStA Weimar, Thüringisches Statistisches Landesamt 56, Schreiben Reichardts vom 11. Mai 1935. 6.~ Thüringisches HStA Weimar, Thüringisches Statistisches Landesamt 55, Vermerk aus dem Reichswirtschaftsministerium, III B Nr. 1373/33, vom 31. März 1933; vgl. auch BayHStA, StK 106627. 66 HStA Stuttgart, E 130 b Bü 1745, Schreiben des Württembergischen Bevollmächtigten zum Reichsrat an das württembergische Staatsministerium vom 29. März 1933. Vgl. dazu auch unten, S. 57, zur Bedeutung des § 11 DVO. 67 Thüringisches HStA Weimar, Thüringisches Statistisches Landesamt 51; Niedersächsisches StA Bückeburg, L4 Nr. 6631, BI. 18, Hans Platzer, Direktor des Statistischen Reichsamts, an die Statistischen Landesämter am 23. März 1933; die "Beantragung" war eine freundliche Umschreibung für die Auseinandersetzung darum, vgl. unten, S. 52 f. und S. 246 ff. 6 " HStA Stuttgart, E 130 b Bü 1745, Schreiben des Württembergischen Bevollmächtigten zum Reichsrat an das württembergische Staatsministerium vom 29. März 1933.

II. Machtübernahme durch die Nationalsozialisten

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Für alle Länder, die doch noch gehofft haben sollten, im Reichsrat weiteren Einfluß ausüben zu können, kam am 31. März die Ernüchterung, als sie realisieren mußten, daß sich durch das Ermächtigungsgesetz ihre Mitspracherechte in Luft aufgelöst hatten, und das schon ein knappes Jahr vor der Auflösung der Länderparlamente und des Reichsrates. Das Reichswirtschaftsministerium teilte ihnen an diesem Tag mit, daß im Anschluß an die gemeinsame Besprechung vom 28. März 1933 und nach "Fühlungnahme" mit dem für diese Frage zuständigen Reichsinnenministerium "eine Beteiligung des Reichsrats beim Erlass von Gesetzen der Reichsregierung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes nicht beabsichtigt ist. Von der nach § 67 der Reichsverfassung vorgesehenen Zuziehung des Reichsrats zur Beratung des Gesetzes darf ich wohl mit Rücksicht auf die eingehende Erörterung der Angelegenheit in der genannten Besprechung absehen." Die Regierungen von Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Braunschweig, Anhalt und Mecklenburg-Strelitz, die einer Volkszählung aus Kostengründen ablehnend gegenüberstanden, wurden aufgefordert, "im Hinblick auf die allseits anerkannte Notwendigkeit der Vomahme der Zählungen und im Hinblick darauf, dass die überwiegende Mehrzahl der Länder dem Gesetzentwurf zugestimmt haben, die Bedenken gegen die Übernahme der Kosten der Volkszählung zurückzustellen". Ohne auf weitere Einwände zu warten, hatte der Reichswirtschaftsminister den Entwurf schon dem Reichskabinett zugeleitet.69

1. Der 30. Januar 1933 und seine Folgen für die amtliche Statistik Die Veränderungen, die der 30. Januar 1933 mit sich brachte, sahen zwar zunächst nicht so spektakulär aus, wie manche befürchtet hatten. Die Nationalsozialisten schienen sich mit dem Posten des Reichskanzlers und mit drei Ministern zu begnügen: dem wichtigen Innenministerium unter Wilhelm Frick, mit einem Minister ohne Geschäftsbereich, Hermann Göring, und seit März mit dem neuen Propagandaministerium unter Joseph Goebbels. Für das Wrrtschaftsministerium und damit auch für das Statistische Reichsamt wurde für wenige Monate mit Alfred Hugenberg ein Minister zuständig, der nicht der NSDAP angehörte, sondern der Vorsitzende der stark rechts ausgerichteten Deutschnationalen Volkspartei war.70 In Preußen jedoch war 69 Thüringisches HStA Weimar, Thüringisches Statistisches Landesamt 55, Schreiben III B Nr. 1373/33 des Reichswirtschaftsministeriums an die Landesregierungen vom 31 . März 1933. 70 Von 1933 bis 1945 sah das Reichswirtschaftsministerium fünf verschiedene Minister und wechselte damit den Chef häufiger aus als die anderen Ministerien: Hugenberg (DNVP), zum Rücktritt gezwungen, wurde am 29. Juni 1933 von Kurt Schmitt (NSDAP), dem ehemaligen Generaldirektor der Allianz, abgelöst, dem am 3. August 1934 Hjalmar Schacht (parteilos) folgte. Als Interimslösung bekam das Reichswirtschaftsministerium wieder einen nationalsozialistischen Minister am 26. November 1937 mit Hermann Göring (bis 15. Januar 193R), dessen Nachfolger am 4. Februar 193R Walther Funk wurde, ebenfalls Mitglied der NSDAP. Funk blieb bis zum 3. April 1945; vgl. die Aufstellung in: Der Große Ploetz. Auszug aus der Geschichte. Würzburg 3"19R6, S. 936; hier wird Schmitt als parteilos bezeichnet, doch Willi A.

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C. Die Volkszählung 1933

unter dem Reichskommissar und Vizekanzler von Papen mit Göring einer der führenden Nationalsozialisten mit der kommissarischen Leitung des Innenministeriums beauftragt worden, wodurch er auch für das Statistische Landesamt zuständig wurde und- sehr viel wichtiger- zum Chef. der größten Polizeitruppe des Reiches aufstieg. Es zeigte sich bald, daß von Papen mit seiner Überzeugung, Hitler "engagiert" zu haben, falsch lag.71 Den Fackelzügen des 30. Januar folgten sehr schnell die Maßnahmen gegen die demokratischen Parteien, Institutionen und Organisationen sowie die ersten antijüdischen Gesetze und Verordnungen.72 Ein frühes Gesetz, das sich gegen Juden und auch gegen Anhänger der denNationalsozialistenverhaßten "Systemzeit"- also der Weimarer Republik und der linken Parteien, aber auch des Zentrums- richtete, war das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dieses ermöglichte nicht nur, Juden, die nicht Frontkämpfer oder nicht schon vor 1914 Beamte gewesen waren, aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Auch gegen politische Gegner ließ es sich anwenden, denn nach § 4 konnten "Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, ... aus dem Dienst entlassen werden." 73 Die Erste Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 11. April 1933 legte zudem fest, daß Beamte, die der kommunistischen Partei oder ihren Hilfs- oder Ersatzorganisationen angehörten, zu entlassen seien. Als meldepflichtig galt nicht nur die Mitgliedschaft in einer Partei, sondern auch im Reichsbanner Schwarz-RotGold, im Republikanischen Richterbund und in der Liga für Menschenrechte. Weiterhin "definierte" die Durchführungsverordnung den im § 3 des Gesetzes gebrauchten Begriff "nicht arisch" als Abstammung insbesondere von jüdischen Eltern oder Großeltern, wobei es schon genügte, wenn ein Eltern- oder Großelternteil jüdischen Glaubens war.74 Die Feststellung der Abstammung von Beamten lag in den Händen des Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsinnenministerium, Dr. Achim Gercke. Ihm war aufgegeben, die "arische" bzw. "nicht arische" Abstammung zu überprüfen. Seine Anfragen mußten von den Behörden laut Anweisung des Reichsinnenministeriums "mit besonderer Beschleunigung" beantwortet werden. Die entsprechenden Auskünfte durften "lediglich auf Grund des vorhandenen amtlichen Materials Boe/cke, Die deutsche Wirtschaft 1930-1945. Interna des Reichswirtschaftsministeriums.

Düsseldorf 1983, S.67, datiert seinen Parteieintritt auf den I. Aprill933. 71 Vgl. Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich. München 4 1991 , S.l. 72 Zu den gesamten Maßnahmen gegen die Juden siehe Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich. Königstein/fs. u. Düsseldorf 1979; H[ans] G[ünter] Adler, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland. 1übingen 1974; Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. München u. Zürich 199!1. 73 GesetzzurWiederherstellungdesBerufsbeamtentums. Vom 7. April1933. RGBI.I, S.175. 74 Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vom II. April 1933. RGBI.I, S.I95.

II. Machtübernahme durch die Nationalsozialisten

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gegeben werden. Mit den Personen, über die Auskunft eingeholt wird, darf nicht in Verbindung getreten werden."75 Im württembergischen Innenministerium ging man im Juni 1933 davon aus, daß es sich dabei hauptsächlich um Anfragen handeln würde, "die von den Gemeindebehörden auf Grund der Personenstandsregister zu beantworten" seien,76 d. h., daß bei den Standesämtern genügend Informationen vorhanden waren, um auch jüdische Vorfahren feststellen zu können. Noch bevor das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns in Kraft trat, wurde die Basis der NSDAP aktiv. Die der Machtübernahme folgenden Monate waren die Stunde der Denunzianten, die oft aus den Reihen der "alten Kämpfer" der Nationalsozialisten stammten, also vor 1933 der NSDAP (Mitgliedsnummer bis 300000), SA oder SS beigetreten waren. In Preußen waren unter dem Ministerpräsidenten Braun manche aktiven Nationalsozialisten aus dem Staatsdienst entfernt worden. Wer das nicht hatte riskieren wollen, hatte zum Teil seine Parteibetätigung eingestellt, wie etwa der Arzt Arthur Gütt, der 1933 als Ministerialrat ins Reichsinnenministerium wechselte und mit zuständig wurde für das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Als im Frühjahr 1932 die Mitgliederkartei der NSDAP durch die preußische Polizei beschlagnahmt wurde, waren die Namen offenbar auch an das Statistische Reichsamt gemeldet worden; zumindest der dort beschäftigte Oberregierungsrat Wilhelm LeiBe, Mitglied in der NSDAP seit dem 6. März 1932, hatte sich vor dem Präsidenten Wagemann zu verantworten gehabt77 und behauptete später, er habe deswegen berufliche Nachteile in Kauf nehmen müssen.78 Nach dem 30. Januar versuchten dann einige dieser ,alten Kämpfer', Rache zu nehmen. Zwecks Umgestaltung der Behörden nach nationalsozialistischen Vorstellungen übten sie auf die Parteiführung erheblichen Druck von unten aus und denunzierten häufig ihre Kollegen. Doch nicht nur die NSDAP besaß Zuträger in den Ämtern, auch die DNVP Alfred Hugenbergs hatte in fast allen Ministerien über "Vertrauensmänner" ein Auskunftssystem aufgebaut. Im Reichswirtschaftsministerium geriet 75 HStA Stuttgart, E 151/02 Bü46, Staatssekretär Pfundtner aus dem Reichsinnenministerium am 3. Juni 1933. 76 Ebd., handschriftliche Notiz. 77 Auch in Bayern waren Nationalsozialisten in den Ämtern nicht wohlgelitten. Im Bayerischen Statistischen Landesamt scheint aber der Präsident Friedrich Zahn seine schützende Hand über die zunächst sehr kleine Schar der NSDAP-Mitglieder gehalten zu haben, gegen die mehrfach seitens des Innenministeriums ermittelt wurde. So bedankte sich der Rechnungsrat Stammler bei Zahns Verabschiedung in den Ruhestand am 8. Februar 1939 mit den Worten: "Die großzügige Haltung, die Sie, Herr Präsident, uns Verfemten bei der Untersuchung zuteil werden ließen, war eine echt männliche, deutsche Tat. Sie haben uns nicht verraten. Diese Tat hat Sie schon in der Kampfzeit unbewußt zum Nationalsozialisten gekennzeichnet. So kam es auch, daß Ihnen nach der Machtübernahme von seiten der bayerischen Landesregierung unbegrenztes politisches Vertrauen entgegenschlug." Vgl. Präsident Dr. Zahn. Feier des 70. Geburtstags und Feier der Verabschiedung und Amtsübergabe, in: Zeitschrift des Bayerischen Statistischen Landesamts 71 (1939}, S. 261. 7" BArch, (ehern.) BDC OPG Wilhelm Leiße, Leiße an Kreisgericht der NSDAP am 25. März 1935.

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bei ihnen u. a. der Ministerialrat Wolfgang Reichardt in den Verdacht, zu demokratisch und rechtsstaatlich zu denken. Er wurde als Anhänger der Deutschen Volkspartei (DVP) verdächtigt und zur weiteren Observierung auserkoren. 79 Auch im Statistischen Reichsamt meldeten sich sehr schnell alte Kämpfer der NSDAP zu Wort. Schon am 28. Februar 1933 versuchten die dortigen Führer der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO), den Gang der Ereignisse zu forcieren. Sie forderten von der Parteiführung, "die bisher in preussischen Staatsstellen begonnene Säuberungsaktion nunmehr auch für unsere Reichsbehörde veranlassen zu wollen". Zur Begründung hieß es, es könne "uns heute nicht mehr zugemutet werden, weiter unter einer Leitung zu arbeiten, die in ihren Machenschaften während der bisherigen Jahre jegliche nationale Regung nach üblichen Methoden unterdrückt und abgewürgt hat."80 Als Anlage überreichten sie eine ,Beurteilung' des Präsidenten Wagemann und anderer führender Mitarbeiter des Statistischen Reichsamts und gaben den Hinweis, daß eine eventuell einzusetzende Untersuchungskommission besonders auf vier der Direktoren - Wohlmannstetter (Zentrum), Platzer (Staatspartei), Burgdörfer (Staatspartei) und Reiner (SPD)- hinzuweisen wäre. "Es wird gebeten die belasteten Beamten ihres Postens zu entheben und die Untersuchung bis in die untersten Beamten- und Angestelltengruppen auszudehnen."81 Um die Säuberungen sicherzustellen, sandten zwei der drei Unterzeichner des Briefes vom 28. Februar- ein Betriebszellenobmann und ein nationalsozialistischer Betriebsrat, der zudem auch Mitglied der SS war- eine identische , Beurteilung' ihrer Kollegen am 14. März 1933 an den Staatssekretär im Reichsinnenministerium, den Nationalsozialisten Pfundtner. Auch andere legten Berichte und Beschwerden vor, so unter der Überschrift "Korruption im Statistischen Reichsamt" der Oberregierungsrat Wilhelrn Leiße aus dem Reichsamt selbst, der sich damit wegen der Maßregelung durch Wagemann rächte, aber auch ein Mitarbeiter von Gottfried Feder, des sogenannten Wirtschaftsexperten der NSDAP. 82 Von der NSBO war eine Liste mit denN amen derjenigen Mitarbeiter zusammengestellt worden, die entweder jüdischen Glaubens oder "jüdisch versippt" waren bzw. auf andere Weise nicht ins neue Weltbild paßten. Auch hier wurden wieder der Präsident des Statistischen Reichsamts, Ernst Wagemann, sowie der Direktor der Abteilung Bevölkerungsstatistik, Friedrich Burgdörfer, genannt. Die Vorwürfe gegen Wagemann betrafen besonders dessen Tatigkeit für das Institut für Konjunkturforschung,~ 3 das 1925 gegründet worden war und von ihm in Personalunion geleitet wurde. Wagemann wurde beschuldigt, weder die Aufgaben noch das Personal der beiden Institutionen sauber zu trennen, Ämter zu häufen, korrupt zu sein und schlichtweg zu viel Geld zu verdienen. Auch seine politische Ge79 Boelcke, Die deutsche Wirtschaft 1930-1945, S. 50 u. S. 53. "" BArch R43 11/1157 e, BI. 3, Schreiben an Reichsminister Hermann Göring. •• Ebd., BI.&. " 2 Vgl. hierzu BArch R 1501/alt R 18/535, Bl.67ff. •J Das Institut für Konjunkturforschung wurde während des Zweiten Weltkrieges in Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung umbenannt und besteht noch heute (DIW).

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sinnung, die ihn "vom linken demokratischen Flügel bis ... hart an die politische Einstellung unserer Bewegung. (Konjunkturpolitiker)" gebracht habe, schien suspekt. Daher forderte die NSBO: "Im Interesse der allgemein zu erstrebenden Sauberkeit in der Verwaltung ist eine Abänderung dringendst geboten."84 Allein diese Vorwürfe hätten möglicherweise nicht ausgereicht, Wagemann aus dem Statistischen Reichsamt zu entfernen. Es schwelten jedoch schon längere Zeit Auseinandersetzungen, die in Wagemanns wirtschaftspolitischen Vorschlägen wurzelten, durch die er u. a. auch mit Hugenberg in Konflikt geraten war. Zudem scheint Wagemann, der sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik so weit den Nationalsozialisten angenähert hatte, daß SPD-Mitglieder im Haushaltsausschuß des Deutschen Reichstages das Statistische Reichsamt schon im Mai 1930 als nationalsozialistische Brutstätte bezeichnet hatten, nach Hitlers Machtübernahme die Anbindung des Statistischen Reichsamts nach italienischem Vorbild direkt an die Reichskanzlei angestrebt zu haben, was von den dortigen Beamten aber eher mit Skepsis gesehen wurde: "Fehlern der Statistik und besonderen statistischen Methoden könnten politische Absichten untergeschoben werden. Die Statistik muss ferngehalten werden von der Politik, wenn sie Beweiskraft behalten soll."M~ Widerstände im Reichswirtschaftsministerium gegen derartige Bestrebungen Wagemanns waren ebenfalls unausweichlich. Daher erschien seine Beurlaubung, verfügt am Abend des 17. März 1933,86 sowohl vom Posten des Präsidenten des Statistischen Reichsamts als auch von dem des Direktors des Instituts für Konjunkturforschung, in den Augen mancher Nationalsozialisten als eine Aktion Hugenbergs, die auch gegen Hitler gerichtet war. Aber fast alle Direktoren des Statistischen Reichsamts, die zu Wagemann befragt worden waren, hatten übereinstimmend dessen mangelnde Verwaltungsfähigkeiten kritisiert und die Überzeugung geäußert, er sei durch die Größe des Statistischen Reichsamts und durch den Mangel an höheren Verwaltungsbeamten überfordert gewesen. Seine persönliche Integrität sowie seine wissenschaftliche Reputation dagegen standen weitgehend außer Frage. Am zurückhaltendsten und am kürzesten hatte Burgdörfer seine Aussagen formuliert. Im Gegensatz zu den anderen Direktoren- Walter Grävell, Hans Platzer, Hans Reiner, Hans Wohlmannstetter, Carl MeisingerM7 und z. T. auch Paul Bramstedt- nutzte er BArch R 1501/alt R 18/535, BI. 71; siehe auch Dokument 1 im Anhang H, S. 245f. BArch R 43 11/1157 e, BI. 40r, Vermerk von Anfang April 1933 (nicht voll lesbar). Die Sorge galt jedoch mehr dem eigenen Amt, da man befürchten mußte, auch andere Behörden würden die Eingliederung in die Reichskanzlei anstreben und diese schließlich zu einer großen Verwaltungsbehörde machen, die den ureigensten Aufgaben nicht mehr werde nachkommen können. u BArch R3102/6210, Bl.235. Hugenbergs Schreiben lautete: "Ich beurlaube Sie hiermit auf unbestimmte Zeit und ziehe gleichzeitig die Ihnen erteilte Genehmigung zur Ausübung der Geschäfte des Direktors des Konjunkturinstituts zurück." BArch R43 II/1157 e, BI. 29. " 7 Die Stellungnahmen von Meisinger, der allerdings aus Altersgründen sowieso kurz vor seiner Pensionierung stand, und von WohlmannsteUer sind auch deswegen bemerkenswert, weil sie zu dieser Zeit schon beurlaubt waren. Wohlmannstetter, ein katholischer Priester, der 84

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nicht die Gelegenheit, sich über andere Mitarbeiter des Reichsamtes oder über die dort praktizierte Personalpolitik zu beklagen, sondern stellte lediglich fest, daß die anfangs übliche Rücksprache beim Präsidenten über die laufenden Angelegenheiten später "des öfteren vermißt" wurde und die Informationen "nur durch Mittelspersonen und die unmittelbaren persönlichen Berater des Präsidenten (Oberreg. Rat Pusch usw.) an ihn gelangten".88 Wagemann, seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP (zuvor war er der Partei nicht beigetreten, weil er sich als Wahlleiter politische Neutralität bewahren wollte), setzte sich in zahlreichen und zum Teil auch an Hitler selbst gerichteten Stellungnahmen gegen die Vorwürfe zur Wehr. Er stellte sich als der nationalsozialistischen Idee nabestehend dar und verteidigte seine Personalpolitik insofern, als viele der Einstellungen ihm vom Reichswirtschaftsministerium vorgegeben worden seien, z. B. bei Wartestandsbeamten. 89 Aus einem dieser Schreiben ist auch ersichtlich, daß es die Vertreter der NSBO im Statistischen Reichsamt zunächst nicht wagten, offen gegen Wagemann aufzutreten. Am 28. März 1933, nachdem zwei Eingaben von ihnen an Partei und Regierung gegangen waren, sollen sie gegenüber Wagemanns Rechtsanwalt noch sinngemäß erklärt haben, daß sie "gegen die Person des Präsidenten Wagemann keinerlei Bedenken äussern, es sei denn, dass der Führer anders entscheidet, und unter der Voraussetzung, dass für die Beamtenpolitik des Statistischen Reichsamts eine nationalsozialistische Persönlichkeit bestellt wird."90 Erst Ende April 1933 wagte sich die NSBO gemeinsam mit der nationalsozialistischen Beamtengruppe - zusammen umfaßten sie nach ihren eigenen Angaben etwa die Hälfte des Personals des Statistischen Reichsamts91 -an die Presse und forderte nun offen Wagemanns Ablösung. Dessen Wiedereinsetzung ins Präsidentenamt kam aber für Hugenberg sowieso nicht in Frage, weil der Vorwurf der mangelnden Verwaltungsfähigkeiten nicht habe ausgeräumt werden können und weil zu befürchten sei, daß Wagemanns Autorität in den Auseinandersetzungen zu sehr gelitten habe; "sie würde auch zur Folge haben, daß fast sämtliche Direktoren ihre Plätze die Finanzstatistik im Statistischen Reichsamt seit seinem Eintritt 1924 beträchtlich ausgebaut hatte, war als Sympathisant des Zentrums bekannt. Seine Entlassung wurde mit der Zusammenlegung von Abteilungen und dem daraus resultierenden Wegfall seiner Direktorenstelle begründet. BArch R3101 PA/736, passim. 88 BArch R43 11/1157 e, BI. 59-77, Zitat BI. 71; vgl. auch Tooze, Official statistics and economic governance in interwar Germany, S. 206-215. 89 BArch R 43 11/1157 e, BI. 31 ff., Wagemann an Hitler am 23. März 1933, mit Anlage. 90 Ebd., BI. 27, Wagemann an Hitler am 28. März 1933. 91 Wie weit der Einfluß der NSBO tatsächlich ging, ist nicht zu entscheiden. Stimmenanteile bei Betriebsratswahlen sind kaum bekannt. Bei den Betriebsratswahlen Anfang 1933 listete die NSBO nur die Namen der Betriebe auf, in denen sie die größten Erfolge hatte. Darunter befand sich zwar das Reichswirtschaftsministerium, nicht aber das Statistische Reichsamt. V gl. Volker Kratzenberg, Arbeiter auf dem Weg zu Hitler? Die Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation. Ihre Entstehung, ihre Programmatik, ihr Scheitern 1927-1934. Frankfurt am Main usw. 1987, S.219ff.

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räumen müßten". 92 Wagemann erhielt allerdings mit Unterstützung führender Nationalsozialisten und gegen den Willen des Reichswirtschaftsministers am 17. Juni 1933 wieder den Posten des Direktors des Instituts für Konjunkturforschung übertragen, das nun vollständig vom Statistischen Reichsamt getrennt wurde.93 Er setzte auch seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität fort und sollte schließlich seinem Nachfolger im Amt des Präsidenten des Statistischen Reichsamts auf "Wunsch der Reichsregierung ... für Fragen der wissenschaftlichen Statistik seinen Rat ehrenamtlich zur Verfügung stellen."94 Burgdörfer war besonders durch seine kirchlichen Bindungen in die Schußlinie der internen Kritiker geraten, aber auch, weil er angeblich der Staatspartei95 nahestand und weil er sich "den amtlichen wissenschaftlichen Apparat bei Herausgabe eigener Bücher zunutze" machte. 96 Darüber hinaus charakterisierte ihn sein Gegner, der nach eigenen Angaben schon 1925 in die NSDAP eingetreten war und über gute Personalkenntnisse verfügte, folgendermaßen: ,,Betont evangelisch. Hat Laufbahn als Stadtamtmann in München begonnen und ist über das Bayr. Statistische Landesamt an das Reichsamt gelangt, wo er 1921 zum Regierungsrat, 1929 zum Direktor befördert wurde. Dem Vernehmen nach der Staatspartei nahestehend. Hat den ihm zugeteilten sehr rechtsstehenden 0. R. R. Leisse stets schlecht behandelt." 97

Für diesen nationalsozialistischen Mitarbeiter des Statistischen Reichsamts waren Charakterisierungen seiner Kollegen wie "ausgesprochener Zentrumsbonze", "Halbjude", "stark links orientiert (S.P.D.?)", "evangelisch, doch jüdischer Abstammung" oftmals ausreichend, um sie aus dem Statistischen Reichsamt ausschließen zu wollenYK Wunschkandidat als neuer Leiter des Statistischen Reichsamts war bei einigen nationalsozialistischen Mitarbeitern des Amtes der eben erwähnte "alte Kämpfer" Leiße, andere sprachen sich dagegen für Gottfried Feder aus. Doch es kam anders. Der neue Wirtschaftsminister Kurt Schmitt, seit kurzem Mitglied der NSDAP, ernannte am 31. Juli 1933 als Nachfolger Wagemanns Wolfgang Reichardt, Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium und unter Hugenberg noch als potenBArch R 43 11/1157 e, BI. 49 f., Hugenberg an die Reichskanzlei am 3. Mai 1933. Vgl. die Darstellung bei Tooze, Official statistics and economic governance in interwar Germany, S.206-215. . ' · 94 BArch NS5 VI/17709, Bl.24: Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 1. August 1933. 95 Die Deutsche Staatspartei entstand 1930 aus dem Zusammenschluß der Deutschen Demokratischen Partei, zu Beginn der Weimarer Republik eine Sammelbewegung für Nationalund Linksliberale wie etwa Friedrich Naumann, Max Weber, Walther Rathenau und Theodor Heuss mit später schwindendem Einfluß und Zulauf, und dem Jungdeutschen Orden. Am 28. Juni 1933 löste sich die Partei auf; vgl. Friedemann Bedürftig, Lexikon des Dritten Reichs. München 1994, S.68. % BArch R 43 II/1157 e, BI. 17 (anonymes Schreiben, das von Wilhelm LeiBe stammte). 97 BArch R 1501/alt R 18/535, BI. 101. 9~ Ebd., BI. 99 ff. 92

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tieller Gegner der Rechten observiert. Im Ministerium hatte Reichardt seit Ende 1930 die Ressorts für Arbeitsbeschaffung und Bankenangelegenheiten geleitet und später auch noch die Abteilung für Devisenbewirtschaftung. Verdienste hatte er sich um die Überwindung der Bankenkrise erworben. Unter den gegebenen Umständen war dies keine schlechte Wahl, zumal Reichardt nie der NSDAP beitrat.99 Wagemann blieb bis 1945 Leiter des Instituts für Konjunkturforschung (bzw. des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung), immer wieder mißtrauisch beobachtet von den Nationalsozialisten, die ihm wegen seiner intellektuellen Unabhängigkeit, aber auch wegen seines wohl nicht dem kleinbürgerlichen Ideal entsprechenden Lebensstils skeptisch gegenüberstanden. 100 Mit ihm vom Dienst im Statistischen Reichsamt "beurlaubt" wurde aber u. a. eine Reihe von höheren Beamten, die keine Fürsprecher unter den Nationalsozialisten gehabt hatten, z. B. Oberregierungsrat Pusch, Oberregierungsrat Eppenstein, Regierungsrat Feilen, Direktor Carl Meisinger, Verwaltungsamtmann Feicke, Direktor Wohlmannstetter. 101 Burgdörfer 99 Dr. Wolfgang Reichardt, in: Archiv für publizistische Arbeit (Intern. Biograph. Archiv) vom 24. Juni 1943, S.5765**; BArch, (ehern.) BDC PK Wolfgang Reichardt; siehe auch AnhangG. 100 Vgl. BArch NS 19/2053; Wagemann geriet noch mehrfach in die Kritik der Nationalsozialisten. Als erz. B. EndeJuli 1943 nach einem Vortrag und ,,nach reichlichem Alkoholgenuss" (BI. 8, so Ernst Kaltenbrunner, seit Anfang 1943 Chef der Sipo und des SD, damit direkter Vorgesetzter Adolf Eichmanns und zuständig für die Endphase der Judenermordung) im kleinen Kreis einen sofortigen Friedensschluß anmahnte, weil Deutschland auf diese Weise halb Polen, halb Italien und den Balkan erhalte und dabei auf die Ukraine verzichten könne, forderte der Leiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, Wagemanns Entfernung aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Himmler stimmte zu, wollte ihn in Pension schicken, jedoch nicht ohne "ihn auf die Dauer eines halben Jahres in einem Konzentrationslager unterzubringen und ihn dort als Buchhalter oder in einer ähnlichen Beschäftigung zu verwenden" (BI. 10). Die Forderung nach Absetzung wies Reichswirtschaftsminister Funk zurück, da "die vorhandenen personellen und materiellen Kräfte des Institutes von den verschiedenen Reichsressorts für kriegswichtige Zwecke so völlig eingespannt sind, dass das Institut lediglich durch die Autorität und die Wirkungskraft des Professor Wagemann zusammengehalten wird." Seine Arbeit sei daher "kriegswichtig"; zudem komme eine formelle Abberufung schon deswegen nicht in Frage, "da es sich um sein eigenes Institut handelt" (BI. 13-13 r). Himmler verzichtete dann auf die Ablösung, wollte aber, "daß dieser intellektuelle Schwätzer, der unter dem Eindruck des Alkohols seinen inneren Pessimismus zeigt, endlich erzogen wird." Zu diesem Zweck forderte er am 31. März 1944 "vier Wochen Arrest in einer Einzelhaftzelle" (Bl.15). Am 26. August wurde Wagemann jedoch auf persönlichen Vorschlag Funks von Hermann Göring als Leiter einer Arbeitsgemeinschaft für empirische Wirtschaftsforschung in den Reichsforschungsrat, dessen Präsident Göring war, berufen (BI. 18 u. BI. 29). Damit verlief die Bestrafung im Sande; ab Dezember 1944 war Wagemann nur noch "sehr scharf zu beobachten" (BI. 30). 101 BArch R 3102/6210, BI. 232f. Wohlmannstetter versuchte, nach der Ernennung Reichardts seine Entlassung rückgängig zu machen, unter anderem mit dem Argument, daß er nach der Auflösung der Parteien und dem Abschluß des Konkordats zwischen dem Vatikan und der deutschen Regierung am 20. Juli 1933 als ein dem Zentrum nahestehender Beamter nicht mehr entlassen worden wäre. Reichardt gab sich in den Gesprächen mit Wohlmannstetter zwar konziliant, blieb in der Sache- der Verkleinerung der Steuer- und Finanzstatistik- aber hart, da sie sich bewährt habe; BArch 310 I PA/736, BI. 328 ff. u. BI. 342 f. So wurde Wohlmannstetter am 4. September 1933 aufgrund der §§ 6 und 7 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Be-

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dagegen geschah nichts. Das Reichsinnenministerium holte ihn wenige Monate später sogar erneut als Berater, und er wurde in den folgenden Jahren der wohl meistzitierte und meisthofierte Bevölkerungsstatistiker des Dritten Reiches.l02 Im Preußischen Statistischen Landesamt bezogen im März 1933 nationalsozialistische Mitarbeiter ebenfalls Stellung gegen ihre jüdischen Kollegen sowie gegen SPD-Mitglieder und gegen Freimaurer, wobei sich diese Personenkreise überschnitten.l03 Insgesamt galt bei den Nationalsozialisten das Statistische Reichsamt eher als Domäne der Zentrumspartei, das Preußische Statistische Landesamt als eine der SPD. Wenn auch im Ton moderater als im Statistischen Reichsamt, so waren auch hier die Angriffe gegen die eigenen Kollegen vehement. Sie machten Front gegen den Vizepräsidenten Höpker, dem Großmeister einer Freimaurerloge, dem der Präsident Konrad Saenger- "ein hervorragender Beamter aus der Schule der Vorkriegszeit", der kurz vor seiner Pensionierung stehe104 - in der Personalpolitik allzu freie Hand gelassen habe, gegen ein Mitglied der Zentrumspartei und gegen den Volkswirtschaftsrat Erich Simon: ,,Zum Schluss sei noch auf einen Übelstand im Amte hinzuweisen. Die Beamten und Angestellten des Amtes bedauern es sehr, dass zwei Juden und ein Sozialdemokrat die deutsche Volkszählung 1933 leiten sollen. Der Regierungsrat Dr. Simon, ein Jude, gegen den sonst Nachteiliges nicht zu sagen ist, leitet die Volkszählung als Referent; ihm sind aber als wissenschaftliche Hilfsarbeiter der Jude Dr. Fels, sozusagen als rechte Hand, und der Sozialdemokrat Dr.Heinel beigegeben. Es wird gebeten, dass dem Herrn Präsidenten vom Ministerium aus mitgeteilt wird, dass dies nicht geht und ihm aufgegeben wird, diese Stellen mit deutschen Männern zu besetzen. " 105 rufsbeamtentums (vgl. S. 50) in den dauernden Ruhestand versetzt. Allerdings bat Reichardt den Reichswirtschaftsminister um eine "wohlwollende" Regelung der Pensionshöhe, wobei er die Unterstützung des zuständigen Referatsleiters im Ministerium- Curt Godlewski, der 1940 sein Nachfolger werden sollte- bekam. Beide konnten sich jedoch nicht durchsetzen und erreichten nur eine geringfügige Aufbesserung; BArch 310 I PA{736, BI. 350 ff. 102 Doch trotz dieser Entlassungen wurde das Statistische Reichsamt nicht von heute auf morgen eine nationalsozialistisch ausgerichtete Behörde. Nach den Mitteilungen von Dr. Mechtild Fischer-Runde (Meerbusch) und Professor Dr. Knut Walf (Nijmegen), deren Väter dort bis 1945 beschäftigt waren, galt das Amt als eine Institution, in der es möglich schien, auch als dem Nationalsozialismus ablehnend Gegenüberstehende durch diese Zeit hindurchzukommen. Lorenz Fischer (1895-1956) arbeitete dort in der Finanzstatistik, Georg Walf (1900-1945) wahrscheinlich in der Hollerith-Abteilung. Beide waren christlich eingestellt, Walf zudem überzeugter Anhänger des Zentrums gewesen. Vieles hing wohl auch ab von der Einstellung der Vorgesetzten. Zu Fischer siehe auch Rudo/f Gunzert, Lorenz Fischer t, in: Allgemeines Statistisches Archiv 40 (1956), S.401-402. 103 GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3971 , Bl.140- 144, Schreiben der Beamten-Arbeitsgemeinschaft an die NSDAP-Gauleitung vom 31. März 1931. 104 Im Februar 1934 wurde Saenger 65 Jahre alt. Bis zur Eingliederung des Preußischen Statistischen Landesamts in das Statistische Reichsamt am I. Oktober 1934 leitete er das Amt auf der Basis eines Privatdienstvertrages. Höpker wurde wohl im Juni 1934 pensioniert; GStAPK HAI Rep. 77 Nr. 3884, Bl.410. 105 GStAPK HA I Rep. 77 Nr. 3971, BI. 143 f., Schreiben der Beamten-Arbeitsgemeinschaft an die NSDAP-Gauleitung vom 31. März 1931. 4 Wietog

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Sirnon wurde wohl noch 1933 entlassen; kurz zuvor hatte ihm Saenger- um ihn "zu entlasten" - Edgar Hans Schutz zugeteilt, der sich mit Publikationen zum jüdischen Bevölkerungsanteil hervorgetan hatte und der von nun an die Berufszählung leitete. Schulz zeichnete in dieser Zeit auch als Mitautor eines Entwurfes zu einem "Gesetz zur Regelung der Stellung der Juden" verantwortlich, in dem u. a. gefordert wurde, daß sich sämtliche "Juden, Halbjuden oder Judengatten ... in ein polizeilich geführtes Register" eintragen lassen mußten. Schulz war von Saenger als Simons Nachfolger in der Leitung des Referates vorgesehen. 106 Die Vorgänge im Statistischen Reichsamt und im Preußischen Statistischen Landesamt waren keine Einzelfälle. Auch außerhalb des Machtzentrums Berlin kam es zu Entlassungen oder Maßregelungen. Der Frankfurter Magistrat stimmte z. B. am 26. Juni 1933 zu, den im August 1932 sechzig Jahre alt gewordenen Direktor des Städtischen Statistischen Amtes, August Busch, aufgrund §6 in Verbindung mit§ 7 Abs. 1 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns demnächst in den Ruhestand zu versetzen und die Stelle eines Direktors einzusparen. 107 Dieser § 6 konnte praktisch auf jeden angewandt werden, der überflüssig oder störend schien, wenn die Dienststelle bereit war, auf eine Wiederbesetzung zu verzichten. Die entsprechenden Passagen des Gesetzes lauteten: "§ 6

Zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind. Wenn Beamte aus diesem Grunde in den Ruhestand versetzt werden, so dürfen ihre Stellen nicht mehr besetzt werden. §7

(1) Die Entlassung aus dem Amte, die Versetzung in ein anderes Amt und die Versetzung in den Ruhestand wird durch die oberste Reichs- oder Landesbehörde ausgesprochen, die endgültig unter Ausschluß des Rechtsweges entscheidet." 108

Vom Württembergischen Statistischen Landesamt wurden noch im Oktober 1933 vier Mitarbeiter an das vorgesetzte Finanzministerium gemeldet, denen aufgrund 106 Ebd., BI. 164 r, BI. 177 u. BI. 179; Drobisch, Die Judenreferate des Geheimen Staatspolizeiamtes, S. 232; Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, S. 33 ff. Im November 1934, nachdem das Preußische Statistische Landesamt im Statistischen Reichsamt aufgegangen war, leitete Schulz dort das Referat "Technische Aufbereitung der Volkszählung", vgl. BArch R3102/6210, Bl.142. 107 Stadtarchiv Frankfurt am Main, Magistrat Az.1401 Bd.l. Der Magistrat nahm diese Art der Entlassung so ernst, daß Buschs Nachfolger Paul Flaskämper nur eine geringer dotierte Stelle erhielt. Erst als infolge seiner Berufung auf eine ordentliche Professur der Universität Frankfurt am Main die Nachfolge erneut zur Debatte stand, sollte dieser Posten wieder als Direktorenstelle ausgeschrieben werden; man könne "das mit den veränderten Verhälmissen begründen, ohne bei Direktor i. R. Busch auf Schwierigkeiten zu stossen"; Stadtarchiv Frankfurt/ Main, Stadtkanzlei Nr. 1401 Bd. 2, Stadtkämmerer an Oberbürgermeister am 2. Juli 1941. 111" Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vom 7. April 1933. RGBI. I, s. 175.

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von § 5 dieses Gesetzes die Versetzung auf eine andere Stelle drohte. Alle vier hatten sich in unterschiedlicher Weise nicht regimekonform benommen und waren intensiv zu ihren ,Verfehlungen' befragt worden. Ein 58jährigerTopograph, seit 1919 im Statistischen Landesamt tätig und Anhänger des Zentrums, hatte "abftno.tll!mg~tlicljt Sui!~rigftit rilqutragm (11>mn ber (!leburtlort im ~tfd)m !Reimn btr (!le&urtlort im !ldlanb liegt: ber 614at). IV. Ssz bcn ~ltm 5 ~· II: !D!a8gr&tnb ifl afltin bit rafltnmcl8igt1 nidjt bit fonftfPomUt Sug~6rigftlt. lladj CNallbtnljubtn ~&tn i~re btr !laffe aac:fl uolljübif~m enn nad) &fülbmg btr liOtJitf~tie&mm Stubitn• aeit Staate• ober tl6fcf)lu8prüiuugm mit etfoiA a&gdtgt IUorbm r.ab. tlltl}odjfdjllku für bitft