Völkisches Rechtsdenken: Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus [1 ed.] 9783428440849, 9783428040841

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Völkisches Rechtsdenken: Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus [1 ed.]
 9783428440849, 9783428040841

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 28

Völkisches Rechtsdenken Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus

Von

Klaus Anderbrügge

Duncker & Humblot · Berlin

KLAUS A N D E R B R Ü G G E /

Völkisches Rechtsdenken

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 28

Völkisches Rechtsdenken Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus

Von

Dr. Klaus Anderbrügge

DUNCKER & HUMBLOT/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 04084 8

Vorwort Der Plan, mit der Rechtslehre i n der NS-Zeit ein damals kaum behandeltes und i n der primär dogmatisch orientierten juristischen Ausbildung fast völlig ausgespartes Thema zu untersuchen, entstand gegen Ende meiner Studienzeit i m Herbst 1964. Doch die anfängliche Begeisterung über die Auffindung dieses i m zweiten Nachkriegsjahrzehnt mehr und mehr verdrängten Gegenstandes wich schon bald der ernüchternden Erkenntnis, ihn — wenn überhaupt — nur unter Verzicht auf bedeutsame Detail- und Grenzaspekte darstellen zu können. Erst nach längerer Unterbrechung durch den juristischen Vorbereitungsdienst nahm ich die Bearbeitung wieder auf und wagte den Versuch, den so amorph erscheinenden Block des „völkischen Rechtsdenkens" aufzuschlüsseln. Die i n i h m nachweisbaren Richtungen differenzierend hervorzuheben und nach Leitprinzipien zu gruppieren, ist das wesentliche Anliegen dieser Untersuchung. Sie versteht sich damit als Beitrag zu der inzwischen interdisziplinär aufgenommenen Gesamtanalyse des Phänomens „Recht i m Dritten Reich". Die vorliegende Abhandlung lag i m SS 1976 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Münster als Dissertation vor. Das Manuskript wurde i m Herbst 1975 fertiggestellt, der Text seither nur geringfügig geändert und ergänzt. M i t großer Dankbarkeit gedenke ich an dieser Stelle meines i m Herbst 1976 verstorbenen verehrten Lehrers, Herrn Prof. Dr. Hans J. Wolff, der mich durch sein nie ermüdendes Interesse und seine behutsamen Ratschläge so wohlwollend unterstützt hat. Mein herzlicher Dank gilt auch meiner Frau für ihre m i t mancher Entbehrung verbundene ständige Hilfe sowie meiner Familie und meinen Freunden für die Ermutigung, die Untersuchung trotz beruflicher Inanspruchnahme zu Ende zu führen. Herrn Prof. Dr. J. Broermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit i n sein Verlagsprogramm. Münster, i m November 1977 Klaus Anderbrügge

Inhaltsverzeichnis §

1 Einleitung — Gegenstand der Untersuchung

13

Erster Teil Die „nationalsozialistische Weltanschauung" § 2

Vorbemerkung — Nationalsozialistische gleichgeschaltetes Rechtsdenken

Weltanschauung

17 und

1. Kapitel. Standort, F u n k t i o n und normativer Grundgehalt

17

19

§ 3

Orts- u n d Funktionsbestimmung: Nationalsozialistische W e l t - und Rechtsanschauung zwischen pragmatischer Machtpolitik u n d Ideologie 19

§ 4

Die gegen andere Ideen gerichteten Affekte nationalsozialistischen Denkens

§

5 Der positiv formulierte Weltanschauung

§ 6

Grundgehalt

der

nationalsozialistischen

34

38

Exkurs: Nationalsozialismus u n d Faschismus

41

Die hauptsächlichen Quellen

46

I. Das Parteiprogramm v o n 1920 I I . Hitlers „ M e i n K a m p f " I I I . Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts"

47 52 55

2. Kapitel. Die zentralen Leitgedanken u n d ihre unmittelbaren I m p l i k a tionen f ü r das Rechtsdenken

58

§

58

7 Das Führerprinzip I. Der Führergedanke Bewegung

als die maßgebliche Leitvorstellung der

I I . Der Ertrag i n der Rechtslehre

58 63

8 §

Inhaltsverzeichnis 8

Die „völkische Idee"

68

I. Ursprünge u n d Ausgestaltung i m Nationalsozialismus

§

9

I I . Weiterentwicklung i n der (Rechts-)Wissenschaft

74

Die Rassentheorie

79

I. Die nationalsozialistische Rassenlehre

.

I I . Die Adaptierung durch die Rechtswissenschaft

Zweiter

85

92

Überblick — Die Rechts Vorstellungen der politischen Führung u n d die Systematisierungsbemühungen i n der Rechtswissenschaft 92

3. Kapitel. Autoritäres Rechtsdenken §11

79

Teil

Die Lehren vom „völkischen Recht" § 10

68

98

Der Dezisionismus (Entscheidungsdenken) und seine Wendung zum absoluten Führerprinzip

98

§ 12 Das konkrete Ordnungs- u n d Gestaltungsdenken

106

§ 13

120

Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat

4. Kapitel. Völkisch-rassisches Rechtsdenken (i. e. S.)

132

§ 14

132

Die Lehre v o m völkischen Gemeinschaftsrecht I. Die Theorie der Identität von Recht und Volksmoral

136

a) Der konkrete Gehalt der Formeln

136

b) Die funktionale Bedeutung

139

c) Die Tendenz der Formeln

144

I I . Gemeinschaftsidee u n d „volksgenössische Gliedstellung" a) (Volks-) Gemeinschaft als Organismus

146 148

b) Die gliedhafte Rechtsstellung des Volksgenossen i n der Gemeinschaft 151 I I I . Der völkische Staatsgedanke

158

Inhaltsverzeichnis §15

Die rassengesetzliche Rechtslehre

9 167

5. Kapitel. Besondere naturrechtliche Strömungen

179

§ 16

Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

179

§ 17

Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

203

§ 18

Schlußbemerkung — Der Irrationalismus des nationalsozialistischen Rechtsdenkens 225

Literaturverzeichnis

232

Abkürzungsverzeichnis a. a. a. Ο. Abs. AcP a. E. a. F. AfDR a. M. Anm. ARSP

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Art. Aufl. Bd. BGB bzw. DAF DBG Ders. DGO d. h. d. i. Dies. DJ

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DJT

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DJZ DR DRW d. s. DV DVO ebd. etc. evgl. f. oder ff. Festschr. folg. Forts. Fußn. GG H. Hrsg. i. e.

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auch am angegebenen O r t Absatz A r c h i v f ü r die zivilistische Praxis (Band, Jahr u n d Seite) am Ende alte Fassung Akademie f ü r Deutsches Recht anderer Meinung Anmerkung A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie (Band, Jahr u n d Seite) Artikel Auflage Band Bürgerliches Gesetzbuch beziehungsweise Deutsche Arbeitsfront Deutsches Beamtengesetz Derselbe Deutsche Gemeindeordnung das heißt das ist Dieselben Deutsche Justiz. Rechtspflege u n d Rechtspolitik, A m t liches B l a t t der deutschen Rechtspflege (Jahr u n d Seite) Deutscher Juristentag (Veröffentlichungen; Jahr u n d Seite) Deutsche Juristenzeitung (Jahr u n d Spalte) Deutsches Recht (Zeitschrift; Jahr u n d Seite) Deutsche Rechtswissenschaft (Band, Jahr u n d Seite) das sind Deutsche V e r w a l t u n g (Zeitschrift; Jahr u n d Seite) Durchführungsverordnung ebenda et cetera evangelisch folgende Festschrift folgende Fortsetzung Fußnote (Bonner) Grundgesetz Heft Herausgeber i m einzelnen

Abkürzungsverzeichnis i. e. S. insbes. i. S. i. ü. i. V. m. i. w. S. JböR Jhdt. Jhg. JW JZ KJ KZ LG m. w . N. n. F. NS, ns. NSDAP o. OLG OVG RG RGBl. (I) RGZ

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RVerwBl. S. S. oder s. seil. sog. oder sogen. Sp. SS StGB StPO T. u. u. a. u. ä. m. usw. vgl. Verf. VO vorl. WV z. B. ZdAfDR

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zit. z. T. zw.

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11

i m engeren Sinne insbesondere i m Sinne i m übrigen i n Verbindung m i t i m weiteren Sinne Jahrbuch des öffentlichen Rechts (Band, Jahr u n d Seite) Jahrhundert Jahrgang Juristische Wochenschrift (Jahr u n d Seite) Juristenzeitung (Jahr u n d Seite) Kritische Justiz (Zeitschrift; Jahr u n d Seite) Konzentrationslager Landgericht m i t weiteren Nachweisen neue Fassung Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei oben Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Reichsgericht Reichsgesetzblatt (Teil I) (Jahr u n d Seite) Entscheidungen des Reichsgerichts i n Zivilsachen (Band u n d Seite) Reichsverwaltungsblatt (Jahr u n d Seite) Seite siehe scilicet (nämlich) sogenannt Spalte „Schutz-Staffel" Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Text unten (bisweilen auch: und) unter anderem (bisweilen auch: u n d andere) u n d ähnliches mehr u n d so weiter vergleiche Verfasser Verordnung vorliegend Weimarer Verfassung zum Beispiel Zeitschrift der Akademie f ü r Deutsches Recht (Jahr u n d Seite) Zeitschrift f ü r deutsche Kulturphilosophie (Neue Folge des Logos) (Band, Jahr u n d Seite) Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswissenschaft (Band, Jahr u n d Seite) zitiert zum T e i l zwischen

§ 1 Einleitung — Gegenstand der Untersuchung Die „Hitlerzeit", die Zeit des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus, ist trotz ihrer nur kurzen Dauer nicht lediglich eine Episode i n einer sonst „normalen" nationalen Entwicklung gewesen. Sie hatte vor allem i n der jüngeren deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ihre historischen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, und die i n ihr gemachte Erfahrung hat — i n welcher Weise auch immer — das gegenwärtige geschichtliche Bewußtsein und politische Handeln nicht nur i n den beiden deutschen Staaten entscheidend beeinflußt. Ebensowenig trägt ihr Rechtsleben episodenhafte Züge. Es war das positive Recht voraufgegangener Epochen, das äußerlich weitgehend unverändert auch i m Dritten Reich Geltung behielt, wenngleich bei seiner Anwendung ein nach den Zielen des Nationalsozialismus ausgerichteter „interpretativer Inhaltswandel" Platz griff, der vielfach dazu führte, daß die materiellen Inhalte der Rechtsordnung i m gewünschten Sinne ausgewechselt wurden 1 . Nicht einmal die ideologischen oder weltanschaulichen Vorstellungen, welche die hinter der Rechtsanwendung stehende Rechtslehre bestimmten, waren insgesamt so radikal neu oder gar „revolutionär", wie (nicht nur) von ihren Verfechtern gern behauptet wurde 2 . Das Phänomen „Recht i m Dritten Reich" läßt sich nicht schlechthin aus dem größeren Zusammenhang der Rechtsentwicklung i n Deutschland und der sie tragenden geistigen Strömungen herauslösen. Vermutlich liegt gerade i n der daraus resultierenden eigenartigen Betroffenheit eines jeden i n diese Entwicklung nahezu zwangsläufig M i t hineingezogenen der Grund dafür, daß die Auseinandersetzung m i t dem Recht des und unter dem Nationalsozialismus so unverhältnismäßig lange gemieden und erst i n jüngerer Zeit aufgenommen worden ist. Solch auffallende Zurückhaltung war und ist sogar bei manchen zeitgenössischen Rechtswissenschaftlern zu beobachten, die einer Parteinahme für das politisch-ideologische Gedankengut des NS-Regimes unverdächtig geblieben sind. I n Anbetracht dessen ist es keineswegs überraschend, daß vor allem der anfänglichen rechtswissenschaftlichen Befassung m i t diesem heiklen Gegenstand ein gewisser standesapologetischer Grundzug eigen war 3 . 1 2 3

Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, V o r w o r t S. V I I u n d S. 120. Ä h n l i c h Gernhuber, Das völkische Recht, S. 199. S. dazu z. B. u. § 16, zw. Fußn. 119 u. 123.

14

Einleitung

Wenn i m folgenden häufig die Rede ist von „Rechtslehre", auch von „Rechtstheorie" und „Rechtsphilosophie", dann entspricht dies nicht immer heutiger exakterer Begriffsbildung, die etwa die Rechtstheorie von der Rechtsphilosophie danach zu unterscheiden sucht, daß sie der ersteren als Untersuchungsgegenstand die logische Struktur des Rechts, dessen Entstehung, Weiterentwicklung und immanente Auslegung, letzterer die Frage nach Sinn und Zweck, Ursprung und Geltung des Rechts und nach seiner Orientierung an einer Idee der Gerechtigkeit zuweist. I m Rahmen dieser Darstellung der Rechtslehre i n der Zeit des Nationalsozialismus geht es — jenseits der Dogmatik und ihrer besonderen Lehren — jeweils u m den i n allen verwendeten Begriffen zum Ausdruck kommenden theoretischen Grundaspekt: Was wurde als das so oft berufene Wesen des Rechts, als sein Urgrund, sein Geltungsgrund angesehen, welchem Ziel hatte es zu dienen, was sollten seine maßgebenden Gestaltungsprinzipien sein? I m Dritten Reich faßte man diese Fragen gern unter den Begriff „Rechtsdenken" und pflegte die eigenen vielfältigen Bemühungen u m die Grundlagen einer „neuen Rechtswissenschaft" dem damaligen Sprachgebrauch entsprechend als „völkisches Rechtsdenken" zu bezeichnen. Die vorliegende Abhandlung verfolgt das Ziel, die Rechtslehre jener Zeit i n ihren eigenen Äußerungen aufzugreifen, i n ihren Zusammenhängen und Widersprüchen darzustellen und — soweit möglich und erforderlich — von ihren bestimmenden geistesgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Grundlagen her zu verdeutlichen und zu kennzeichnen. Dabei wird, insofern anknüpfend an erste einhellige Ergebnisse grundlegender Untersuchungen zu Recht und Justiz i n der Zeit des Nationalsozialismus, festzuhalten sein, daß es das nationalsozialistische Rechtsdenken als eine einheitliche und umfassende Rechtstheorie des Nationalsozialismus ebensowenig gegeben hat 4 wie eine i n sich ge4 Vgl. Gernhuber, S. 179, m i t Hinweis auf ein sehr bezeichnendes Z i t a t von Hans Frank, Heroisches u n d geordnetes Recht, 1938, S. 13 („Ich sehe oft zu meinem Mißvergnügen, daß m a n schon anfängt, nationalsozialistische Rechtstheorien gegeneinander aufzustellen"), u n d S. 182 f. Gleichwohl nennt Gernhuber seinen Aufsatz i m U n t e r t i t e l einen „Beitrag zur Rechtstheorie des Nationalsozialismus" u n d spricht verschiedentlich von der „die Zeit beherrschenden" oder auch „herrschenden Rechtstheorie" (z. B. S. 179, 194), damit allerdings w o h l vor allem die — etwa bei der Auseinandersetzung u m die zentrale Frage nach dem Geltungsgrund des „völkischen Rechts" — i m Sinne des „herrschenden Zeitgeistes" dominierende Richtung bezeichnend. Vgl. ferner Schnur, Die Theorie der Institution, S. 23; Weinkauff i n : Weinkauft / Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 39 f., 93. Auch Rüthers, S. 117 ff., geht ähnlich w i e Gernhuber zwar von der Existenz einer an der NS-Weltanschauung orientierten neuen nationalsozialistischen Rechtsidee aus, weist aber zugleich auf die angesichts des diffusen Ideengehalts dieser Weltanschauung (S. 102) f ü r die Rechtswissenschaft u n d -praxis deutlich gewordene Notwendigkeit, die Inhalte des nationalsozialistischen Rechtsdenkens zu definieren (S. 115 f., 121; ähnlich Gernhuber), u n d die bei der

§ 1 Gegenstand der Untersuchung

15

schlossene und darin systematische nationalsozialistische Ideologie 5 . Doch kommt dem, was i n getreulicher Nachzeichnung der von der politischen Führung autoritativ verkündeten „ehernen Grundsätze"® eines rechtgläubigen Nationalsozialismus — sofern sie als solche überhaupt nachweisbar waren — unter dem so geläufigen Dachbegriff „völkisches Rechtsdenken" 7 propagiert worden ist, trotz aller Divergenz eine ähnlich bedeutsame Integrationsfunktion für das Rechtsleben der NS-Zeit zu, wie sie die sog. „nationalsozialistische Weltanschauung" allgemein für das öffentliche und politische Leben i m Dritten Reich besaß, auch wenn sie kein straffes ideologisches System, das jene Grundsätze zu gliedern und aufeinander zu beziehen vermocht hätte, sondern ebenfalls nur ein Sammelbegriff war. Dem somit vorgegebenen Bezugssystem entsprechend geht die folgende Darstellung aus von einer zunächst noch weitgehend auf vorhandene historische und politologische Forschungen gestützten Untersuchung der „nationalsozialistischen Weltanschauung", u m aufzuzeigen, wie unmittelbar deren zentrale Vorstellungen sich auf das Recht der Zeit auswirkten und es bis i n seine Wurzeln durchdrangen. Gemäß dem gewählten Ansatz bezieht sie sich allerdings auch i n diesem Teil vornehmlich auf die rechtstheoretischen Aspekte und entnimmt lediglich zur näheren Verdeutlichung ihrer Einwirkungen Beispiele aus den i m übrigen ausgeklammerten Bereichen der Rechtsetzung 8 und Rechtsanwendung 9 . Sie wendet sich sodann i m zweiten Hauptteil dem auf die Frage nach Vereinbarkeit u n d Vorrang der dieses Denken angeblich bestimmenden, doch vielfach widerstreitenden Prinzipien somit zwangsläufig aufgetretenen Spannungen h i n (so etwa S. 127 f. u n d wiederum Gernhuber). 5 Vgl. ζ. B. Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 21; Sontheimer, A n t i d e m o kratisches Denken, S. 14, 134 f., 137; Lieber, Die deutsche Lebensphilosophie u n d ihre Folgen, S. 92. S. dazu des näheren u. § 3. β Z u deren I n h a l t u n d F u n k t i o n vgl. einstweilen Hitler, M e i n Kampf, S. 417 ff., 510 ff. S. i m übrigen die folgende Darstellung sowie u. § 10, Fußn. 21. 7 I n der T a t wurde dieser Begriff ganz allgemein als gleichbedeutend m i t dem Bemühen u m die „Erneuerung des deutschen Rechts aus dem Geiste der völkischen ( = nationalsozialistischen) Weltanschauung" verstanden u n d gem e i n h i n auch anerkannt als der (dem NS-System insoweit unschädliche) A n spruch, das Recht i n seiner Konzeption als völkische Gesamtordnung u n d innere Einheit letztlich insgesamt als „Ausdruck der i h m zugrunde liegenden Rechts- u n d Weltanschauung" zu begreifen. Vgl. etwa Larenz, Uber Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 7,11 f., sowie Gernhuber, der darauf hinweist, daß sich „die Lehre der Z e i t " nicht umsonst zu einem „völkischen Rechtsdenken" bekannte u n d ihres Erfolges u m so sicherer sein konnte, „als sie k a u m mehr w a r als die w e i t h i n noch unverbindliche F o r m u lierung eines mehr formalen als inhaltserfüllten Bandes, das sich u m eine Vielzahl von Ansichten legen ließ": S. 173. 8 Vgl. dazu etwa Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als M i t t e l der Machtpolitik, F r a n k f u r t 1963. 9 Z u r j u d i k a t i v e n Rechtsanwendung i n der NS-Zeit s. insbes. das i n der Reihe der Veröffentlichungen des Instituts f ü r Zeitgeschichte erscheinende

16

Einleitung

Grundsätze des Nationalsozialismus festgelegten systematisierten Rechtsdenken selbst, also dem „völkischen Rechtsdenken", zu, hier wiederum insbesondere i n der Ausprägung, die es i n der Wissenschaft, i n der akademischen Lehre erfuhr. Dabei rückt sie vor allem unterschiedliche Betonungen der für die Rechtsgestaltung maßgeblichen (und an sich gleichermaßen verbindlichen) Kernprinzipien der NS-Weltanschauung i m Hinblick auf deren Verhältnis und Rang untereinander i n den Vordergrund, m i t h i n Akzentverschiebungen, die es sogar rechtfertigen können, nach einzelnen Lehren vom völkischen Recht zu differenzieren. I n einer Schlußbemerkung endlich soll der Versuch unternommen werden, als gemeinsames Charakteristikum des nationalsozialistischen Rechtsdenkens und überhaupt aller i h m zuzurechnenden Rechtslehren wie rechtsphilosophischen Strömungen einen unterschwelligen bis offen herausgestellten Irrationalismus zu bestimmen.

Gesamtwerk "Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus" (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte), Stuttgart ab 1968.

Erster Teil

Die „nationalsozialistische Weltanschauung" § 2 Vorbemerkung — Nationalsozialistische Weltanschauung und gleichgeschaltetes Rechtsdenken Das Dritte Reich besaß eine gewisse Fertigkeit darin, bildkräftige Schlagworte zu prägen, die sich alsbald auch i m allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzten. I n der Regel verbarg sich hinter ihnen weniger ein bestimmt umrissener und reflektierter Vorstellungsinhalt i m Sinne eines Teilbegriffs eines gegliederten Sinngefüges als vielmehr ein gezielter Impuls i n Richtung auf das erwünschte systemkonforme Einheitsverhalten, auf eine Formierung der sog. „rechten Gesinnung". Bisweilen dienten sie aber auch nur der Verschleierung schlichter machtpolitischer Interessen und Ziele. Dies schließt nicht aus, daß sich derartige „Begriffshülsen" häufig noch nachträglich m i t annähernd konkreten Inhalten füllten, gespeist allerdings aus den unterschiedlichsten Quellen. So ergeben sie schließlich insgesamt ein durchaus nicht widerspruchsfreies „Konglomerat aus verschiedenen ideologischen Theoremen, . . . nicht eindeutig, sondern variierbar und konstruierbar" 1 je entsprechend dem Zweck ihres Einsatzes. Auch die „nationalsozialistische Weltanschauung" i m allgemeinen und das „völkische Rechtsdenken", der „völkische Staatsgedanke" oder etwa auch das „gesunde Volksempfinden" i m besonderen sind solche griffigen Formeln i m zuvor dargestellten Sinne. Gleichwohl ist i n dem vermittelnden Inhalt dieser unbestimmten Formeln eine gemeinsame Grundlage all dessen zu finden, was sich selbst beispielsweise als nationalsozialistisches Rechtsdenken, d.h. als ein Rechtsdenken i m Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung, verstand. Jene m i t solch minimalem Grundbestand an gemeinsamen Vorstellungsinhalten ausgestatteten Wendungen wurden, und sei es auch nur schlagwortartig, als Leitsätze i n alle rechtstheoretischen Erörterungen einbezogen, die überhaupt auf dem Boden des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus ihren Platz hatten, wohl nicht zuletzt gerade wegen ihrer weitgehenden Unbestimmtheit und Wandelbarkeit 2 . 1 2

Lieber, S. 92; ähnlich Broszat, S. 21; Sontheimer, S. 135. Gernhuber, Das völkische Recht, S. 179(—183), sieht i n dem zwanghaften

2 Anderbrügge

18

1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

Der Gang der Untersuchung hat folgerichtig bei der allgemeinsten und umgreifenden Formel, der „nationalsozialistischen Weltanschauung", zu beginnen und sie auf ihren normativen Grundgehalt, ihren Standort und ihre Funktion h i n zu analysieren. Läßt sich aber ein materieller Grundbestand feststellen und — wie gezeigt werden soll — zu zentralen Schwerpunkten (Leitgedanken) gruppieren, dann steht damit zugleich fest, daß ein ausdrücklich nach der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgerichtetes Rechtsdenken ihn zwangsläufig total i n sich aufzunehmen hatte und ebenfalls auf seine Grundgedanken festgelegt war. W i r d insoweit auch die These erhärtet, daß das nationalsozialistische Herrschaftssystem m i t unerbittlicher Konsequenz alle Lebensbereiche wennschon nicht seiner diffusen Ideologie, so doch wenigstens seiner ungehemmten Macht unterwarf, so ist dennoch nicht zu übersehen, daß i h m dieser „Erfolg" durch das — freilich i m Einzelfall sehr unterschiedlich motivierte — allzu nachgiebige Verhalten oder gar offene Entgegenkommen vieler (Rechts-)Wissenschaftler erheblich erleichtert wurde.

Bemühen der einzelnen dem Nationalsozialismus gefälligen Rechtslehren, m i t jenem w e i t h i n austauschbaren Grundwortschatz u n d dabei doch von unterschiedlichsten Ausgangspunkten u n d auf vielen verschiedenen Wegen dem einen notwendig gemeinsamen Ziel, den W i l l e n des Führers, das autoritäre Prinzip, i n ein jeweils anders konzipiertes System der das Recht bestimmenden (völkischen) Prinzipien einzupassen, entsprechen zu wollen, einen f ü r das nationalsozialistische Rechtsdenken geradezu symptomatischen Zug.

Erstes Kapitel

Standort, Funktion und normativer Grundgehalt § 3 Orts- und Funktionsbestimmung: Nationalsozialistische Welt- und Rechtsanschauung zwischen pragmatischer Machtpolitik und Ideologie Eine Weltanschauung i m Sinne einer einheitlichen Gesamtauffassung der Welt und des Seins durch einen Menschen oder eine Menschengruppe 1 hat der Nationalsozialismus nicht hervorgebracht. Was er als seine Weltanschauung ausgab, bleibt weit zurück hinter dem, was Schleiermacher als die „Totalität aller Eindrücke" — einschließlich der „Totalität der menschlichen Zustände" — definierte, die durch die „höchste Selbsttätigkeit des menschlichen Geistes . . . zu einem vollständigen Ganzen . . . gesteigert" werde und erst dann auf diesem höchsten Punkt sei, wenn die Ideen von der Welt an ihr, der Weltanschauung selbst, und m i t ihr realisiert würden 2 . Und obgleich — wie sich zeigen w i r d — i m Nationalsozialismus mancherlei „irrationale vorphilosophische Intuition" bestimmenden Einfluß gewann, läßt sich schwerlich behaupten, daß seine ,Weltanschauung' durch solchen Impuls alle theoretischen Erkentnisse zu einer „sinnvollen Grundverfassung des Daseins, i n der und aus der der Mensch lebt" 3 , verknüpft habe. Vielmehr sei sie, so ist kritisch angemerkt worden, von Anfang an weder das Ergebnis einer originalen, i n sich schlüssigen Analyse der Gegenwart noch eines rational begründeten Systementwurfs für die Zukunft gewesen4. Nicht wahrhaftes „Innewerden des eigenen menschlichen Seins, in dem die Sinne und Begriffe der Betrachtung ihre Wurzel haben" 5 , war das tiefere Ziel, sondern möglichst effektive Kaderund Massensuggestion i m Interesse der Verwirklichung totaler Macht. Erst recht kann das, was als nationalsozialistische Weltanschauung bezeichnet wurde, nicht als Philosophie gelten. Sie war es trotz mancher 1 Vgl. Stichwort „Weltanschauung", i n : Duden-Lexikon i n 3 Bänden, Bd. 3, Mannheim 1962. 2 Vorlesungen über Pädagogik, 1813, zit. nach Hamel, A r t . „ W e l t anschauungsgemeinschaften", I, i n : Evgl. Staatslexikon. 3 Vgl. die Definition Hamels, ebd. 4 Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 21. 5 Wiederum Hamel , I.

2*

20

1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

i m gegenteiligen Sinne zu verstehenden Äußerungen w o h l nicht einmal nach i h r e m eigenen S e l b s t v e r s t ä n d n i s oder d e m i h r e r m a ß g e b l i c h e n U r h e b e r . Gegenüber denen, die g l e i c h w o h l solchen A n s p r u c h erhoben, w i e s gerade e t w a Larenz a u f die b e i a l l e r b e h a u p t e t e n A f f i n i t ä t bes t e h e n b l e i b e n d e n Unterschiede z w i s c h e n (der d e m N a t i o n a l s o z i a l i s m u s a n g e b l i c h eigenen) W e l t a n s c h a u u n g u n d (einer i m N S noch zu e n t f a l t e n den) P h i l o s o p h i e h i n 6 : I n seiner »Weltanschauung' stoße der einzelne oder auch ein V o l k zu der i h m wesensgemäßen H a l t u n g vor u n d nehme eine bestimmte Stellung gegenüber den Grundfragen des Lebens u n d zumal des politischen Daseins ein 7 . W o h l finde sich auf dem Grunde einer echten Weltanschauung eine die geistige Gesamthaltung betreifende, die Persönlichkeit i m eigentlichen Sinne konstituierende persönliche Entscheidung. Eben solch ein schöpferischer A k t stehe auch am Beginn aller Philosophie. Zudem seien beide i n ihrem Ursprung persönlich-überpersönlich. Die Weltanschauung sei also nicht schlechthin subjektiv, die Philosophie nicht allein objektiv. Doch jede Weltanschauung dränge erst nach i h r e m Selbstverständnis i n der Philosophie. Sie spreche sich primär i n einer sittlichen Haltung u n d einem vorphilosophischen, mehr u n mittelbaren Weltverständnis aus, während die darüber hinausführende philosophische Welterkenntnis durch die Einbeziehung der Einzelerkenntnis i n eine Totalität der Erkenntnis u n d durch die methodische Sicherung des gedanklichen Fortgangs gekennzeichnet sei. Demgegenüber begnüge sich das vorphilosophische, weltanschauliche Schrifttum m i t der Herausstellung einzelner, f ü r besonders bedeutsam angesehener Einsichten u n d lege auf methodische Strenge geringeren Wert 8 . Die Philosophie habe n u n die Aufgabe, die Weltanschauung zu bewahrheiten, sie zur Totalität der Welterkenntnis zu entfalten. Sie sei die Bewährung der Weltanschauung i m Element des W a h r heit suchenden Erkennens 9 . I n jedem Falle sei also ein weltanschaulicher Umbruch von entscheidender Bedeutung auch f ü r die Philosophie, die als gegenwärtig' n u r dann zu bezeichnen sei, w e n n sie irgendwie von dem neuen Geist getragen werde 1 0 . So w e n i g die „nationalsozialistische W e l t a n s c h a u u n g " also selbst P h i l o s o p h i e w a r , so sehr steht sie doch — w e n n auch n u r m i t t e l b a r — „ i n Z u s a m m e n h ä n g e n e i n e r E n t w i c k l u n g des Geistes, a n d e r die P h i l o sophie i h r e n g e w i c h t i g e n A n t e i l h a t " 1 1 . Sogar T h e o d o r Litts b e d e u t u n g s v o l l e r These v o m „ A u f h ö r e n der P h i l o s o p h i e " 1 2 , die sich z u r d a m a l i g e n Z e i t u n s c h w e r a u f die i n a l l e n B e r e i c h e n des g e i s t i g e n Lebens nachd r ü c k l i c h u n d m i t E r f o l g b e t r i e b e n e V e r b r e i t u n g der k r i t i s c h e r R a t i o n a l i t ä t g ä n z l i c h e n t b e h r e n d e n N S - W e l t a n s c h a u u n g m ü n z e n ließ, i s t zu

β 7 8 9 10 11 12

Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., 1935, S. 1 ff. Ebd., S. 1. Ebd., S. 2 f. Ebd., S. 3 f. Ebd., S. 4 f. Lieber, Die deutsche Lebensphilosophie u n d ihre Folgen, S. 92. I n : Philosophie u n d Zeitgeist, Leipzig 1935.

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

21

Recht entgegengehalten worden, daß noch solches Aufhören i m Zuge einer Identifikation der Philosophie m i t einem apologetisch verklärten Zeitgeist nicht voraussetzungslos geschehe, sondern seinerseits Fundamente i n der Philosophie und ihrer Geschichte habe 13 . Die hier angedeuteten, i m einzelnen freilich recht disparaten philosophisch-geistesgeschichtlichen Bezüge und Voraussetzungen nationalsozialistischen Denkens werden — soweit dies i m Rahmen der vorliegenden Untersuchung angezeigt erscheint — jeweils erst i n die folgende inhaltliche Darstellung seiner zentralen Leitgedanken und vor allem der von ihnen bestimmten Rechtslehren einbezogen. Die mangelnde Geschlossenheit der von der nationalsozialistischen ,Bewegung' vertretenen Thesen läßt es schließlich auch nicht zu, sie als ein ideologisches System — hier verstanden i m Sinne eines „ideellen Orientierungssystems", der „Gesamtheit der von einer Bewegung, einer Gesellschaftsgruppe oder einer K u l t u r hervorgebrachten Denksysteme, Wertungen, geistigen Grundeinstellungen" 14 und gerade nicht i m Sinne lediglich einer „Verhüllung affektueller Handlungsmotive" 1 5 — oder als ein Lehrgebäude zu qualifizieren, das etwa dem marxistischen dialektischen Materialismus vergleichbar gewesen wäre 1 6 . Weder i n der Philosophie· noch i n der Ideengeschichte haben sie ihren eigenen Platz gefunden. Nur der beispiellosen Macht, der i m Bereich unserer engeren Geschichtserfahrung wohl unmenschlichsten Gewaltherrschaft, der sie dienten, verdanken sie überhaupt nachträgliche Erwähnung und k r i tische, wissenschaftliche Auseinandersetzung. Was nationalsozialistische Weltanschauung heiße, so analysiert Lieber 17, sei k a u m mehr als ein Mischgebilde, ein „ K o n g l o m e r a t " 1 8 aus ideologischen Thesen verschiedenster Herkunft, weitgehend ohne durchreflektierte u n d gegliederte Begrifflichkeit. Als solches füge sie sich philosophiehistorischem Zugriff nicht, da die v o n i h r benutzten Philosopheme nicht ihre Substanz 13

Wiederum Lieber, S. 93. Vgl. Stichwort „Ideologie", i n : Brockhaus-Enzyklopädie i n 20 Bänden, 17. Aufl., Bd. 8, Wiesbaden 1969. Vgl. auch die weitergehende, den kritischen Aspekt einbeziehende Definition Liebers, nach der Ideologie „jenes geistige, apologetische Selbstverständnis der Gesellschaft" ist, „das i n seinen W a h r heitsanspruch das Bewußtsein möglicher Falschheit u n d Konformität m i t den Faktizitäten der Gesellschaft nicht selbstkritisch aufnimmt u n d aktiviert u n d damit die Gesellschaft i m Grunde n u r unbefragt bestätigt": A r t . „Ideologie", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat u n d Politik), Neuausgabe 1964, S. 140. 15 So Gernhuber, Das völkische Recht, S. 193. 16 Broszat, S. 21; Herzog, A r t . „Nationalsozialismus", I A 1, i n : Evgl. Staatslexikon; Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 134. 17 S. 92. 18 Broszat, S. 21, u n d Seheff 1er i n : Hartwich (Hrsg.), P o l i t i k i m 20. Jhdt., S. 350, sprechen von einem „Ideenbrei". S. dazu aber auch die noch weitere Nachweise enthaltende A n m e r k u n g von Sontheimer, S. 134 f. (insbes. Fußn. 47), der dort selbst ebenfalls von einem „Konglomerat" spricht. 14

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

seien 19 . Nicht einmal ideologiekritischer Methodik sei sie zugänglich, denn sie habe j a „ihre Wahrheit eingestandenermaßen nicht am I n h a l t der von i h r benutzten Theoreme als vielmehr instrumental am bezweckten Resultat", nämlich: „durch Manipulation u n d politische A k t i v i e r u n g von Massen elitäre Herrschaft imperialer Observanz so zu begründen, daß sie selbst diejenigen noch m i t aller Radikalität trifft u n d i n sich einbezieht, i m Namen von deren Emanzipation sie zu funktionieren vorgibt". Auch f ü r einen K r i t i k e r w i e Kotowski, der i m übrigen der ideologischen Komponente i m Nationalsozialismus durchaus einiges Gewicht beimißt 2 0 , ist diese „minderwertige Weltanschauung" — u n d sei es n u r als Ausgangsbasis — f ü r wissenschaftliches Denken u n d Arbeiten ganz ungeeignet. Sie könne höchstens i n ganz äußerlicher F o r m m i t den Ergebnissen methodisch k o r r e k ter Forschung zusammengeleimt werden 2 1 . Die i n i h r angesammelten V o r stellungen seien sämtlich manipulierbar u n d zugleich der Erringung w i e der Behauptung von Macht dienlich. Fast alle könnten zu einer extrem antihumanen P o l i t i k führen 2 2 . Kotowski bezieht sich hier zudem ausdrücklich auf Hans Frank, der i m nachhinein zu der schwerwiegenden Feststellung k a m : „Diese Weltanschauung des Nationalsozialismus w a r ein künstliches Parolengebilde, zusammengesetzt aus dem plattesten Materialismus des darwinistischtechnisch-naturgesetzlichen Diesseitswertekults unseres Zeitalters u n d den Extaseformeln grundsätzlicher ideologischer u n d hitlerischer A r t . Diese ,Weltanschauung' hatte n u r die Bedeutung einer generellen Entlastung von ethischen, religiösen oder konservativ-bürgerlichen Verpflichtungen 2 3 ." Broszat schließlich hat i n seiner bereits zitierten sehr aufschlußreichen Analyse des Nationalsozialismus zu Recht darauf hingewiesen, daß die i n seiner Weltanschauung enthaltene „geistige Wirre, die erschreckende Niveaulosigkeit u n d moralische Pervertierung" sich insbesondere u n d keines weiteren Kommentars bedürftig i n der entsprechenden „Weltanschauungsliteratur" dokumentiert habe 2 4 . Er zitiert i n diesem Zusammenhang Rauschnings bekannte Äußerung: „ K e i n Feind konnte der deutschen Nation eine größere Erniedrigung zumuten, als diese Weltanschauung anzunehmen u n d zu glauben 2 5 ."

Gewiß spricht manches dafür, i m Nationalsozialismus insgesamt eine eher pragmatisch nach der totalen Macht strebende als ideologisch fundierte Bewegung zu sehen 28 , so daß es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein haben könnte, als sei es überflüssig, sich mit der „Ideologie" des Hitlerismus überhaupt auseinanderzusetzen. Gleichwohl bleibt dies aus vielerlei Gründen sinnvoll, und i m Rahmen einer Untersuchung 19

Ähnlich Broszat, S. 22. S. dazu die folgende Darstellung. 21 Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 217. 22 S. 216. S. auch schon Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, S. 112 f. 23 Z i t i e r t nach Kotowski, S. 215. 24 S. 25. E r w ä h n t werden hier namentlich Rosenbergs „ M y t h u s " , Darrés B l u t - u n d Boden-Mystik u n d die Schriften des Rassentheoretikers Hans F. K . Günther. S. ferner Sontheimer, S. 141. 25 Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse u n d W i r k lichkeit i m D r i t t e n Reich, Zürich 1938, S. 84. 26 Vgl. Herzog, 1 Al. 20

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

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wie der vorliegenden, i n der es u m die Darstellung einer bewußt i n Bindung an die nationalsozialistische Weltanschauung konzipierten Rechtslehre geht, erscheint es nachgerade geboten, den einzelnen ideologischen Bestandteilen dieser Weltanschauung nachzugehen, u m sie nach Ort, Funktion und Gehalt bestimmen zu können. Aus ganz ähnlichen Erwägungen gibt etwa auch Jost Nolte zu bedenken, daß i n dem, was Hitler und seine Partei taten, trotz der Unbestimmtheit, die den nationalsozialistischen Leitvorstellungen eigentümlich und der jeder ideologischen Festlegung i m Grunde abgeneigten 27 politischen Führung durchaus erwünscht war, gewisse konstante Kräfte gewirkt hätten, die lokalisiert werden müßten, revolutionäre Tendenzen so gut wie reaktionäre. Man leiste wichtige Arbeit, wenn man — wie z. T. schon geschehen — ihre Psychologie aufzeige, ihre Daten sortiere und ihre Verwandtschaft m i t faschistischen und bürgerlichen Ideologien nachweise 28 . Kotowski wiederum begründet seine Warnung, die ideologische Komponente in der nationalsozialistischen Politik bei aller Manipulierbarkeit i m einzelnen zu unterschätzen, insbesondere damit, daß Hitler und mit ihm zahllose der einflußreichsten Parteigenossen schließlich an die grundlegenden Formulierungen dieser Weltanschauung geglaubt und ihre Politik daran ausgerichtet hätten 29 . Tatsächlich wurde über den engeren Bereich der direkten politischen Beeinflussung der Massen durch die Partei hinaus die nationalsozialistische Weltanschauung zum verbindlichen Maßstab alles auch nur irgendwie für das öffentliche Leben relevanten Urteilens und Handelns gesetzt. Das galt folglich i n besonderem Maße für den Bereich des Rechtes und des Staates. Zwei Beispiele aus dem Bereich der Rechtsetzung mögen hier zeigen, wie generalklauselhaft etwa die propagierte Weltanschauung als ideologisches K r i t e r i u m i n die Gesetze des Dritten Reiches übernommen wurde und damit unmittelbarsten Eingang i n die Rechtsanwendung fand: I n § 7 des Führererlasses vom 3. A p r i l 1941 über die Bildung des Reichsverwaltungsgerichts 30 heißt es: „Die Mitglieder des Reichsverwaltungsgerichts sind bei der Sachentscheidung keinen Weisungen unterworfen. Sie haben ihre Stimmen nach ihrer freien, aus dem gesamten Sachstand geschöpften Überzeugung u n d nach der von nationalsozialistischer Weltanschauung getragenen Rechtsauslegung abzugeben."

Und § 1 des Steueranpassungsgesetzes vom 16. Okt. 193431 lautet: „ I Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen. I I Dabei sind die Volksanschauung, der Zweck u n d die wirtschaft27 28 29 30 31

Vgl. auch Sontheimer, S. 135, 141. Der Monat, Heft 213 (Juni 1966), S. 77. S. 215 f. RGBl. I, S. 201. RGBl. I , S. 925.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

liehe Bedeutung der Steuergesetze u n d die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. I I I Entsprechendes g i l t f ü r die V e r w i r k l i c h u n g von T a t beständen." D e n s e l b e n G r u n d s a t z s t e l l t § 2 A b s . I I I dieses Gesetzes auch f ü r E r messensentscheidungen a u f : „Fragen der B i l l i g k e i t u n d Zweckmäßigkeit sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung zu beurteilen 3 2 ." D i e A u s l e g u n g s r e g e l des § 1 S t A n p G w i r k t e sich ü b r i g e n s n i c h t n u r a u f d e n B e r e i c h des Steuerrechts aus. Sie w u r d e v o n Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r d a n k b a r a u f g e g r i f f e n als A u s d r u c k des n e u e n Rechtsdenkens i m S i n n e der G r u n d s ä t z e des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s , das a l l e Sachgebiete i n n e r l i c h z u d u r c h d r i n g e n habe. B e r e i t s w e n i g e M o n a t e nach E r l a ß jenes Gesetzes e r h o b das Sächsische O V G die R e g e l des § 1 i n d e n R a n g eines a l l g e m e i n e n Rechtsgrundsatzes, d e r f ü r a l l e Gebiete des deutschen Rechtslebens als v e r b i n d l i c h angesehen w e r d e n müsse: a l l e Gesetze seien also nach nationalsozialistischer W e l t a n s c h a u u n g auszulegen38. A l s G i p f e l p u n k t solcher B e m ü h u n g e n k a n n der d e m R e i c h s m i n i s t e r der J u s t i z a m 19. Dez. 1934 v o m t h ü r i n g i s c h e n J u s t i z m i n i s t e r D r . Weber v o r g e l e g t e E n t w u r f eines „Regierungsgesetzes z u r U m g e s t a l t u n g des Rechtes i m Geiste des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s (Rechtsumgestaltungsgesetz)" gelten, d e r z w a r selbst i n der g e n e r a l k l a u s e l f r e u d i g e n u n d z u u n b e s t i m m t e n Rechtsbegriffen n e i g e n d e n Rechtsetzungspraxis des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s 3 4 n i c h t Gesetz h a t w e r d e n k ö n n e n , aber i m m e r h i n e i n b e 32 Danach — so besagt eine Wertung dieser Vorschrift i n einer Dissertation aus dem Jahre 1940 — könne von der Gefahr „parteiischer Maßnahmen" k a u m noch die Rede sein: Wegener, Der Grundsatz der Gleichheit i m Weimarer Staat u n d seine Wandlung i m nat.-soz. Reich, S. 79. 33 Vgl. das U r t e i l des Sächs. O V G v. 18. Jan. 1935: J W 1935, S. 886. Z u r hier nicht weiterverfolgten Auslegungspraxis der Gerichte nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung vgl. die eingehenden U n t e r suchungen von Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, insbes. §§13 I V , 15, 17 (dort eigens zur F u n k t i o n der Generalklauseln). 34 Die vielzitierte K r i t i k Hedemanns i n seiner berühmten Schrift: Die Flucht i n die Generalklauseln — Eine Gefahr f ü r Recht u n d Staat, Tübingen 1933, betraf, w i e nicht zuletzt Hedemanns spätere maßgebliche Mitarbeit an dem E n t w u r f f ü r ein Volksgesetzbuch m i t seinen programmatisch vorangestellten, großenteils i h r e r F u n k t i o n u n d feste Tatbestände w i e Rechtsfolgen vermeidenden Gestalt nach Generalklauseln sehr ähnlichen 25 „ G r u n d regeln" (Hedemann I Lehmann I Siebert y Volksgesetzbuch, S. 11 ff.) bewies, eigentlich n u r noch retrospektiv die Weimarer Verhältnisse. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung hingegen traten die Generalklauseln wie auch unbestimmte Rechtsbegriffe, Auslegungsregeln, Gesetzesvorsprüche u. ä. m. als willkommene „Einbruchsstellen" f ü r das neue Rechtsdenken m i t seiner politischen I m p l i k a t i o n i n den Bereich des Gesetzesrechts einen gerade auch von der rechtswissenschaftlichen L i t e r a t u r her nahezu unangefochtenen Siegeszug an. Vgl. dazu Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S. 186 f. m i t Hinweis auf Kirschenmann u n d Stolleis, sowie wiederum Rüthers, S. 185 f., 214 ff. m. w. N. Außer der einzigen dort ebenfalls nachgewiesenen

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

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zeichnendes Licht w i r f t auf die damals herrschenden Vorstellungen von der Funktion des Rechts und deutlich werden läßt, wie weit die Bestrebungen gingen, ideologische Ansprüche durch gesetzliche Verankerung allgemeinverbindlich zur Geltung zu bringen. Die i m Rahmen dieser Untersuchung vornehmlich interessierenden ersten vier (von insgesamt sechs) Bestimmungen des Entwurfs seien auch hier i m vollen Wortlaut wiedergegeben 35 : „§ 1 Jeder Volksgenosse hat zu handeln i n vertrauensvoller Gemeinschaft nach dem Geiste nationalsozialistischer Weltanschauung, nach Ehre und Anstand, nach Treu u n d Glauben, nach redlicher Verkehrsauffassung zum Wohle von V o l k u n d Staat. Versagt w i r d ein Rechtsschutz allem ehrlosen, v o l k - u n d sittenwidrigen Verhalten, namentlich jedem offenbaren Mißbrauch eines Rechts. § 2 Jeder Rechtswalter hat f ü r jeden Lebens Vorgang die Rechtsgestaltung zu erstreben, zu der i h n der Geist der nationalsozialistischen W e l t anschauung verpflichtet u n d die der Sache gerecht w i r d . §3 Läßt ein Gesetz, ein Vertrag oder ein Vorgang, besonders ein W e r t begriff, mehrere Auslegungen oder Gestaltungen zu, so ist die v o r zuziehen, die am besten der Stärkung der ehrbaren u n d redlichen Gesinnung, der vertrauensvollen Gemeinschaft, dem W o h l v o n V o l k und Staat dient. § 4 Das geschriebene Gesetz ist Richtschnur. Der Rechtswalter bildet i n geeigneten Fällen durch ausdehnende, einschränkende, berichtigende oder ergänzende Rechtsregeln das Gesetz so weiter, w i e der Geist der nationalsozialistischen Weltanschauung dies verlangt."

Erwähnenswert als besonders markantes Beispiel für den Versuch, ideologische Kriterien i n das Gesetzesrecht einzuschleusen, sind außerdem die dem 1942 vorgelegten Entwurf des 1. Buches für ein Volksgesetzbuch, das das BGB ablösen sollte, vorangestellten 25 „Grundregeln", die „Grundsätze des völkischen Gemeinschaftslebens" formulierten und zudem Rechtsanwendung, -auslegung und -fortbildung sowie den Geltungsbereich festzulegen bestimmt waren. Sie sollten nicht i m herkömmlichen Sinne als Präambel verstanden werden, sondern als „unmittelbares Volksgut" Brücken „vom Volk zum Rechtswahrertum" schlagen 38 . Und i n den beigegebenen Erläuterungen hieß es ganz unverblümt, sie ständen i m Dienst des Parteiprogramms und seien ihm als Hilfsmittel auf einem Sondergebiet völkischen Daseins unterstellt 3 7 . Von den zahlreichen Bestimmungen der Grundregeln selbst sei hier i m einzelnen nur die für den vorliegenden Zusammenhang wiederum bezeichK r i t i k von Schmelzeisen finden sich gewisse Relativierungen der sich ausbreitenden Neigung zu Generalklauseln auch bei Heinrich Lange, V o m alten zum neuen Schuldrecht, H a m b u r g 1934, S. 44 f. 35 Zitiert nach Weinkauff i n : Weinkauff / Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 98 f. 38 Vgl. Hedemann, Das Volksgesetzbuch der Deutschen. E i n Bericht, S. 29. 37 Ders. i n : Hedemann / Lehmann / Siebert, Volksgesetzbuch, S. 38.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

nendste angeführt. Sie findet sich zu Nr. 20 und schreibt i n nahezu wörtlicher Ubereinstimmung mit der Formulierung von § 7 des Führererlasses über die Bildung des Reichsverwaltungsgerichts 38 dem Richter vor, Recht zu sprechen „nach freier . . . Uberzeugung und nach der von der nationalsozialistischen Weltanschauung getragenen Rechtsauslegung" 3 9 . Durch eine solche Einbeziehung in die „Grundregeln" sollte also auch i n diesem w o h l bedeutendsten Gesetzgebungsvorhaben der NS-Zeit die ideologische Gleichschaltung richterlichen Umgangs m i t dem Recht das Gewicht eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes erhalten. Nicht zuletzt i n der Durchsetzung dieses Grundsatzes lag ein wesentlicher Schritt auf dem Wege zu dem auch m i t dem Entwurf für ein Volksgesetzbuch angestrebten, von seinen Urhebern unzweideutig erklärten Ziel: die nationalsozialistische Ideologie i n einer neuen Rechtsordnung zu verwirklichen 4 0 . A m konsequentesten und wortreichsten widmete man sich dieser durchweg selbstgewählten Aufgabe i n dem Bereich, dem auch jener Entwurf entstammte, nämlich i n nahezu allen Zweigen der rechtswissenschaftlichen Literatur. Aus der fast unerschöpflichen Fülle der Beispiele sollen hier nur einige wenige herausgegriffen werden, die immerhin andeuten können, wie sehr man gerade i n der weithin systemhörigen Wissenschaft und Lehre bemüht war, einer Entwicklung den Weg zu bahnen, die von Gesetzgebung und Rechtsprechung allein und aus eigenem Antrieb kaum je hätte bewältigt werden können, eben die völlige innere Durchdringung des gesamten Rechts mit den Grundsätzen nationalsozialistischer Weltanschauung. Die Vorschläge, die aus diesem Bereich gemacht wurden, zielten allerdings erst i n zweiter Linie auf eine grundlegende legislative Erneuerung der vom Nationalsozialismus vorgefundenen Rechtsordnung i m Sinne seiner ideologischen Vorstellungen — das war ein eher langfristig angestrebtes Ziel, für das man sich entsprechend Zeit ließ 4 1 —, sondern konzentrierten sich zunächst 38

S. o. hinter Fußn. 30. Hedemann / Lehmann / Siebert, Volksgesetzbuch, S. 13. Worauf die A u t o ren die nationalsozialistische Weltanschauung gerichtet glaubten, lassen i m übrigen die häufig zitierten ersten beiden Grundregeln erkennen: „1. Oberstes Gesetz ist das W o h l des deutschen Volkes. 2. Deutsches Blut, deutsche Ehre u n d Erbgesundheit sind rein zu halten u n d zu wahren. Sie sind die G r u n d kräfte des deutschen Volksrechts.": ebd., S. 11. 40 Vgl. Hedemann, Das Volksgesetzbuch der Deutschen, S. 3. Es ist zuzugeben, daß die V e r w i r k l i c h u n g dieser Aufgabe nicht überall, insbesondere nicht i n weiten Kreisen der Partei u n d w o h l auch nicht von der politischen Führung als vordringlich angesehen wurde, sondern i n erster L i n i e den nationalsozialistischen Juristen u n d Teilen der Ministerialbürokratie am H e r zen lag. Vgl. i m übrigen die Darstellung u. zu § 10. 41 Vgl. die zuvor bereits erwähnten, erst relativ spät einsetzenden u n d gar nicht mehr zum Abschluß gekommenen Arbeiten an einer neuen Kodifikation des gesamten Bürgerlichen Rechts i m geplanten Volksgesetzbuch, f ü r das i m 39

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

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ebenfalls appellativ vor allem auf die allseits geforderte schnelle und tiefgreifende Wandlung der richterlichen und behördlichen Praxis, namentlich der Anwendung, Auslegung und Weiterentwicklung der bestehenden wie der neuen Rechtsnormen i m Sinne des Nationalsozialismus. Inhaltlich kamen entsprechende Anleitungen bei allem Wortaufwand über den allgemeinen Verweis auf die nationalsozialistische Weltanschauung insgesamt oder einzelne ihrer Leitvorstellungen selten hinaus. Insofern erreichten sie zwar ein relativ hohes Maß an äußerlicher Übereinstimmung, entgingen dafür aber andererseits mit ihren ständigen Wiederholungen ähnlicher oder sogar gleichlautender und dem realen Gehalt nach überdies weitgehend unbestimmter Formeln nicht einer gewissen Stereotypie. Die für die herrschende Lehrmeinung i n der NS-Zeit geradezu klassischen Formulierungen zur allgemeinen Auslegungsmaxime finden sich schon früh etwa bei Carl Schmitt: „Das gesamte heutige deutsche Recht, einschließlich der weitergeltenden, positiv nicht aufgehobenen Bestimmungen, muß ausschließlich u n d allein v o m Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein . . . Jede Auslegung muß eine Auslegung i m nationalsozialistischen Sinne sein . . . A l l e unbestimmten Begriffe, alle sog. Generalklauseln sind unbedingt u n d vorbehaltlos i m nationalsozialistischen Sinne anzuwenden 4 2 ." „ F ü r die A n w e n d u n g u n d Handhabung der Generalklauseln . . . sind die Grundsätze des Nationalsozialismus unmittelbar u n d ausschließlich maßgebend 4 3 ."

Damit waren die Leitlinien gezogen, denen man fortan allgemein folgte. I n der richtigen Erkenntnis, daß gerade auf dem Weg über die Generalklauseln die neuen Rechtsgedanken i n das geltende Recht eindringen könnten 44 , war man eilfertig bestrebt, den Inhalt von Begriffen wie „gute Sitten" und „Treu und Glauben" nach nationalsozialistischen Rechtsgrundsätzen zu bestimmen. So berief man sich etwa auf das K r i terium des „gesunden Volksempfindens" oder einer „herrschenden Volksanschauung" 45 („herrschenden Volksbewußtseins"), die ihrerseits Jahre 1942 lediglich der E n t w u r f des 1. Buches vorgelegt werden konnte, w ä h rend die vorgesehenen übrigen fünf Bücher nicht mehr formuliert wurden. Gesetzeskraft erhielten i m Bereich des Bürgerlichen Rechts aber i m m e r h i n so große u n d f ü r die Zeit bedeutsame Einzelgesetzgebungsvorhaben w i e das Reichserbhofgesetz v o m 29. Sept. 1933 (RGBl. I, S. 685), das Ehegesetz v o m 6. J u l i 1938 (RGBl. I, S. 807) u n d das Testamentsgesetz v o m 31. J u l i 1938 (RGBl. I, S. 973), die ζ. T. jedoch auf ältere Vorarbeiten zurückgingen und daher n u r begrenzt nationalsozialistischen Geist atmen. 42 Nationalsozialismus u n d Rechtsstaat: J W 1934, S. 713 (717) = D V 1934, S. 35 (40). 43 Neue Leitsätze f ü r die Rechtspraxis: JW 1933, S. 2793 (2794) = DR 1933, S. 201 (202). 44 S. dazu o. Fußn. 34. 45 Vgl. Siebert, V o m Wesen des Rechtsmißbrauchs, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 198 f., 209 ff. Larenz sprach hier

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

wiederum einfach m i t der nationalsozialistischen Weltanschauung identifiziert wurde 4 6 . Diese aber definierte man, sofern das überhaupt geschah, dann wieder als Ausdruck eben jenes völkischen Gedankens 47 : „Die nationalsozialistische Weltanschauung beruht auf einigen wenigen großen u n d doch gleichzeitig beglückend einfachen Grundgedanken, die sich ihrerseits wieder noch auf eine einheitliche Grundlage zurückführen lassen: das deutsche V o l k . . . So w i r d der Gemeinschaftsgedanke zum alles beherrschenden u n d alles durchdringenden Lebens- u n d Gestaltungsgrundsatz für alle i m V o l k vorhandenen u n d tätigen K r ä f t e . . . E i n Glied i n der Kette aller dieser M i t t e l u n d Kräfte . . . ist das Recht . . . So w i r d also auch das Recht i n den beherrschenden Gedanken der Volksgemeinschaft eingeordnet . . . Aus diesen Feststellungen ergibt sich f ü r uns die ganz wesentliche Erkenntnis, daß die Auswirkungen des Gedankens der Volksgemeinschaft i m bürgerlichen R e c h t . . . nichts anderes sind u n d nichts anderes sein dürfen als ein bestimmter Anwendungsfall, eine Bestätigung der nationalsozialistischen Welt- und Rechtsanschauung. Unsere Aufgabe k a n n also n u r darin bestehen, aus den einheitlichen Grundgedanken des Nationalsozialismus f ü r ein bestimmtes Gebiet völkischen Lebens nähere Folgerungen zu ziehen . . , 4 8 ."

Umgemünzt i n eine konkrete Handlungsanweisung an den Richter, hieß das: „Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere i m Parteiprogramm u n d i n den Äußerungen des Führers ihren Ausdruck findet 49." „Die nationalsozialistische Weltanschauung, so w i e sie . . . i m Parteiprogramm u n d i n den Reden u n d Schriften des Führers zum Ausdruck kommt, k o n k r e t i s i e r t . . . (den) Maßstab f ü r Recht u n d Unrecht 5 0 ." Die „neue Auffassung von Gesetz u n d Recht . . . hat den Grundsatz durchgesetzt, daß alle Gesetze ,nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen' sind". Die „Einheit der Weltanschauung ist heute für das Richtertum selbstverständliche Voraussetzung". Rechtsetzung u n d Rechtsanwendung sind gemeinsam ausgerichtet „ i n der V e r w i r k l i c h u n g der nationalsozialistischen Programmziele" 5 1 . v o m „lebendigen Rechtsbewußtsein des Volkes", der i n i h m lebendigen „ k o n kreten Rechtsidee", die er m i t dem „ W i l l e n des Führers" gleichsetzte, i n dessen „Geist" folglich das Recht anzuwenden sei: Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie, S. 31 f., 34, 35 f. 46 Wiederum Siebert i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 966. 47 Die ausschließliche Hervorhebung des völkischen Moments als kennzeichnendes M e r k m a l trifft allerdings — w i e i m folgenden gezeigt werden soll (s. §§ 4 ff. der Untersuchung) — die nationalsozialistische Weltanschauung n u r i n einer ihrer zentralen LeitVorstellungen. 48 Wie zuvor zu Fußn. 46, S. 957. Hervorhebung (neben anderen, hier nicht übernommenen) i m Original. 49 Leitsatz 2 der „Leitsätze über Stellung u n d Aufgaben des Richters", verfaßt 1936 i m A u f t r a g des Reichsministers u n d Präsidenten der AfDR, Hans Frank, von Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch u n d Siebert: D R W I (1936), S. 123. 50 Schwinge / Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ordnungsdenken i m Strafrecht, S. 58.

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

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Ä h n l i c h l a u t e t e es f ü r d e n B e r e i c h der V e r w a l t u n g , w o b e i w i e d e r u m die w e r t b e s t i m m t e n F r a g e n w i e die A u s f ü l l u n g v o n G e n e r a l k l a u s e l n u n d die Ermessensausübung besonders h e r v o r g e h o b e n w u r d e n . die kategorisch p o s t u l i e r t e

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G r u n d s ä t z e des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s s o l l t e n sie auch f a k t i s c h i m

an-

gestrebten S i n n e gelöst w e r d e n : „Das Wesen der politischen Durchführung 5 2 besteht i m Vollzug der Weisungen u n d Richtlinien der politischen Führung u n d i n der Anwendung der Grundsätze des Nationalsozialismus auf den Einzelfall . . . Die Gefolgschaftspflicht der i n der politisch gebundenen Sphäre tätigen Organe erstreckt sich . . . auch auf den Vollzug allgemeiner Grundsätze — hier muß die E n t scheidung durch Erforschung u n d Wertung der konkreten Rechtsgebilde aus dem Gedankengut des nationalsozialistischen Staates u n d Rechtes geschöpft werden 5 3 . . . . das nationalsozialistische Staatsdenken (setzt) schlechthin eine Bindung aller Ermessensentscheidungen an die Grundsätze des Nationalsozialismus, ζ. B. an den Satz ,Gemeinnutz vor Eigennutz 4 , voraus . . , 5 4 ." „Das Denken i n Ordnungen ist nicht Selbstzweck, sondern M i t t e l zur V e r wirklichung von Werten. Maßgeblich ist f ü r die Beurteilung die nationalsozialistische Wertskala 5 5 ." „ . . . überall, wo Ermessensformeln den nachgeordneten Behörden u n d den Gerichten die Möglichkeit selbständiger Entscheidung lassen, sind diese E n t scheidungen auf G r u n d des Gedankengutes des Führers u n d der nationalsozialistischen Weltanschauung zu treffen 5 6 ." „Nach w i e vor ist die unbewußte Lücke oder der bewußte Spielraum des Gesetzes nach Ermessen, also i n selbsthandelndem, verständnisvollem Dienst von Verwaltungsbeamten u n d Richtern an den nationalsozialistischen Zielen auszufüllen 5 7 ." D i e i n solchen u n d v i e l e n ä h n l i c h e n Ä u ß e r u n g e n v o r g e t r a g e n e n G r u n d g e d a n k e n w u r d e n i m H i n b l i c k a u f die „ A u f r i c h t u n g eines n e u e n V e r w a l t u n g s t y p s " , der d u r c h die p o l i t i s c h e n G r u n d s ä t z e der Z e i t , n ä m l i c h der „Verfassungsepoche des t o t a l e n v ö l k i s c h e n F ü h r e r s t a a t s " , b e s t i m m t sein s o l l t e 5 8 , v o n E. R. Huber, e i n e m der n a m h a f t e s t e n S y s t e m a 51 Höhn, Volk, Staat, Recht, i n : Höhn / Maunz / Swoboda, Grundfragen der Rechtsauffassung, München 1938, S. 15 f. 52 Gemeint ist die Verwaltungstätigkeit des staatlichen Apparats „ i n allen seinen Zweigen u n d bis zum letzten Ausführungsorgan": M aunz, Neue G r u n d lagen des Verwaltungsrechts, S. 16, sowie ders.: ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 324. 53 Ders., Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 17. 54 Ebd., S. 19. 55 Ders., Die Entwicklung des deutschen Verwaltungsrechts seit dem Jahre 1933: ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 323. S. dort auch S. 328 f., insbes. zur i n h a l t lichen Bestimmung von Generalklauseln u n d unbestimmten Rechtsbegriffen i m Verwaltungsrecht „gemäß den politischen Grundwerten der nationalsozialistischen Rechts- u n d Staatsordnung" (unter Berufung auf Carl Schmitt u n d E. R. Huber; Nachweise ebd.). 58 Poetzsch-Heffter (Hrsg.), V o m Deutschen Staatsleben, S. 120. 57 Meissner / Kaisenberg, Staats- u n d Verwaltungsrecht i m D r i t t e n Reich, S. 139.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

t i k e r ihres Staats- u n d V e r w a l t u n g s r e c h t s , n ä h e r bezeichnet u n d w e i t e r g e f ü h r t . Das E r g e b n i s seiner D a r l e g u n g e n l ä ß t sich u n t e r d e m h i e r gew ä h l t e n A s p e k t t h e s e n a r t i g e t w a w i e f o l g t zusammenfassen: Die Ausfüllung der Generalklauseln m i t neuem Gehalt ist deshalb so wichtig, w e i l das Verwaltungsrecht durch solche unbestimmten Begriffe erst seinen politischen Sinn erhält. Die Generalklauseln sind i m Geiste der herrschenden politischen Wertvorstellungen auszulegen u n d anzuwenden. Durch Verstehen der Generalklauseln i m völkischen Sinne wandelt sich das gesamte positive Recht. Die Generalklausel des Führerstaats ermächtigt zur Entscheidung gemäß den politischen Grundvorstellungen der neuen Volksu n d Staatsordnung. Der Beamte hat aus dem Bewußtsein der i n i h m lebendigen Grundsätze des neuen politischen Denkens zu handeln. Politische Gebundenheit bedeutet unbedingte Bindung an die Führung, die darüber entscheidet, was der politischen Weltanschauung entspricht. Ermessen ist also politisches Ermessen', Ermessensmißbrauch demnach Ausübung der eingeräumten Rechtsmacht entgegen der völkischen Weltanschauung u n d dem politischen Führungswillen 5 9 . D e r V o l l s t ä n d i g k e i t h a l b e r sei noch h i n z u g e f ü g t , daß auch f ü r d e n engeren K r e i s der u n m i t t e l b a r e n S t a a t s o r g a n i s a t i o n entsprechende Grundsätze f o r m u l i e r t w u r d e n , hier allerdings nicht i m Sinne einer A n w e i s u n g , s o n d e r n eher i n der F o r m e i n e r h u l d i g e n d e n F e s t s t e l l u n g ihrer erfolgreichen V e r w i r k l i c h u n g : „Die nationalsozialistische Idee . . . ist schlechthin die Voraussetzung u n d einzige Richtschnur des Staatsaufbaus 80 . . . . Die nationalsozialistische W e l t anschauung ist die weltanschauliche Grundlage der Existenz u n d damit der Organisation des Deutschen Reiches 61 ." „Die Einheit v o n Partei u n d Staat . . . ist nicht n u r eine organisatorische Form unseres Staatsaufbaus, sondern sie bestimmt das Wesen des neuen Reiches; das Reich ist ein Bewegung s Staat. ... Die politische Gemeinschaft . . . die i h n formt u n d beherrscht, i h n bewegt u n d f ü h r t . . . ist der Träger der weltanschaulichen Grundsätze, die das Gesamtleben der staatlich geeinten Gemeinschaft bestimmen 6 2 . . . . Die geschichtliche Leistung der nationalsozialistischen Bewegung besteht darin, . . . daß sie nach ihrem Siege aufbauend das Reich auf der politischen Einheit, der gemeinsamen Weltanschauung u n d der geschlossenen Führungsordnung des Volkes zu begründen vermochte 6 3 ." 58 Vgl. E. R. Huber, Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 168 f. 59 Ebd., S. 185 ff. Vgl. dort ferner S. 167 f., 169 f., 180, 184. Z u r Frage des Ermessensmißbrauchs s. bereits die der aufgeführten letzten These ähnliche Bemerkung von Maunz: „Ermessensmißbrauch ist jetzt nichts anderes als klares Handeln gegen nationalsozialistische Rechtsgrundsätze": Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 20. 60 Stuckart, Die staatsrechtlichen Grundlagen des Reiches: Zeitschrift für P o l i t i k X X V I . Bd. (1936), S. 2. 61 Ebd., S.4. 62 E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 289 (Hervorhebung i m Original). Die Grundsätze der Bewegung bestimmen insbes. auch das staatliche Handeln u n d die staatliche Ordnung: vgl. ebd., S. 293. 63 Ebd., S. 291.

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

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Wenn auch auf der einen Seite noch betont wurde, daß eine autoritäre Regierung zwar eine metaphysische Rechtfertigung brauche und „der Staat i n seiner heutigen Gestalt" daher unbedingt „einer i h m zugeordneten . . . die Religion mitumfassenden . . . Weltanschauung" bedürfe, sich jedoch einstweilen nicht programmatisch umschreiben lasse, „welche besondere Weltanschauung dem heutigen Staat als i h m gemäß zugeordnet" sei 64 , so wußte man andererseits hier und dort doch schon dieser Weltanschauung über die schlicht aufzählende Erwähnung ihrer inhaltsarmen Leitvorstellungen hinaus eine bestimmte, spezifisch ideologische Tendenz zu unterlegen. Dabei ist allerdings i m Einzelfall sehr sorgfältig zu analysieren, inwieweit tatsächlich konkrete politische Ziele offen angesprochen oder aber gerade hinter einer „Wortfassade" hohler (vorwiegend völkischer) Deklamatorik verschleiert wurden. Solch eine konsequent auf die extrem inhumane Rassenauslesepolitik des Nationalsozialismus zulaufende unterschwellige Tendenz läßt sich etwa bei Carl Schmitt feststellen, der den von i h m für die Umgestaltung des gesamten deutschen Rechts beschworenen „Geist des Nationalsozialismus" 65 , an den jeder das Recht anwendende Jurist gebunden sein sollte, i n der „auf Artgleichheit gegründete(n) Ordnung (des) Volkes" substantiell verkörpert sah 66 . Schon 1933 hatte Schmitt nach „Volksgebundenheit und Artgleichheit jedes m i t der Darlegung, Auslegung und Anwendung deutschen Rechts betrauten Menschen" gerufen: „ . . . der Gedanke der Artgleichheit . . . gilt für das Berufsbeamtentum, w i e f ü r die an der Rechtschöpfung u n d -gestaltung wesentlich beteiligte A n w a l t schaft, w i e f ü r alle Fälle, i n denen Volksgenossen i n der Verwaltung, Rechtspflege u n d Rechtslehre tätig werden 6 7 ."

Anderwärts wieder liest es sich dann etwa so wie i n Hans Franks (halboffiziellem) „Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung", dem juristischen Standardwerk des Dritten Reiches, das „den Ernst beweisen" sollte, „ m i t dem der Nationalsozialismus seiner geschichtlich gigantischen Aufgabe gerecht werden w i l l , dem gesamten deutschen Rechtsleben neuen Inhalt und ausgeglichene schöpferische Gestalt zu geben" 68 . „Das nationalsozialistische Rechtsideal entspricht dem Ideal des Nationalsozialismus an sich. . . . die Weltanschauung des Nationalsozialismus (erstrebt) durch Zusammenballung aller wesentlichen Kräfte des Volkes u n d unter Ausschaltung aller schädlichen u n d zersetzenden Strömungen u n d Parteiungen die machtvolle Einheit eines w a h r h a f t deutschen Staats-, K u l t u r - u n d Soziallebens . . . I n engster Verbindung m i t den politischen Ideengestaltungen des 64 65 66 67 68

So Forsthoff, Der totale Staat, S. 31 f. S. o. vor Fußn. 42. Vgl. D J Z 1934, Sp. 691 (698). Staat, Bewegung, Volk, S. 44 f. Vorwort, S.V.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

Nationalsozialismus mußte sich auch das deutsche Rechtsleben, ausgehend v o m Recht der Volksgemeinschaft u n d des Volksganzen, die seelisch-geistige Verbundenheit m i t dem Volksganzen erkämpfen u n d so dem deutschen Recht neue Ideen u n d neuen I n h a l t geben . . . Unsere Aufgabe ist es, diese Ideen i n Beziehung zur Wirklichkeit des deutschen Volkslebens zu bringen . . . Die nationalsozialistische Rechtspolitik fordert von uns : Die Sicherung des deutschen Volkes i n einem nationalsozialistischen Rechtsstaat, aufgebaut auf dem Führergedanken, durch die V e r w i r k l i c h u n g des nationalsozialistischen Programms® 9 ."

Überblickt man all diese Bestrebungen, nicht nur über die Gesetzgebung, sondern gerade auch auf dem Wege richterlicher oder behördlicher Rechtsanwendung den „Geist des Nationalsozialismus" i n das geltende Recht einzuschleusen, so w i r d man der bewußt überspitzten These Rüthers' zustimmen müssen, daß es dabei letztlich nicht mehr u m Auslegung, sondern u m Einlegung gegangen sei 70 . Darüber hinaus aber läßt sich noch ein weiteres Ergebnis festhalten: Gewiß stand hinter den wenigen hier angeführten und den meisten weiteren neuen Gesetzesnormen auch ein unverkennbares Interesse des Gesetzgebers an konkreten machtpolitisch erwünschten Entscheidungen, und ebenso w i r d man auch aus den hier m i t Bedacht weitgehend wörtlich wiedergegebenen Gesetzgebungsvorschlägen und Auslegungsanweisungen wie aus den vielen übrigen, i m einzelnen gar nicht zu nennenden gleichgerichteten Bemühungen von Seiten der Rechtslehre die Bereitschaft entnehmen können, jenen auch für sie weithin durchsichtigen und vielfach tatsächlich nur auf die Verwirklichung situationsbedingter machtpolitischer Zielbestimmungen gerichteten Anspruch der Staats- und Parteiführung nach Kräften zu unterstützen. Zugleich aber machte sich hier ganz allgemein — also über den die stärksten Antriebe gebenden Kreis nationalsozialistischer Rechtslehrer hinaus — als beachtlicher (rechts-)politischer Faktor die eingangs schon angedeutete spezifisch ideologisch-systematische Strömung geltend. Denn nach der Erringung der Macht i m Staate durch den Nationalsozialismus mußte angesichts der unabsehbaren Fülle künftiger Entscheidungen das Interesse auch der NS-Führung an der bestimmten Lösung eines Einzelfalls oder einer übersehbaren Reihe von Fällen zunehmend hinter dem an einer ernstlichen, planmäßig fortschreitenden einheitlichen Ausrichtung des gesamten öffentlichen und insbesondere des Rechtslebens i m Sinne eben der i n jedem Zusammenhang betonten weltanschaulichen Zielsetzungen zurücktreten. (Eine solche allmähliche Gewichtsverlagerung Schloß freilich eine langfristig u m so effektivere Durchsetzung der vom Nationalsozialismus doch zumeist unter tagespolitischen Aspekten betriebenen Machtpolitik keineswegs aus.) 69 70

Ebd., Einleitung, S. X I I I . Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 176.

§ 3 Orts- und Funktionsbestimmung

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Erste Voraussetzung für eine kontinuierliche ideologische Weiterentwicklung nationalsozialistischer Politik wie für ihr Eindringen etwa auch i n alle Gebiete des Rechtslebens war allerdings, daß ζ. B. Gesetzgeber, Rechtsanwender und Rechtslehrer m i t den verkündeten ideologischen Zielen tatsächlich feste Vorstellungen verbanden und daß außerdem über diese zwischen ihnen ein gewisses Einverständnis bestand. Es war also nicht zuletzt aus Gründen gegenseitiger Verständigung unerläßlich, den Inhalt der nationalsozialistischen Weltanschauung wenigstens annähernd zu fixieren. Doch der hier vorgezeichnete Prozeß der ideologischen Verfestigung blieb unvollendet. Zwar sollte die nationalsozialistische Weltanschauung bis hinein i n die feinsten Verästelungen zumindest des öffentlichen Lebens als Maßstab sozialen Handelns und sittlich-rechtlichen Urteilens gelten, eine allgemein verbindliche Festlegung ihres Inhalts aber, die ideologischen Abweichungen hätte vorbeugen können, gelang nicht. Die nationalsozialistische Bewegung kam über ihr Programm und die grundlegenden Schriften, jeweils noch i n der sogen. „Kampfzeit" (bis 1933) entstanden und nicht allein für diese von gewiß nicht zu unterschätzender, indiziell bisweilen sogar großer, wenn auch i m einzelnen sehr unterschiedlicher Bedeutung 71 , nicht hinaus. Der Grund für diesen eigentümlichen Mangel dürfte nun allerdings doch wieder vor allem darin gelegen haben, daß die ideologischen Vorstellungen des Nationalsozialismus abgesehen von den zentralen Leitgedanken, denen i m folgenden noch näher nachzugehen sein wird, selbst i m engen Führungskader der Partei z.T. nur recht vage und kaum artikuliert vorhanden waren, sich zudem mehrfach änderten oder aber m i t verschiedener Intensität vertreten wurden 7 2 . Soweit sie nicht jenem schmalen Kernbereich zugehörten, kamen sie nach wie vor zumeist nur von Fall zu Fall, nämlich i n der konkret zu entscheidenden Situation nach dem „Gebot der Stunde" zum Ausdruck. Entsprechende Äußerungen waren daher — allen Systematisierungsversuchen ideologischer Eiferer außerhalb der Parteiführung, also gerade auch solchen aus den Reihen der Wissenschaft, zum Trotz — nur unvollkommen aufeinander abgestimmt, inhaltlich von sehr unterschiedlichem Niveau und auch der Form und dem Umfang nach miteinander kaum zu vergleichen. Daß sie ursprünglich gerade nicht der sorgfältigen Erarbeitung eines kleinen Kreises von Theoretikern, sondern den sehr pragmatischen Überlegungen von Politikern entstammten, die nach Macht strebten oder diese behaupten wollten, ist nicht zu verkennen. So erklärt es sich, daß auch 71 Z u m Parteiprogramm der „25 Punkte" v o n 1920, Hitlers „ M e i n K a m p f " (1924/25) u n d Rosenbergs „ M y t h u s " (1930) s. des näheren u. § 6. 72 Vgl. wiederum Herzog, A r t . „Nationalsozialismus", I A 1, i n : Evgl. Staatslexikon.

3 Anderbrügge

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1. T e i l : Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

führende Parteigenossen zu wichtigen Problemen bisweilen oder dauernd höchst unterschiedliche Meinungen vertreten haben 73 und daß sich um die verhältnismäßig wenigen zentralen Thesen zahlreiche andere Vorstellungen gruppierten, „von denen sich heute nicht einmal mehr genau feststellen lassen dürfte, wie weit sie den wechselnden Ideen der Führerschicht wirklich entsprachen und wie weit sie nur zur Verbrämung und Vertuschung der wahren Ziele bzw. zur Anlockung Skeptischer mißbraucht wurden" 7 4 . I n jenen zentralen Schwerpunkten aber, die i n den rund 25 Jahren der nationalsozialistischen Bewegung mehr oder minder gleichförmig vertreten und i m K e r n ständig beibehalten wurden, bestand immerhin unter den maßgeblichen Führern der Partei wie unter ihren Interpreten i n (Rechts-)Wissenschaft und (Rechtsanwendungs-)Praxis ganz überwiegend Gemeinsamkeit. A l l e i n die Fixierung dieser zentralen Leitgedanken als das vereinende Band zwischen sonst recht unterschiedlichen Gruppen und Personen 75 aufgrund deren eigener Äußerungen ermöglicht eine Bestimmung des normativ-materialen Grundgehalts der nationalsozialistischen Weltanschauung sowie der von ihr geprägten Rechtsanschauung über die abstrakt-formale Beschreibung ihres Standorts und ihrer Funktion i m Spannungsfeld zwischen pragmatischer Machtpolitik und Ideologie hinaus. § 4 Die gegen andere Ideen gerichteten Affekte nationalsozialistischen Denkens Grundlegende inhaltliche Ubereinstimmungen innerhalb eines nationalsozialistisch zu nennenden Denkens und zwischen seinen zeitgenössischen Interpreten gab es zunächst i n negativer Hinsicht, i n kennzeichnenden „Anti-Haltungen", Affekten 1 von allerdings besonders unterschiedlicher Intensität. Hier schälen sich, bezogen allein auf den abgelehnten Ideengehalt, also nicht etwa auf fest umrissene Personenkreise, die m i t nur bestimmten einzelnen Positionen zu identifizieren wären, schwerpunktmäßig fünf Hauptgruppen heraus, die sich vorerst noch schlagwortartig etwa wie folgt zusammenfassen lassen: A n t i liberalismus, Antirationalismus, Antisemitismus, Antimarxismus und „Antiuniversalismus". Die m i t solchen Schlagworten gewiß nur oberflächlich zu bezeichnenden Vorstellungsinhalte finden sich wohl bei jedem der führenden Nationalsozialisten, haben i m Verhältnis zueinander jedoch durchaus nicht das gleiche Gewicht. Ferner ist zu berücksichtigen, daß jede der zuvor aufgeführten Hauptgruppen i n sich eine 73 74 75

Vgl. Kotowski, Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 216. Herzog, I Al. Vgl. Kotowski, S. 216.

§ 4 Die „ A n t i - H a l t u n g e n " nationalsozialistischen Denkens

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Fülle von allgemein häufig gar nicht bewußt gewordenen Teilaspekten sehr lose umschließt. Diese Teilaspekte einer bestimmten unter ihnen zuzuteilen, fällt i m Einzelfall nicht immer ganz leicht. So werden auch durch den i m folgenden gleichwohl unternommenen Versuch einer Zuordnung Überschneidungen keineswegs ausgeschlossen2: 1. „Antiliberalismus" richtet sich demnach zugleich gegen: Individualismus, liberal-individualistischen Subjektivismus, allgemeine Menschen-, Freiheits-, Grund- und subjektive Rechte, Demokratie, „reine Rechtsstaatlichkeit", Gewaltenteilung, Parlamentarismus, Ideen der französischen Revolution von 1789, „westliche Geisteswelt", Humanismus, Pazifismus, liberal-kapitalistischen Materialismus, Staat und Verfassung der Weimarer Republik, Mehrparteiensystem, weltanschaulichen Pluralismus, Föderalismus; 2. „Antirationalismus" gegen: strenge Wissenschaftlichkeit, abstraktes Denken, Aufklärung, „Intellektualismus", Empirismus, technisch-funktionalistischen Pragmatismus als „Materialismus" und „Utilitarismus", Objektivismus, Positivismus, Normativismus, Neutralismus, Historismus, 1 Ernst Nolte spricht — diese Tendenzen zusammenfassend — von der spezifischen ,Allfeindschaft* des Nationalsozialismus: Die faschistischen Bewegungen, S. 111. 2 I m Rahmen einer solchen Voruntersuchung k a n n davon abgesehen w e r den, f ü r die H e r k u n f t u n d Entwicklung der einzelnen hier lediglich aufgezählten Teilaspekte Quellennachweise zu erbringen, zumal diese angesichts der unübersehbaren Fülle an entsprechenden Äußerungen v o n Seiten der Führung, der Partei u n d der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen jedenfalls unvollständig u n d daher letztlich zufällig bleiben müßten.

*

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

Relativismus, Skeptizismus, „Nihilismus". 3. „Antisemitismus" verbindet sich m i t der Ablehnung anderer „rassisch minderwertiger" Volksgruppen. 4. „Antimarxismus" ist gerichtet gegen: materialistische Weltanschauungen und Geschichtsauffassungen, Kommunismus, Bolschewismus, utopistischen Frühsozialismus, demokratischen Sozialismus. 5. „Antiuniversalismus" schließlich bezeichnet die zunächst noch vorsichtig-zurückhaltende Wendung des Nationalsozialismus gegen: Christentum, klassisch-christlichen „Abendlandsmythos", idealistisches Naturrechtsdenken, „katholischen Universalismus", Klerikalismus, ständestaatliche Vorstellungen, „reaktionären" Konservativismus, landesfürstlichen Absolutismus. I m Grunde waren, wenn auch i n verschiedener Dosierung, fast alle höheren Führer des Dritten Reiches antichristlich und antikonservativ 5 . Es ist jedoch bezeichnend, daß sie die i n dieser letzten Gruppe indizierten geistigen Strömungen dennoch nicht global, sondern nur insoweit ablehnten, als diese auch bei größter Anstrengung nicht m i t ihren eigenen Vorstellungen zu vereinbaren waren 4 . So wurde, primär w o h l aus taktischen Gründen, u m die hinter solchem Gedankengut stehenden Gruppen nicht unnötig zu verschrecken, i m einzelnen freilich auch wegen kaum zu leugnender Affinitäten etwa m i t ständestaatlichen oder gewissen fortschrittsfeindlichen konservativen Vorstellungen, ein größerer Teil dieses christlich-konservativen Denkens bedenkenlos i n die nationalsozialistische Weltanschauung vereinnahmt 5 . 3

Vgl. etwa Kotowski, Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 216. Heute steht beispielsweise fest, daß Hitler — freilich v o r allem i n der Zeit vor der Machtergreifung — sich allen Bestrebungen, den Nationalsozialismus auf einen erklärt antikirchlichen K u r s zu verpflichten, energisch w i d e r setzte. S. dazu u. a. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 136, u n d Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 33. H i n t e r dieser H a l t u n g standen allerdings ausschließlich taktische Gesichtspunkte: vgl. Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 217 f., sowie — zur Diskrepanz von Hitlers Äußerungen über Kirche u n d Christentum — z . B . ebd., S.37f£., 48, 71, 80 f., 214 ff., einerseits u n d Hitler, M e i n Kampf, S. 481, 512 f., andererseits. 4

§ 4 Die „ A n t i - H a l t u n g e n " nationalsozialistischen Denkens

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Insgesamt scheint die Fülle dieser negativen Vorstellungsinhalte darauf hinzudeuten, als habe sich die nationalsozialistische Weltanschauung mit allen nur denkbaren philosophischen und politischen Systemen auseinandergesetzt, u m sich schließlich nach einem ideologischen Klärungsprozeß gegen beinahe alles und jedes zu wenden. I n Wirklichkeit aber handelt es sich hier weitgehend u m jene zahlreichen Randvorstellungen, die zwar von diesen oder jenen Propagandisten bei gegebenem Anlaß affektuell i n das nationalsozialistische Ideengemisch mit eingebracht worden waren, sich aber i m übrigen nur beiläufig und ganz unsystematisch u m die zentralen ideologischen Positionen gruppierten. Wenn sich auch diese Schwerpunkte schon auf der zeitlich und gedanklich früheren Stufe gemeinsamer negativer Grundhaltungen herausgebildet haben, so finden sie sich doch am ehesten dort, wo sich die negativen Affekte m i t positiv fixierten Zielen berühren. Das trifft für den Kernbereich der ersten vier der genannten Hauptgruppen größtenteils zu — die ohnehin von ihnen aus den erwähnten Gründen deutlich unterschiedene fünfte Gruppe t r i t t hier bereits zurück — und gilt wiederum i n besonderem Maße für die ersten beiden Gruppen: Antiliberales und antirationales Denken bedurften mehr als die anderen Richtungen einer positiven Entsprechung und sind dadurch wenigstens i n etwa anschaulich und einer annähernd ideologischen Auseinandersetzung zugänglich zu machen. Es w i r d sich zeigen, daß bei ihnen auch der besondere Belang der rechtstheoretischen Gedankengänge i m Nationalsozialismus liegt, denn sofern sich diese ausdrücklich auf die nationalsozialistische Weltanschauung berufen, suchen sie vor allem i n deren Kontroverse gegen Liberalismus und Rationalismus® ihren eigenen spezifischen Ansatzpunkt, ergänzen sich jedoch dann ebenfalls u m eine entsprechende positive Gegenwendung. Bezeichnend für die unumgängliche Überwindung der zunächst vorwiegend negativen Inhalte nationalsozialistischen Denkens, die i n der sogen. „Kampfzeit der Bewegung" noch als politische Prinzipien genügen konnten und auch später immer wieder zur Rechtfertigung des erfolgten politisch-rechtlichen „Umbruchs" dienen mußten, ist etwa E.R. Hubers Forderung, es sei nicht genug, ewig die Fehler 5 Vgl. als n u r ein Beispiel die v o n Dietze, Naturrecht i n der Gegenwart (1936), propagierte Naturrechtsrenaissance u n d die i n diesem Zusammenhang herausgestellten Parallelen zwischen katholischer Kirche u n d D r i t t e m Reich. S. dazu u. § 16, T. vor Fußn. 44 bis Fußn. 47, aber auch v o r Fußn. 50 u. 51. β Daß daneben allerdings auch die antisemitisch-rassistische Strömung i m nationalsozialistischen Rechtsdenken ihre besondere Ausgestaltung — etwa i n der Entwicklung des Gedankens der „Artgleichheit" — erfahren hat (s. dazu u. insbes. §§ 9 I I u. 15), ist nicht zu verkennen. Doch handelt es sich hierbei w e i t h i n u m einen n u r ζ. T. verselbständigten A n n e x bzw. eine F o r t führung der antirational-völkischen Richtung, s. z . B . u. §5, zu 3., u n d §8, passim, sowie etwa § 14, T. v o r u. i n Fußn. 10.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

des alten absolutistischen oder liberalen Staates zu beschwören, sondern es komme darauf an, aus dem lebendigen Volk die neue politische Ordnung — eben den „neuen ,Staat'" — zu entfalten 7 . § 5 Der positiv formulierte Grundgehalt der nationalsozialistischen Weltanschauung Die positiv geäußerten Vorstellungsinhalte, die sich mit der nationalsozialistischen Weltanschauung verbinden, decken sich zwar nicht immer genau m i t den zuvor aufgeführten „Anti-Haltungen", dennoch aber lassen sich diese positiven Gemeinsamkeiten i n ihrem Ideengehalt entsprechend ihren negativen Gegenbildern gruppieren. Dann t r i t t neben das antiliberale Denken die Betonung des autoritären Führerprinzips, der Antirationalismus findet seine Entsprechung i n einem irrationalen „völkischen Denken", der pure Antisemitismus w i r d ergänzt durch eine positiv gewendete Rassentheorie, einen rassisch begründeten Nationalismus, und dem Marxismus schließlich w i r d ein „nationaler Sozialismus" entgegengesetzt. Nur der sogen. „Antiuniversalismus" hat aus den oben schon genannten Gründen i m Nationalsozialismus kein entsprechendes positives Gegenstück gefunden. Doch ist auch insoweit festzuhalten, daß selbst derart zentrale Vorstellungen i m Verhältnis zueinander von sehr unterschiedlichem Gewicht sind und daß die Zuordnung der i n ihnen zusammengefaßten Einzelaspekte keine abschließende sein kann, da die gewählte Einteilung Überschneidungen nicht ausschließt. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich die angeführten positiv formulierten Grundsätze nationalsozialistischen Denkens aufs knappste zusammengefaßt etwa wie folgt kennzeichnen: 1. Dem Führerprinzip liegt die Vorstellung eines autokratischen und keiner rechtlichen oder ethischen Bindung unterworfenen Führers zugrunde 1 , der als Verkörperung des objektiven Willens des Volkes gedacht w i r d 2 . Die konsequente Verwirklichung dieses autoritären Prinzips führt zu einem bedingungslosen Führerkult und einer strikt hierarchischen Führerverfassung 8 . 2. I m Mittelpunkt des völkischen Denkens steht die agitatorische Ausgestaltung der „allumfassenden völkischen Idee", die das „Volk als Urgrund des politischen Geschehens" begreift und von der alles 7

E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 165. Vgl. Herzog, A r t . „Nationalsozialismus", I A 2 b , i n : Evgl. Staatslexikon. 2 Vgl. Hans Buchheim, A r t . „Nationalsozialismus", I I 1 a, i n : Staatslexikon, Bd. 5. 3 Vgl. Bracher, A r t . „Nationalsozialismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat u n d Politik), Neuausgabe 1964, S. 203. 1

§ 5 Der positiv formulierte Grundgehalt

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Leben i m Volke erst seinen Sinn erhält 4 . Sie setzt sich fort i m „völkischen Staatsgedanken" 5 . 3. Das der „völkischen Idee" verpflichtete Leitbild einer geschlossenen „Volksgemeinschaft" verbindet sich m i t einem großdeutschen aggressiven Nationalismus auf rassischer Grundlage. Daraus entwickelt sich dann — vor allem i m Kriege — eine die Existenz ganzer Völker bedrohende groß-germanische Rassenideologie®, die auf dem Gedanken der Minderwertigkeit der nicht-„arischen" Rassen beruht und von daher den „rassebedingten, weltgeschichtlichen deutschen Führungsanspruch" 7 proklamiert. 4. Der „nationale Sozialismus" 8 , die zeitgemäße Reaktionsbewegung gegen Sozialismus und Kommunismus, schließlich soll die Klassenspaltung i m deutschen Volk überwinden. Er sucht die Kräfte, die diese Bewegungen unter dem Eindruck der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzung i n den Massen zu mobilisieren und militant auf eine grundlegende Umwandlung des politischen wie sozialen Gefüges zu lenken versuchten, i n eine nationale Richtung umzubiegen, sie nationalsozialistischer Machtpolitik dienstbar zu machen und mit ihnen den international gestimmten, weltrevolutionären Sozialismus zu bekämpfen 9 . I m Vergleich zu den vorgenannten anderen drei Leitgedanken des Nationalsozialismus ist diese letztere spezifisch ideologische, anfangs politisch noch recht wirksame Stoßrichtung eines „deutschen Sozialismus" auf die ganzen 25 Jahre der nationalsozialistischen Bewegung 4

So E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 160. S. ζ. B. die Kapitelüberschrift i n Hitlers „ M e i n K a m p f " , S. 492. 6 Vgl. Kotowski, Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 216. 7 Vgl. wiederum Bracher, S. 203. 8 Der Begriff w u r d e ursprünglich i m Sinne einer demokratisch-sozialen Versöhnung der Nation v o n Friedrich Naumann geprägt. S. dazu Bracher, S. 204 f. 9 Bracher, ebd. S. dazu auch entsprechende Äußerungen Hitlers aus den frühen Jahren der Kampfzeit, so beispielsweise i n seiner Rede v o m 12. A p r i l 1922: Klöss, Reden des Führers, S. 39. Später jedoch, als die nationalsozialistische Bewegung den engen sektiererischen Kreis einer unter vielen v ö l k i schen Parteien überschritt u n d zur beherrschenden politischen K r a f t i n Deutschland wurde, hütete sich Hitler sehr wohl, sich auf „sozialistische Abenteuer" einzulassen u n d einen betont antikapitalistischen K u r s zu steuern, u m die benötigte Unterstützung auch v o n Seiten des Großkapitals nicht von vornherein zu verspielen. Vgl. etwa Hitlers beschwichtigende E r k l ä r u n g v o m 13. A p r i l 1928 zu den Forderungen des Punktes 17 des nationalsozialistischen Parteiprogramms v o n 1920 nach Bodenreform, unentgeltlicher Enteignung von Boden f ü r gemeinnützige Zwecke, nach Abschaffung des Bodenzinses u n d Verhinderung jeder Bodenspekulation: Poetzsch-Heffter (Hrsg.), V o m Deutschen Staatsleben, S. 7. Weitere Hinweise i n diesem Sinne finden sich u. a. bei Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 15, 47 ff., u n d Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 136, 140. 5

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

h i n gesehen von sehr geringer Bedeutung geblieben. Seine positiv fixierten Ziele, i n denen die „antikapitalistische Sehnsucht" der frühen Bewegung sehr deutlich zum Ausdruck kommt, wie etwa die kompromißlosen Forderungen des Parteiprogramms von 1920 nach „Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens, Brechung der Zinsknechtschaft" (Punkt 11), Verstaatlichung der Trusts (Punkt 13), „Gewinnbeteiligung an Großbetrieben" (Punkt 14), „Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser" (Punkt 16) und endlich nach Bodenreform etc. (Punkt 17)10, wurden i m Laufe der Jahre zielbewußt mehr und mehr i n den Hintergrund gedrängt 11 , bis man sich, insbesondere nach Erringung der totalen Macht, wieder m i t der schlichten Negation von Marxismus, Sozialismus und Kommunismus begnügen konnte. Anders hingegen verhielt es sich m i t den i n den ersten drei Ideengruppen zusammengefaßten — untereinander wiederum durchaus nicht gleichgewichtigen — Vorstellungsinhalten. Nicht nur die Propagandisten der Partei, auch Vertreter aller für das soziale und politische Leben bedeutsamen Wissenschaften — darunter gerade auch der Rechtswissenschaft — bemühten sich m i t Eifer, wenn auch aus gewiß verschiedenen Gründen, den prinzipiell immer noch vorwiegend negativen Stellungnahmen möglichst umfassende positiv formulierte Programmziele an die Seite zu stellen und sie m i t inhaltlich wenigstens annähernd bestimmten, doch zumeist nur irrational begründbaren, appellativen Aussagen zu versehen. Solche Bemühungen konzentrierten sich namentlich auf die eigentlich zentralen Leitgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung: Führerprinzip, „völkische Idee" und Rassentheorie. Ihren Ergebnissen ist wegen ihrer entscheidenden Bedeutung gerade auch für das diesen Leitgedanken folgende Rechtsdenken der NS-Zeit i m Verlauf der weiteren Untersuchungen jeweils noch genauer nachzugehen. Eine derart absondernde und aufgliedernde Darstellung der maßgeblichen Inhalte nationalsozialistischen Denkens erscheint zwar dessen besserer Überschaubarkeit und gründlicheren Erfassung wegen angebracht, sie darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich i n seinem Kernbereich letztlich u m einen bewußt weitgehend ungeschieden belassenen, amorphen Komplex handelt: Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die negativen und die positiven Momente sich nicht unbedingt zu decken brauchen. Ebensowenig korrespondieren Führerprinzip und Antiliberalismus sowie völkisches Denken und Antirationalismus i n einem ausschließlichen Sinne miteinander. Hinzu kommt, 10 Vgl. den Wortlaut des Parteiprogramms z.B. bei Poetzsch-Heffter, S. 6 ff., oder bei Walther Hof er, Dokumente, S. 28 ff. 11 S. bereits die Hinweise o. i n Fußn. 9, insbes. Broszat, S. 47 ff.

§ 5 Der positiv formulierte Grundgehalt

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daß die Einzelaspekte häufig ineinander übergehen. Antiliberales und antirationales Denken etwa berühren sich i n der Tat auf vielfältige Weise. Doch auch die ihrer Tendenz nach an sich durchaus zu trennenden Denkkategorien Führerprinzip und völkische Idee werden trotz aller Widersprüchlichkeit bisweilen eng miteinander verknüpft. Es w i r d namentlich bei der Untersuchung der einzelnen Lehren vom „völkischen Recht" noch des näheren zu zeigen sein, wie i n fast allen Fällen diese beiden einander vielfach widerstreitenden und daher gerade i m Hinblick auf die entscheidende Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts nahezu unvereinbaren Kernprinzipien gleichwohl wenigstens vordergründig zu einer Einheit verspannt wurden, die dann allerdings als solche notwendig unerklärt blieb: „ V o l k u n d Führertum, völkische Ganzheit u n d Staatsganzheit, V o l k u n d Recht gehören zusammen, auch w e n n unser Denken u n d seine Darstellung uns zu einem Nebeneinander u n d Nacheinander nötigen 1 2 ."

Hier w i r d i m übrigen zugleich deutlich, daß die zuvor vorgenommene Zuordnung der Inhalte der nationalsozialistischen Grundgedanken und der damit einhergehende Versuch einer sie auch begrifflich differenzierenden Gliederung jedenfalls keine präzise Scheidung staats- und verfassungstheoretischer Aspekte auf der einen und rechtstheoretischer Gesichtspunkte auf der andern Seite ermöglichen. Spezifische, für den Nationalsozialismus kennzeichnende rechts- bzw. staatstheoretische Denkformen finden vielmehr ihre Anhaltspunkte i n allen wesentlichen Teilbereichen der nationalsozialistischen Weltanschauung, i n ihrem Führergedanken und ihrem Antiliberalismus wie i n ihrem völkischen Denken und Antirationalismus und schließlich — obschon i n geringerem Maße — auch noch i n ihrer Rassenlehre. Exkurs: Nationalsozialismus und Faschismus

Der hier unternommene Versuch einer knapp zusammenfassenden kategorialen Inhaltsbestimmung zentraler Leitvorstellungen der nationalsozialistischen Weltanschauung mußte dazu führen, daß einzelne auch ideologisch gewiß nicht bedeutungslose Bezüge des NS-Denkens vor allem i n historischer und ideologievergleichender Hinsicht unerörtert blieben. Das gilt insbesondere für die häufig aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Nationalsozialismus und Faschismus, die auch i m weiteren Fortgang der vorliegenden Untersuchung nicht gesondert behandelt werden kann. Angesichts ihrer besonderen Bedeutung, die über die vorwiegend angesprochenen politischen und strukturellen Aspekte hinaus auch den ideologisch-weltanschaulichen Grundgehalt beider Strömungen betrifft, erscheint es jedoch angemessen, ihr 12

Poetzsch-Heffter,

S. 3.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

wenigstens i n einem kurzen Exkurs nachzugehen, der zugleich diese erste allgemeine Bestimmung von Ort, Funktion und maßgeblichen Inhalten der nationalsozialistischen Weltanschauung abschließen soll. Faschismus und Nationalsozialismus haben gemeinsam die geschichtliche Epoche zwischen den beiden Weltkriegen und namentlich die dreißiger Jahre spürbar mitgeprägt und i n einigen europäischen Ländern entscheidend bestimmt 1 . Die enge geistige Verwandtschaft, die dabei zutage trat, läßt sie zwar als Spielarten ein und desselben ideologischen Phänomens erscheinen, gleichwohl aber verbietet sich eine pauschale Identifizierung, die nicht nach den durchaus feststellbaren Unterschieden zu differenzieren vermag. Die i n diesem Zusammenhang immer wieder auftauchenden Mißverständnisse rühren wohl i n erster Linie daher, daß m i t dem Begriff „Faschismus" ein Zweifaches umschrieben wird. Z u m einen meint er i n einem engeren Sinne die historisch umgrenzte Erscheinungsform des italienischen „fascismo". Darüber hinaus aber dient er — vor allem seinen Gegnern — als politischer Gattungsbegriff zur Kennzeichnung von Herrschaftsbewegungen zumeist extrem nationalistischen Ursprungs und antiliberalen, antidemokratischen und antiparlamentarischen Charakters, die selbst autoritärhierarchisch aufgebaut und zudem expansiv auf die Begründung eines autoritären und totalitären Einparteistaates nationaler Prägung gerichtet sind 2 . I n diesem weiteren Sinne verstanden, umfaßt der Faschismus auch den Nationalsozialismus i n einigen wesentlichen Grundzügen seiner Weltanschauung, vornehmlich i n seinen Anti-Haltungen. Vergleichbar hingegen ist der (deutsche) Nationalsozialismus als konkrete Ausprägung einer allgemein durchaus als faschistisch zu bezeichnenden ideologischen Strömung nur m i t jenem anderen historisch ebenfalls konkret gewordenen Typ, der dem Begriff i m engeren Sinne entspricht, dem italienischen „fascismo". Insgesamt gesehen überwiegen gewiß die Gemeinsamkeiten. Auch die von Mussolini 1919 als „fascio di combattimento" (Kampfbund) gegründete, zunächst noch linksorientierte, doch ab 1920 gegen Sozialismus und Kommunismus geführte und sich fortan sehr schnell zum Sammelbecken der italienischen Rechten entwickelnde Bewegung war anfäng1 Vgl. hierzu etwa auch den aufschlußreichen T i t e l von Ernst Noltes W e r k : Der Faschismus i n seiner Epoche. Die A c t i o n française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1963, 2. Aufl. 1965 (Hervorhebung nicht i m Original). Der Faschismus erscheint Nolte i n der Tat als der „charakteristische Aspekt der Epoche": Die faschistischen Bewegungen, S. 12. Lieber spricht v o m „historisch-epochalen Begriff des Faschismus": Die deutsche Lebensphilosophie u n d ihre Folgen, S. 93. 2 Vgl. Bracher, A r t . „Faschismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat und Politik), Neuausgabe 1964, S. 82, sowie Stichwort „Faschismus", i n : BrockhausEnzyklopädie i n 20 Bänden, 17. Aufl., Bd. 6, Wiesbaden 1968, S. 78.

§ 5 Der positiv formulierte Grundgehalt

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lieh opportunistisch nur an der Macht als solcher interessiert. Die Wendung zu einer stärkeren Ideologisierung entsprang hier wie dort erst der Notwendigkeit, den totalen Staat und seine imperiale (Außen-)Politik universal glaubwürdig erscheinen zu lassen3. Dabei ergaben sich jedoch inhaltlich trotz der intensiven wechselseitigen Beeinflussung — zunächst diente der Faschismus dem Nationalsozialismus i n vielfacher Hinsicht als Vorbild, während dieser später, besonders seit der etwa ab 1936 von Hitler und Mussolini betriebenen engeren Zusammenarbeit und dann vor allem i m Zweiten Weltkrieg, aufgrund seines größeren (macht-)politischen Gewichts auf den weniger straff organisierten Faschismus zurückzuwirken und i h n jetzt seinerseits ideologisch zu durchdringen begann 4 — und trotz des gemeinsamen synkretistischen Grundzugs deutlich wahrnehmbare Akzentverschiebungen, mitunter sogar völlig verschiedene Tendenzen, Prinzipien und Begriffe. So wurde der Faschismus i n der erst 1932 unter Mussolinis maßgeblicher M i t w i r k u n g verfaßten „dottrina del fascismo" (von Gentile) definiert als „spiritualistische, ethische, religiöse Lebensanschauung", hegelisch inkarniert i n der Geschichtlichkeit eines Staates, der als inspirierendes Prinzip die Individuen, die Klassen, die Nation und das Recht bestimmt 5 . Und Mussolini selbst setzte der trinitarischen Formel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" der Revolution von 1789 den Dreiklang „Ordnung, Autorität, Gerechtigkeit" entgegen 8 . Institutionelle Grundwerte der alten statischen Gesellschaftsordnung wie Familie, Volk und Religion wurden bewußt zu neuem Leben entfacht. Doch daneben finden sich unvermittelt die der Legitimierung wie Stabilisierung der imperialistischen Machtpolitik des Faschismus dienenden Züge eines i m Sinne der Lebensphilosophie zugespitzten unverhüllten Dezisionismus und eines autoritären, ja konsequent totalitären Staatsdenkens: Von Nietzsche beeinflußt, sah Mussolini i m „Willen zur Macht" das bestimmende Moment der menschlichen Entwicklung, und unter dem Eindruck der Lehren Paretos von der Zirkulation der Eliten, die nachhaltig auf die politische Theorie des Faschismus einwirkten, glaubte er an die Notwendigkeit hierarchisch-autoritärer Führung der Massen durch große Männer — i n diesem Sinne verstand er auch seine eigene Berufung zum „Duoe" — und durch eine politische Elite, die er i n der faschistischen Partei zu entwickeln gedachte7. Von Sorel übernahm er die Idee der „direkten A k t i o n " als des schöpferischen Gestaltungs3 4 5 6 7

Mirgeler, A r t . „Faschismus", 4 (Sp. 227), i n : Staatslexikon, Bd. 3. Ebd., 6 (Sp. 229), sowie Bracher, S. 84, u n d Brockhaus-Enzyklopädie, Z i t i e r t nach Mirgeler, 4 (Sp. 228). S. ebd. S. hierzu aber den Hinweis u. § 7 I, v o r Fußn. 8.

S. 80.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

prinzips des politischen Daseins8. Der einem i n Italien schon vor dem Faschismus selbständig entwickelten übersteigerten Nationalismus entspringende, an altrömische Vorstellungen und das Vorbild eines den gesamten Mittelmeerraum umfassenden römischen Imperiums anknüpfende, von pathetischem Sendungsbewußtsein und einem militanten Herrschaftsanspruch getragene spezifisch italo-faschistische Imperialismus 9 fand innenpolitisch seine Entsprechung i n einem von der Hegelsehen Staatsmetaphysik beeinflußten, italienischen Überlieferungen an sich fremden Etatismus, dem der Staat als solcher bereits als maßgeblicher sittlicher Wert galt. Darüber hinaus entwickelte der Faschismus seine eigene Idee des „stato totalitario", die die bedingungslose Unterordnung des Individuums unter die hierarchisch aufgebaute, alle Machtmittel total i n sich vereinigende, absolut gesetzte Staatsgewalt forderte, dem einzelnen einen Wert nur i m Dienste der unilateral ausgerichteten Gesamtheit des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zuerkannte und damit zur Einschränkung oder gar Aufhebung seiner wesentlichen Grundrechte, insbesondere der politischen Freiheitsrechte führte 1 0 . Doch obgleich hier wie i m Nationalsozialismus der Weg geebnet schien zu einer schrankenlos inhumanen Politik, schreckte das faschistische Herrschaftssystem — i m Gegensatz zu den Kampfbünden, die in der Zeit vor dem „Marsch auf Rom" (am 27. Okt. 1922) brutalen Terror ausgeübt hatten 1 1 — i n der tatsächlichen Durchführung seiner Ziele zumeist (aber keineswegs ausnahmslos 12 ) davor zurück, die Allgewalt des totalitären Staates gegen die traditionellen gesellschaftlichen Kräfte wie Königtum, Aristokratie, Armee und katholische Kirche, auf deren Unterstützung es angewiesen war und die sich daher m i t Erfolg eine gewisse Selbständigkeit zu bewahren vermochten, und somit auch gegenüber dem durch diese Kräfte mediatisierten (bürgerlichen) Individuum voll zur Geltung zu bringen 18 . I n seiner Wirtschaftspolitik hielt der Faschismus zunächst immerhin an getrennten Organisationen (Syndikaten) für Arbeitgeber und Arbeitnehmer fest und zerschlug auch die Gewerkschaften nicht, unterwarf sie allerdings mehr und mehr seiner Theorie einer korporativen Wirtschaftsordnung m i t kollektiver Arbeits8 Z u r Beeinflussung Mussolinis durch Nietzsche, Pareto u n d Sorel vgl. BrodcTiaus-Enzyklopädie, S. 79. 9 S. ebd., sowie Bracher, S. 84. 10 Vgl. wiederum Brockhaus-Enzyklopädie u n d Bracher, jeweils w i e zuvor zu Fußn. 9, u n d die berüchtigte M a x i m e Mussolinis: „Alles i m Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat" (zitiert nach E. Nolte, Die faschistischen Bewegungen, S. 84). 11 S. dazu wiederum Nolte, S. 53 f., 61 ff. 12 Ebd., S. 78 f., 80 f., 84. 13 Vgl. Bracher, S. 85; Brockhaus-Enzyklopädie, S. 80, sowie Mirgeler, 4 (Sp. 228).

§ 5 Der positiv formulierte Grundgehalt

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Verfassung, die den Klassenkampf überwinden sollte durch ein klassenübergreifendes staatliches System, nämlich das schrittweise eingeführte, nach und nach an die Stelle des parlamentarischen getretene und dieses schließlich beseitigende Korporativsystem, beraubte sie damit letztlich doch ihrer Eigenständigkeit und Schloß sie von echter M i t w i r k u n g an der Gestaltung des Arbeitslebens aus 14 . Der Rassengedanke endlich war unter allen i m italienischen Faschismus zusammengeströmten Ideen am wenigsten ausgeprägt und spielte allenfalls i n seiner m i t der nach 1936 intensivierten Zusammenarbeit zwischen Mussolini und Hitler vom Nationalsozialismus bestimmten späten Phase eine bedeutsamere Rolle, ohne daß es jedoch zu organisierten Massenverfolgungs- und Vernichtungsaktionen nach nationalsozialistischem Muster gekommen wäre 1 5 . Zudem konnte sich — anders als i m deutschen Dritten Reich, wo der Dualismus von Staat und Partei i n einen Antagonismus umschlug, der zur totalen Auslieferung alles Normativ-Staatlichen an die übermächtige „Bewegung" führte 1 6 — die überkommene italienische Staatsorganisation neben der faschistischen Partei weitgehend behaupten 17 . Die „Faschisierung" des Beamtentums gelang nur äußerlich 18 . Es gab zwar die der totalitären Herrschaft eigenen Mechanismen politischer Kontrolle des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, doch sie griffen noch nicht lückenlos ineinander und funktionierten nicht m i t letzter Präzision, so daß verhältnismäßig viel Raum blieb für oppositionelle Strömungen und Organisationen. Die i m Faschismus tendenziell angelegte und i m Ansatz auch verwirklichte totale Gleichschaltung zum Einparteistaat ist i m faschistischen Herrschaftssystem Italiens somit nicht zum Abschluß gekommen. Dagegen wurde diese Entwicklung i m nationalsozialistischen Deutschland konsequent zu Ende geführt. So spiegeln sich i n den jeweiligen politischen Strukturen des faschistischen und des nationalsozialistischen Regimes auch die unterschiedlichen ideologisch-weltanschaulichen Leitvorstellungen: Das autoritäre Prinzip, die Idee von einem durch besonderes Charisma ausgezeichneten politischen Führer durchdrang zwar beide Strömungen gleichermaßen tief, beide übertrugen diesen Führergedanken auf eine leibhaftige Symbolfigur, deren eine — Hitler — i n der konkreten Ausgestaltung 14

Vgl. dies., jeweils a. a. O.: S. 84 f. bzw. S. 79 f. bzw. 5 (Sp. 228). Wie zuvor zu Fußn. 13: S. 84 f. bzw. S. 79 bzw. 6 (Sp. 229). 16 S. dazu u. §13, Abs. zw. Fußn. 20 u. 26 m . w . N. (insbes. i n Fußn. 21), sowie ebd., Fußn. 3. 17 Vgl. Bracher, S. 85, sowie Mirgeler, 6 (Sp. 229). Ä h n l i c h bereits E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 235. Α . M. allerdings E. Nolte, S. 261, auch 125. 18 S. wiederum Bracher, S. 85. Vgl. i m Gegensatz dazu bezüglich der V e r hältnisse i m NS-Herrschaftssystem: Hans Mommsen, Beamtentum i m D r i t t e n Reich, insbes. S. 29 ff. sowie die nachfolgenden Einzeldarstellungen (dort zu 3., 4. u n d 5.). 15

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

der ihr eingeräumten Führergewalt (als Machtfülle) gleichwohl die andere — Mussolini — noch sehr beträchtlich überragte 19 . Doch gegenüber den mystifizierten völkischen und rassentheoretischen Vorstellungen, die i m Nationalsozialismus neben dem absoluten Führerprinzip eine zentrale Rolle einnahmen, übte der italienische Faschismus weit größere Zurückhaltung und entwickelte mit seinem zur Uberwindung der Klassengegensätze bestimmten Korporativsystem und selbst mit dem an altrömische Traditionen anknüpfenden Imperialismus vergleichsweise rationalere, wenn auch nicht liberalere, zwar weniger inhumane, aber deshalb noch nicht humane Ideen. § 6 Die hauptsächlichen Quellen Die dem Nationalsozialismus eigentümliche mangelnde ideologische Geschlossenheit, die Bodenlosigkeit seiner Ideologie, sofern man überhaupt von einer solchen sprechen w i l l 1 , findet sehr deutlichen Ausdruck darin, daß er sich i m Gegensatz zu den meisten anderen weltanschaulich motivierten geschichtsmächtigen Strömungen der Neuzeit nicht auf ein für all seine Gefolgsleute wirklich verbindliches, auf Dauer angelegtes, knapp umrissenes und doch inhaltlich umfassendes „Manifest" zurückführen läßt und dieses auch nicht i n einer nachträglich unter Aufbietung aller vorhandenen ideologisch-systematischen Kräfte entworfenen richtungweisenden Bestimmung der inzwischen bezogenen und künftig zu behauptenden Position — gewissermaßen als Resultante eines konsequenten politischen Handelns — hervorzubringen vermochte. Immerhin standen i h m als freilich unvollkommener Ersatz aus der „Kampfzeit der Bewegung" ein Parteiprogramm von allerdings geringer und zudem für den Kreis der später führenden Nationalsozialisten nur beschränkt repräsentativer ideologischer Substanz und daher auch nur minderem politischen Wert sowie die als Programm- oder Bekenntnisschriften zu wertenden, i n ihrer grundsätzlichen Bedeutung und ihrem Einfluß auf das tatsächliche politische Geschehen jedoch sehr verschiedengewichtigen Werke Hitlers und Rosenbergs und vereinzelte, aber durchaus nicht widerspruchsfreie Äußerungen programmatischen Charakters aus den Reihen der Parteiführung 2 zur Verfügung. „Die Bildung des nationalsozialistischen Ideengutes als weltanschauliche Einheit", so heißt es daher emphatisch i n Poetzsch-Heffters Jahrbuch „Vom Deutschen Staatsleben" 3 über das „Jahr des Sieges" 1933, 19 1 2 3

S. dazu ζ. B. E. Nolte , S. 117, 265, sowie u. § 71, vor Fußn. 8. S. dazu o. § 3, T. zu u. ab Fußn. 14. S. dazu ebenfalls o. § 3, Schlußabsätze. Sonderausgabe aus JböR Bd. 22 (1935), S. 1 - 272.

§ 6 Die hauptsächlichen Quellen

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„ist i n einzigartiger Weise das persönliche Werk Adolf Hitlers" 4. Folgerichtig w i r d Hitlers „Mein Kampf" zur ersten „großen Urkunde des nationalsozialistischen Gedankengutes". Dessen Gehalt habe Hitler i n allen wesentlichen Zügen dort niedergelegt, und zudem habe er gezeigt, aus welchen natürlichen und geistigen Quellen seine Gedankenwelt sich gestaltet habe. Daneben w i r d als „zweite große Urkunde" das i m Jahre 1920 verfaßte — jedoch gar nicht von Hitler stammende — Parteiprogramm genannt. Als drittes Grundsatzdokument schließlich findet Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts" i n diesem Zusammenhang Erwähnung. Tatsächlich sind diese drei Schriften trotz ihrer erheblichen Rangunterschiede die hauptsächlichen offiziellen Quellen nationalsozialistischer Weltanschauung geblieben, auch wenn sie letztlich nur eine unverbindliche programmatisch-direktive, aber kaum politisch aktuelle Wirkung gehabt haben. I. Das Parteiprogramm von 1920

Das „Programm der Deutschen Arbeiterpartei" 5 , die sich schon bald darauf „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP)" nannte, wurde von ihrem Gründer, dem Münchener Eisenbahnschlosser Anton Drexler, verfaßt® und von Hitler auf der ersten Massenversammlung der Partei am 24. Febr. 1920 i m Münchener Hofbräuhaus vorgetragen 7 . Es deklariert sich gleich einleitend als „Zeit-Programm" und ist i n der Tat weitgehend von tagespolitischen Gesichtspunkten, zumal noch solchen pseudosozialistischer und antikapitalistischer A r t geprägt 8 . Daneben enthält es aber — wenn auch nur fragmentarisch 9 — bereits einige wesentliche Aspekte nationalsozialistischer Leitvorstellungen sowie erste Ansätze für ein nationalsozialistisches Rechtsdenken. I m ersten „Leitsatz" fordern die Initiatoren des Programms den Zusammenschluß aller Deutschen zu einem Groß-Deutschland. Diese zunächst ausschließlich auf den staatlichen Bereich abzielende Forderung w i r d i n Punkt 4 m i t dem völkischen Prinzip verknüpft: Staatsbürger 4

S.6. T e x t z.B. bei Poetzsch-Heffter, S. 6 ff., u n d bei Walther Hof er, D o k u mente, S. 28 ff. 6 Vgl. etwa Jost Nolte : Der Monat, Heft 213 (Juni 1966), S. 77. 7 Hitler, M e i n Kampf, S. 405. 8 Scheffler i n : Hartwich (Hrsg.), P o l i t i k i m 20. Jhdt., S. 353\ zu den einem „nationalen Sozialismus" folgenden antikapitalistischen Forderungen des Parteiprogramms s. o. § 5, zu 4. 9 So weist Herzog, A r t . „Nationalsozialismus", I Β 3, i n : Evgl. Staatslexikon, darauf hin, daß etwa der militante, auf Austreibung oder gar Ausrottung der Juden gerichtete Antisemitismus i m Programm von 1920 noch nicht enthalten sei, während er i n „ M e i n K a m p f " deutlich ausgesprochen werde. V o r allem aber findet der Führergedanke selbst i n den einleitenden Kernsätzen noch keinerlei Ausdruck. 5

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

kann nur sein, wer Volksgenosse ist, Volksgenosse aber nur, wer deutschen Blutes ist. Kein Jude kann daher Volksgenosse (und Staatsbürger) sein. Hier w i r d zugleich deutlich, wie sehr das Programm doch auch schon i n seinen theoretischen Grundlagen von rassistischen Ideen und extremer Fremdenfeindlichkeit geprägt ist. Erste praktisch-politische Konsequenzen deuten sich i n Punkt 5 an: „Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast i n Deutschland leben können und muß unter Fremdengesetzgebung stehen." Und ferner i n Punkt 6: „Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen." öffentliche Ämter dürften daher nur durch Staatsbürger bekleidet werden. Weitere rechts- und staatstheoretisch belangreiche Leitsätze folgen an verschiedenen anderen Stellen: I n Punkt 9 lautet es noch sehr allgemein: „Alle Staatsbürger (!) müssen gleiche Rechte und Pflichten besitzen." Dazu zählt i n erster Linie die Pflicht, „geistig oder körperlich zu schaffen", allerdings nur „ i m Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller" (Punkt 10). Uberraschend direkt ist die Forderung des Punktes 19 nach einem deutschen Gemeinrecht anstelle des „der materialistischen Weltordnung dienenden römischen Rechts" 10 . Uberhaupt hat sich die Partei dem bedingungslosen Kampf auf allen Gebieten gegen den „jüdisch-materialistischen Geist" 1 1 verschrieben, wie es heißt, i n der Uberzeugung, „daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz geht vor Eigennutz" (Punkt 24). Damit ist ein Schlüsselwort völkischen Denkens ausgesprochen, eine jener schlagkräftigen Parolen, mit denen das völkische Prinzip auch noch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten i n ständiger Wiederholung propagiert wurde. Die staatspolitischen Folgerungen werden i m abschließenden Punkt 25 gezogen: Man fordert die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches und die unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über das gesamte Reich und seine Organisationen sowie die Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen Rahmengesetze i n den einzelnen Bundesstaaten. I m Schlußsatz endlich versprechen die „Führer der Partei", „wenn nötig unter Einsatz des 10

S. dazu u. Fußn. 33 a. E. Es blieb insbes. Rosenberg vorbehalten, eine unmittelbare geistige V e r bindung festzustellen zwischen dem als „ r e i n individualistisch" u n d „ u n beschränkt privatkapitalistisch" verpönten, angeblich zu „subjektivistischer Hemmungslosigkeit" führenden „(spät)römisch-syrischen" Recht u n d dem „schmarotzenden, aber triebhaft starken Judentum", i n dem er ganz offenbar die „kleine Menschengruppe" sah, die es „ a m besten verstanden" habe, „durch die Maschen eines rein formalen Paragraphennetzes zu schlüpfen" u n d deren „Raubzug" v o n eben jenem römischen Rechtsgedanken geradezu „geheiligt" worden sei: Der M y t h u s des 20. Jahrhunderts, S. 563 ff. (572 f., 577). Ä h n l i c h auch Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 7 f., 23, 35 (die „römischjüdische Rechtslehre des Positivismus"), 45 f., 51, 55. 11

§ 6 Die hauptsächlichen Quellen

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eigenen Lebens f ü r die D u r c h f ü h r u n g der v o r s t e h e n d e n P u n k t e r ü c k haltlos einzutreten". Das a l l e r d i n g s h a t Hitler n i e g e t a n 1 2 . S e i n V e r h ä l t n i s z u d e m v o n i h m selbst v o r g e t r a g e n e n P r o g r a m m , das g l e i c h w o h l — auch d e m Geiste nach — n i e e i g e n t l i c h das seine g e w o r d e n i s t 1 3 , b l i e b z w i e s p ä l t i g . W o h l b e k a n n t e er sich i n „ M e i n K a m p f " z u d e n 25 P u n k t e n , doch z u m i n d e s t zwischen d e n Z e i l e n k l i n g e n bereits gewisse E i n s c h r ä n k u n g e n a n : Jene Leitsätze seien aufgestellt worden, nicht n u r u m der jungen Bewegung Form u n d I n h a l t zu geben, sondern u m deren Ziele der breiten Masse verständlich zu machen. Die Wirksamkeit des Programms habe die Richtigkeit der damaligen Auffassung erwiesen 1 4 . Parteigrundsätze hatten für

Hitler

erklärtermaßen

instrumentalen

Charakter: M i t Hilfe einer eigens zu diesem Zwecke bestimmten Formulierung sollten sie dazu dienen, eine Weltanschauung organisatorisch zu erfassen, i h r ein Instrument zu schaffen, „das i h r die Möglichkeit einer kampfesmäßigen V e r tretung gewährt" 1 5 . Dazu sei es erforderlich, aus ihrem allgemeinen W e l t b i l d bestimmte Gedanken herauszugreifen u n d sie i n eine Form zu kleiden, „die i n ihrer präzisen, schlagwortähnlichen Kürze geeignet erscheint, einer neuen Gemeinschaft von Menschen als Glaubensbekenntnis zu dienen". Das Programm einer Weltanschauung sei — anders als das einer n u r politischen Partei — eine Kriegserklärung gegen eine bestehende Ordnung, eine bestehende Weltauffassung überhaupt. Der einzelne, der f ü r diese W e l t anschauung kämpfe, brauche keinen vollen Einblick i n die letzten Ideen u n d Gedankengänge der Führer der Bewegung zu erhalten, m a n müsse i h m aber einige wenige ganz große Gesichtspunkte klarmachen, i h m die wesentlichen Grundlinien unauslöschlich einbrennen, so daß er von der Notwendigkeit des Sieges seiner Bewegung u n d ihrer Lehre restlos durchdrungen sei 16 . So müsse das Programm der Bewegung, u m die Weltanschauung zum Siege zu führen, sie zu einer „Kampfbewegung" umzustellen, auf das zur Verfügung stehende „Menschenmaterial" Rücksicht nehmen. U n d deshalb habe es i n seiner F u n k t i o n als Werbeprogramm — bei aller Unverrückbarkeit seiner „Schlußziele" u n d „leitenden Ideen" — vor allem psychologisch richtig zu sein 1 7 . Dementsprechend sei m a n bei der Abfassung des Programms von 1920 verfahren: M a n habe aus der weiten Gedankenwelt der „völkischen Idee" bestimmte Leitsätze herausgegriffen, u n d zwar solche, die i h r e m Wesen u n d I n h a l t nach am ehesten geeignet schienen, eine breitere Menschenmasse auf sich zu verpflichten, die nämlich, die allein „den weltanschauungsmäßigen K a m p f dieser Idee" gewährleiste: die deutsche Arbeiterschaft 1 8 .

12 Vgl. etwa seine bereits o. § 5, Fußn. 9, erwähnte E r k l ä r u n g zur Auslegung des umstrittenen Punktes 17 des Programms. 13 Jost Nolte, S. 77. 14 S. 404. 15 Ebd., S. 422 f. 16 Ebd., S. 508. 17 Ebd., S. 510. 18 Ebd., S. 511.

4 Anderbrügge

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

Immerhin sah sich Hitler gezwungen offen einzugestehen, daß die programmatische Fixierung ausgewählter Kampfziele für die Bewegung nicht unproblematisch war: Jene aus psychologischen Gründen gewählte Formulierung der 25 Leitsätze, die i n erster L i n i e dem M a n n aus dem V o l k ein grobes B i l d des Wollens der Bewegung habe geben sollen, sei möglicherweise unzulänglich, u n d einzelne Leitsätze müßten auch besser gefaßt werden. Dennoch solle das Programm u m des Zieles eines i n sich geschlossenen, unerschütterlichen, innerlich ganz einheitlichen Organismus w i l l e n jeglicher Diskussion u n d K o r r e k t u r entzogen sein 1 9 . Die wesentliche Aufgabe einer Bewegung könne ohnehin nicht i n der rein äußeren Formulierung eines Programms liegen, wesentlich sei letztlich n u r der innere unveränderliche Sinn 2 0 . Wer also den Sieg einer völkischen Weltanschauung w i r k l i c h u n d ernstlich wünsche, müsse sich auch zum Programm der sie tragenden Bewegung bekennen, das i n seiner „ u n erschütterlichen Sicherheit u n d Festigkeit" zumindest so lange beizubehalten sei, bis es v o m Sieg gekrönt werde 2 1 . Das gelte auch f ü r jene 25 Thesen des Programms der N S D A P — „eine Grundlage, die unerschütterlich sein m u ß " 2 2 .

I n Wirklichkeit aber verfolgte Hitler sein eigenes Programm. I h m ging es u m die persönliche Macht, und dabei konnten i h m Grundsätze nur hinderlich sein. Den tagespolitischen Ereignissen gegenüber brauchte er freie Hand 2 3 . „Er wollte erkennen, welche dumpfen, visionären, triebhaften Gefühle die Masse bewegten, und er wollte dafür die jeweils ,gültige 4 Formel finden 24." Auch er dürfte empfunden haben, was Goebbels später aussprach: „Wollte Gott, w i r hätten von diesen unglücklichen 25 Punkten nie etwas gehört 25 ." So erklärt es sich, daß das Programm als Parteidogma nie von wirklich entscheidender Bedeutung gewesen ist 2 6 . Zum anderen konnten die 25 Punkte, ohnehin eher allgemeine Agitationsanweisungen als fest umrissenes Programm 2 7 , auch wegen ihres letztlich doch allzu verschwommenen Inhalts die Bewegung niemals ideologisch verbindlich auf eindeutig fixierte Ziele festlegen. Dennoch sind sie, obgleich i n wesentlichen Teilen überholt oder ungültig geworden, bis zum Zusammenbruch von 1945 die offizielle Plattform der Partei geblieben 28 . 19

Ebd., S. 511/12. Ebd., S. 512. 21 Ebd., S. 513. 22 Ebd., S. 514. 23 Gleiches g i l t von den meisten Mitgliedern der engsten Parteiführung, s. o. § 3, zw. Fußn. 72 u. 74. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist es auch nicht zum Erlaß einer neuen Reichsverfassung gekommen, vgl. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S. 187. 24 Jost Nolte, S. 77. 25 Z i t i e r t wiederum nach J. Nolte , ebd. 26 Scheffler, S. 353; ebenso: Kotowski, Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 209. 27 Bracher, A r t . „Nationalsozialismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat u n d Politik), Neuausgabe 1964, S. 209. 20

§ 6 Die hauptsächlichen Quellen

51

Ähnliches gilt übrigens für den Einfluß des Parteiprogramms auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Diskussion i m Dritten Reich. Es konnte zwar wie i n dem eingangs zitierten Bericht Poetzsch-Heffters zur Entwicklung des öffentlichen Rechts i m Jahre 1933 als „zweite (!) große Urkunde" des Nationalsozialismus herausgestellt werden 29 , doch seine aktuelle Wirkung auf das Rechtsleben blieb — abgesehen vielleicht von einigen auch seinen Intentionen entsprechenden materiellen Verschärfungen des Staatsangehörigkeitsrechts etwa durch die Einführung des „Reichsbürgerrechts" 30 — gering, obwohl mehrere seiner Forderungen — wie bereits erwähnt 3 1 — auch i n anderen Bereichen auf unmittelbare rechtliche Umgestaltung abzielten. Doch i n Ermangelung anderer positiv statuierter allgemein verbindlicher Maßstäbe sollte es führenden Rechtswissenschaftlern der NS-Zeit zufolge — neben den Äußerungen des Führers — immerhin als Anhaltspunkt oder gar als Leitlinie herangezogen werden, wenn es darum ging, alles Recht nach den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung auszulegen 32 . Die vereinzelt sogar ernstlich aufgeworfene Frage, ob das Parteiprogramm Gesetz sei, wurde allerdings zumeist verneint 3 3 — vermutlich aus der begründeten Sorge heraus, sich sonst i n 28 Kotowski, S. 209; vgl. auch etwa die 1933 vorgelegten Kommentierungen des Programms von Rosenberg: Wesen, Grundsätze u n d Ziele der NSDAP. Das Programm der Bewegung, u n d Feder, Das Programm der N S D A P u n d seine weltanschaulichen Grundgedanken. Es ist allerdings bezeichnend, daß der Einfluß gerade dieser beiden Theoretiker eines „orthodoxen" Nationalsozialismus i n der Partei m i t wachsender Distanzierung Hitlers mehr u n d mehr abnahm u n d schließlich beinahe v ö l l i g erlosch. S. dazu Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 14 ff. 29 S. o. hinter Fußn. 4. 30 Vgl. die ζ. T. offenkundigen Übereinstimmungen zwischen den P u n k ten 4 ff. des Parteiprogramms u n d den Bestimmungen des „Reichsbürgergesetzes" v o m 15. Sept. 1935 (RGBl. I, S. 1146). 31 S. ζ. B. o. § 5, T. vor Fußn. 10. 32 S. dazu bereits o. § 3, jeweils vor Fußn. 4 9 - 5 1 . 33 Vgl. etwa die Hinweise bei Gernhuber, Das völkische Recht, S. 189 Fußn. 84. I m m e r h i n sah Freisler i m Parteiprogramm w e n n schon k e i n Gesetz, so doch eine gleichrangig neben das förmliche Gesetz selbst sowie das „gesunde Volksempfinden" u n d die autoritativen Kundgebungen des Führers gestellte positive Rechtsquelle, an die der i m Nationalsozialismus verwurzelte Richter gebunden sei: Nationalsozialistisches Recht u n d Rechtsdenken, S. 67 ff. Eine andere Variante findet sich bei Hans Frank, der das „Gesetz Deutschlands" zwar m i t dem F ü h r e r w i l l e n identifizierte, dafür aber das Parteiprogramm zur „Verfassung Deutschlands" erhob (DR 1936, S. 3). Wenn es auch kein formelles Gesetz darstelle, so sei es doch „ k r a f t des schöpferischen Willens des Führers . . . f ü r das Rechtsdenken u n d die Rechtswirklichkeit des D r i t t e n Reiches gültig" u n d habe „ f ü r die Erziehung des deutschen Rechtswahrers ebenso entscheidende Bedeutung w i e das Buch des Führers ,Mein Kampf'", nämlich als „ein stetes H i l f s m i t t e l . . . i n Rechtswissenschaft, i n Rechtslehre u n d Rechtspraxis" : ebd., S. 215. Carl Schmitt endlich warnte w o h l davor, „ohne V e r m i t t l u n g oder U m -



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1. T e i l : Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

die G e f a h r z u großer A b h ä n g i g k e i t v o n e i n i g e n a l l z u a k t u e l l e n F o r d e r u n g e n z u begeben. So beließ m a n es w o h l w e i s l i c h b e i d e m w e i t w e n i g e r gefährlichen allgemeinen moralischen Appell, den „sittlichen Gehalt" des P r o g r a m m s als „ungeschriebenes G e s e t z " 3 4 d e m S y s t e m des gesetzt e n Rechts z u u n t e r l e g e n , u n d k o n n t e a b s t r a k t p o s t u l i e r e n : „Die i n den 25 Punkten des Programms niedergelegten Grundgedanken bilden den politischen Untergrund u n d die Rechtsgrundsätze f ü r den verfassungsrechtlichen A u f b a u des heutigen Deutschen Reiches. Die positiven Rechtsquellen erhalten ihren politischen Sinn aus dem Programm 3 5 ." A b e r selbst eine d e r a r t i g e i n i h r e r A l l g e m e i n h e i t z i e m l i c h u n v e r b i n d liche F o r m u l i e r u n g w u r d e offenbar als noch z u w e i t g e h e n d e F e s t l e g u n g e m p f u n d e n , d e n n i n d e n f o l g e n d e n Sätzen der h i e r z i t i e r t e n S t e l l u n g n a h m e k l i n g t sogleich die U n s i c h e r h e i t u n d Z w i e s p ä l t i g k e i t an, m i t der m a n d e m w e g e n seiner ganz u n v e r m i t t e l t n e b e n w e i t h i n i n h a l t s l e e r e n P r o p a g a n d a f o r m e l n stehenden, t e i l w e i s e recht u n g e l e g e n e n k o n k r e t e n A b s i c h t s e r k l ä r u n g e n g e w i ß eher h i n d e r l i c h e n u n d daher i n z w i s c h e n u n e r w ü n s c h t e n , doch andererseits auch n i c h t einfach t o t z u s c h w e i g e n d e n P r o g r a m m gegenüberstand: „ W e i l das Programm den weltanschaulich-politischen Gehalt des Nationalsozialismus wiedergibt, ist es, w i e der Ausdruck jeder echten Weltanschauung, »unabänderlich'. Das bedeutet nicht ein starres Festhalten an jedem W o r t des Programms, aber es bedeutet die Unerschütterlichkeit der i n i h m niedergelegten politischen Grundgedanken 3 6 ." I I . Hitlers „Mein Kampf" „ M e i n K a m p f " — „das g r u n d l e g e n d e W e r k A d o l f Hitlers sowie der nationalsozialistischen B e w e g u n g u n d Weltanschauung"37, entstanden ζ. T . w ä h r e n d Hitlers F e s t u n g s h a f t i n L a n d s b e r g a m L e c h 1924 (Bd. I), i m ü b r i g e n i m J a h r e 1925 (Bd. 2) — sollte nach d e m i m V o r w o r t e r k l ä r schaltung durch ein positives staatliches Gesetz die Grundsätze des nationalsozialistischen Parteiprogramms bereits als positive Rechtsnorm durch (zu)führen u n d (zu) vollstrecken": Nationalsozialismus u n d Rechtsstaat: J W 1934, S. 713 (716) = D V 1934, S. 35 (39). Doch auch er interpretierte etwa die Forderung des Punktes 19 nach Ersetzung des „der materialistischen Weltordnung dienenden römischen Rechts" durch ein „deutsches Gemeinrecht" als „eine verfassungsrechtliche Bestimmung ersten Ranges": DR 1936, S. 181. Ä h n l i c h ferner Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 5 f. Z u greifbaren Ergebnissen allerdings hat auch diese Forderung nicht geführt; vgl. etwa die n u r zögernden u n d letztlich vergeblichen Versuche, das noch wesentlich v o m rezipierten römischen Recht bestimmte, als individualistisch gescholtene B G B zu beseitigen u n d das Bürgerliche Recht i n einem die Gemeinschaftsidee stärker betonenden „Volksgesetzbuch" neu zu regeln. S. dazu o. § 3, T. vor Fußn. 36 bis einschl. Fußn. 41. 34 Vgl. Frhr. v. Steinaecker: D J T 1936, S. 210 f. 35 Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 11. 36 Ebd. 37 Der Volks-Brockhaus, 6. Aufl., Leipzig 1938.

§ 6 Die hauptsächlichen Quellen

53

ten Willen seines Autors die Ziele der Bewegung klarlegen und ein B i l d ihrer Entwicklung zeichnen, denn aus ihr werde mehr zu lernen sein als aus jeder rein doktrinären Abhandlung. Er wisse wohl, daß man Menschen weniger durch das geschriebene als durch das gesprochene Wort zu gewinnen vermöge und daß jede große Bewegung auf dieser Erde ihr Wachsen den großen Rednern und nicht den großen Schreibern verdanke, gleichwohl müsse zur gleichmäßigen und einheitlichen Vertretung einer Lehre das Grundsätzliche derselben niedergelegt werden für immer 3 8 . Die beiden Bände unterscheiden sich inhaltlich nicht unerheblich voneinander. Bezeichnenderweise trägt der erste, i n dem Hitler seinen Weg bis zu jener ersten großen Massenversammlung der noch jungen Bewegung vom 24. Febr. 1920 beschreibt und daher subjektives Erleben und unmittelbare Reaktion — sofern i h m dies zweckdienlich erschien — bewußt stärker i n den Vordergrund rückt, die Uberschrift „Eine Abrechnung", während der zweite Band („Die nationalsozialistische Bewegung"), der wesentlich grundsätzlicher angelegt und auch i n etwa u m eine Systematisierung bemüht ist, gewissermaßen die „ideologischen" Konsequenzen aus den zuvor aufgerichteten Vorurteilen zieht. Nun enthält auch „Mein Kampf" vorwiegend allgemeine Agitationsanweisungen und Kampfparolen negativer, d. h. antithetisch gegen Liberalismus, Rationalismus, Demokratie, Parlamentarismus usw. gerichteter A r t , radikale aber doch recht verschwommene Gedanken 39 , die auch für ihren eigenen Urheber nur solange verbindlich waren, als sie i h m auf dem Wege zur Machtergreifung hilfreich sein konnten. So hatte auch dieses Grundwerk des Nationalsozialismus eher den Charakter eines „Kampfbuches der Bewegung" als den eines „ideologischen Traktats von absoluter Verbindlichkeit für die Partei" 4 0 . Insofern besteht kaum ein Unterschied zum Programm von 1920. Zu Recht ist etwa darauf hingewiesen worden, daß für Hitler der äußerste Utilitarismus die höchste Staatskunst war, daß er seiner ,Intuition 4 vertraute, i h m einzugeben, was das Nützlichste des Tages sei 41 . Als ein Beispiel für viele sei hier die Außenpolitik genannt, für die Hitler solche Nützlichkeitserwägungen unumwunden eingestand: Parteipolitische, religiöse, humane, überhaupt alle übrigen Gesichtspunkte hätten hier restlos auszuscheiden42. So sah sein außenpolitisches Programm etwa ein Zusammengehen m i t Großbritannien und Italien vor, proklamierte da38

Vorwort. Vgl. Bracher, A r t . „Nationalsozialismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat u n d Politik), Neuausgabe 1964, S. 209. 40 Vgl. Sontheimer y Antidemokratisches Denken, S. 137. 41 S. z.B. Kordt, W a h n u n d Wirklichkeit. Die Außenpolitik des D r i t t e n Reiches, S. 55. 42 Hitler, M e i n Kampf, S. 686/687. 39

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

gegen den bedingungslosen Kampf gegen Frankreich und die Sowjetunion 4 3 . Wie sehr von Wunschdenken und nicht von rationaler Uberlegung bestimmt, wie willkürlich und inkonsequent und gerade auch ideologisch unhaltbar derartige Gedankengänge — ein „Gemisch von Plattheiten, Unrichtigkeiten und Demagogie" 44 — i m Grunde waren, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß Hitler nach der Machtergreifung mit allen seinen programmatischen Festlegungen für die von i h m zu befolgende Außenpolitik i n der Praxis i n Konflikt geriet 45 . War Hitlers „Bekenntnisbuch" 46 — wie alle Äußerungen führender Parteigenossen zur nationalsozialistischen Weltanschauung — auch von vornherein ungeeignet, ein i n sich geschlossenes ideologisches System zu begründen, so erweist „Mein Kampf" doch das beachtliche eklektizistische und agitatorische Geschick seines Verfassers. Hitler formte sich sein politisches Weltbild aus einer Vielzahl geistiger und politischer Strömungen und wußte es m i t pathetischer Emphase als sein eigenes auszugeben. Letztlich aber zeichnet sich dieses Ideengemisch i n seinem Gehalt „mehr durch die Zufälligkeit seiner Zusammenstellung, die w i l l kürliche Interpretation vieler vermeintlicher geistiger Vorbilder und durch die Übernahme unhaltbarer, angeblich wissenschaftlich erwiesener Theorien als durch Logik" aus 47 . Allerdings faßte Hitler i n seiner Kampfschrift auch eine Fülle von positiven Aussagen über die nationalsozialistische Weltanschauung i m allgemeinen und über Führerprinzip, völkisches Denken und Rassentheorie i m besonderen zusammen. A n einer solch umfassenden und eingehenden Zusammenstellung, und sei sie noch so zufällig und fragwürdig, hatte es bis dahin gefehlt. Hier klangen erstmalig i n faßbarer und für die weitere Propagierung geeigneter Form die Aspekte an, die von nun an den wesentlichen Inhalt nationalsozialistischer Weltanschauung ausmachen sollten, die aber i m Programm von 1920 z.T. noch gar keinen Ausdruck gefunden hatten. Es bedurfte schließlich erst einmal Hitlers demagogischen Zugriffs, damit die vagen Gedankengänge der nationalsozialistischen Bewegung ihre gefährliche Virulenz bekommen konnten. So gab Hitler der Bewegung, was sie — nicht nur nach seiner Meinung — brauchte: ein politisches Dokument, ihr „Glaubensbekenntnis" 48 . Hier w i r d deutlich, warum man trotz aller Einwände, die 43

Ebd., S. 154, 699, 705, 726 ff. (742, 748). Kordt, S. 55; Rosenberg dagegen sah i n ihnen die europäischen Probleme „ i n klarster F o r m behandelt": Der Mythus des 20. Jhdts., S. 642. 45 Vgl. wiederum Kordt, S. 55 (ff.). 46 Bracher, S. 206. 47 Schef 1er i n : Hartwich (Hrsg.), P o l i t i k i m 20. Jhdt., S. 350. 48 Hitler bezeichnete schon die 25 Punkte als ein „politisches Glaubensbekenntnis", das einerseits f ü r die Bewegung werbe u n d sich andererseits 44

§ 6 Die hauptsächlichen Quellen

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vom Begrifflichen her, aber auch angesichts der Entwicklung der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer vielfältigen sozialen Bedingungen gewiß beachtlich sind, immer wieder von einer „Ideologie" des „Hitlerismus" gesprochen hat und auch heute noch spricht 49 : K e i n Name ist mit der Erscheinung des Nationalsozialismus auch nur annähernd so eng verbunden wie der Hitlers. Er war nicht nur die zentrale geschichtliche Figur jener Epoche deutscher Geschichte, „der er die Züge seiner verhängnisvollen Persönlichkeit aufs tiefste eingeprägt hat", er hat auch den Nationalsozialismus als politische Idee wie als politische Bewegung geschaffen 50, hat ihn letztlich zur tragenden Grundlage seines Herrschaftssystems verfestigt. „Mein Kampf" wurde bald die „Bibel" der Bewegung 51 , die Grundlage politischer Schulung i n der Partei, der unerschöpfliche Zitatenschatz für die allgemeine politische Agitation, aber auch für die politische Theorie, ja darüber hinaus für alle wissenschaftlichen Fachrichtungen, schließlich stimulierender Anlaß und Rechtfertigung politischer Aktion, ein bestimmender Faktor i m öffentlichen Leben schlechthin. Und wenn überhaupt irgendwo, dann ist so etwas wie eine „authentische nationalsozialistische Lehre" am ehesten i n Hitlers eigenen Schriften und Reden greifbar, denn „Hitler war der unangefochtene Führer der Bewegung. Seine ideologischen Anschauungen waren zumindest ebenso repräsentativ für die Bewegung wie die Alfred Rosenbergs, und sie hatten i m Zweifelsfalle die Autorität für sich" 52 . I I I . Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts"

Die zuvor wiedergegebene Feststellung Sontheimers, daß sich eine nationalsozialistische Lehre noch am ehesten aus Hitlers Schriften und Reden ableiten lasse, w i r f t zugleich ein bezeichnendes Licht auf Roseneigne, „die Geworbenen zu verbinden u n d zusammenzuschweißen durch eine gemeinsam anerkannte Verpflichtung": M e i n Kampf, S. 511. 49 Vgl. etwa Jost Nolte: Der Monat, Heft 213 (Juni 1966), S. 77, u n d Walther Hof er, Dokumente, S. 10. 50 Hof er, S. 10. 51 Schon 1940 wurde die Gesamtauflage sämtlicher Ausgaben m i t 6 450 000 Exemplaren angegeben (vgl. Impressum). Gleichwohl ist nach dem Z u sammenbruch des D r i t t e n Reiches vielfach behauptet worden, k a u m jemand habe „ M e i n K a m p f " gelesen. Solche Aussagen lassen sich schwerlich beweisen. Es w i r d eines der vielen ungelösten Rätsel des Aufstiegs der nationalsozialistischen Bewegung bleiben, ob i h r Erfolg n u n eher durch die Kenntnis oder vielmehr durch die allenfalls hier u n d da — durch einige gängige Zitate — aufgehellte Unkenntnis ihrer wichtigsten programmatischen Schrift m i t bedingt w a r . Angesichts der Vielzahl der i n i h r verkündeten wissenschaftlich unhaltbaren Thesen darf i m Hinblick auf den i m Rahmen dieser U n t e r suchung i n erster L i n i e interessierenden Kreis der Wissenschaftler i m m e r h i n angenommen werden, daß die letztgenannte V e r m u t u n g zutrifft. 52 Sontheimer, S. 137.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

berg, der die i h m i n der „Kampfzeit" zugefallene Rolle des HauptIdeologen des Nationalsozialismus nur verhältnismäßig kurze Zeit hat spielen können. War sein Einfluß anfänglich insbesondere als Leitartikler und Herausgeber des „Völkischen Beobachters" sowie als Hitlers außenpolitischer Berater noch bedeutend, so ließ er m i t steigendem Machtzuwachs der Partei und i n dem Maße nach, in dem Hitler sich allen ideologischen Festlegungen und persönlichen Bindungen entzog, die i h m beim Griff nach der totalen Macht hätten gefährlich oder auch nur hinderlich werden können. Nach 1933 endlich nahmen Rang und Einfluß Rosenbergs innerhalb der Partei, i n der er zunächst noch einige vor allem ideologisch wichtige Ämter wahrnahm, immer weiter ab, bis er schließlich — schon zu Beginn des Krieges — aus dem Kreis der maßgeblichsten Berater Hitlers ausschied53. Rosenbergs Hauptwerk, der i m Jahre 1930 erschienene „Mythus des 20. Jahrhunderts" 5 4 , galt nie als parteioffiziell, da Hitler sich weigerte, es als amtliches und verbindliches Dogma der Bewegung anzuerkennen 55 , so daß Rosenberg gezwungen war, einleitend zu erklären, keine Gemeinschaft könne sich auf die i n dieser Schrift vorgetragenen Gedanken und Schlußfolgerungen festlegen, da es sich u m persönliche Bekenntnisse, nicht aber u m Programmpunkte der politischen Bewegung handele, der er angehöre 56 . Gleichwohl enthält auch Rosenbergs Bekenntnisschrift wesentliche Merkmale der nationalsozialistischen Weltanschauung 57 , ohne allerdings trotz der weiten Verbreitung i n ihrer aktuellen politischen Wirkung jemals an Hitlers „Mein Kampf" heranreichen zu können. Der „Mythus" ist, obgleich er dem Anspruch „geistiger Auseinandersetzungen" gerecht werden sollte 58 , ein pseudophilosophisches Werk, „ein wirres und vages Gerede" 59 , es fehlt i h m an jeder wissenschaftlichen Redlichkeit und Objektivität. Dabei sollte es der nationalsozialistischen Bewegung über „Mein Kampf" hinaus angeblich die inneren Zusammenhänge ihrer Gedankenwelt „zum deutschen Geistesstrom und seinen Offenbarungen i n anderen Epochen und Persönlichkeiten" aufdecken, die Kampfgenossen zum Mitempfinden und Mitdenken anhalten 60 . 53

Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 16 f. Auch diese w o h l zweitwichtigste Schrift zur nationalsozialistischen W e l t anschauung fand trotz anfänglicher Absatzschwierigkeiten (vgl. Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 100 f.) später weite Verbreitung. So betrug ihre Gesamtauflage bis 1936 bereits 493 000 Exemplare (Angabe lt. Impressum). 55 Picker, S. 100; vgl. auch Broszat, S. 16. 56 Mythus, Einleitung, S. 2. 57 Schef 1er, S. 354. 58 S. ζ. Β . Mythus, S. 5. 59 Sontheimer, S. 141. 60 Poetzsch-Heffter, V o m Deutschen Staatsleben, S. 6. 54

§ 6 Die hauptsächlichen Quellen

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Rosenberg selbst nannte sein Werk „Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit" (Untertitel). I h m ging es nach seinen eigenen Worten u m die „rassische Geschichtsbetrachtung" — „eine Erkenntnis, die bald selbstverständlich sein w i r d " 6 1 . Geschichte und Zukunftsaufgabe seien künftig nicht mehr Kampf von Klasse gegen Klasse, sondern die „Auseinandersetzung zwischen B l u t und Blut, Rasse und Rasse, Volk und Volk", und das bedeute: „Ringen von Seelenwert gegen Seelenwert", denn hinter dem neuen Weltbild stünden als treibende Mächte die „Werte der Rassenseele"62. So werde eine „große Zeit" mit einem „großen Gewölbe der rassisch-seelischen Weltanschauung" alles einzelne zum „blutvollen Organismus einer deutschen Wesenheit" einen 63 . Und befriedigt meinte er i n einem Geleitwort zum 150. Tausend des „Mythus" i m Jahre 1934 feststellen zu können, daß immer neue Auflagen ein deutliches Zeichen dafür seien, daß ein „entscheidender geistigseelischer Umbruch" zu einem geschichtlichen Ereignis heranwachse. Vieles, was i n seiner Schrift scheinbar absonderliche Idee gewesen sei, sei nun bereits staatspolitische Wirklichkeit geworden 64 .

61 62 63 64

S.2. Ebd., S . l f . Ebd., S. 13 f. Ebd., S. 18.

Zweites Kapitel

Die zentralen Leitgedanken und ihre unmittelbaren Implikationen für das Rechtsdenken § 7 Das Führerprinzip I. Der Führergedanke als die maßgebliche Leitvorstellung der Bewegung

Der Führergedanke des Nationalsozialismus beruht i n geringerem Maße als die anderen zentralen Leitideen der nationalsozialistischen Weltanschauung auf theoretischen Grundlagen aus voraufgegangenen geistesgeschichtlichen Epochen. Allerdings ist das Führerprinzip auch nicht die ureigene Erfindung der Nationalsozialisten oder gar nur eine nachträgliche Rechtfertigung für Hitlers unumschränkte Gewaltherrschaft. Vorbilder und Vorstufen finden sich i n w o h l allen zeitgenössischen diktatorischen Regimen, namentlich i m italienischen Faschismus1, aber auch schon i n der — wie i m deutschen Kaiserreich — an militärischen Strukturen orientierten Führerschaft der Monarchen, i m Dezisionismus der zwanziger Jahre und vor allem i n jener i n der Weimarer Republik weitverbreiteten Reichsmythologie, wie sie etwa i n den Wunschbildern von A r t h u r Moeller van den Brucks „Das Dritte Reich" (1923) Ausdruck fand 2 . Solche Vorstellungen entsprachen ihrerseits durchaus den bis dahin kaum artikulierten Sehnsüchten bestimmter Schichten des deutschen Kleinbürgertums 3 , dem „Ruf nach dem starken Mann". Letztlich jedoch hat Hitler selbst die Vorstellung eines autokratischen und keiner rechtlichen oder ethischen Bindung unterworfenen Führers 4 entscheidend geprägt. „Führen" verstand er als die vornehmlich organisatorisch-propagandistische Fähigkeit, „Massen bewegen (zu) können", während die Gabe, Ideen zu gestalten, m i t Führerfähigkeit gar nichts 1

Hitler wurde denn auch noch über die Machtergreifung von 1933 hinaus als Nachahmer Mussolinis angesehen: Vgl. Ernst Nolte, Die faschistischen Bewegungen, S. 10, 102. Z u den theoretischen Grundlagen u n d politischen Konsequenzen des Führerprinzips i m Faschismus s. ebd., u. a. S. 60, 64 f., 81, 82 ff., 127. 2 Herzog, A r t . „Nationalsozialismus", I Β 5, i n : Evgl. Staatslexikon. 3 S. dazu E. Nolte, S. 262 if. (265), sowie u. Abs. zw. Fußn. 17 u. 19 a. 4 S. o. § 5, zu 1.

§ 7 Das Führerprinzip

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zu schaffen habe 5 . Doch fraglos sah er auch diese Eigenschaft i n sich verkörpert. Aus der unmittelbar angeschlossenen Bemerkung, die Vereinigung von Theoretiker, Organisator und Führer i n einer Person — das Seltenste, was man auf dieser Erde finden könne — schaffe den „großen Mann" 6 , konnte folgerichtig nur der eine Schluß gezogen werden: M i t diesem Hitler war der „größte Führer aller Zeiten" i n die Weltgeschichte eingetreten! — Er handelte i m übrigen konsequent nach der „grundsätzlichen Einsicht", daß i n einem Kampf zweier Truppenkörper derjenige siegen werde, der die überlegenste Führung und zugleich die disziplinierteste, blindgehorsamste, bestgedrillte Truppe habe 7 . So schuf er sich — gestützt auf eine militante Kampforganisation — die Grundlage für seine einzigartige Machtstellung, für eine derart umfassende Führungsgewalt, wie sie etwa Mussolini, der „Duce" i m faschistischen Herrschaftssystem, nie besessen hat, obwohl auch i h m durch einen straffen hierarchisch-autoritären Ordnungs- und Führungsaufbau eine diktatorische Entscheidungsgewalt verbürgt werden sollte 8 . Wenn Hitler die „deutsche Größe" neu begründen, das deutsche Volk durch Einschmelzung aller Volksteile zu einer eisernen „Volks- und Kampfgemeinschaft" zusammenschweißen wollte 9 , dann konnte er dieses Ziel auf der Grundlage von Individualismus, Liberalismus und parlamentarischer Demokratie nicht realisieren. Sein neuer deutscher Volksstaat bedurfte folglich unbedingter Autorität und straffer Führung, er sollte ein autoritärer Führerstaat sein 10 . „ W i r werden unser Volk", so heißt es i n einer HitZer-Rede vom September 192811, „indem w i r es dazu erziehen, gegen den Irrsinn der Demokratie zu kämpfen und wieder die Notwendigkeit von Autorität und Führertum einzusehen, von dem Unsinn des Parlamentarismus fortreißen." Hitler hatte nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Bewegung genuin antiparlamentarisch war, daß selbst ihre Beteiligung an einer parlamentarischen Institution nur den Sinn haben könne, diese zu zertrümmern, da i n solchen Einrichtungen „eine der schwersten Verfallserscheinungen der Menschheit" zu erblicken sei 12 . Als Höchstwerte deutscher Gemeinschafts- und Staatsart galten fortan Einigkeit, Treue, Dienstbereitschaft, Disziplin, Gehorsam 5

M e i n Kampf, S. 650. Ebd., S. 651. 7 Ebd., S. 510. 8 Bracher, A r t . „Faschismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat u n d Politik), Neuausgabe 1964, S. 84 f.; E. Nolte , S. 81. Vgl. auch o. § 5 (Exkurs), T. vor Fußn. 19. 9 Durch dieses L e i t b i l d w i r d insbesondere auch das „völkische Denken" bestimmt. Vgl. dazu u. § 8 I. 10 Vgl. etwa Walther Hof er, Dokumente, S. 16; E. Nolte, S. 264. 11 Z i t i e r t nach Walther Hof er, S. 37. 12 M e i n Kampf, S. 378 f. 6

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

und Unterordnung unter gesetzte, nicht gewählte Rangordnung. Die individuellen Freiheits- und Grundrechte der liberalen Gesellschaftsform hingegen waren nichts weiter als „Ausdruck bürgerlicher Dekadenz" 13 . Das „autoritäre volksverbundene Führertum" 1 4 sollte sie überflüssig machen: „Das deutsche Volk w i r d eine neue Organisation der politischen Willensbildung bekommen, und diese Organisation w i r d aufgebaut sein auf dem Gedanken der Autorität, der Führung von unten bis oben. Und diese Organisation w i r d die Zusammenfassung der deutschen K r a f t garantieren . . . Volk und Führung werden immer mehr eins. Nicht Staatsverwaltung werden w i r haben, sondern Volksführung ist unser Ziel, und w i r werden dieses Ziel erreichen", verkündete Hitler 15. Für die Bewegung und ihren organisatorischen Aufbau hatte er die praktischen Konsequenzen des Führerprinzips schon i n „Mein Kampf" gezogen: Der Führer einer Ortsgruppe, eines Bezirks, Kreises oder Gaues w i r d jeweils von oben eingesetzt und zugleich m i t unbeschränkter Vollmacht ausgestattet. Lediglich der Führer der Gesamtpartei w i r d i n der Generalmitgliederversammlung gewählt — „aus vereinsgesetzlichen Gründen" 1 6 . Und schon damals forderte er, es müsse eine der obersten Aufgaben der Bewegung sein, dieses Prinzip zum bestimmenden auch für den gesamten Staat zu machen 17 . Tatsächlich erhob der nationalsozialistische Staat gleich nach Hitlers Machtergreifung den Führergedanken zu seinem maßgeblichen Aufbauund Organisationsprinzip und suchte i h n m i t aller Konsequenz i n sämtlichen Bereichen des öffentlichen, insbesondere des i. e. S. politischen, aber auch des sozialen und geistig-kulturellen Lebens zu verwirklichen. Dieses Bestreben fand — wie eingangs angedeutet — breite Zustimmung i n den (vor allem kleinbürgerlichen) Schichten, denen der Staat von Weimar ein Vakuum geblieben war und die i n ihrer Sehnsucht nach Ordnung und Einheit, i n ihrem Verlangen nach pseudoreligiösen Rettungs- und Glaubensmöglichkeiten militanten Sammelbewegungen wie dem Nationalsozialismus spontan zu folgen bereit waren und die auf den starken Mann, der sich anschickte, gleichsam an die Stelle des nicht mehr vorhandenen Kaisers zu treten, sehnlich zu warten schienen. I n bedingungslosem Führerkult und i n der strikt hierarchischen Führerverfassung suchten sie jene irrational begründete Geborgenheit, die sie i m nüchternen Kompromiß- und Kooperationsbemühen der demokratischen Parteien nicht gefunden hatten 1 8 . Der vergleichsweise einfache 13

S. Bracher, A r t . „Nationalsozialismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 2 (Staat u n d Politik), Neuausgabe 1964, S. 203. 14 Poetzsch-Hefîter, V o m Deutschen Staatsleben, S. 50. 15 A m 5. Nov. 1933 i n Elbing, zitiert nach Poetzsch-Heffter, ebd. 16 S. 378. 17 Ebd., S. 379. 18 So Bracher, S. 203. S. auch o. zu Fußn. 3.

§ 7 Das Führerprinzip

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Mechanismus von striktem Befehl und blindem Gehorsam entsprach der politischen Reife einer traditionell obrigkeitlich regierten Bevölkerung weit eher als das komplizierte Wechselspiel der von Anfang an beargwöhnten Demokratie, die ihr i n Form und Gehalt weitgehend fremd geblieben war. Die den außenpolitischen und vor allem den w i r t schaftlichen Schwierigkeiten tatsächlich kaum gewachsene Weimarer Republik, so hieß es, habe das Volk i n Länder, Parteien, Wirtschaftsgruppen, Klassen, Konfessionen und kulturelle Vereinigungen zersplittert und sei ein Tummelfeld der organisierten Teilinteressen geworden. Ihr „innerster Wesenskern", ihr Ideal sei die Führerlosigkeit gewesen 19 . Die sich selbst i n dieser Beurteilung spiegelnde pluralistische Vielfalt der republikanischen Demokratie mußte weiten Teilen eines i m Glauben an die hierarchisch vermittelte Autorität erzogenen Volkes unbegreiflich, ja unheimlich und gefährlich erscheinen 193 . Dagegen setzte die nationalsozialistische Weltanschauung m i t dem Führerprinzip i n seiner von Hitler gegebenen „gedanklichen Grundlegung" die Paarung der „unbedingten Führerautorität m i t höchster Verantwortung" 2 0 : Unumschränktes Führertum und letzte Verantwortlichkeit beruhten auf strengster Auslese. Wenn man — so folgert Hitler — unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens dem besten Volk die Erde geben wolle, müsse man logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Führung sichern. So baue man statt auf dem Gedanken der Majorität auf dem der Persönlichkeit auf 21 . Folglich w i r d der Gemeinwille, verstanden als der wahre Wille des Volkes, „der Wille des Volkes i n seiner lebensgesetzlichen Haltung" 2 2 , nicht durch Wahlen und Mehrheitsbeschlüsse gewährleistet, sondern zuallererst verkörpert „ i n den besten Gliedern des Volkes", doch nicht lediglich i m Sinne einer Repräsentation der gegenwärtig vorherrschenden Volksüberzeugung als einer psychischen Realität. „Vielmehr ist der Volkswille das völkische Lebensgesetz selbst, das i n dem Führer als Wille zur Erhaltung und Fortentwicklung des Volkstums Wirklichkeit w i r d und damit aktiv 19

Poetzsch-Heffter, S. 50. Es w a r die besondere Tragik des ersten demokratischen Verfassungsstaats i n Deutschland, daß er i n seiner letzten verzweifelten Phase selbst n u r noch durch den Einsatz der „ D i k t a t u r g e w a l t " des Reichspräsidenten m i t Präsidialkabinetten u n d Notverordnungspraxis kurzfristig zu überleben vermochte. Vgl. hierzu statt weiterer Einzelnachweise Herzogs knapp zusammenfassende Darstellung der verfassungsrechtlichen Aspekte des Untergangs der Weimarer Verfassung: A r t . „Deutsches Reich", D, i n : Evgl. Staatslexikon. 20 M e i n Kampf, S. 378. 21 Ebd., S. 493. 22 D. i. der „ W i l l e zur Erhaltung des Volkes", „zur Behauptung seines Daseins": Hitler auf dem Nürnberger Parteitag 1933, zitiert nach PoetzschHeffter, S. 50/51. 19a

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1. T e i l : Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

geschichtsgestaltende K r a f t gewinnt 2 3 ." Dieses besondere Verhältnis schafft die „Volksverbundenheit" des Führertums und rechtfertigt das innere Vertrauen, das die Gefolgschaft dem Führer entgegenbringt, denn der Führer „vermag am klarsten auszudrücken, durch welche konkreten Entscheidungen und Taten die Lebensnotwendigkeiten des Volkes i n der gegenwärtigen Situation ihre Erfüllung finden müssen" 24 . Legitimität wie Autorität des Führertums beruhen auf eben dieser Verbundenheit des Führers mit dem „wahren völkischen Sein". Doch auch i n der Partei und ihren Organisationen — als die Elite des Volkes —, ja i m „Staat" selbst — verstanden als „völkischer Führerstaat" — gewinnt der Volkswille Gestalt. Hier gründet die allmähliche Identifizierung von Staat, Führer und Volk 2 5 , macht sich ein ideologischen Systemen überhaupt eigenes Dogmatisierungsbedürfnis geltend 253 , wie es etwa auch i m Marxismus-Leninismus Ausdruck gefunden hat i n der führenden, ja unfehlbaren Rolle der Kommunistischen Partei, der allein die Fähigkeit zukommt, gestützt auf die Kenntnis der historischen und gesellschaftlichen objektiven Entwicklungsgesetze, mit Sachkenntnis entscheiden zu können 26 . Hitlers Anspruch — wenngleich unter Verzicht auf jede theoretische Begründung und zugleich wesentlich aggressiver formuliert — zielt i n die gleiche Richtung: „ U n d somit proklamiere ich jetzt für mich und meine Nachfolger i n der Führung der NSDAP den Anspruch auf politische Unfehlbarkeit. Ich hoffe, daß sich die Welt daran so schnell und widerspruchslos gewöhnt, wie sie sich an den Anspruch des Heiligen Vaters gewöhnt hat 2 7 ." Von der jeweiligen Ideologie verheißenes Endziel des genannten Identifizierungsprozesses ist zumeist ein angeblich „herrschaftsloser" Zustand, eine höchste Entwicklungsstufe, i n der das staatliche Element zunehmend überflüssig w i r d und — der marxistischen Terminologie zufolge — endlich „abstirbt". Es handelt sich u m einen „Übergang vom Staat zum Nichtstaat" 28 . I n etwa 23

Poetzsch-Heffter, S. 51. Ebd. 25 Scheffler i n : Hartwich (Hrsg.), P o l i t i k i m 20. Jhdt., S. 363. PoetzschHeffter (S. 51) weist darauf hin, daß der Reichspressechef der NSDAP, Dr. Dietrich, i n einer Rede über „Neue Sinngebung der P o l i t i k " (München 1934) die Homogenität v o n V o l k , Staat u n d Führung als ein Grundprinzip der nationalsozialistischen Staatsauffassung herausgestellt habe u n d daß diese Rede m i t ausdrücklicher Genehmigung Hitlers eine wissenschaftliche Fundamentierung der nationalsozialistischen P o l i t i k habe geben sollen. 25a Y g i dazu Menger, V o m Werden u n d Wesen der Demokratie, S. 56 ff. (insbes. S. 57). 26 Wetter, Sowjetideologie heute I. Dialektischer u n d historischer Materialismus, F r a n k f u r t / M . u n d Hamburg 1962, S. 84, 98, 228; Marxistische Philosophie (Lehrbuch eines Autorenkollektivs unter L e i t u n g von A . Kosing), 2. Auflage, B e r l i n (Ost) 1967, S. 335, 347 f., 695 f. 27 Rede v o m J u n i 1930 i m Braunen Haus i n München; zitiert nach Hill, Gleichheit u n d Artgleichheit, S. 260. 28 Lenin, Marxismus u n d Staat, B e r l i n (Ost) 1960, S. 44. 24

§ 7 Das Führerprinzip

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spricht auch Hitlers „Volksführung" die Idee von einer — wie auch immer herbeizuführenden — Aufhebung aller politischen Gegensätze i n einem „völkischen Reich" 29 an. Die m i t dem Dritten Reich einhergehenden chiliastischen Vorstellungen verbinden sich m i t solchen Zielen. Ohnehin entspricht die Führerschaft Hitlers i m wertfreien Weberschen Sinne dem Typus der charismatischen Herrschaft, d.h. die Chance des Führers, bei der Gefolgschaft Gehorsam für seine Befehle zu finden, beruht auf der von i h m beanspruchten charismatischen Autorität, auf Fügsamkeit kraft affektueller Hingabe an seine Person u m seiner persönlichen, ganz außergewöhnlichen Fähigkeiten willen 2 9 3 . Letztlich w i r d der Führerkult, i n dem die nationalsozialistische Weltanschauung wohl ihre eigentliche Wirksamkeit gefunden hat 3 0 , ins Messianische übersteigert: Der Führergedanke bekommt den Sinn, „die Lebenseinheit des Volkstums i n Rasse und Lebensraum, Schicksal und K u l t u r zu sichern und alle i n ihr ruhenden Kräfte zur Entfaltung zu bringen" 3 1 , der Führer läßt sich feiern als der ,vom Schicksal dem deutschen Volk gesandte Retter' 32 , er w i r d zum neuen Glauben einer Nation: Seine von der ,Vorsehung 4 bestimmte ,Sendung' sei es, den ,Ratschluß' der ,Geschichte' zu vollziehen, indem er, die nationalsozialistische Weltanschauung Stück für Stück offenbarend, die nordische Rasse i m deutschen Volke zur Weltherrschaft führe 3 3 . Hierzu ist angemerkt worden, daß die nationalsozialistische Lehre m i t dieser Ubersteigerung über die Denkmöglichkeiten aller „bloß faschistischen Bewegungen" einerseits weit hinausgegangen sei, aber dadurch auf der anderen Seite zugleich die innersten Tendenzen des Faschismus ans Licht gebracht und sich somit als „Radikalfaschismus" erwiesen habe 34 . I I . Der Ertrag in der Rechtslehre

Die konsequente Verwirklichung des Führergedankens i n allen reichen des politischen Lebens ist — i m Blickwinkel der Lehre Recht und Staat — die radikalste Entgegnung zum klassischen waltenteilungsprinzip. Sie bedeutete i m Dritten Reich die Häufung Vereinigung aller dem Staat zugewiesenen (wenn auch großenteils 29

Bevon Geund von

E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 167. Vgl. M a x Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, i n : Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, P o l i t i k (Kröners Taschenausgabe), 2. Aufl., Stuttgart 1956, S. 151 - 166 (159 ff.). 30 Vgl. Scheffler, S. 363. 31 Poetzsch-Heffter, S. 51. 32 Scheffler, S. 363. 33 Herzog, I A 2 b. 34 E. Nolte, S. 264 f. 29a

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

der Partei usurpierten) öffentlichen Gewalt i n der Hand des einen Führers der Bewegung und Reichskanzlers Adolf Hitler. Selbst namhafte Rechtslehrer der Zeit, die sich i n vielen Fällen nur allzu gefügig dem neuen System anpaßten, zögerten nicht, die Etablierung der absoluten Führerherrschaft und die damit einhergehende sog. „Uberwindung" — d.h. Zerstörung — der liberalstaatlichen Demokratie von Weimar zu rechtfertigen oder gar als bahnbrechende Neuorientierung zu feiern, wenngleich einige von ihnen den (allerdings von vornherein aussichtslosen) Versuch unternahmen, die hemmungslose Ausübung der Macht durch das Postulat der Bindung des Führers an die völkische Idee, den objektiven Volkswillen, das Wesensgesetz des Volkes u. ä. m. zu unterbinden oder ihr doch wenigstens immanente Schranken zu setzen, u m auf diese Weise das Führerprinzip m i t dem völkischen Prinzip zur Deckung zu bringen und den von der nationalsozialistischen Weltanschauung selbst nicht gelösten Widerspruch zwischen beiden aufzuheben 35 . M i t zunehmender Machtentfaltung des NS-Regimes freilich setzte sich das autoritäre Prinzip auch i n der Rechtslehre mehr und mehr und endlich nahezu ausschließlich durch 36 . Die voraufgegangenen Feststellungen deuten bereits an, daß der Führergedanke nach nationalsozialistischen Vorstellungen von Staat und Recht als integrale Bestandteile zwei unterscheidbare Aspekte umfaßte: einen eher politischen, der i n der Tat als „Ausschließlichkeit der politischen Führung" bezeichnet worden ist, und den unmittelbar rechtlich relevanten der „Einheit der Führergewalt" 3 7 . Die Zielsetzung war dabei durchaus identisch. Zum einen ging es u m die rückstandslose Aktivierung des gesamten, i n der alten Gesellschaft „verschleuderten" Machtpotentials durch und für den Führer als den fortan einzigen obersten Träger der politischen Macht: „Das System des Pluralismus und der 35 S. hierzu bereits o. § 5, T. vor Fußn. 12, sowie u. § 8 I I , T. vor Fußn. 60, § 11, T. ab Fußn. 38, § 13, Abs. zw. Fußn. 31 u. 40, Schlußabsätze. Solches Bemühen findet besonders deutlichen Ausdruck etwa bei Michaelis, Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 59: Der das Recht setzende Führer sei an das Wesensgesetz des Volkes gebunden. I n seiner Entscheidung bringe er zum Ausdruck, was das V o l k , w e n n es sich recht verstehe, selbst anerkennen müsse. Ä h n l i c h E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 196 f.: „ . . . der Führer . . . als Träger des völkischen Willens (ist) nicht selbstherrlich u n d jeder B i n d u n g bar . . . i n i h m verkörpert sich der Gesamtwille des Volkes als objektive geschichtliche Größe." S. auch Hans J. Wolff, Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, S. 42 f. (Verantwortlichkeit der Führung gegenüber dem V o l k s t u m und B i n d u n g an die „Bedingungen der A u t o r i t ä t : Gleichsinnigkeit u n d Sachgerechtigkeit"!). Vgl. i. ü. die Nachweise bei Gernhuber, Das völkische Recht, S. 176 ff. (182). 38 Vgl. dazu die i n Fußn. 35 enthaltenen Verweisungen auf andere Teile der vorl. Darstellung sowie überdies u. § 12, v o r Fußn. 49. 37 Beide Begriffe finden sich i n direktem Zusammenhang bei E. R. Huber, S. 160.

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Polykratie, i n dem eine unübersehbare Vielheit offener und getarnter Machtträger selbständige politische Gewalt für sich i n Anspruch nehmen, muß ausgerottet werden 3 8 ." A u f der anderen Seite sollten i m Gegensatz zur Trennung der Gewalten, die einen politischen Zustand bezeichne, i n dem die politische Einheit zugunsten der autonomen bürgerlichen Gesellschaft auf ein Mindestmaß reduziert sei, die einzelnen Arten politischer Gewalt, also etwa die klassischen Staatsgewalten, sämtlich i n der Person des einen Führers zusammenfallen, dessen Wille i n seiner obersten Stufe i m Gesetz erscheine, sich aber darüber hinaus auch i n allen Einzelanordnungen der Verwaltung und i n allen Entscheidungen der Gerichte ausdrücke 39 . Das gesamte Rechtsdenken der NS-Zeit scheint der allen Massenbewegungen eigenen irrealen Faszination eines übersteigerten Einheitsgedankens, der Utopie absoluter Identifikation erlegen zu sein. Waren es ganz i m Sinne dieser These i n den explizit „völkischen" Lehren — wie noch darzustellen ist — Leitbilder wie die Idee von der geschlossenen Volksgemeinschaft und die „Prinzipien der völkischen Einheit und Ganzheit" 40 , die maßgebende Bedeutung erlangten, so galt ein Gleiches erst recht für entsprechende Idiome der schon vom Ansatz her weit stärker monistisch bestimmten Theorien, die ausdrücklich auf dem autoritären Prinzip aufbauten. Hans Frank beispielsweise sprach i n einem Atemzug von der „Einheit der Ideengrundlage unserer Bewegung" (die von parteiamtlicher Seite verkündete Harmonie hat sich seit jeher großzügig über die Wirklichkeit hinweggesetzt) und von der „Einheit des Führerprinzips" und folgerte daraus, daß („für uns Nationalsozialisten") Rechtswissenschaft und Rechtspraxis „ein geschlossenes Ganzes" darstellten. Dann (!) aber könne i m Dritten Reich überhaupt nicht mehr i n dem alten Sinn von der ,Gewaltenteilung' die Rede sein. „Es gibt heute nur eine einzige Macht in Deutschland. Das ist die Macht des Führers, die wiederum beruht auf der Ermächtigung durch das deutsche Volk, i n seinem Namen die oberste Gewalt des deutschen Reiches auszuüben. Diese Gewalt des Führers ist nicht aufgeteilt, man kann heute nicht von nationalsozialistischer Gesetzgebung, nationalsozialistischer Verwaltung, nationalsozialistischer Rechtsprechung als drei völlig voneinander geschiedenen Bereichen reden 41."

Dementsprechend konnte auch die alte Ordnung der Zuständigkeitsverteilung nicht mehr gelten. A n ihre Stelle war die Zuteilung „bestimmter" Aufgaben an „bestimmte" Aufgabenträger durch die „ein38

Ebd. Vgl. auch Poetzsch-Heffter, V o m Deutschen Staatsleben, S. 50. So wiederum Huber, S. 160. 40 S. dazu u. § 8 I I , jeweils vor Fußn. 53 u. 65. 41 Hans Frank: DR 1936, S. 214 (Betonungen i m Original). Z u r „Einheit der Staatsgewalt" i m nationalsozialistischen Staat vgl. insbes. E. R. Huber: DJZ 1934, Sp. 950 ff. (954 ff.). 39

5 Anderbrügge

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

heitliche nationalsozialistische Führerreichsgewalt" getreten. Der einzelne Repräsentant des obersten Führerwillens — so wurde verkündet — beziehe seine Macht aus der Legitimation durch den Führer 4 2 . Bestätigung fand man insofern i n gesetzlichen Bestimmungen des NSStaates, die erklärtermaßen „den Neubau des Reiches vollenden" sollten 4 3 . So hieß es etwa i m Vorspruch zum Deutschen Beamtengesetz (DBG) 44 : „Ein i m deutschen Volk wurzelndes, von nationalsozialistischer Weltanschauung durchdrungenes Berufsbeamtentum, das dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, i n Treue verbunden ist, bildet einen Grundpfeiler des nationalsozialistischen Staates." Nach § 1 Abs. I DBG stand der Beamte i n einem öffentlich-rechtlichen Dienstund Treueverhältnis zum Führer und zum Reich, nach Abs. I I derselben Vorschrift war er „Vollstrecker des Willens des von der NSDAP getragenen Staates". Folgerichtig hatte er sich von diesem Gedanken leiten zu lassen, jederzeit rückhaltlos für den NS-Staat einzutreten und dem Führer „Treue bis zum Tode" zu halten (§ 3 Abs. I u. I I DBG). Und nach dem neuen Gemeinderecht führte der „durch das Vertrauen von Partei und Staat" i n sein A m t berufene Bürgermeister (§ 6 Abs. I I DGO) die Verwaltung „ i n voller und ausschließlicher Verantwortung", soweit nicht „zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung m i t der Partei" der „Beauftragte der NSDAP" zur M i t w i r k u n g berufen war (§ 32 Abs. I i. V. m. § 33 DGO). Solche und ähnlich deutliche Gesetzesbestimmungen ebneten i m Bereich der Verwaltung — politisch wie rechtlich betrachtet — den Weg zur totalen Verwirklichung des autoritären Führerprinzips. Finden partielle Verquickungen zwischen der legislativen, der gubernativen und der administrativen Staatsgewalt selbst i n demokratisch verfaßten Gemeinwesen statt, so mag zu erwarten gewesen sein, daß die Überschreitung der Funktionsgrenzen durch den nationalsozialistischen Führerstaat i n diesen Bereichen tatsächlich am zügigsten vonstatten ging. Das alte System der Trennung und gegenseitigen Hemmung der Gewalten konnte indessen als endgültig überwunden gelten, wenn der Führer auch die rechtsprechende Gewalt unter seine Verfügung brachte. Hitler tat dies auf brutalste Weise, als er sich i m Zusammenhang m i t der Niederschlagung des Röhm-Putsches zum „obersten Gerichtsherrn" aufwarf, der — so Carl Schmitt i n seiner berühmten Eloge auf die Maßnahmen vom 30. Juni 1934: — „ i m Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums . . . unmittelbar Recht schafft". Seine Tat sei „echte Gerichtsbarkeit" gewesen, sie habe nicht der Justiz unterstanden, sondern selbst „höchste Justiz" dargestellt. 42

Frank, S. 214. Vgl. die Präambel zur Deutschen Gemeindeordnung v o m 30. Jan. 1935 (RGBl. I, S. 49). 44 V o m 26. Jan. 1937 (RGBl. I, S. 41). 43

§ 7 Das Führerprinzip

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„Der wahre Führer ist i m m e r auch Richter. Aus dem F ü h r e r t u m fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen w i l l , macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers u n d sucht den Staat m i t Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben 4 5 ."

Freisler postulierte sogar, alle Urteile bedürften der Bestätigung des Führers, w e i l die gesamte Staatsmacht einschließlich der richterlichen i n seiner Hand liege 46 . Aus all dem folgt, daß die judikative Gewalt ebenfalls als den Gerichten vom Führer übertragen zu gelten hatte, daß der Führer sie nach eigenem Ermessen auch selbst ausüben konnte 47 . Die Rechtslehre gab i h m damit mehr, als Hitler abgesehen von Ausnahmefällen überhaupt für sich i n Anspruch nahm. Die totale, die allumfassende Führergewalt, so resümiert Gernhuber 48, habe aus sich die Justiz entlassen als „zwar eingegliederten, jedoch eigenständigen Funktionsbereich" m i t Richtern, die allerdings ihre Urteilsgewalt vom Führer ableiteten und i h m — wie die Beamten — Treue schuldeten 49 . Zweifellos lag das Schwergewicht jener Führ erge wait theoretisch i n der besonderen Betonung ihrer obersten rechtsetzenden Funktion, praktisch i n deren denkbar extensivster Beanspruchung. Es ist darauf hingewiesen worden, daß Rechtsetzung i n der Zeit des Dritten Reiches zunächst noch i n der Form des Regierungsgesetzes, dann aber zunehmend i n der des Führergesetzes und schließlich i n der der Führerverordnung, des Führererlasses und sogar jeder rechtlich relevanten Willensäußerung des Führers erfolgte 50 : Jede Entscheidung des Führers bindet als Recht, sofern sie nur den Willen, Recht zu setzen, unzweideutig erkennen läßt 5 1 . Auch dieser letzte, vollends ins Uferlose führende Schritt, die Auflösung eines faßbaren Gesetzesbegriffs, ist von vielen Rechtslehrern der Zeit nachvollzogen worden, indem sie die absolute Identität 45 Carl Schmitt: DJZ 1934, Sp. 945 ff. (946 f.), abgedruckt auch i n : Positionen u n d Begriffe, S. 199 ff. (200). S. dazu auch u. § 13, hinter Fußn. 21. 46 D J 1939, S. 1570. 47 Vgl. Weinkau ff i n : Weinkau ff / Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 86. 48 S. 187 f. 49 Z u r Justiz i m Führerreich u n d zur Gerichtsgewalt des Führers vgl. i. ü. E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 277 ff. 50 Vgl. z. B. n u r Weinkauff a. a. O. Den besten Überblick über die gesamte rechtstheoretische Diskussion der NS-Zeit zu diesem Fragenkreis bietet Kirschenmann, »Gesetz' i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, B e r l i n 1970, m i t einer sehr instruktiven Darstellung der sog. „ F ü h r e r - F o r m e l " als des gemeinsamen Elements nationalsozialistischer Staats- u n d Rechtsvorstellung (S. 53 - 62). 51 Vgl. Leitsatz 3 der „Leitsätze über Stellung u n d Aufgaben des Richters", verfaßt 1936 i m A u f t r a g des Reichsministers u n d Präsidenten der AfDR, Hans Frank, von Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch u n d Siebert: D R W I (1936), S. 123 f.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

von Recht und Führerwille erklärten 5 2 . Sie hatten damit jede kritische Distanz verloren, u m noch zwischen Macht und Recht und letztlich zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können. § 8 Die „völkische Idee" I . Ursprünge und Ausgestaltung i m Nationalsozialismus

Die nationalsozialistische Bewegung begann als eine völkische Partei 1 , und das „Völkische" ist trotz ständig wachsender Bedeutung des Führerprinzips und i n nahezu gleichem Maße abnehmenden Einflusses der völkischen Dogmatiker i n der Partei 2 auch bis zuletzt immer wesentlicher Bestandteil nationalsozialistischen Denkens geblieben. Es konnte sich behaupten, w e i l seine dehnbaren Leitformeln und Programmsätze auch der nationalsozialistischen Politik, die stets behutsam darauf bedacht war, allzu strenger dogmatisch-ideologischer Bindung zu entgehen, weitesten Spielraum ließen und ihr zudem als unerschöpfliches Arsenal einer zeitgemäßen Propaganda von lediglich begrenzter Selbstbindungswirkung — allerdings auch wirklich nur insoweit — sogar noch gelegener sein mußten als die anderen Grundsätze des Nationalsozialismus. Wortverbindungen wie „völkische Weltanschauung", „völkisches Denken" und „völkische Idee" zählten während des ganzen Dritten Reiches zum allgemeinen öffentlichen Sprachgebrauch, und „völkische Weltanschauung" war üblicherweise nichts weiter als ein Synonym der „nationalsozialistischen Weltanschauung": „So sehr die Grundgedanken der nationalsozialistischen Bewegung völkische sind, so sehr sind zugleich die völkischen Gedanken nationalsozialistisch 3 ." Diese völkischen Gedanken, obschon i m Ausgangspunkt wie i m Ziel außerordentlich vielgestaltig, bisweilen sogar einander widersprechend, fanden i m Nationalsozialismus ihr großes Sammelbecken 4 . Denn Hitler verstand es mit einer geschickten Propaganda unter Betonung der „nationalen" Ziele seiner Partei 5 , all diese Strömungen seinem Aufstieg zur Macht dienstbar zu machen und die hinter ihnen stehenden Gruppen für sich zu ge52 So namentlich auch Carl Schmitt, Die Rechtswissenschaft i m Führerstaat: Z d A f D R 1935, S.439 („Gesetz ist Plan u n d W i l l e des Führers"). Etwas zurückhaltender, den F ü h r e r w i l l e n zum „Führerentscheid" relativierend: E. R. Hub er, Verfassungsrecht, S. 242. Vgl. i. ü. die vielfältigen Nachweise bei Kirschenmann, S. 88 ff. 1 Vgl. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, S. 136. 2 S. dazu Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 34. 3 Hitler, M e i n Kampf, S. 514. 4 Vgl. etwa wiederum Broszat, S. 28 f. 5 Die ebenfalls insofern „völkische" waren, als sie auf ein allein aus A n gehörigen deutschen Blutes zusammengesetztes Staatsvolk gerichtet w u r d e n ; vgl. Sontheimer, S. 131.

§ 8 Die „völkische Idee"

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Winnen®, wenngleich er die Partei organisatorisch ihnen gegenüber deutlich abzugrenzen verstand 7 , obendrein einige von ihnen sogar offen als „theoretisierende völkische Sekten", ihre Führer als „bezopfte völkische Theoretiker" oder „deutschvölkische Wanderscholaren" und „Nachtfalter" 8 bespöttelte und überhaupt glaubte — was noch darzustellen sein w i r d —, gegenüber dem Begriff „völkisch" eben wegen seiner Vieldeutigkeit erhebliche Vorbehalte geltend machen zu müssen, ohne ihn deswegen jemals aus seinem politischen Wortschatz zu streichen 9 . Völkische Gruppen bestanden i n Deutschland und Österreich schon vor dem 1. Weltkrieg, erhielten aber vor allem zur Zeit der Weimarer Republik gewaltigen Auftrieb. Die Programme dieser Vereinigungen setzten sich zu großen Teilen aus antisemitischen, germanophilen und antichristlichen Ideen zusammen 10 . Sie sind sämtlich entscheidend gekennzeichnet durch die Betonung antirationaler Affekte: Das „deutsche Wesen" ist von allen fremden Einflüssen abzuschirmen, alles Internationale ist dem Völkischen suspekt und verhaßt. Insgesamt ergibt sich daraus ein Programm der völkischen Autarkie, dessen Hauptforderungen Sontheimer i n seiner Analyse der Weimarer Epoche wie folgt zusammengefaßt hat 1 1 : 1. Auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik: Reinerhaltung des deutschen Blutes vermittels der Rassenhygiene. 2. A u f dem Gebiet der Wirtschaft: Ausschaltung des internationalen Börsenkapitalismus und der weltwirtschaftlichen Verflechtung; Drosselung der industriellen Entwicklung zugunsten einer Stärkung der agrarischen Produktion aus dem Boden als einer besonderen Kraftquelle deutscher A r t . 3. A u f dem Gebiet des Geistes: Konzentrierung auf deutsches Denken unter Ausschaltung fremden Geistesgutes, insbesondere Ausmerzung des widerdeutschen jüdischen Literaturgeistes; i n der deutschen Sprache: Ablehnung bzw. Eindeutschung aller Fremdwörter. 4. I n der Kunst: Pflege artgemäßer und das deutsche Wesen verherrlichender Kunst. 5. I n der Politik: Abschaffung aller fremden westlichen Institutionen und ihre Ersetzung durch einen völkischen Staatsaufbau. 6

Vgl. Scheffler i n : Hartwich (Hrsg.), P o l i t i k i m 20. Jhdt., S. 357. Vgl. Broszat, S. 29 - 32. 8 M e i n Kampf, S. 395, 400. Umgekehrt wurde allerdings v o r Hitlers Machtergreifung von seiten orthodoxer Völkischer m i t u n t e r auch heftige K r i t i k an seinem (taktischen) Vorgehen geäußert. S. dazu Broszat, S. 32 ff. 9 So auch Broszat, S. 34. 10 Scheffler, S. 357. 11 S. 132 f. 7

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1. T e i l : Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

6. I n der Religion: Ersetzung des jüdischen Gottes durch einen deutschen Gott. I n diesen Forderungen, die deutlich bestätigen, daß die völkischen von rassentheoretischen Gedankengängen kaum zu trennen sind, berührte sich das völkische Gedankengut vornationalsozialistischer Gruppen eng m i t Motiven Hitlers und seiner Bewegung. Er vor allem war es, der solch radikal zugespitzte Thesen, sofern es i h m gerade angebracht schien, als aktuelle Ziele i n den politischen Tageskampf einführte 1 2 . Indessen hat es i n der Kampfzeit der Bewegung an einem derart knappen Katalog der hauptsächlichen völkischen Ziele, wie i h n Sontheimer ex post formulieren konnte, noch gefehlt. Die einzelnen völkischen Gruppen konkurrierten miteinander u m die rechte Auslegung ihrer Ideen, und auch die junge nationalsozialistische Partei hatte i n den 25 Punkten zwar ein — letztlich unverbindliches — Parteiprogramm, aber — i n voller Absicht, wie Hitler vorgab 13 — noch kein explizit völkisches Programm anzubieten. So sah Hitler sich i n „Mein Kampf" genötigt, sein Verständnis eines völkischen Begriffs von anderen, sich als völkisch bezeichnenden Vorstellungen abzugrenzen, dessen „parteimäßige Festlegung" einzuleiten und so die völkische Weltanschauung gegen jede abweichende Deutung abzuschirmen, u m ihr endlich die „kampfesmäßige Vertretung" zu ermöglichen, die Voraussetzung für ihren Sieg sei 14 : Das vielfach i n Anspruch genommene W o r t »völkisch4 sei infolge seiner begrifflichen Unbegrenztheit keine mögliche Grundlage f ü r eine Bewegung u n d biete, da ein jeder sich darauf berufen könne, keinen Maßstab f ü r die Zugehörigkeit zu einer solchen. Daher führe die Einschiebung eines derart unbestimmbaren u n d so vielseitig auslegbaren Begriffes i n den politischen K a m p f zur Aufhebung jeder „strammen Kampfgemeinschaft", w e i l diese dem einzelnen die Bestimmung seines Glaubens u n d Wollens nicht selbst überlassen dürfe 1 5 . M i t dem Begriff »völkisch' verhalte es sich etwa w i e m i t dem Wort,religiös', unter dem m a n sich auch n u r schwer etwas ganz Präzises v o r stellen könne u n d das erst i n dem Augenblick faßlich werde, i n dem es sich m i t einer bestimmt umrissenen Form seines praktischen Auswirkens v e r binde1®. Ebenso müsse auch die Bezeichnung ,völkisch' erst i n den Rahmen einer politischen Partei gefaßt werden, damit sich die i n i h r liegenden grundsätzlichen Erkenntnisse, trotz ihrer eminenten Bedeutung der F o r m nach bis dahin noch unbestimmt, über den Wert einer mehr oder minder anzuerkennenden Meinung erheben könnten 1 7 . Denn jede Weltanschauung — also auch eine völkische — werde f ü r die praktische Ausgestaltung eines Völkerlebens so lange ohne Bedeutung bleiben, als ihre Grundsätze nicht zum Panier einer 12 13 14 15 16 17

Schefîler, S. 357. M e i n Kampf, S. 397. S. 423. Ebd., S. 397 f. Ebd., S. 416. Ebd., S. 417.

§ 8 Die „völkische Idee"

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Kampfbewegung geworden seien, die ihrerseits wieder so lange Partei bleibe, als sich i h r W i r k e n nicht i m Siege ihrer Ideen vollendet habe u n d ihre Parteidogmen die neuen Staatsgrundsätze der Gemeinschaft eines Volkes bildeten 1 8 . U m dieses Ziel zu erreichen, müsse also aus der allgemeinen — völkischen — Weltanschauung ein bestimmtes politisches Programm geprägt werden, das die Umsetzung jener idealen Vorstellung von höchster Wahrhaftigkeit i n eine k l a r begrenzte, „straff organisierte, geistig u n d willensmäßig einheitliche politische Glaubens- u n d Kampfgemeinschaft" garantiere 1 9 . N a t ü r l i c h n a h m Hitler f ü r sich i n A n s p r u c h , u n b e d i n g t e K l a r h e i t ü b e r d e n „ s i n n g e m ä ß e n i n n e r s t e n K e r n " des v ö l k i s c h e n Begriffs g e w o n n e n z u h a b e n u n d die „ a p o d i k t i s c h e K r a f t " z u besitzen, „aus d e r s c h w a n k e n d e n V o r s t e l l u n g s w e l t der b r e i t e n Masse g r a n i t e n e G r u n d s ä t z e zu formen" 20: Die völkische Weltanschauung erkenne die Bedeutung der Menschheit i n deren rassischen Urelementen. Der Staat sei i h r prinzipiell n u r ein M i t t e l zum Zweck, der Zweck aber sei die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen. Sie glaube nicht an eine Gleichheit der Rassen, sehe m i t deren Verschiedenheit auch deren Verschiedenwertigkeit u n d fühle sich daher v e r pflichtet, gemäß dem i m Universum herrschenden ewigen Wollen den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern u n d die Unterordnung des Schlechteren u n d Schwächeren zu verlangen. Einer ethischen Idee, die das rassische Leben der Träger einer höheren E t h i k gefährde, billige sie grundsätzlich k e i n Existenzrecht zu. So entspreche die völkische Weltanschauung dem „innersten Wollen der N a t u r " , huldige sie i h r e m „aristokratischen Grundgedanken", da sie jenes „freie Spiel der K r ä f t e " wiederherstelle, das endlich zum „besten Menschentum" führe: zur höchsten Rasse, dem Herrenvolk 2 1 . Doch „eine so allgemeine Feststellung des sinngemäßen Inhalts einer völkischen W e l t anschauung" genüge eben noch nicht. I h r e organisatorische Erfassung verlange nach der bestimmten Formulierung i n den Parteigrundsätzen der sich bildenden politischen Partei, dem Instrument also, das jene „kampfesmäßige Vertretung" ermögliche 2 2 . So übernehme die N S D A P aus einer a l l gemeinen völkischen Weltvorstellung die wesentlichen Grundzüge u n d forme aus ihnen, „unter Berücksichtigung der praktischen Wirklichkeit, der Zeit u n d des vorhandenen Menschenmaterials sowie seiner Schwächen", ein politisches Glaubensbekenntnis, das seinerseits i n der so ermöglichten straffen organisatorischen Erfassung großer Menschenmassen die Voraussetzung f ü r die siegreiche Durchfechtung dieser Weltanschauung selber schaffe 23 . D o c h o b w o h l Hitler sogar b e t o n t e , seine eigene A u f g a b e besonders d a r i n z u sehen, „aus d e m u m f a n g r e i c h e n u n d u n g e s t a l t e t e n Stoff e i n e r a l l g e m e i n e n W e l t a n s c h a u u n g d i e j e n i g e n K e r n i d e e n herauszuschälen u n d i n m e h r oder m i n d e r dogmatische F o r m e n u m z u g i e ß e n , die i n i h r e r k l a r e n B e g r e n z t h e i t sich dazu eignen, j e n e Menschen, die sich d a r a u f 18 19 20 21 22 23

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 418. S. 418 f. Z u m ganzen Abs. s. auch ebd., S. 513 ff. S. 419. S. 420 - 22. S. 422 f. S. 424.

1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

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verpflichten, einheitlich zusammenzufassen" 24 , blieb er — und das mag bezeichnend für i h n sein — jene vielbeschworene programmatische Formulierung der völkischen Idee schuldig. So bestätigt sich auch an diesem entscheidenden Beispiel, daß Hitler i m Interesse der persönlichen Macht „ständig auf der H u t vor der A k t u a l i t ä t " war und daß Grundsätze i h m dabei nur i m Wege sein konnten 2 5 . Auch das Parteiprogramm von 1920, auf das er sich mehrfach bezog 26 und das seinen wiederholten Forderungen nach einem knapp formulierten politischen Glaubensbekenntnis vordergründig genügen mochte, tatsächlich aber unscharf genug war, i h m für seine zwar auch ideologisch motivierten, doch i n erster Linie machtpolitisch bestimmten Ziele freie Hand zu lassen, trug ja nicht eigentlich den Charakter eines „völkischen Manifests", mögen i n i h m auch manche Gedanken anklingen, die sich als „völkisch" bezeichnen ließen. So bleibt gerade nach den dogmatischen Äußerungen Hitlers und seiner Partei einstweilen unklar, was nun wirklich unter dem „parteimäßig festgelegten" Begriff „völkisch" zu verstehen ist. Einzelne vage Hinweise geben allerdings die folgenden Kapitel von „Mein Kampf", i n denen der Begriff i n den verschiedensten Verbindungen beinahe stereotyp und dabei — wie es scheint — eher zufällig und beziehungslos immer wieder auftaucht, am bedeutsamsten wohl i m „völkischen Staatsgedanken" 27 , dann aber auch neben Begriffen wie Persönlichkeit, Organisation, Bewegung 28 — aber nur allzu häufig ausgerechnet i n jener von Hitler abgelehnten, w e i l ohne klare Eingrenzung politisch unfruchtbaren Verbindung m i t einer „idealen Vorstellung": i n der (allgemeinen) völkischen Weltanschauung 29 . Ähnliches gilt für Andeutungen i n Hitlers Reden. So spricht er nach der Machtergreifung von dem „unerschütterlichen Willen" seiner „Nationalen Regierung", „die ewigen Fundamente unseres Lebens" zu wahren: „Unser Volkstum und die i h m 3 0 gegebenen Kräfte und Werte", die „großen Traditionen unseres Volkes" zu pflegen als „unversiegbare Quellen einer wirklichen inneren Stärke", alle „ w i r k l i c h lebendigen Kräfte des Volkes als die tragenden Faktoren der deutschen Zukunft" zu erfassen und schließlich eine „wahre Gemeinschaft" des gesamten deutschen Volkes aufzubauen 31 . I m Sinne einer „durchgreifende(n) moralische(n) Sanierung an 24

Ebd., S. 423. Jost Nolte : Der Monat, Heft 213 (Juni 1966), S. 77; vgl. auch o. § 6 I, vor Fußn. 23. 26 I n diesem Zusammenhang i m m e r h i n einschränkend: S. 397. Z u seiner H a l t u n g zum Programm s. i. ü. o. § 6 I, T. ab Fußn. 12. 27 S. 492 ff., 500 ff., 504 f., 672 f. 28 Ebd., S. 405 ff., 513 ff., 598 f. 29 Ebd., z. B. S. 499, 513. 30 E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 41, zitiert: „ i n i h m " . 31 Rede v o m 21. März 1933 i n der Garnisonkirche zu Potsdam: Klöss, Reden des Führers, S. 91 f. 25

§ 8 Die „völkische Idee"

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unserem Volkskörper" habe das Erziehungswesen — Theater, Film, Literatur, Presse, Rundfunk — „der Erhaltung der i m Wesen unseres Volkstums liegenden Ewigkeitswerte zu dienen" 32 . Schärferen Umriß gewinnen derart verblasene Formulierungen erst, wenn Hitler sie m i t seinen rassentheoretischen Vorstellungen 33 verknüpft und dabei unverblümt ihren eigentlich instrumental-aggressiven Charakter freilegt: Das gesunde V o l k werde „die den Bedürfnissen seines eigenen klaren Wesens entsprechendste Stellungnahme zu allen Lebensforderungen, die i h m bewußt werden", seine natürlichste und damit nützlichste Weltanschauung, „einfach aus dem i h m angeborenen Selbsterhaltungstrieb instinktsicher finden". Die Gleichheit der Lebewesen einer bestimmten A r t erspare damit förmlich die Aufstellung bindender Regeln und verpflichtender Gesetze34. Von hierher ist es nur ein kleiner Schritt zu der berüchtigten Maxime nationalsozialistischvölkischen Rechtsdenkens, die der spätere „Reichsrechtsführer" Hans Frank erstmalig schon 1926 formulierte: „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was i h m schadet, ist Unrecht 35 ." Jene instinktsicher auf den eigenen Nutzen gerichtete „natürlichste Lebensäußerung" eines Volkes ist nach nationalsozialistischer Lehre rassegebunden. Das Volk selbst w i r d i n ihr schließlich zu einer Funktion der Rasse. Dementsprechend verkündete Hitler, die nationalsozialistische Weltanschauung — die eigentliche Lebensauffassung des deutschen Volkes — bekenne sich „zu einer heroischen Lehre der Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit sowie der ewigen Auslesegesetze". Habe sie bislang schon die „ihrer innersten Veranlagung nach" zu ihr Gehörenden i n einer „organische(n) Gemeinschaft" erfaßt, so führe sie fortan zwangsläufig zu einer i n ihren Auswirkungen noch nicht abschätzbaren Neuorientierung auf fast sämtlichen Gebieten des völkischen Lebens 36 . A u f dem Boden der nationalsozialistischen Rassentheorie 37 ist diese „völkische Neuorientierung" schon i m Dritten Reich zu einer schrecklichen Wirklichkeit geworden. Wenn Hitler während des Krieges überdies noch i n Aussicht stellte, das Nachkriegsdeutschland werde nationalsozialistisch sein „ i m Sinne einer wirklichen Erfüllung 32

Regierungserklärung v o m 23. März 1933: Klöss, S. 98. Vgl. dazu auch seine bereits o. (zw. Fußn. 20 u. 21) wiedergegebenen dogmatischen Thesen. 34 Rede v o m 1. Sept. 1933 auf der K u l t u r t a g u n g des Parteitages i n M ü n chen: Klöss, S. 109. 35 So i n einem V o r t r a g v o r Juristen i m Union-Saal i n München: Oers., Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, Einleitung, S. X I V . 36 Ebenfalls Rede v o m 1. Sept. 1933: Klöss, S. 110 f. Vgl. auch Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 10. 37 S. dazu des näheren u. § 9. 33

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

unserer Ideen einer wahren Volksgemeinschaft" 38 und die Zukunft der wahren Kulturvölker werde „ i m Dienste der nationalen Interessen überall immer mehr der wahren Volksgemeinschaft als höchstem Ideal zustreben" 39 , dann w i r d vor dem Hintergrund eben jener Rassenideologie erst wirklich deutlich, wie zynisch hier vorgeblich „völkische" Ideale zur Erreichung des eigentlichen Zweckes einer perfekten „Auslese wertvollen Blutes" eingesetzt wurden, zu welch unheilvoller „Endlösung" die „völkische" Entwicklung also letztlich hätte führen sollen. I I . Weiterentwicklung in der (Rechts-)Wissenschaft

Es mag zutreffen, daß diese Zielvorstellung Hitlers und seiner engsten Gefolgsleute i n ihrer ganzen Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit für die pure Existenz großer Teile des deutschen Volkes doch so weitgehend verschleiert blieb, daß sie von der völlig unkritisch gewordenen Öffentlichkeit, die noch geduldet war, nicht erkannt worden ist. U m so nachhaltiger aber stellt sich die Frage, ob sie nicht wenigstens einem zu kritischer Analyse befähigten Wissenschaftler hätte durchschaubar sein müssen, wenn er sich schon — wie es Hitlers Interpreten i n der akademischen Lehre ja taten — m i t den insoweit übereinstimmenden veröffentlichten Äußerungen der Führungsspitze sowohl aus der Zeit der Bewegung vor wie aus der des Regimes nach 1933 befaßte. Gleichwohl gingen diese Wissenschaftler unmittelbar nach der Machtergreifung mit diensteifriger Beflissenheit insbesondere daran, das sogenannte völkische Moment i m Nationalsozialismus auszugestalten und es für die einzelnen Fachrichtungen verfügbar zu machen, oder allgemeiner: die zwar pompös und theatralisch vorgetragenen, inhaltlich aber dürftigen und unklaren, wissenschaftlich völlig haltlosen, ja unsinnigen Gedankengänge, die Hitler seinen aggressiven Zielen unterlegte, zu „verwissenschaftlichen", d. h. ihnen die wissenschaftliche Form und Technik zu liefern, sie zu systematisieren, also so weit auf- bzw. einzuarbeiten, bis das i n Jahrhunderten entstandene gedankliche Rüstzeug einer wissenschaftlichen Disziplin auf sie anwendbar wurde 4 0 . Das neue „völkische Denken" m i t seinem totalen Geltungsanspruch 41 und seiner er38

Rede v o m 30. Sept. 1942 i m Berliner Sportpalast: Klöss, S. 294. Rede v o m 21. März 1943 — Z u m Heldengedenktag — i m Lichthof des Berliner Zeughauses: Klöss, S. 301. 40 Vgl. Hill, Gleichheit u n d Artgleichheit, S. 263 f.; Weinkauff i n : Weinkauff I Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 39, 79, 82. Es ist allerdings auch anzumerken, daß einige Wissenschaftler demgegenüber entschieden eine radikale A b k e h r von den überkommenen wissenschaftlichen Begriffen u n d Gedankengängen forderten. So ζ. B. für den Bereich des „neuen Staatsrechts" Höhn, Die Wandlung i m staatsrechtlichen Denken, S. 15, 43 ff. 41 S. ζ. B. Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 10. 39

§ 8 Die „völkische Idee"

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klärten Irrationalität 4 2 drang allmählich sogar i n Bereiche ein, die sich einer heteronomen Bestimmung weitgehend verschließen. So propagierte man die „völkische Wirtschaft", eine i n ihren Aufgaben und Zielen vom völkischen Geschehen bestimmte, „völkischen Lebensgesetzen vorbehaltlos verpflichtet(e)" Wirtschaftsordnung 43 , eine „deutsche Physik, . . . rassisch, blutmäßig bedingt" 4 4 , überhaupt eine nach völkischen Gesichtspunkten zu bewertende Naturwissenschaft 45 , eine von der „rassisch-politische(n) Weltanschauung" angeleitete „völkischpolitische Anthropologie i m Mittelpunkt eines vom Leben her geschaffenen und gedeuteten Weltbildes" als „Kernstück" eines aus dem „Chaos wissenschaftlicher Einzelerkenntnisse" entstehenden „neuen Kosmos . . . der Wissenschaften" 46 . Auch etwa die Geschichtsschreibung sollte den Weg der neuen Wissenschaft zur Gestaltung des nationalsozialistischen Menschen und der völkischen Lebensordnung gehen, Treitschkes Vorb i l d folgend „mitten aus dem Lager ihres kämpfenden Volkes wachsen und diesem Volk sein Kampflied schaffen", i h m i n seinem Schicksalskampf bestmöglich nützen, „ m i t dem Leben verbunden" sein und auf dem „fruchtbaren Mutterboden" der nationalsozialistischen Weltanschauung ruhen 47 . Der allgemeine Durchbruch des völkisch-nationalen Denkens auch i m Bereich der Wissenschaft vollzog sich nicht von ungefähr. Er wurde dadurch mitverursacht, daß bei vielen, namentlich den vom deutschen Idealismus geprägten Wissenschaftlern, die wie überhaupt die führenden Schichten i n Deutschland Demokratie und Nation schon immer weitgehend als etwas Gegensätzliches begriffen und daher der Weimarer Republik m i t tiefer Skepsis und Ablehnung gegenübergestanden hatten 48 , tatsächlich eine gewisse Affinität zu diesem Denken 42 Vgl. etwa die bezeichnende Gegenüberstellung „Rationale Staatsverfassung des Liberalismus — völkische Lebensordnung des Nationalsozialismus" i n Freislers so betiteltem Beitrag zur Festschr. f. Heinrich Lehmann, B e r l i n 1937, S. 43 - 53, sowie i. e. die Nachweise u. zu § 18. 43 H e r m a n n Messerschmidt, zit. bei Walther Hof er, Dokumente, S. 84. 44 Philipp Lenard: Hof er, S. 98. 45 Johannes Stark: Hof er, S. 99 (Stark u n d Lenard waren als Nobelpreisträger i m m e r h i n international anerkannte Wissenschaftler!). 46 Ernst Krieck: Hofer, S. 100. Vgl. auch Kriecks dreibändige „Völkischpolitische Anthropologie", Leipzig 1936/37/38. 47 Walter Frank — allerdings i n deutlicher Abgrenzung gegenüber den „Rassenmythologen" —, zitiert nach Heiber, Liberale u n d nationale Geschichtsschreibung, i n : Nationalsozialismus u n d die deutsche Universität (Universitätstage 1966, Veröffentlichung der Freien Universität Berlin), B e r l i n 1966, S. 109 - 125 (111, 123). 48 S. dazu insbes. Sontheimer, Antidemokratisches Denken, z. B. S. 17 f., 24 f.; ferner etwa Lieber, Die deutsche Lebensphilosophie u n d ihre Folgen, S. 96; Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 39, 48, der diese Entwicklung v o r allem auf den traditionellen Einfluß der Hegeischen Staatsmetaphysik i n der deutschen Bildungsschicht zurückführt. Dagegen hebt Golo Mann,

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

bestand 49 . Nur so läßt es sich erklären, daß es dem Nationalsozialismus gelingen konnte, zumindest alle gesellschaftlich relevante Wissenschaft auf sein weltanschauliches Substrat zu verpflichten, also nach externen Zwecken auszurichten, und damit Umfang und Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit bisweilen sogar bis ins Detail auf politisch-ideologisch erwünschte Ziele h i n festzulegen. Das gilt insbesondere auch für den Bereich der Rechtswissenschaft, i n der die weitere Ausgestaltung der völkischen Idee zum „völkischen Rechtsdenken" — hier nicht als Dachbegriff 50 , sondern i n einem engeren, unmittelbaren Sinne als Zurückführung des Rechts und seiner Geltung auf Formeln wie das „gesunde Volksempfinden", die „herrschende Volksanschauung" oder das „Rechtsgewissen des Volkes" verstanden 51 — weithin bestimmenden und i m einzelnen über die allgemeine Bedeutung des völkischen Elements i m Verhältnis zu den anderen Leitgedanken des Nationalsozialismus vielfach noch hinausgehenden Einfluß auf Theorie und Dogmatik gewann. I n diesem erklärt völkischen Rechtsdenken treten die charakteristischen Leitsätze der prinzipiellen völkischen Denkweise, wie sie über den Kreis der Parteitheoretiker hinaus vor allem auch von den Interpreten der nationalsozialistischen Weltanschauung i n den Wissenschaften entwickelt wurden, besonders deutlich hervor: Entgegen der vom Rationalismus geprägten liberalistischen Auffassung der Weimarer Epoche, nach der Volk lediglich die organisierte Zusammenfassung aller i m Gebiete eines Staates m i t staatsbürgerlichen Rechten ausgestatteten Personen gewesen sei 52 , w i r d das völkische Denken vom Leitbild der geschlossenen Volksgemeinschaft, vom „Wesen der Ganzheit V o l k " als einer „biologischen Lebenseinheit" 53 bestimmt. Man betont neben den Kulturgemeinsamkeiten — Volkstum, Sprache und das gemeinsame geschichtliche Erleben — vor allem die Deutsche Geschichte, S. 719 - 737, eher die „Vielspältigkeit" jener demokratiefeindlichen Strömungen hervor. 49 Vgl. insbes. Eduard Baumgarten, Nachwort zu: Anger, Probleme der deutschen Universität, S. 670. 50 S. dazu o. § 1, Fußn. 7. 51 S. dazu des näheren u. § 141, hinter Fußn. 21. 52 So ζ. B. Lungwitz, Die Bedeutung des Grundsatzes der Gleichheit i m liberalen u n d i m neuen Staatsrecht, S. 35. E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 14 f., kennzeichnet den Volksbegriff der Weimarer Verfassung antithetisch als etatistisch (Volkszugehörigkeit gleich Staatsangehörigkeit, unabhängig von Rasse, Sprache u n d Geschichte), liberal (Volk als Summe freier Individuen, nicht als organische, gewachsene Einheit) u n d parteimäßig (Zerfall der Volkseinheit i n den Pluralismus eines totalen Parteiensystems). Vgl. auch ebd., S. 151. 53 Koellreutter, S. 10. E. R. Huber, Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 143, spricht von einer „naturhaften Gemeinschaft", die „ i h r Wesen organisch erlebt".

§ 8 Die „völkische Idee"

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sogenannten Naturgemeinsamkeiten des Volkes: die Rasse und das Leben i n einem bestimmten Raum, der Heimat 5 4 , und feiert diese kulturellen und biologischen Bestandteile der Schicksalsgemeinschaft Volk gemeinsam als „die vorgegebenen Konstanten zu einem erstaunlich weiten Bereich der Daseinszüge und Entschlußmöglichkeiten des einzelnen" 5 5 . Doch die geforderte „lebendige natürliche Auffassung" 5® führt dann am Ende sehr einseitig zu B l u t und Boden als den „konstitutiven Elementen" eines „nationalsozialistischen Volksbegriffs" 57 . Über die Zugehörigkeit zum Volk entscheiden die natürliche Verbundenheit des Blutes und die durch das Schicksal bedingte Lebensgemeinschaft, d.h. Rasse und geistige Wesensart 58 , geprägt durch das Leben i n einem gemeinsamen Raum. B l u t und Boden als solche gelten bereits als natürliche Grundwerte und bilden mit der organischen Wesenheit des Volkes erst die wirklichen, nämlich völkischen Grundlagen jeder echten Kultur59. Die solcher Betrachtungsweise eigene gesteigerte Irrationalität verhinderte keineswegs, daß die völkische Doktrin i m politischen, staatlichen und rechtlichen Bereich ihren spürbaren Eindruck hinterließ. Eher schon hätte die letztlich tatsächlich wie theoretisch dominierende Bedeutung der politischen Führung i n Partei und Staatsapparat dem entgegenstehen können. Doch auch ungeachtet des sich hier andeutenden Widerspruchs zwischen autoritärem und völkischem Prinzip, den der Nationalsozialismus weder zu lösen verstand noch überhaupt aufzuheben versuchte 60 , wurde das Volk als „Urgrund des politischen Geschehens" 61 , als die eigentliche politische Größe 62 hingestellt, die i n Erfüllung einer geschichtlichen Aufgabe „allen übrigen Erscheinungen ihren Sinn und ihre innere Richtung (gibt)" 6 3 . Insbesondere Staat und Recht erhalten durch die „alldurchdringende Wirkung des völkischen Prinzips eine neue lebendige ßezogenheit und einen neuen konkreten Sinn": Danach ist der Staat i m Nationalsozialismus aus einem selbst34 So insbes. Koellreutter, S. 70 f. Vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 153, der nach objektiven u n d subjektiven Faktoren des Volksbegriffs unterscheidet. 55 Gehlen, Der Staat u n d die Philosophie, S. 17. S. dazu Lieber, S. 105 f. 56 Lungwitz, S. 35. 57 Koellreutter, S. 70 f. 58 Lungwitz, S. 35. 59 Koellreutter, S. 69 f. 60 S. dazu z.B. u. §11, Abs. vor Fußn.41, u n d auch bereits o. §711, vor Fußn. 35. 61 E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 160. 62 Koellreutter, S. 10 u n d 67 ff. 63 E. R. Huber, Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 143.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

zweckhaften Herrschaftsgefüge zum völkischen Staat, das Recht aus einem abstrakten Normengefüge zum völkischen Recht geworden 64 . A n die Stelle eines Systems völkischer Zerrissenheit und Ohnmacht, wie es sich i m Verfassungskern von Weimar offenbart habe, sind die Grundsätze der völkischen Verfassung getreten: die „Prinzipien der völkischen Einheit und Ganzheit" i m völkischen Führerstaat 65 , i n dem nach Hitlers Worten das Volk auf einzigartige Weise die „nationale Ehre wiederhergestellt" und die „Vermählung zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen K r a f t vollzogen" hat 6 6 . Der harte Kern hinter all solchen Floskeln zeigt sich schließlich bei der Frage nach der Rechtsstellung des einzelnen Bürgers i n diesem völkischen Staat 67 . Sie ist wesentlich gekennzeichnet durch Parolen wie „ D u bist nichts, Dein Volk ist alles", „Erst kommt das Volk und dann der einzelne" oder auch „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" 6 8 : A n die Stelle subjektiver öffentlicher Rechte gegen den Staat t r i t t die „pflichtgebundene gliedhafte Rechtsstellung des Volksgenossen i n der Gemeinschaft" 69 . Die wenigen noch verbleibenden Rechte sind dem einzelnen vom Führer verliehen, und zwar allein u m der Gemeinschaft willen 7 0 . Alle Berechtigungen bestehen daher nur als pflichtgebundene Berechtigungen 71 , und gegen die politische Führung endlich gibt es überhaupt keine subjektiven öffentlichen Rechte 72 . 84

Ders., ebd. Ders., Verfassungsrecht, S. 51. 66 Rede v o m 21. März 1933 i n der Garnisonkirche zu Potsdam: Klöss, Reden des Führers, S. 90 f. 67 S. dazu des näheren u. § 14 I I b. 68 Diese Formeln finden sich als „Leitsätze" des „Rechts der Gemeinschaft", i n dessen Vordergrund das V o l k als „edelste Gemeinschaft" steht, etwa bei Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 13, 44. Der dem P u n k t 24 des Parteiprogramms von 1920 entnommene nationalsozialistische Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" (s. dazu bereits o. § 6 I , hinter Fußn. 11) wiederum wurde u. a. von Frick m i t dem leicht abgewandelten Franksdien Leitsatz „Recht ist, was dem deutschen Volke nützt, Unrecht ist, was dem deutschen Volke schadet" (s. dazu ο. I, bei Fußn. 35) gleichgesetzt: Hans Buchheim, A r t . „Nationalsozialismus", I I 3, i n : Staatslexikon, Bd. 5. S. i. ü. auch u. § 14 I a, T. ab Fußn. 37, u n d § 17, T. ab Fußn. 69. 69 E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 364 ff. Ähnlich etwa Larenz, Rechtsperson u n d subjektives Recht, i n : Ders. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, insbes. S. 244 ff., u n d Maunz, Verwaltung, S. 51 ff. Vgl. zu diesem Fragenkreis ferner: Peter Thoss, Das subjektive R e d i t i n der gliedschaftlichen Bindung. Z u m Verhältnis von Nationalsozialismus u n d P r i v a t recht, F r a n k f u r t / M . 1968. 70 Vgl. wiederum Huber, S. 365, 367, sowie Kraiss, S. 45, der dem Führer überdies die unbedingte Befugnis einräumt, auch diese Redite des einzelnen noch weiter zu beschränken (ebd.). 71 S. Huber, S. 366. 72 Vgl. Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 31, 35 f. 65

§ 9 Die Rassentheorie

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§ 9 Die Rassentheorie I. Die nationalsozialistische Rassenlehre

Es ist i m Voraufgegangenen schon verschiedentlich angemerkt worden, daß das, was i m NS-Sprachgebrauch als (originäre) Weltanschauung, als die Idee des Nationalsozialismus bezeichnet wurde, i n Wirklichkeit ein Mischgebilde, ein „Konglomerat" oder gar „Ideenbrei" war, charakterisiert durch das Vage, Ungefähre, bewußt Unbestimmte seiner sogenannten Ideen. Nicht einmal i m Sinne geistiger Durchdringung biologischer Gegebenheiten war der Nationalsozialismus Idee 1 . Seine Rassenlehre, die sich m i t der Aura strenger Wissenschaftlichkeit umgab und der an den Universitäten sogar eigene Lehrstühle errichtet wurden, war i n Wirklichkeit — darin sind sich ihre K r i t i k e r einig — eine bloße Pseudowissenschaft. So mußten etwa sprachwissenschaftliche Kategorien, mit anthropologischen Theorien vermischt, zur Begründung biologischer Rassenverwandtschaft herhalten 2 . Ebensowenig wie die verschwommenen, irrationalen Volkstumstheorien des Nationalsozialismus auf einem eindeutig umrissenen Volksbegriff fußen, läßt sich die NS-Rassenlehre auf einen klar abzugrenzenden, wissenschaftlich haltbaren Rassebegriff zurückführen. Als streng wissenschaftlicher Begriff läßt sich das Wort Rasse nur i m biologischen Sinne verwenden, und zwar i n der Zoologie zur Bezeichnung einer der „ A r t " (ζ. B. Pferd, Hund) zugehörigen Untergruppe, die ihrerseits wiederum m i t bestimmten gemeinsamen, gegenüber anderen Untergruppen unterscheidbaren vererblichen Merkmalen ausgestattet ist, sowie — übertragen — i n der (naturwissenschaftlichen) Anthropologie, obgleich die Übertragung des Rassebegriffs auf den Menschen nicht unproblematisch ist, w e i l sich zwar nach Hautfarbe, Haarform und Körperproportionen eine gewisse Einteilung der Menschen i n Rassen treffen läßt, sich aber andererseits Völker weniger durch vererbliche Merkmale als durch umweltgeprägte Eigenschaften unterscheiden und zudem auch umstritten ist, wo die Grenze zwischen biologisch vererblichen und erworbenen Merkmalen verläuft 3 . Eine Verwendung die1 Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 21. S. auch o. insbes. § 3, T. zu u. ab Fußn. 14 u n d die dortigen Hinweise. 2 Vgl. Hof er, Dokumente, S. 15, u n d Scheffler i n : Hartwich (Hrsg.), Politik i m 20. Jhdt., S. 354 f., die auf die H e r k u n f t von Begriffen w i e „arisch" u n d „semitisch" aus der Sprachwissenschaft hinweisen. Doch selbst angesichts derart schwerwiegender Verstöße gegen die elementarsten Grundsätze der Wissenschaftlichkeit u n d Rationalität hat es, w i e Topitsch feststellt (Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 48), i n der (nach Topitsch' Auffassung hegelianisch geprägten) deutschen Bildungsschicht k a u m Vorbehalte gegen die Rassenideologie des Hitlerreiches gegeben. Richtiger müßte m a n freilich sagen: es sind n u r wenige geäußert worden, denn von vorbehaltloser Zustimmung k a n n gewiß auch nicht die Rede sein. 3 Vgl. Herrfahrdt, A r t . „Rasse", 1, i n : Evgl. Staatslexikon.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

ses genuin wertfreien, naturwissenschaftlich-deskriptiven Rassebegriffs, die die i h m gezogenen engen fachlichen — ζ. B. durch Einführung auch i n den Bereich der K u l t u r - und Sozialwissenschaften — und funktionellen Schranken überschreitet — etwa als Wertkategorie —, hingegen ist jedenfalls unzulässig. So kann man i n der Zoologie zwar von höheren und niederen Arten, Gattungen und Stämmen sprechen, nicht aber von höheren und niederen Rassen, da die Rassen derselben A r t jeweils ein optimales Angepaßtsein an bestimmte Lebensbedingungen darstellen 4 . Ebensowenig läßt sich der Rassebegriff als K r i t e r i u m für eine differenzierende Wertbestimmung innerhalb des menschlichen sozialen, kulturellen und politischen Lebens heranziehen, wie es — gewiß nicht allein durch den Nationalsozialismus, sondern auch zu anderen Zeiten und von anderen inhumanen ideologischen Bewegungen — immer wieder geschehen ist zur Rechtfertigung unterschiedlicher Behandlung, insbesondere rechtlicher Benachteiligung bestimmter Menschengruppen durch solche, die jeweils nur für sich i n Anspruch genommen haben, einer „höheren Rasse" anzugehören, und wie es für primitive Gesellschaften vielleicht sogar selbstverständlich sein mag. Jegliche Verwendung des Rassebegriffs bei der Verfolgung ideologischer Ziele entlarvt sich also von vornherein als dessen Mißbrauch zu einem freilich seit jeher recht wirksamen Schlagwort i m Kampf u m die Erringung und Behauptung politischer Macht. Es w i r d i m folgenden zu zeigen sein, daß die Nationalsozialisten bei der Verwirklichung ihrer rassischen Vorstellungen auf eine echte Begründung durch einen wissenschaftlich haltbaren Rassebegriff tatsächlich kaum Rücksicht nahmen und ihr Vorgehen, sofern sie es in seinen brutalsten Formen nicht völlig zu verbergen verstanden, allenfalls mit Scheinargumenten zu rechtfertigen versuchten. Die völlige begriffliche Verwirrung der nationalsozialistischen Rassenlehre, zugleich auch ihre einseitige ideologische Zuspitzung und ihre primär propagandistische Funktion werden deutlich, wenn ausgerechnet die Rasse zum konstitutiven Element für den „nationalsozialistischen Volksbegriff" erhoben wird 5 , also für die durch ihre angeblichen „Naturgemeinsamkeiten" ausgezeichnete „Ganzheit V o l k " als eine „biologische Lebenseinheit" 8 . Dabei war auch den Urhebern solcher Rassen- und Volkstumsmythologie bewußt, daß das deutsche Volk alles andere als eine rassische Einheit darstellte 7 . Hitler selbst beklagte, daß „unser deutsches Volkstum" nicht mehr auf einem einheitlichen rassischen Kern beruhe, daß „blutsmäßige Vergiftungen" i n „unserem Volkskörper" zu 4

Ebd. So von Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 71. 8 S. o. § 8 I I , bei Fußn. 53 u. 54. 7 Vgl. ζ. B. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 576. Gleiches gilt übrigens auch für den zuvor zitierten Koellreutter, S. 71, 87. 5

§ 9 Die Rassentheorie

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einer „Zersetzung unseres Blutes und unserer Seele" geführt hätten, so daß i h m jener „sichere Herdeninstinkt" fehle, der i n der „Einheit des Blutes" begründet liege und besonders i n gefahrdrohenden Momenten Nationen vor dem Untergang bewahre 8 . Und der vom Nationalsozialismus vielfach geförderte Rassentheoretiker Hans F. K . Günther stellte klar, daß die durch gleiche Sprache, gleiche Sitten oder gleichen Glauben zu einem Volke verbundenen Menschengruppen, insbesondere alle abendländischen Völker, Rassengemische, nicht aber Rassen seien9. Wer von einer „deutschen Rasse" oder einer „jüdischen Rasse" spreche, verrate damit nur seine Unkenntnis von den Grundbegriffen, da er die Begriffe „Rasse" und „ V o l k " nicht zu scheiden vermöge und sprachliche Zugehörigkeit mit rassischer verwechsele 10 . Doch diese Einsicht hinderte den NS-Rassengesetzgeber — „durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern" 11 — nicht, die i m Interesse der „Rassenhygiene" erforderliche Feststellung, wer Jude sei, also den bisweilen schwierigen Nachweis der biologischen A b stammung, m i t Hilfe der Religionszugehörigkeit, und damit eines wohl unbestreitbar geistigen Kriteriums, erbringen zu lassen 12 . Wenn also 8 M e i n Kampf, S. 436 f. Vgl. etwa auch Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 8. 9 Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, S. 11, 77. 10 Ebd., S. 10; vgl. auch Koellreutter, S. 86/87, der hinsichtlich des Erwerbs der Reichsbürgerschaft auf die Ersetzung des wegen seiner H e r k u n f t aus der Sprachwissenschaft f ü r eine gesetzliche Regelung nicht geeigneten Begriffes der „arischen Abstammung" durch den des „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" i n § 2 Abs. I Reichsbürgergesetz v o m 15. Sept. 1935 (RGBl. I, S. 1146) hinweist. 11 Präambel des Gesetzes „ z u m Schutze des deutschen Blutes u n d der deutschen Ehre" v o m 15. Sept. 1935 (RGBl. I, S. 1146). 12 Vgl. die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz v o m 14. Nov. 1935 (RGBl. I, S. 1333): § 2 Abs. I I Jüdischer Mischling ist, w e r von einem oder zwei der Rasse nach v o l l jüdischen Großelternteilen abstammt, sofern er nicht nach § 5 Abs. I I als Jude gilt. A l s v o l l jüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, w e n n er der j ü d i schen Religionsgemeinschaft angehört hat. § 5 Abs. I Jude ist, w e r von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt. § 2 Abs. I I Satz 2 findet Anwendung. Abs. I I Als Jude gilt auch der v o n zwei v o l l jüdischen Großeltern abstammende Staatsangehörige jüdische Mischling, (a) der beim Erlaß des Gesetzes der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach i n sie aufgenommen w i r d ,

(Hervorhebungen v o m Verf.). Der richterlichen Praxis diente die vorstehende Regelung als „Beweiserleichterungsvorschrift": so ausdrücklich das Sondergericht f ü r den Bezirk 6 Anderbrügge

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

schon die rassische W i r k l i c h k e i t des deutschen V o l k e s n i c h t j e n e r m y s t i fizierten R a s s e n r e i n h e i t entsprach, so m u ß t e die R e i n e r h a l t u n g des B l u t e s , der „ k u l t u r s p e n d e n d e n rassischen U r e l e m e n t e " , w e n i g s t e n s z u r v o r n e h m s t e n A u f g a b e u n d „ h e i l i g s t e n V e r p f l i c h t u n g " des v ö l k i s c h e n Staates e r h o b e n w e r d e n . Einer weiteren „Bastardierung" müsse er grundsätzlich Einhalt gebieten, u m „durch die Bewahrung des besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung dieser Wesen zu geben" u n d das V o l k s t u m durch Weiterbildung seiner geistigen u n d ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit zu führen 1 3 . Wenn jedoch eine deutsche Erneuerung „die Werte unserer Seele i m Leben verwirklichen" wolle, so müsse sie auch die körperlichen Voraussetzungen dieser Werte erhalten u n d stärken. „Rassenschutz, Rassenzucht u n d Rassenhygiene" seien also „die unerläßlichen Forderungen einer neuen Zeit". Rassenzucht aber bedeute „ i m Sinne unseres tiefsten Suchens" vor allem den „Schutz der nordischen Rassenbestandteile unseres Volkes". E i n deutscher Staat habe daher zur ersten Pflicht, Gesetze zu schaffen, die dieser Grundforderung entsprächen 1 3 3 . Der Nationalsozialismus wisse zwar, daß die Mischung der verschiedenen rassischen Substanzen i m deutschen V o l k das Gesamtbild seines Lebensausdrucks gestalte u n d daß die normale Spanne seiner Fähigkeiten durch seine innere rassische Gliederung bedingt sei, er wünsche aber, daß die politische u n d k u l t u r e l l e Führung des deutschen Volkes das Gesicht u n d den Ausdruck jener Rasse erhalte, die durch ihren Heroismus allein dank ihrer inneren Veranlagung aus einem Konglomerat verschiedener Bestandteile dieses V o l k überhaupt erst geschaffen habe 1 4 . Es i s t bereits d a r g e s t e l l t w o r d e n , daß e i n e r der z e n t r a l e n L e i t g e d a n k e n i m Hitlerschen u n d d a m i t i m n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n D e n k e n der G l a u b e a n die unterschiedliche W e r t i g k e i t menschlicher Rassen w a r 1 5 . Jenes „beste M e n s c h e n t u m " , der I n b e g r i f f v o n s i t t l i c h e m u n d k u l t u r e l l e m W e r t , w a r d e m n a c h i n d e r „ h ö c h s t e n " Rasse z u suchen. Dieses h ö h e r w e r t i g e H e r r e n v o l k , i n d e m sich a l l e T u g e n d e n d e r M e n s c h h e i t v e r e i n i g t e n u n d d e m d a h e r auch die F ü h r u n g zustand, aber w a r eben die „ n o r d i s c h e " oder „arische" Rasse1®, v o n der es hieß, sie sei der u r s p r ü n g -

des O L G Nürnberg bei dem L G N ü r n b e r g - F ü r t h i n seinem U r t e i l v o m 13. März 1942: Staff , Justiz i m D r i t t e n Reich, S. 194 (196). 13 Hitler, M e i n Kampf, S. 430, 434, 444, 446. 13a Rosenberg, S. 577. M i t welchen gesetzlichen Regelungen das genannte Z i e l erreicht werden sollte, w i r d ebd., S. 578 ff., bereits recht konkret angesprochen. 14 Hitler, Rede v o m 1. Sept. 1933 auf der K u l t u r t a g u n g des Parteitages: Klöss, Reden des Führers, S. 110 f. Ähnliche Gedanken finden sich auch wiederum bei Rosenberg, S. 576 f. 15 S. o. § 81, hinter Fußn. 20. Hitler folgte insofern, ohne dies ausdrücklich zuzugestehen, insbesondere Joseph A r t h u r Graf Gobineau, der i n seinem „Essai sur l'inégalité des races humaines", 1853 - 1855, diesen Grundgedanken erstmals theoretisch formuliert hatte; vgl. Jost Nolte: Der Monat, Heft 213 (Juni 1966), S. 76, sowie Herzog, A r t . „Nationalsozialismus", I Β 1 u. 2, i n : Evgl. Staatslexikon. 16 So schon Gobineau ; vgl. Herzog, I Β 2.

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liehe Träger der menschlichen K u l t u r 1 7 , der Begründer höheren Menschentums überhaupt gewesen. Der Arier stelle den Urtyp dessen dar, was man unter dem Wort „Mensch" verstehe 18 . Nicht so sehr die Hilfe einzelner geeigneter Tiere als vielmehr die „ V e r wendung niederer Menschen" als „erstes technisches Instrument i m Dienste einer werdenden K u l t u r " u n d die „Versklavung unterworfener Rassen" hätten i h n i n die Lage versetzt, Träger der menschlichen K u l t u r e n t w i c k l u n g zu sein. U n d solange er den Herrenstandpunkt rücksichtslos aufrechterhalten habe, sei er nicht n u r w i r k l i c h der Herr, sondern auch der Erhalter u n d V e r mehrer der ausschließlich auf seinen Fähigkeiten beruhenden K u l t u r geblieben 1 9 .

Für Hitler galt es als erwiesen, daß die arische Rasse trotz jahrhundertelanger Rassenmischung, i n der sie die Reinheit ihres Blutes aufgegeben und immer mehr an kultureller Fähigkeit verloren habe 20 , i n den germanischen Völkern 2 1 , und hier vor allem i m deutschen Volk, i n ihrem K e r n noch am reinsten verkörpert sei. Wenn aber — wie gelehrt wurde — i m deutschen Volk durch Bewußtmachen und Bewußtwerden des Blutswertes der Rassenvermischung ein Ende gesetzt und aus i h m — etwa i m Wege der „Aufnordung" — jene höchste Führungsrasse sogar rückgezüchtet werden konnte 22 , dann, so ließ sich folgern, gebührte i h m angesichts solcher Zukunftsaussicht schon jetzt die Vorherrschaft, die Hitler tatsächlich für das deutsche Volk i n Anspruch nahm. Es kann i m Rahmen dieser Untersuchung darauf verzichtet werden, die vielfältigen geistigen Wurzeln des Rassegedankens i m deutschen und europäischen Geistesleben vor allem des 19. und beginnenden 20. Jhdts. i m einzelnen darzustellen 23 . I m Ergebnis festzuhalten bleibt die machtpolitische Zielrichtung der nationalsozialistischen Rassentheorie, i n der sich der Führungsanspruch für das deutsche Volk mit einem unverblümt aggressiven (Rassen-)Antisemitismus verband. Nach dem bewährten Verfahren totalitärer Systeme, aus propagandistischtaktischen Gründen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den tatsächlichen innenpolitischen Schwierigkeiten ab- und auf einen dafür 17 Dieser Gedanke findet sich bereits bei Houston Stewart Chamberlain („Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts", 1899), dem neben Gobineau w o h l bekanntesten Mitbegründer der Rassenlehre; vgl. S cheff 1er, S. 354. 18 Hitler, M e i n Kampf, S. 317. 19 Ebd., S. 322 - 324. 20 Ebd., S. 324. 21 Den Vorrang der Germanen unter den A r i e r n betonten auch schon Gobineau u n d Chamberlain. Vgl. wiederum die Nachweise o. zu Fußn. 15 u. 17. 22 Vgl. Dr. Rudolf (d.i. Gottfried Feder), Nationalsozialismus u n d Rasse, S. 48 ff. (unter Berufung auf Günther), sowie wiederum die Darstellung bei Herzog, 1 A 2 a, Β 2, u n d bei Scheffler, S. 354 f. 23 E i n einführender Überblick findet sich i n dem genannten Beitrag von Herzog, I B.

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1. T e i l : Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

angeblich verantwortlichen Sündenbock hinzulenken, verstand es der Nationalsozialismus, die Juden zu „Alleinschuldigen aller denkbaren Mißstände und Mißerfolge" zu stempeln 24 . Die ganze Gefährlichkeit und unmittelbar physische Bedrohlichkeit jener spezifischen Verbindung vor allem für die „nichtarischen" Minderheiten innerhalb und auch außerhalb der Grenzen des Reiches w i r d jedoch erst deutlich vor dem Hintergrund Hitlerscher Geschichtsauffassung, der die Geschichte ein ewiger Kampf der Rassen u m die Weltherrschaft war 2 5 . Dieser Kampf, so hieß es, vollziehe sich nach den „ewigen Auslesegesetzen", zu denen sich der Nationalsozialismus bekenne — wie auch zu einer „heroischen Lehre der Wertung des Blutes, der Rasse und der Persönlichkeit" 28 . Hitler sprach, wie zuvor i n anderem Zusammenhang bereits dargestellt 27 , von dem „aristokratischen Grundgedanken der Natur": ihrem das Universum beherrschenden „ewigen, innersten Wollen", das „freie Spiel der Kräfte" walten zu lassen, d. h. „den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern, die Unterordnung des Schlechteren und Schwächeren zu verlangen". Alles Schlechte und Böse, Destruktive und Parasitäre aber verkörperte sich nach seinen Äußerungen i n den Juden, denen angeblich insgesamt von Natur aus, als „Rasse", Minderwertigkeit, Schädlichkeit und Gefährlichkeit eigen waren 2 8 . Sie seien zäh w i e die Ratten, eine Rasse von Lebewesen, die die ganze Welt durchdrängen u n d durch ihre bodenlose Frechheit i n jedem K l i m a ihre Geschäfte machten 2 9 . Jeder einzelne Jude trage seinen i h m von der N a t u r verliehenen schädlichen Charakterzug an sich, u n d er könne sich niemals davon freimachen 3 0 . Wer w i e die Juden Leben zerstöre, setze sich nach den Naturgesetzen des Lebenskampfes u n d der A r t e r h a l t u n g dem Tod aus, u n d etwas anderes geschehe auch ihnen nicht 3 1 . Wenn andererseits ein V o l k die i h m von der N a t u r gegebenen u n d i n seinem Blute wurzelnden Eigenschaften seines Wesens nicht mehr achten wolle, sich bastardiere oder bastardieren lasse, so sündige es gegen den W i l l e n der ewigen Vorsehung, u n d sein durch einen Stärkeren herbeigeführter Untergang sei dann k e i n Unrecht, sondern n u r die Wiederherstellung des Rechtes 32 .

Es ist bekannt, daß vor allem der frühe Nationalsozialismus aus der „Kampfzeit" vor 1933, noch kaum attachiert durch akademische Kreise 24

Herzog, I Β 3. M e i n Kampf, S. 468; K a m p f gegen die „Weltherrschaftspläne des Judentums": S. 703, 738 ff., 751. 26 Hitler, Rede v o m 1. Sept. 1933 auf der K u l t u r t a g u n g des Parteitages: Klöss, S. 111. S. dazu auch schon o. § 8 I, T. v o r Fußn. 36. 27 S. o. § 8 I, T. v o r Fußn. 21. 28 S. insbes. M e i n Kampf, S. 329 -362; ferner etwa Reichstagsrede vom 11. Dez. 1941: Klöss, S. 269-271, u. Rundfunkrede v o m 30. Jan. 1944: ebd., S. 310 f., sowie Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 145 f. 29 Picker, S. 193 f. 30 Rede v o m 12. A p r i l 1922: Klöss, S. 40 f. 31 Picker, S. 36 f. 32 M e i n Kampf, S. 359. 25

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aus der deutschen Bildungsschicht, einem i n solchen Wendungen sich deutlich abzeichnenden vulgären — von der Universitätsphilosophie ohnehin als nicht standesgemäß verpönten — Sozialdarwinismus folgte 33 , der die Darwinsche Theorie vom Kampf ums Dasein („struggle for life") als dem Lebensprinzip der Natur auf das menschliche Sozialleben zu übertragen suchte 34 . Ging man aber auch i n diesem Bereich vom Prinzip der „natürlichen Auslese" unter den Lebewesen aus, das, obgleich von Darwin selbst i n der Biologie noch eher als statistisch positives Nachkommensverhältnis denn als aktueller Kampf verstanden 35 , nicht etwa zu höheren Formen friedlicher Zusammenarbeit führte, sondern angeblich die Unbrauchbarkeit human-zivilisatorischer Maßnahmen erwies 38 , dann mußte auch der Kampf der Rassen u m Uberleben und Vorherrschaft m i t den Mitteln physischer Gewalt bis h i n zur Ausrottung ausgefochten werden. Genau diesen Weg, der geradlinig auf die „Endlösung der Judenfrage" zuführte, beschritt der Nationalsozialismus i n seiner Rassenpolitik. I I . Die Adaptierung durch die Rechtswissenschaft

Eine zu großen Teilen möglicherweise tatsächlich dem (juristischen) Positivismus verhaftete 37 und daher weltanschaulich sowie politisch bewußt neutrale 38 oder aber — hier einmal abgesehen von anderen denkbaren und i m einzelnen gewiß auch vorhandenen persönlichen Prädestinationen und ideologischen Affinitäten — nur i n blindem Opportunismus befangene Juristenschaft leistete i h m (nicht allein) auf diesem Wege — ob erbeten oder nicht und zum Teil sicher auch ungewollt — beachtliche Dienste. Hier sei jedoch nicht an jene bedingungslosen Helfershelfer des Systems gedacht, die die Vernichtungsmaschinerie vom Schreibtisch aus i n Gang zu setzen verstanden und zufällig auch eine juristische Ausbildung hinter sich gebracht hatten, auch nicht allgemein an das juristisch geschulte höhere Beamtentum i n den Ministerien oder 35 Bullock , Hitler. Eine Studie über Tyrannei, S. 406 m. w. N. einschlägiger Äußerungen Hitlers; Topitsch, S. 47 f.; Jost Nolte , S. 76. 34 Herzog, I Β 4. 35 Vgl. Stichwort „Darwinismus", i n : Brockhaus-Enzyklopädie i n 20 B ä n den, 17. Aufl., Bd. 4, Wiesbaden 1968. 36 Herzog, I Β 4. 37 So insbes. Schorn, Der Richter i m D r i t t e n Reich, S. 28 if., u n d Weinkauff i n : Weinkauff I Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 28if. A . M . z.B. Gernhuber, Das völkische Recht, S. 198; Rüthers, Die u n begrenzte Auslegung, S. 98/99; Franssen, Positivismus als juristische Strategie: JZ 1969, S. 766 - 775, u n d Richard Schmid: K J 1969, S. 105, jeweils — u. a. — unter Hinweis auf Kübler, Der deutsche Richter u n d das demokratische Gesetz: A c P Bd. 162 (1963), S. 104 if. Z u dieser Streitfrage s. des näheren u. § 16, T. ab Fußn. 119. 38 Vgl. Gernhuber, S. 196.

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

leitenden Stellen der übrigen Staats- und der Kommunalverwaltung und nicht einmal so sehr an die Richter i m Dritten Reich, deren von der Zeitkritik m i t Recht viel beachtete Rolle sehr differenziert zu beurteilen (und i n diesem Rahmen wenigstens beispielhaft zu erwähnen) ist 3 9 . Nur zu individuellem Widerstand i n der Lage, mußten sie zwar etwa machtlos dulden, daß aus dem Kreis der „Parteijuristen" 4 0 ein Mann wie Freisler Schlüsselstellungen i m Justizwesen bezog und von dort aus blutige W i l l k ü r und nackte Gewalt übte. Sie ließen sich aber vielfach auch — nur scheinbar passiv — von der das Unrecht fordernden politischen Macht mißbrauchen und beispielsweise zu Vollstreckern des „ B l u t schutzgesetzes"41 herabwürdigen. Dabei gingen sie nicht selten von sich aus weiter — nicht nur bei den Sonder- und Kriegsgerichten, sondern auch i n der ordentlichen Gerichtsbarkeit —, als es politischer Druck von ihnen verlangte 42 . Ihren eigenen Reihen entstammte ζ. B. ein Kammergerichtsrat namens Rehse, der gewiß nicht repräsentativ war für die gesamte damalige Richterschaft, dessen Werdegang i n der Justiz aber keineswegs atypisch verlief: Er stieg auf zum Richter am Volksgerichtshof und w i r k t e dort unter dem Deckmantel der Richterrobe maßgeblich an einer Reihe von Todesurteilen mit, „die selbst m i t den exzessiven Strafbestimmungen des NS-Staates gegen Wehrkraftzersetzung' und ,Feindbegünstigung' nicht zu rechtfertigen waren" 4 3 . — Gemeint sind hier vor allem die Rechtswissenschaftler (-lehrer, -theoretiker), die etwa die brutale Rassengesetzgebung des Regimes willfährig kommentierten und i n das System der Rechtsordnung einfügten oder die — ohne dazu aufgerufen zu sein — dienstbeflissen die platte, primitive nationalsozialistische Rassenlehre wissenschaftlich aufzuwerten und auch für die Rechtslehre zu adaptieren suchten. Diese besonders dunkle Seite eines der NS-Weltanschauung folgenden „völkischen" Rechtsdenkens i n seinen wohl ärgsten Verirrungen sei abschließend und zugleich als Überleitung zu der i m zweiten Hauptteil der vorliegenden Abhandlung folgenden speziellen Darstellung des völkischen Rechtsdenkens i n den 39 Dazu eingehend Schorn i n seinem bereits o. zitierten Werk, die bisher vorliegenden Bände des Gesamtwerks: Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus (Quellen u n d Darstellungen zur Zeitgeschichte), Stuttgart ab 1968, sowie etwa Gernhuber, S. 186 - 192, 198 f. (insbes. Fußn. 123); Rüthers, 3. Kap., insbes. §§ 13, 15, 17 u n d 19, oder auch Kirn, Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität, S. 17 - 23. 40 D. s. die i n der Partei groß gewordenen Juristen m i t längerer, m i t u n t e r aber auch n u r kürzerer Parteivergangenheit, an ihrer Spitze etwa der „Reichsrechtsführer" Hans Frank; vgl. Weinkauf, S. 39, 56. 41 S. ο. I, Fußn. 11. 42 Vgl. Richard Schmid , S. 103, 104, sowie ferner die eindrucksvolle D o k u mentation von Unrechtsurteilen bei Staff , Justiz i m D r i t t e n Reich, S. 178 ff., insbes. die auf S. 194 - 213 aufgeführten u n d kommentierten Verurteilungen von Juden wegen Rassenschande. 43 Vgl. Hans Schueler: Die Welt v o m 6. Nov. 1968.

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vom Nationalsozialismus geprägten einzelnen Rechtslehren durch einige wenige, nicht einmal ausgewählt extreme Nachweise belegt: Soweit etwa E. R. Huber den Wandel von der Weimarer zu einer neuen „völkischen", w e i l ganz v o m Prinzip des Volkstums bestimmten u n d durchdrungenen Verfassung u. a. i n der Ablösung des formellen Gleichheitsprinzips durch die Ausgestaltung des rassischen Gedankens gekennzeichnet sieht 4 4 , mag dies noch eine sachlich durchaus zutreffende Beschreibung einer verfassungsrechtlichen Entwicklung sein. Der Boden objektiver Darstellung aber w i r d verlassen, u n d die Rechtfertigung blanken Unrechts k a n n beginnen, w e n n er die Überwindung der „Gefährdung des Volkskörpers . . . i n Zeiten des erwachenden Artbewußtseins" preist, des Volkes also, dessen „naturhafte Grundlage" die Rasse, d . h . „eine durch bestimmte leib-seelische Merkmale ausgezeichnete Abstammungsgemeinschaft" sei, u n d das, obwohl zersetzt u n d überlagert, i m Grunde doch eine naturhafte, elementare, organische u n d zunächst unbewußt vorhandene Ganzheit darstelle. I n solchen Zeiten finde eine Rückkehr zur naturhaften Abstammungsgemeinschaft statt 4 5 . A l s Beispiel f ü h r t Huber ausgerechnet die „umfassende deutsche Rassengesetzgebung" etwa i m Beamten-, Schul- u n d Hochschul-, A n w a l t s - u n d Notar-, Ärzte-, Bauern-, Arbeitsdienst- u n d Wehrrecht an, die den Sinn habe, „das V o l k als eine naturhafte Einheit wiederherzustellen". U n d die Nürnberger Gesetze v o m 15. Sept. 1935, das Reichsbürgergesetz u n d das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes u n d der deutschen Ehre, die nach dem Wort des Führers eine „endgültige Lösung dieser Frage" einleiteten, hätten die „Sicherung" der „naturhafte(n) A r t des deutschen Volkes f ü r alle Zeiten" zum Ziel 4 8 . I m ü b r i gen bleibt es, w i e sich an anderer Stelle zeigt, auch nicht bei einer reinen Beschreibung der Entwicklung, die i m Verständnis des Gleichheitsgedankens bei den Nationalsozialisten tatsächlich eingetreten w a r : Der neue Gleichheitsbegriff, so heißt es, der an die Stelle formaler Gleichheit die „materielle Gleichheit des völkischen Rechts" habe treten lassen, die „aus dem Erlebnis der völkischen A r t - u n d Wesensgleichheit" erwachse, ermögliche es, „auch i n der Gesetzgebung das Fremde von der eigenen A r t , das Feindliche von der Treue zur Gemeinschaft, das Zersetzende v o n der aufbauenden K r a f t zu unterscheiden". Folgerichtig wenden sich auch die NS-Rassengesetze v o m formalen Gleichheitsbegriff ab, „ u m eine w i r k l i c h a r t - u n d wesensgemäße Gleichheit zum Siege zu f ü h r e n " 4 7 .

So w i r d unter dem Einfluß der Rassenideologie Gleichheit zu „ A r t gleichheit" 4 8 verkürzt: Da die Rassenmischung i m deutschen V o l k nun einmal nicht geleugnet werden kann 4 9 , lehrt man, daß sie doch eine A r t gleichheit i n sich schließe 50 . Die Erhaltung u n d Stärkung „wertvollen, artgleichen Blutes" sei f ü r den Nationalsozialismus eine der wichtigsten Voraussetzungen f ü r das „gesunde 44

Verfassungsrecht, S. 56. Ebd., S. 153. 46 Ebd., S. 153/154. 47 Ebd., S. 260/261. 48 Hierzu insbes. Hill, Gleichheit u n d Artgleichheit, D r i t t e r Teil, S. 205 ff.; vgl. auch Kirschenmann, »Gesetz' i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, S. 47 f. 49 S. ο. I, T. ab Fußn. Θ. 50 Vgl. etwa Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 71/72. 45

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

Wachstum des Volkskörpers" u n d zugleich f ü r seine „Bedeutung als politische Größe", die „Rassenpflege", sowohl i n ihrer „positiven Förderung erbgesunder Familien" w i e i n der „notwendigen Ausscheidung rassisch Minderwertiger aus der Fortpflanzung", daher eine der wichtigsten Aufgaben der nationalsozialistischen Gesetzgebung 51 .

Solche „unter volks- und rassenbiologischen Gesichtspunkten" 52 offenbar gebotene Aufgabenstellung rechtfertigt unverhohlen jene entscheidenden Bestimmungen des „Blutschutzgesetzes" vom 15. Sept. 193553, nach denen Eheschließungen (§ 1 Abs. 1) und außerehelicher Verkehr (§ 2) zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes verboten sind und jede Zuwiderhandlung unter schwere Strafe gestellt w i r d (§ 5). Hier scheinen i n Norm 5 4 und Kommentar noch jene primitiv-magischen Vorstellungen mitzuschwingen, die Hitler und seine Genossen i n den frühen Jahren der Bewegung etwa von der Thüle-Gesellschaft übernommen hatten und wie sie ζ. B. Julius Streicher verbreitete 5 5 : »„Artfremdes Eiweiß 4 ist der Same eines Mannes von anderer Rasse. Der männliche Same w i r d bei der Begattung ganz oder teilweise von dem w e i b lichen Mutterboden aufgesaugt u n d geht so i n das B l u t über. E i n einziger Beischlaf eines Juden bei einer arischen Frau genügt, u m deren B l u t f ü r i m m e r zu vergiften. Sie hat m i t dem »artfremden Eiweiß' auch die fremde Seele i n sich aufgenommen. Sie k a n n nicht mehr, auch w e n n sie einen arischen M a n n heiratet, rein arische K i n d e r bekommen."

M i t diesem Begriff „artfremd" — häufig i n Verbindung m i t „zersetzend" benutzt — ist unter der Herrschaft des Nationalsozialismus i m übrigen auf recht eigenartige und widerspruchsvolle Weise umgegangen worden. Ursprünglich nur die „rassische Andersartigkeit" bezeichnend, diente er fortschreitend zur Verteufelung jeder von der eigenen „ A r t " und Meinung abweichenden Position. Die Machthaber etwa, allen voran Hitler selbst, verwarfen Grundlagenforschung und objektive Wissenschaft, darunter insbesondere auch die Rechtswissenschaft, zwar zumeist einfach als bedeutungslos, verfemten sie bisweilen aber auch als artfremd 5 6 . Die systemhörigen (Rechts-)Wissenschaftler ihrerseits suchten sich zu rechtfertigen, indem sie i n der nur u m so eilfertiger be51

Ebd., S. 72. Ebd., S. 73/74. 53 S. ο. I, Fußn. 11. 54 Entsprechende Indizien finden sich auch bei deren A n w e n d u n g durch die Rechtsprechung; vgl. das U r t e i l gegen Katzenberger des Sondergerichts für den Bezirk des O L G Nürnberg bei dem L G N ü r n b e r g - F ü r t h v o m 13. März 1942, i n dem es u. a. heißt: „Die Rassenschande des Juden stellt einen schweren Angriff auf die Reinheit des deutschen Blutes dar, der rasseschändende Angriff ist gegen den Leib der deutschen Frau gerichtet": Staff, S. 194 (205). 55 Zitiert nach Jost Nolte: Der Monat, Heft 213 (Juni 1966), S. 76. 56 Vgl. Kotowski, Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 211. Z u Hitlers tiefer Verachtung f ü r alle Juristen s. a. u. § 10, Abs. hinter Fußn. 14. 52

§ 9 Die

assentheorie

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triebenen Auseinandersetzung m i t der voraufgegangenen Weimarer Epoche beispielsweise vom Standpunkt der „großen deutschen Staatsphilosophie", nämlich der Hegeischen Staatsmetaphysik her und damit i m Vollgefühl moralischer und intellektueller Überlegenheit, nicht selten aber auch i n denunziati ver Absicht ihre Gegner eines „artfremden Liberalismus" und „jüdischen Positivismus" bezichtigten und ihnen insgesamt vorwarfen, lediglich Produkte des „abstrakten Verstandes" geliefert zu haben 57 . Dann wiederum geriet die Wendung gegen das A r t fremde unversehens i n die Nähe eines irrationalen Antisemitismus, so etwa, wenn Carl Schmitt die „objektive Wirklichkeit der ,Objektivität'" beschrieb 58 : „ O b j e k t i v ist nicht jeder, der es sein möchte — ein A r t f r e m d e r mag sich noch so kritisch gebärden, noch so scharfsinnig bemühen . . . er denkt u n d versteht anders, w e i l er anders geartet ist."

Noch deutlicher und unumwundener liest es sich bei Forsthoff, der das Schmittsche Freund-Feind-Denken durch die direkte Ansprache des gemeinten Gegners konkretisierte und damit entscheidend zuspitzte 59 : Die Volksgemeinschaft beruhe auf einer „seinsmäßigen, artmäßigen", aus der „Gleichheit der Rasse u n d des volklichen Schicksals" hervorgehenden „Gleichartigkeit". „Das Bewußtsein der Artgleichheit u n d volklichen Z u sammengehörigkeit aktualisiert sich v o r allem i n der Fähigkeit, die A r t verschiedenheit zu erkennen u n d den Freund v o m Feind zu unterscheiden." Die Artverschiedenheit müsse gerade dort erkannt werden, w o sie nicht schon als fremde Nationalität ohne weiteres sichtbar sei, „etwa i n dem Juden". Es gebe viele artverschiedene Völker, ohne daß deshalb Feindschaft zwischen ihnen sei. Die Artverschiedenheit werde aber zur Feindschaft, w e n n A r t verschiedene von ihrem Anderssein her den territorialen Lebensraum oder das Volkstum, den „geistigen Lebensraum eines Volkes", antasteten. „ D a r u m wurde der Jude, ohne Rücksicht auf guten oder schlechten Glauben u n d w o h l meinende oder böswillige Gesinnung, zum Feind u n d mußte als solcher u n schädlich gemacht werden."

Angesichts derartiger der Zahl der Beispiele nach beliebig zu vermehrender Einlassungen anerkannter und geachteter Rechtslehrer an deutschen Hochschulen kann es nicht mehr verwundern, auch bei ihren Schülern — insbesondere i n Dissertationen — auf Äußerungen zu treffen, die einen zuvor w o h l kaum je für möglich gehaltenen Niedergang objektivierenden rechtswissenschaftlichen Denkens und juristischer Ausdruckweise offenbaren. Da werden unmittelbare geistige Verbindungen zwischen Hegel und Göring hergestellt: Was jener i m Recht gesehen u n d von i h m gefordert habe, nämlich Ausdruck des Volksgeistes zu sein, dem sittlichen Bewußtsein des Volkes zu entsprechen, das beginne heute W i r k l i c h k e i t u n d Gemeinüberzeugung aller zu 57

Vgl. Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 48. Staat, Bewegung, Volk, S. 45. 59 Der totale Staat, S. 38 f. Vgl. hierzu auch die scharf kritischen Bemerkungen von Hill, S. 275 - 277. 58

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1. Teil: Die „nationalsozialistische Weltanschauung"

werden, denn unter dem Leitsatz „ D u bist nichts, Dein V o l k ist alles!" werde das Recht nicht mehr v o m Rechtssubjekt, sondern v o m Volke aus gesehen 60 . So k o m m t d a n n der Verfasser, u m Hegels Rechtsphilosophie a u f d e n g e w ü n s c h t e n k u r z e n N e n n e r zu b r i n g e n , m i t Göring z u der t i e f e n E i n sicht i n das W e s e n des Rechts: „ D a s w a h r e Recht i s t i n der Gemeinschaft des B l u t e s b e g r ü n d e t 6 1 . " V ö l l i g u n b e d e n k l i c h w e r d e n aus solchen u n d ä h n l i c h e n P h r a s e n rechtliche K o n s e q u e n z e n gezogen, die d e n o h n e h i n vorgezeichneten W e g i n äußerste I n h u m a n i t ä t u n d B a r b a r e i noch beschleunigen s o l l t e n : I n einer a n d e r e n D i s s e r t a t i o n e t w a , d e r e n V e r fasser i m a n g e f ü g t e n L e b e n s l a u f eigens seine Z u g e h ö r i g k e i t z u e i n e m Stabe des Reichsführers SS w ä h r e n d seiner S t u d i e n z e i t b e t o n t , w i r d die „ b l u t s m ä ß i g e T r e n n u n g der j ü d i s c h e n Fremdrasse v o m deutschen V o l k u n d i h r e A u s s c h e i d u n g aus der V o l k s g e m e i n s c h a f t " z u e i n e m „ G r u n d gesetz der v ö l k i s c h e n R e c h t s o r d n u n g " e r h o b e n 6 2 . D i e N ü r n b e r g e r G e setze, so m u ß m a n f o l g e r n , besitzen also V e r f a s s u n g s r a n g 6 3 . A m E n d e dieser S k a l a m a g eine v e r h ä l t n i s m ä ß i g f r ü h e S c h r i f t 6 4 stehen, d e r e n T i t e l „ D a s Recht als K a m p f o r d n u n g der Rasse" b e r e i t s die E r s e t z u n g v o n W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t d u r c h politische A g i t a t i o n v e r r ä t , die nach 1933 i m R e c h t s d e n k e n u m sich gegriffen h a t t e . I h r Autor, ein F r a n k f u r t e r Fakultätsassistent namens Stier, der sie „dem Vorkämpfer f ü r eine rassengesetzliche Rechtslehre, H e r r n Ministerialdirektor Dr. H e l m u t Nicolai 65, i n Ehrerbietung gewidmet" hat, glaubt darin auf wissenschaftlichen Apparat u n d auf Auseinandersetzung m i t anderen Autoren verzichten zu können, da doch „ f ü r d e r h i n das Recht nicht mehr Monopol eines bestimmten Standes" sein solle u n d der Fachjurist als Kenner des einschlägi60 Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 13 ff. 61 Die Rechtssicherheit als Grundlage der Volksgemeinschaft. Rede vor der Akademie f ü r Deutsches Recht i n B e r l i n am 13. Nov. 1934: zitiert nach Kraiss. 62 Wegener, Der Grundsatz der Gleichheit i m Weimarer Staat u n d seine Wandlung i m nationalsozialistischen Reich, S. 56, 81; S. 61 ist gar v o n „ E n t j u d u n g " die Rede. 63 Ebenso insbes. E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 55 ff., sowie Koellreutter, S. 19. 64 B e r l i n 1934. 65 Nicolai w a r vor 1933 zeitweilig Leiter der innenpolitischen A b t e i l u n g der Reichsleitung der NSDAP, nach 1933 zunächst Regierungspräsident i n Magdeburg, dann Ministerialdirektor i m Reichsministerium des I n n e r n ; vgl. Weinkauff, S. 56. Stier bezieht sich insbes. auf Nicolais Schriften: Die rassengesetzliche Rechtslehre, München 1932, und: Rasse u n d Recht, B e r l i n 1933. Doch obgleich sich Nicolais „rassengesetzliche Rechtslehre" als die Rechtstheorie des Nationalsozialismus verstand, entsprach sie n u r z.T. den f ü r Gesetzgebung u n d Justiz maßgeblichen Rechtsvorstellungen i n den Spitzen v o n Staat u n d Partei, da sie es trotz eifriger Bemühungen nicht vermochte, neben dem den „Blutgenossen" m i t der „Rassenseele" „angeborene(n) Recht" auch dem autonomen Führungsakt als Rechtsquelle einen gebührenden Platz einzuräumen, u n d somit dem autoritären, dem Führerprinzip nicht gerecht wurde. Vgl. hierzu Gernhuber, S. 177 f., sowie u. § 15, u. a. T. ab Fußn. 49.

§ 9 Die Rassentheorie

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gen Schrifttums „auch ohne Einzelauseinandersetzungen fühlen" werde, w o ein Widerspruch zu einer bereits geäußerten Ansicht bestehe u n d wo eine solche geteilt werde 6 6 .

Und i n dem erklärten Bemühen, unter Abschaffung des alten Systems und fundamentaler Änderung der Rechtsanschauung „unsere ganze Rechtsordnung darauf zu(zu)schneiden, daß i n jeder Rechtslage und bei jeder rechtlichen Einzelregelung die Erhaltung und Förderung einer guten und gesunden Rasse oberste Richtlinie w i r d " 6 7 , überläßt er am Schluß der Schrift dem Verächter und Zerstörer jeder rechtlichen Ordnung bedingungslos das Feld: „ I n dem, was hier über das Z i e l unserer nordischen deutschen Rasse gesagt worden ist, sollte nicht ein neues Z i e l aufgezeigt werden, sondern n u r versucht w e r d e n . . . , das zu umreißen, was ein Größerer v i e l besser gesagt, geschrieben u n d vorgelebt hat: Unser Führer A d o l f Hitler* 8\"

Wenige Monate nationalsozialistischer Machtausübung und die Bereitschaft einer an Zahl und Gewicht nicht ganz unbeträchtlichen Gruppe von dem Regime zugeneigten Rechtslehrern, so ergibt sich, hatten ausgereicht, eine hochentwickelte Rechtswissenschaft durch die Auswechslung ihrer an der überkommenen Staatsverfassung orientierten Kernprinzipien weitgehend gleichzuschalten und ein feinverästeltes Rechtssystem auf so fatale Grundbegriffe wie Artgleichheit und Führertum 6 9 zurückzuführen.

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Vorwort, S. V I . Ebd., S.V. 68 S. 40. 69 So schon 1933 Carl Schmitt: Staat, Bewegung, Volk, S. 32 ff. Das Führert u m seinerseits sah Schmitt auf eben die unbedingte Artgleichheit zwischen Führer u n d Gefolgschaft gegründet (ebd., S. 42). S. dazu wiederum Hill, S. 264 ff. (265, 270). 67

Zweiter Teil

Die Lehren vom „völkischen Recht" § 10 Uberblick — Die Rechtsvorstellungen der politischen Führung und die Systematisierungsbemühungen in der Rechtswissenschaft I m Vorstehenden ist bereits darauf hingewiesen worden, daß zwar die politische Führung einige ihr besonders bedeutsam erscheinende Rechtsgebiete durch eine vor allem machtpolitisch bestimmte Gesetzgebung1 in ihrem Sinne umzugestalten suchte2 und sich i m übrigen zur Durchsetzung ihrer rechtspolitischen Ziele einer nur geringen Widerstand leistenden Rechtspraxis zu bedienen verstand 3 , daß aber gerade auch aus dem Bereich der Rechtswissenschaft, namentlich von einer stattlichen Zahl der Rechtslehrer an den juristischen Fakultäten der deutschen Hochschulen, vielfältige Anstrengungen ausgingen, die eigenen Vorstellungen vom richtigen Recht mit den weltanschaulichen Grundsätzen des Nationalsozialismus i n Ubereinstimmung zu bringen und beides zum Gefüge eines „neuen Rechtsdenkens" zu verschmelzen. Zumindest versuchte man, vom eigenen System so viel wie möglich durch Anpassung an die autoritäre Praxis und den volks- und deutschtümelnden Sprachgebrauch i n das „neue Reich" hinüberzuretten 4 . Eigenartigerweise aber stand die Intensität solcher Bemühungen i n den meisten Fällen i n keinem spürbaren Verhältnis zu ihrer öffentlichen Wertschätzung, und gerade den allzu Eifrigen unter ihnen gelang es trotz aller Beteuerung vollkommener Ergebenheit nicht oder doch nur i n sehr begrenztem Umfang, sich das Vertrauen der politischen Führung zu erwerben 5 . 1 Vgl. dazu Schorn, Die Gesetzgebung des Nationalsozialismus als M i t t e l der Machtpolitik, F r a n k f u r t 1963. 2 Als Beispiel sei auch hier die Rassengesetzgebung genannt. 3 Vgl. o. § 9 I I , zw. Fußn. 37 u. 43 m. w . N. S. aber auch u. § 16, bei Fußn. 130. 4 Es wurde — w i e bereits angemerkt (s. o. § 8 I I , Fußn. 40) — allerdings auch scharfe K r i t i k an solchen Methoden geübt, so namentlich von Höhn, der i m Hinblick auf einen Aufsatz von H elf ritz (Rechtsstaat u n d nationalsozialistischer Staat: DJZ 1934, Sp. 426 ff. — 428 —) eine „eindeutige Kampfstellung gegen alle diejenigen" bezog, „die glauben, m a n habe ,die neuen Erscheinungen dem bisherigen Bestand der Wissenschaft einzufügen u n d sie m i t i h r zu verarbeiten'": Die Wandlung i m staatsrechtlichen Denken, S. 43. Vgl. auch ebd., S. 15 u. 44 f. 5 Vgl. hierzu etwa Gernhuber, Das völkische Recht, S. 198.

§ 10 Rechtspolitik der Führung u n d rechts wissenschaftliches System

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Von Hitler weiß man inzwischen, daß er den Stand der Juristen insgesamt verachtete, i n einer geradezu fanatischen Rechtsfeindlichkeit jedes unvermeidlich nach fester Form und Regel drängende Rechtssystem haßte, also auch ein nationalsozialistisches, das i h m i n seinem bedingungslosen Machtstreben möglicherweise hätte Schranken setzen können, und daß er die Rechtswissenschaft mehr noch als alle anderen i h m ebenfalls i m Grunde fremden und daher verdächtigen wissenschaftlichen Disziplinen verabscheute®. Es ist bezeichnend für Hitler, daß sich seine Auffassung vom Recht allein an den pseudowissenschaftlichen Vorstellungen eines vulgären Sozialdarwinismus orientierte, die, wie bereits dargestellt, auch zur Legitimierung des auf Ausrottung aller Artfremden abzielenden „ewigen Rassenkampfes" herhalten mußten 7 . A n diesem rechtlichen Weltbild Hitlers hat sich nie etwas geändert. So heißt es schon i n einer seiner frühen Reden 8 : „Stets hat vor Gott u n d der Welt der Stärkere das Recht, seinen Willen durchzusetzen. Die Geschichte beweist: Wer nicht die K r a f t hat, dem nutzt das ,Recht an sich' gar nichts 9 !"

Und i n „Mein Kampf" spricht er vom „eherne(n) Gesetz der Notwendigkeit und des Rechtes des Sieges des Besten und Stärkeren" 1 0 . Den Parteiführern schärfte er auf einer Tagung i m September 1928 i n München ein: „Es gibt n u r ein Recht i n der Welt, u n d dieses Recht liegt i n der eigenen Stärke 1 1 ."

Diese vorbehaltlose Uberzeugung ließ er trotz aller Behutsamkeit, m i t der er bei offiziellen Anlässen seine wahren Absichten zu verschleiern pflegte, bisweilen auch i n seinen öffentlichen Reden nach der Machtübernahme durchblicken, so etwa i n der Rede auf der Kulturtagung des Parteitages vom 1. September 1933, i n der er das gesunde Volk m i t seiner „natürlichsten Weltanschauung" preist, das i m gewaltigen Kampf der Weltanschauungen „die den Bedürfnissen seines eigenen klaren Wesens entsprechendste Stellungnahme zu allen Lebensforderungen . . . 6 Vgl. hierzu die zahlreichen Hinweise bei Hans Frank, I m Angesicht des Galgens, S. 76; Fritz v. Hippel, Die Perversion v o n Rechtsordnungen, S. 154 f.; Schorn, Der Richter i m D r i t t e n Reich, S. 10 ff.; Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 17 ff., der m i t Hitlers Verhältnis zu Hans Frank ein sehr charakteristisches Beispiel anführt; Kotowski, Nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, S. 210 f.; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 105 ff., u n d insbes. Weinkauff i n : Weinkauff I Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 40 ff. 7 Vgl. o. § 9 I, letzter Abs. 8 V o m 13. A p r i l 1923 i n München. 9 Zitiert bei Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, S. 406. 10 S. 317. 11 Ebenfalls zitiert bei Bullock, S. 139.

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2. T e i l : Die Lehren vo

„völkischen Recht"

einfach aus dem i h m angeborenen Selbsterhaltungstrieb instinktsicher finden" werde, und sodann bündig feststellt: „Die Gleichheit der Lebewesen einer bestimmten A r t erspart damit förmlich die Aufstellung bindender Regeln u n d verpflichtender Gesetze 12 ."

Der wahre Sinn solcher Sätze ergibt sich unzweifelhaft aus dem Zusammenhang des Rassenkampfes, i n den sie gestellt waren. Noch deutlicher wurde Hitler i n seiner Essener Rede vom 22. Nov. 1936, i n der er verkündete, nur die K r a f t habe das Recht geschaffen, sie sei das oberste Gesetz13. Hans Frank gegenüber äußerte er noch i m Februar 1944: „ W e n n ich siege, dann w a r alles recht, w e n n ich nicht siege, alles unrecht. Das ist n u n einmal so i n der Welt. U n d die Juristen werden das auch nicht ä n d e r n . . , 1 4 ."

Bekannt geworden sind insbesondere auch Hitlers ebenfalls nicht für die Öffentlichkeit bestimmten abfälligen Äußerungen zu Recht und Juristenstand, die i n den Aufzeichnungen der „Tischgespräche i m Führerhauptquartier 1941 -1942" 1 5 festgehalten sind und auf die sich nahezu alle Autoren, die Hitlers Rechtsvorstellungen dargestellt haben, ausdrücklich berufen 16 . Hier sei vor allem ein Beispiel herausgegriffen, das zwar nur mittelbar auf der Linie seiner sich ständig steigernden Ausfälle gegen die Juristen liegt — etwa: Jeder Jurist müsse „von Natur defekt" sein oder es mit der Zeit werden 17 , seine Erziehung sei „spitzbubenmäßig", und er komme „niemandem . . . näher als dem Verbrecher" 18 —, dafür jedoch einen bezeichnenden Einblick bietet i n Hitlers funktionalistische Auffassung von einem i n seinem Wert einzig nach dem politischen Nutzen für Staat, Partei und Führer zu bemessenden Recht: Den Chef der Reichskanzlei, Lammers, preist er als den einzigen Juristen aus der Reihe der höchsten Staatsbeamten, der „ w i r k l i c h etwas tauge", denn er wisse, daß er dazu da sei, „für die Staatsnotwendigkeiten die juristische Untermauerung zu finden" 19. Die Rechtsvorstellungen der übrigen führenden Nationalsozialisten unterschieden sich von denen Hitlers allenfalls dadurch, daß sie gelegentlich noch zynischer und unverhohlener als jene und nahezu ohne Rücksicht auf die sonst übliche Verschleierung der hemmungslosen NS12 Vgl. Klöss, Reden des Führers, S. 108 f. Z u m Zusammenhang dieses Gedankens m i t dem nationalsozialistisch-völkischen Rechtsdenken s. o. § 81, bei Fußn. 34 u. 35. 13 Zitiert bei Bullock , S. 406. 14 Hans Frank, S. 421. 15 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche i m Führerhauptquartier 1941 - 1942. 16 Vgl. die Nachweise o. Fußn. 6. 17 Picker, S. 69. 18 Ebd., S. 244. 19 Picker, hier zitiert nach der Erstausgabe der „Tischgespräche", eingeleitet u n d veröffentlicht von Gerhard Ritter, Bonn 1951, S. 240.

§ 10 Rechtspolitik der Führung u n d rechts wissenschaftliches System

95

Machtpolitik ausgesprochen wurden 2 0 . Zutreffend ist angemerkt worden, daß sich der Nationalsozialismus eine „juristische Untermauerung" einzelner Maßnahmen wohl gefallen ließ, daß er aber keine „Beweise" der ewigen, „granitenen" 2 1 Gesetze und Grundsätze des Führers wollte, weil sie keines Beweises bedurften, „zuallerletzt des Beweises eines Juristen .. ." 2 2 . Gleichwohl ließen sich Rechtswissenschaft und -lehre nicht davon abhalten, m i t allem Eifer die „Verrechtlichung" — hier nicht i m Sinne der Verwirklichung materialer Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern i n einem rein formalen Sinne verstanden — jener Grundsätze zu betreiben 23 , d. h. ihnen selbst unmittelbare Rechtssatzqualität beizumessen24. Sie versuchten darüber hinaus, aus ihnen ein möglichst geschlossenes Rechtssystem, zumindest aber ein systematisches Gefüge von für die Rechtsgestaltung maßgebenden Prinzipien zu entwickeln (oder umgekehrt ein solches i n sie hineinzuinterpretieren). I n diesem Rahmen erschien es ihnen möglich, den Geltungsgrund einer jeden positivrechtlichen Regelung auf jene Grundsätze und darunter namentlich auf das jeweils für letztlich entscheidend erachtete Kernprinzip zurückzuführen. A n ihm, so lautete die selbstgewählte Aufgabe peinlicher Forschungsarbeit, hatte sich die Norm als „Recht" zu erweisen. I n der Tat blieb diesen Bemühungen ein gewisser Erfolg nicht versagt. So gelang es vor allem einer Gruppe militanter Hochschullehrer, die sich gleich nach der Machtergreifung sehr bereitwillig i n den Dienst des „neuen Rechtsdenkens" gestellt und „sich von Anfang an betont zu juristischen Bannerträgern des Nationalsozialismus und seiner Rechtslehre aufgeworfen" 25 hatten — unter ihnen insbesondere eine Reihe jüngerer Privatdozenten der Jahrgänge 1900 -1905, die sehr bald schon Lehrstuhlinhaber wurden —, Unterstützung auch innerhalb der Partei zu finden 28. Dies geschah vornehmlich von Seiten der i n den Augen der politischen Führung allerdings ihrerseits nicht unumstrittenen leitenden „Parteijuristen" 2 7 wie z.B. Franks oder Freislers 28, m i t deren Rechts20

Vgl. etwa die Nachweise bei Rüthers, S. 108 ff. Hitler selbst benutzte i m Zusammenhang m i t den weltanschaulichen Grundsätzen des Nationalsozialismus gern schmückende Beiwörter w i e „graniten", „ehern" oder „unerschütterlich". Vgl. ζ. B. M e i n Kampf, S. 317, 362, 419, 512 ff., sowie o. § 1, v o r Fußn. 6, § 81, vor Fußn. 20, u n d hier, vor Fußn. 10. Auch Mussolini bediente sich einer ähnlichen D i k t i o n ; vgl. ζ. B. den Nachweis bei E. Nolte , Die faschistischen Bewegungen, S. 81. 22 H i l l , Gleichheit u n d Artgleichheit, S. 264. 23 Vgl. hierzu auch o. § 8 I I , 1. Abs., sowie die Hinweise ebd., Fußn. 40. 24 Vgl. hierzu insbes. die Schrift von Kirschenmann, »Gesetz' i m Staatsrecht und i n der Staatsrechtslehre des NS. 25 Weinkauff, S. 79 ff., der hier auch die nach seiner Meinung führenden Vertreter dieser Gruppe namentlich nennt. 26 Ebd., S. 80 m. w . N. 21

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen

echt"

Vorstellungen jene Hochschullehrer weitgehend übereinstimmten und m i t denen sie auch i n einigen juristischen Organisationen oder Institutionen, wie etwa i n der „Akademie für Deutsches Recht", zusammenarbeiteten. Freister beispielsweise pries Carl Schmitts richtungweisende Schrift „Staat, Bewegung, V o l k " i n hohen Tönen: „Endlich einmal ein klares, w e i l weltanschaulich getragen w a h r h a f t wissenschaftlich begründetes Bekenntnis zur Überwindung der Weimarer V e r fassung. . . . Endlich der schlagende wissenschaftliche Beweis der völligen Selbständigkeit der nationalsozialistischen Grundlagen 2 9 ."

Der Einfluß der genannten Gruppe von Hochschullehrern, deren Gedanken i n ihrer Gesamtheit tatsächlich so etwas wie das „rechtstheoretische Spiegelbild der Praxis des totalen Führerstaates, und zwar vor allem i n seinem Anfangszustand" 30 abgaben — allerdings schon für diesen Zeitraum nicht ohne idealisierende Entzerrungen —, war denn auch i m fachlichen Bereich nicht unbeträchtlich. Er erstreckte sich i n erster Linie auf eine nationalsozialistische Erziehung der jungen Juristen, i n der kämpferische Haltung, Weltanschauungsgebundenheit und staatspolitische Indoktrination Vorrang genossen vor einer weltanschaulich neutralen, objektivierten „rechtstechnischen Schulung" 31 , wie sie der bis zur Lächerlichkeit verzeichnete juristische Positivismus allerdings vornehmlich betrieben hatte. Doch darüber hinaus w i r k t e er sich i m Wege einer auf wissenschaftlicher Ebene zunehmend i n dieser Gruppe monopolisierten und m i t viel literarischem Aufwand verbreiteten Rechtsauslegung nach nationalsozialistischen Grundsätzen mittelbar auch auf die Rechtsprechung aus 32 . Der Klarstellung halber sei hervorgehoben, daß es i n der vorliegenden Untersuchung nicht u m das individuelle Verhalten einer Reihe deutscher Rechtswissenschaftler nach Hitlers Machtübernahme geht 33 , ja nicht einmal u m eine — unter rechtssoziologischen Gesichtspunkten gewiß reizvolle — allgemeine Ortsbeschreibung der deutschen Rechtslehre (r) insbesondere zu Beginn des Dritten Reiches34. Vielmehr soll i m folgenden der Versuch unternommen werden, typisierend einzelne 27

Vgl. o. § 9 I I , Fußn. 40. Nach Ansicht Hitlers w a r Freister „ i n seiner ganzen A r t ein Bolschew i k " : Picker, S. 67. Tatsächlich w a r Freister, der 1925 M i t g l i e d der N S D A P wurde, nach russischer Kriegsgefangenschaft bolschewistischer Kommissar i n der Ukraine gewesen. 29 D J 1934, S. 37 f. 30 Weinkauff, S. 82. 31 Vgl. Gernhuber, S. 197. 32 Vgl. Weinkauff, S. 79 f., sowie o. § 3, T. ab Fußn. 40. 33 Dazu etwa Hill, S. 263 - 295, oder auch Weinkauff, S. 79 - 89. 34 Z u r Lage der deutschen Rechtswissenschaft 1933 (unmittelbar v o r dem „Umbruch" auch des gesamten Rechtsdenkens) vgl. etwa Rüthers, § 10 (S. 91-101). 28

§ 10 Rechtspolitik der Führung u n d rechts wissenschaftliches System

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charakteristische Denkweisen innerhalb des vom Nationalsozialismus geprägten völkischen Rechtsdenkens (im weiteren Sinne, als Dachbegriff) aufzuzeigen und zu beschreiben. Als unterscheidendes K r i t e r i u m dient dabei zunächst die jeweils unterschiedliche Betonung eines der zentralen Leitgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung (autoritäres Führerprinzip, völkische Idee und Rassengedanke) als für die Beurteilung der Rechtsgeltung letztlich maßgebendes Prinzip. Dementsprechend lassen sich abstrakt einzelne Lehren vom „völkischen Recht" (das als übergreifender Inbegriff damit noch inhaltsleerer, i n seiner Integrationsfunktion 3 5 aber zugleich betont wird), innerhalb dieser freilich dann auch weitere, teils subtiler abstufende, teils auch die Grenzen überschreitende oder einander überschneidende Richtungen unterscheiden.

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S. o. § 1, zu Fußn. 7.

7 Anderbrügge

Drittes

Kapitel

Autoritäres Rechtsdeoken § 11 Der Dezisionismus (Entscheidungsdenken) und seine Wendung zum absoluten Führerprinzip Von einer „völkischen Rechtslehre" kann allerdings dort am wenigsten die Rede sein, wo der autonomen menschlichen Entscheidung, gesteigert insbesondere zur politischen Dezision einer politisch existierenden höchsten Macht oder Autorität, zentrale Bedeutung beigemessen1, wo dieser allein aufgrund ihrer Existenz nahezu absoluter Eigenwert zugestanden 2 und wo sie schließlich als für die Gesellschaft daseinsnotwendig beschworen wird. I n der Tat geht der Dezisionismus, das sog. „Entscheidungsdenken" 3 , eher von einer a-völkischen Position aus: Recht und Staat werden hier nicht als „völkische Lebensmächte" aufgefaßt, die ihren Wert und ihre Bedeutung als Funktionen des völkischen Lebens erhalten 4 , vielmehr ist die Autorität oder Souveränität einer letzten Entscheidung die Quelle allen „Rechts", d. h. aller folgenden Normen und Ordnungen 5 . Recht ist damit Funktion allein der Macht, deren pure Dezision. Es gilt — sei es als Verfassung, sei es als Einzelnorm — nur kraft eines bereits existierenden politischen W i l lens — ohne Rücksicht auf inhaltliche Richtigkeit oder systematische Geschlossenheit6. 1 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 22. Die Verfassung ist demnach die grundlegende politische Gesamt-Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt über A r t u n d F o r m der politischen Einheit, die i n ihrem Bestehen vorausgesetzt w i r d : ebd., S. 20 f., 23. 2 „Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert" : ebd., S. 22. 3 Z u r Typologie vgl. Carl Schmitt, Über die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 1 ff., 24 ff. 4 So Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 12, der sich an dieser Stelle zugleich recht deutlich, w e n n auch nicht ausdrücklich (vgl. aber die weiteren Hinweise ebd., S. 3 f. u n d 67 f.), gegen den Schmittschen Ansatz w e n det: „ . . . b l o ß e Macht ohne Recht w i r d zur W i l l k ü r . Der völkischen A u f fassung, die n u r eine volksverbundene F ü h r u n g kennen kann, widerspricht die bloße Machtausübung eines Diktators, der n u r ,auf Bajonetten' sitzt. Deshalb ist i n jedem Kulturstaat u n d besonders i m völkischen Staate das Recht ein eigener Wert, ohne den eine fruchtbare politische Gestaltung nicht möglich ist." 5 Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 25. 6 Ders., Verfassungslehre, S. 9, 22.

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Andererseits ist der Dezisionismus gewiß nicht als genuin nationalsozialistische Rechtslehre anzusehen. Er hat seine eigenen ideengeschichtlichen Vorformen und trat zunächst unabhängig vom Aufstieg der i n ihrer (Rechts-)Theorie sehr viel anspruchsloseren NS-Bewegung zur Macht schon i n den zwanziger Jahren vor allem i n der verfassungstheoretischen Diskussion maßgeblich i n Erscheinung. Da er sich jedoch seiner für jeden Inhalt offenen Struktur nach zunehmend auch i m Sinne eines elitären Führer- und autoritären Staatsdenkens den gewandelten politischen Verhältnissen anpassen ließ (von seinen Hauptvertretern auch bewußt i n dieser Richtung zugespitzt wurde) und fortan erheblich zur theoretischen Fundierung und Rechtfertigung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems beitrug 7 , ist er als Ausgangspunkt einer das autoritäre Prinzip betonenden Strömung innerhalb nationalsozialistischen Rechtsdenkens i n dessen Gesamtdarstellung miteinzubeziehen. Es ist hier, wo es u m Spätwirkungen des Dezisionismus geht, wohl nicht erforderlich, seine ganze Entwicklung i m einzelnen darzustellen. Gleichwohl erscheint es sinnvoll, i n einem knappen Uberblick den Weg bis zu seinen gedanklichen Anfängen zurückzuverfolgen. Carl Schmitt, der den Dezisionismus gegen Ende der Weimarer Epoche erst eigentlich zum Kulminationspunkt geführt hat, bevor er i h n selbst i n der Phase der nationalsozialistischen Machtergreifung und -festigung durch eine neuerliche Wendung seiner wandlungsreichen Rechtslehre zum sog. „konkreten Ordnungsdenken" zu überholen begann, sieht den ursprünglichen Anknüpfungspunkt dezisionistischen Denkens i n der antithetischen Gegenüberstellung von Norm und Befehl, ratio und voluntas, Objektivität und Subjektivität 8 und damit letztlich i n dem Kernproblem der gesamten abendländischen Naturrechtslehre: Ist der Mensch von Natur aus ein vernunftbegabtes, von der ratio bestimmtes Wesen, ein animal rationale et sociale, oder w i r d er bestimmt durch vorrationale Akte und vitale Impulse? Das aus der Eigenart der menschlichen Natur gedeutete Recht ist dementsprechend entweder „ideell" eine durch die Dinge der sichtbaren Welt hindurch erkennbare, also rationaler Einsicht zugängliche ewig gültige Ordnung oder aber „existentiell" nur eine Funktion situationsbedingter Entscheidungen, vitaler Daseinsbehauptungsakte 9 . Das Problem spitzt sich i m mittelalterlichen Streit u m die Lösung der berühmten alten Frage zu, ob Gott etwas befiehlt, w e i l es gut ist, oder ob etwas gut ist, w e i l Gott es befiehlt 10 . A n ihr scheiden sich die Geister des idealistischen thomistisch-scholastischen Naturrechts einerseits und des existentiellen Voluntarismus andererseits, für den 7 8 9 10

7*

Vgl. etwa Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 100. Die drei Arten, S. 24. Vgl. Welzel, Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, S. 11. Schmitt, a. zuletzt a. O., S. 25; Welzel, S. 74.

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2. T e i l : Die Lehren vo

„völkischen Recht"

etwa Duns Scotus und Ockham stehen, i n deren voluntaristischer Gegenposition zu Thomas sich bereits recht deutlich ein früher juristischer Dezisionismus ausdrückt: Für Duns Scotus ist der Wille die alleinige Totalursache der Willensentscheidung, er ist frei gegenüber der Vernunfteinsicht und allein de jure an das Gesetz des Guten gebunden. Gut aber ist alles Außergöttliche nur darum, weil Gott es so w i l l 1 1 . Nach Ockham — insofern i m Gegensatz zu Duns Scotus — kann Gott sogar den Gotteshaß gebieten 12 . Es ist bemerkenswert, daß sich gerade bei Ockham —wie später bei Calvin, i n dessen theologischen Vorstellungen ebenfalls ein „innerer Dezisionismus" auftritt, der insbesondere auf Bodins Souveränitätsbegriff Einfluß gewann 13 — auch die Andeutung jenes skeptischen pessimistischen Menschenbildes findet, das seit jeher m i t dem Namen Hobbes, dem „klassischen F a l l dezisionistischen Denkens" 14 , i n Verbindung gebracht w i r d und das auch den Dezisionisten Schmitt entscheidend bestimmt hat, die Vorstellung nämlich, daß der Mensch von Natur zu Streit und Hader neige 15 , ein böses, dynamisch-gefährliches Wesen, ein Wolf 1 6 sei. Der Realzustand ist der bellum omnium contra omnes — der nach Hobbes nur durch die Zwangsgewalt des Staates geschlichtet werden kann, die nicht nach ewigen Wahrheiten fragt, sondern allein auf die Durchsetzung ihrer eigenen Willensentscheidungen gerichtet ist 1 6 a — oder, wie es später bei Spengler und wiederum Carl Schmitt lautet: Der dauernde Ausnahmezustand, der Kriegszustand ist der eigentlich politische Zustand. Vor solchem Hintergrund entwickelt Schmitt seinen „Begriff des Politischen", als dessen K r i t e r i u m er die „Freund-Feindgruppierung", d.h. die „reale Möglichkeit" einer Gruppierung „nach dem Gegensatz von Freund und Feind", der Unterscheidung von Freund und Feind, bestimmt 1 7 , eine verhängnisvolle Alternative, die für die zwischenstaatlichen Verhältnisse nur das auf nackte Existenzbehauptung fixierte Gegeneinander übrig läßt 1 8 und i m Inneren eine totalstaatliche, hierarchisch gegliederte Herrschaftsordnung als alleinigen Garanten für die Sicherung von Leben i n der Gesellschaft fordert. Zu Recht 11

S. Welzel, S. 69, 71, 74. Ebd., S. 83. 13 Carl Schmitt, S. 26 f.; Welzel, S. 105. 14 Carl Schmitt, S. 27. 15 Vgl. Welzel, S. 88. 16 Ebd., S. 117, 206. iea Ebd., S. 117 ff.; Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 126 f.; Hans Maier, Hobbes, i n : Maier, Rausch, Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, I. Bd., München 1968, S. 363 ff. 17 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 13 ff. 18 Solche Einengung ist selbst bei nationalsozialistischen Rechtstheoretik e r n auf scharfe K r i t i k gestoßen. Vgl. etwa Koellreutter, S. 4. 12

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hat man diese Züge der Freund-Feind-Schematik als faschistisch charakterisiert und sie damit insgesamt zusammen m i t der These vom Totalwerden des Staates über die Gesellschaft für die ideologische Ausprägung der autoritären Richtung i m Nationalsozialismus verantwortlich gemacht 19 . Auf die andere mächtige geistesgeschichtliche Strömung, die ebenfalls maßgeblich auf das Erscheinungsbild des Dezisionismus zu Beginn dieses Jahrhunderts eingewirkt und neben der mittelalterlichen Willensmetaphysik auch schon Hobbes' System mitgeprägt hat 2 0 , weist Carl Schmitt i n seiner Typologie der juristischen Denkarten hingegen nicht hin, nämlich auf die das Naturrecht des Stärkeren postulierenden Macht- und Trieblehren, die sich als eine Frühform des Existentialismus bereits bei den vorsokratischen Sophisten finden und schließlich i n der (deutschen) Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts zu ihrem Höhepunkt geführt wurden. Soweit hier nun, wie etwa bei Nietzsche, Leben begrifflich allein nach Kategorien wie Machtwille, Kampf und Hierarchie als „höhere K u l t u r " des seiner selbst sicheren Herrenmenschen bestimmt wird 2 1 , liegt es gewiß nahe, von dieser Position des Rechts des Stärkeren her direkte Entwicklungslinien bis h i n zur nationalsozialistischen Rassenlehre zu ziehen und beide Phänomene i n einen unmittelbaren geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Tatsächlich konnte ein solcher Lebensbegriff, w e i l abstrakt und inhaltsleer, zur Rechtfertigung auch eines „rassentheoretisch begründeten, militanten Totalitarismus" dienen 22 , der gedanklich durchaus i n seiner Konsequenz lag, wenn er auch i n der Realität einer zuvor wohl unvorstellbaren Herrschaftspraxis ebenso gewiß von keinem Vertreter der Lebensphilosophie i m 19. Jahrhundert intendiert war. K a n n man daher auch nicht der deutschen Lebensphilosophie und nicht einmal Nietzsche pauschal eine Schuld an der „deutschen Katastrophe" 2 3 zuschieben und sie somit auch nicht „ i n einem unmittelbaren und banalen Sinne" als geistige Väter des Nationalsozialismus i n Anspruch nehmen 24 , so bleibt doch die ernüchternde Er19

Lieber, Die deutsche Lebensphilosophie u n d ihre Folgen, S. 101. Welzel, S. 114 f. 21 Vgl. Lieber, S. 93. 22 Ebd. S. auch Hasso Hof mann, Nietzsche, i n : Klassiker des politischen Denkens (vgl. o. Fußn. 16a), I I . Bd., S. 334 ff., 342 f. m i t weiteren Hinweisen auf die (politische) Auswertung der Philosophie Nietzsches i n der NS-Zeit. 23 Vgl. den T i t e l der Schrift v o n Friedrich Meinecke: „Die deutsche K a t a strophe", Wiesbaden 1946. 24 Lieber, S. 94. Ebensowenig k a n n m a n die Vertreter anderer philosophischer Strömungen, aus deren Erbe tatsächlich gewisse machtstaatliche Tendenzen bis i n den Nationalsozialismus hineingewirkt haben, deshalb einfach zu seinen geistigen Ahnherren erklären, u m sie dann f ü r die Konsequenzen verantwortlich machen zu können. Vgl. etwa i m Hinblick auf die von der Hegelsdien Rechts- u n d Staatsphilosophie ausgehenden antiliberalen u n d 20

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2. Teil: Die Lehren vo

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fahrung, daß von der Lebensphilosophie — über Nietzsche, Dilthey , Spengler u. a. — „ein steiler Weg abwärts" 2 5 bis zu Hitler und Rosenberg führt — der, wie Lukàcs nachzuweisen versucht hat, historisch notwendige Weg einer irrationalistischen Philosophie und Weltanschauung, die i m Hitlertum die i h m angemessene Form der Praxis erhalten habe 26 . Dieses Schicksal eines steilen Abstiegs hat auch den Dezisionismus insgesamt ereilt, insofern er sich nicht lediglich i m Sinne der empirischen Sozialwissenschaften m i t dem Problem der Rechtsgeltung allein deskriptiv und explikativ befaßte, sondern gerade als Denkart innerhalb einer normativ orientierten Rechtswissenschaft verstand, indem er etwa der reinen Existenz, Faktizität zugleich auch absoluten Wert zubilligte 2 7 und die geschichtliche Notwendigkeit von Bewegung und Dynamik vermittelnder A k t i v i t ä t als „Entscheidung", „Entschlossenheit", „Entschiedenheit", „Tat" usw. emphatisch beschwor 28 . Der Grund für solchen Abstieg ist einleuchtend: Wenn das Recht nur auf tatsächlichen Willen und tatsächliche Entscheidung zurückzuführen, wenn seine letzte Quelle i m autoritären Befehl eines übergeordneten, herrschaftlichen, i n aller Regel spezifisch staatlichen, aber auch eines sog. Führerwillens zu suchen ist 29 , wenn das anarchische Chaos des bellum omnium contra omnes nur dadurch i n Ordnung gebracht wird, daß (also nicht wie) entschieden w i r d 3 0 , dann steht am Ende des Dezisionismus ein Entscheidungsbegriff, der so inhaltsleer, so vollständig abhängig von der Faktizität der Macht ist, daß er nicht einmal das absolute inhumanum einer totalitären Dezision als solches zu erkennen und zu unterscheiden oder gar als i n Wahrheit lebensvernichtend auszunehmen vermag. Und ferner: Wenn der von allen voluntaristischen und existentiellen Strömungen, die i m Dezisionismus zusammengeflossen sind, übereinstimmend als daseinsnotwendig beschworene Aktivismus der Entscheidung zudem als i n sich w e r t v o l l gefeiert wird, da er dem einzelnen zur Selbstwerdung, zu wesensgemäßer Innerlichkeit, Eigentlichkeit und dem Staat über die pure Selbsterhaltung hinaus zum Innewerden von Autorität und Souveränität verhelfe, und dabei bewußt jeglicher inhaltlichen Bestimmung oder auch nur Gegenüberstellung m i t der konkreten Wirklichkeit entzogen 31 , somit vielmehr irrationaler Indeterminiertheit überantwortet wird, dann läßt sich schwerlich noch von einem Mißantidemokratischen Traditionen: Topitsch, Hegel und das Dritte Reich, S. 25 36,47. 28 27 28 29 30 31

Lukâcs, V o n Nietzsche zu Hitler, S. 264. Ebd., S. 264 f. S.o. Fußn. 2. Vgl. Lieber, S. 104. Vgl. Zippelius, S. 13. Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 28. Lieber, S. 100.

§11 Der Dezisionismus und das absolute Führerprinzip

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brauch solch eines Anrufs sprechen, wenn er i m Dienst bloßer Machtpolitik ad absurdum geführt wird. Dies geschieht vor allem dann, wenn sich die vielberufene Entschlossenheit und aller Einsatz an totalitäre gesellschaftliche Bewegungen binden (oder binden lassen), die sich der mit den dezisionistischen Vorstellungen anerbotenen Hilfe zur Rechtfertigung der Usurpierung auch staatlicher Macht u m so geneigter bedienen können, als hinter solchem Vorwand die schrankenlose W i l l k ü r einer zynischen Gewaltpolitik leichter zu verschleiern ist. Es bestätigt sich also, daß die dezisionistische Position nicht nur dem konkreten Geschichtsablauf gegenüber ohnmächtig war, sondern daß sie i n der von ihr mitermöglichten Begründung handfester gesellschaftlichstaatlicher Macht durch die was immer beinhaltende Entscheidung einer geschichtsmächtigen Persönlichkeit gerade ihre Erfüllung und Vollendung finden mußte 32 . Hitlers skrupelloser Griff nach der Macht konnte zum Idealfall einer existentiellen Handlung erhoben werden, sich i n Erfüllung appellativer Forderungen, wie sie etwa Heidegger als Aufrufungen des Gewissens zum eigentlichen Selbstsein immerhin i n einer konkreten geschichtlichen Situation und somit auch an eben diese Zeit gestellt sah und seinerseits bewußt an sie stellte, als das Aufsichselbstgestelltsein jenseits der Durchschnittlichkeit der breiten Masse, des „Man", erweisen, als das „eigenste Selbstseinkönnen", d.h. als die existentielle Entschlossenheit, deren Richtung allein durch den Entschluß selbst bestimmt wird. Denn die Entschlossenheit ist nicht „lediglich ein aufnehmendes Zugreifen gegenüber vorgelegten und anempfohlenen Möglichkeiten. Der Entschluß ist gerade erst das entschließende Entwerfen und Bestimmen der jeweiligen faktischen Möglichkeit" 3 3 . Die banale Folgerung dürfte erlaubt gewesen sein: Je weiter ein Hitler i n all seiner Anmaßung die Grenzen seines Tuns absteckte, desto kühner mußte sein Entschluß und desto eigentlicher, entschlossener mußte eben jener sein, der solchen Entschluß zu fassen vermochte. Eine Rechtstheorie, die von solchen unwillkürlich i n ein elitäres Führerdenken umschlagenden Vorstellungen geleitet war, konnte dem Zeitgeist, der nach Verwirklichung des autoritären Prinzips auch i m Bereich des Rechts verlangte 34 , alles geben: Der Führer schützt das Recht nicht nur, kraft seines Führertums schafft er es auch unmittelbar 3 5 , w e i l 32 33 34

Ebd., S. 99, 100,104. Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 272 ff., 295 ff. (298).

Vgl. Gernhuber, Das völkische Recht, S. 175 ff. Vgl. Carl Schmitt: D J Z 1934, Sp. 945 ff. (946), abgedruckt auch i n : Positionen u n d Begriffe, S. 199 ff. (200), der hier — es handelt sich u m die berühmte Rechtfertigung der Maßnahmen Hitlers gegen Röhm u n d dessen Anhänger v o m 30. J u n i 1934 — allerdings die Akzente etwas anders setzt: „ . . . Der F ü h 35

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen Recht"

Recht und Führerwille eins sind3®. Alle Entscheidungen des Führers sind für den Richter absolut verbindlich, sofern i n ihnen der Wille, Recht zu setzen, unzweideutig zum Ausdruck kommt 3 7 . Bisweilen klingt es wie eine vereinfachte Nutzanwendung dezisionistischer Vorstellungen: „Der Führer Adolf Hitler als Träger der höchsten Souveränität des Großdeutschen Reiches ist alleiniger Ursprung allen Rechts 38 ." Die Idee des i m Recht stehenden und das Recht aus reinster Quelle weisenden Führers war unumstrittener Grundsatz nicht nur betont autoritärer rechtstheoretischer Gedankengänge, sondern des nationalsozialistischvölkischen Rechtsdenkens überhaupt. Jede diese gemeinsame Basis nicht teilende Lehre hätte von vornherein den Anspruch verfehlen müssen, rechtgläubig i m Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung zu sein. Allerdings klaffte — darauf hat etwa Gernhuber hingewiesen 39 — zwischen jener auf den Führer personal bezogenen Idee und der Realität der Gesetzgebungsarbeit ein erheblicher Widerspruch, weil diese auch unter dem Nationalsozialismus vor allem i n den Ministerien und ferner i n eigens dazu berufenen Ausschüssen und Kollegien geleistet wurde. Dieser Widerspruch blieb i n der damaligen Staatsrechtslehre unerörtert. Die der Zeit gemäße Betonung der Idee vom Führer als Ursprung allen Rechts stellte die (völkische) Rechtslehre freilich noch vor ein anderes, weit größeres Problem, vor die Kernfrage nämlich, wie die latente Spannung zwischen dem autoritären und dem doch ebenfalls allgemein betonten integrierenden völkischen Prinzip abzugleichen oder gar aufzuheben sei. Das Dilemma war fundamental: Auf der einen Seite war es unumgänglich, zwischen den einzelnen Leitideen der NSWeltanschauung — m i t den beiden genannten Prinzipien rivalisierte ja auch noch der Rassengedanke — eine gewisse Rangfolge aufzustellen, etwa wenn es darum ging, letzthin Quelle und Geltungsgrad nationalsozialistischen Rechts zu bestimmen, auf der anderen Seite aber mußte rer schützt das Recht v o r dem schlimmsten Mißbrauch, w e n n er i m Augenblick der Gefahr k r a f t seines Führertums als oberster Gerichtsherr u n m i t t e l bar Recht schafft.. 38 Vgl. z.B. Frick, Der Führer als Schöpfer Großdeutschlands: D V 1939, S. 226 ff. (228), sowie o. § 7 I I , bei Fußn. 52. Zumindest die Gleichung von Gesetz u n d F ü h r e r w i l l e stellte auch E. R. Huber noch i n der 1. Aufl. seines V e r fassungsrechts (Verfassung, H a m b u r g 1937) durch eine — i n der 2. Aufl. abgeschwächte — Überschrift („Das Gesetz als W i l l e des Führers") deutlich heraus: S. 122 (ff.). Die inhaltlichen Aussagen sind i. ü. hier (S. 127 f.) w i e i n der 2. Aufl. (S. 244) weitgehend wortgleich. 37 Vgl. Leitsatz 3 der „Leitsätze über Stellung u n d Aufgaben des Richters", verfaßt 1936 i m A u f t r a g des Reichsministers u n d Präsidenten der AfDR, Hans Frank, von Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch u n d Siebert: D R W I (1936), S. 123 f. Vgl. hierzu i. ü. wiederum o. § 7 I I , bei Fußn. 50 u. 51. 38 Lammers, Z u m 30. Januar 1943: R V e r w B l . 1943, S. 43. 39 S. 183. Vgl. auch die eingehende Untersuchung v o n Kirschenmann, »Gesetz* i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, S. 98 - 121.

§11 Der Dezisionismus und das absolute Führerprinzip

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man so tun, als bestehe zwischen jenen Prinzipien nicht der geringste Gegensatz. I n der Staatspraxis dominierte das absolute Führerprinzip über alle Lehren von einer Bindung durch Volk, völkische Ordnung und völkischen Geist, durch Rasse, B l u t und Boden, und auch i n der Rechtsquellenlehre hatte i n aller Regel das Führertum gegenüber dem völkischen Prinzip unbedingten Vorrang als Rechtsquelle 40 . So unverblümt wurde das aber weder von der politischen Führung noch von der wissenschaftlichen Lehre kaum jemals geäußert. Vielmehr versuchte man, auf logisch bisweilen abenteuerliche Weise, die Kernprinzipien trotz der insgeheim vorbehaltenen jeweils unterschiedlichen ranglichen Differenzierung miteinander zu identifizieren — sofern man dem Problem einander widerstreitender und sogar entgegengesetzter Grunddogmen überhaupt nachging und es nicht ungelöst auf sich beruhen ließ 41 . M i t welch subtilen Gedankenkonstruktionen i m einzelnen das Unmögliche, nämlich die coincidentia oppositorum, möglich zu machen gewagt wurde 4 2 , ist jedoch i m Rahmen der Darstellung des Dezisionismus und seiner Folgeerscheinungen nicht von Belang, denn diese Frage stellte sich einem autoritären Entscheidungs- und daraus resultierenden elitären Führerdenken, das idealtypisch vom schrankenlosen Führerprinzip als unumstritten einzigem Zentralgedanken ausging, ja gerade nicht. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß solches Denken i n seiner ursprünglichen, streng auf die Autorität oder Souveränität einer letzten Entscheidung bezogenen Form für die aus dieser Richtung hervorbrechenden Strömungen nationalsozialistischen Rechtsdenkens nur eine A r t Schleusenfunktion hatte. Es führte reichen Zufluß zu und nivellierte i h n zugleich auf den niedrigeren Anspruch. Doch u m über diese Niveau-Anpassung hinaus auch unverdächtig klingendes völkischnationalsozialistisches Rechtsdenken zu werden — nur als solches traf es den Ton der Zeit —, mußte es sich fortan dem Gemisch einer den eingebrachten Irrationalismus noch verstärkenden, w e i l selbst mystifizierten Volkstums- und Gemeinschaftsideologie öffnen. Erst diese letzte Entwicklungsphase kann es also rechtfertigen, den Dezisionismus ge40

Vgl. Gernhuber, S. 179; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 127 f. Gernhuber, S. 179 ff.; Rüthers, S. 128 ff.; ähnlich auch Kirschenmann, S. 53 ff. (auch schon S. 51 f.). 42 Vgl. die Nachweise ebd. sowie ζ. B. die sehr bezeichnende Aussage, die sich bei Siebert i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 961, findet: „Es k a n n hier n u r ganz kurz angedeutet werden, daß eine solche Auffassung v o m Wesen der Gemeinschaft m i t dem Führergedanken eng verbunden ist. Wahre Gemeinschaft erträgt es nicht, w e n n i h r W i l l e i n zersetzender Vielfältigkeit gebildet werden soll; sie verlangt vielmehr eine geschlossene Einheit gerade auch i n der Willensbildung u n d Leitung, wobei der Führer dann nicht etwa der Gemeinschaft gegenübersteht, sondern ihr, seiner Gefolgschaft, a r t - u n d wesensgleich v e r bunden ist u n d sein muß." 41

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen Recht"

meinsam m i t i n einem engeren Sinne als „völkisch" zu bezeichnenden Lehren unter dem sehr weiten Dachbegriff des sog. „völkischen Rechtsdenkens" abzuhandeln. Das i m folgenden dargestellte konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken ist — unter anderem — auch ein Schritt auf jenem letzten Wege des Dezisionismus, der auf das völkische Recht zuführte. § 12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken wurde zuerst von Carl Schmitt i n seiner Schrift „Uber die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" 1 als der neue rechtswissenschaftliche Denktypus der Zeit postuliert 2 und von i h m antithetisch primär dem normativistischen Gesetzesdenken, daneben auch dem Dezisionismus und dann i m besonderen deren dem 19. Jahrhundert zugeordneten Verbindung zum juristischen Positivismus entgegengestellt 3 , der eine i n Deutschland bis dahin stets lebendige Tradition des konkreten Ordnungs- und Gemeinschaftsdenkens erstmals beseitigt habe 4 . Die zentrale Idee eines Denkens, das i m Recht vor allem anderen eine konkrete Ordnung sieht, ist der, daß Ordnung gerade nicht i n erster Linie Regel oder eine Summe von Regeln, sondern vielmehr unmittelbar i n der jeweiligen konkreten Wirklichkeit vorgegeben ist. Sie geht also der Norm voraus, bringt sie erst hervor, so daß diese ihrerseits nur ein Bestandteil und Mittel der Ordnung ist: „Die N o r m oder Regel schafft nicht die Ordnung; sie hat vielmehr n u r auf dem Boden u n d i m Rahmen einer gegebenen Ordnung eine gewisse regulierende F u n k t i o n m i t einem relativ kleinen Maß i n sich selbständigen, v o n der Lage der Sache unabhängigen Geltens 5 ."

Das konkrete Ordnungsdenken i m Zusammenhang mit dem autoritären Rechtsdenken darzustellen, erscheint nicht ganz unbedenklich. Gernhuber beispielsweise sieht i n i h m offenbar eine Spielart naturrechtlichen Denkens und kann sich dabei namentlich auf Dietze stützen, der sein (deutsches) „Naturrecht der Gemeinschaft" m i t dem „natürlichen Recht konkreter Ordnungen" gleichsetzte 8 . Soweit die Zuordnung zum Naturrecht darauf gestützt wird, daß die Lehre vom konkreten Ordnungsdenken unabweisbar einen überzeitlichen K e r n enthalte 7 , ist 1

Hamburg 1934. Die drei Arten, insbes. S. 58, 67. 3 Ebd., S. 7 ff., 29 ff. 4 Ebd., S. 10, 42. 5 Ebd., S. 13. 0 Naturrecht i n der Gegenwart, S. 262 ff. S. dazu des näheren u. § 16, insbes. T. ab Fußn. 94. 7 Gernhuber, Das völkische Recht, S. 196 f. Fußn. 115. 2

§ 12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken

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dem durchaus zuzustimmen. Wenn aber — dies geschieht allerdings nicht ausdrücklich — die Begründung dadurch hergestellt sein sollte, daß der Nationalsozialismus das i h m gemäße rechtswissenschaftliche Denken i m konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken ausgedrückt gefunden 8 , die herrschende Rechtstheorie der Zeit hinwiederum sich als neue Gestalt naturrechtlichen Denkens gesehen habe 9 , so müßte dem entgegengehalten werden, daß die Lehre vom konkreten Ordnungsdenken zwar als für eine mächtige und wohl auch zentrale Strömung der Zeit repräsentativ gelten kann 1 0 , jedoch nicht einmal i n ihrem engeren geistigen Umkreis unwidersprochen geblieben ist 1 1 und gewiß nicht schlechthin m i t dem insgesamt doch bis zur Widersprüchlichkeit vielgestaltigen nationalsozialistisch-völkischen Rechtsdenken identifiziert werden kann. Ebensowenig läßt sich die „herrschende Rechtstheorie" — schon die Ortsbestimmung einer solchen ist höchst problematisch, wenn sie Spezifischeres bezeichnen soll als den hier als Ausgangspunkt gewählten, inhaltlich weitgehend unbestimmten Dachbegriff eben jenes „völkischen Rechtsdenkens" 12 — allgemein als naturrechtlich kennzeichnen. Denn wenn auch nach dem Ende der NS-Herrschaft bis i n die Gegenwart hinein die vielfältigen gegenseitigen Verstrickungen von nationalsozialistischem Recht und Naturrecht bewußt verdrängt worden sind 13 , so konnten sich doch längst nicht alle einflußreichen Rechtswissenschaftler der Zeit als Naturrechtler verstehen 14 , am wenigsten diejenigen, die — vom Dezisionismus geprägt — dem autoritären Führerprinzip absoluten Vorrang vor allen Bindungen aus vorgegebenen Ordnungen zubilligten und sich m i t dieser Grundthese doch gewiß auch auf der Höhe der Zeit befanden 15 . 8 Ebd., S. 196. Insbesondere Carl Schmitt identifizierte das konkrete O r d nungsdenken m i t dem nationalsozialistischen Rechtsdenken schlechthin; vgl. etwa: DR 1934, S. 225 ff. (228). 9 S. wiederum Gernhuber, S. 194 m. w . N. 10 Vgl. etwa Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 293 m i t entsprechenden Nachweisen. 11 Vgl. insbes. die kritischen Anmerkungen Dahms i n seiner Besprechung von Carl Schmitts „Die drei A r t e n " : ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 181 ff. (184 ff.). Weitere Hinweise bei Rüthers, S. 297 Fußn. 104, 105. 12 S. dazu o. § 1, T. zu u. i n Fußn. 4 u. 7. 13 Vgl. hierzu Gernhuber, S. 195; Franssen, Positivismus als juristische Strategie: JZ 1969, S. 766-775 (passim), u n d die dort gegebenen Nachweise sowie u. § 16, T. v o r u. ab Fußn. 119. 14 Vgl. z. B. n u r die Hinweise auf prominente Naturrechtsgegner unter den nationalsozialistischen Rechtslehrern bei H.-H. Dietze, u. a. S. 1 f., 7,10 f. 15 S. dazu o. § 11. I n w i e w e i t der Dezisionismus wegen seiner H e r k u n f t aus der existentiell-voluntaristischen Gegenrichtung zur objektiv-idealistischen Hauptrichtung des Naturrechtsdenkens selbst noch dem Naturrecht zuzurechnen ist, k a n n hier außer Betracht bleiben, zumal ein Übergewicht zu seinen Gunsten regelmäßig als Ü b e r w i n d u n g der klassischen Richtung angesehen w i r d u n d gerade diese m i t ihrem A p p e l l an die überzeitlichen Werte gemeinh i n als die w a h r h a f t naturrechtliche Lehre legitimiert ist.

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen

echt"

Dies alles ändert freilich nichts daran, daß i n der Tat starke naturrechtliche Elemente i m konkreten Ordnungsdenken zu finden sind. Schmitt selbst, der i n i h m aktuell eine Weiterführung des vor allem von Hauriou entwickelten institutionellen Rechtsdenkens sah 16 , beruft sich zum Nachweis der Tradition eines das Recht und seinen letzten Geltungsgrund aus vorgegebenen Ordnungen schöpfenden Denkens ausdrücklich auf das mittelalterliche aristotelisch-thomistische Naturrecht, das ihm als „eine i n Wesens- und Seinsstufen, Uber- und Unterordnungen, Einordnungen und Ausgliederungen aufgebaute, lebendige Ordnungseinheit", kurz: als rechtswissenschaftliches Ordnungsdenken erscheint 17 . I n dieselbe Reihe werden sodann weitere berühmte Namen gestellt: Fichte, Savigny, Schelling und schließlich über alle Hegel, i n dessen Rechts- und Staatsphilosophie nach Schmitt das konkrete Ordnungsdenken, total und bewußt zum Gipfel geführt, seine „Summa" erlebt 18 . Thomistisches Naturrecht und Hegelsche Metaphysik aber haben als die klassischen Antithesen zu allen existentialistisch-voluntaristischen Geistesströmungen m i t einem von dezisionistischer Grundposition ausgehenden autoritären Rechtsdenken i m Prinzip kaum etwas gemein. Indessen sollten die — wie zu zeigen sein w i r d — ebenfalls nachweisbaren Bindungen des konkreten Ordnungsdenkens an eben diesen dezisionistischen Zug autoritären Rechtsdenkens nicht übersehen werden. Selten nur stehen sich jene die gesamte Naturrechtsgeschichte durchziehenden Gegenrichtungen i n w i r k l i c h reiner Form gegenüber. I n den realen Konsequenzen können sich sogar trotz des unterschiedlichen ideellen Ausgangspunktes überraschende Ubereinstimmungen ergeben. So läßt sich etwa eine autoritäre Machtstaatsideologie legitimerweise sowohl aus der Tradition einer Staatsmetaphysik Hegelscher Provenienz 19 als auch i n Weiterführung der Lehre von der absoluten Souveränität eines existierenden politischen Willens 2 0 begründen. Es ist gewiß kein Zufall, daß bei Carl Schmitt ein wesentlich von i h m selbst weiterentwickelter und auf die geistige und politische Situation gegen Ende der Weimarer Epoche bewußt zugeschnittener Dezisionismus nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und -festigung nahezu unvermittelt von einem doch ebenfalls vornehmlich von i h m geprägten neuen Denktypus abgelöst wird, der das Recht i n konkreten vorgegebenen Ordnungen verankert sieht und daher geistesgeschichtlich genau entgegengesetzten Strömungen zu entstammen scheint. Die beiden i m 16 17 18 19 20

Die drei Arten, S. 54 ff. Ebd., S. 7, 41. Ebd., S. 44 ff. S. d a z u u . §17. S. dazu o. § 11.

§ 12 Das konkrete Ordnungs- u n d Gestaltungsdenken

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Grunde so konträren Lehren ließen sich dann aber i n der praktischen Nutzanwendung mühelos für die Etablierung ein und desselben totalitären Herrschaftssystems i n Dienst nehmen. Der Verdacht liegt nahe, daß hinter ihnen übergreifende gedankliche Zusammenhänge bestanden 21 , die ihren Autoren durchaus bewußt gewesen sein dürften, wenn es auch — wohl aus Gründen einer geänderten politisch-ideologischen Strategie — nicht geraten schien, sie offen darzulegen. Spekulativ ließe sich der Ring schließen: Jetzt, da das zuvor propagierte dezisionistische Prinzip i m nationalsozialistischen Führersystem kompromißlos verwirklicht war, stellte es sich als weit eher notwendig heraus, diese allzu deutlich gewordene Wirklichkeit totalitärer Herrschaft idealisierend i n ein Gefüge angeblich vorgegebener Ordnungen aufzulösen. Bezeichnenderweise wendet sich Carl Schmitt i n der durch die Wandlung zum konkreten Ordnungsdenken bestimmten Phase seiner Rechtslehre wohl gegen einen Dezisionismus, der sich m i t dem von i h m seit jeher bekämpften Normativismus zum juristischen Positivismus verbindet. Doch erst dieser Positivismus, der als neutralistisch, legalistisch und individualistisch allein auf Sicherheit und Berechenbarkeit bedacht 22 angeprangert und lächerlich gemacht wurde, war i n der Tat der eigentliche Hauptfeind aller nationalsozialistischen Rechtslehren 23 . Einen radikalen Bruch m i t der zuvor von i h m selbst so beredt verbreiteten Konzeption eines konsequenten, von normativistischen und positivistischen Einflüssen freien Entscheidungsdenkens hingegen hat Schmitt nie vollzogen. Die hier i n den Vordergrund gerückte Frage, ob das konkrete Ordnungsdenken tatsächlich — wie von Schmitt betont 2 4 — eine Fortführung des von Haurwu entwickelten und von metaphysischen Natur21 So weist schon etwa Dahm i n seiner Besprechung der „ D r e i A r t e n " (s. o. Fußn. 11), S. 181, darauf hin, die Arbeiten Schmitts seien „ v o n Anfang an auf ein bestimmtes Z i e l gerichtet gewesen: die Entlarvung u n d Zerstörung des liberalen Rechtsstaats u n d die Überwindung des Gesetzgebungsstaats, die Erkenntnis der m i t diesem Denken verbundenen Neutralisierungen u n d E n t politisierungen u n d die Erhaltung der konkreten, durch ein unpersönliches, abstraktes Denken bedrohten Lebensordnungen". 22 Die drei Arten, S. 31 ff. 23 Die nationalsozialistische Polemik gegen den juristischen Positivismus w i r d verständlich, w e n n m a n berücksichtigt, daß der Positivist sich von seiner wissenschaftlichen u n d politischen Grundposition her einer unpersönlichen, objektiven Gerechtigkeit verpflichtet weiß, die er allein i m Gesetz ausgedrückt sieht, u n d sich daher tatsächlich allen met ajuristischen Erwägungen bewußt verschließt (vgl. Gernhuber, S. 193 ff.) u n d daß er dadurch i n der NSZeit zwangsläufig i n Opposition zu einer dem Metajuristischen w e i t geöffneten „völkischen Rechtswissenschaft" geriet, i n eine Opposition auch i m engsten politischen Sinne, denn die führenden Positivisten der Zeit waren w o h l nicht zuletzt aufgrund ihres so gar nicht zeitgerechten Bekenntnisses zu u n bedingter weltanschaulicher Neutralität i m Kräftespiel gesellschaftlicher Gruppen zugleich auch überzeugte Demokraten (vgl. Franssen, S. 768 m. w . N.). Vgl. hierzu des näheren u. § 16, T. ab Fußn. 117. 24 S. o. bei Fußn. 16.

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2. T e i l : Die Lehren vo

„völkischen Recht"

rechtslehren beeinflußten institutionellen Rechtsdenkens war oder aber i n Wahrheit — wenn auch nicht offen zugestanden — doch mindestens ebenso stark dem Dezisionismus verhaftet blieb, läßt sich freilich nur beantworten, wenn der zentrale Begriff der Ordnung vor allem i m Hinblick auf seine methodische Funktion näher geklärt ist. Eine Analyse von Carl Schmitts für das Ordnungsdenken programmatischer Schrift „Uber die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" führt insofern weder unter inhaltlichem noch unter funktionalem Aspekt zu einem befriedigenden Ergebnis. Schon Dahm vermißt i n ihr eine „völlig eindeutige Beschreibung dessen, was Ordnung ist" 2 5 . Immerhin ergibt sich aus Beispielen, welche Phänomene des sozialen Lebens hier gemeint sind. Angeführt werden Ehe, Familie, Sippenverband, Stand, Betriebsgemeinschaft, Beamtenschaft, Staat, Kirche, Arbeitslager, Heer, Bewegung als institutionell und nicht verkehrsmäßig-technisch gestaltete Lebensgebiete, i n deren konkreter Ordnung ein „spezifisch rechtliches Wesen", eine „eigene rechtliche Substanz" geborgen liegt 2 6 . A u f g r u n d ihrer konkreten inneren Ordnung, ihrer Disziplin u n d Ehre widersetze sich jede dieser Institutionen dem Versuch restloser Normierung u n d Regelung. Generelle Regeln u n d Regelmäßigkeiten kenne sie n u r als Ausfluß eben jener Substanz, der konkreten eigenen, inneren Ordnung, die mehr sei als die Summe der Regeln u n d deren Wesen sich nicht w i e i n einer technisierten Verkehrsgesellschaft i n Berechenbarkeiten erschöpfe, die nur F u n k t i o n einer normierenden Regelung seien 27 .

Als scheinbar wertfreie Konsequenz daraus ergibt sich: Entweder übernimmt der Gesetzgeber oder Rechtsanwender die m i t der Institution gegebenen konkreten Rechtsbegriffe und verwendet sie, oder aber er zerstört die Institution 2 8 . Darin liegt zwar die Warnung, eine dieser hehren, dem System potentiell allesamt nützlichen Institutionen i n ihrem Wesensgehalt anzutasten, doch w o r i n dieser besteht, was denn die ihr eigene konkrete Ordnung, ihre Disziplin und Ehre ausmacht, was ihre spezifische rechtliche Substanz ist und vor allem, wie man die mit ihr gegebenen konkreten Rechtsbegriffe erkennen und „begreifen" kann, an welchen inter subjektiv zu vermittelnden Maßstäben man etwa messen kann, was ein „tapferer Soldat", ein „pflichtbewußter Beamter", „anständiger Kamerad" 2 9 , ein „ehrbarer Bauer" oder ein „ordentlicher 25

S. 184. Schmitt, S. 20 (dort auch die Hervorhebung), 63 f., 66; vgl. auch Maunz, Das Verwaltungsrecht des nationalsozialistischen Staates, i n : Deutsches V e r waltungsrecht, hrsg. v o n Hans Frank, München 1937, S. 45, sowie Larenz, Über Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 29. Dahm, S. 186, hebt auch die „konkrete Ordnung des deutschen Volkes" hervor. Ä h n lich Larenz, S. 29. 27 Schmitt, S. 20; ähnlich Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 33 f. (insbes. 34 a. E.), 48 f. 28 Schmitt, S. 20. 29 Diese Beispiele finden sich ebd., S. 21, f ü r konkrete typische Figuren, die 26

§12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken

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Kaufmann" 3 0 ist, all dies bleibt offen. Dessenungeachtet w i r d behauptet, die Herausarbeitung solcher „konkreten Ordnungsfiguren" verhelfe dazu, eine rechtswissenschaftliche Frage besser zu verstehen und eine juristische Aufgabe richtiger zu lösen 31 . Es ist bezeichnend, daß man versucht hat, dies ausgerechnet am konkreten Rechtsgebilde „Führer" nachzuweisen: Während eine normativistische Denkweise den „ F ü h r e r der Bewegung" notwendig zum zuständigen „Staatsorgan" deklassieren müsse, u m i h n i n das rechtsstaatliche Legalitätssystem einverleiben zu können, u n d so den Führerbegriff zerstöre 32 , ergebe die Erforschung der konkreten Gestalt u n d der m i t i h r gegebenen tatsächlichen Rechtsregeln beispielsweise, daß es dem Rechtsgebilde „ F ü h r e r " widerspreche, einem i h m unterworfenen Gefolgsmann Rechte auf ein bestimmtes Verhalten des Führers u n d damit A n t e i l an der Ausübung der Führergewalt zuzugestehen, da dann von einem „ F ü h r e r " eben nicht mehr die Rede sein könne 3 3 .

Es fällt schwer, hier der Sache nach noch einen Unterschied zu solchen Lehren zu erblicken, die die Geltung des Rechts und aller normativen Werte unmittelbar aus dem absoluten Führerprinzip herleiteten. Da sich der Gedanke der konkreten Ordnung an der Spitze des i n sich gestuften und gegliederten Gesamtgefüges der Ordnungen — abgesehen von der üblichen, aber i n aller Regel nur als unverbindliche Programmerklärung zu verstehenden Berufung auf das Volk als höchste, übergreifende Einheit dieses Stufen- und Wertsystems 34 — i n der einen konkreten Gestalt „Führer" erschöpft, kann auch eine Denkweise, die nichts Geringeres als rechtliche Regelungen aus konkret vorgegebenen Ordnungen entnehmen zu können meint, den Führerwillen letztlich keinerlei heteronomen normativen Bindungen unterwerfen. Denn einer außerhalb seiner selbst liegenden Ordnung ist der Führer nicht verpflichtet. Es läßt sich vielmehr feststellen, daß sogar die Autoren, die als Vertreter des konkreten Ordnungsdenkens anzusprechen sind, die allgemeine NSAuffassung teilten, daß das Führertum nicht auf die politische Bewegung beschränkt sei, i n der es zuerst sinnfällige Gestalt gefunden habe, sondern alle am Gemeinschaftsleben des Volkes teilhabenden Organisationen, Einrichtungen und Verbände ergreife. Das Prinzip der Führung bestimmt als das „einheitliche und alldurchdringende Verfassungsprinzip des völkischen Reiches" also auch die konkreten Ordnungen i m staatlichen und ständischen Leben 35 . I n der Tat bedeutet das aus der Ordnung des konkreten „Zustandes" ständischen Rechts erwachsen u n d n u r aus i h r erkennbar sind. 30 Larenz, S. 31. 31 Carl Schmitt, S. 21. 32 Ebd., S. 22 m i t Hinweis auf: Ders., Staat, Bewegung, Volk, S. 36 f. 33 Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 35 f. S. a. o. § 11, Fußn. 42. 34 S. dazu u. Abs. hinter Fußn. 49. 35 Vgl. etwa E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 198 f., 364 ff. Wie sehr Huber

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2. T e i l : Die Lehren vo

„völkischen Recht"

Denken i n konkreten Ordnungen eine erhebliche Erleichterung für die Lösung aller rechtlichen Probleme, wenn i n Wirklichkeit schon von vornherein feststeht, daß die zu untersuchende Ordnung ihrem spezifischen Wesen, ihrer ureigenen Substanz nach einem insgeheim vorgeordneten metajuristischen Prinzip verpflichtet ist, das seinerseits nicht mehr hinterfragt wird. Freilich w i r d hiermit nur der alte Vorwurf der petitio principii wiederholt, der seit eh und je gerade dem klassischen Naturrechtsdenken gegenüber erhoben worden ist. Er trifft das konkrete Ordnungsdenken zu Recht, soweit dieses methodisch an das institutionelle Rechtsdenken anknüpft und dabei ein spezifisches Charakteristikum dieses auch naturrechtliche Traditionen fortführenden Denkens bestätigt: seinen Bezug auf eine transzendental übergeordnete, außerjuristische, werthafte Vorgegebenheit, den schon Hans J. Wolff i n seiner frühen und von der Erfahrung mit einem (nationalsozialistischen) Denken i n konkreten Ordnungen noch unberührten K r i t i k der Institutionenlehre Haurious und Erich Kaufmanns deutlich ins Bewußtsein gehoben hatte 38 . Von ähnlichem Ausgangspunkt her analysiert auch Rüthers das institutionelle Rechtsdenken, das er über Hauriou und Kaufmann bis auf Stahl und Savigny zurückverfolgt 37 , treffend als Verbindung jener weltanschaulichen Gebundenheit mit dem Gedanken der notwendigen K o r respondenz von Sein und Sollen, Lebenssachverhalt und Norm und der Offenheit des Begriffs der Institution für immer neue soziale Wirklichkeiten und mit ihnen veränderte Wertvorstellungen 38 . Damit aber w i r d die überpositive Institution entlarvt als ein „universal verwendbares Instrument" der Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung, gleichermaßen tauglich als Auslegungsmaßstab, bisweilen auch als Korrektiv bestehender wie als Quelle neuer Normen, nur jeweils auszurichten nach ihrem ideologisch vorgegebenen Werten verhafteten „Wesen" 39 . Welch unterschiedliche Wertauffassungen hinter der formal so geschlossen wirkenden institutionellen Denkmethode Platz finden können, haben die erwähnten Untersuchungen i m übrigen überzeugend nachgewiesen. Ein kurzer abschließender Hinweis auf deren Ergebnisse mag bei aller prinzipiellen Z u s t i m m u n g zum konkreten Ordnungsdenken (vgl. ζ. B. ZfgesStW Bd. 95 [1935], S. 64 f.) i n diesem auch Wille, Entscheidung u n d Tat (letztlich des Führers) berücksichtigt wissen wollte, ergibt sich ebd., S. 29. S. dazu auch u. v o r Fußn. 64. Eine ganz ähnliche Position nahm auch Maunz ein. Vgl. wiederum ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 322 ff. (324). 36 Organschaft u n d juristische Person I, S. 251 ff. 37 S. 277 ff. I n seiner jüngeren Schrift „Institutionelles Rechtsdenken i m Wandel der Verfassungsepochen", B a d Homburg, B e r l i n u n d Zürich 1970, S. 33, stellt Rüthers ferner L . v. Stein, Otto Mayer u n d Fleiner neben Carl Schmitt i n diesen Zusammenhang. 38 Die unbegrenzte Auslegung, S. 289 ff. 39 Ebd., S. 292 f.

§ 12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken

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hier genügen: Die „werthafte Vorgegebenheit" liegt bei Savigny i n der sittlichen Bestimmung der menschlichen Natur entsprechend der christlichen Lebensansicht 40 , bei F. J. Stahl i n dem von Gott konzipierten Weltplan, der christlich gedeuteten „Weltordnung Gottes" 41 . A n die Stelle religiöser Grundwertungen läßt Hauriou rechtsethische Wertungen treten, deren materialer Gehalt ganz offen aus der — selbst allerdings unbelebt gedachten — ,volonté générale 4 und der ,solidarité sociale' der jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit hergeleitet w i r d und sich dann als ,idée directrice' i n den Institutionen verfestigt 42 . Kaufmann schließlich bezieht sich auf letzte ethische Normen, hinter denen für i h n ,Phänomene der sittlichen Ordnung' stehen, die als ,objektive Institute der sittlichen Weltordnung' mit einer spezifischen ,ihnen eingeschaffene(n) Eigengesetzlichkeit' zu begreifen sind 43 . Ist also die methodische Verwandtschaft des konkreten Ordnungsdenkens i n der Rechtstheorie des Nationalsozialismus m i t den angesprochenen Institutionenlehren unabweisbar, so liegt der eigentliche Unterschied i m Inhaltlichen, i n dem von der Vorstellung der i n den Institutionen verkörperten Grundnormen einer religiös-christlichen Lebensauffassung oder einer allgemein sittlichen Welt höchst verschiedenen materialen Wertgehalt der neuen Lehren 4 4 : Vom institutionellen Denkansatz her konsequent öffnete sich das konkrete Ordnungsdenken der veränderten staatlichen und sozialen Wirklichkeit, den m i t ihr gewandelten Wertvorstellungen, der spezifischen meta juristischen, ideologisch durchtränkten Strömung der Zeit und wurde so zwangsläufig zum willkommenen Vehikel der nationalsozialistischen Weltanschauung. M i t Hilfe einer Argumentation, die aus dem „Wesen" der an die Stelle der überpositiven Institutionen getretenen konkreten Sonderordnungen 40

Vgl. Rüthers, ebd., S. 281. Ebd., S. 281 f. 42 S. Wolff , S. 253 f.; Rüthers, S. 284. 43 S. wiederum Wolff, S. 262, u n d Rüthers, S. 285 f. 44 Schnur sieht i m konkreten Ordnungsdenken den Anfang von E n t w i c k lungen, die zumindest nicht von Hauriou her gedeckt seien, u n d darüber h i n aus w o h l auch — ebenso w i e i n Fehldeutungen v o n anderer Seite — eine Verfälschung schon des Ansatzes seiner Institutionenlehre, insofern sie nicht ausgebaut, sondern i n andere geistige Strömungen eingebaut worden u n d daher auch nicht f ü r deren weitere Entwicklung i n Anspruch zu nehmen sei: Die Theorie der Institution, S. 23. Doch so berechtigt diese Apologie der L e h ren Haurious hinsichtlich des i h r zugedachten materialen Wertgehalts u n d auch ihres spezifischen, die zu jener Zeit sehr kontrovers geführte u n d i n extremen Gegensätzen stark polarisierte wissenschaftliche Diskussion anfänglich durchaus befruchtenden Denkansatzes auch sein mag, so k a n n doch nicht übersehen werden, daß — w i e zuvor dargestellt — das institutionelle Denken i m Grunde offen w a r f ü r jedwede geschichtsmächtige Wertvorstellung — u n d damit auch machtlos gegenüber einer extrem inhumanen, die geschichtliche Wirklichkeit fundamental verändernden Ideologie. 41

8 Anderbrügge

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen Recht"

Rechtsfolgen abzuleiten verstand, die nach Inhalt und Funktion genau einer den nationalsozialistischen Wertvorstellungen zu entnehmenden (und zuvor unterschobenen) Zielbestimmung der jeweiligen Sonderordnung entsprachen 45 , gelang es spielend, das ins Dritte Reich übernommene alte Recht inhaltlich, begrifflich und methodisch an die rechtspolitischen Forderungen der siegreichen nationalsozialistischen Revolution anzupassen46. Doch darüber hinaus hatte ein solches Denken i n weltanschaulich ausgerichteten konkreten Ordnungen noch einen weiteren bemerkenswerten Effekt: Indem es als der Denktypus hingestellt wurde, der neben der konkreten Wirklichkeit eines bestehenden Lebensverhältnisses vor allem auch neu wachsenden Lebensordnungen, „den werdenden Gemeinschaften, Ordnungen und Gestaltungen eines neuen Jahrhunderts gerecht zu werden vermag" 4 7 , hatte es zugleich der Verfestigung und Legitimierung der NS-Herrschaft i m staatlichen Raum wie i n allen sozialen Bereichen und zum anderen wiederum der bestätigenden Rechtfertigung der dorthin eingeschleusten NS-Ideologie zu dienen 48 . Und da es nach seinem methodischen Ansatz aus sich heraus keinerlei ideologiekritische Kontrollmaßstäbe zu entwickeln vermochte, vielmehr bewußt der metajuristischen Vorgegebenheit ausgeliefert worden war, konnte es die erwünschte Legitimierungsfunktion uneingeschränkt erfüllen. Allerdings bedeutete die totale ideologische Eingebundenheit des konkreten Ordnungsdenkens angesichts der mangelnden Geschlossenheit der nationalsozialistischen Weltanschauung folgerichtig nie die endgültige Festlegung auf eine bestimmte Position, sondern öffnete es vielmehr der ganzen Breite der dem Nationalsozialismus gefälligen völkischen Lehren, damit seine spezifische Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Wertvorstellungen noch unterstreichend. Tatsächlich vollzog sich ja i n der NS-Doktrin eine gewisse Entwicklung. Vereinte sie auch während der gesamten Dauer der NS-Machtausübung autoritäre, völkische und rassische Momente nebeneinander, wenngleich nicht widerspruchsfrei i n sich, so verschob sich doch innerhalb dieser 45 Als Beispiel sei hier n u r die bereits o. § 3, bei Fußn. 55, zitierte, sehr bezeichnende Formulierung von Maunz angeführt: „Das Denken i n Ordnungen ist nicht Selbstzweck, sondern M i t t e l zur V e r w i r k l i c h u n g von Werten. Maßgeblich ist f ü r die Beurteilung die nationalsozialistische Wertskala" : ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 323. 46 Rüthers, S. 293 - 302. 47 Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 62, 67. 48 Rüthers, a . a . O . ; Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 45. Z u den subtilen Zusammenhängen u n d Wechselwirkungen zwischen sozialer Faktizität u n d sozialer Legitimierung eines Verbandes u n d ihrer Vermengung i n den Ideologien („Legitimierungs-Ideologien") vgl. auch schon Wolff, S. 255 ff. (insbes. 257 f.).

§ 12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken

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Spanne das Ubergewicht merklich von der die Bewegung i n ihrer Kampfzeit begleitenden und nach der Machtergreifung zunächst noch dominierenden völkischen Idee i n Richtung auf das absolute Führerprinzip, das sich schließlich auf der ganzen Linie durchsetzte 49 . So ist es nicht verwunderlich, daß auch das gleich zu Beginn der NSÄra der Rechtswissenschaft zur Verfügung gestellte konkrete Ordnungsdenken zunächst eher an genuin völkischen Vorstellungen orientiert wurde, und dies u m so mehr, als dem deutschen Volk selbst, der völkischen Lebensgemeinschaft, i n der Stufenfolge der konkreten völkischen Sonderordnungen innerhalb des Nationalsozialismus wenigstens nach den öffentlichen Verlautbarungen seiner Führer von jeher ein überragender Rang eingeräumt wurde 5 0 . Allerdings stellte diese i n aller Regel nur verbal behauptete und eigentlich nirgendwo konkret hergestellte programmatische Uberordnung das Volk als „edelste Gemeinschaft" und damit gleichsam inkommensurable Größe offenbar zugleich außerhalb der Hierarchie der Einzelordnungen 51 . Daher mag zu erklären sein, daß gerade Carl Schmitt die Volksgemeinschaft nicht ausdrücklich als Beispiel eines institutionell gestalteten Lebensgebietes mit einer immanenten konkreten Ordnung anführt 5 2 . Dahm geht immerhin von der konkreten Ordnung des deutschen Volkes aus, sieht i n ihr aber verschiedene konkrete Einzelordnungen wie die ständische und Familienordnung umschlossen, die i m Einzelfall durchaus i n Widerspruch zueinander treten könnten (folglich zuerst untereinander i n ein Rangverhältnis gebracht werden müßten) und von denen her alles völkische, also auf eine völkische Gesamtordnung gerichtete Denken möglicherweise sogar als normativistisch und abstrakt erscheinen könnte 53 . Erst Larenz' konsequente Fortführung des konkreten Ordnungsdenkens bis auf die breite Basis der Volksgemeinschaft, die für i h n „ihrem eigentlichen Wesen und Kerne nach als eine ursprüngliche Gemeinschaft und Lebenseinheit gleichfalls die Grundgesetze ihres Daseins als den Ausdruck der völkischen Eigenart i n sich trägt" 5 4 , läßt jene anderen Autoren 49

Vgl. Gernhuber, S. 178 f.; Rüthers, S. 128. Vgl. ζ. B. E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 164 ff., zu der heftig umstrittenen Frage des Verhältnisses von V o l k u n d Staat, die Huber i m „neuen Reich" zu einer untrennbaren Einheit verbunden sah, i n der das V o l k als „der eigentliche u n d ursprüngliche W e r t " den Staat trägt, erhält u n d erneuert, andererseits aber gerade i n der Gestalt des Staates zur lebendigen Ordnung, zur konkreten geschichtlichen W i r k l i c h k e i t erhoben w i r d . S. dazu des näheren u. § 14 I I I , T. ab Fußn. 157. 51 Vgl. etwa Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 44. 52 S. o. zw. Fußn. 25 u. 26. 53 Vgl. die Besprechung von Carl Schmitts „Die drei A r t e n " : ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 186 f. 54 Über Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 27. 50

8*

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen Recht"

anscheinend gar nicht immer so konkret ablesbare „völkische Gesamtordnung" dominierende Bedeutung gewinnen, da sie als „die wirkliche Lebensordnung des Volkes" m i t dem Recht schlechthin identifiziert wird 5 5 , das dann i m positiven Recht lediglich des näheren zu entfalten ist. Verknüpfungen des konkreten Ordnungsdenkens m i t dem Rassengedanken blieben nicht aus. Carl Schmitt vermied es zwar i n seiner programmatischen Schrift „Uber die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens", die andernorts auch von i h m schon beschworene A r t gleichheit 58 zum substantiellen Element einer jeden konkreten Ordnung zu erheben, doch hätte ein derartiges A x i o m durchaus i n der Konsequenz seines Denkens gelegen. Immerhin hatte er gefordert, die i n der Volksgebundenheit und Artgleichheit liegende eigentliche Substanz der ,Persönlichkeit' jedes m i t der Darlegung, Auslegung und Anwendung deutschen Rechts betrauten Menschen „ i n aller Bestimmtheit" zu sichern. Der Gedanke der Artgleichheit werde „aus den sachlichen Notwendigkeiten rechtswissenschaftlicher Arbeit heraus . . . unser ganzes öffentliches Recht durchsetzen und beherrschen". Er gelte für das Berufsbeamtentum, die Anwaltschaft und überhaupt für alle Fälle, in denen Volksgenossen i n der Verwaltung, Rechtspflege und Rechtslehre tätig würden 5 7 . Gerade der i m deutschen Rechtsleben verwurzelte und dem konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken als dem der von Grund auf gewandelten staatlichen Wirklichkeit adäquaten neuen rechtswissenschaftlichen Denktypus verpflichtete Juristenstand aber ist, so muß man aus dem Zusammenhang der erstgenannten Schrift entnehmen, als „neues ständisches Gebilde" 5 8 wie als „der i m besonderen Sinne mit dem deutschen Recht befaßte Teil der nationalsozialistischen Bewegung" 5 9 selbst konkrete Ordnung 8 0 . Was aus vorgeblich sachlichen Notwendigkeiten allerdings noch zu geschehen hatte, damit diese konkrete Ordnung des „Rechtsstandes" tatsächlich rückhaltlos vom Gedanken der Artgleichheit durchdrungen sein konnte, beschrieb Carl Schmitt erst später. I n seinem Schlußwort auf der Tagung der „Reichsgruppe" Hochschullehrer des NSRB über „Die deutsche Rechtswissenschaft i m Kampf gegen den jüdischen Geist" 55

Ebd., S. 10 f., 27, 45 ff. S. o. § 9 I I , bei Fußn. 58 u. 69. 57 Staat, Bewegung, Volk, S. 44 f. S. auch o. § 3, zw. Fußn. 65 u. 67. 58 Gemeint ist die ständische Zusammenfassung aller deutschen Juristen u n d verwandter Berufsgruppen i n der „Deutschen Rechtsfront". 59 Gemeint ist der „ B u n d Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" (BNSDJ), später „Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund" (NSRB) genannt. S. dazu i.e. Weinkauff i n : Weinkauff / Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, u. a. S. 69 u. 102 ff. 60 Vgl. Die drei Arten, S. 65 ff. 56

§ 12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken

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vom 3. und 4. Okt. 1936, das wie nur wenige andere Äußerungen jener Zeit den moralischen Tiefstand einer dem Nationalsozialismus hörigen Rechtswissenschaft dokumentiert, forderte er u. a. in „bibliothekstechnischer" Hinsicht die Anlage exakter Verzeichnisse jüdischer Autoren und Bücher und eine entsprechende Säuberung der Bibliotheken, u m „unsere Studenten vor . . . Verwirrung (zu) bewahren", sowie eine Zitierweise, die die jüdische Herkunft eines Autors zweifelsfrei erkennen lasse, und all dies, weil jüdische Meinungen i n ihrem gedanklichen Inhalt nicht m i t Meinungen deutscher oder sonstiger nichtjüdischer Autoren auf eine Stufe gestellt werden könnten 61 . I n einen ganz unmittelbaren Zusammenhang m i t rassischen Vorstellungen geriet das konkrete Ordnungsdenken etwa bei Höhn, der allein von „konkreten Ordnungen unseres Volkes" aus eine Neugestaltung des Rechts und der Rechtsfindung verhieß und i m Anschluß daran erklärte: „Erst i m Rechtsleben einer konkreten Gemeinschaft können Entscheidungen unmittelbar aus dem Geist der Gemeinschaft heraus gefällt werden. Der Ausspruch: Recht ist, was arische Menschen f ü r Recht empfinden, birgt i n sich das Wissen, daß das Recht seinem Wesen nach unmittelbarer Ausdruck der Blutsgemeinschaft eines Volkes u n d nicht individuelle Satzung ist 6 2 ."

I n einer Rechtslehre, der Führertum und Artgleichheit als Grundbegriffe galten 63 , durfte die Einfügung der Institutionentheorie mit ihren gewiß auch naturrechtlich-überzeitlichen Elementen i n Gestalt des konkreten Ordnungsdenkens trotz aller denkbaren taktischen Rücksichten nicht zu einem Gegensatz zwischen dem absoluten Führerprinzip und dem Gedanken einer ihr Recht bereits i n sich tragenden vorgegebenen, „wirklichen" Ordnung führen. Folgerichtig mußte m i t der Gesamtheit der nationalsozialistischen Weltanschauung gerade auch das i n ihr letztlich dominierende autoritäre Prinzip i n das konkrete Ordnungsdenken einfließen und es wesentlich durchdringen, mochte die Vorstellung der allem Recht vorausgehenden, seinen letzten Geltungsgrund wie auch die meisten seiner Einzelregelungen selbst schon m i t sich bringenden Seinsordnung m i t der Idee des das Recht aus reinster Quelle weisenden, keinen Bindungen unterworfenen Führers auch i m Grunde unvereinbar scheinen. Man hat versucht, diese Antinomie aufzulösen durch den dialektischen Gedanken, daß Wille, Entscheidung und Tat (des Führers) das lebendige Sein erst zur geordneten Einheit gestalteten, zugleich aber aus dieser lebendigen Ordnung hervorgingen 64 , daß also jene reinste Quelle der Rechtserkenntnis gerade i n der konkreten Ordnung liege. 61

D J Z 1936, Sp. 1193 ff. (1195 f.). Rechtsgemeinschaft u n d Volksgemeinschaft, S. 78 f. 63 Vgl. Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, S. 32 ff. 64 Vgl. ζ. B. E. R. Huber, Die deutsche Staatswissenschaft: ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 1 - 65 (29 f.). Daß es sich hier i n Wirklichkeit u m ein Zirkelschlußdenken handelt, hat Kirschenmann,,Gesetz 4 i m Staatsrecht u n d i n der Staats62

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2. T e i l : Die Lehren veoa „völkischen Recht"

Eine Brücke sollte offenbar auch durch Carl Schmitts begriffliche Verschmelzung der beiden gegenläufigen Gedanken zum überspannenden „konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken" 85 geschlagen werden. Bezeichnet das Wort „Gestaltungsdenken", u m einem MißVerständnis des konkreten Ordnungsdenkens als konservativ nur auf Erhaltung des Status quo, der bestehenden Ordnung abzielend vorzubeugen, w o h l zunächst i n einem eher modischen, dem heroisierenden Sprachgebrauch der Zeit folgenden Sinne ganz allgemein die aktive, i n die Zukunft weisende Tendenz der postulierten neuen rechtswissenschaftlichen Denkweise 88 , so klingt i n ihm insgeheim doch zugleich auch der Ruf nach der gestaltenden Tat, nach dem zur Gestaltung mächtigen Führer an 87 . Dam i t aber werden echte Unterschiede zur Verherrlichung der Entscheidung des Entscheidungsmächtigen i m Dezisionismus kaum noch wahrnehmbar 8 7 3 . Zwischen Gestaltung und Entscheidung liegen lediglich Nuancen i n der Betonung, das Substrat jedoch ist ein und dasselbe. Allerdings ist zuzugeben, daß das zweite Integral des von Schmitt geprägten neuen Denktyps, das Erfassen des Rechts als Gestaltung, i n seiner eigenen grundlegenden Schrift eine bemerkenswert untergeordnete Rolle spielt. Das mag seinen Grund außer i m mutmaßlichen taktischen K a l k ü l 8 8 auch i n der uneingestandenen Einsicht haben, daß eine echte Aufhebung des Widerspruchs zwischen vorgegebener Ordnung und eigenständiger Gestaltung als Urgrund rechtlichen Geltens eben nicht möglich war 8 9 . Immerhin finden sich auch hier noch genügend Nachweise für das allen der NS-Doktrin folgenden Autoren eigentümliche zwanghafte Bemühen, trotzdem eine rechtstheoretische Konzeption zu entwickeln, die der dem Prinzip zuwiderlaufenden übermächtigen Realität absoluten Führertums wenigstens deklamatorisch Rechnung trug, wenn sie ihr auch vom ursprünglich gewählten Ansatz her i n rechtslehre des NS, S. 33 f., überzeugend dargetan. Die vorgebliche Bindung des Führerwillens an die konkrete lebendige Ordnung erweist sich also wiederum als n u r scheinbare Abhängigkeit. S. dazu bereits o. Abs. hinter Fußn. 33. 65 Erstmalig i n : Die drei Arten, S. 8, auch S. 58, 67. Vgl. hierzu auch Kirschenmann, S. 29, 35. 66 Vgl. Dahms Besprechung der „ D r e i A r t e n " , S. 185, sowie E. R. Huber, ebd., S. 65. Aus ähnlichen Gründen sah sich schon Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 57 f., gezwungen, den zuvor auch v o n i h m benutzten, eben solchen Mißdeutungen ausgesetzten Ausdruck „institutionelles Denken" überhaupt durch das neue „konkrete Ordnungs- u n d Gestaltungsdenken" zu ersetzen. 67 So namentlich bei E. R. Huber (vgl. bereits o. vor Fußn. 64) u n d ausdrücklich wiederholt bei Carl Schmitt: vgl. die ausführlichen Nachweise bei Kirschenmann, S. 32 ff. 87a S. dazu u n d zum folgenden neuerdings auch Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung i n der Rechtsprechung des Preuß. OVG, S. 79 ff. 68 S. o. hinter Fußn. 21. 69 Vgl. wiederum Kirschenmann, S. 29, 33 ff.

§ 12 Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken

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Wirklichkeit gar nicht gerecht zu werden vermochte. Aus diesem Dilemma heraus konnte eine überzeugende Abgrenzung des konkreten Ordnungsdenkens nur dem Normativismus und Positivismus, nicht aber dem Dezisionismus gegenüber gelingen. So w i r d zwar deutlich hervorgehoben, daß Herrschaft immer nur auf konkrete Macht und Würde von Menschen und nicht, wie es normativistischem Denken entspreche, lediglich auf Regeln zurückzuführen sei. Die normativistische ,Herrschaft des Gesetzes4 zerstöre die konkrete Königs- oder Führer-Ordnung, lasse König, Führer, Richter, Staat zu bloßen Normen-Funktionen werden 70 . Richtig verstanden, versetzen dagegen i m Hinblick auf den Geltungsgrund des Rechts Begriffe wie König, Herrscher oder auch Führer angeblich sofort i n nicht mehr nur regelhafte konkrete institutionelle Ordnungen 71 — ein Kunstgriff, der es ermöglicht, fortan nur noch von den Ordnungen zu sprechen. Die naheliegende Frage aber, warum diese Begriffe nicht primär — was i n der Konsequenz dezisionistischen Denkens läge — auf die das Recht erst schaffende souveräne Entscheidung einer höchsten Autorität verweisen, w i r d gar nicht angesprochen und läßt sich gewiß auch nicht hinreichend mit der salvatorischen Floskel beantworten, daß Recht schließlich sowohl Norm, wie Entscheidung, wie vor allem Ordnung sei 72 . I n dieser Richtung, so muß man folgern, w i r d die Auseinandersetzung gar nicht erst gesucht. Einer nationalsozialistischem Rechtsdenken gefährlichen normativistischen Vereinnahmung des „Führers der Bewegung" als zuständiges Staatsorgan i n die vielfältigen Bindungen eines rechtsstaatlichen Legalitätssystems w i r d mit aller Entschiedenheit entgegengetreten 73 , die dem NS-Führerstaat hingegen sehr dienliche dezisionistische Auffassung vom Führerbefehl als der Verwirklichung absoluter politischer und rechtlicher Dezision w i r d nicht einmal erwähnt. Statt dessen macht man, u m i m B i l d zu bleiben, selbst den unumschränkten Diktator, Inbegriff purer Dezision, kurzerhand zur konkreten Ordnungsfigur, zum konkreten Rechtsgebilde ,Führer' 74 , ohne seine tatsächliche Machtposition auch nur i m geringsten anzutasten. So entlarvt sich der dem Dezisionismus angesagte Kampf nur als ein Scheingefecht. Das Ergebnis stand von vornherein fest: Der autoritäre Führergedanke wurde i n der nationalsozialistischen Rechtslehre schlechthin für ausnahmslos alle konkreten Einzelordnungen des völkischen Gemeinschaftslebens zum tragenden Gestaltungsprinzip erhoben 75 , und m i t i h m setzte sich auch i m konkreten Ordnungsdenken 70 71 72 73 74 75

Carl Schmitt, Die drei Arten, S. 15. Ebd. Ebd. Ebd., S. 21 f., sowie eingehender: Staat, Bewegung, Volk, S. 36 ff. S. o. zw. Fußn. 31 u. 33. S. o. vor Fußn. 35 u. hinter Fußn. 63.

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen Recht"

l e t z t l i c h die R e a l i t ä t der t o t a l e n F ü h r e r h e r r s c h a f t

trotz

mangelnder

theoretischer F u n d i e r u n g u n d E i n o r d n u n g i n v o l l e m U m f a n g durch. § 13 Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat A u c h der B e g r i f f des „ t o t a l e n Staates" i s t i n der Fassung, i n der er die staatsrechtstheoretische D i s k u s s i o n der Endphase der W e i m a r e r R e p u b l i k a n der S c h w e l l e z u r n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n M a c h t ü b e r n a h m e m a ß g e b l i c h m i t b e s t i m m t h a t , v o n C a r l Schmitt a u f g e w o r f e n u n d w e i t e r e n t w i c k e l t w o r d e n 1 . D a die F o r m e l v o m „ t o t a l e n S t a a t " — insbesondere i n der h ä u f i g e n V e r k n ü p f u n g m i t d e m B e g r i f f des „ a u t o r i t ä r e n S t a a t e s " 2 — schon r e i n sprachlich sogleich A s s o z i a t i o n e n z u m sog. „ t o t a l i t ä r e n Staat"3 u n d zur Praxis totalitärer Herrschaft weckt, haftet i h r heute n i c h t z u U n r e c h t v o n v o r n h e r e i n das O d i u m a n o n y m e r U b e r m a c h t , a p p a r a t h a f t - i n h u m a n e r M a ß l o s i g k e i t 4 an. U r s p r ü n g l i c h h i n g e g e n sollte sie i n scheinbarer U n b e f a n g e n h e i t n u r die v ö l l i g e „ I d e n t i t ä t v o n S t a a t u n d Gesellschaft" 5 bezeichnen. D o c h d a h i n t e r s c h w a n g bereits e r k e n n b a r die „These v o m T o t a l w e r d e n des Staates ü b e r die Gesellschaft"®, also einer e i n d e u t i g e n G e w i c h t u n g z u G u n s t e n des Staates m i t . Es gehe hier, so heißt es i n einer zeitgenössischen Analyse des totalen Staatsgedankens 7 , u m die Vorstellung, daß die Herrschaftsentwicklung der Neuzeit unter dem Zeichen der i m m e r totaleren Mobilmachung der Gesellschaft f ü r den Staat stehe. Deren Gleichsetzung führe notwendig zu einer i m m e r weitergehenden, prinzipiell eigentlich unbeschränkbaren Kompetenzund Machtausweitung des Staates, die gleichzeitig eine totale Politisierung 1 Hinzuweisen ist hier vor allem auf die folgenden Schriften Schmitts: Die Wendung zum totalen Staat: Europäische Revue 7. Jhg. (1931), S. 241 ff., abgedruckt auch i n : Positionen u n d Begriffe, S. 146 - 157; weitgehend inhaltsgleich: Der H ü t e r der Verfassung (1931), S. 73 - 91 (78 ff.); ferner: Legalität u n d L e g i t i m i t ä t (1932), S. 93 ff., abgedruckt auch i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 263-345 (340ff.); Weiterentwicklung des totalen Staats i n Deutschland: Europäische Revue 9. Jhg. (1933), S. 65 ff., abgedruckt auch in: Positionen u n d Begriffe, S. 185 - 190, sowie i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 359 - 365. Einzelnachweise s. i m folgenden. 2 Vgl. aber auch die antithetische Gegenüberstellung beider Begriffe bei Ziegler, Autoritärer oder totaler Staat, S. 8 f. 3 Nach Carl Schmitt k a n n allerdings unter dem Aspekt der Intensität totaler Machtorganisation ( = K r i t e r i u m des Totalitarismus) i m m e r n u r eine Partei, nicht aber der Staat totalitär sein: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 366. I n durchaus ähnlichem Sinne kennzeichnet auch Hans Buchheim, Totalitäre Herrschaft, München 1962, S. 109 ff., jedes echte totalitäre Denken als genuin staatsfeindlich, da es eine Antithese zur staatlichen Form der Herrschaftsausübung setze. Totalitäre Herrschaft ist demnach gerade nicht eine exzessive F o r m staatlicher Macht. 4 Z u ähnlichen V o r w ü r f e n s. Schmitt, Weiterentwicklung des totalen Staats, wie zuvor zu Fußn. 3, S. 360. 5 Ders., Der Hüter der Verfassung, S. 79. 6 Vgl. Lieber, Die deutsche Lebensphilosophie u n d ihre Folgen, S. 101. 7 Ziegler, S. 6 f.

§ 13 Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat

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aller sozialen Lebensbereiche u n d -bezüge bedeute. I n scharfem Gegensatz zum ,neutralen' liberalen Staat optiere der totale f ü r einen unbedingten Monismus u n d Zentralismus der Staatlichkeit, fordere er letztlich immanent die Organisation einer totalen Herrschaft über die Seelen.

I n der Tat entspricht diese Analyse dem Schmittscfoen Ansatz, mag dieser sich auch betont wertfrei und objektiv geben und i n der Beschreibung der konkreten Verfassungslage seiner Zeit gewiß auch weitgehend richtig gewesen sein: Ausgehend von der faschistischen Lehre vom ,stato totalitario' 8 und von der Jüngersdaen Formel der ,totalen Mobilmachung' 9 , nach der es i n dem zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordenen, w e i l alles, was das Zusammenleben der Menschen angehe, ergreifenden neuen Staat der Gegenwart nichts gebe, was nicht wenigstens potentiell staatlich und politisch wäre 1 0 , konstatiert er einen dialektischen Prozeß vom absoluten Staat des 17. und 18. Jahrhunderts über den neutralen, nichtinterventionistischen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zu diesem (im Übergangsstadium zunächst noch potentiell) totalen Staat der Identität von Staat und Gesellschaft 11 . Die primär deskriptive Feststellung der Wendung zum totalen Staat, die zutreffend als ,Strukturwechsel' i m Sinne nicht nur quantitativer Vermehrung, sondern auch qualitativer Veränderung zu einem insbesondere i n alle Bereiche des wirtschaftlichen Lebens intervenierenden (Wirtschafts-) Staat gekennzeichnet wird 1 2 , markiert aber nur die eine Seite der Schmittschen Position. Die andere Seite heißt Bekämpfung des pluralistischen Parteienstaates, i n dem er die staatliche Einheit durch pluralistische Aufteilung i n eine Mehrheit festorganisierter, selbst zur Totalität strebender Sozialkomplexe (sozialer Parteigebilde) gefährdet sieht 13 , und die nun nahezu unverhohlene, vorgeblich aber von der Sorge 8 Vgl. die allerdings n u r knappen Hinweise i n Schmitts Aufsätzen: Weiterentwicklung des totalen Staats i n Deutschland: Verfassungsrechtliche A u f sätze, S. 361, sowie: Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat: Völkerbund u n d Völkerrecht, 4. Jhg. (1937), S. 139- 145, abgedruckt auch i n : Positionen u n d Begriffe, S. 235 - 239 (235). Z u m I n h a l t u n d zur F u n k t i o n jener Lehre s. ferner o. § 5 (Exkurs), T. v o r u. ab Fußn. 10. 9 Vgl. Ernst Jüngers gleichlautende Schrift, B e r l i n 1930 (2. Aufl. 1934). 10 I n demselben Sinne interpretiert Schmitt auch den i n Frankreich gebildeten Begriff der „potenziellen Hüstung": Der Hüter der Verfassung, S. 79. 11 Ebd., S. 78 f. 12 Ebd., S. 80 f. 13 Ebd., S. 83 f., 87 ff. (91). E. R. Huber sollte später darauf hinweisen, daß der Anspruch auf „politische Totalität" von Anfang an i n einem gegenüber den alten Parteien, die ihrem Wesen nach doch i m m e r n u r Teile des p o l i t i schen Gesamtkörpers hätten sein können, unvergleichlichen Sinn u n d Maß gerade der nationalsozialistischen Bewegung eigen gewesen sei. Der parlamentarische K a m p f der N S D A P habe n u r den Sinn gehabt, das parlamentarische System von innen her, durch seine eigene Logik, zu zerstören, d. h. die Möglichkeiten des parteienstaatlichen Systems formal auszunutzen, die sachliche Mitarbeit aber abzulehnen u n d dadurch das wesensgemäß auf die ver-

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen

echt"

um Wahrung und Sicherung der geltenden Reichsverfassung getragene Parteinahme für einen i m Sinne der Intensität totalen Staat, der „sich als solcher m i t derselben Wucht zur Geltung bringt, wie er es i n den sogenannten Ein-Parteienstaaten, Sowjetrußland und Italien, bereits getan hat" 1 4 . Damit ist auch die Weiterentwicklung des Gedankens vom totalen Staat i n der Person seines Autors Carl Schmitt vorgezeichnet. Seine Folgerungen können kaum noch überraschen: Der so heftig befehdete pluralistische Parteienstaat ist natürlich der ungeliebte Staat von Weimar, der „nicht aus Stärke und Kraft, sondern aus Schwäche ,total·" w i r d und unterschiedslos i n alle Lebensgebiete interveniert, weil er die Ansprüche aller Interessenten erfüllen muß 15 , „der überhaupt keine staatsfreie Sphäre mehr kennt, w e i l er überhaupt nichts mehr unterscheiden kann", der total ist „ i n einem rein quantitativen Sinne, i m Sinne des bloßen Volumens", ja eigentlich bereits i n ein pluralistisches Nebeneinander mehrerer i n sich rücksichtslos totaler Parteien zerfallen ist 1 6 . Dem stellt Schmitt dann sein Wunschbild eines „besonders starken Staates" entgegen, der total ist „ i m Sinne der Qualität und der Energie", der „ i n seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen" läßt, der nicht daran denkt, „die neuen (technischen) Machtmittel (der Militärtechnik, Nachrichtenübermittlung, Massenbeeinflussung und Meinungsbildung) seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen w i l l , untergraben zu lassen", der „Freund und Feind unterscheiden" kann 1 7 . I n diesem zuvor skizzierten Sinne, das ist Schmitts lapidares Resümee, ist „jeder echte Staat ein totaler Staat" 1 8 . Für ihn, so läßt sich unschwer folgern, war also der Staat von Weimar, unfähig, dem A n sturm der Parteien und der organisierten Interessenten standzuhalten 19 , kein echter Staat mehr 2 0 . Daß aber dieser gewiß schwache Staat i n der gegebenen Situation durch den beschwörenden Ruf nach echter, wahrhaft politischer Totalantwortliche Mitarbeit auch der Opposition angewiesene parlamentarische System funktionsunfähig zu machen (— eine i m übrigen „legale parlamentarische T a k t i k " ) : Verfassungsrecht, S. 31. 14 Ebd., S. 84, 91. 15 Legalität u n d Legitimität, S. 96. 18 Weiterentwicklung des totalen Staats i n Deutschland: Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 361 ff. 17 Z u diesem spezifischen K r i t e r i u m des Politischen s. auch o. § 11, bei Fußn. 17 - 19. 18 Wie zuvor zu Fußn. 16, S. 360 f. 19 Ebd., S. 362. 20 Vgl. H i l l , Gleichheit u n d Artgleichheit, S. 273.

§ 13 Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat

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werdung erst recht einem Zustand tödlicher Gefahr, nämlich dem Dualismus, ja Antagonismus von Staat und Partei m i t ihren auch untereinander u m die Macht konkurrierenden Gliederungen i m „neuen Reich" ausgeliefert wurde, i n dem unter dem immer stärker werdenden Übergewicht der i m Staat ihren eigentlichen Gegner sehenden Bewegung die spezifisch staatliche, normgebundene Substanz verlorenging 21 , das hat Carl Schmitt offenbar nicht zur Kenntnis nehmen wollen. I m Gegenteil: Einen der schwerstwiegenden Exzesse außernormativer, willkürlicher, aller Staatlichkeit entratener Führergewalt, Hitlers blutige Abrechnung nach dem Röhm-Putsch vom 30. Juni 1934, rechtfertigte und feierte er i n seinem berüchtigten Aufsatz „Der Führer schützt das Recht" 22 m i t mächtigem Pathos als „politische Tat" aus „sittlicher Empörung" 2 3 und pries überdies die Nationalsozialistische Partei als alleinigen Träger des politischen Willens 2 4 , als die K r a f t i n der Trinität der „Ordnungsreihen" Staat, Bewegung, Volk, die die beiden andern trage, durchdringe und führe 2 5 . Damit aber waren auch die letzten normativen Bindungen entfallen für eine A r t von Herrschaft, von der wohl zu Recht behauptet worden ist, daß kein Staat und kein bloßer Gewaltapparat, sondern nur eine ständig i n Bewegung gehaltene ,Bewegung' sie herzustellen vermag: „die vollkommene und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen und dessen totale Verfügbarkeit" 2 6 . Während Carl Schmitt nach Hitlers Machtergreifung sich m i t dem Thema des totalen Staates nur noch vereinzelt und mehr oder minder beiläufig beschäftigte 27 , nahm Forsthoff es zum Anlaß einer eingehenden 21 Vgl. Hans Mommsen, Beamtentum i m D r i t t e n Reich, S. 31; Diehl-Thiele, Partei u n d Staat i m D r i t t e n Reich, insbes. S. 3 ff. (mit einem sehr informativen Z i t a t von Rudolf Hess, der auf dem Parteitag 1937 dazu aufforderte, doch bitte [!] i n kritischen Äußerungen über den Staatsapparat etwas zurückhaltender zu sein u n d nicht zu vergessen, daß m a n nicht mehr die alte Regierung v o r sich habe: S. 4) u n d S. 27 ff. Vgl. auch die dort (S. 5) ebenfalls zitierte, gegen Höhn gerichtete Schrift von W i l h e l m Merk, Der Staatsgedanke i m D r i t t e n Reich, Stuttgart 1935, S. 34, 45 ff. Erinnert sei hier schließlich noch an Hitlers häufig zitierte Formel v o m Nürnberger Parteitag 1934: „Nicht der Staat befiehlt uns, sondern w i r befehlen dem Staat", die Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 156 ff., relativierend als Ausdruck der „organischen Verbindung von Partei u n d Staat" zu deuten versuchte. Z u r Theorie der gegenseitigen „Verschlungenheit" s. i. ü. Kirn, Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität, S. 23 f. (auch S. 18 u. 31). 22 DJZ 1934, Sp. 945 - 950. 23 Ebd., Sp. 946. 24 Ebd., Sp. 949. 25 Staat, Bewegung, Volk, S. 12 ff. 26 Diehl-Thiele, S. 7. I m m e r h i n lag auch schon nach der eingangs auszugsweise wiedergegebenen Analyse Zieglers, die von den Erfahrungen des D r i t ten Reiches noch unbeeinflußt war, die „totale Herrschaft über die Seelen" i n der Konsequenz der Formel v o m totalen Staat: S. 7. 27 Das gilt auch von dem bereits erwähnten, 1937 erschienenen Aufsatz:

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2. T e i l : Die Lehren vo

„völkischen Recht"

Erörterung, deren Ergebnis seine 1933 erstmalig erschienene Schrift „Der totale Staat" ist, die als der repräsentativste Ausdruck der Lehre vom totalen Staat i n der nationalsozialistischen Ä r a gelten kann. Ganz i m Sinne seines Lehrers Carl Schmitt sieht Forsthoff hier das politische Leben sich vollziehen i n der Begegnung von Freund und Feind, von K r a f t und Widerstand, meint er, über den Staat lasse sich „nur in der harten Sprache, die der Unerbittlichkeit allen politischen Geschehens gemäß" sei, sprechen und schreiben 28 . Und so offeriert er nach einigen weiteren ähnlich betont militanten Wendungen gleich i n der Einleitung zunächst einen radikal polemischen Begriff des totalen Staates, den er definiert als „die Entgegensetzung gegen den liberalen Staat", als den Staat „ m i t umfassender inhaltlicher Fülle i m Gegensatz zum inhaltlich entleerten, durch Autonomisierungen, d. h. juristische Sicherungen vorausgesetzter Eigengesetzlichkeiten minimalisierten und nihilisierten liberalen Staat". Der totale Staat sei „eine Formel, die dazu dienen sollte, einer noch an die liberale Begriffswelt gewöhnten politischen Welt durch Setzung des reinen Gegenbildes den Anbruch eines neuen Staates anzukündigen und zu verdeutlichen", er sei also „ein liberales Wort für eine ganz und gar unliberale Sache.. ." 2 9 . Doch „jetzt, nach der Erledigung des Liberalismus," hält er die Zeit für reif, die antiliberale Gegenposition zu überwinden und „über die polemischen Bezüge hinaus" das „Eigenrecht dieses neuen Staates" — der folglich nur der nationalsozialistische Staat sein kann — zu erkennen und zu entwickeln 30 , ein Werk, dem Forsthoff seine Schrift gewidmet hat. Wie nun dieses positive Moment i m Begriff des totalen Staates inhaltlich zu füllen und auszugestalten sei, ob mit der Totalität des PolitiTotaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat: Positionen u n d Begriffe, S. 235 - 239, i n dessen M i t t e l p u n k t insbes. der Begriff des totalen Krieges steht. Wohl zu Recht konnte Dahm schon 1935 feststellen, bei der Lehre v o m totalen Staat habe es sich lediglich u m eine Durchgangsstufe (insbes., aber nicht n u r des Schmittschen Denkens — hier auf dem Weg zum konkreten Ordnungsdenken) gehandelt: ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 181. 28 Der totale Staat, Einleitung, S. 7. 29 Ebd. 30 Ebd. — Ganz ähnlich, n u n (1935) allerdings noch deutlicher von der i n zwischen verfestigten politischen Situation beeinflußt, ging E. R. Huber bei seiner Ortsbestimmung des totalen Staates vor. I n Anlehnung an Schmitt u n d Forsthoff deutete auch er den Begriff der Totalität als polemischen Begriff: „ . . . er wendet sich gegen alle Trennungen, die der Liberalismus i m Bereich des Politischen durchgeführt hatte, u n d er ist deshalb der eigentliche Gegenbegriff gegen das liberale Trennungsdenken. Er überwindet vor allem den Gegensatz von Staat u n d Gesellschaft, indem er die Einheit der sozialen u n d politischen Ordnung erneuert; er hebt die Teilung der Gewalten auf, indem er die Einheit der Staatsgewalt wiederherstellt, er beseitigt die innere Zerrissenheit des Parteienstaates, indem eine Organisation zum ausschließlichen politischen Willensträger w i r d . " Hingegen sei es „ s c h w i e r i g e r . . . , die positive, aufbauende F u n k t i o n des Totalitätsbegriffs k l a r zu e r k e n n e n . . . " . Vgl. E. R. Huber, Die deutsche Staatswissenschaft: ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 1 - 65 (43 f.).

§13 Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat

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sehen, die i n dem totalen Staat ihre Form einer spezifischen Verbindung von Herrschaftsordnung und Volksordnung finden müsse — so Forsthoff — 3 1 , oder mit der politischen Totalität des völkischen Lebensgesetzes, das alle völkischen Lebensbereiche zu durchdringen und bestimmen habe — so E. R. Huber — 3 2 , oder mit welch anderen Elementen der nationalsozialistisch-völkischen Weltanschauung auch immer 3 3 , blieb nur scheinbar umstritten. Zwar klingt selbst hier der fundamentale Gegensatz zwischen autoritärem und völkischem Prinzip m i t an 34 . Zuzugeben ist ferner, daß der Gedanke vom totalen Staat nicht zuletzt innerhalb der Reihen nationalsozialistischer Rechtstheoretiker auch auf erklärte Gegnerschaft stieß, namentlich von Seiten derjenigen, die sich einer forcierten Ausgestaltung der völkischen Idee i n der nationalsozialistischen Rechtslehre verpflichtet fühlten. Solche Angriffe kamen schon i n der Zeit vor der nationalsozialistischen Machtübernahme aus der Richtung der konservativen Rechten 35 , die dann mitsamt ihrem teils völkischen, teils autoritären Ideengut vom Nationalsozialismus aufgesogen wurde, und wurden auch später von einer hier anknüpfenden, eher konservativen Richtung nationalsozialistischen Rechtsdenkens (konservativ i m Sinne einer Bewahrung der Ideale aus der Kampfzeit der Bewegung) vorgetragen 38 . Als Exponent dieser Richtung ist vor allem Koellreutter zu nennen, der sein Leitbild vom „deutschen Führerstaat" als einem ,völkischen' Führerstaat mit dem Volk als politischem Grundwert ganz bewußt dem totalen Staat entgegensetzte, die ,Totalität der völkischen Idee', deren Hüter die Bewegung als das politische M i t t e l der Führung sei 37 , scharf von der Totalität des ,totalen Staates' schied, 31

S. 29 f. S. 44 f., sowie: Verfassungsrecht, S. 158 ff. 33 Auch bei den vorgenannten A u t o r e n finden sich, w i e sich ζ. T. noch zeigen w i r d , nicht n u r die hier besonders hervorgehobenen Leitgedanken. 34 S. dazu aber bereits o., insbes. § 11, Schlußabsätze. 35 Vgl. die Hinweise bei Ziegler, A n m . 7 zu S. 8. 36 Erste Hinweise finden sich bereits bei E. R. Huber, S. 44 Fußn. 2. 37 Insofern berühren sich diese Gedankengänge m i t den Vorstellungen Hubers, der i m übrigen jedoch — f ü r Koellreutter w o h l zu weitgehend — von der „Totalität des völkischen Staates" sprach: S. 43 ff., u n d die politische Totalität ganz i m Hegeischen Sinne — darin ebenfalls von Koellreutter deutlich unterschieden, s. u. Fußn. 39 — als „organische Totalität" des Volkes verstanden wissen w o l l t e : Verfassungsrecht, S. 158 f. I m m e r h i n unterschied sich Huber m i t seiner Konzeption eines „herrschaftlichen Staates" als der „ T o t a l i tät des politischen Volkes" (wie eingangs, S. 43) nicht unwesentlich von der idealtypischen Form eines klassischen totalen Staatsdenkens. Er warnte sogar vor der leicht mißverständlichen Verwendung des Begriffs des „totalen Staates", w e i l damit oft n u r die Totalität der äußeren Macht bezeichnet werde, während die politische Totalität die völlige Einbeziehung aller Volksgenossen i n den Dienst am ganzen V o l k bedeute u n d i m Nationalsozialismus die vorbehaltlose Verbindlichkeit des alles erfassenden u n d durchdringenden völkischen Lebensgesetzes bezeichne (s. dazu bereits o. bei Fußn. 32). Dieses 32

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2. Teil: Die Lehren vo

„völkischen Recht"

die gerade nicht i n der völkischen Idee, sondern i n der totalen Inanspruchnahme des gesamten Machtapparates zwecks Erhaltung einer a-völkischen (nationalsozialistischem Denken angeblich fremden) Machtposition liege 88 , und sich damit, und zwar „politische(r) Grundanschauungen", nicht „bloße(r) theoretische(r) Streitigkeiten" wegen, i n unüberbrückbaren Gegensatz nicht nur zu Carl Schmitt und Forsthoff, sondern darüber hinaus auch zu Hegel und zum liberalen Machtstaat gebracht zu haben meinte, als deren konsequente Weiterentwicklung er die Idee des totalen Staates ansah 39 . Doch selbst zwischen solch prinzipiell unvereinbaren Auffassungen fand noch eine merkwürdige Koinzidenz statt: Der gemeinsame Nenner, der die bestehenden Gegensätze freilich nicht aufhob, sondern nur verdeckte 40 , war eben der autoritäre Führerstaat, der existierende NS-Staat, den es u m jeden Preis zu legitimieren galt. Daß sich das totale Staatsdenken trefflich auf diesen Staat zuschneiden ließ, hat Forsthoff selbst verschiedentlich, besonders unumwunden aber i n der erweiterten Einleitung zur 2. Auflage seiner Schrift 4 1 deutlich werden lassen. Nachdem er zunächst noch einmal, doch nun mit ganz unmittelbarem Bezug auf den nationalsozialistischen Staat, den polemischen Aspekt der Formel vom totalen Staat anspricht 42 und darauf hinweist, daß der Führer sie sich i n diesem Sinne in seiner Rede vom 2. Okt. 1933 auf dem Deutschen Juristentag zu eigen gemacht habe, wendet er sich ihrer positiv-inhaltlichen Ausgestaltung zu, die er, damit die typische Legitimationsfunktion und herrschaftsstabilisierende Leerformelhaftigkeit auch des Begriffs des totalen Staates enthüllend, i n der „unlöslichen Einheit" von Staat und nationalsozialistischer Bewegung verwirklicht sieht: Die Totalität der i n Staat und Bewegung vereinigten „legitimen politischen Ordnungsmächte" sei m i t der Formel totaler Staat gemeint 43 . Die konkrete Manifestation des NS-Regimes hatte zuvor allem von ihm selbst belebte Axiom sah er — in vom Ursprung her merklicher Abgrenzung zum totalen Staat — begrifflich am zutreffendsten mit dem Prinzip der „völkischen Ganzheit" umschrieben. Indes galt auch sie ihm als die Grundlage, auf der die politische Macht zur umfassenden Herrschaftsordnung gestaltet werden könne: Verfassungsrecht, S. 158 f. 38

Vgl. Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 131 f. Ebd., S. 68 m i t zusätzlichen Hinweisen auf weitere Darstellungen seiner Auffassung zu diesem Fragenkreis, sowie S. 189, wo er sogar Rosenbergs v i e l deutige Formel: „Nicht den totalen Staat w o l l e n w i r , sondern die Totalität der nationalsozialistischen Bewegung i m S t a a t . . . " f ü r seine Ansicht i n A n spruch nehmen zu können glaubte. 40 Vgl. wiederum o. § 11, T. vor Fußn. 41, u n d u. hinter Fußn. 66. 41 Hamburg 1933. Vgl. dazu auch H i l l , S. 273 f. 42 „Die Formel totaler Staat trifft den nationalsozialistischen Staat i n einer besonders wesentlichen Eigenschaft, i n seinem umfassenden, alle liberalen Autonomien zerstörenden Herrschaftsanspruch,..." 43 Ebd. Hill, S. 274, hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Forst39

§13 Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat

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d e m d e n auch f ü r die O r t s - u n d I n h a l t s b e s t i m m u n g des t o t a l e n Staatsdenkens b e d e u t s a m e n A u f f a s s u n g s w a n d e l i n R i c h t u n g a u f d e n a u t o r i t ä r e n F ü h r e r s t a a t e i n g e l e i t e t . E n t g e g e n der z u v o r noch a u f r e c h t e r h a l t e n e n U n t e r s c h e i d u n g v o n t o t a l e m u n d a u t o r i t ä r e m , d. h. n i c h t a n q u a n t i t a t i v e r A u s d e h n u n g der Herrschaftsbefugnis, s o n d e r n a n der „ S i c h e r u n g einer Herrschaftsmöglichkeit überhaupt" m i t R a u m f ü r unabhängige herrschaftliche E n t s c h e i d u n g u n d F ü h r u n g i n t e r e s s i e r t e n S t a a t 4 4 f ü g t e n sich f ü r Forsthoff beide P o s i t i o n e n i n der G e s t a l t des n e u e n Staates z u s a m m e n : „ D e r erste A n s a t z zu e i n e m a u t o r i t ä r e n , d u r c h k e i n e m e c h a n i sierende V o r s t e l l u n g d i s q u a l i f i z i e r t e n S t a a t ist m i t der E r r i c h t u n g des neuen, aus e i n e r w i r k l i c h e n R e v o l u t i o n h e r v o r g e g a n g e n e n S t a a t s r e g i m e n t s gegeben 4 5 ." Dieses R e g i m e n t h a t t e nach Forsthoff i n erster L i n i e H e r r s c h a f t s o r d n u n g zu sein: Als Rangordnung zwar letztlich n u r metaphysisch vollziehbar, doch i m m e r h i n demjenigen erschlossen, der zum Wesen des (unmittelbar aus den elementarischen Voraussetzungen des Blutes u n d der Rasse erwachsenden echten 46 ) Ranges geistigen Zugang habe, ermögliche sie die Unterscheidung von F ü h rung u n d Geführtsein, Herrscher u n d Regierten, die Begründung wahrer, d. h. nicht v o m V o l k verliehener, sondern anerkannter A u t o r i t ä t 4 7 . Jene U n t e r scheidung — i n ihrer praktischen Durchführung „Voraussetzung des autoritären totalen Staates" — sei nicht n u r eine äußerliche, sondern gehe auf ein wirkliches qualitatives Anderssein zurück u n d negiere die demokratische Lehre der Identität von Regierenden u n d Regierten. Damit werde „eine nach eigenen Gesetzen lebende, besonderen geschichtlichen Verantwortlichkeiten unterworfene Schicht aus dem Volke herausgehoben, ohne v o m V o l k getrennt zu werden . . . eine hochqualifizierte, rassisch u n d geistig überragende Schicht", die aber nicht irgendeine beliebige Elite, sondern die i n einem spezifisch aristokratischen Sinne gerade zur Staatsregierung berufene Führerschicht sei 48 . Die Funktionsfähigkeit dieses Führerstandes setze ihrerseits eine innere, hierarchische Gliederung voraus: „Innerhalb des Führerstandes darf es keine Gleichheit geben. Er muß sich darstellen i n einer Hierarchie des Ranges. Denn die A u t o r i t ä t aktualisiert sich i m Befehl; der Befehl ist die Handlungsform der Autorität. Das auszeichnende M e r k m a l einer autoritären Ordnung ist die Befehlsförmigkeit ihrer Gliederung. Jeder Befehl aber setzt einen überlegenen Rang voraus, der ohne Rücksicht auf die persönlichen Qualitäten des Vorgesetzten die Legitimation zum Befehl verleiht 4 9 ." hoff damit die von Carl Schmitt getroffene Unterscheidung von totalem Staat u n d totaler Partei aufgibt. Allerdings wußte auch Forsthoff i m übrigen noch zwischen Staat u n d Partei zu trennen: „Staat u n d Bewegung sind nicht m i t einander identifizierbar. Die Bewegung k a n n aufgehen i n der Person ihres Führers. Der Staat k a n n es nicht.": a. a. O. (hier w i e i m folgenden w i r d ohne besonderen Hinweis wieder jeweils die 1. Aufl. zitiert), S. 31. 44 Vgl. Ziegler, S. 8 f. Gegen den Begriff des „autoritären Staates" überhaupt wendet sich E. R. Huber, ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 42, da es keine A u t o r i t ä t des Staates, sondern n u r eine des Führers gebe. 45 S. 29. 46 Insofern ergänzt i n der 2. Aufl., S. 34 f. 47 Wieder a. a. O., S. 30 f. 48 Ebd., S. 33.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Somit hatte das autoritäre Führerprinzip auch i m System des totalen Staatsdenkens seinen festen Platz gefunden: Außer i n den Bereichen, für die eine berechenbare und präzise funktionierende Bürokratie unentbehrlich schien, sollte die Herrschaftsordnung des totalen Staates u m eben ihrer Autorität und Totalität w i l l e n überall hierarchisch, befehlsförmig und bis hinab zu den unteren Instanzen i n den Formen einer „durch unbegrenzte Verantwortung gezügelte(n), von der grundsätzlich freien, dem W i l l e n des Führers verpflichteten Initiative getragene(n) persönliche(n) Herrschaft" organisiert sein 50 . Doch nicht nur das Führerprinzip, sondern auch die anderen zentralen Leitvorstellungen der Zeit, namentlich die völkische und rassische Komponente, wurden der Lehre vom totalen Staat noch verfügbar gemacht. Bei Forsthoff geschah das durch die Konzeption einer „Volksordnung", die er neben der zuvor skizzierten Herrschaftsordnung zum integrierenden Bestandteil des totalen Staates nationalsozialistischer Prägung erhob 51 . Soweit sie durch den i n seiner Tendenz eindeutig antisemitischen Begriff der „Artgleichheit" 5 2 konstituiert ist, kann hier auf die i n anderem Zusammenhang bereits wiedergegebenen wesentlichen Wendungen Forsthoff s verwiesen werden 53 , die schließlich — befangen i n dem allenthalben beinahe ekstatisch verfochtenen Volkstums- und Rassenmythos und blinder Systemergebenheit — i n eine pauschale Rechtfertigung etwa der großen „Säuberungsaktion" der „nationalen Regierung" unmittelbar nach ihrem Amtsantritt einmündeten und noch i n der sprachlichen Formulierung etwas von der beispiellosen Inhumanität des äußeren Geschehens widerspiegeln: Diese A k t i o n habe dazu gedient, so heißt es dort, „ i n Vollziehung der Unterscheidung von Freund und Feind alle diejenigen auszumerzen, die als Artfremde und Feinde nicht länger geduldet werden konnten" 5 4 . I m übrigen wiederholt dann der Entwurf der Volksordnung einige jener stereotypen Leerformeln völkischer Programmatik — etwa, daß das Volk nunmehr „Ausgang aller politischen 49 Ebd., S. 34 (zur charismatischen A u t o r i t ä t s. dagegen o. § 7 I, vor Fußnote 29 a). 50 Ebd., S. 38. Ä h n l i c h sah auch Carl Schmitt die Stärke des nationalsozialistischen Staates, den er hier ebenfalls noch als „ t o t a l " kennzeichnete, darin, „daß er von oben bis unten u n d i n jedem A t o m seiner Existenz von dem Gedanken des Führertums beherrscht u n d durchdrungen ist": Staat, Bewegung, Volk, S. 33. 51 S. 30. 52 Vgl. dazu Hill, S. 275. Auch Carl Schmitt sprach an einer besonders exponierten Stelle (Schlußsatz i n : Staat, Bewegung, V o l k , S. 46) von dem „Erfordernis einer Artgleichheit, ohne die ein totaler Führerstaat nicht einen Tag bestehen kann". 53 S. o. § 9 I I , bei Fußn. 59. 54 S. 40. Zuvor (S. 39) hatte es geheißen, daß der Jude als Feind „unschädlich gemacht" werden mußte; s. auch o. zu Fußn. 53.

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Betrachtung, Gegenstand jeder politischen Bemühung", nicht Mehrheit oder Masse, sondern „gegliederte Gemeinschaft", „schicksalsmäßiger Zusammenhang" sei 55 —, Formeln also, die unverbindlich genug blieben, u m der politischen Führung letztlich freie Hand für all ihre Pläne, dem Volk aber nichts zu geben, doch immerhin den Schein einer i m Sinne der Parolen der nationalsozialistischen Revolution rechtgläubigen völkischen Lehre wahrten. Es verwundert daher kaum, daß der harte K e r n dieser Volksordnung abgesehen von ihrem betont antisemitischen Gehalt schlicht aus einem dem i n der Herrschaftsordnung verankerten totalen Führungsanspruch nahezu kongruent korrespondierenden Pflichtmoment bestand: „Der totale Staat muß ein Staat der totalen Verantwortung sein. Er stellt die totale Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Nation dar 5 6 ." Hier geriet das so wortmächtig beschworene völkische Lebensprinzip unterschwellig i n die Abhängigkeit eines mächtigeren, (hier noch) am Staatlichen orientierten Gestaltungsprinzips; nicht eigentlich die gepriesene völkische Moral war gefragt, sondern die rechte Staatsgesinnung : „Das eigentliche, tragende Fundament des neuen Staates ist eine neue Staatsgesinnung, die bereitwillige Aufgabe der bisherigen privaten Existenz u n d die Unterstellung unter das inhaltlich bejahte neue, totale Lebensgesetz des Staates. . . . Das große Problem der Volksgliederung u n d Volksordnung ist überhaupt erst lösbar, w e n n m a n erkannt hat, daß die eigentliche Lösung i m Gesinnungsmäßigen u n d nicht i n der Technik der Organisation liegt 5 7 ."

Die breite gemeinsame Basis des völkisch verbrämten autoritären Führerstaates — als so existierender Staat des Dritten Reiches ohnehin allen theoretischen Erfassungsbemühungen und Legitimierungsversuchen i n gleicher Weise real vorgegeben — ermöglichte es auch einem das Lebensgesetz des Volkes i m Grunde über das des Staates stellenden Autor wie E. R. Huber, den Gedanken vom totalen Staat seinem System zu adaptieren. Huber deutete das Moment der Totalität i m nationalsozialistischen totalen Staat positiv als das alle völkischen Lebensbereiche durchdringende und bestimmende politische Lebensgesetz des Volkes 58 , sah dies i n der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgedrückt und schließlich — darin liegt die entscheidende Wendung — i m Führer und i n der Bewegung dargestellt. Der politische Wille des Volkes verkörpert sich m i t h i n i n der Partei, die auch für Huber „die bewegende, prägende und tragende K r a f t des deutschen Staates" geworden ist 5 9 . Letztlich ist sie es also, die nunmehr ihrerseits 55

S. 41. Ebd., S. 42. 57 Ebd., S. 43. 58 Später von i h m als „Prinzip der völkischen Ganzheit" bezeichnet: V e r fassungsrecht, S. 158 ff. S. dazu bereits o. Fußn. 37 a. E. 59 Die deutsche Staatswissenschaft: ZfgesStW Bd. 95 (1935), S. 44. 56

9 Anderbrügge

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Gesetz und Richtung dessen angibt, was für alle völkischen Lebensbereiche bestimmend ist. Und insbesondere der Führer bildet erst i n sich den Willen des Volkes und erhebt i h n zum verpflichtenden Gesetz 60 . M i t Hilfe dieser Führer und Partei zugewiesenen Vermittlungsfunktion ließ sich i n nur wenigen Sätzen die Ausgangsposition völlig umkehren: Die Totalität des nationalsozialistischen Staates war jetzt unversehens aus der Totalität des völkischen Lebensgesetzes zur Totalität der Richtung und Ziel bestimmenden Führung geworden 61 . I n seiner Lehre vom „völkischen Führerreich" hat Huber diese Gedanken weiter ausgestaltet. Knapp zusammengefaßt ergibt sich demnach folgendes Bild: Das Prinzip jener völkischen Einheit und Ganzheit 62 , welches das Volk als „Urgrund des politischen Geschehens" begreift, erfordert zwingend die Ausschließlichkeit der politischen Führung und die Einheit der Führergewalt, ist m i t dem Führerprinzip untrennbar verbunden. Alles Leben i m Volk unterliegt somit wiederum einer sonderbaren Doppelgesetzlichkeit: es „erhält erst von der allumfassenden völkischen Idee seinen Sinn", w i r d als politisches Leben aber „vom einheitlichen und umfassenden Führerwillen bestimmt", ohne daß hier das faktisch längst entschiedene Rangverhältnis dieser bestimmenden Faktoren zueinander wirklich geklärt würde 6 3 . Der latente Gegensatz zwischen beiden soll vielmehr i n ihrer begrifflichen Verbindung zum „völkischen Führerreich" aufgehoben werden, i n dem das Volk angeblich „die Substanz der politischen Einheit" ist, „während der Volkswille durch den Führer hervorgehoben w i r d " 6 4 . Ein Schwall leerer Worte muß die präzise Funktionsbestimmung dieses Gebildes ersetzen oder auch verschleiern: Autorität und Macht des Führers gehen aus dem Dienst an der „ A r t und Sendung des Volkes" hervor, der Führer schützt und entfaltet das „Wesen des Volkes" und erfüllt dessen „geschichtliche Aufgabe", der er verpflichtet ist 6 5 . Immerhin w i r d am Ende deutlich, welches Ziel hier verfolgt wird, und zugleich, welchen Weg die Lehre vom totalen Staat schließlich beinahe zwangsläufig genommen hat. Träger der politischen Gewalt i m völkischen Reich ist nicht der Staat „als eine unpersönliche Einheit", sondern der Führer als „Vollstrecker des völkischen Gemeinwillens". Total und umfassend erscheint nunmehr die Führ erge wait, die i n sich alle M i t t e l der politischen Gestaltung vereinigt. I n der Tat ist sie es, die sich auf alle Sachgebiete des völkischen Lebens erstreckt und alle dem Führer zu Treue und Gehorsam verpflichteten Volksgenossen er60 61 62 83 64 65

Ebd., S. 41. Ebd., S. 45, auch schon S. 40 f. S.o. Fußn. 58. Verfassungsrecht, S. 160. Ebd., S. 210. Ebd.

§13 Die Lehre v o m totalen (Führer-)Staat

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faßt. Obgleich durch keinerlei Kontrollen gehemmt, vielmehr „frei und unabhängig, ausschließlich und unbeschränkt", bedeutet sie keine W i l l kür, da sie ja vom Volke ausgeht, d. h. „dem Führer vom Volke anvertraut, . . . u m des Volkes w i l l e n da" ist. „Sie ist frei von allen äußeren Bindungen, weil sie i m Inneren ihres Wesens aufs stärkste gebunden ist an das Schicksal, an das Wohl, an die Aufgabe, an die Ehre des Volkes 66 ." Doch keine noch so hymnische Verherrlichung kann darüber hinwegtäuschen, daß auch das B i l d vom völkischen Führerreich die Widersprüche der Prinzipien nicht aufzulösen vermochte. Der Kreis Schloß sich nicht i n seiner ursprünglichen Dimension. Statt dessen lief die Argumentation wie i n einer Spirale auf den einen Punkt zu, i n dem die anfänglich durchaus eigenständigen und letztlich auch unvereinbaren Leitvorstellungen der nationalsozialistischen Weltanschauung einfach irrational miteinander identifiziert wurden 6 7 , der indessen die Realität einer durch keine Prinzipien mehr gebundenen Führerherrschaft traf und daher breitester Zustimmung sicher sein konnte. Als Ergebnis der ersten Teiluntersuchungen zu den Lehren vom „völkischen Recht" läßt sich damit insgesamt festhalten: Das autoritäre Rechtsdenken war zwar eifrig bemüht, sich der völkischen Idee i m Nationalsozialismus so weit wie möglich zu assimilieren, u m einem fraglos vorhandenen Zeitgeist entsprechend selbst noch m i t einigem Fug und Recht „völkisch" genannt werden zu können. Es gelang i h m auch bis zu einem gewissen Grade, wenigstens der völkischen Terminologie gerecht zu werden. I n Wahrheit blieb es jedoch reines Führerdenken oder richtiger: allzu aufwendig und wortreich betriebene Rechtfertigung der existierenden absoluten und totalen Führerherrschaft.

ββ

Ebd., S. 230. Vgl. die o. § 11, bei Fußn. 40 - 42, wiedergegebene These Gernhubers Rüthers', die auch hier ihre Bestätigung findet. 87

9*

und

Viertes Kapitel

Völkisch-rassisches Rechtsdenken (i. e. S.) § 14 Die Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht Ist bisher vom „völkischen Rechtsdenken" als Dachbegriff aller Lehren von einem „völkisch" genannten Recht — also i n einem weiteren Sinne — ausgegangen worden 1 , so soll der Begriff i n diesem Kapitel enger verstanden werden und zusammenfassend ausschließlich solche Gedankengänge bezeichnen, die ihrem eigentlichen K e r n nach gerade i m Volk und seinem Rechtsempfinden — oder noch darüber hinaus letztlich i n der Rasse2 — die Quelle aller rechtlichen Gestaltung der Gemeinschaftsverhältnisse sehen und in der konkreten Situation jener Zeit folglich vor allem auf die systematische Fundierung und Weiterentwicklung der „völkischen Idee" (bzw. der Rassentheorie) als einer der maßgeblichen Komponenten der nationalsozialistischen Weltanschauung für das Rechtsleben des Dritten Reiches abzielten 3 . Da jedoch kein anderer Sektor eines von nationalsozialistischen Vorstellungen bestimmten Rechtsdenkens dermaßen vielgestalt und facettenreich erscheint 4 , so stellt auch dieser engere Begriff noch ein Sammelbecken verschiedener, voneinander ζ. T. nicht unerheblich differierender, allerdings sämtlich genuin „völkischer" Rechtslehren dar. Das sehr breite Spektrum, das sie darbieten, reicht etwa von einer rein vitalistisch verstandenen, beispielsweise zur „Völkisch-politischen Anthropologie" eines Krieck 5 denaturierten völkischen Rechts- und Staatsidee bis hin zu Larenz' hegelianisch anspruchsvollem „völkischen Rechtsdenken" 6 und erschwert damit die Darstellung ebenso wie der Umstand, daß sich schließlich alle dem Nationalsozialismus gefälligen Lehren als „völkisch" ausgaben und dies mit erheblichem Aufwand zumindest deklaratorisch unter Beweis zu stellen suchten, so daß auch hier bisweilen nur sehr schwer zu unter1

S. o. § 1, zu Fußn. 7, u. § 10, zu Fußn. 35. S. d a z u u . §15. 3 S. dazu schon o. § 8, insbes. I I , T. ab Fußn. 50. 4 Z u r Vielgestaltigkeit völkischer Gedanken überhaupt s. bereits o. § 8 I, T. ab Fußn. 3. 5 Ernst Krieck, Völkisch-politische Anthropologie, 3 Teile i n 3 Bänden, Leipzig 1936/37/38. 6 Hier ist insbes. seine Schrift „Über Gegenstand u n d Methode des v ö l k i schen Rechtsdenkens", B e r l i n 1938, zu nennen. 2

§ 14 Die Lehre v o m völkischen Gemeinschaftsrecht

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scheiden ist, was als spezifisch „völkisches" Gedankengut gelten kann bzw. was als pure „Wortfassade" lediglich dazu diente, ganz andere, z.T. sogar gegenläufige Gedanken und insbesondere auch schlichte machtpolitische Ziele völlig zu verdecken oder wenigstens zu verbrämen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß nicht selten ein und derselbe Autor als authentischer Interpret mehrerer Richtungen innerhalb der nationalsozialistisch-völkischen Lehren anzusprechen ist, und zwar nicht nur i n einem phasenartigen Nacheinander 7 , sondern vielfach auch gleichzeitig. So ist es gar nicht verwunderlich, daß der eine oder andere Verfechter betont völkischer Ideale i n einer nationalsozialistischen Rechtsordnung zugleich naturrechtlichen und (neu-)hegelianischen Vorstellungen nachgegangen ist und sie trotz mancher offenkundiger Unvereinbarkeiten zusammenzuspannen und das zumeist recht w i l l k ü r liche Ergebnis solcher Bemühungen als genuin nationalsozialistische Lehre auszugeben versucht hat 8 . Zudem waren schließlich alle Autoren gehalten, i n ihrem Denken und Lehren auch dem Führerprinzip einen angemessenen Ort zuzuweisen, wenn sie sich nicht zum bestimmenden Grundsatz nationalsozialistischer Politik i n Widerspruch setzen wollten. Stärker als i n jedem anderen Zusammenhang erweist sich also bei der Darstellung der engeren Lehre vom völkischen Recht, daß es hier i n der Tat nur darum gehen kann, eine typische Richtung aus der ziemlich ausgedehnten, nach streng ideologischen Maßstäben weder inwärtig exakt zu unterteilenden noch auch nur nach außen abgrenzbaren Bandbreite nationalsozialistischen Rechtsdenkens herauszulösen und sie folglich weitgehend abstrahiert zu beschreiben. Dies ändert freilich nichts daran, daß sie i n Wirklichkeit mit den anderen, i n der vorliegenden Untersuchung ebenfalls gesondert dargestellten Richtungen und Strömungen vielfältig verbunden, ja verschmolzen gewesen ist 9 . Diese Bemerkung gilt übrigens namentlich auch hinsichtlich der hier aus eben jenen Gründen genauerer Typisierung vorgenommenen, wenn auch gewiß mitunter künstlichen, weil eng Zusammengewachsenes zerschneidenden Trennung nach völkischen und rassischen Gedankengängen 10 . 7 Vgl. dazu etwa die oben zu §§ 1 1 - 1 3 dargestellten Phasen i n der Lehre Carl Schmitts, der außerdem aber auch noch — später w i e gleichzeitig — wesentliche Beiträge zu weiteren Strömungen der Zeit, beispielsweise zur Renaissance des Rechtshegelianismus, geliefert hat. S. zum letzteren etwa Die drei Arten, S. 44 ff. (einschränkend hierzu allerdings Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 45). 8 Entsprechende Hinweise finden sich insbes. bei Gernhuber, Das völkische Recht, S. 184 ff., 194 ff. 9 S. dazu o. § 10, hinter Fußn. 34. 10 S. dazu insbes. u. § 15. Wie eng völkisches u n d rassisches Denken bisweilen ineinander übergingen, zeigt sich etwa an Binders Äußerung: „ . . . Recht ist nur, was einem bestimmten, aus einer bestimmten Rasse her-

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Die Problematik einer knapp zusammenfassenden Darstellung höchst disparater Phänomene, die vorgeblich sämtlich die Verwirklichung der „Idee vom völkischen Recht" bedeuten, spiegelt sich auch i n der zur Zeit wohl treffendsten Analyse dieser Thematik, Gernhubers kritischem Beitrag zur Rechtstheorie des Nationalsozialismus unter dem bezeichnenden Titel „Das völkische Recht" 11 . Ohne ausdrücklich nach einem weiteren und engeren Begriff zu unterscheiden, beschreibt Gernhuber die Rechtslehre der NS-Zeit insgesamt als Ausdruck „völkischen Rechtsdenkens", freilich i m Sinne der „weithin noch unverbindliche(n) Formulierung eines mehr formalen als inhaltserfüllten Bandes, das sich um eine Vielzahl von Ansichten legen ließ" 1 2 . Davon hebt er jedoch andererseits — wenn auch ebenfalls nicht ausdrücklich — so etwas wie ein U r b i l d ,völkischen', d. h. die „Stimme des Volkes rein und unverfälscht" wiedergebenden, alle Einzelregelungen systematisch aus dem grundlegenden völkischen Prinzip entwickelnden Rechts ab 13 , das allerdings, durch das politisch übermächtige, immer weitere Geltung beanspruchende und letztlich auch ideologisch dominierende autoritäre Führerprinzip zunehmend bedrängt 14 , vor der Realität nationalsozialistischer Rechtspraxis beinahe zur reinen Utopie geraten mußte: „ . . . das Volk (war) Anfang und Ende des Denkens, der Führer aber Anfang und Ende der Macht.. ," 1 5 . — Wenn es gleichwohl berechtigt ist, vom völkischen Rechtsdenken auch ganz allgemein als der für den Nationalsozialismus charakteristischen A r t des juristischen Denkens zu sprechen, so demnach nur unter dem Vorbehalt, daß die spezifische Herrschaftsstruktur des nationalsozialistischen Regimes allerdings am nachhaltigsten geprägt war durch den uneingeschränkten Führergrundsatz, der letzthin den aktuellsten Inhalt der NS-Weltanschauung ausmachte 16 . Nicht zuletzt i n diesem Zusammenhang erweist sich also erneut, daß i m Natiovorgetretenen Volke vermöge seiner Eigenart, zu fühlen, zu denken, zu w o l len, als richtige Ordnung seines Gemeinschaftslebens erscheint.": Die Bedeutung der Rechtsphilosophie f ü r die Erneuerung des Privatrechts, i n : Hedemann (Hrsg.), Z u r Erneuerung des Bürgerlichen Rechts, S. 20. Die Z a h l solcher Beispiele ließe sich beliebig vermehren. Vgl. i m übrigen auch o. § 8 I, jeweils hinter Fußn. 11, 20 u n d ab Fußn. 33, sowie vereinzelte Hinweise i n §811. 11 I n : Tübinger Festschrift f ü r Eduard Kern, Tübingen 1968, S. 167 - 200. 12 Ebd., S. 173. Vgl. zum weiteren Nachweis des Zusammenhangs auch o. § 1, Fußn. 7. 13 Ebd., z. B. S. 192, auch S. 186 f., 193. 14 Ebd., S. 175 ff., 179 ff., 186 ff., 189 f. Vgl. etwa auch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 103 f., 127 ff., sowie die Hinweise o. § 7 I I , i n Fußn. 36. 15 Gernhuber, S. 187. Z u den i n diesem Zusammenhang unvermeidlich auftretenden Widersprüchen s. insbes. auch Kirschenmann, ,Gesetz' i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, S. 49 ff. 16

Vgl. etwa wiederum Rüthers, S. 104.

§ 14 Die Lehre v o m völkischen Gemeinschaftsrecht

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nalsozialismus auch zwischen dem Recht und der Macht eine bemerkenswerte Differenz bestand 17 . Wendet man sich nun von jenem weiten Verständnis völkischen Rechtsdenkens, das die ganze Breite einer auf die nationalsozialistischen Grundgedanken verpflichteten Rechtstheorie umfaßt, ab und grenzt es allein auf seinen spezifisch „völkischen" Kern ein, so bedarf es zur Vermeidung von Mißverständnissen vorab noch einer begrifflichen K l a r stellung: Dieser Kernbereich deckt sich nur zu einem geringen Teil mit dem, was als völkischer oder Volks-„Vitalismus" bezeichnet worden ist, der i n erster Linie die Erhebung des Lebensprinzips zum allheitlichen Weltprinzip meint, „ m i t dem Volk als Ganzheit überpersönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, die i n der Rasse (für die das B l u t als bildhaft-symbolischer Ausdruck gesetzt wurde) ihre innere und i m Boden ihre äußere Stetigkeitskomponente fand" 1 8 und damit viel näher bei einer ausgeprägt „rassengesetzlichen Rechtslehre" liegt 1 9 . Darin aber erschöpfte sich trotz einschlägiger Bemühungen der B l u t - und BodenMythologen i m Nationalsozialismus die „Idee vom völkischen Recht" gerade nicht 20 . Mag m i t Larenz' Aufruf zur „Erneuerung des deutschen Rechts aus dem Geiste der völkischen Weltanschauung" noch eher das allen nationalsozialistischen Autoren gemeinsame Ziel völkischen Rechtsdenkens i m allgemeinen umschrieben sein 21 , inhaltlich bedeutet die (engere) Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht insbesondere die Rückführung des Rechts und seiner Geltung auf Formeln wie das „gesunde Volksempfinden", die „gesunde Volksüberzeugung", die „herrschende Volksauffassung" oder „Volksanschauung", „Volksbewußtsein", das „Rechtsgewissen des Volkes", das „lebendige Rechtsbewußtsein des Volkes" u. ä. m. 22 , die stark intensivierte Hervorhebung der Gemein17 Kennzeichnend f ü r sie ist insbesondere das tiefe Mißtrauen, das die NSMachthaber gegenüber Rechtswissenschaft u n d Recht überhaupt als potentiell machthemmenden K r ä f t e n hegten. S. dazu o. § 10 passim. 18 So Gernhuber, S. 173. Vgl. ferner ebd., S. 182 Fußn. 59 u n d S. 193, sowie Kirschenmann, S. 45 - 52. 19 Die Geltung des Lebensgesetzes, d. h. des Rechts des Stärkeren (s. dazu bereits o. § 9 I, T. ab Fußn. 25), w a r f ü r deren Begründer, H e l m u t Nicolai, eine selbstverständliche, gar nicht mehr hinterfragte Voraussetzung; vgl. Die rassengesetzliche Rechtslehre, z. B. S. 19. I m M i t t e l p u n k t dieser Lehre stand indessen der Gedanke der Rechtserkenntnis aus der „Rassenseele"; s. dazu u. § 15. 20 Vgl. z. B. Gernhuber, S. 178 f. 21 A . a. O., Einleitung, S. 7. S. dazu des näheren o. § 1, Fußn. 7. Ä h n l i c h bereits ders., Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl. 1935, S. 1. I n die gleiche Richtung zielte Carl Schmitts Forderung nach einer (allgemein) „völkischen Rechtswissenschaft", die er, w e i l sie „weltanschauliche Vertiefung" suche, sogar als eine „philosophische" verstand: DJZ 1936, Sp. 15 ff. (21). 22 Diese weitgehend miteinander austauschbaren Begriffe w u r d e n v i e l fältig u n d von den verschiedensten Autoren verwendet, ohne daß sich i m ein-

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

schaftsidee i m Recht sowie — damit eng zusammenhängend — die besondere Betonung der Bindung des Volksgenossen durch seine Gliedstellung i n der Volksgemeinschaft. Ausdehnend erstreckte sie sich schließlich noch auf den Gedanken vom „völkischen Staat". I. Die Theorie der Identität von Recht und Volksmoral Was die bisweilen weit zurückreichende Entstehungsgeschichte der zitierten Formeln und die ζ. T. schwierige Klärung ihrer Urheberschaft angeht, so ist den entsprechenden Nachweisen Gernhubers 23 hier kaum noch etwas Neues hinzuzufügen. Wichtiger erscheint die Frage nach dem konkreten Gehalt, der funktionalen Bedeutung und dem m i t der Verwendung solcher Formeln intendierten Ziel. Wie zwiespältig indes jegliche Berufung auf eine aus den tiefsten Kräften des Volkes zu schöpfende Erkenntnis richtigen Rechts vor dem Hintergrund der NSWeltanschauung und -Herrschaftspraxis ausfallen mußte, w i r d etwa daran deutlich, daß — worauf Gernhuber i n diesem Zusammenhang besonders hinweist 2 4 — ausgerechnet ein Mann wie Freisler, der gleichsam zur Verkörperung nationalsozialistischer Terrorjustiz i n Person geworden ist, als einer der wortreichsten Propagandisten der Lehre von dem am „Rechtsgewissen des Volkes" orientierten völkischen Gemeinschaftsrecht auftrat. A n seiner spektakulären Unrechtsprechung erweist sich vielleicht am einprägsamsten, wie die rücksichtslose Durchsetzung und Behauptung von Macht letztlich nur mühsam hinter der Beschwörung hoher völkischer Werte verdeckt werden konnte. Unter diesem auch auf andere Lehren von einem nationalsozialistischen Recht übertragbaren, immer wiederkehrenden Aspekt freilich relativiert sich die i m Interesse einer subtileren Differenzierung gleichwohl erforderliche Beantwortung der zuvor gestellten Fragen nach Gehalt und immanenter Funktion wie Tendenz jener Beschwörungsformeln. a) Der konkrete Gehalt der Formeln I n seiner nur selten zitierten Schrift „Grundlegende Denkformen des Rechts i m Wandel unserer Rechtserneuerung" 25 definiert Freisler verzelnen i m m e r zurückverfolgen ließe, w e r sie eingeführt hat. S. dazu insbes. Gernhuber, S. 167 ff., sowie ferner o. § 3, zu Fußn. 45 (mit entsprechenden Nachweisen), u n d § 8 I I , zu Fußn. 51. Die dort noch nicht belegten Formeln „gesunde Volksüberzeugung" u n d „Rechtsgewissen des Volkes" finden sich etwa bei Franzen, Gesetz u n d Richter, S. 13 f., letztere — ζ. B. „Rechtsgewissen des Volkes" als „Quelle des Gewohnheitsrechts" — auch schon bei Nicolai, S. 47; vgl. auch S. 46 u n d 55. Bisweilen ist daneben auch vom „Rechtsgefühl des Volkes" die Rede — allerdings ohne Bezugnahme auf Riezlers Untersuchungen über das „Rechtsgefühl" (1. Aufl. 1921) — so ζ. B. bei Nicolai, S. 25 f., 44 f., u n d Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 55. 23 Wie zuvor zu Fußn. 22. 24 Ebd., S. 169.

§ 14 I. Die Theorie der Identität von Recht und Volksmoral

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schiedentlich, was nach v ö l k i s c h e r A u f f a s s u n g als Recht u n d Q u e l l e der R e c h t s e r k e n n t n i s zu v e r s t e h e n sei. D i e d a b e i v o n i h m i n m e h r f a c h e n A b w a n d l u n g e n der G r u n d f o r m e l v o m „ g e s u n d e n V o l k s e m p f i n d e n " 2 6 e n t w i c k e l t e n Aussagen lassen sich d e n n auch i h r e r s e i t s n a h e z u s ä m t l i c h m i t e i n a n d e r i d e n t i f i z i e r e n u n d e r l a u b e n s o m i t d e n Schluß auf e i n i n e t w a geschlossenes V o r s t e l l u n g s b i l d v o n e i n e m spezifisch v ö l k i s c h bes t i m m t e n Recht, ohne daß h i e r , abgesehen v o n der a l l g e m e i n e n Skepsis gegenüber der R e d l i c h k e i t solcher B e m ü h u n g e n , noch zusätzlich der Verdacht gerechtfertigt wäre, dem Anspruch völkischer Rechtgläubigk e i t sei l e d i g l i c h b e i passender G e l e g e n h e i t d u r c h die pflichtschuldige A n f ü h r u n g j e n e r G r u n d f o r m e l Genüge g e t a n w o r d e n : Das Recht habe i n körperlicher Lebendigkeit als Träger der Gemeinschafts gesinnung des Volkes die natürliche Ordnung seines Gemeinschaftsorganismus zu sein. Als solche müsse es v o m V o l k empfunden werden u n d i n i h m w i r k e n 2 7 . K l a r h e i t über die Elemente einer neuen (rechtlichen) Gemeinschaftsgestaltung sei „aus der unmittelbaren Anschauung dessen" zu gewinnen, „ w i e die Grundforderungen unserer deutschen Gemeinschaftsgesittung das Leben gestalten, also aus einer nationalsozialistischen Lebensschau" 28 . Der neue Strafrechtsgrundsatz des § 2 StGB z. B. — „Bestraft w i r d , wer eine T a t begeht, die das Gesetz f ü r strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes u n d nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient 2 9 ." — sei eben nicht eine Erlaubnis ausnahmsweiser ,gesetzesanaloger 4 Verurteilung, er modifiziere das bisherige Strafrecht also nicht, sondern stelle es auf eine neue Grundlage: die der Volksgesittung 30; er beute nicht das ius strictum eines gesetzespositivistischen Strafrechts aus, sondern sei der „tragende Grundsatz der strafenden Seite unserer Gemeinschaftsgesittung" 31 . Gemeinschaftsgesittung und Recht aber dürften nicht einander gegenübergestellt werden. „Es ist geradezu ein Postulat gesunden Volkslebens, daß das politische u n d das Rechtsleben des Volkes gleich sein müssen 3 2 ." Das „Wesen unseres Volkslebens" sei die Gemeinschaft, wiederum wesensgemäß als lebenswirklicher Organismus verstanden. Sie sei also auch der „Kristallisationspunkt unseres Volksrechtes" 33. 25

B e r l i n 1941. Freister verwendet sie a. a. O. n u r sparsam, etwa S. 12, w e n n er einem v o m Gefühl oder der sonstwie gewonnenen persönlichen Meinung des einzelnen Richters gebildeten „verschwommenen Kadirecht" den das Recht — soweit es nicht bereits „ v o n der Volksführung gesetzt" ist — aus dem „ B o r n des gesunden Volksempfindens" schöpfenden Richter gegenüberstellt. Vgl. daneben auch ders., Nationalsozialistisches Recht u n d Rechtsdenken, S. 66 f. 27 Grundlegende Denkformen des Rechts, S. 11. 28 Ebd., S. 12. 29 Neufassung des § 2 StGB i n der Strafrechtsnovelle v o m 28. J u n i 1935 (RGBl. I, S. 839). S. auch die durch ÄnderungsG v o m gleichen Tage (RGBl. I, S. 844) i n die StPO eingefügten §§ 170 a u n d 267 a, die sich jeweils auf § 2 StGB n. F. beziehen. 30 A . a . O . , S. 13. 31 Ebd., S. 22/23. 32 Ebd., S. 17. 33 Ebd., S. 18 f., auch schon S. 14 f. 26

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Freisler beruft sich zum Nachweis der Interdependenz der von i h m i n ständiger Wiederholung bemühten normativen Werte Gemeinschaft, Gesittung, Treue, Pflicht und Verantwortung auf ehrwürdige Ahnherren deutscher Geistestradition. Er führt Kants kategorischen Imperativ, Fichtes Verherrlichung der Pflicht, Friedrichs d. Gr. Wort vom „ersten Diener seines Staates" 34 und die Klausewitzsche Auffassung vom deutschen Soldatentum an, fügt den nationalsozialistischen Grundsatz „Gemeinnutz vor Eigennutz" 3 5 hinzu und behauptet, daß all diese Postulate nach deutscher Auffassung die Gemeinschaft tragen und das Leben der Persönlichkeit i n ihr lebenswert machen 36 . Zwangsläufig kommt er schließlich zu dem Ergebnis, daß, wenn nur die Gemeinschaft auch als Rechtsgröße i n den Mittelpunkt der allgemeinen deutschen Rechtsordnung gestellt werde, damit die doppelte Grundnotwendigkeit einer gesunden Volksordnung erfüllt sei: Das Recht sei dann sowohl „Spiegel des Volksorganismus" als auch „Ausdruck der Lebensgesittung des Volkes" 3 7 . Die zuvor wiedergegebenen Formeln, die die i m übrigen ziemlich amorphe Lehre von einem völkischen Gemeinschaftsrecht i n all ihren vielfältigen Abstufungen zumindest vorgeblich als Quelle der Rechtserkenntnis heranzog, berühren sich eng m i t einer Reihe von untereinander leicht abgewandelten markanten Parolen, deren Verwendung für die meisten Vertreter jener Lehre ebenfalls kennzeichnend ist. Die bekannteste unter ihnen ist Hans Franks „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was ihm schadet, ist Unrecht" 3 8 . Koellreutter erhebt diese berüchtigte Maxime nationalsozialistisch-völkischen Rechtsdenkens gar i n den Rang eines „völkischen Gerechtigkeitsbegriffs": Wenn nämlich das Gemeinschaftsgefühl i n jedem Volksgenossen erweckt und lebendig gehalten werde, so entwickele sich dadurch auch das ,richtige' Rechtsgefühl, das der völkischen Auffassung entspreche. Als ,gerecht' würden dann die zum Schutz und zur Entwicklung des Bestandes der nationalen Lebensordnung des Volkes bestimmten Normen empfunden 39 . Daneben finden sich Formulierungen, die lediglich den Akzent ein wenig verschieben, 34 Es ist n u r folgerichtig, Hitler an diesem Anspruch zu messen. Derartige Versuche sind auch i n der NS-Zeit verschiedentlich unternommen worden. Es w i r f t ein bezeichnendes Licht auf die heillose Verstrickung des Rechtsdenkens jener Epoche i n die bestehenden Machtverhältnisse, w e n n es hierzu etwa bei Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 14, heißt: „Der Führer ist n u r dadurch Führer des Volkes geworden, daß er mehr als jeder andere Diener seines unsterblichen Volkes u n d damit Diener des Rechts war." 35 P u n k t 24 des Parteiprogramms von 1920; vgl. o. § 6 I, hinter Fußn. 11. 36 A . a. O., S. 21 f. 37 Ebd., S. 22. 38 S. dazu o. § 8 I, bei Fußn. 35. 39 Deutsches Verfassungsrecht, S. 11.

§ 14 I. Die Theorie der Identität von Recht und Volksmoral

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wie: „Gerecht ist, was dem deutschen Volke frommt 4 0 !" oder: „Recht ist, was arische Menschen für Recht empfinden 41 ." Es ist bereits erwähnt worden, daß der Franfcsche Leitsatz wiederum identifiziert worden ist mit jenem von Freisler bereits m i t den „Rechtsquellenformeln" i n Zusammenhang gebrachten Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" 4 2 , der ebenfalls i n diese Reihe gehört und schließlich seinerseits geradewegs auf Losungen wie „ D u bist nichts, Dein Volk ist alles" 43 zuführt, die kaum noch einen Zweifel daran lassen konnten, wie gering der Lebenswert der individuellen Existenz des einzelnen i n seiner „volksgenössischen Gliedstellung" 4 4 tatsächlich zu veranschlagen sein würde 4 4 a . Jedenfalls verdeutlicht die Einbeziehung des betont utilitaristischen Aspekts i n den genannten Parolen, daß stärker noch, als es die Formeln vom „gesunden Volksempfinden", „Rechtsgewissen des Volkes" usw. erkennen lassen, die Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht die i m allgemeinen wie i m besonderen jeweils schon definitiv vorweggenommene Entscheidung des Widerstreits zwischen Gemein- und Individualinteressen zugunsten einer vom einzelnen bedingungslose Ergebenheit fordernden, hier völkisch genannten, doch letztlich anonym bleibenden Übermacht zum Gegenstand hat und somit i m Ergebnis m i t den anderen nationalsozialistischen Rechtslehren vollkommen übereinstimmt. b) Die funktionale

Bedeutung

Gleichwohl hat die Verwendung all dieser völkischen Formeln und Schlagworte funktional durchaus ihren eigenständigen Wert. M i t ihrer Hilfe erschien es möglich, rechtlich zu bewertende Vorgänge und Zusammenhänge auf eine simplifizierende Weise angeblich durchsichtiger und allgemeinverständlich zu machen. Ein derartiges, die mitunter doch vielschichtige Problematik eines Streitfalles von vornherein stark verkürzendes Vorgehen erlaubte es, auf eine echte Austragung der eigentlich 40 Freisler: D J 1936, S. 1630. I n seiner Schrift „Nationalsozialistisches Recht u n d Rechtsdenken", S. 55, versucht Freisler diesen Satz gegenüber ausländischer K r i t i k durch den Hinweis zu rechtfertigen, daß nach deutscher Auffassung n u r das Gerechte dem V o l k frommen könne. Vgl. dazu Gernhuber, S. 167. 41 Angeführt bei Höhn, Rechtsgemeinschaft u n d Volksgemeinschaft, S. 78. Dieser Gedanke findet sich i m Grunde schon bei Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 14: Nicht jeder beliebige k a n n das Recht wissen, sondern n u r der, der „reiner Rasse" ist. „Recht k a n n deshalb n u r von arischen, nordischen Menschen gewußt, gesetzt, verkündet, gesprochen werden." 42 S. o. § 8 I I , Fußn. 68. 43 S. dazu wiederum o. § 8 I I , hinter Fußn. 67. 44 Vgl. dazu des näheren o. § 8 I I , bei Fußn. 69, sowie insbes. u. I I b. 44a Bei Freisler, Rationale Staatsverfassung des Liberalismus — völkische Lebensordnung des Nationalsozialismus, S. 49, heißt es unumwunden: „Es ist nicht nötig, daß du lebst, w e n n n u r das Ganze lebt." A u f diesem Grundsatz beruhe die Erziehung der deutschen Jugend.

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

kontroversen Fragen, namentlich auf die exakte Subsumtion eines Sachverhalts unter einen gesetzlich normierten Tatbestand 45 und die logische Deduktion einer Rechtsfolge weitgehend zu verzichten. Indem man einer insoweit durchaus empfänglichen breiten Öffentlichkeit suggerierte, daß es von den nicht mehr hinterfragbaren Grundforderungen der Gemeinschaftsgesittung her i n einer streitigen Sache selbstverständlich nur jeweils ein richtiges Judiz gebe, dasjenige nämlich, das eben unmittelbar aus dem Verstehen der „bluthaften Wirklichkeit" der Gemeinschaft als des „tragenden Verfassungselements" schöpfend zum ,richtigen Recht4 verhelfe 46 , konnte man der lebhaften Zustimmung all jener Bevölkerungskreise sicher sein, denen eine subtile juristische Argumentationsweise schon immer als ein spitzfindiges Spiel m i t der Gerechtigkeit erschienen war und die deren Ergebnissen daher seit eh und je mißtrauten. Unter Ausnutzung dieses auch heute durchaus noch spürbaren und nicht ganz von ungefähr weit verbreiteten Unbehagens über die tatsächlich zuweilen unverständlich gewordene Gesetzes-, Justiz- und Verwaltungssprache des bürgerlichen Rechtsstaats m i t ihrer i m wesentlichen von der romanistischen Rechtswissenschaft übernommenen Neigung zu abstrakter Begrifflichkeit 47 und mit dem Hinweis auf die konkret faßliche, sehr anschauliche altgermanische Rechtssprache, die eine lebendigere Beziehung auf den Sachverhalt und eine unmittelbare Rechtshandhabung ermöglicht habe 48 , gelang es sehr wohl, das neue völkische Gemeinschaftsrecht mit seinen sich so volkstümlich gebenden bildkräftigen Formeln gegenüber den Auswüchsen der Begriffsjurisprudenz, die geschickt als symptomatisch für das m i t allen M i t t e l n bekämpfte liberalrechtsstaatliche System von Weimar hingestellt wurden, ins rechte Licht zu rücken und damit zugleich die vom Positivismus geprägte juristische Denkweise überhaupt zu treffen und sie sogar lächerlich zu machen. Der ihr immer wieder entgegengehaltene Hauptvorwurf lautete, daß sie einheitliche Lebenssachverhalte u m des Zieles ihrer rein begrifflichen 45

Die zuvor bereits zitierte Neufassung des § 2 StGB (s. o. bei Fußn. 29) ist hierfür das bezeichnendste Beispiel, obgleich — w i e Gernhuber versichert (S. 170 Fußn. 10) — es „niemals eine w i r k l i c h zügellose A n w e n d u n g des § 2 StGB gegeben" habe. Vgl. insofern auch die sehr maßvollen Ausführungen zu dieser Bestimmung bei Mezger, Deutsches Strafrecht, S. 25 f., 28 ff. 46 S. wiederum Freisler, Grundlegende Denkformen des Rechts, S. 14. Vgl. auch das dort erwähnte Beispiel (Verweigerung der Lohnauszahlung für nationale Feiertage an jüdische Arbeiter), das die hier vertretene These recht anschaulich zu illustrieren vermag (dazu i m einzelnen u. I I , Abs. hinter Fußn. 83). 47 die durch die i m Wege einer „neuen Rezeption" maßgeblich v o m römischen Recht geprägten großen Kodifikationen des 19. Jhdts. begünstigt wurde. 48 Vgl. etwa Michaelis, Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 15; s. a. den A p p e l l Franks: u. § 17, bei Fußn. 33.

§ 14 I. Die Theorie der Identität von Recht und Volksmoral

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E r f a s s u n g w i l l e n gerade d o r t k ü n s t l i c h auseinanderreiße, w o eine v ö l kisch-ganzheitliche B e t r a c h t u n g s w e i s e z w i n g e n d geboten s e i 4 8 a : Die Aufspaltung ein und desselben Sachverhalts nach zivil-, straf- oder verwaltungsrechtlichen Gesichtspunkten etwa sei n u r dem Juristen verständlich 4 9 . Es sei vor allem der Begriff des Tatbestandes, der zu dieser Aufspaltung führe, denn er bewirke, daß ein konkretes Lebensverhältnis seine rechtliche Qualifikation erst durch die Subsumtion unter eine fixierte abstrakte N o r m erhalte u n d damit — insbesondere i m Strafrecht — ganz u n d gar zum normbetroffenen, i n seine einzelnen Merkmale zu zerlegenden Tatbestand werde 5 0 . Dieses bislang dominierende „normativistische" Rechtsdenken fordere i m Strafrecht ferner die Zerlegung des allgemeinen Verbrechensbegriffs, der i n Wahrheit n u r als insgesamt wertbezogene u n d wertausfüllungsbedürftige Einheit zu erfassen sei, i n seine Bestandteile: äußere u n d innere M e r k male, Rechtswidrigkeit u n d Schuld. Namentlich i n der Scheidung von T a t bestand und Rechtswidrigkeit finde die normativistische Entgegensetzung von Sein und Sollen ihren sichtbarsten Ausdruck 5 1 . Sie ermögliche es, von der Erfüllung des Tatbestandes des Totschlags durch den Soldaten i m Krieg, der Körperverletzung durch den operierenden A r z t zu sprechen, w e i l diese Feststellung angeblich noch k e i n W e r t u r t e i l enthalte, das erst i m Bereich der Rechtswidrigkeit u n d Schuld falle 5 2 . Die Vorstellung einer an sich vorschriftswidrigen, doch nicht rechtswidrigen Handlung sei aber ein Hohn auf die Logik u n d jedes gesunde Gefühl 5 3 . F ü r die Ehre des Volksgenossen sei die Behauptung eines an sich tatbestandsmäßigen Handelns ebenso herabsetzend wie die Feststellung, daß jemand an sich rechtswidrig, aber nicht schuldhaft gehandelt habe 5 4 . D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t der j e n e r A u f s p a l t u n g z u g r u n d e l i e g e n d e n A u f f a s s u n g , daß die V o r s c h r i f t s w i d r i g k e i t eben n i c h t m i t d e r T a t b e s t a n d s m ä ß i g k e i t gleichzusetzen, s o n d e r n als e i n E l e m e n t d e r Rechtsw i d r i g k e i t anzusehen sei, daß also erst T a t b e s t a n d s m ä ß i g k e i t u n d R e c h t s w i d r i g k e i t g e m e i n s a m d e n U n r e c h t s t a t b e s t a n d ausmachen, findet h i e r g a r n i c h t erst s t a t t . Selbst e i n e m sonst recht besonnenen u n d k r i t i schen A u t o r w i e Dahm genügte i n s o w e i t eine — anscheinend u n t r ü g l i c h e , doch i n W a h r h e i t sehr oberflächliche — erste D e t a i l b e t r a c h t u n g , u m e i n m a l m e h r das befehdete a b s t r a k e D e n k e n s c h l e c h t h i n als v e r f e h l t u n d v o l k s f r e m d b r a n d m a r k e n zu k ö n n e n 5 5 . — So ü b e r r a s c h t es k a u m noch, 48a Dieser V o r w u r f w i r d i m Grunde auch von der Institutionenlehre (s. o. §12, T. ab Fußn. 22) u n d von der neuhegelianischen Lehre v o m „ k o n k r e t allgemeinen Begriff" (s. u. § 17, T. ab Fußn. 64) erhoben u n d m i t der Forderung nach ihrer jeweiligen „ganzheitlichen Betrachtungsweise" verknüpft. 49 Michaelis, S. 57. 50 Ebd. sowie S. 52. 51 Vgl. Dahm, Verbrechen u n d Tatbestand, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 63 f., 67 f. 52 53 54 55

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 65. S. 66 f. (Hervorhebung i m Original). S. 68 f. S. 68.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen

echt"

daß die F o l g e r u n g e n aus d e r a r t i g e n E i n z e l b e o b a c h t u n g e n n u n i h r e r s e i t s nach d e m b e w ä h r t e n M u s t e r d e r V e r a l l g e m e i n e r u n g 5 6 gezogen w u r d e n : Die Ablösung des alten Rechts m i t seiner wechselseitigen Bezogenheit von (aus der völkischen Lebensgemeinschaft hervorgegangenem) Rechtssatz u n d (im Recht begriffenem) konkretem Lebensverhältnis sei gekennzeichnet durch das Arbeiten m i t dem erdachten, rein hypothetisch gesetzten F a l l an Stelle des i n der Wirklichkeit vorgefundenen Sachverhalts 57 . F ü r das rechtsstaatliche Denken sei die Verbindung von F i x i e r u n g (in Gestalt eines feststehenden Gesetzestextes oder zumindest eines Inbegriffs von Vernunftsätzen oder Begriffen) u n d Abstraktion geradezu ein Postulat, die Austilgung der konkreten Beziehung ein notwendiges Korrelat der gesetzlichen Fixierung 5 8 . Sein normativistisches Recht erscheine am reinsten i n abgezogenen Begriffen, gewinne seine Würde aus dem Abstand v o m Leben. I m M i t t e l p u n k t der wissenschaftlichen A r b e i t an i h m stünden die „Allgemeinen T e i l e " 5 9 u n d die „ A l l gemeine Rechtslehre", die über alle Wirklichkeiten u n d Inhalte erhaben seien. Dieses Denken werde durch eigene Gesetze bestimmt. Seine Begriffe gestalteten sich nicht nach den Dingen, sondern nach der selbständigen Techn i k der abstrakten Begriffsbildung, die auf der Entwertung des Lebens u n d seiner inneren Ordnung beruhe u n d keine Rücksicht auf das innere Gesetz der Gemeinschaft, auf natürliche u n d wesenhafte Zusammenhänge nehme 6 0 . Klarheit über die Elemente der Gemeinschaftsgestaltung gewinne m a n n u n einmal nicht durch die Herausdestillierung abstrakter Begriffe, die als Maßstab aus eigenem Recht dem Leben gegenüberträten u n d n u n m i t Hilfe der Rechtsprechung verlangten, daß das Leben sich nach ihnen richte 8 1 . U n t e r d e r a r t d ü s t e r geschilderten U m s t ä n d e n aber sah m a n k e i n e M ö g l i c h k e i t , die angestrebte „ A u f r i c h t u n g e i n e r E i n h e i t v o n Recht u n d v ö l k i s c h e r L e b e n s o r d n u n g " z u v e r w i r k l i c h e n 6 2 . Das ü b e r k o m m e n e D e n k u n d Begriffssystem m i t seinen v o r g e b l i c h so l e b e n s f e r n e n u n d v o l k s fremden A b s t r a k t i o n e n mußte folglich beseitigt w e r d e n u n d einem neuen w e s e n h a f t e n u n d w e r t b e z o g e n e n D e n k e n P l a t z machen, dessen a l l e i n i g e R i c h t s c h n u r die V o l k s g e m e i n s c h a f t u n d i h r e v o n d e r w a h r e n N a t u r der D i n g e u n d i h r e r i n n e r e n G e s e t z l i c h k e i t ausgehende l e b e n d i g e Rechtsanschauung sein s o l l t e 6 3 . I n e i n e m so v e r s t a n d e n e n „ g e s u n d e n V o l k s r e c h t " 58 Daß ein relativ hohes Maß an Verallgemeinerung bei der notwendigerweise höchst gerafften Darstellung u n d insbes. bei der typisierenden Bewertung großer geistesgeschichtlicher Strömungen nahezu unvermeidlich ist, soll hier gewiß nicht verkannt werden. U m so wichtiger erscheint jedoch das Bemühen u m ein gleichwohl möglichst differenziertes Urteil, dem sich offenbar n u r sehr wenige unter den Autoren von als „echt nationalsozialistisch" gepriesenen Veröffentlichungen (vgl. dazu Weinkauff i n : Weinkauff / Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 111 f.) verpflichtet fühlten. 57 Vgl. Michaelis, S. 38 f. 58 Ebd., S. 55 (25, 48). 59 seil, der großen Kodifikationen. 80 Vgl. Dahm, S. 62. 81 Freisler, Grundlegende Denkformen des Rechts, S. 12. 82 S. etwa Michaelis, S. 58. 83 Ersetzt m a n hier die zentralen Begriffe „ V o l k " u n d „Volksgemeinschaft" durch Leitbilder w i e „feste Ordnungen", „Eingliederungen i n ständische und andere Verbände", m i t denen an mittelalterliche Differenzierungen an-

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könnten dann allerdings bestimmende Denkfiguren des bisherigen Rechts wie ζ. B. Rechtspersönlichkeit, Eigentum und Vertrag, zurückgeführt auf den natürlichen Ausdruck gesunder Lebens Vorgänge, einen wichtigen Platz einnehmen 64 . Die große Alternative des klassischen Methodenstreits war fortan nur noch eine rhetorische Frage: „Unmittelbare Lebensschau als Methode der Rechtserkenntnis oder A n wendung von Rechtsbegriffen auf das Lebensproblem — das ist i m Grunde i n der allgemeinen Rechtslehre w i e i n der Einzelrechtsanwendung i n zweifelhaften Fällen entscheidend dafür, ob die Lebensgemäßheit der Rechtserkenntnis gesichert ist oder dem Z u f a l l überlassen w i r d 6 5 . "

Die wortreich vertretenen völkischen Formeln und Parolen hatten anscheinend ihre Funktion erfüllt, ohne auf nennenswerten Widerstand gestoßen zu sein. I n der Abneigung gegen das abstrakte Denken, das sich i m ungeliebten Staat von Weimar vermeintlich selbst ad absurdum geführt hatte, war man sich ohnehin einig gewesen. Das i h m antinomisch entgegengesetzte neue Denken hingegen versprach i n dem den Deutschen zumeist fremd gebliebenen Bereich des Rechts mehr Anschaulichkeit und Volkstümlichkeit. Es traf den pathetisch-weihevollen Ton der Zeit, knüpfte eindrucksvoll an gewichtige Traditionen deutschen Geisteslebens an — kurzum, es setzte sich durch, ohne eigentlich gezwungen worden zu sein, eine eigenständige konstruktive Leistung vorzuweisen, die der Rechtspraxis mehr hätte geben können als nur den Verweis auf das i m Volk ruhende gesunde Rechtsgefühl, das schon den i h m gemäßen Ausdruck finden oder wenigstens fordern werde. Immerhin schien die nicht ohne Nachhall verfochtene ganzheitlich-konkrete völkische Betrachtungsweise den Weg geebnet zu haben zu einem deutschen Recht, das nach Auffassung seiner Interpreten wieder die Lebensordnung des deutschen Volkes darstelle: „Alles Handeln u n d Sein hat Sinn n u r aus der Gemeinschaft. Sie ist k e i n Normengefüge u n d keine äußere Form des Zusammenseins, sondern eine wirkliche, lebendige, innere Ordnung. Recht u n d Leben sind also keine Gegensätze, sondern das Recht ist die sinnvolle — nicht die empirische! — Wirklichkeit selbst 66 ." geknüpft werden sollte u n d die sich gerade auch bei den hier zitierten Autoren finden (vgl. ζ. B. Michaelis, S. 15, 59 f.), so w i r d deutlich, w i e nah dieses spezifisch völkische Denken i m Ausgangspunkt — der gemeinsamen Frontstellung gegen Normativismus u n d Positivismus — m i t dem konkreten Ordnungsdenken — s. o. § 12 — verwandt ist. Der Unterschied liegt vor allem i n der hier apodiktisch behaupteten ausschließlichen Bindung aller Erscheinungen des völkischen Lebens an das sog. „Wesensgesetz des Volkes", an das auch — man w a r vereinzelt naiv genug, dies zu glauben, oder aber v e r kündete es w i d e r bessere Einsicht — der Führer gebunden sei. S. dazu des näheren o. § 7 I I , vor Fußn. 35, sowie u. I I b, bei Fußn. 102. 64 So z. B. Freisler, a. zuletzt a. O., S. 11 f., 23 ff. 65 Ebd., S. 14. 66 Dahm, S. 85.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Breiten Bevölkerungskreisen verstand man mit diesen Gedankengängen offenbar zu schmeicheln. So geriet hier unversehens mancher Rechtslehrer i n den Sog einer geschickten Propaganda, die „ m i t Erfolg dem Publikum einzureden wußte, seine Ressentiments und Antigefühle seien unverdorbenes ,Volksempfinden', ihre unvernünftige Massentümlichkeit sei ,echt' und,völkisch'" 6 7 . c) Die Tendenz der Formeln Was endlich das mit der Verwendung jener stets wohlfeilen Beschwörungsformeln intendierte Ziel angeht, so w i r d — ungeachtet parallel verlaufender Bemühungen seitens der politischen Führung u m eine propagandistische Uberformung i n Richtung auf das erwünschte systemkonforme Einheitsverhalten und auf die Formierung der sogen, „rechten Gesinnung" hin — aus allen sich ihrer bedienenden rechtstheoretischen Erörterungen das wohl ernstliche Bestreben deutlich, Recht und Volksmoral zur Deckung zu bringen 6 8 . Gewiß ergeben sich hier vom Wortlaut der genannten Wendungen her Unterschiede. Aus der Gruppe der vom Frankschen Leitsatz ausgehenden Losungen sind unter diesem Aspekt ohnehin nur wenige m i t heranzuziehen 69 . I m übrigen kommt die angestrebte absolute Identität i n Begriffen wie „herrschende Volksauffassung" — was schließlich als Anstoß zu einer schlicht empirischen Feststellung hätte mißverstanden werden können 7 0 — weniger, i n „Rechtsgewissen des Volkes" hingegen besonders stark zum Ausdruck 71 . Es erscheint jedoch müßig, insofern zwischen den einzelnen Formeln erheblich zu differenzieren, weil sich die Nuancen der jeweiligen Begriffsbildung i n der praktischen Handhabung nahezu verloren haben und sich i m Sprachgebrauch der Zeit letztlich nur das „gesunde Volksempfinden" und daneben das „Rechtsgewissen des Volkes" einen festen Platz zu sichern vermochten 72 . Die intendierte gemeinsame Stoßrichtung jedenfalls schien plausibel. Nicht ganz zu Unrecht meinten die überzeugten Wegbereiter eines sich nach ihrer Vorstellung m i t den gewandelten politischen Verhältnissen anbahnenden neuen Identifikationsprozesses zwischen sittlichem Emp87

Vgl. Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 61. Wie i m m e r ζ. B. die o. bei Fußn. 27 - 37 zitierten Äußerungen Freislers letztlich m o t i v i e r t sein mochten, diese Tendenz ist auch ihnen eigen, zumal die systemstabilisierende W i r k u n g der Konkordanz von „ Gemeinschaftsgesittung u n d Recht" i h m w i e überhaupt den „Parteijuristen" (s. dazu o. § 9 I I , Fußn. 40) rechtspolitisch n u r gelegen sein konnte. 89 Z u nennen wären hier vor allem die bei Freisler u n d Höhn zu findenden Abwandlungen des Frankschen Satzes (s. o. bei Fußn. 40 u. 41). 70 S. dazu wiederum Dahm, S. 85 f. 71 Vgl. auch Gernhuber, S. 169. 72 So ebd., S. 167 ff. 88

§ 14 I. Die Theorie der Identität von Recht und Volksmoral

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finden des Volkes und staatlicher Rechtsordnung, i n der Entwicklung zum säkularen bürgerlichen Rechtsstaat, wie er sich ihnen i n der Republik von Weimar darstellte, den eigentlichen Schlüssel für die tatsächlich weithin nachweisbare Inkongruenz von Recht, Sitte und Sittlichkeit gefunden zu haben. Sie konstatierten ein mit der Auflösung der seit dem Mittelalter überkommenen zumeist ständischen Gliederungen und Verbände einhergehendes Dahinschwinden der Bindungen durch die Sitte als der „äußeren Erscheinungsform einer objektiv verbindlichen Lebensanschauung" und beklagten, daß die Sittlichkeit als das „innere, keiner Zwangsnorm zugängliche Reich der Freiheit" dem Recht gegenübertrete, daß iustum und honestum getrennt würden und daß die äußerlich ordnende Zwangsgewalt zur eigentlichen Substanz des Rechts, die Erzwingbarkeit zu seinem K r i t e r i u m werde 73 . Nirgend sonst i n der nationalsozialistischen Rechtslehre manifestiert sich das Bemühen, die Aufspaltung des Normativen i n zwei voneinander getrennte Bereiche zu überwinden und Legalität und Moralität wieder zu vereinen, so unmittelbar und zugleich so rückhaltlos idealistisch wie hier. (Die sich damit aufdrängenden nahen Beziehungen zur Hegelschen Gedankenwelt, denen die deutliche Wendung gegen Kants exakte Kategorienbildung entspricht 74 , sollen an dieser Stelle zunächst unberücksichtigt bleiben 75 .) Diese Autoren hatten sich nichts Geringeres vorgenommen, als die „Einheit von Volk und Recht neu zu schaffen", das Recht also wieder zum „Inbegriff der i m Volke lebenden Ordnungen und Überzeugungen" werden zu lassen 76 . Den Weg sah man offenbar vorgezeichnet: „Nicht das aufklärerische Vertrauen auf die gute Einsicht der Menschen oder umgekehrt auf den Rechtszwang gewährleistet die Einheit des völkischen Lebens mit dem Recht, sondern nur die Überwindung der Aufspaltung des Volkes durch die Entstehung neuer Bindungen i n Form der Sitte 7 7 ." Die völliges Überzeugtsein vorgebende Diktion solcher und ähnlicher Absichtserklärungen vermag allerdings nichts daran zu ändern, daß sie die auch zu Beginn des zweiten Drittels des 20. Jhdts. längst entwickelte höchst komplexe gesellschaftliche Situation der modernen Industriestaaten schlechthin ebensowenig trafen wie die besondere Wirklichkeit des Lebens m i t und unter der NS-Herrschaft, die durch das bei aller Entsicherung i m Grunde unberührte und sozial unvermittelte Weiterbestehen der individuell-bürgerlichen wie der proletarisch-massenhaften Existenz ge73

So insbes. Michaelis, S. 47. Vgl. dazu etwa Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 32 f., 138 f.; sowie ebd., S. 43 ff. (zur Rechtstheorie Launs) : eine w i r k l i c h e Konvergenz von Recht u n d Moralität gebe es nicht, sie könne lediglich als Postulat genommen w e r den. 75 S. dazu u. § 17. 76 S. wiederum Michaelis, S. 58 f. 77 Ebd., S. 59. 74

10 Anderbrügge

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

kennzeichnet blieb. Eine revolutionäre Veränderung der Sozialverhältnisse durch totale gesellschaftliche und normative Umgestaltung i m Sinne der genannten Systemüberwindung bewirkte die nationalsozialistische Herrschaft jedenfalls nicht. Es sei angemerkt, daß deren legales Zustandekommen gerade auch von der Rechtswissenschaft der Zeit wortreich verteidigt wurde, da man durchaus erkannt hatte, daß unter den gegebenen Umständen allein die „Methode der Legalität" 7 8 geeignet war, einen Zustand zu schaffen, der es den Machtunterworfenen fortan unter allen Umständen unmöglich machen sollte, sich lediglich legal zu verhalten, i n dem Zustimmung u m jeden Preis gefordert und nicht der geringste innere Vorbehalt geduldet wurde. Das Ergebnis all dessen ist bekannt. Es mutet wie ein Hohn auf die Theorie von der absoluten Identität von Recht und Volksmoral an. Die beabsichtigte Überwindung des als pures Legalitätsdenken verteufelten Gesetzespositivismus gelang auf eine erschütternde Weise: Nicht das Entstehen neuer sittlicher Bindungen der Volksgemeinschaft, das die Differenz zwischen Recht und Ethik hätte aufheben können, sondern eine beispiellose, jegliche ethische Verpflichtung preisgebende Pervertierung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu einem Unrechtssystem, das durch einen bis dahin unvorstellbaren Terror bestimmt wurde, entzog i h m i n Wirklichkeit die Basis. II. Gemeinschaftsidee und „volksgenössische Gliedstellung" Es kann i m Rahmen der vorliegenden Untersuchung gewiß nicht abschließend geklärt werden, ob eine solche Wendung für ein betont völkisches Rechtsdenken lediglich schicksalhaft-zufällig oder aber charakteristisch war» Jedenfalls entsprach es dem zuvor erläuterten Ziel der Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht, nämlich das Recht wieder zum „Ausdruck der Lebensgesittung des Volkes" werden zu lassen, vor allen anderen Komponenten die Gemeinschaftsidee als bestimmenden Maßstab i n den Mittelpunkt des völkischen Rechts zu rücken 79 . Diese Gewichtung diente der weltanschaulichen Abgrenzung und hatte nicht von ungefähr eine gewisse Ausschlußwirkung. Sie bedeutete grundsätzlich die Bevorzugung eines vorgeblich dem Gemeinnutz dienenden „völkischen" Inter78 S. ζ. B. E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 30 f. : „ D a m i t w a r keine innere Anerkennung des bestehenden Systems verbunden; Legalität bedeutete n u r die äußere Beachtung einer Rechtsordnung, die formale Einfügung i n einen gegebenen juristischen Rahmen. Diese Methode der Legalität . . . machte es . . . möglich, sich der bestehenden Rechtseinrichtungen zum K a m p f f ü r die eigenen Ziele zu bedienen u n d den Schutz der Gesetze gegen die Staatsgewalt i n Anspruch zu nehmen." Vgl. auch ebd., S. 44 f., 49, sowie die ebd., S. 32, wiedergegebenen, insofern kennzeichnenden berüchtigten Sätze Hitlers im U l m e r Reichswehrprozeß v o r dem R G am 25. Sept. 1930 („Die Verfassung schreibt uns n u r die Methoden vor, nicht aber das Ziel."). S. i. ü. auch o. § 13, Fußn. 13, u n d Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung i n der Rechtsprechung des Preuß. OVG, S. 52 ff. m. w . N. 79 S. ο. I a, v o r Fußn. 37.

§ 14 I I . Gemeinschaftsidee und „volksgenössische Gliedstellung"

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esses vor dem individuellen 8 0 — die für die Abwägung i m Einzelfall maßgeblichen Kriterien blieben dabei fast völlig i m Dunkel — und mußte zwangsläufig zu einer Verdächtigung jedes Gedankenganges führen, der sich nicht ausdrücklich und bedingungslos zur völkischen Gemeinschaft bekannte, und somit letztlich zu einer gefährlichen Bedrohung für den, der i h n vertrat. Selbst wer für das propagierte Gemeinschaftsideal offen war und nur die übersteigerte Gemeingesinnungs-Phraseologie der Zeit zu kritisieren wagte, geriet angesichts einer Entwicklung, die zielbewußt und m i t erheblichem Aufwand dahin getrieben wurde, den einzelnen als Volksgenossen i n die Gemeinschaft zurückzuführen, zwangsläufig i n die Gefahr, sich außerhalb eben dieser Gemeinschaft zu stellen. Nachdem — wie verkündet wurde — die individuelle Freiheit des liberalen Verfassungsstaates die innere Einheit der alten Gemeinschaftsordnung zerstört hatte, konnte sich das neue Reich i n seinem Drang nach neuer Gemeinschaftsbindung nicht mit äußerer Anpassung und Gleichschaltung begnügen, sondern mußte auf „wesensmäßige(r), substanzhafte(r) Einordnung" bestehen: „Es gibt keine Neutralität von einzelnen Lebensbereichen gegenüber dem politischen Volk; es ist nicht möglich, sich abzukapseln oder zu isolieren 81 ." Es sollte, so darf man folgern, nicht einmal möglich sein, Zweifel zu hegen. Die Ableitungen, die angeblich aus der Grundidee der Gemeinschaft zu ziehen waren, hatten sich i n die „entferntesten und feinsten Verästelungen der Erscheinungen des Gemeinschaftslebens" 82 auszuwirken. Sofern etwa die Rechtsprechung zögerte und derart weitgehende, rational kaum noch deduzierbare, aber politisch erwünschte Folgerungen nicht zu ziehen verstand, verfiel sie massiver Urteilsschelte. E i n höchst bemerkenswertes Beispiel hierfür findet sich bei Freisler® 3: Bei der Entscheidung der Frage, ob L o h n f ü r nationale Feiertage außer „deutschen Gefolgschaftsmitgliedern" auch „jüdischen Arbeitern" auszuzahlen sei, sei ein „ T e i l der Rechtsprechung . . . i n der zähen Masse der überkommenen Begriffe v o n Arbeitnehmer u n d Arbeitgeber u n d v o m Grundsatz der Gleichheit kleben" geblieben u n d habe nicht gesehen, daß „inzwischen an die Stelle solcher Begriffe längst als bestimmendes Element unseres Gesamtarbeitslebens . . . die Gemeinschaft getreten" sei u n d daß der Sinn der Bestimmungen über die Bezahlung nationaler Feiertage nicht aus der A n wendung überkommener abstrakter Begriffe auf den Wortlaut von grammatisch vielleicht nicht i m m e r zwingend eindeutigen Vorschriften erkannt werden könne, sondern „ u n m i t t e l b a r aus dem Verstehen der bluthaften Wirklichkeit des tragenden Verfassungselementes unseres deutschen Gesamtarbeitslebens: der Gemeinschaft". U n d w ö r t l i c h k o m m t er zu dem Schluß: 80

Vgl. auch dazu schon ο. I a, T. ab Fußn. 43. E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 158 f. Ä h n l i c h Freisler, Denkformen des Rechts, S. 20. 82 Vgl. Freisler, ebd., S. 13. 83 Ebd., S. 14. 81

10*

Grundlegende

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

„Es kostete harte Kämpfe, bis die letzte Betrachtungsweise hier zum »richtigen Recht' verhalf."

a) (Volks-)Gemeinschaft

als Organismus

Es entsprach dieser Betrachtungsweise, das Volk als „organische, gewachsene Einheit" und „naturhafte, elementare, organische und zunächst unbewußt vorhandene Ganzheit" 84 , als „biologische Lebenseinheit" und „organische (oder „naturhafte") Wesenheit" 85 , die Gemeinschaft überhaupt körperhaft, als Organismus, zu sehen 86 und den einzelnen folgerichtig als Glied eines Ganzen zu begreifen 87 . Das völkische Rechtsdenken griff damit eine Vorstellung auf, die Hitler selbst mehrfach artikuliert hatte, so etwa, wenn er den völkischen Staat als den „lebendigen Organismus eines Volkstums" aufgefaßt wissen wollte 8 8 oder — bezogen auf die nationalsozialistische Bewegung — ein Gebilde propagierte, das „als lebendiger Organismus von stärkster und stetiger K r a f t erfüllt" geeignet sei, eine Idee zu tragen 89 . Der zentrale Gesichtspunkt dieses i n seiner Zuspitzung totalitären Gedankens ist die Vermittlung eines „überindividuellen Seins" der Volksgemeinschaft, einer selbst personal gedachten „überpersönlichen Gemeinschaft", die mehr ist als die Summe ihrer Glieder und i n der der Volksgenosse die „ i h m gemäße gliedhafte Stellung" (zugewiesen) erhält 9 0 . Eine geschlossene Gemeinschaft wie ζ. B. der Volkskörper läßt nur organische Gliederungen zu, nicht aber — und genau dies bezeichnet den entscheidenden Sprung ins Politische — „feindliche Gruppen und Klassen", also „politisch-weltanschauliche Parteien". Alle Trennungen und Gegensätze sind als willkürliche Zerreißung der Gemeinsamkeit m i t der Organismus-Vorstellung ebenso unvereinbar wie m i t dem ihr kongruenten Prinzip politisch-weltanschaulicher Einheit, denn wie der lebendige Organismus eines zentralen Steuerungssystems für all seine Glieder bedarf, so setzt die völkische Einheit eine „einheitliche politische Weltanschauung" voraus, „die allein und ausschließlich Geltung besitzt" 9 1 . I n 84 E. R. Huber t S. 14 bzw. 153. Vgl. auch den weiteren Hinweis o. § 8 I I , i n Fußn. 53. 85 Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 10, 69 f. u n d 192. 86 Z u den rein biologischen Organismus-Vorstellungen, die hier m i t anklingen, s. u. § 15, T. ab Fußn. 13. 87 Dieser Zusammenhang w i r d etwa bei E. R. Huber, S. 14, u n m i t t e l b a r angesprochen. 88 M e i n Kampf, S. 434. S. dazu des näheren u. I I I , v o r Fußn. 144. 89 M e i n Kampf, S. 650. Bei Freisler, S. 5, ist v o m „Organismus als Träger der Lebenskraft" die Rede. 90 E. R. Huber, S. 195, 210, 240 f. Z u r „volksgenössischen Gliedstellung" i m besonderen s. u. zu b. — Vgl. i. ü. zu dem i m folgenden näher angesprochenen totalitären Grundzug einer solchen Konzeption des Gemeinwesens Menger, V o m Werden u n d Wesen der Demokratie, S. 54 ff. (56 f.). 91 Vgl. zum Prinzip der völkischen Einheit wiederum Huber, S. 158 und

§ 14 I I . Gemeinschaftsidee u n d „volksgenössische Gliedstellung"

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Wahrheit fingiert das Dogma von der überindividuellen Realität der Gemeinschaft nur eine an sich gar nicht vorhandene gesellschaftliche Homogenität, begründet jedoch zugleich i m staatlich-politischen Bereich ein angeblich immanent vorgegebenes Rangverhältnis zwischen Ganzem und Teil und erzwingt so m i t Hilfe der die politische Weltanschauung repräsentierenden Macht seine Verwirklichung. Von solchem Ausgangspunkt her, wie er sich etwa i n der kategorischen Forderung „Persönlichkeit für die Gemeinschaft" 92 manifestiert, ließen sich — dies w i r d noch gesondert zu zeigen sein — i m Hinblick auf die Rechtsstellung des einzelnen sehr handfeste praktische Konsequenzen ziehen. Hier bleibt ergänzend hinzuzufügen, daß die Vorstellung von der Gemeinschaft als körperhaft-überpersönlicher Organismus eine Reihe logisch untergeordneter, aber recht interessanter Einzelaspekte umfaßte 92a . So erkannte man ihr — und zwar bezogen sowohl auf die Volksgemeinschaft wie auf die NS-Massenorganisationen — eine eigene Ehre als ihren spezifischen Persönlichkeitskern zu und folgerte umgekehrt, daß dort, wo das Bewußtsein einer Gesamtehre fehle, eben keine Gemeinschaft sei. Hingegen qualifiziere sich eine Zusammenfassung mehrerer Menschen als ein lebenswirklicher Organismus, wenn sich diese Ehre i n ihr rechtlich durchsetze, ohne daß es dazu einer gesetzlich-ausdrücklichen Anerkennung bedürfe. Dementsprechend schaffe sich jede Gemeinschaft zum Schutze ihrer Ehre (aber wohl nicht minder zur Wahrung ihrer inneren Ordnung) aus sich heraus eine Ehrengerichtsbarkeit, die — und das erscheint höchst bemerkenswert i m zuletzt erwähnten Sinne — als schwerste ,Ehrenstrafe 4 die Ausstoßung für den kenne, dessen Verbleiben m i t der Ehre der Gemeinschaft angeblich nicht mehr vereinbar sei. Nachdem — wie weiter behauptet wurde — der Nationalsozialismus das Straf recht wieder zum Ausdruck der Volksgesittung, also der Gemeinschaftsauffassung, gemacht habe, war es jetzt nur noch ein kleiner Schritt, sogar der staatlichen Strafrechtspflege die höheren Weihen einer Ehrenrechtspflege zu verleihen 93 . I h r härtester Strafausspruch mußte folglich die Ausstoßung aus der i m Staat als der äußeren Erscheinungsform des Volkslebens 94 organisierten Volksgemeinschaft sein 95 . U m etwa auch S. 239: „Das politische V o l k des neuen Reiches ist eine organische u n d totale Lebenseinheit, die i m Führer den Vollstrecker ihrer geschichtlichen Sendung besitzt. Das Gesetz ist der konkrete Gemeinwille dieses politischen Volkes. Es ist nicht der Ausgleich zwischen widerstreitenden subjektiven Interessen, sondern der Ausdruck objektiver völkischer Seinsgrundsätze u n d Lebensnotwendigkeiten." 92 Freisler, S. 21. 92a Menger kennzeichnet diese Sicht mitsamt der aus i h r gezogenen A b leitungen zu Recht als „Begriffs-Realismus" : S. 56 f. 93 S. — w i e auch zu den voraufgegangenen Gedankengängen — Freisler, S. 18 f. 94 Vgl. dazu Hitler, M e i n Kampf, S. 431 ff. (435/36). Z u m „völkischen Staat" des Nationalsozialismus s. des näheren u. I I I .

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

sich vom „Nurmechanismus" zu unterscheiden, hatte die Gemeinschaft neben dem Gefühl der eigenen Gesamtehre insbesondere ein inneres Gemeinschaftserleben zu vermitteln, das sich i n dem „sittlichen Wert der Kameradschaftlichkeit" ausdrücken sollte 96 . Als hervorragendstes Beispiel galt hier die (intern bekanntlich i n hohem Maße desintegrierte) „Bewegung", durch das „Kameradschaftserlebnis der unverbrüchlichen Gemeinschaft i m Innern" und als „Glaubensgemeinschaft" i n ihrer Zielsetzung nach außen zur „verschworenen Gemeinschaft" zusammengeschlossen und damit offenbar vorbildlich für alle i n der Volksgemeinschaft lebenden und — wie es hieß — ihrem Sinn nach auf diese ausgerichteten Gemeinschaften 97 . So läßt sich m i t Freisler die spezifische Gemeinschaftsauffassung w o h l a]ler erklärt „völkischen" Rechtstheoretiker wie folgt umreißen 98 : — Organismus als Wesensmerkmal, Organisation nur als Formgestaltung, — Ehre als Persönlichkeitskern, — Sinn jeder Gemeinschaft i n der Volksgemeinschaft (die als höchste und umfassende Gemeinschaft ihren Sinn i n sich hat), — Gemeinschaftserlebnis als innerlich tragendes Element gegenüber einem „Nurmechanismus", — schöpferische Polarität Gemeinschaft-Persönlichkeit (freilich nur unter der gemäß jenem Postulat „Persönlichkeit für die Gemeinschaft" vorgegebenen Zielbestimmung). Und da der Wesenskern der Gemeinschaft i n einem „Organismus von sittlicher Durchdrungenheit" gesehen wurde, der namentlich auf dem Wechselspiel von Gefolgschaftstreue und Führerverantwortung, Einordnung und Kameradschaft aller beruhe, müsse, so folgerte man, die Gemeinschaft als zentraler Begriff, u m den sich die anderen Begriffe gruppierten, auch das ganze Recht, das ja „Spiegel des Volksorganismus", seines „immer körperhaften Lebens", und „Ausdruck der Lebensgesit95 Freisler, S. 29: „ . . . seinem V o l k ist jeder eingeboren; . . . Der Weg aus der Volkszugehörigkeit heraus ist n u r Ausstoßung (von Seiten des Volkes) oder Verrat (von Seiten des Volksgliedes)." Die Ehrloserklärung sollte i n ihren Folgen indessen nicht auf den öffentlichen Bereich beschränkt bleiben, sondern — w i e sich aus dem von Hedemann, Lehmann u. Siebert vorgelegten E n t w u r f des 1. Buches f ü r ein Volksgesetzbuch ergibt (vgl. § 56 Nr. 3 sowie 5 - 1 0 ) — f ü r den von i h r betroffenen „Volksschädling" zur Aberkennung der gesamten volksgenössischen Rechtsstellung führen. Vgl. i n diesem Z u sammenhang ferner Larenz, Rechtsperson u n d subjektives Recht, i n : Ders. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 243, u n d etwa auch — unter Berufung auf das altgermanische Recht — Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 16 f. 96 Vgl. wiederum Freisler, S. (19 und) 20. 97 S. ebd., S. 15, 20. 98 Ebd., S. (20 und) 21.

§ 14 I I . Gemeinschaftsidee u n d „volksgenössische Gliedstellung"

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tung des Volkes", ja sogar das Leben selbst, „als natürliche Ordnung des Gemeinschaftsorganismus gesehen", sein sollte, von Grund auf durchdringen 99 . Demnach bleibt festzuhalten, daß das Leitbild vom Volksorganismus, die Idee von der geschlossenen Volksgemeinschaft m i t der ihr eigenen unbedingten Ausschließlichkeit tatsächlich konstitutiv war für das völkische Rechtsdenken i. e. S. und daß i h r gegenüber beispielsweise der „völkische Staatsgedanke" 100 lediglich ein Akzessorium oder genauer: deren Funktion sein konnte. b) Die gliedhafte Rechtsstellung des Volksgenossen in der Gemeinschaft Als das einzige konkret greifbare Ergebnis der Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht m i t all ihren wortreichen Appellen an das Gemeinschaftsethos des Volkes hat sich schließlich die weitgehende Ablösung der nach dem Verständnis des bürgerlich-liberalen Verfassungsstaates wesentlichsten und dort ausdrücklich verbrieften subjektiven öffentlichen Rechte des einzelnen durch seine sog. gliedschaftliche Einbindung als Volksgenosse i n die Gemeinschaft herausgestellt 101 . Diese für die Rechtsstellung des einzelnen Bürgers i m Staat tiefgreifende Veränderung ist die eigentliche praktische Konsequenz des völkischen Rechtsdenkens i. e. S. Sie riß ihn aus den vom Bürgertum i m Laufe seiner Geschichte errungenen angestammten rechtsstaatlichen Sicherungen, ohne i h m dafür mehr zu geben als die irrationale Verheißung einer lebendigen persönlichen Bindung an ein größeres Ganzes als Glied einer neuen, besseren, nämlich völkischen Gesamtordnung, jenes „Organismus von sittlicher Durchdrungenheit", und lieferte i h n zugleich einer politischen Führung aus, die sich ihrerseits — obgleich angeblich ebenfalls i n dieses Gefüge gegenseitiger Treue und Verantwortung eingebunden 102 — i n Wirklichkeit gar nicht i n Pflicht genommen fühlte. Wo dies nicht von vornherein eindeutiger Absicht entsprach, bleibt die Arglosigkeit, m i t der es geschah, wenigstens vom heutigen Standpunkt kaum noch verständlich: Eine durchgängige Gestaltung der Gemeinschaft i m Sinne völkischer Einheit und Ganzheit sei untrennbar m i t dem Führerprinzip verbunden, das kategorisch verlange, daß i m politischen Volk nur ein ober99 Vgl. ebd., S. 10 f., 22, sowie ο. I a, bei Fußn. 27 - 37, u n d I I , v o r Fußn. 79. Ganz ähnlich spricht Michaelis, Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 12, 60, v o m Recht als „Spiegel der völkischen Lebensordnung", das es wiederzugewinnen gelte. S. auch ο. I b, vor Fußn. 62. 100 S. dazu u . I I I . 101 S. einleitend dazu bereits o. § 8 I I , letzter Abs., sowie des näheren die eingehende Untersuchung von Thoss, Das subjektive Recht i n der gliedschaftlichen Bindung, insbes. S. 43 - 74. 102 Vgl. etwa die o. zw. Fußn. 98 u. 99 wiedergegebenen Gedankengänge Freislers.

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

ster Träger der politischen Macht wirke, nämlich der Führer, von dem alle politische Macht und jede politische Befugnis ihren Ausgang nehme. Aber auch aus dem Prinzip der völkischen Einheit und Ganzheit selbst sei die Einheit der Führergewalt, also die Vereinigung aller politischen Gewalt i n der Hand des einen Führers, zu folgern. Der einheitliche und umfassende Führerwille, der sich i m Gesetz ebenso erweise wie i n allen Einzelanordnungen der Verwaltung und i n allen Entscheidungen der Gerichte, bestimme somit alles politische Leben i m Volk 1 0 3 . — Die idealistische, rational gar nicht mehr reflektierte Beschwörung der völkischen Gemeinschaftswerte, deren unbestrittene Geltung und höchstmögliche gesellschaftliche Wirksamkeit, m i t h i n i h r wahrer sozialgestaltender Rang, insbesondere von der gemeinsamen Uberzeugung der Machthaber wie der überwiegenden Mehrheit des Volkes abhängt — d. h. von einer nachweisbaren Ubereinstimmung i n positiv erklärten allgemeinverbindlichen Zielvorstellungen, die unter dem NS-Regime weder jemals vorhanden noch überhaupt ernstlich denkbar war —, hatte den Blick für die sozialethisch unbeeinflußte, vielmehr ausschließlich machtpolitisch bedingte Realität verstellt. Der i n seine „pflichtgebundene gliedhafte Rechtsstellung" eingewiesene Volksgenosse 104 war i n eine völlig einseitige Abhängigkeit von der totalen Führerherrschaft geraten und besaß ihr gegenüber auch aus der wechselseitig verpflichtenden Gemeinschaftsbindung keinerlei einklagbare Berechtigungen 105 . Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß diese m i t Entschiedenheit gegen jegliches der Führung zuwiderlaufende Individualinteresse der ihr Unterworfenen gerichtete und praktisch am Tage der nationalsozialistischen Machtübernahme präjudizielle Entwicklung ihre Basis hatte i n altnationalsozialistischen Parolen wie „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" oder „ D u bist nichts, Dein Volk ist alles" und i n ihnen ihren zeitgemäßen Ausdruck fand 1 0 8 . Zwar haben die nationalsozialistischen Autoren, die sich überhaupt bemüht haben, diesen Programmsätzen einen vermittelbaren materiellen Aussagegehalt beizugeben, immer wieder versucht glaubhaft zu machen, daß der alles Recht tragende und durchdringende völkische Gemeinschaftsgedanke nicht bedeute, daß der einzelne nunmehr stets nichts, die Gemeinschaft aber alles sei 107 , und daß der Volksgenosse als Reichsbürger auch i m Rahmen der politischen Führungsordnung nicht nur Pflichten, sondern auch „politische Rechte" 108

E. R. Huber, S. 160. S. dazu bereits o. § 7 I I , T. ab Fußn. 36. So Huber, S. 364. Vgl. auch das ebd., S. 363 f., angeführte zeitgenössische Schrifttum zum Begriff der volksgenössischen Rechtsstellung. 105 S. dazu wiederum o. § 8 I I , letzter Abs. 106 S. ebd. sowie ο. I a, bei Fußn. 42 u. 43. 107 Vgl. z. B. Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 13. 104

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habe 108 . Sie haben jedoch nie einen Zweifel daran gelassen, daß der einzelne zurücktreten müsse, wo die Gemeinschaft gebieterisch sein Zurückweichen fordere. Bisweilen finden sich unmißverständliche Hinweise auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen: Die Gemeinschaft könne über den einzelnen hinwegschreiten, könne i n seiner Vernichtung seine Wertlosigkeit zum Ausdruck bringen. Wer vom Volke, von der Gemeinschaft aus werte, müsse i n bestimmten Fällen das Opfer des einzelnen — von der Härte gegen i h n bis zu seiner Vernichtung — u m höherer Werte der Gemeinschaft willen fordern und rechtfertigen 109 . M i t W i l l k ü r hat dies nach Auffassung der Verfechter derartiger Unerbittlichkeit i m Namen der Volksgemeinschaft gleichwohl nichts zu tun, denn das Opfer steht stets unter dem Recht 110 , wie die Gliedstellung des Volksgenossen i n der Gemeinschaft überhaupt eine konkrete Stellung „ i m Recht" ist 1 1 1 — dies nicht als abstraktes Normensystem, sondern als lebendige, konkrete Ordnung der Gemeinschaft verstanden. Diese volksgenössische gliedhafte Rechtsstellung ist stets gemeinschaftsbezogen und pflichtgebunden und nicht u m des einzelnen, sondern u m der Gemeinschaft w i l l e n begründet 112 . Sie ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, „daß sie keine bloße Rechtsbeziehung unter einzelnen ist, sondern daß sie von der Gemeinschaft her Sinn und Richtung, Wesen und Bindung erhält" 1 1 3 . Wer die aus der Rückbeziehung auf die Gemeinschaft folgenden Pflichten nicht erfüllt, macht sich des Mißbrauchs seiner Rechtsstellung schuldig und zieht sich die für die Verletzung der Gemeinschaftsstellung vorgesehenen Strafen zu: „ I n schweren Fällen t r i t t die Verwirkung der Rechtsstellung ein. Diese V e r w i r k u n g ist eine allgemeine Erscheinung der neuen Ordnung. Der Bauer k a n n abgemeiert werden, der Betriebsführer k a n n dieser Eigenschaft entkleidet werden, der Arbeiter kann seinen Arbeitsplatz verlieren, der Schriftleiter k a n n aus der Berufsliste gelöscht werden, das M i t g l i e d der Reichsk u l t u r k a m m e r k a n n ausgeschlossen werden, dem Inhaber einer Gewerbebefugnis k a n n die Erlaubnis entzogen oder die weitere Betätigung verboten werden. Eine solche V e r w i r k u n g ist k e i n Eingriff von außen u n d oben i n ein grundsätzlich unantastbares Recht, sondern sie ist eine Folge, die sich wesensnotwendig aus der Bindung ergibt, die i n der gemeinschaftsbezogenen Rechtsstellung von Anfang an enthalten ist 1 1 4 ."

Die für das individuelle Schicksal des einzelnen, der angesichts dieser Drohung nur u m so nachhaltiger einer geschlossenen Gemeinschaftsord108

E. R. Huber, S. 367. So wiederum Kraiss, S. 14. Vgl. hierzu noch einmal Menger, S. 57. 110 Kraiss, S. 14. 111 So namentlich Larenz, Rechtspersonen u n d subjektives Recht, S. 225 ff. (239 f., 242 ff., 260). S. dazu des näheren u. § 17, T. ab Fußn. 55. 112 E. R. Huber, S. 365 u. 367. 113 Ebd., S. 366. 114 Ebd. 109

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

nung gänzlich und rückhaltlos eingegliedert werden soll, bedeutsamen und i m Falle eines konkreten Konflikts m i t der politischen Führung existenzentscheidenden (drei) Fragen sind nach dem zuvor Dargestellten sämtlich schon i m vorhinein entschieden, und zwar ausnahmslos zu seinen Ungunsten: 1. Quis iudicabit? Da die Rechtsstellung dem Volksgenossen „vom Führer gegeben" ist und ihn so zum „wirklichen Gefolgsmann" macht 115 , bedeutet sein „Im-Recht-Stehen" nichts anderes als seine totale Unterwerfung unter den Führerwillen, der — wie erwähnt — nicht nur i m Gesetz, sondern auch i n allen Einzelanordnungen der Verwaltung und i n allen Entscheidungen der Gerichte erscheint 116 . Die politische Führung bestimmt also letztlich, was dem Gemeinnutz dient. Vor diesem Hintergrund sind die weiteren Fragen beinahe nur noch von akademischem Interesse: 2. Nach welchen Kriterien beurteilt sich die Gemeinnützigkeit 117 ? Es w i r d auch i n der NS-Literatur nicht verkannt, daß das vom einzelnen verlangte Opfer die Abwägung von Gemeinschaftswohl und Einzelwohl voraussetze, daß also ein tiefer Eingriff i n ein Einzelschicksal nur gerechtfertigt sei, wenn der Schutz eines für die Gemeinschaft höheren Wertes diese Maßnahme erforderlich mache, daß der Zweck nicht die M i t t e l heilige, weil die Verhältnismäßigkeit der M i t t e l ein Gebot der Gerechtigkeit bleibe 118 . Als Wertmaßstab gilt jeweils die Gemeinschaft, das Volk. Doch deren Definition führt bestenfalls zur Aufzählung einer Reihe objektiver und subjektiver Faktoren, die „ i n ihrem unmittelbaren Zusammenklang" angeblich erst die Volksgemeinschaft ausmachen — Abstammung, Landschaft, Sprache, sonstige Lebensformen, Religion, Geschichte auf der einen, das gemeinsame Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Gesamtwillen zur Einheit auf der anderen Seite 119 — und endet meist i m Rückgriff auf ein imaginäres Wesen von V o l k und Gemeinschaft und damit i n aller Regel i n einer nahezu klassischen petitio principii. Wenn etwa E. R. Huber den dem neuen deutschen Reich eigenen Begriff des politischen Volkes durch die „naturhafte A r t " und die „geschichtliche Idee einer geschlossenen Gemeinschaft" gekennzeichnet 120 , gleichzeitig aber alles politische Leben i m Volk vom einheitlichen und 115

Ebd., S. 367. S. o. vor Fußn. 103. 117 S. dazu neuerdings vor allem die umfassende Darstellung von Stolleis, Gemeinwohlformeln i m nationalsozialistischen Recht, S. 76 ff. 118 Vgl. etwa Kraiss, S. 14. 119 So E. R. Huber, S. 153; Koellreutter, S. 70 f., betont daneben vor allem die sogenannten Naturgemeinsamkeiten des Volkes: seine Prägung durch B l u t u n d Boden. Vgl. i m übrigen hierzu auch o. § 8 I I , T. ab Fußn. 53. 120 S. 153. 116

§ 14 I I . Gemeinschaftsidee u n d „volksgenössische Gliedstellung"

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umfassenden Führerwillen bestimmt sieht 121 , dann darf es nicht verwundern, daß sich der nationalsozialistisch geprägte Richter, der i m Rechtsstreit eines einzelnen m i t der politischen Führung zu entscheiden hat, gar nicht erst argumentativ abwägend mit der Idee der geschlossenen Volksgemeinschaft und dem berechtigten Individualinteresse auseinandersetzt, sondern sich unmittelbar an die Verlautbarungen der politischen Führung hält und jenen Begriffen für seine Entscheidung allein die politischen Aspekte und die Bedeutung entnimmt, die die Führung ausdrücklich i n sie hineingelegt oder doch wenigstens mutmaßlich m i t ihnen verbunden hat 1 2 2 . Von daher unterscheidet sich also i m Hinblick auf Rang und Voraussehbarkeit des Einzelschicksals die Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht nicht nennenswert von den das Individuum unter Vermeidung dieses Umwegs ganz unvermittelt der Führergewalt unterstellenden betont autoritären Rechtslehren. 3. Ein gewichtiger Unterschied zwischen diesen typisierend differenzierten Denkweisen hätte vom Ansatz her allenfalls bei der Beantwortung der weiteren Frage deutlich werden können: Gibt es zumindest absolute Grenzen der Unantastbarkeit individueller Existenz? Man hätte wohl aufgrund des i n der umgekehrten Richtung immer wieder beschworenen Komplementärverhältnisses zwischen einzelnem und Gemeinschaft vermuten dürfen, daß die — wenngleich vom Führer eingeräumte — gliedhafte Rechtsstellung i n der Volksgemeinschaft dem Volksgenossen doch so etwas wie einen Kernbereich von Grund- oder Freiheitsrechten sichere. Die A n t w o r t ist jedoch auch hier negativ: „Es gibt natürlich keine angeborenen, unantastbaren politischen Rechte, die dem Individuum um seiner selbst w i l l e n zustünden und die das Ziel hätten, die Führung zu beengen oder zu beschränken 123 ." Wenn hier von „politischen Rechten" die Rede ist — sie werden zugestanden 124 , sind eben nur nicht unantastbar —, so dient dies keineswegs der Abgrenzung einer unpolitisch-privaten Sphäre. I m Gegenteil, Gemeinschaft und Volk sind für die Vertreter eines erklärt völkischen Denkens ja gerade als umfassende politische Größen definiert 125 . Jenseits von ihnen kann es daher ebenfalls keine verbrieften subjektiven öffentlichen Rechte gegen die politische Führung mehr geben 126 : 121

Ebd., S. 160. Auch i n diesem Zusammenhang ist die Lösung des von Freisler angeführten Streitfalls (vgl. o. hinter Fußn. 83) höchst aufschlußreich. 123 E. R. Huber, S. 367. 124 S. o. v o r Fußn. 108. 125 Vgl. etwa Koellreutter, S. 10 u. 67 ff. (gegen Carl Schmitts Dreigliederungslehre m i t dem V o l k als der „unpolitischen Seite") u n d E. R. Huber, S. 150 ff. (S. 154: V o l k als die „politisch bewußt gewordene, politisch bewegte, zur politischen Gestaltung drängende Gemeinschaft"). ΐ2β y g i . Maunz, Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 31, 35 f.; E. R. Huber, S. 230, 367 f.; Koellreutter, S. 89 f. 122

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

„Unser völkisches Rechtsdenken kennt keine »staatsfreie Sphäre' des einzelnen m e h r 1 2 7 . " Alles politische u n d rechtliche Handeln des einzelnen ergebe sich aus seiner Gemeinschaftsstellung. I n seiner Bindung an den anderen Volksgenossen u n d an die Gemeinschaft liege das Wesen des Freiheitsbegriffs i m völkischen Staat. Z w a r verbleibe jedem Volksgenossen sein eigener Lebenskreis m i t mancherlei Rechten 1 2 8 , der Staat könne aber nicht gezwungen werden, vor einer Grenzmauer H a l t zu machen, w e n n er genötigt sei, i m Interesse der Gemeinschaft i n die dem einzelnen vorbehaltenen Lebensrechte einzubrechen, u m gewisse Rechte zu beschränken oder zu nehmen. Dies müsse erlaubt sein u n d sei k e i n Raub der F r e i h e i t 1 2 9 ! Das R e s u l t a t a l l dessen s t e l l t sich d a n n e t w a w i e f o l g t d a r : F r e i h e i t w i r d n i c h t m e h r l ä n g e r v o m e i n z e l n e n h e r begriffen, s o n d e r n v o m V o l k , dessen M a c h t u n d F r e i h e i t als e i g e n t l i c h m a ß g e b e n d e n G r u n d w e r t der S t a a t v o n W e i m a r z u g u n s t e n des i n d i v i d u e l l e n f r e i e n Beliebens ebenso preisgegeben habe w i e E h r e u n d Größe d e r N a t i o n u n d S t ä r k e u n d R u h m des Staates 1 3 0 . D e r a l l e i n der A b w e h r d e r S t a a t s g e w a l t dienende negat i v e B e g r i f f d e r b ü r g e r l i c h e n F r e i h e i t habe die B i n d u n g d u r c h V o l k , S t a a t u n d Gemeinschaft v e r n e i n t , ohne p o s i t i v e W e r t e u n d K r ä f t e z u bezeichnen, die d e n R a u m d e r p e r s ö n l i c h e n F r e i h e i t h ä t t e n a u s f ü l l e n k ö n n e n . A u f dieser Basis sei eine d a u e r h a f t e O r d n u n g n i c h t z u e r r i c h t e n gew e s e n 1 3 1 . D i e V o r a u s s e t z u n g e n f ü r eine solche O r d n u n g — das v e r s t e h t sich — h a t e r s t m a l s w i e d e r das D r i t t e R e i c h geschaffen, das gleichsam als die V e r w i r k l i c h u n g d e r F r e i h e i t h i n g e s t e l l t w i r d , d a es a n die S t e l l e der a b s t r a k t e n , n e g a t i v e n F r e i h e i t die p o s i t i v e , w a h r e F r e i h e i t i n b e 127 Kraiss, S. 14. Aus dem kategorischen F ü h r e r w o r t „ D u bist nichts, Dein V o l k ist alles" folgert Siebert, daß eine gemeinschaftsfreie Individualsphäre des einzelnen nicht mehr anerkannt werden könne: „Der einzelne existiert für die Volksgemeinschaft u n d f ü r ein die Volksgemeinschaft zur Grundlage nehmendes Recht nur, w e n n u n d soweit er i n dieser Gemeinschaft steht u n d w i r k t . . . F ü r das R e c h t . . . folgt daraus, daß der einzelne i m Recht n u r so v i e l gelten kann, als er i n der Gemeinschaft w e r t ist.": Die Volksgemeinschaft i m bürgerlichen Recht, i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 957 ff. (961). 128 Z u r gewandelten Bedeutung dieser nunmehr grundsätzlich „pflichtbegrenzten Berechtigungen" vgl. insbes. Larenz, Rechtsperson u n d subjektives Recht, S. 244 ff. 129 Vgl. zugleich f ü r den gesamten voranstehenden Absatz Kraiss, S. 15. Der A u t o r rechtfertigt i n diesem Zusammenhang ausdrücklich — u n d zwar gegen Koellreutter, Der deutsche Führerstaat, S. 21 — das K Z als notwendiges M i t t e l zur Erhaltung der inneren Geschlossenheit (dagegen Koellreutter: keine „betont rechtsstaatliche Einrichtung", aber vorübergehend „unentbehrlich"). 130 E. R. Huber, S. 26. Ausgerechnet vor dem H i n t e r g r u n d der Reichstagsw a h l v o m 5. März 1933, bei der sich das V o l k noch mehrheitlich gegen den Nationalsozialismus aussprach, während Hitler verkündete, es habe sich „ i n seiner Mehrheit zu uns bekannt", sah der Führer den Anschluß an die alte Größe zurückgewonnen: „ i n einer einzigartigen Erhebung" habe das V o l k (!) i n wenigen Wochen „die nationale Ehre wiederhergestellt"; vgl. dazu o. § 8 I I , vor Fußn. 66. 131 So ebenfalls Huber, S. 27.

§ 14 I I . Gemeinschaftsidee u n d „volksgenössische Gliedstellung"

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stimmten Gliedstellungen habe treten lassen 132 . Auf dieser — höheren — Ebene erscheint der für den bürgerlich-liberalen Staat kennzeichnende Gegensatz Einzelpersönlichkeit — Staat aufgehoben 133 . Die Lehre von der Volksgemeinschaft als Organismus und dem einzelnen Volksgenossen als dessen Glied kulminiert i n diesem dialektischen Gedanken 134 . Doch wenn auch Gemeinschaft und Einzelpersönlichkeit erklärtermaßen derart aufeinander angewiesen sind, daß sie nicht i n einem echten Gegensatz, sondern i n einem schöpferischen Polaritätsverhältnis zueinander stehen, und sich somit erst aus dem Erfassen des unlöslichen Zusammenhangs beider Komponenten die richtige Schau der Körperhaftigkeit des Gesamtlebens ergibt 1 3 5 , so kann hier keineswegs von einer wirklich ernst genommenen und durchgehaltenen Spannung zwischen zwei gleich starken Polen die Rede sein: Der Volksgemeinschaft — „ A n fang und Ziel des staatsrechtlichen Denkens" — kommt von vornherein der höhere Wert zu, der einzelne hat sich vor allem der Pflicht und der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft bewußt zu sein und sich den Erfordernissen der völkischen Lebensgemeinschaft unterzuordnen 136 . Die dialektische Zauberformel der Aufhebung des klassischen Gegensatzes von Individuum und Ganzem ist bei näherer Betrachtung letztlich gleichbedeutend m i t der absoluten Aufhebung des Persönlichkeitswertes. Und mehr noch: Ungeachtet aller Beschwichtigungsbemühungen und Argumentationskünste der Rechtstheoretiker hat sich die harte Realität des längst vorher ausgesprochenen „ D u bist nichts, Dein Volk ist alles" radikal durchgesetzt und — wie schon dargestellt — sogar noch gefördert durch—bestenfalls — allzu arglose „Verrechtlichungen" i n der A r t von sublimen Systematisierungsversuchen 137 i n der Praxis der NS-Herrschaft zu einem zynischem „ D u bist nichts, Dein Führer ist alles" steigern können.

132 Larenz, Über Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 7; vgl. auch die scharfe K r i t i k an der Methodik dieser u n d ähnlicher Gedankengänge (s. ζ. B. u. § 17, T. ab Fußn. 47) bei Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 46. iss v g l . etwa Larenz, Rechtsperson u n d subjektives Recht, S. 249 f.; E. R. Huber, S. 159 f.; Siebert, S. 958, 961 f.; Kraiss, S. 13; Lungwitz, Die Bedeutung des Grundsatzes der Gleichheit i m liberalen u n d i m neuen Staatsrecht, S. 35, sowie die Hinweise u n d kritischen Anmerkungen zu den grundlegenden Äußerungen Binders bei Topitsch, S. 44 f. 134 Die insoweit bei Hegels D i a l e k t i k gemachten Anleihen sind unverkennbar u n d — w i e noch zu zeigen sein w i r d — keineswegs zufällig. S. dazu des näheren u. § 17. 135 Freisler, S. 20 f. S. auch bereits o. zw. Fußn. 98 u. 99. 136 Lungwitz, S. 35. Ä h n l i c h namentlich auch Siebert, S. 957 ff. (960 - 962). 137 Vgl. beispielsweise die Ausführungen o. zw. Fußn. 101 - 108 oder auch die bereits bei § 11, i n Fußn. 42 zitierte „Andeutung" Sieberts, die bei aller Ratlosigkeit gegenüber dem zu lösenden Grundwiderspruch gewiß nicht n u r eine beiläufige Äußerung darstellt.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht" I I I . Der völkische Staatsgedanke

D e r S t a a t e r h i e l t i n d e r a l l g e m e i n e n D i k t i o n d e r N S - Ä r a eine ( z u m i n dest v e r b a l ) d e m V o l k ( i n W i r k l i c h k e i t a l l e r d i n g s w i e d e r u m eher d e m F ü h r e r ) u n t e r g e o r d n e t e R o l l e z u g e w i e s e n 1 3 8 . I n s o f e r n entsprach d e r Z e i t geist durchaus d e m seinerseits a l l e r d i n g s n i c h t u n b e s t r i t t e n e n u n d auch i n sich n i c h t ganz h o m o g e n e n V e r s t ä n d n i s d e r v ö l k i s c h e n T h e o r e t i k e r , f ü r die sich das V o l k g e m e i n h i n als d e r politische G r u n d w e r t , d e r S t a a t h i n gegen n u r als seine äußere E r s c h e i n u n g s f o r m d a r s t e l l t e 1 3 9 . M a n b e r i e f sich d a b e i ζ. T . a u s d r ü c k l i c h a u f Hitler selbst als K r o n z e u g e n 1 4 0 : „Die grundsätzliche Erkenntnis ist . . . die, daß der Staat keinen Zweck, sondern ein M i t t e l darstellt. E r ist w o h l die Voraussetzung zur B i l d u n g einer höheren menschlichen K u l t u r , allein nicht die Ursache derselben 1 4 1 . . . . die Voraussetzung zum Bestehen eines höheren Menschentums (ist) nicht der Staat, sondern das Volkstum, das hierzu befähigt i s t 1 4 2 . . . . Der Staat ist ein M i t t e l zum Zweck. Sein Zweck liegt i n der Erhaltung u n d Förderung einer Gemeinschaft physisch u n d seelisch gleichartiger Lebewesen 1 4 3 . . . . W i r , (Nationalsozialisten) haben schärfstens zu unterscheiden zwischen dem Staat als einem Gefäß u n d der Rasse als dem I n h a l t . . . W i r , als Arier, vermögen uns unter einem Staat also n u r den lebendigen Organismus eines Volkstums vorzustellen, der die Erhaltung dieses Volkstums nicht n u r sichert, sondern es auch durch Weiterbildung seiner geistigen u n d ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit f ü h r t 1 4 4 . . . . die Aufgabe des Staates ist es eben nicht, Fähigkeiten zu erzeugen, sondern n u r die, vorhandenen K r ä f t e n freie B a h n zu schaffen 145 . . . . Der Staat stellt eben nicht einen I n h a l t dar, sondern eine F o r m 1 4 8 . . . . Der Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Lehre liegt nicht i m Staat, sondern i m V o l k . . . I n d e m w i r i m V o l k das Bleibende u n d Seiende erkennen, sehen w i r i n i h m den einzigen Z w e c k . . . 1 4 7 . . . Sinn u n d Zweck der menschlichen Organisationen sowie aller Funktionen sind meßbar an ihrem Nutzen, den sie f ü r die Erhaltung des bleibenden u n d seienden Volkes besitzen. Daher ist das V o l k das Primäre. Partei, Staat, Armee, Wirtschaft, Justiz usw. sind sekundäre Erscheinungen, M i t t e l zum Zweck der Erhaltung dieses Volkes 1 4 8 ." 138 S. einleitend dazu bereits o. § 81, hinter Fußn. 20 u. bei Fußn. 27, § 8 I I , vor Fußn. 64, § 12, i n Fußn. 50, sowie hier bei I I , vor Fußn. 94 u. ab Fußn. 98. 139 So z. B. Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 10, 67 f., 131, 157, 192 f. (s. auch — v o n Koellreutters Gedanken ausgehend u n d diese noch zuspitzend — Wegener, Der Grundsatz der Gleichheit i m Weimarer Staat u n d seine Wandlung i m nat.-soz. Reich, S.51 f.); E.R.Huber, Verfassungsrecht, S. 161 ff.; Stuckart, Die staatsrechtlichen Grundlagen des Reiches: Zeitschrift f ü r Politik Bd. X X V I (1936), S. 2 1 140 Vgl. insbes. Koellreutter, S. 68; Huber, S. 163; Freisler, Grundlegende Denkformen des Rechts, S. 18. 141 M e i n Kampf, S. 431. 142 Ebd., S. 432. 143 Ebd., S. 433, ähnlich auch schon S. 420 f. 144 Ebd., S. 434. 145 Ebd., S. 435. 146 Ebd., S. 436. 147 Rede auf dem Parteitag 1935, zit. nach E. R. Huber, S. 163. 148 Rede am 30. Jan. 1937, zit. nach Koellreutter, S. 68.

§ 14 I I I . Der völkische Staatsgedanke

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Schon Binder hatte— freilich auf der Basis seines durch Hegel geprägten Staatsverständnisses, das gerade den Staat als Wirklichkeit des Geistes, der Freiheit und der Sittlichkeit zu begreifen suchte und i h m damit von vornherein hohen Rang und Eigenwert zuerkannte 149 — vom Staat als der „Lebensform", als der „Einheit eines Volkes i n der Form des Rechts" gesprochen 150 und das Dritte Reich nicht nur als die „ V e r w i r k lichung des richtig begriffenen Staates — des Staates der Idee — " gepriesen, sondern auch zu beweisen versucht, daß dieser Staat zugleich, wenn er nur selbst richtig begriffen werde, dem Wesen des Volkes entspreche, dessen Lebensform er sein wolle 1 5 1 . Hier werden indes gewisse Bewertungsunterschiede deutlich: Kommt für Binder i n dem auf seinen Begriff gebrachten, durch die Idee legitimierten Staat zugleich das Wesen der durch i h n geformten wahren Volksgemeinschaft zum Ausdruck 1 5 2 , so bildet der Staat für Koellreutter „die Form der politischen Führung, aber auch nur die Form". Seine Bedeutung liege i n der Formung des völkischen Lebens i n normalen Zeiten, während politische Erneuerungen, die immer nur vom Volke, nicht aber vom Staat ausgehen könnten, die bisherige staatliche Form zerbrächen. I n solchen Revolutionszeiten bildeten das Volk und seine politische Führung aus sich heraus neue Formen 1 5 3 . So gelangt dann auch Koellreutter zu dem Ergebnis, daß i m Nationalsozialismus das Reich die konkrete staatliche Form bilde, i n der das deutsche Volk sich politisch gestalte, und daß der nationalsozialistische Staatsgedanke i m Dritten Reich seinen — offenbar angemessenen — Ausdruck finde 154. Immerhin stellen sich damit auch für i h n Staat und Recht als völkische Lebensfunktionen dar, aus deren gerade hierdurch gekennzeichneter spezifischer Verbindung auf der Grundlage der nationalsozialistischen Auffassung von Volk und Staat das Wesen des Rechts i m nationalsozialistischen Rechtsdenken gestaltet werde, das sich einzig und allein darin als völkisches Rechtsdenken erweise 155 . 149 I n erklärtem Gegensatz zur Hegeischen Auffassung v o m Staat als „ W i r k l i c h k e i t der sittlichen Idee" — einer, wie er darlegte, a-völkischen, dem Nationalsozialismus fremden Position — besaß der Staat f ü r Koellreutter neben dem V o l k als politischer Größe an sich keinen politischen Eigenwert: S. 10. 150 Der Idealismus als Grundlage der Staatsphilosophie: Z f d K Bd. 1 (1935), S. 155 f. 151 Ebd., S. 157 f.; Der deutsche Volksstaat, S. 5 f. 152 Vgl. auch hierzu Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 45. 153 S.10. 154 Ebd., S. 24, 156 f. 155 Ebd., S. 12, 26. Vgl. auch Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 13. I n scharfem Gegensatz zu all diesen i n der T a t auf einen Kompromiß hinauslaufenden Gedankengängen Koellreutter s, der j a i m übrigen — entgegen den Neuhegelianern — ebenfalls von der Grundthese ausgeht, daß der Staat an sich keinen politischen Eigenwert habe (s. o. Fußn. 149), sieht Höhn, Die Wandlung i m staatsrechtlichen Denken,

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Eine vermittelnde Position zwischen den — trotz der i m Ergebnis feststellbaren weitgehenden Konvergenz — unterschiedlichen Akzentuierungen des völkischen Staatsgedankens bei den genannten Autoren nimmt wiederum E. R. Huber ein 1 5 6 , der sich — i m Dienst der Systemstabilisierung — auch hier als einer der subtilsten, auf höchstmögliche gedankliche und begriffliche Differenzierung bedachten Staatsrechtstheoretiker seiner Zeit erweist. Sein sichtlich u m die Wahrung strenger Wissenschaftlichkeit bemühtes, für die Rechtstheorie der Zeit ungewöhnlich sorgfältiges Vorgehen dient dabei zugleich dem Ziel, die bestehenden Gegensätze aufzulösen und unvereinbar erscheinende Phänomene widerspruchslos zur Deckung zu bringen. Damit w i r d dann allerdings die zuvor i n der Analyse der einzelnen Bestandteile gewonnene Klarheit weitgehend wieder aufs Spiel gesetzt. Dies gilt namentlich für die von i h m entwickelte Lehre vom „völkischen Führerreich", eine Zauberformel, mit der er entgegen allen Realitäten so divergierende Kräfte wie Volk, Staat, Reich, Führertum und Partei begrifflich miteinander zu verschmelzen suchte. Diese Lehre ist bereits i n anderem Zusammenhang dargestellt worden 1 5 7 . Hier interessieren i n erster Linie die Ausführungen zur Theorie des Verhältnisses von Volk und Staat, die die Basis für die erwähnte Lehre bildet. Auch Huber geht bei der Bestimmung der Wesensmerkmale des „neuen Reiches" prinzipiell vom Primat des völkischen Elements aus: „Das Volk ist die bestimmende und gestaltende K r a f t des politischen Geschehens158." Darin erblickt er den entscheidenden Unterschied etwa zum absoluten Staat, dessen allem anderen vorrangiger Zweck die Entfaltung von Macht und Wohlfahrt gewesen sei, der das Volk i n eine unpolitische Vielheit von Individuen, die bürgerliche Gesellschaft, aufgelöst und sich damit zwangsläufig zum volksentfremdeten Machtstaat entwickelt habe. Auch der romanische Begriff der von der Idee des Staates her geprägten und gestalteten Nation, der „Staatsnation", der auch das faschistische Italien noch beherrsche, sei grundverschieden vom deutschen völkischen Gedanken. Der Liberalismus hingegen habe den Staat zum Organ der an die Stelle des Volkes getretenen bürgerlichen Gesellschaf t, zum bloßen Werkzeug der jeweils herrschenden Klasse gemacht und damit letztlich den S. 35 f., 41, i m Staat einzig u n d allein den Behörden- u n d Beamtenapparat, der keinen eigenen Wert mehr habe, sondern i n der H a n d des Führers der Volksgemeinschaft diene, u n d zieht daher insbes. gegen die i h m als Grundübel erscheinende Figur der „juristischen Staatsperson" zu Felde, an deren Stelle als ,Grund- u n d Eckstein' des neuen Staatsrechts das Prinzip der Volksgemeinschaft u n d der Führung getreten sei (ebd., insbes. S. 15, 33, 42 f.). Dagegen wiederum Koellreutter, S. 23 ff. 156 A l s ein weiteres Beispiel f ü r die von Huber auch i n anderem Zusammenhang übernommene M i t t l e r f u n k t i o n vgl. etwa seine Adaptation der Lehre v o m totalen Staat: s. o. § 13, T. ab Fußn. 57. 157 S. wiederum o. § 13, T. ab Fußn. 61. 158 S. 161.

§ 14 I I I . Der völkische Staatsgedanke

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W e g geebnet f ü r d e n bolschewistischen S t a a t als I n s t r u m e n t d e r p r o l e t a rischen Klasse z u r U n t e r d r ü c k u n g d e r ü b r i g e n rechtlosen V o l k s t e i l e 1 5 9 . D e m g e g e n ü b e r v e r w i r k l i c h e das „ n e u e R e i c h " i n sich die v o l l s t ä n d i g e E i n h e i t v o n V o l k u n d Staat. D e n z u v o r w i e d e r g e g e b e n e n — g e w i ß n i c h t w i d e r s p r u c h s f r e i e n — Ä u ß e r u n g e n Hitlers m e i n t Huber die Z u r ü c k w e i s u n g e i n e r selbstzweckhaften, ebensosehr aber auch e i n e r r e i n i n s t r u m e n t a l e n S t a a t s a u f f assung e n t n e h m e n z u k ö n n e n , d e n n e i n »lebendiger O r g a nismus 4 sei „ e b e n gerade n i c h t totes I n s t r u m e n t oder wesenloser A p p a r a t " 1 6 0 . So sieht e r sich d u r c h die d e m F ü h r e r selbst zugeschriebene u n d d a m i t offenbar v o n höchster A u t o r i t ä t s a n k t i o n i e r t e V e r w e r f u n g d e r v o r g e f ü h r t e n E x t r e m p o s i t i o n e n b e s t ä r k t i n seiner T h e o r i e e i n e r u n l ö s lichen Verschmelzung: „Die Lehre v o m völkischen Reich begreift V o l k u n d Staat als eine untrennbare Einheit. I h r ist das V o l k der Urtatbestand des politischen Gesamtdaseins; nicht der Staat schafft das Volk, sondern das V o l k bildet aus sich den Staat als die Gestalt, i n der es geschichtliche Dauer erlangt 1 6 1 . Es erzeugt, bewegt u n d trägt durch seine K r a f t die staatliche Existenz. Das politische V o l k als das geschichtlich bewußte, handlungsfähige u n d einsatzbereite V o l k ist nicht Objekt der staatlichen Herrschaft, sondern Substanz u n d Träger des Staates. Das V o l k ist die lebenspendende K r a f t des Staates; es erhält u n d erneuert den Staat. Stets ist das V o l k der eigentliche u n d ursprüngliche Wert. A b e r dieser unbedingte Vorrang des Volkes vor dem Staat darf nicht zu einem Gegensatz von V o l k u n d Staat übersteigert werden. Der Vorrang des Volkes darf insbesondere k e i n Anlaß sein, den Staat zu einem toten Apparat — j a sogar zu einem »notwendigen Übel· zu erniedrigen. Denn das V o l k besitzt keine »Eigenständigkeit' i n dem Sinne, daß es des Staates entbehren u n d auf sich selbst stehen könnte 1 6 2 . Erst i m Staat erlangt das V o l k seine volle geschichtliche Existenz . . . Der Staat ist die lebendige F o r m u n d Ordnung, die Gestalt, i n der das V o l k geschichtlich zu handeln u n d zu entscheiden vermag. — A r t u n d Idee des Volkes werden i n der Gestalt des Staates zur geschichtlichen Wirklichkeit erhoben. I n der Gestalt des Staates w i r d das V o l k wahrhaft politisches V o l k 1 6 3 . " D i e W i e d e r g a b e solch pleonastischer A u s s a g e n z u m i m m e r selben T h e m a ließe sich nach B e l i e b e n fortsetzen. N i m m t m a n aus d e r i m „ v ö l kischen F ü h r e r r e i c h " k u l m i n i e r e n d e n L e h r e Hubers die Ä u ß e r u n g e n ü b e r das V e r h ä l t n i s v o n V o l k u n d F ü h r e r h i n z u ( i m v ö l k i s c h e n F ü h r e r r e i c h i s t das „ V o l k die Substanz d e r p o l i t i s c h e n E i n h e i t " , w ä h r e n d d e r „ V o l k s w i l l e d u r c h d e n F ü h r e r h e r v o r g e h o b e n " w i r d ; d e r F ü h r e r aber „ d i e n t , i n d e m 159

Ebd., S. 161 f. Ä h n l i c h auch Koellreutter, S. 8 f., u n d Wegener, S. 51 f. S. 163. Anders anscheinend Höhn: s. o. Fußn. 155. 161 Hier v e r w a h r t sich Huber ausdrücklich gegen den V o r w u r f von Höhn (Volk u n d Verfassung: D R W I I [1937], S. 194 f.), er — Huber — behaupte, das politische V o l k werde erst durch den Staat geformt. 162 Insofern k a n n sich Huber sogar auf einen namhaften Verfechter eines betonten völkischen Vitalismus berufen: Krieck, Völkisch-politische A n t h r o pologie, Bd. 1 (1936), S. 99. 163 S. 164. 160

11 Anderbrügge

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

er den Willen der Gemeinschaft bildet, dem Volk" 1 6 4 ), so erweist sich die praktische Konsequenz dieser Methode: Wer immer einen Bestandteil des so kunstvoll komponierten Ganzen erfaßt, t r i f f t — solange er nur diesen Aspekt nicht verabsolutiert — notwendigerweise zugleich die komplexe Wirklichkeit des völkischen Staatsgedankens. Letztlich führen solche Standortbeschreibungen allerdings nur zu Gemeinplätzen: Die lebendige Volksgemeinschaft genießt Vorrang vor einer i n starrer Bürokratie verknöcherten, formalen Staatsorganisation — aber ohne »statische4 Einrichtungen wie Ämter, Behörden, Stellen, Anstalten und Organisationen geht es nicht 1 6 5 ! Die Begründung für diese keineswegs sonderlich aufsehenerregende Verbindung gegenteiliger, doch jeweils für legitim erklärter Aussagen schwingt sich indessen gleichsam zu den Höhen Hegelscher Dialektik hinauf: „ I m Begriff der,Gestalt* (des politischen Volkes i m neuen Staat) ist der Gegensatz von dynamischer K r a f t und statischer Form zu einer neuen Ganzheit verschmolzen." Der Gestaltbegriff soll gleichermaßen die Einheit von bewegtem Leben und straffer, geprägter Ordnung sowie die Synthese von Idee und Existenz 166 bezeichnen: „Der Staat ist ,Gestalt', heißt also: er ist nicht nur bewegte K r a f t und nicht nur ruhendes Sein, sondern er ist die Einheit von Tat und Dauer i n einer lebendigen Ordnung 1 6 7 ." Damit schließlich der auf diese Weise als umfassende politische Gesamtordnung des Volkes definierte Staat nicht als reine Staatsorganisation mißverstanden und statt als „konkreter Lebens-Begriff" als „allgemeiner Typus-Begriff" i m Sinne der Allgemeinen Staatslehre angesehen wird, sollte er — Heckeis Vorschlag folgend — die Bezeichnung „Reich" tragen. „Das Reich ist die konkrete politische Gestalt, i n der das deutsche V o l k zum Staat geworden ist 1 6 8 ." Dieses (Dritte) Reich, i n dem der den Deutschen eigene völkische Staatsgedanke angeblich Wirklichkeit wird 1 6 9 , hat nur verbal etwas gemein m i t der alten Reichsidee, die selbstverständlich i m Nationalsozialismus aufgegriffen und beschworen w i r d als der durch die Jahrhunderte gehende und nun erst wahrhaft erfüllte „Traum der besten Deutschen aller Zei164

S. 210. Vgl. dazu noch einmal o. § 13, zw. Fußn. 63 u. 66. S. 164 f. Diese Einrichtungen werden ihrerseits freilich wieder durch das Prinzip der F ü h r u n g bestimmt: Ebd., S. 198 f. 188 M a n könnte ergänzen: von Wesen u n d Erscheinung; übrigens spricht auch Huber i n diesem Zusammenhang — w i e bereits Binder (s. ο. T. ab Fußnote 148) — v o m Staat als der „Lebensform" des Volkes (S. 166), die damit jedenfalls mehr als n u r eine äußere Erscheinungsform darstellt. 167 Ebd., S. 165 f. Der Gestaltbegriff w i r d — unter Berufung auf Huber — namentlich auch von H.-H. Dietze übernommen: Naturrecht i n der Gegenw a r t , S. 109 (ff.). S. u. § 16, zu Fußn. 9. 188 Huber, S. 167 m. w . N. Vgl. auch die — trotz des unterschiedlichen Ausgangspunktes — nahezu gleichlautende Formulierung Koellreutters o. vor Fußn. 154. S. ferner Stuckart, S. 3. 189 So insbes. wiederum Stuckart, ebd. Ä h n l i c h aber auch die anderen dort angeführten Autoren. 165

§ 14 I I I . Der völkische Staatsgedanke

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ten" vom ,,einige(n) deutsche(n) Volk i m einigen Reich": Durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches" vom 30. Jan. 1934170 — gleichbedeutend m i t der Aufhebung der Länder — sei ein „Verfassungsgrundsatz von größter geschichtlicher Bedeutung seiner Verwirklichung entgegengeführt" worden: „ E i n Volk, ein Reich, ein Führer 1 7 1 ." Ihrer eigentlichen Funktion nach aber sind völkischer Staatsgedanke und seine Gestalt, das Reich, nichts weiter als der zugleich offen erklärte Gegensatz zum bürgerlich-liberalen Rechtsstaat m i t seinen vielfältigen Gewährleistungen zum Schutz des Individuums — wie namentlich eine geschriebene, die Macht des Staates durch Trennung der Gewalten hemmende Verfassung, die Sicherung einer unantastbaren staatsfreien Sphäre des einzelnen durch Grundrechte, gerichtlicher Rechtsschutz gegenüber Eingriffen der Staatsgewalt i n subjektive öffentliche und private Rechte, staatliche Entschädigungspflicht bei Enteignung, Aufopferung und Amtspflichtverletzung, Unabhängigkeit der Gerichte, die Gewährleistung des gesetzlichen Richters und das Verbot rückwirkender Strafgesetze, das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. A l l diese fundamentalen Grundsätze der klassischen Rechtsstaatsauffassung, ja sogar jegliche Abgrenzung zwischen den nach liberalistischem Verständnis streng geschiedenen Sphären des einzelnen und des Staates erübrigen sich i m nationalsozialistischen Reich, da es i n i h m einen Gegensatz zwischen dem Volk und seinem Staat überhaupt nicht geben kann 1 7 2 , zumal das wichtigste Grundgesetz aller Deutschen die Treue zu Volk, Führer und Reich ist 1 7 3 . Das Reich aber ist seinerseits wesentlich ein Rechtsstaat, „ w e i l i n i h m Staats- und Rechtsidee aus derselben völkischen Quelle fließen und das deutsche Volk als politische Größe seinem eigensten Wesen i n der Staats- und Rechtsgestaltung des Nationalsozialismus Ausdruck verleiht". Das V o l k empfindet sich nämlich nicht nur als politische, sondern auch als Rechtsgemeinschaft, und jeder Volksgenosse sieht — der völkischen Rechtsidee entsprechend — i n den übrigen Volksgenossen den Rechtsgenossen, dessen Persönlichkeit und Ehre für i h n ein un170

RGBl. I, S. 75. Stuckart, S. 8. Die hier gefeierte E n t w i c k l u n g w i r k t w i e ein H o h n auf die von Nicolai vor der Machtergreifung i n k a u m faßbarer Arglosigkeit getroffene Feststellung, das deutsche Recht suche gerade das Besondere zu schützen, zu hegen u n d zu pflegen. Deshalb seien alle germanischen Staaten Bundesstaaten, i n denen die Eigenarten der einzelnen Stämme oder Landesteile gepflegt w ü r d e n : Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 18. 172 So Wegener, S. 52, unter Berufung auf Larenz, Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 147: der Staat als Reich steht i n keinem Gegensatz mehr zu Volk, V o l k s t u m u n d Volksgeist, sondern hat an ihnen vielmehr seine Grundlage. Während der Liberalismus bei der Entgegensetzung des unpolitischen Volkes u n d des unpolitischen Staates stehen bleibt, ist es das Wesen des völkischen Staatsgedankens, zur Einheit des politischen Volkes u n d des politischen Staates vorzudringen." 173 Vgl. wiederum Wegener, S. 66. 171

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

antastbares Rechtsgut ist. „ I n einem Volke wie dem deutschen, das immer ein besonders feines und empfindliches Rechtsgefühl entwickelt hat, besitzt deshalb der Rechtsstaat i n diesem Sinne Ewigkeitswert 1 7 4 ." I n i h m verwirklichen sich die spezifisch nationalsozialistischen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit ebenso wie die von Staat und Gemeinschaft 175 . Gegenüber diesem nationalsozialistischen Gerechtigkeitsstaat ist der weltanschaulich neutrale bürgerliche Rechtsstaat als „nicht inhaltlich, sondern nur formell, nicht substantiell, sondern nur funktionell bestimmter Modus" lediglich ein indifferenter Gesetzesstaat, der nicht der Gerechtigkeit i m materiellen Sinne dient, sondern einer positivistischen Voraussehbarkeit zum Nutzen des ,freien' Individuums, für welches das positive Gesetz zu einem „Fahrplan" werde, an Hand dessen jeder Interessent sich des staatlichen Justiz- und Verwaltungsapparates bedienen und m i t dessen ,Normen 4 er das gesamte öffentliche Leben berechnen und kontrollieren könne 1 7 6 . Vor allem i m Prinzip der Gewaltenteilung und i m Grundrechtssystem, aber auch i m Vorrang des Gesetzes vor der Verwaltung und der Rechtsprechung sowie i n der richterlichen Kontrolle der staatlichen Hoheitsakte (dem „inneren Prinzip des Rechtsstaats") sieht man den Nachweis erbracht, daß es dem i m 19. Jahrhundert entstandenen liberalen Rechtsstaat — und damit auch dem Staat von Weimar — einseitig nur u m das Recht des Individuums gegangen sei. Das i h m eigene gesetzesstaatliche Denken habe eigentlich gar nicht so sehr auf dem abstrakt-logischen Vorrang der generellen Norm vor der Einzelverwirklichung des Rechts i n Justiz und Verwaltung beruht, sondern faktisch den Vorrang des Individuums und der i m Parlament vertretenen bürgerlichen Gesellschaft vor der staatlichen Exekutiv- und Justizgewalt herbeigeführt 177 . Dagegen muß nach der völkischen Rechtsauffassung der Sicherheit der völkischen Lebensordnung der Vorrang vor der Sicherheit des einzelnen und seiner individuellen Rechtsansprüche zukommen 178 . Während z.B. die Erfassung und Begrenzung der Exekutive durch das Gesetz die „vitale Frage für das Bürgertum" gewesen sei, lasse das völkische Führerreich i n seinen Gesetzen dem freien Handeln der Verwaltungsbehör174 Koellreutter, S. 12. Carl Schmitt weist darauf hin, daß gerade auch die sog. „Parteijuristen" (vgl. o. § 9 I I , Fußn. 40) — so ζ. B. Frick, Frank, Lammers, Freisler u n d Nicolai — insofern zu Recht v o m nationalsozialistischen Staat als einem Rechtsstaat gesprochen hätten: Der Rechtsstaat, i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 9 f. 175 Vgl. Carl Schmitt, ebd. 178 Ebd., S. 6, ζ. T. unter Berufung auf Heinrich Langes Schrift „ V o m Gesetzesstaat zum Rechtsstaat", Tübingen 1934. 177 Vgl. insbes. E. R. Huber, S. 27 f. 178 Koellreutter, S.U.

§ 14 I I I . Der völkische Staatsgedanke

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den weiten Spielraum, der allerdings nicht nach persönlichem Belieben des handelnden Beamten, sondern gemäß eben jener völkischen Rechtsauffassung auszufüllen sei; denn alles Verwaltungshandeln müsse der Verwirklichung des völkischen Rechts und des Willens des Führers als des obersten Trägers der politischen Gewalt dienen 179 . Folgt man dem der klassischen Rechtsstaatsidee entgegengesetzten nationalsozialistischen (materiellen) Rechtsstaatsbegriff, so ist selbstverständlich die Rechtmäßigkeit der Verwaltung wichtiger als deren Gesetzmäßigkeit. Wenn also Verwaltungsbehörden, sofern das i m Volk lebendige ungeschriebene Recht es verlangt, auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage tätig werden, dann führen sie den Willen des Führers aus, „der eben dahin geht, daß das lebendige Recht, nicht das formale Gesetz entfaltet und verwirklicht werde" 1 8 0 . I n solchem Rahmen herrscht auch i m nationalsozialistischen Staat Rechtssicherheit 181 , gelten seine Gesetze unverbrüchlich, sind endlich auch die Richter unabhängig und besteht ein ausgedehnter Rechtsschutz 182 . Stellt man die hier sehr gerafft nachgezeichnete Wandlung des staatsrechtlichen Denkens i n der NS-Zeit i n einen diese Epoche übergreifenden Zusammenhang, so erscheint die scharfe K r i t i k der damals maßgeblichen Staatsrechtslehrer an einer rein individualistisch geprägten, soziale Bezüge nahezu völlig verkennenden Rechtsstaatsauffassung i m Ansatz gewiß berechtigt. Das nicht zuletzt ebenfalls auf der Erfahrung des Versagens des alten liberalstaatlichen Systems beruhende, gerade auch bei Gegnern des Nationalsozialismus verbreitete Mißtrauen gegenüber der Integrationskraft seiner tragenden Prinzipien hat sich beispielsweise nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches i n der Sozialstaatsklausel des Bonner Grundgesetzes 183 artikuliert, durch das i m übrigen allerdings die liberalen Vorstellungen folgenden rechtsstaatlichen Garantien und Einrichtungen noch über den früheren Umfang hinaus erweitert worden sind. Die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Fragenkreis ist bekanntlich gerade i n jüngerer Zeit wieder erheblich intensiviert worden 1 8 4 . Was angesichts dessen an dem bemerkenswert 179 E. R. Huber, S. 274, der hier wiederum miteinander konkurrierende Zielvorstellungen i n Einklang zu bringen versucht. 180 Ebd., S. 274 f. 181 Hans Frank hebt ausdrücklich hervor, daß der Grundsatz der Rechtssicherheit, i m nationalsozialistischen Staat i m vollkommensten Sinne verw i r k l i c h t durch ein deutsches Rechtssystem u n d durch eine volksverbundene Rechtsanwendung, getragen werde durch das Führerprinzip, da auch der Führer der Rechtsordnung unterworfen sei: Nationalsozialistisches Handbuch für Recht u n d Gesetzgebung, S. X V I . 182 S. Carl Schmitt, ebd., S. 9. Vgl. aber auch die vorsichtig abwägenden, offensichtlich u m die Bewahrung eines Kerns traditioneller Rechtssicherheitsvorstellungen bemühten Ausführungen Koellreutters zu dieser Frage: S. 14. 183 Vgl. A r t . 20, 28 GG. 184 Vgl. als Überblick etwa den von Ernst Forsthoff herausgegebenen Sam-

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

aggressiv geführten Kampf der Apologeten des NS-Regimes gegen die liberale Staatsauffassung so tief bestürzt, ist die m i t i h m einhergehende blinde Verherrlichung des völkischen Führerreichs als Inkarnation der wahren materiellen Rechtsstaatsidee, die damit auf infamste Weise pervertiert wurde 1 8 5 . Die zielsicher betriebene oder wenigstens eifrig unterstützte Überwindung des Gewaltenteilungssystems, des „labilen und anarchischen Zustandes des Weimarer Staatswesens" mündet ein i n die vorbehaltlose Huldigung der totalen Führerherrrschaft: Für die als höchst modern gepriesene neue Verfassungsform ist keine der drei alten Gewalten mehr von zentraler und charakterisierender Bedeutung, „sondern die Führung als solche ist die bewegende und wesensbestimmende politische Funktion" 1 8 6 . Die Führung, d. h. Führer und Partei, ist also letztlich der Garant für Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit. Ihre Rolle i m System ist von ihren Repräsentanten selbst ganz unverblümt beschrieben worden. So verkündete Hitler schon auf dem Parteitag 1934: „Nicht der Staat befiehlt uns (seil, der Partei), sondern w i r befehlen dem Staat 1 8 7 ." U n d die Partei wiederum, die dem Reich den Führer gibt, steht unter dessen Befehl. M i t i h m an der Spitze ist sie das wahre Kernstück des Dritten Reiches, die Trägerin der nationalsozialistischen Volks- und Staatsidee 188 . So ist das neue Reich zwar ein „Bewegungsstaat" 189 , kann sich aber nichtsdestoweniger m i t dem sich hier i n besonderem Maße als ganz und gar irrational erweisenden Etikett „völkisch" schmücken 190 . Denn gerade die Partei, i n ihrem Wesen dadurch melband „Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit", Aufsätze u n d Essays, Darmstadt 1968, sowie i m einzelnen die bei Hans J. Wolff-Bachof, Verwaltungsrecht Bd. I, 9. Aufl., München 1974, zu § 11 gegebenen Literaturhinweise. iss Gernhuber beispielsweise sieht i n der Beibehaltung des Rechtsstaatsbegriffs durch die Nationalsozialisten eine reine Scheinwahrung: Das v ö l kische Recht, S. 187. Z u r Rechtsstaatsdiskussion i n der ns. Staatsrechtslehre s. insbes. die sehr differenzierte Darstellung von Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung i n der Rechtsprechung des Preuß. OVG, S. 36 - 42. 188 Vgl. E. R. Huber, S. 236. 187 S. dazu bereits o. § 13, bei, insbes. i n Fußn. 21, sowie die Bemerkungen zum nahezu umgekehrten Verhältnis i m italienischen Faschismus o. Exkurs nach § 5, T. ab Fußn. 15. U m die so eindeutige Formel „Die Partei befiehlt dem Staat" noch i n i h r System völkischen Rechts- u n d Staatsdenkens einpassen zu können, vollführen z. B. Koellreutter (S. 156 ff.) u n d Huber (insbes. S. 289 ff.) beachtliche Interpretationskunststücke. 188 Stuckart, S. 9. 189 Vgl. E. R. Huber, S. 222, 288 ff., der i n i h m u. a. die „dreigliedrige Einheit von Volk, Bewegung u n d Staat" (man beachte die Reihenfolge!) verkörpert sieht (S. 293), m i t h i n der drei Elemente, die Carl Schmitt zufolge „ u n t e r schieden, aber nicht getrennt, verbunden, aber nicht verschmolzen" sind: Staat, Bewegung, Volk, S. 21. 190 Huber betont i n diesem Zusammenhang (S. 295) ausdrücklich, daß etwa das Problem der völkischen Willensbildung seit der Französischen Revolution „rationalistisch verzerrt" worden sei. Der rationale Vorgang der letzten E n t schließung bedeute jedoch nicht den wesentlichen K e r n der Willensbildung,

§15 Die rassengesetzliche Rechtslehre

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bestimmt, „daß sie unmittelbar aus dem Volke selbst erwächst und i n unausgesetzter lebendiger Fühlung m i t dem Volke steht" 1 9 1 , bildet als staats- und volkstragende, dem völkischen Ganzen dienende und i h m eingeordnete Gemeinschaft 192 ein „geistig-weit anschauliches Kraftzentrum", einen „Quell geistiger und seelischer Stärke" 1 9 3 . I h r Ziel ist das „völkische Reich, ein Staat also, dessen Sein und Werden von der Idee des Volkes bestimmt ist, für den das Volk die Substanz der politischen Einheit ist, der seine K r a f t nach innen und außen aus dem ganzen Volke zieht, der vom ganzen Volke getragen wird" 1 9 4 (!). U m die i n i h m nach Auffassung aller Interpreten des völkischen Staatsgedankens manifest gewordene Uberwindung der alten liberalstaatlichen Begriffe zu dokumentieren und jeglicher Mißdeutung der durch den Nationalsozialismus tiefgreifend gewandelten Verfassungslage vorzubeugen, hat kein Geringerer als Carl Schmitt — i n Anlehnung an Hans Frank — vorgeschlagen, bei Übernahme des an sich „problematischen Wortes Rechtsstaat" zur Beschreibung dieses i n der Tat unverwechselbaren NS-Staatswesens die i h m am treffendsten erscheinende Formel zu verwenden: „der deutsche Rechtsstaat Adolf Hitlers" 195. Daß dieses so euphemistisch betitelte Herrschaftsgebilde tatsächlich nichts mehr m i t traditionellen Rechtsstaatsvorstellungen gemein haben sollte, hat Carl Schmitt selbst an anderer Stelle m i t vorbehaltloser Offenheit ausgesprochen: „ W i r bestimmen also nicht den Nationalsozialismus von einem i h m v o r gehenden Begriff des Rechtsstaates, sondern umgekehrt den Rechtsstaat v o m Nationalsozialismus her . . . w i r können weder unsere GerechtigkeitsVorstellungen, noch unsern Gesetzesbegriff, noch unsere Begriffe von Staatsbürger u n d staatsbürgerlicher Gleichheit, noch unsere Grundrechte, noch endlich das Verbot jeder, außerhalb der NSDAP, vorgenommenen parteipolitischen Betätigung durch einen fremden Begriff von Rechtsstaat trüben lassen 1 9 6 ."

§ 15 Die rassengesetzliche Rechtslehre Die i n der NS-Zeit hergestellten und wie kein anderer Komplementärbereich von der damaligen Gesetzgebung ausgestalteten Beziehungen zwischen Rasse und Recht, insonderheit die vielfältigen Bemühungen der Rechtswissenschaftler jener Zeit, auch die Rassengesetze als „gevielmehr komme es maßgeblich auf die Gesamthaltung an, aus der die Einzelentschließungen getroffen würden. 191 Ebd., S. 293. 192 Ebd., S. 288, 292 f. 198 Stuckart, S. 9. 194 E. R. Huber, S. 291. 195 Der Rechtsstaat, S. 10 (Hervorhebung i m Original). 196 Nationalsozialismus u n d Rechtsstaat: J W 1934, S. 713 ff. (716) = D V 1934, S. 35 ff. (39).

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

rechte Ordnung" 1 zu qualifizieren und selbst die primitive nationalsozialistische Rassenlehre zu adaptieren, sind i m Rahmen dieser Untersuchung bereits an anderer Stelle summarisch behandelt worden 2 . I m folgenden soll mit der von Helmut Nicolai schon vor 1933 begründeten „rassengesetzlichen Rechtslehre" 3 der noch darüber hinausgehende bizarre — und letztlich auch gescheiterte 4 — Versuch dargestellt werden, ausgerechnet die „nordische Rassenseele" als Quelle des Rechts ins allgemeine Bewußtsein zu rufen 5 und auf dieser „rassisch bedingten Grundlage" nicht weniger als die „Grundzüge einer nationalsozialistischen Rechtsphilosophie"® zu entwerfen. Eine so konzipierte Rechtslehre erhebt also von vornherein den Anspruch, ein i n sich geschlossenes, nämlich auf dem „lebensgesetzlichen" 7 Kerngedanken der Rasse als des maßgebenden Prinzips der Rechtserkenntnis und der Rechtsgestaltung aufbauendes System zu sein, und unterscheidet sich damit wesentlich von allen den Rassengedanken lediglich integrierenden Rechtslehren. Obgleich diese merklich von den eigentümlichen Vorstellungen der sogen. „Kampfzeit" geprägte „rassengesetzliche Rechtslehre" — wie noch zu zeigen sein w i r d — ihrer Struktur und ihrem Selbstverständnis nach der politischen Führung keinen absoluten Vorrang einzuräumen vermochte, die NS-Weltanschauung, mehr aber noch die NS-Wirklichkeit somit i n einem entscheidenden Punkt verfehlte und folglich notwendigerweise häretisch werden mußte 8 , ist sie i n der Zeit des Dritten Reiches keineswegs ohne Nachhall geblieben. Nicolais Gedanken fanden beispielsweise i n dem von Hans Frank i m Namen des Reichsrechtsamtes der 1 Vgl. etwa Koellreutter y Deutsches Verfassungsrecht, S. 11 i. V. m. S. 17 u. 71 if. 2 S.o. §911. 8 Der Begriff stammt von Nicolai selbst u n d lieferte zugleich den T i t e l seiner f ü r diese Strömung nationalsozialistisch-völkischen Rechtsdenkens maßgeblichen Schrift „Die rassengesetzliche Rechtslehre", München 1932 (2. Aufl. 1933, 3. Aufl. 1934; i m folgenden w i r d ohne besonderen Hinweis jeweils die 1. Aufl. zitiert). 4 Vgl. Gernhuber, Das völkische Recht, S. 177 f. S. hierzu auch bereits o. § 9 I I , Fußn. 65. 5 Vgl. bereits das V o r w o r t der zuvor genannten Schrift, S. 3, sowie ferner S. 26 f., 51, 54. 6 So der U n t e r t i t e l des Werks. 7 Nicolai verwendet diesen Begriff anstelle des gleichbedeutenden „biologisch": ebd., S. 3. 8 Vgl. Gernhuber (wie zuvor zu Fußn. 4) sowie Kirschenmann, ,Gesetz4 i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, S. 46, 49 ff., der allerdings den Akzent anders setzt u n d m i t durchaus überzeugenden Nachweisen darlegt, daß sich zumindest der „völkische Vitalismus" m i t seinem eigenen Selbstverständnis i n Widerspruch gesetzt habe, indem er sich den Gedanken von der unumschränkten Herrschaft des Führers anzupassen gesucht habe. Dies g i l t jedoch nicht i n gleichem Maße von der insofern engeren „rassengesetzlichen Rechtslehre".

§15 Die rassengesetzliche Rechtslehre

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NSDAP herausgegebenen, i m Zentralverlag der Partei erschienenen „Nationalsozialistischen Handbuch für Recht und Gesetzgebung" (das allerdings trotz seines halboffiziellen Charakters inhaltlich nur i n beschränktem Umfang als von den eigentlichen Machthabern autorisiert gelten kann 9 ) beifällige Aufnahme 1 0 . So entsprach es etwa durchaus ihrer I n tention, wenn dort gefordert wurde, daß neben einer politischen Weltanschauung eine „nationalsozialistische Lebensanschauung" wachsen müsse, „die den notwendigen Zusammenhang von Rasse und Recht möglich macht, die das Recht i m Dienste der Rasse gestalten und entwickeln h i l f t " 1 1 . Das Recht aber könne nur dann dem Leben gerecht werden und den der Erhaltung des Lebens dienenden Naturgesetzen der Auslese und der ausgleichenden Fruchtbarkeit zum Recht verhelfen, wenn es einem biologischen Denken entspringe 12 . Die nahe substantielle Verwandtschaft m i t dem zuvor typisierend dargestellten (spezifisch) völkischen Rechtsdenken, hier als „Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht" benannt und namentlich durch die zentrale Leitvorstellung von der (Volks-)Gemeinschaft als Organismus 13 gekennzeichnet, ja der unmittelbare Einfluß auf diese Lehre sind offensichtlich: Jenes biologische („lebensgesetzliche") Denken bedeute, so heißt es ζ. B., „den Volksauf bau organisch und nicht etwa organisatorisch zu sehen". Der Organismus des Lebens baue auf der Zelle als der kleinsten biologischen Einheit auf, die freilich i n weitere, ihrerseits jedoch ohne die besondere Ordnung i n der Zelle bedeutungslose Teile zerfalle und daher eine nicht aus den einzelnen Teilen zusammengefügte und auch nicht aus ihnen erklärbare Lebensganzheit darstelle. Uber den einzelnen Zellen stehe i m Organismus der Zellverband, der die höhere Aufgabe habe, die Kräfte des Wachstums i n der einzelnen Zelle sinnvoll zu lenken, die kranken und schwachen Zellen abzustoßen und durch neue zu ersetzen. Die voneinander nicht durch völlige Andersartigkeit, sondern durch die je besondere Aufgabe unterschiedenen Zellverbände w i r k t e n endlich i n der sinnvollen Ordnung des Gesamtorganismus einander ergänzend und fördernd zusammen. — Der so beschriebene organische Lebensaufbau w i r d sodann als Vorbild für einen organischen, aus der Familie und der Sippe entwickelten Volksaufbau hingestellt. I n i h m ist der einzelne „für sich, aus dem Zusammenhang genommen, nur ein Splitter". Seine volksbiologische Bedeutung gewinne er erst, wenn er Glied einer organischen Lebenszelle des Volkes sei, der Familie nämlich, aus der sich das Volk 9

Z u deren höchst instrumentalen Rechtsvorstellungen s. o. § 10. Vgl. insbes. die Beiträge von Gercke (Rasse u n d Recht, S. 11 - 16) u n d Kier (Volk, Rasse u n d Staat, S. 17 - 28). 11 Gercke, S. 15. 12 Ebd., S. 11, 14, 16. 13 S.o. §14 I I a . 10

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

als Gesamtorganismus aufbaue 14 . Geschichtliche Gemeinschaftsformen aus der Zeit der germanischen Vorfahren sollen auch noch i m Zeitalter der modernen Industriegesellschaft die „unbedingte Richtigkeit" solcher Theorien erweisen: Jedes alte nordische Volk habe diesen organischen Aufbau i n sich verwirklicht. Es sei zwar i n eine Reihe einander gleichartiger Geschlechter zerfallen. Die Geschlechterordnung sei jedoch keine Teilung des Volkes gewesen, sondern nur ein ordnendes Prinzip innerhalb desselben. Demnach habe das Volk die „höchste biologische Einheit" dargestellt, der der Mensch zu dienen gehabt habe und die zu erhalten höchste Lebensaufgabe gewesen sei 15 . Freisler, der gern i n der Rolle eines Wortführers des völkischen Rechtsdenkens auftrat, hat eine derartige „Biologisierung" der menschlichen Gemeinschaftsbeziehungen noch unterstrichen, indem er davor warnte, die (Volks-)Gemeinschaft nur bildlich m i t einem Organismusgleichnis erfassen zu wollen, da dann ihre tiefsten Werte i m Leben und i n der Rechtsordnung nicht aktiviert werden könnten: „Die Gemeinschaft als Organismus ist kein Vorstellungsbild, sie ist eine Lebenswirklichkeit 1 8 ." Die lapidare Bündigkeit solcher Behauptungen hatte offenbar eine exakte Beweisführung zu ersetzen. Die methodische Auseinandersetzung m i t den vor allem seit der Romantik gerade i n Deutschland längst hochentwickelten Organismus-Theorien — z.B., was immerhin nahe gelegen hätte, m i t Otto von Gierkes Theorie von der realen Verbandsperson 17 — fand hier nicht einmal andeutungsweise statt. Grundsätzliche Einwände wie der, daß man aus einer i n beiden Bereichen 14 Vgl. w i e d e r u m Gercke, S. 14. Es erscheint i m m e r h i n bemerkenswert, daß der A u t o r von seinem biologischen Ausgangspunkt her n u r die Familie (allenfalls noch die Sippe) als Baustein des Volkes anführt, die i n diesem Zusammenhang sonst üblicherweise m i t herangezogenen, nationalsozialistischen Organisationsformen entsprechenden sogen, „höheren Gemeinschaften" w i e Partei u n d ihre Gliederungen (ζ. Β . H J, DAF) oder auch Heer, Arbeitsdienstlager, Stand usw. jedoch v ö l l i g außer Betracht läßt. 15 Nicolai, S. 3, 16. 18 Grundlegende Denkformen des Rechts, S. 19, 21. 17 Es soll allerdings nicht verkannt werden, daß sich die stärker wissenschaftlich orientierten völkischen Rechtstheoretiker, sofern es i n i h r Konzept paßte, vielfach gerade auf Gierke beriefen; vgl. namentlich etwa Koellreutter, S. 21, u n d die sich bei Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre u n d unsere Zeit, Hamburg 1936, insbes. S. 9 ff., findenden Hinweise. Höhn selbst lehnt indessen die GierJcesche Organismus-Vorstellung als f ü r das Verstehen der „Gemeinschaft unserer Zeit" unbrauchbar ab: ebd., u . a . S. 58 ff., 151, 153. — Die i m Zusammenhang m i t den Organismus-Theorien ebenfalls erwähnenswerte universalistische Lehre Othmar Spanns m i t ihren ständestaatlichen Elementen hingegen w u r d e von den völkischen Rechtslehrern m i t dem Hinweis verworfen, daß die ständische Ordnung i m Nationalsozialismus nicht am Staat, sondern n u r am V o l k orientiert sein könne u n d daß die Stände als Sondergestalten des völkischen Lebens Ausdruck des organischen Aufbaus u n d der organischen Gliederung des Volkes seien: Koellreutter, S. 189 f. ( m . w . N.), 192 f.

§15 Die rassengesetzliche Rechtslehre

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nachweisbaren Übereinstimmung bestimmter Eigenschaften nicht ohne weiteres auf das Vorhandensein weiterer gemeinsamer Merkmale schließen könne, wurden gar nicht erst zur Kenntnis genommen 18 . — I n welche Richtung derartige Gemeinschaftsvorstellungen letztlich zielten, war i m spezifisch völkischen Rechtsdenken ebenso wie i n der rassengesetzlichen Rechtslehre jeweils von vornherein deutlich vorgezeichnet. Hier wie dort ging es m i t nur geringfügigen Akzentunterschieden u m die völlige Gleichschaltung des Individuums. Stand auf der einen Seite die Lehre von der sogen, gliedschaftlichen Einbindung des einzelnen als Volksgenosse i n die Gemeinschaft 19 i m Vordergrund, so sollte hier die Unterordnung des Individuums unter den „Anspruch der Allgemeinheit der Volksgemeinschaft" u. a. dadurch realisiert werden, daß das aus dem biologischen Denken erneuerte und entwickelte Recht ausnahmslos dem Grundsatz vom Vorrang des Gemeinnutzes vor dem Eigennutz, des „Volksaufbaus i m Sinne einer Blutsgemeinschaft" vor dem einzelnen sowie des Wohles und der Zukunft der Rasse vor der Gegenwart und ihren Menschen folge 20 . Auch nach Funktion und Tendenz ihrer taktischen Verwendung weisen die rassen- oder lebensgesetzlichen Argumentationsgänge unverkennbare Gemeinsamkeiten m i t den für das völkische Rechtsdenken charakteristischen Formeln auf. „Gefühlsmäßig", so Nicolai, lebe die rassengesetzliche Rechtslehre seit germanischer Zeit ungeschrieben noch überall „ i m gesunden Teile unseres Volkes" fort 2 1 — insofern gewiß identisch m i t der „Idee vom deutschen Recht" als der „ewige(n) Sehnsucht, ein Recht zu besitzen, das i n allem dem deutschen Menschen, der deutschen A r t , der Rasse und dem V o l k dient, Recht als Recht, Unrecht als Unrecht gelten läßt, ohne Ansehen der Person, nur i m Blick auf Rasse und Volk, auf Deutschland" 22 . Es galt also lediglich wieder ein Recht ins allgemeine Bewußtsein zu heben, das — „aus dem Volksempfinden geboren" und vom Volke verstanden 23 — es fortan dem einzelnen ermöglichen sollte, die ursprünglich von Natur aus i m Interesse der Stärkung der Lebenskraft 18 H i e r sei n u r auf die knappe Darstellung der Organismus-Theorien u n d ihrer K r i t i k bei Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 151 ff., verwiesen. 19 S. dazu o. § 14 I I b. 20 Vgl. Gercke, S. 13, 16. Auch f ü r Nicolai w a r „ V o l k i m eigentlichen Sinne" eine „geschlossene Blutsgemeinschaft" ; s. z. B. S. 7, 16. 21 S. 3, ähnlich auch S. 12 ff. 22 Gercke, S. 16. Auch Nicolai sprach von der „Sehnsucht nach deutschem Recht", einem Recht, „das unserer deutschen A r t entspricht" (S. 20) u n d das nach deutscher Auffassung n u r dann „Recht" sei, w e n n es der „ewigen Rechtsidee", d . h . dem Gedanken der Lebens- u n d Arterhaltung, gemäß sei (S. 10 ff.). 23 Vgl. die Parallelen i n der „Lehre v o m völkischen Gemeinschaftsrecht" o. § 141 b.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

des Volkes jedermann einsichtigen Pflichten 24 — vornehmlich rassenhygienische Forderungen — zu erfüllen, somit ein Recht, das den rassischen Bestand des Volkes sichern und endlich „die Erkenntnis von Recht und Unrecht aus dem Rassegedanken eindeutig hervorleuchten" lassen werde 25 . Tendenziell sollte diese Entwicklung dann ganz ähnlich wie beim völkischen Rechtsdenken wiederum auf die erwünschte völlige Identität von innerer Haltung und geschriebenem Gesetz, von natürlichem Volksempfinden und festgelegter Norm zuführen 26 und die durch die „Rassenzersetzung" gelösten sittlichen Bindungen wiederherstellen 27 . Derselbe Gleichklang, wie er nach alter deutscher Auffassung zwischen Recht und Sittlichkeit bestanden habe, bevor er durch die Übernahme der abstrakt-logischen römischen Rechtssätze zerstört worden sei 28 , hat nach dem Grundgedanken der rassengesetzlichen Rechtslehre auch das Verhältnis von Recht und Rasse sowie von Recht und Leben auszuzeichnen, denn eine „lebensgesetzliche Richtung des Rechts" fordert seine Verbindung m i t den natürlichen Gegebenheiten des Blutes und der Rasse ebenso wie die notwendige Verschmelzung von Sittlichkeit und Recht, von Rechtsgefühl und Gesetz 29 . Die vollkommene Verwirklichung der i m Lichtzeichen des Hakenkreuzes versinnbildlichten rechten Ordnung der Welten und des wahren Friedens i n der Gemeinschaft ist demnach erst dann erreicht, wenn das Recht — eben jener ewigen Rechtsidee folgend — der Lebens- und Arterhaltung dient 3 0 . Das bedingt beispielsweise, daß entsprechend dem „strengen nordischen Eherecht" nur die Ehe rechtmäßig sein könne, bei der die Ehegatten „eines Blutes, einer Rasse" seien 31 , oder daß überkommener deutscher Rechtsauffassung gemäß das Eigentum immer nur als ein durch soziale, genossenschaftliche Rücksichten gebundenes, also nicht individuell frei verfügbares Recht und damit unter dem übergeordneten Aspekt der Arterhaltung, der Fortpflanzung der Familie, des Geschlechts, des Volkes zugleich als Pflicht angesehen werden müsse 32 . Uberhaupt w i r d die Rechtsordnung des alten nordisch-germanischen Volkes i n jeder Hinsicht als nachahmenswert hingestellt: 24

Nicolai sah die E r f ü l l u n g dieser Pflichten i m altgermanischen Treuegedanken begründet: S. 17 f. 25 Vgl. wiederum Gercke, S. 13 f. 26 Ebd., S. 16. Z u den Parallelen s. o. § 14 I c. 27 Vgl. Nicolai, passim (ζ. B. S. 7, 10 f., 17 ff., 20, 28 ff., 40). 28 S. dazu bereits o. § 61, bei Fußn. 10 sowie i n Fußn. 11 u. 33 a. E. Nicolais Polemik gegen das römische Recht ist namentlich Hans J. Wolff entgegengetreten: Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, S. 10 A n m . 29 Vgl. ebenfalls Nicolai, S. 20. 30 Ebd., S. 10 ff. (insbes. S. 13, S. 31). 31 Ebd., S. 12. 32 Ebd., S. 15.

§15 Die rassengesetzliche Rechtslehre

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„ V o n dieser Blutsgemeinschaft her k a m das Recht, i h r diente letzthin das Recht. N u r innerhalb der Volksgemeinschaft galt infolgedessen das Recht. U n d w e i l die Volksgemeinschaft Blutsgemeinschaft w a r 3 3 , deshalb w a r diese auch Rechtsgemeinschaft, w a r sie Rechtsgenossenschaft. Gleiches B l u t gab gleiches Recht, w e i l das Recht durch die Abstammung bedingt war. Wer außerhalb der Volksgemeinschaft war, stand auch außerhalb des Friedens, außerhalb der Rechtsordnung, w a r nicht gleichberechtigt u n d nicht ebenbürtig34." D i e f ü r diese T h e o r i e kennzeichnende A k z e n t v e r s c h i e b u n g gegenüber a n d e r e n v ö l k i s c h e n oder ins V ö l k i s c h e g e w e n d e t e n R e c h t s l e h r e n — Nicolai bezieht sich h i e r a u s d r ü c k l i c h a u f Savignys V o l k s g e i s t l e h r e ( V o l k s geist als Q u e l l e a l l e n Rechts) 3 5 — l i e g t i n eben diesem G e d a n k e n d e r B e d i n g t h e i t des Rechts d u r c h das B l u t , die Rasse, d. h. d u r c h A b s t a m m u n g u n d V e r e r b u n g . D i e V e r a b s o l u t i e r u n g des biologischen P h ä n o m e n s „ R a s s e " 3 6 r e d u z i e r t m i t h i n auch d e n g e i s t i g e n E n t w i c k l u n g s p r o z e ß d e r Menschheit auf einen simplen Kausalzusammenhang: „ W i r wissen heute, daß es verschiedene Rassen, das heißt ,erbgleiche Menschengruppen 4 gibt, die bestimmte körperliche u n d seelische Anlagen gemein haben u n d sich durch diese von anderen Menschengruppen unterscheiden. Diese körperlichen u n d seelischen Anlagen vererben sich unverändert oder jedenfalls i n unermeßlichen Zeiträumen gleichbleibend auf alle Nachkommen dieser Menschenrasse. Aus dem angeborenen Empfindungsvermögen u n d der angeborenen Schöpferkraft heraus bringt eine solche reinrassige Menschengruppe zu jeder Zeit fortdauernd dieselben Gefühle u n d Gedanken, dieselben seelischen Schwingungen u n d dieselben Wertungen hervor, u n d zwar gleichartig i n jedem Blutgenossen. Das ist der ,Volksgeist', der auch nach Savigny durch die Generationen hindurch gewisse gleichbleibende Überzeugungen schafft, die eben Quelle des Rechts sind 3 7 ." Es b e d a r f d a n e b e n k a u m n o c h d e r E r w ä h n u n g des sich b e i Nicolai f e r n e r f i n d e n d e n H i n w e i s e s , daß die Rechtslehre Savignys erst i n diesen a n g e b l i c h ü b e r e i n s t i m m e n d v o n d e r n e u e r e n N a t u r - u n d Geisteswissenschaft g e w o n n e n e n E r k e n n t n i s s e n i h r e R e c h t f e r t i g u n g e r f a h r e 3 8 , u m das ganze M a ß a n A b s u r d i t ä t d e r h i e r h e r g e s t e l l t e n V e r b i n d u n g höchst heterogener G e d a n k e n g ä n g e z u v e r d e u t l i c h e n : D e r „ V o l k s g e i s t " e r scheint f o r t a n u n t e r d e m G e s i c h t s w i n k e l der Rasse als eine i m Geistesl e b e n d e r V ö l k e r u n d i n d e r Geschichte feststellbare reale Größe — als 33

S. dazu auch schon o. bei Fußn. 20. Nicolai, S. 16 (vgl. auch ebd., S. 29). 35 Ebd., S. 22, 25 f. 36 S. dazu bereits o. § 9 I , T. ab Fußn. 2. 37 Nicolai, S.26. 38 Ebd., S. 25, 26, 27; einschränkend S. 28: Savignys Rechtslehre sei insofern unzulänglich, als sie zwar die H e r k u n f t des Rechts u n d den Zustand, i n dem sich ein Recht befinde, erkläre, aber nichts über die Idee des Rechts u n d seine Richtigkeit besage u n d nicht aufzeige, welche Grundsätze gewahrt sein müßten, damit m a n überhaupt von einem Rechtszustand sprechen könne. 34

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die „Rassenseele" 89 . Und damit gelangt Nicolai zum K e r n seiner Rechtslehre: „Die Rassenseele äußert sich i m einzelnen Menschen durch das Gewissen oder durch das Gefühl. Es handelt sich hier u m eine angeborene Eigenschaft, u m einen Trieb, einen Instinkt, der das äußere Verhalten des Menschen regelt. Dieses Gefühl w i r d durch Erbgang übertragen. Es k o m m t also aus dem Gesetz des Lebens selbst, ist biologisch, lebensgesetzlich u n d i n der Rasse begründet. Deshalb nennen w i r unsere auf die Erkenntnis der lebensgesetzlichen H e r k u n f t des Rechts aufgebaute Theorie die rassengesetzliche Rechtslehre 40."

Die Folgesätze dieser Lehre sind unschwer ableitbar: Gleiche Rasse erzeugt gleiches Empfinden und folglich auch gleichen Rechtsgeist, gleiches Recht. Reines Recht kann nur aus einem rassenreinen Volke entstehen 41 . Da es aber etwa i m rassisch gemischten deutschen V o l k an der entscheidenden Voraussetzung der Reinrassigkeit fehlt, gilt es — wie bereits eingangs angedeutet — den biologischen, lebensgesetzlichen Grundgedanken des vom ,nordischen Urvolk' überkommenen deutschen Rechts, die ethischen Grundgedanken germanisch-deutscher Weltanschauung wieder aufzurichten und zur Richtschnur der Gesetzgebung und des Rechtslebens zu machen. Wenn also die Gemeinschaft rassisch so „zerkreuzt" zu werden droht, daß sich gemeinsame Grundüberzeugungen nicht mehr bilden können, somit auch das Recht keinen Bestand mehr haben kann, dann sind eben — und zwar gerade m i t Hilfe des Rechts — Rassenkreuzung und Rassenschande zu beseitigen und künft i g unmöglich zu machen. Das durch sie bereits i n so hohem Maße gefährdete Recht hat sich demnach — wohl unter Rückbesinnung auf das vielberufene nordische Erbe — selbst aus seiner tödlichen Umklammerung zu befreien, denn es ist seine vornehmste Aufgabe, „die reine A r t zu erhalten, die Reinrassigkeit zu schützen, damit aber gleichzeitig auch das Rechtsgefühl und das Rechtsgewissen, also die Quelle allen Rechts zu erhalten". Recht ist überhaupt „ n u r das, was der Erhaltung des Lebens, der Erhaltung einer A r t dient" 4 2 . Wohin solche Rechtsauffassung beinahe zwangsläufig führen muß, w i r d auch schon i n diesen vor der NS-Machtergreifung verbreiteten Gedankengängen deutlich. So dürfe das Recht beispielsweise nicht aus falsch verstandener Liebe „ i n alle Verirrungen der Humanität verfal39 Ebd., S. 26. A n anderer Stelle heißt es, der Volksgeist erhalte aus der Rassenveranlagung seine bestimmte Ausprägung (S. 47). 40 Ebd., S. 27 (Hervorhebung i m Original); vgl. auch S. 51, 54. 41 Ebd., S. 27, 28. Der i n diesen Zusammenhang gehörende Begriff der „Artgleichheit", ein Schlüsselbegriff vitalistischer Rechtsvorstellungen i n der NS-Zeit, der der auch i n den germanischen V ö l k e r n gegebenen Rassenmischung Rechnung zu tragen suchte — s. dazu o. § 9 I I , T. ab Fußn. 46, sowie insbes. Kirschenmann, S. 47 f. —, findet bei Nicolai noch keine Verwendung. 42 Nicolai, S. 28 f., 31. Z u der sich hier andeutenden Aporie der rassengesetzlichen Rechtslehre vgl. wiederum Kirschenmann, S. 47 f.

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len", „ i n Menschheitsverbrüderung ausarten", „das Verwerfliche, das Schlechte, das Minderwertige vor dem Guten, Wertvollen und Starken bevorzugen", „die Ungesunden und körperlich, geistig und sittlich Verwahrlosten hochpäppeln" und „den Verbrecher vor der Gerechtigkeit des verdammenden Richterspruches schützen" 43 . Die Frage nach den Maßstäben für derartige Wertungen, für das richtige soziale Zusammenleben der Menschen überhaupt läßt sich — wie nach all dem nicht anders zu erwarten — ebenfalls ganz einfach beantworten: Sie liegen wiederum i n den noch nicht durch Rassenmischung angekränkelten germanischen Moralbegriffen der Wahrheit und Freiheit, Treue und Ehre 44 . I m Gegensatz zu dem diese Wertbegriffe m i t sicherem Instinkt richtig erfassenden Reinrassigen vermag der Mischling, gemeint ist natürlich i n erster Linie der Jude, solche Unterscheidungen aus sich heraus nicht eindeutig zu treffen. „Er empfindet nicht, was gut und böse ist, . . . i h m muß es erst von außen gesagt werden 4 5 ." Angesichts der sich hier deutlich abzeichnenden Konsequenzen scheinen diese Gedankengänge von vornherein eher ideologisch als rechtstheoretisch motiviert gewesen zu sein. Sie vermitteln selbst aus dem Blickwinkel der so eigenartig gebrochenen geistigen Situation der ausgehenden Weimarer Epoche kaum noch den Eindruck eines systematischen Entwurfs der Rechtserkenntnis unter den sozialen Bedingungen des modernen Industriezeitalters, sondern wirken vielmehr wie die ideelle Grundlegung und zugleich wie eine vorweggenommene Rechtfertigung der NS-Rassengesetzgebung, auf die sie gewiß nicht ohne Einfluß geblieben sein dürften. Die weitgehende Realisierung gerade der bedeutsamsten der von den Vertretern dieser biologisch orientierten rassengesetzlichen Rechtslehre erhobenen praktisch-politischen Forderungen 46 schon i n einigen frühen Gesetzen des NS-Regimes 47 , insbesondere dann aber i n den sogen. „Nürnberger Gesetzen" 48 43

Nicolai, S. 30 f. Ebd., S. 29 f., 32 f. 45 Ebd., S. 27. 46 Vgl. wiederum Nicolai, z. B. S. 43, 46, 54, sowie Gercke, S. 13 f., u n d insbes. auch Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 577 ff. S. dazu schon o. § 9 I, zw. Fußn. 12 u. 14. 47 Hier ist namentlich auf das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" v o m 14. J u l i 1933 (RGBl. I, S. 529) u n d die Einführung des sogen. „Arierparagraphen" durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" v o m 7. A p r i l 1933 (RGBl. I, S. 175) zu verweisen, die aus den Reihen dieser Autoren ausdrücklich als Durchsetzung des Rassengedankens gewürdigt wurden. Vgl. etwa Gercke, S. 15 f., oder auch Hans Frank, ebd., S. X V I I I f. („Der Staat hat also durch seine Gesetzgebung die Sicherstellung u n d Reinhaltung der Rasse zu gewährleisten u n d damit die deutsche Volksk r a f t zu heben u n d zu erhalten. Nach dieser naturgesetzlichen u n d rassekundlichen Notwendigkeit hat der nationalsozialistische Staat gehandelt."). 48 „Reichsbürgergesetz" u n d „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes u n d der deutschen Ehre" — jeweils v o m 15. Sept. 1935 (RGBl. I, S. 1146) — s. dazu auch o. § 9, bei Fußn. 11, 12 u. 46. 44

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

mag i m Rahmen der vorliegenden Untersuchung als ein vorläufiger Beweis dieser Behauptung genügen. Auch Nicolai gesteht allerdings zu, daß sich allein aus dem bloßen gesunden Empfinden heraus nicht feststellen lasse, wie die einzelnen Rechtssätze beschaffen sein müßten, u m auch i m materiellen Sinne als Recht verbindlich zu sein. Das Rechtsgewissen des Menschen gebe nur die allgemeine Richtung an, wie man sich verhalten solle, es sage zwar i n den wichtigsten Fragen, was gut und böse, recht oder unrecht sei, überlasse aber die bewußte Formulierung des einzelnen Rechtssatzes der verständigen Überlegung und der verschiedenen Ausgestaltung 49 . Immerhin sind dem (reinrassigen) Menschen m i t dem B l u t Rechtsempfinden und Rechtsgewissen, ja schlechthin „das Recht" angeboren 50 . Dem staatlichen Gesetzgeber verbleibt demnach nur noch die Aufgabe, das Recht, das vor i h m da ist, also nicht erst von i h m geschaffen wird, zu formulieren und zu präzisieren: „ . . . er verwaltet das Recht, indem er i m Gesetz ausspricht, was als Recht von i h m erkannt ist 5 1 ." I n einer solchen Rechtslehre liegt fraglos ein überzeitlicher Kern. Sie erlegt prinzipiell auch dem Diktator Bindungen auf, die i h n an einer schrankenlosen, totalen Machtausübung, ja schlechthin an willkürlichen Entscheidungen hindern. Nicolai selbst knüpft bewußt an Auffassungen an, die den Gesetzgeber durch die Rechtsidee sittlich und rechtlich gebunden sehen, und zitiert wörtlich, daß sein „unverrückbarer oberster Leitstern" die Gerechtigkeit sein müsse 52 . Der Gesetzgeber kann also nicht willkürlich befehlen, daß etwas als Recht zu empfinden sei. Er setzt vielmehr Unrecht, wenn er der lebensgesetzlich richtigen und damit allgemein gültigen Rechtsidee zuwiderhandelt und Gesetze schafft, die gegen das i m Volksbewußtsein lebende Recht verstoßen und folglich weder sittlich noch rechtlich verbindlich sein können 53 . Eine derartige Lehre aber, die jeglicher Staatsgewalt die Verwirklichung einer ewigen — hier am Lebensgesetz orientierten — Rechtsidee zur vornehmsten Aufgabe bestimmt und ihr überhaupt nur dann Legitimität zuerkennt, wenn sie dieser Idee gemäß 49

S. 31 f. Ebd., S. 13 f., 25 f., 32, 54. 51 Ebd., S. 32. 52 Ebd., S. 33 (unter Berufung auf Walther Merk). Ganz ähnlich w i e der Gesetzgeber findet nach dieser Auffassung auch der Richter Recht u n d Rechtsidee vor. Beide haben danach letztlich dieselbe Tätigkeit, nämlich das Recht zu formulieren. Dabei muß sich der Richter an der Richtschnur der lebensgesetzlichen Rechtslehre orientieren, „sich zum Leitstern den ewigen Rechtsgedanken u n d die unveränderlichen sittlichen Grundsätze nehmen, die letzth i n Quelle allen Rechtes sind" (ebd., S. 39). A l l dies g i l t schließlich auch für die V e r w a l t u n g : Sie bedürfe derselben Richtschnur, d. h. sie müsse von dem an einer „zentralen Rechtsidee" zu ermessenden Gedanken der Gerechtigkeit getragen werden (ebd., S. 40). 53 Ebd., S. 33 f. 50

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handelt 54 , muß einer autoritären Führung, die i n erster Linie daran interessiert ist, ihre Macht zu behaupten und deshalb für ihre politischen Entscheidungen freie Hand zu haben, selbst dann höchst suspekt und sogar hinderlich sein, wenn volle Ubereinstimmung zwischen den politischen Zielen der Führung und den jener zentralen Rechtsidee entsprechenden rechtlichen Geboten verlautbart wird. Das Schicksal, das Nicolais Gedanken nach der NS-Machtergreifung genommen haben, kann daher nicht überraschen: Die rassengesetzliche Rechtslehre wurde von Staat und Partei lediglich geduldet, sie wurde jedoch ebensowenig wie alle anderen rechtstheoretischen Vorstellungen der Zeit i n den Rang erhoben, den sie ihrem Selbstverständnis nach beanspruchte: die offizielle nationalsozialistische Rechtslehre zu sein 55 . Es bleibt andererseits anzumerken, daß diese Lehre — wäre sie überhaupt ein ernstzunehmender Faktor des politischen Lebens i m Dritten Reich geworden — schon aufgrund ihrer eigentümlichen Erkenntnistheorie faktisch kaum i n der Lage gewesen sein dürfte, den ausdrücklich hervorgehobenen Gedanken des Rechtsstaats56 gegen die nach eigenem Anspruch unumschränkbare Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus und seines vom Willen des Volkes i n Wirklichkeit gänzlich unabhängigen Führers durchzusetzen oder auch nur zu verteidigen. Ist nämlich das K r i t e r i u m legitimer Machtausübung, der Urgrund des Rechts schlechthin, letztlich nur aus dem Gefühl, Empfinden, aus den „seelischen Schwingungen" der sich i m Gewissen äußernden „Rassenseele"57 zu gewinnen, so stellen sich sogleich die bezeichnenden Schwierigkeiten intersubjektiver Vermittlung höchst subjektiver Erfahrungen ein 58 . Der Appell an emotionale Kräfte erübrigt das Bemühen u m objektive Begriffe. A n die Stelle überprüfbarer inhaltlicher Aussagen t r i t t die spekulative Erfassung der richtigen Entscheidung 59 , die sich damit nahezu jedem gewünschten Ergebnis öffnet. Das Recht, das hemmungsloser Gewalt Einhalt gebieten soll, vermag ihr nicht länger allgemeinverbindliche Grenzen zu setzen und verfällt vielmehr seinerseits der Manipulation durch den Machthaber. Die Doktrin von der angeblich den neuesten Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaft entsprechenden Lebensgesetzlichkeit des Rechts 60 erweist sich i n ihrem innnersten K e r n als die Mobilisierung irrationaler und sogar antirationaler Affekte, deren Freisetzung am Ende von keiner rechtlichen und moralischen Instanz mehr kontrol54 55 56 57 58 59 60

Ebd., S. 37. Vgl. hierzu — w i e schon o. bei Fußn. 4 u. 8 — Gernhuber, Nicolai, S. 55. S. o. zw. Fußn. 36 u. 41. S. dazu auch Kirschenmann, S. 46 f., 48. Vgl. Nicolai, S. 38. S. o. bei Fußn. 38.

12 Anderbrügge

S. 177 f.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

liert oder aufgefangen werden kann 6 1 . Die m i t solchen Rechtsauffassungen verbundene Preisgabe kritischer Vernunft ist keineswegs deren Zufallsprodukt. Ihre Urheber verzichteten bewußt auf die „verstandesmäßig-begriffliche" Deduktion rechtlicher Urteile aus dem geschriebenen Gesetz 82 und bekannten sich vorbehaltlos zu jener programmatisch verkündeten Irrationalität, deren absehbare Konsequenzen offenbar von ihnen nicht nur i n Kauf genommen, sondern sogar gebilligt wurden. Gegenüber dem „rationalistischer Erfassung" leichter zugänglichen r ö m i schen Recht, so heißt es bei Nicolai, „ist das deutsche Recht dem Wesen des Volkes v i e l mehr angemessen, greift mehr an das Gemüt, verschmilzt mehr m i t dem Gefühl, w i r d den einzelnen Bedürfnissen v i e l eher gerecht u n d hängt m i t der gesamten deutschen Grundanschauung v i e l mehr zusammen, kurz, bildet m i t Sittlichkeit u n d Sitte eine unzertrennliche Einheit u n d weist den sittlichen Begriffen eine Stelle zu, die nicht außerhalb des Rechtes l i e g t . . ." e s .

61 Z u m Irrationalismus i n der nationalsozialistischen Rechtslehre i m a l l gemeinen s. u. § 18. 62 So Nicolai, S. 38. 63 Ebd., S. 18 f.

Fünftes Kapitel

Besondere naturrechtliche Strömungen § 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht" „ E i n bloß oberflächlicher Blick auf das Geschehen unserer Tage f ü h r t bereits zu der Einsicht, daß das Naturrecht seine Auferstehung feiert. Nach Jahrzehnten eines öden Positivismus ist die Zeit wieder reif geworden f ü r die Größe u n d Tiefe naturrechtlichen Denkens. Die Sehnsucht nach zeitlos g ü l t i gen Werten lenkt auch die juristische Betrachtung über das positive Hecht hinaus zur Idee des Rechten u n d Guten. Nicht das vergängliche Gesetz allein w i l l als Recht begriffen werden, sondern daneben soll Recht vor allem auch das sein, was die Idee des Rechts den Menschen unmittelbar, d. h. ohne das M i t t e l der Satzung, als gerecht u n d b i l l i g lehrt. Dies alles aber f ü h r t zum Naturrecht 1 ."

Es ist i m Verlauf der vorangegangenen Darstellung bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, daß tatsächlich die maßgeblichen Lehren vom „völkischen Recht" sämtlich auch naturrechtliche Gedankengänge i n sich aufgenommen haben 2 und daß sich, u m insofern m i t Gernhuber zu sprechen, die dem Zeitgeist gemäße („herrschende") nationalsozialistische Rechtstheorie zumeist selbst als neue Gestalt naturrechtlichen Denkens verstanden hat 3 . Wenn nun i m folgenden naturrechtliche Lehren gesondert dargestellt werden, so kann dies nach dem Aufbau der vorliegenden Untersuchung nicht bedeuten, daß hier eine weitere charakteristische Form nationalsozialistischen Rechtsdenkens typisierend auf einen der zentralen Leitgedanken der NS-Weltanschauung zurückgeführt wird. Vielmehr sollen — jenseits des allen bisher beschriebenen Lehren eigenen Grundbestands naturrechtlicher Argumentationsweisen — besondere, i n sich weitgehend geschlossene spezifisch naturrechtliche Strömungen i n den Vordergrund gerückt werden, bei denen zwar — wie sich zeigen w i r d — auch wiederum Phänomene wie namentlich Volk und Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielen, ohne indes das eigentlich Typische dieser Denkweisen, das vor allem i m Modalen liegt, auszumachen. 1

Hans-Helmut Dietze, Naturrecht i n der Gegenwart, S. 110. Vgl. u. a. o. § 11, T. ab Fußn. 8; § 12, T. ab Fußn. 5 u. wieder ab Fußn. 35; § 14, hinter Fußn. 7, bei Fußn. 6 3 - 6 5 , 8 4 - 8 7 sowie 119 u. 120; § 15, T. ab Fußn. 12. 8 S. dazu vor allem (allerdings teilweise einschränkend) o. § 12, T. ab Fußn. 8. 2

12•

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Freilich w i r d auch naturrechtliches Denken nicht abschließend bestimmt durch die A r t und Weise, i n der es seine Erkenntnisse gewinnt. Nicht zuletzt der materiale Wertgehalt, zu dem die Naturrechtler jeweils gelangt sind, hat zur Unterscheidung der verschiedenen Naturrechtslehren gedient. Gemeinsam ist ihnen allen die Berufung auf ein genuin i n der Wesensnatur des Menschen begründetes, von menschlicher Satzung unabhängiges Recht und damit auf einen Kernbereich apriorischer, unabänderlich gültiger, wohl i m Gewissen oder durch Vernunft erkennbarer, aber nicht mehr hinterfragbarer Normen. Höchst umstritten hingegen blieben durch die ganze Naturrechtsgeschichte hindurch Inhalt, Umfang und Rangfolge dieser als unwandelbar vorgegebenen Grundsätze. So verdeutlichen neben dem spezifischen erkenntnistheoretischen Ansatz häufig erst die konkreten Ableitungen, die aus ihnen gezogen und zuweilen auch zu einem differenzierten Normensystem entwickelt und verfestigt wurden, den besonderen Charakter der jeweiligen Naturrechtslehre. I n der NS-Zeit mußte — zunächst einmal abgesehen von der Rechtsmetaphysik der Neuhegelianer, die unmittelbar bei den gerade auch von offizieller Seite m i t hohem nationalen Pathos als Vorbild hingestellten Größen des deutschen Idealismus anknüpften und insofern gewiß genehm waren 4 — jeder Versuch willkommen erscheinen, „aus der ,Natur 4 des deutschen Volkes ein spezifisch deutsches Naturrecht zu entfalten" 5 , das allein schon kraft seiner Herkunft aus dem Bereich der Rechtsphilosophie dem völkischen Recht jene „weltanschauliche Vertiefung" zu verleihen versprach, die bereits von Carl Schmitt beschworen worden war®. Das wohl bemerkenswerteste und i n seiner A r t für die Rechtslehre i n der NS-Zeit einmalige Beispiel eines derartigen Versuchs hat Hans-Helmut Dietze geliefert. I n seinem Hauptwerk „Naturrecht der Gegenwart" 7 stößt er nach einer verhältnismäßig breit angelegten, wenngleich recht einseitig und willkürlich zugeschnittenen Darstellung der historischen und wissenschaftstheoretischen Entwicklung des abendländischen Naturrechts 8 zu der diesem Kapitel wörtlich vorangestellten Ausgangsthese 4

Gernhuber weist allerdings darauf h i n u n d belegt auch schlüssig, daß der Neuhegelianismus insgesamt i n der NS-Zeit letztlich k a u m Widerhall fand, lediglich geduldet w a r u n d teilweise sogar offen bekämpft wurde, so daß er sich gezwungen sah, „Hegel i n Stücken preiszugeben", u n d dennoch keinen Erfolg errang: Das völkische Recht, S. 183 ff. S. dazu auch u. § 17, T. ab Fußn. 90. 5 Vgl. wiederum Gernhuber, S. 194. ® D J Z 1936, Sp. 21. Der Hinweis auf diese Bemerkung findet sich ebenfalls bei Gernhuber, S. 193. 7 Bonn 1936. 8 Dabei unterscheidet er — i m Grunde zu Recht — terminologisch zwischen dem Naturrecht als Sache u n d dem Naturrecht als Lehre (S. 11 ff.) u n d i m übrigen materiell i n deutlicher Anlehnung an Tönnies zwischen einem N a t u r recht der Gemeinschaft u n d einem Naturrecht der Gesellschaft (S. 3, 49 ff.).

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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einer tiefgreifenden Neubelebung naturrechtlichen Denkens vor, das er i n der „,Gestalt' des Naturrechts der Gemeinschaft" 9 und damit eines wahrhaft „deutschen Naturrechts" auf nationalsozialistischer Grundlage oder auch — unmißverständlich — eines „nationalsozialistischen Naturrechts" 10 zu neuer Blüte emporwachsen sieht. Dietze weiß eine stattliche Reihe von (allerdings i n jener Zeit nicht besonders namhaften) Autoren zu zitieren, die diese These durchaus zu bestätigen scheinen und sein eigenes Vorhaben, nunmehr aus (im Dritten Reich) vorgefundenen natürlichen Lebensformen einen Aufriß des neuen Naturrechts zu entwickeln, geradezu als überfällig erscheinen lassen: I n rechter Erkenntnis des Wesens der Gegenwart sei festgestellt worden: „Der Nationalsozialist ist Naturrechtler 1 1 ." Gerade i m Begreifen des völkischen Rechtslebens werde der Nationalsozialismus vom Naturrecht beherrscht. So habe man zu Recht zu dem Ergebnis gelangen können, daß naturrechtliches Denken zu den Grundlagen der nationalsozialistischen rechtlichen Weltanschauung gehöre 12 . Bereits i n den nächstfolgenden Belegen w i r d indessen deutlich, was auch — wie noch aufzuzeigen ist 1 3 — bei Dietze selbst immer wieder durchscheint, daß es hier nämlich längst nicht mehr u m ein zeitlos und raumlos als Rechtsidee, als die Idee der Gerechtigkeit, über allem zeitlichen und völkischen Recht schwebendes absolutes Naturrecht ging, sondern nur noch u m ein relatives, i n dem „die ewige Rechtsidee eingeht i n die Besonderung der Volksart und der zeitlichen Kulturstufe des Volkes und nun, zwischen der ewigen Rechtsidee und der Gestalt des positiven Rechts i n der Mitte schwebend, als Ideal dem Rechtstrieb dieses Volkes zu dieser Zeit Ziel und Richtung weist" 1 4 . A u f die konkrete geistige Situation i m Dritten Reich bezogen, mußte dies zwangsläufig heißen: „Die Rechtsordnung ist die natürliche Ordnung einer durch B l u t und Boden verbundenen Gemeinschaft, von Artgleichen, d.h. des deutschen Volkes. Schöpfer wie Adressat dieses Naturrechts ist also ausschließlich das deutsche Volk; seine sittlichen Grundideen sind die Grundlagen dieses Rechts . . . Der Nationalsozialist ist Naturrechtler, w e i l das deutsche Volk eine natürliche lebensgesetzlich 9 Den Begriff der „Gestalt" als Synthese von dynamischer K r a f t u n d statischer Beharrlichkeit, Bewegung u n d Ordnung, Zielstrebigkeit u n d Dauerhaftigkeit, Idee u n d Existenz übernimmt Dietze (S. 109) ausdrücklich von E.R. Huber, u.a. i n : Die Gestalt des deutschen Sozialismus (1934). S. hierzu des näheren o. § 14 I I I , bei Fußn. 166 - 168. 10 S. 105, 107 f., 110 ff. 11 Kraus, Das zwischenstaatliche W e l t b i l d des Nationalsozialismus: J W 1933, S. 2420; Richter, Völkerrecht: DR 1934, S. 206, jeweils zitiert bei Dietze, S. 110 f. 12 So wiederum Kraus. 13 S. dazu u. T. ab Fußn. 49. 14 Eberhard, Modernes Naturrecht (1934), S. 69 f., zitiert nach Dietze, S. 111 (Hervorhebung ebd.).

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

verbundene Gemeinschaft ist 1 5 ." Etwas allgemeiner lautete es dann so: „Das Naturrecht der Gegenwart ist . . . ein Recht der Völker und Rassen 16 ." Gernhuber hat hierzu m i t treffender Ironie angemerkt, es sei zwar nicht möglich gewesen, rassisch-völkisch zu denken und zugleich ein Naturrecht m i t absolutem Geltungsanspruch aufzubauen, doch habe „relativierendes Denken noch niemals den Anspruch ausgeschlossen, i n der Tradition des Naturrechtes (hier verstanden als Inbegriff naturrechtlichen Bemühens überhaupt) zu stehen" 17 . A n kritischen Stimmen hat es allerdings auch unter Dietzes Zeitgenossen nicht gefehlt. Dietze selbst beginnt seine Abhandlung sogar m i t der Feststellung, naturrechtliches Denken werde vielfach als m i t dem nationalsozialistischen Rechtsdenken unvereinbar, ja, als i h m entgegengesetzt angesehen18. Er läßt auch die — trotz der häufig nachweisbaren Konkordanz der vom unterschiedlichen rechtsphilosophischen Ausgangspunkt her gewonnenen Ergebnisse — ζ. T. sehr entschiedenen Abgrenzungsanstrengungen namentlich der Neuhegelianer nicht unerwähnt 1 9 . Unbeeinflußt von den von Dietze zitierten Naturrechtsgegnern haben aber auch solche Autoren, die i m Grunde die Auffassung teilten, daß die Rechtsphilosophie i n eine neue naturrechtliche Epoche trete, nachdem i m liberalen Rechtsstaat zuletzt vom Naturrecht i n seiner ursprünglichen apriorischen Bedeutung als materiell-werthaftes Gefüge oberster ideeller Normen nichts weiter Übriggeblieben sei als eine mit beliebigen Inhalten zu füllende, vollkommen von den jeweiligen verhältnislos gleichberechtigten Machtlagen abhängige Form 2 0 , vor einem unmittelbaren Appell an ein jetzt als „Volksrecht" zu qualifizierendes Naturrecht gewarnt: Eine solche Appellation sei niemals glücklich und „heute noch gefährlicher als zu naturrechtlichen Zeiten, als sie schon i n Mißkredit stand, weil der rechtliche m i t dem wirtschaftlichen und sozialen Verkehr seitdem außerordentlich zugenommen hat, die Rechtssicherheit — eine der rationalen Richtschnuren jedes Rechts — also noch gefährlicher bedroht ist" 2 1 . Die auch hier zugrundeliegende, bewußt an die Tradition der historischen Rechtsschule anknüpfende Vorstellung eines aus der „Nat u r " , d. h. der Eigenart des Volkes (der Völker) als natürlicher Gegebenund historischer Gewordenheit entwickelten (relativen) Naturrechts 22 15

Richter, vgl. wiederum Dietze, S. 110 f. (Hervorhebungen ebd.). Glungler, Recht u n d Staat als A r b e i t (1935), S. 24; vgl. Dietze, S. 111. 17 S. 194. 18 S.lf. 19 Ebd., S. 7 f., 9 ff. 20 So Hans J. Wolff , Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, S. 8. 21 Ebd., S. 10 f. 22 Ebd., S. 9. Ä h n l i c h sieht auch Moor (Das Problem des Naturrechts: ARSP Bd. X X V I I I [1935], S. 330) die Grundlage der jungen nationalsozialistischen 16

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schließt freilich den Gedanken ein, daß dieses Volksrecht dialektisch auch seine anderen Vorstufen i n sich aufnehmen, also insbesondere die individuelle Vernunft zu ihrem ewigen Recht kommen lassen müsse, zumal sich auf die Dauer nur das Rationale durchzusetzen vermöge 23 . Eine derartige Rechtslehre mußte zwangsläufig die (rechts)politische Wirklichkeit des Dritten Reiches zumindest i n dem Maße verfehlen, i n dem diese nicht von kritischer Rationalität gegenüber den herrschenden Mächten, sondern — beinahe i m Gegenteil — von unverhohlenem Irrationalismus bestimmt war 2 4 . Dietzes eigener Standort bei der Suche nach einem „deutschen Naturrecht" läßt sich vielleicht am ehesten als i n der Mitte zwischen einem vom Gedanken der Volksgemeinschaft durchdrungenen spezifisch völkischen Rechtsdenken und neuhegelianischer Dialektik liegend und aus beiden Richtungen nachhaltig beeinflußt beschreiben. Die Eigenständigkeit seiner Position beruht wesentlich auf eben jenem betont naturrechtlichen Ansatz: Alles ursprüngliche, somit das wahre und wirkliche Leben beruhe auf den von der Natur gesetzten Bedingungen. Die zivilisatorisch-künstliche Welt des Gedachten habe der Erkenntnis des „natürlich gegebenen Wesens der Dinge" zu weichen. Das Recht einer dieser Erkenntnis entsprechenden Ordnung aber könne, wie die Ordnung und die Dinge selbst, „ n u r ein natürliches . . . , kurz: nur ein Natur-Recht" sein. Das angestrebte neue deutsche Recht müsse also so gestaltet werden, wie es die natürlichen Anschauungen des Volkes, die Natur der Dinge und die naturgegebenen Lebensmöglichkeiten verlangten 25 . Rechtsphilosophie, deren „weitere Entwicklung noch abzuwarten" sei, i n einer m i t der ,Volksgeist-Lehre' der historischen Rechtsschule verknüpften n a t u r rechtlichen Auffassung (ebenfalls zitiert bei Dietze, S. 112). Dietze selbst schließt sich indes denjenigen an, die — w i e Nicolai, s. o. § 15, Fußn. 38 — die zur historischen Rechtsschule u n d zur Rechtslehre Savignys gezogenen Verbindungen f ü r n u r unzureichend aussagekräftig hielten, da dieser aufgrund ihrer angeblichen „rechtspolitischen Passivität" (anders als der N a t u r rechtsphilosophie) die K r a f t zur Bewertung des positiven u n d zur Zeichnung des idealen Rechts gefehlt habe: S. 5 u. 102 f. m. w . N. 28 So wiederum Wolff, S. 9. 24 S. dazu des näheren u. § 18 sowie als naheliegendstes Beispiel das ganz bewußte Bekenntnis zum Irrationalismus bei Dietze, S. 271. 25 S. 2. Wie eng ein solches Postulat m i t dem völkischen Rechtsdenken i. e. S. verknüpft ist, w i r d deutlich, w e n n Dietze sich an dieser Stelle auf Hans Frank beruft, der ausgehend von der Forderung nach einer „organischen V e r bindung des Naturgesetzlichen m i t dem Formalrechtlichen" u n d i n u n m i t t e l barem Zusammenhang m i t der von i h m geprägten Formel „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was i h m schadet, ist Unrecht." (s. dazu o. § 8 I, bei Fußn. 35, u. § 141 a, bei u. ab Fußn. 38) feststellt, eine Rechtsordnung könne n u r dann f ü r das Volksleben v o n Nutzen sein, w e n n die naturgesetzlichen Möglichkeiten u n d Voraussetzungen einer Volksgemeinschaft i n i h r ihre Form bekommen hätten, u n d schließlich zu der v o n Dietze zitierten These gelangt, je näher eine Rechtsordnung diesen naturgesetzlichen Gegebenheiten eines Volkes komme, desto „besser" sei sie: Nationalsozialistisches Handbuch

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Es geht Dietze hier nach eigenen Aussagen — ähnlich wie schon vor i h m Nicolai 26 — um nichts Geringeres als die philosophisch-metaphysische Grundlegung der neuen, nationalsozialistischen Rechtsordnung. Er fühlt sich insofern — wie schon erwähnt — keineswegs als Einzelgänger: Die i m einzelnen durchaus verschiedenen Strömungen innerhalb der deutschen Rechtsphilosophie seiner Zeit sieht er sämtlich geeint i n dem gemeinsamen „Kampf", „über das positive Recht hinaus das richtige Recht i m Sinne seiner Ubereinstimmung m i t der Idee der Gerechtigkeit zu erkennen und zu gestalten". Dieses Bemühen wiederum entspricht nach seiner Auffassung einer „aus der ewigen Unruhe des deutschen Menschen geborenen Sehnsucht", seinem „beständig neuen Streben, nach dem letzten Sinn alles Sichtbaren zu forschen" 27 . Die erklärte Hinwendung des Nationalsozialismus zu Volk und Volksgemeinschaft als „Mittelpunkt des Lebens und Denkens" 28 , die für Dietze auch die entscheidende Rückkehr der zeitgenössischen deutschen Rechtsphilosophie zum Naturrecht und zugleich ihre Kulmination i n i h m zu bezeichnen scheint, nimmt indes die A n t w o r t auf die Sinnfrage schon vorweg: Quelle des Rechts — und gemeint ist dabei immer ein Zweifaches: seiner Erkenntnis wie seiner Gestaltung i n der konkreten völkischen Rechtsordnung — kann letztlich nur das „Wesen der Gemeinschaft" sein 29 , die ihrerseits das „Wesen der deutschen Gegenwart" ausmacht 30 . Das zeitgemäße „nationalsozialistische Naturrecht" ist dementsprechend das „Naturrecht der Gemeinschaft" (im Gegensatz zu einem i n der Zeit der Aufklärung begründeten, für das überwundene liberale Gesellschaftssystem konstitutiven „Naturrecht der Gesellschaft", das den isolierten Einzelnen zum Ausgangspunkt genommen habe). Als die Natur des Menschen w i r d sein Leben i n der Gemeinschaft angesehen. I n ihr wirke „unsichtbar und doch jedem spürbar" ein „natürliches Recht". Auch ohne geschriebene Gesetze sei eine echte Gemeinschaft „ i n Verfassung". Trotz aller gesellschaftlichen Zersetzung gebe es noch solche vorbildlichen Gemeinschafts Verhältnisse. Neue Formen des Gemeinschaftslebens, wie die i n einem SA-Sturm, einem Arbeitsdienstlager, einem Erbhof oder einer Kameradschaft seien hinzugekommen. Aus dem Erlebnis dieser natürlichen Gemeinschaftsordnungen gelte es nun das neue Naturrecht i n seiner Gesamtheit zu entwickeln. Die natürlichen f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. X I V f. Z u Dietzes Argumentation aus der „ N a t u r der Dinge" oder der „Sache" (vgl. u. bei Fußn. 40, 57, 70/71, 87 - 88 a) s. i. ü. Dreier, Z u m Begriff der „ N a t u r der Sache", S. 61 f. A n m . 353. 26 S. o. § 15, bei Fußn. 6. 27 S.3. 28 Ebd., S.5. 29 Ebd., S. 184 f., 212 f., 218. 30 Ebd., S. 100 f.

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Rechtsregeln müßten nur von dort her allmählich „ins Große übertragen" werden 31 . Dietze läßt — gestützt auf die Erfahrung der „ersten drei Jahre nationalsozialistischer Arbeit" — keinen Zweifel daran, daß dieses epochale Vorhaben bei Anspannung aller Kräfte gelingen werde: Das deutsche Volk sei auf dem besten Wege, wieder jung zu werden und zu kraftvoller Natürlichkeit zurückzukehren, und so sei „die Zukunft der Gemeinschaft völlig sicher" 32 . Als Garant für den Sieg i m „Kampf u m das Reich der Gemeinschaft" gegen alle „zersetzenden Kräfte" des schon „fast vollendeten . . . Vergesellschaftungsprozesses" und für einen radikalen Bruch m i t dem Bisherigen, eine ,totale Zeitwende', erscheint Dietze der Führer m i t seinem ungebrochenen Willen zur Gemeinschaft und dem „fanatischen Glauben an die Macht des Willens", gestützt auf seine Bewegung, die ,Inkarnation des politischen Willens', und die „willensstarke Gefolgschaft" des Volkes, dessen Seele er sich gewonnen habe 33 . Der von jedem einzelnen wie von der „verantwortlichen Staatsführung" gemeinsam auszutragende „Kampf . . . u m die deutsche Volksgemeinschaft" — so heißt es zwar — gehe noch weiter 3 4 , aber er ist aus dieser Sicht — so muß man folgern — nicht mehr zu verlieren. Das Recht hat i n diesem „Kampf u m die neue totale Wirklichkeit dieser Gemeinschaft" seine bestimmte Aufgabe „innerhalb des Ganzen der Wirklichkeit" zu erfüllen. Ist das „Wesen der deutschen Gegenwart" nicht anders als aus dem „Bruch m i t dem Bisherigen" und der „Gestrecktheit auf die Idee der Gemeinschaft" zu erfassen, so gilt dasselbe auch für das Recht: „ H i e r heißt es ebenfalls, die letzten Fäden zu zerschneiden, die die Gegenw a r t noch m i t den innerlich liquidierten Zuständen der Gesellschaft v e r binden, u n d zugleich, gleichsam aus dem Nichts heraus das Neue des Rechts zu gestalten, oder doch, w e n n schon alte Begriffe u n d Einrichtungen übernommen werden, darauf zu achten, daß sich k e i n sachwidriger I n h a l t m i t einschleicht 35 . . . . Wie i m Einzelnen indes das konkrete Recht der deutschen Gemeinschaft aussehen w i r d , ist bei weitem noch nicht ausgemacht 36 ."

Der Rechtsphilosophie insonderheit w i r d i n diesem Zusammenhang die Aufgabe zugewiesen, „die Grundlinien des neuen Rechts, seine Idee und wertmäßige Vorbestimmtheit, seine Tendenz und Zielstrebigkeit darzulegen" und über die Gegenüberstellung des alten und neuen 31

Ebd., S. 104 f. Ebd., S. 100. 33 Ebd., S. 98 f. unter Heranziehung von Wendungen Wolgasts u n d Dietrichs (vgl. die a. a. O. zu findenden Nachweise). 34 Ebd., S. 99. 35 Ebd., S. 101, unter Berufung auf entsprechende Untersuchungen von Höhn, Krüger, Lange, Larenz u. a. 38 Ebd. Vgl. hierzu auch Nicolai, Die rassengesetzliche Rechtslehre, S. 31 f. (s. bereits o. § 15, Abs. hinter Fußn. 48). 32

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Rechtsdenkens hinaus „eine Aussage darüber zu machen, wie das zukünftige Recht aussehen soll" 3 7 . Dieser Anspruch scheint weite Perspektiven zu eröffnen. Doch das fundamentale Dilemma aller Naturrechtsphilosophie w i r d sogleich bei der Darstellung ihres erkenntnistheoretischen Ansatzes deutlich: Das ideale Recht, so heißt es da, soll philosophisch gewonnen werden. Seiner Erkenntnis verbleibt jedoch nur ein verhältnismäßig schmaler Spielraum, wenn deren Prinzip von vornherein einseitig fixiert ist. Nicht mehr hinterfragbarer Bezugspunkt ist eben die Gemeinschaft, das ideale Recht also „das der Idee der Gemeinschaft völlig gerechte Recht" oder „das die Natur der Gemeinschaft i n voller Reinheit zur Geltung bringende Recht" 38 . Jene „wertmäßige Vorbestimmtheit" kann also weder Ergebnis noch auch nur Gegenstand des philosophischen Erkenntnisprozesses sein. Sie ist vielmehr seine Voraussetzung und braucht daher von solcher A r t Rechtsphilosophie i n des Wortes einfachster Bedeutung auch tatsächlich nur „dargelegt" (also nicht etwa erst hermeneutisch erfaßt) zu werden. Folgerichtig w i r k t die Beschreibung von Funktion und Methode der Naturrechtsphilosophie i m einzelnen weniger wie die der Zielsetzung eines exakten wissenschaftlichen Prozesses als vielmehr wie die Ankündigung eines ideologisch determinierten Programms. „Die Aufgabe der Rechtsphilosophie besteht also darin, zunächst festzustellen, welche konkreten Rechtssätze sich aus der Idee der Gemeinschaft ableiten lassen u n d w i e sich ihre Geltung erweist, des weiteren, inwiefern das Wesen der Gemeinschaft der Gesetzgebung bestimmte Grenzen setzt, bei deren Überschreitung alles Recht zum Unrecht w i r d , ferner, ob das bestehende positive Recht i n Wahrheit dem W i l l e n zur Gemeinschaft dienlich oder abträglich ist, endlich, w i e sich die Anschauungen der Gemeinschaft i m Gegensatz zu denen der Gesellschaft auf die Entwicklung des Rechts ausw i r k e n . . . 3 0 ."

Daß allerdings eine solche Naturrechtslehre, i n der das „Verlangen der Zeit" nach einer überzeitlich „gültigen Rechtsidee" als „Vorbild für jede Gesetzgebung" seine Erfüllung finden sollte, also ein als normierendes Richtmaß des positiven Rechts fungierendes Naturrecht gerade nicht den Dienst verrichtete, den die diese Zeit bestimmende politische Führung von einer zeitgerechten Rechtsphilosophie verlangte, kann angesichts ihres machthemmenden, deutlich gegen totalitäre W i l l k ü r gerichteten Grundzugs kaum zweifelhaft sein: Z u m einen sei Kernstück jeder naturrechtlichen Lehre die Aufstellung einer Sozialordnung, „die als natürlich, weil der Natur der Sache gemäß, wirklich gelte und ent37

S. wiederum Dietze, S. 101. Vgl. auch S. 318: „ A l s Naturrechtsphilosophie w i r d die Rechtsphilosophie zur echten Philosophie, indem sie als Rechtswertbetrachtung Aussagen darüber macht, w i e das Recht der Gemeinschaft aussehen soll." 38 Ebd., S. 102. 39 Ebd.

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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gegenstehendes Recht zu brechen vermöge", und andererseits hebe die Verbindung mit der Idee des Rechts das Naturrecht über das positive Recht hinaus 40 . Solch explizit idealistisches Rechtsdenken hat mit den Rechtsvorstellungen der maßgeblichen Köpfe aus der nationalsozialistischen Führungsspitze 41 selbst dann nichts gemein, wenn es sich i m übrigen deren Formeln und Begriffsschablonen bedient und i n vollkommener Ergebenheit gegenüber dem Führer alle Bemühungen daran setzt, „dem Anteil der Führung, der be wußten Gestaltung i n der Rechtsverwirklichung gerecht zu werden" 4 2 . A n derartigen Bemühungen hat es Dietze i n der Tat nicht fehlen lassen. Dabei mußte er freilich die zuvor beschriebene richtende, regulative Funktion des Naturrechts weitgehend preisgeben und einseitig dessen das positive Recht legitimierende Funktion herausstellen 43 . Wohl i n dem Bestreben, ausdrücklicher öffentlicher Verdammung der von i h m ans Licht gehobenen Naturrechtsidee vorzubeugen, sobald es darum gehen würde, praktische Probleme zu lösen, also — u m i m Vokabular zu bleiben — gestaltend Recht zu verwirklichen, entfaltete er ein breites Band z.T. höchst detaillierter Ableitungen, von denen er nicht zu Unrecht annehmen durfte, daß sie für sich gesehen „dem Anteil der Führung gerecht" würden, weil sie i n deren machtpolitisches Konzept paßten, sofern sie diesem nicht schon unmittelbar entstammten. Es sollte i n diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, i n welcher historisch ausgeprägten naturrechtlichen Strömung der Autor die für das kommende deutsche Naturrecht beachtenswertesten Vorbilder für die Gestaltung der neuen Gemeinschaftsverhältnisse vorfand. Bei dem seinen näheren Konkretisierungen m i t Bedacht vorangestellten Vergleich von katholisch-thomistischem und dem jungen nationalsozialistischen Naturrecht kam Dietze zu dem für i h n bezeichnenden Schluß, daß trotz gewichtiger Differenzen zwischen ihnen entscheidende Gemeinsamkeiten bestünden: „Ebenso wie das katholische (das „ v o n jeher beredtes Zeugnis v o m Geist der Gemeinschaft" ablegte) geht auch das heutige deutsche Naturrecht von der Gemeinschaft aus. D a r i n unterscheiden sich das alte katholische u n d das junge nationalsozialistische Naturrecht gemeinsam v o m Naturrecht der A u f klärung. . . . Katholisches u n d nationalsozialistisches Naturrecht . . . sehen als 40 Ebd., S. 102 f. Vgl. auch die Parallelen i n der Rechtslehre Nicolais: o. § 15, zw. Fußn. 51 u. 54. 41 S. dazu o. § 10. 42 So wiederum Dietze, S. 102, i m Anschluß an Larenz u n d Höhn. Auch f ü r Dietzes offensichtliches Werben u m Führergunst u n d parteiamtliche Anerkennung (so ist beispielsweise sein Buch „der Jugend des Führers" gewidmet) gelten die o. § 15, hinter Fußn. 53, zur offiziellen Wertschätzung der Rechtslehre Nicolais getroffenen Feststellungen. 43 Z u r Unterscheidung dieser beiden Funktionen vgl. nur E r i k Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 197, oder Gernhuber, S. 195.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Hecht"

die Natur des Menschen sein Leben i n der Gemeinschaft an, stellen also beide ein Naturrecht nicht der Gesellschaft, sondern der Gemeinschaft dar 4 4 ."

Zwingende Parallelen sieht er darüber hinaus i n den jeweils erklärtermaßen auf die Gemeinschaft ausgerichteten konkreten Organisationsund Verfassungsformen von katholischer Kirche und Drittem Reich: Es gebe keine Gewaltenteilung, vielmehr dort den päpstlichen primatus iurisdictionis als höchste Kirchengewalt und hier die volle und ungeteilte Führergewalt als die die klassischen Staatsgewalten verbindende politische Gesamtgewalt 45 . Kirche wie Führerreich verfügten m i t dem Klerus auf der einen und der NSDAP als „politischem Klerus" auf der anderen Seite über einen Orden als inneren Kern, aus dem sich alles Leben erneuern solle. Beiden sei der Gedanke einer hierarchischen Ordnung eigen, beide seien vom Prinzip der Totalität durchdrungen, gerichtet einmal auf die „Alldurchdringung der Welt" und zum anderen auf die Manifestation des politischen Willens i m totalen Staat 46 . Beide schließlich gingen — und dies sogar i n erster Linie — vom Gedanken der Unabänderlichkeit des Dogmas aus. Was i n der katholischen Kirche die Bindung an das geoffenbarte Dogma sei, sei i m nationalsozialistischen Deutschland „die Verpflichtung vor den unabänderlichen 25 Punkten des Programms" 47 . Diese grandiose Fehleinschätzung der tatsächlichen Bedeutung des bei Erscheinen von Dietzes „Naturrecht" i m Jahre 1936 schon beinahe wie ein Fossil wirkenden Parteiprogramms von 192048 ist charakteristisch für die schwer begreifliche rechtspolitische Arglosigkeit des Autors. Denn bei aller Zurückhaltung, die sonst gegenüber dem politischen Urteil der Zeitgenossen jener Phase der ersten Konsolidierung der NS-Herrschaft angebracht erscheint, bleibt festzuhalten, daß die Rolle, die ein Naturrecht mit i m Grunde unwandelbaren Rechtsgrundsätzen i n Wirklichkeit für die primär vom erwünschten Ergebnis her bestimmte Rechtspraxis der NS-Zeit einnehmen konnte, von einem aufmerksamen Beobachter auch damals kaum zu überschätzen war. Gerade das Schicksal völliger Bedeutungslosigkeit, das einige jener 25 Punkte sogar schon i n der „Kampfzeit" der NSDAP vor 1933 erfahren hatten, hätte i h m andeuten können, daß für die Tagespolitik wie für die vom politischen Kräftespiel beeinflußbaren Bereiche der Rechtsgestaltung — und just auf sie zielten doch alle dem Nationalsozialismus dienstbaren rechtstheoretischen Be44

S. 105. Ebd., unter Berufung auf E. R. Hubers Lehre von der Einheit der Staatsgewalt. 46 S. 106. Z u der These, daß auch die Lehre v o m totalen Staat letztlich nichts weiter als eine Variante des Gedankens v o n der unumschränkten Führergewalt war, s. o. § 13. 47 S. wiederum S. 106. 48 S. dazuo. §61. 45

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mühungen ab — i m Zweifelsfall nicht die Verwirklichung irgendeines angeblich unabänderlichen Grundsatzes, sondern allein die Durchsetzung und Behauptung machtorientierter Führungsinteressen zählte. Also mußten die Grundsätze entsprechend relativiert werden. Das war die eigentlich entscheidende Aufgabe, vor die ein Naturrechtler wie Dietze i m Dritten Reich gestellt war — gewissermaßen die Kunst, das Unmögliche, nämlich die völlige Bindungslosigkeit (der Führung) i n einer (sonst) totalen Bindung, zu ermöglichen. Wie kaum anders zu erwarten, war das, was dabei herauskam, — ähnlich wie bei allen anderen betont nationalsozialistischen Rechtslehren — trotz der aufwendigen und bei aller Einseitigkeit der Auswahl gewiß nicht anspruchslosen Einführung i n die Problematik der Naturrechtsfrage weder originell noch auch nur neu. Die Richtung war bereits angedeutet 49 . Das Ergebnis konnte nur eine weitere Variante des an sich vergeblichen Versuchs der Auflösung des Widerspruchs zwischen völkischer Idee und der Praxis der Führerherrschaft sein — oder es mußte den Geist der Epoche verfehlen. Dietzes relativierende Konzeption w i r d schon erkennbar bei der Weiterführung des Vergleichs zwischen katholischem und nationalsozialistischem Naturrecht: I m Gegensatz zu der nach katholisch-christlicher Auffassung eher dem Jenseits zugewendeten Gemeinschaft stelle sich nach nationalsozialistischer A n schauung die Gemeinschaft „ursprünglich als feste Blutsgebundenheit" dar, die zwar i n die mythische Folge der Geschlechter zurückweise, zugleich aber „ i m Blute" eine sehr reale, diesseitsbezogene Grundlage besitze. Während das katholische Naturrecht also die Grenzen der Rassen und Völker bewußt überspringe und unterschiedslos für alle Menschen gelten wolle, sei das nationalsozialistische nur i n der Blutsgemeinschaft arischer Menschen lebendig und verpflichte daher auch nur diese. Folgerichtig könne es — gegründet auf die nur den Ariern gemeinsamen Eigenschaften — klarer, einfacher und bestimmter sein als ein künstlich über die elementare Verschiedenheit der Rassen hinweg gebautes Naturrecht, das seinen Anspruch auf universale Geltung auf Kosten der Eindeutigkeit durchsetzen müsse 50 . Demgegenüber wolle weder der Nationalsozialismus noch sein Naturrecht universal sein 51 . Es habe seinen 49

S. ο. T. ab Fußn. 13. S. 107. 51 Ebd. Dieser Auffassung entsprechen tatsächlich Hitlers gelegentliche, w e n n auch nie öffentlich vorgetragene Stellungnahmen gegen (christlichkatholischen) Universalismus (vgl. etwa Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 37 ff., 48, 71 sowie — zur T a k t i k Hitlers gegenüber der katholischen Kirche — S. 217 f., u n d dann wiederum M e i n Kampf, S. 481, 512 f.) u n d seine i m m e r wiederkehrenden, i n ihrer Aggressivität ständig gesteigerten Kampfansagen gegen jeglichen (jüdisch-marxistischen) Internationalismus. Dies hinderte i h n indessen keineswegs, seinerseits die Weltherrschaft f ü r die arische Rasse unter der Führung des deutschen Volkes — also letztlich seiner Führung — i n Anspruch zu nehmen. S. dazu o. § 9 I , hinter Fußn. 22. 50

2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

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Platz vielmehr „zwischen einem unklaren Universalismus und einem unwirklichen Individualismus". Konkret heißt das: „Anstelle vieler u n d dadurch mehrdeutiger Sätze enthält es wenige elementare Gebote, die i n ihrer Ursprünglichkeit u m so eindeutiger u n d — überzeugender sind. Das Fundamentalgesetz der natürlichen Volksordnung lautet: Erhaltung des Volkstums u m jeden Preis. Folgerungen daraus bilden die ebenso natürlichen w i e einfachen Sätze: ,Gemeinnutz geht v o r Eigennutz' und:,Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was i h m schadet, Unrecht' 5 2 ."

Das so wortreich angekündigte „junge deutsche, nationalsozialistische Naturrecht" ist somit erst einmal auf seinen knappen Nenner gebracht: Nicht die Idee der Gemeinschaft schlechthin ist das nicht mehr hinterfragbare Prinzip dieses Naturrechtsdenkens, i n seinem Mittelpunkt steht vielmehr die Volks- oder Bluts- oder Rassengemeinschaft. Insofern ist hier also der unmittelbare Anschluß an die Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht vollzogen. Zugleich aber werden — und zwar gewiß nicht zufällig bereits i m nachfolgenden Absatz — Bezüge zu hegelianischdialektischem Denken hergestellt, wenn Dietze eine neue A r t der Betrachtung über die „verwirrende Menge des Einzelnen" hinaus i n Richtung auf das „bleibende Ganze" fordert, die die ganze Fülle des Lebens zu erfassen und auch begrifflich zum Ausdruck zu bringen habe 58 . Die „Schau des Allgemeinen i m Besonderen" — m i t h i n eines der Kernpostulate (neu-)hegelianischen (Rechts-)Denkens 54 — entspreche wie keine andere dem Wesen des Naturrechts 55 , i n dessen „Gestalt" dann die Einheit seiner Idee und Existenz, also die „Wirklichkeit der sonst formlosen Idee" und die „Idealität des sonst ruhenden Seins", ihren angemessenen Ausdruck finde 58. Diese Betrachtung jedoch erfüllt eine ganz bestimmte rechtspolitische Funktion, die von Dietze m i t erstaunlicher Offenheit aufgedeckt w i r d : Es sei weder m i t dem Wesen der Zeit noch m i t der N a t u r der Sache zu vereinbaren, ein ganzes System des neuen Naturrechts zu entwickeln. Die Gegenw a r t sei nämlich noch derart i m Fluß begriffen, daß jeder unüberlegte Schritt zu ihrer Systematisierung zugleich die Gefahr der Erstarrung u n d des S t i l l standes herausbeschwören müsse. Doch gerade das widerspreche dem Sinn des Naturrechts als eines dauernd lebendigen u n d beweglichen, w e i l sozial bedingten Rechts 57 . Zudem erlaube die N a t u r der Gemeinschaft keine normative Festlegung, denn Gemeinschaft sei „so unberechenbar, vielgestaltig u n d geheimnisvoll w i e das Leben selber", das sich niemals i n Regeln u n d Systeme einfangen lasse. Sie sei — v o m Begriff her — „der Reichtum des Lebens i n der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen". Da also „jeder V e r such einer Vorherbestimmung u n d umfassenden Positivierung des natürlichen 52 53 54 55 56 67

S. 108. Ebd., S. 108 f. S. dazu des näheren u. § 17. S. 108. S. 109. Z u m Begriff der „Gestalt" s. bereits o. Fußn. 9. Vgl. zu diesem Aspekt insbes. ebd., S. X I V , 13 f., 19 f., 28 f., 31, 103 f.

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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Rechts der Gemeinschaft n u r i m m e r einen T e i l treffen u n d niemals die ganze Fülle umspannen" könne, müsse m a n sich darauf beschränken, das A l l gemeine u n d Typische aufzuzeigen. I m übrigen sei dies i n Wahrheit eher eine „Entschränkung", indem sie den Blick über alle Einzelheiten hinaus erhebe u n d auf eben jenes „bleibende Ganze" richte 5 8 . Gleichwohl gelte das neue Naturrecht der Gemeinschaft, u n d zwar gerade weil es so allgemein sei. Die Frage nach seinem genauen I n h a l t gehe fehl, da das Naturrecht j a nicht ein inhaltliches Recht sein solle u n d sich daher gar nicht i n juristisch faßbaren Formeln darstellen lassen dürfe 5 9 . F ü r das Gemeinschaftsdenken bedeute das Recht vielmehr ein „einigendes Band, das sich u m alle Glieder der Gemeinschaft schlingt" 8 0 . I n einem Stadium sozialen Seins, das sich bereits v ö l l i g als Gemeinschaft erweise, werde das Recht nahezu überflüssig, könne sich aber jedenfalls darauf beschränken, n u r ganz wenige große allgemeine Grundsätze — jene elementaren Gebote nämlich — zu enthalten 8 1 . Ebenso drücke sich auch die nationalsozialistische W e l t anschauung i n ganz wenigen u n d einfachen Grundsätzen aus, „die gerade i n dieser ihrer Einfachheit so überaus anziehend u n d schöpferisch zu w i r k e n vermögen, w i e es die Geschichte gezeigt h a t " 8 2 . K u r z u m : Wie i m Nationalsozialismus das Denken des deutschen Volkes „vereinfacht u n d auf seine p r i m i t i v e n U r f o r m e i n zurückgeführt" 8 3 worden sei, so sei auch das Rechtsdenken zurückgekehrt zu einem „modernen Naturrecht" m i t wenigen allgemeinen Grundnormen, die „rechtstheoretisch gesehen" nichts anderes seien als eben jene „ p r i m i t i v e n Urformein" des Nationalsozialismus 8 4 . E i n d e r a r t dezimiertes N a t u r r e c h t , das l e d i g l i c h e i n i g e z e n t r a l e v ö l kische G r u n d s ä t z e festschreibt u n d sich ansonsten d a m i t b e g n ü g e n k a n n , i h n e n a l l e E i n z e l e r s c h e i n u n g e n des sozialen Daseins g e f ü g i g z u m a c h e n oder u m g e k e h r t aus i h n e n w a h l l o s k o n k r e t e V e r h a l t e n s i m p e r a t i v e f ü r ganz b e s t i m m t e Lebenssachverhalte z u e n t n e h m e n , w a r f r e i l i c h i n d e r Lage, d e n „ D i e n s t " z u „ v e r r i c h t e n " , „ d e n die . . . Z e i t v o n d e r Rechtsp h i l o s o p h i e v e r l a n g t ( e ) " 6 5 . A u c h Dietze e r m ö g l i c h t e d a m i t — Gernhubers These v o n d e r u n g e n i e r t e n I n a n s p r u c h n a h m e n a t u r r e c h t l i c h e r T r a d i t i o n e n d u r c h r e l a t i v i s t i s c h e T h e o r i e n b e s t ä t i g e n d 8 8 — die w i l l k ü r l i c h s t e H a n d h a b u n g u n d A u s u f e r u n g dieser G r u n d s ä t z e u n d g e r i e t so z w a n g s l ä u f i g i n e i n e n u n a u f h e b b a r e n Gegensatz z u j e d e r ü b e r z e i t l i c h u n d ü b e r 58

Ebd., S. 108 f. Ebd., S. 202 m i t wörtlichem Z i t a t v o n Steubing, Naturrecht u n d n a t ü r liche Theologie i m Protestantismus (1932), S. 9. 80 Wiederum S. 202. 81 Ebd., S. 203 (auch S. 210 u. 218), sowie o. bei Fußn. 52. Dietze beruft sich i n diesem Zusammenhang auf die auch bereits o. § 8 I , bei Fußn. 34, u. § 10, b e i Fußn. 12, angeführte berüchtigte Formel Hitlers: „Die Gleichheit der Lebewesen einer bestimmten A r t erspart damit förmlich die Aufstellung b i n dender Regeln u n d verpflichtender Gesetze." 82 S. 204. 83 Ebd. (mit wörtlichem Goebbels-Zitat). 84 Ebd., S. 204 f. Z u den einzelnen Formeln s. u. T. ab Fußn. 69. 85 A. a. O., S. 102, auch S. 318. Vgl. dazu o. hinter Fußn. 39. 88 S. o. vor Fußn. 17. 59

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

das gesetzte Recht hinaus gültigen Rechtsidee, die er zuvor selbst postuliert hatte 6 7 . Ungeachtet solch verhängnisvoller Entwicklung während des Dritten Reiches erfuhr der Naturrechtsgedanke i n der unmittelbaren Nachkriegszeit eine geradezu euphorische Neubelebung und sieht sich erst i n der jüngeren rechtstheoretischen Diskussion zunehmender K r i t i k ausgesetzt68. Anlaß zu kritischer Selbstbesinnung hätte für einen Naturrechtler freilich schon früher, und zwar etwa aus dem bemerkenswerten Grund bestanden, daß der Kerngehalt des Naturrechts bei Dietze auf die „dem Nationalsozialismus und seinem Naturrecht der Gemeinschaft gleichmäßig eigenen" 69 folgenden „allgemeinen Leitsätze für das soziale Verhalten der Menschen" herabgewürdigt werden konnte. Diese Leitsätze besäßen — wie es dort heißt 70 — „als Ausdruck der Natur der Sache" und „aus dem Wesen der Gemeinschaft gewonnen" Geltung und lägen daher allem Rechtsleben als „unverrückbares Fundament" zugrunde 71 . Sie decken sich i m übrigen — angesichts ihrer für alle Leerformeln bezeichnenden inhaltlichen Dürftigkeit nicht gerade zufällig — weitgehend mit den Grundformeln der oben dargestellten Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht 72 : 1. Der oberste natürliche Rechtssatz laute: „Recht ist das, was arische Menschen für recht befinden, Unrecht ist das, was sie verwerfen" — laut Rosenberg angeblich „einer der weisesten Sprüche der indischen Philosophen" 73 . Dies entspreche der natürlichen Einsicht, daß nur der das Recht wissen könne, der „reiner Rasse" sei 74 . Was dann als Begründung 67

S. dazu o. bei Fußn. 39 u. 40. Vgl. n u r etwa Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 80 - 82, den Beitrag von Franssen, Positivismus als juristische Strategie: JZ 1969, S. 766 - 775, die dort u. a. jeweils zitierten Schriften von Topitsch sowie Kirn, Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität, S. 82 ff. (87). Z u dem damit berührten Streitgegenstand s. des näheren u. T. ab Fußn. 118. 69 S. 205. 70 S. 185. 71 Unter Hinweis auf Riedinger u n d Krieck m e r k t Dietze allerdings auch i n diesem Zusammenhang an, daß alle solche natürlichen Rechtssätze n u r ganz primitive, i n besonders einprägsame u n d allgemein verständliche Form gekleidete Wahrheiten bildeten: S. 187. 72 S. o. § 14 I a, insbes. T. ab Fußn. 33. 73 Gestaltung der Idee, B l u t u n d Ehre Bd. I I (Reden u n d Aufsätze 1933 1935), 2. Aufl., München 1936, S. 222 ff. (227). 74 Dietze, S. 185, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Nicolai, der den zitierten Gedanken i n seiner „rassengesetzlichen Rechtslehre", S. 13 f., i n nahezu mythische Dimensionen gerückt hatte: „Diese angeborene Fähigkeit, zu fühlen, zu ermessen, zu wissen, was Recht ist, . . . w u r d e dem nordischen Menschen durch Vererbung v o n den Ahnen, v o n dem Rechtsgotte selbst überliefert . . . durch die Anlage des Blutes. Deshalb k a n n nicht jeder Beliebige das Recht wissen, sondern n u r der, der reiner Rasse ist, der i n echter Ehe von Artgenossen erzeugt ist, dessen Stammbaum rein ist von fremder Beimischung. Recht k a n n deshalb n u r v o n arischen, nordischen Menschen gewußt, gesetzt, verkündet, gesprochen werden. N u r der nordische Mensch ist 68

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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für die Erhebung jener höchst zynischen Leerformel zum „Fundamentalsatz des natürlichen Rechts der Gemeinschaft" vorgebracht wird, hat m i t wissenschaftlicher Beweisführung nichts mehr gemein und i n dieser Primitivität selbst i n der sonst vergleichbaren Literatur aus der Zeit des Dritten Reiches kaum noch eine Parallele: Reinrassigkeit sei die Voraussetzung für jedes Einanderverstehen, dieses aber bedinge jede Gemeinschaft! Da nun Recht gemäß alter germanischer (Gemeinschafts-) Auffassung nur das sein könne, was (nach arischem Urteil) recht und gut sei, werde hier zudem die Einheit von Recht und Sittlichkeit wiederhergestellt 75 . 2. Der bereits zitierte 7 6 Punkt 24 des Parteiprogramms „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" sei längst keine Forderung mehr, sondern Norm, die als „bereits geltendes natürliches Recht" dem „heutigen Leben i n Gemeinschaft" zugrunde liege. 3. Eine dritte, nicht minder bedeutungsvolle Naturrechtsnorm bilde das Wort des Führers: „Gleiches B l u t gehört i n ein gemeinsames Reich" 77 , ein Gebot, das sich „aus dem Wesen der deutschen als einer Gemeinschaft von Menschen gleichen Blutes" ableite. 4. I n dem — ebenfalls bereits zitierten 7 8 — Naturrechtssatz „Alles, was dem Volke nützt, ist Recht, alles, was i h m schadet, Unrecht" finde die Verwurzelung des Rechts i m Volksleben Ausdruck. Während das Gesellschaftsdenken alles natürliche Recht zum Kampfmittel des einzelnen habe werden lassen, sei richtiges Recht i m Sinne des dem Ganzen verantwortlichen neuen Naturrechts, „ n u r das Recht, das dem Volke dient" 7 9 . 5. Der Satz „Jedem das Seine" sei ein unmittelbarer Ausfluß der Idee der Gerechtigkeit, die Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln gebiete 80 . daher zur Rechtsschöpfung, d. h. zum Schöpfen des Rechts aus dem U r b o r n der Weisheit bestimmt. N u r er k a n n Richter sein, n u r er Gesetzgeber, n u r er Führer der Gemeinschaft der Volksgenossen." Vgl. hierzu i n anderem Z u sammenhang o. § 15, bei Fußn. 50. 75 S. 185 f. Vgl. hierzu ζ. B. auch S. 8, 40, 43, 45, 53, 319. 76 S. o. bei Fußn. 52. 77 M e i n Kampf, S. 1. 78 S. wiederum o. bei Fußn. 52. 79 Wie auch das Vorstehende: S. 186. „ D e m Volke zu dienen" haben allerdings bis i n die jüngste Gegenwart hinein nahezu alle auf politische Beeinflussung u n d ideologische Durchdringung der Massen gerichteten Bewegungen gleich welcher H e r k u n f t vorgegeben. Die beträchtliche Spannweite dieser Formel reicht dabei v o n der Vereinnahmung durch die völkische Phraseologie des Nationalsozialismus bis h i n etwa zu der fast stereotyp wiederkehrenden agitatorischen Verwendung i m Maoismus (entsprechend der besonderen programmatischen Bedeutung, die i h r Mao selbst i n seinen Schriften immer wieder gegeben hat). 80 S. 186. 13 Anderbrügge

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

6. Der Naturrechtssatz „Das Ganze ist vor dem Teil" schließlich ergebe sich „aus dem Wesen der Gemeinschaft unmittelbar". Zu diesem Satz wenigstens trifft Dietze die i n Wahrheit auch für alle zuvor aufgeführten „natürlichen Rechtssätze" zutreffende Feststellung, daß seine Richtigkeit nicht zu beweisen sei. Doch der Autor läßt es damit nicht bewenden und erklärt freimütig den bewußten Verzicht auf eine argumentative, den Gesetzen wissenschaftlicher Erkenntnis unterworfene Auseinandersetzung überhaupt: „ E i n Versuch des Beweises wäre bereits ein Verstoß gegen das Wesen des Ganzen der Gemeinschaft. Wenn der Einzelne Widerstand erfährt, spürt er eine Ordnung. N u r dadurch, daß sie der W i l l k ü r des Einzelnen Widerstand entgegensetzt, erweist sich die Ordnung als lebendig. So steht heute der Einzelne i n der Ordnung des Ganzen. Das Ganze ist nicht ein T e i l u n d daher nicht zu beweisen. Denn Beweis heißt Einordnung i n irgendwelche Kategorien, f ü r die das bewiesene T e i l als T e i l oder Glied notwendig ist. D a m i t wäre aber zugleich der Ganzheitscharakter des Ganzen aufgehoben 81 ."

Wenn ein i n seinen Fundamentalnormen durch solche Ersatzbeweisführung begründbares Naturrecht wirklich — wie betont wurde — zentraler Gegenstand der Rechtsphilosophie hat sein sollen, der doch immerhin die Aufgabe gestellt war, die Idealität des neuen Rechts „darzustellen" und sodann konkrete Rechtssätze aus der maßgebenden Idee der Gemeinschaft „abzuleiten" 8 2 , dann hat diese „Naturrechtsphilosophie" jedenfalls den Anspruch verfehlt, als wissenschaftliche Disziplin ernstgenommen zu werden. Zwar w i r d das gewiß beachtliche Geltungsproblem, also der i m einzelnen häufig umstrittene und bisweilen gar nicht zu führende Nachweis der realen Geltung des Naturrechts keineswegs verkannt. Der Autor, der i n i h m vielmehr „den kritischen Punkt jedes Naturrechts zu allen Zeiten" sieht, setzt sich durchaus respektabel m i t i h m auseinander 83 . Doch den anderen sicher ebenso kritischen Aspekt allen Naturrechtsdenkens, nämlich das Problem der Erkenntnis und des eigentlichen Geltungsgrundes seines Gegenstandes, löst er gleichsam i m Vorübergehen. M i t der positiven Geltung des Naturrechts der Gemeinschaft i n der Gegenwart, das m i t der Existenz des Menschen gegeben sei und seine besondere Gestalt durch den die deutsche Gemeinschaft prägenden Geist des Nationalsozialismus erhalte, sei zugleich die Frage nach der Quelle des neuen Naturrechts beantwortet: „Denn wenn die konkrete Gemeinschaft als Wurzel- und Quellpunkt des gesamten Rechts erscheint, so ,gilt' dieses Recht nicht nur, sondern es ,ist', es ist real wie die Gemeinschaft selber 84 ." Die Rechtsordnung ist also konkrete W i r k lichkeit, Lebensordnung. Rechtsgemeinschaft und Gemeinschaftsrecht 81 82 83 84

S. 187. S. dazu o. zw. Fußn. 36 u. 39. S. 187 ff. S. auch o. vor Fußn. 59. S. 205.

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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bezeichnen denselben Sachverhalt, die (existentielle) Wirklichkeit und nicht nur die (normative) Geltung des Hechts 85 . Das Gemeinschaftsdenken fasse das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsordnung und Rechtsordnung als dialektische Einheit auf und sehe somit die Gemeinschaft als Rechtsquelle und das Recht als Lebensquelle an 88 . Der Erkenntnisprozeß erscheint danach denkbar einfach: „Das heutige Naturrecht r u h t als Recht der N a t u r der Sache i m konkreten Gemeinschaftsverhältnis. Durch I n t u i t i o n u n d Verständnis w i r d es erkannt und schöpferisch gestaltet. Die Idee des richtigen Rechts, die i m Stoff des Gemeinschaftsverhältnisses angedeutet liegt, w i r d daraus herausgelesen u n d gibt das Maß u n d V o r b i l d f ü r die Gesetzgebung oder Rechtsanwendung ab. I n dieser Weise ist die Rechtswirklichkeit verantwortliches Handeln aus u n bedingter Verbindlichkeit, d. h. i n existentieller Bindung an die Idee, die jene Verbindlichkeit f ü r die Wirklichkeit des Rechts begründet. Die jeweilige Gemeinschaft — Familie, Freundschaft, V o l k usw. — bildet m i t h i n die Quelle des natürlichen Rechts, das es aufzufangen u n d zu verwerten g i l t 8 7 . "

Wer indessen „das natürliche als das ideale Recht aus der Quelle der Gemeinschaft schöpfen und als solches erkennen" w i l l 8 8 , muß sich schon auf die Metaphysik der Dinge verstehen. Intuition ist Wesensschau888. Erst die Einsicht i n das Wesen der Dinge, i n die Natur der jeweiligen Gemeinschaft ermöglicht die Erkenntnis des jedem Gemeinschaftsverhältnis als „gestaltendes Prinzip" innewohnenden natürlichen Rechts und die Ableitung „gewisser Normen". Doch da das Verhältnis von Recht und Sein ein dialektisches ist, kann auch das natürliche Recht der Gemeinschaft nicht von einer absoluten Norm bestimmt sein. Dieser Schluß führt letztlich — wie so oft i n der Naturrechtsgeschichte — zu einem „Naturrecht m i t wechselndem Inhalt", das sich nach den rechtspolitischen Notwendigkeiten ausrichten läßt. M i t dem der Zeit eigenen hohlen Pathos verkündet Dietze das i m Grunde recht klägliche, aber i m hier dargelegten Sinne zweckgerechte Ergebnis seiner aufwendigen Untersuchungen wie eine Apotheose bereits zuvor von i h m selbst offenbarter Sentenzen 89 : „Unfaßbar w i e die lebendige Fülle der Gemeinschaft ist auch i h r N a t u r recht. Die Quelle des Lebens als des Lebens i n Gemeinschaft ist unversieglich, u n d so ergießen sich aus jeder kleinen u n d kleinsten Gemeinschaft 85

Ebd., S. 209 f. Ebd., S. 211. 87 Ebd., S. 212. 88 Ebd. 88a U n t e r diesem Aspekt berührt sich die v o m A u t o r als naturrechtlich beschriebene Theorie der Rechtserkenntnis eng m i t derjenigen der phänomenologischen Ontologie u n d auch des Neuhegelianismus. S. dazu etwa Zippelius, S. 27 - 29 (in der 1. Aufl., S. 26 - 29, w i r d der Vergleich allerdings deutlicher), sowie u. § 17, T. ab Fußn. 21 u. wieder ab Fußn. 64. Hinsichtlich der ebenfalls gegebenen Parallelen zum konkreten Ordnungsdenken vgl. o. § 12, bei Fußnote 26, 27 u. ab Fußn. 38. 89 S. o. bei Fußn. 57 u. 58. 86

13·

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

i m m e r neue Bäche eines natürlichen Rechts, die i m Zusammenfließen den stolzen Strom des Naturrechts der deutschen Gemeinschaft bilden 9 0 ."

Dieser stolze Strom des deutschen Naturrechts w i r d — wie das Leben i n Gemeinschaft selbst — i m wesentlichen aus den folgenden drei Hauptquellen gespeist: „aus dem Drängen des Blutes, den Säften des Bodens und der Innigkeit gleicher Gesinnung" 91 . Die Naturrechtsdiskussion ist damit endgültig auf dem Niveau der Blut-und-Boden-Mystik angelangt, Das den Gemeinschaften des Blutes — wie Familie und Volk — eigene Naturrecht „ q u i l l t aus dem recht verstandenen Wesen der Blutszusammengehörigkeit", das insbesondere „ i n ihrer Beschränkung auf A r t gleiche, i n ihrer Reinerhaltung und mystischen Ursprünglichkeit" liegt. Die Eigenart der Gemeinschaften des Ortes — Nachbarschaft, Bauerntum — und ihres besonderen Naturrechts leitet sich ab „aus ihrer Verwurzelung i m Boden, aus der Schicksalsverbundenheit und gegenseitigen A n gewiesenheit ihrer Träger". Freundschaft und Kameradschaft als Gemeinschaften der Gesinnung endlich leben ebenfalls nach ihrem eigenen natürlichen Recht, das aus „ihrer meist auf Sympathie und Liebe beruhenden Herkunft und ihrer Einheit i m Geist" erwächst. Selbstverständlich kann eine Gemeinschaft auch mehrere dieser Elemente i n sich vereinigen 92 . — Solche i n der Tat kaum faßbaren Bestandteile machen also das „Wesen der Gemeinschaft" aus und konstituieren damit zugleich — als Erkenntnisgrund wie als Gestaltungsprinzip — jenes „neue deutsche Naturrecht", das sich — weil oder jedenfalls soweit es bereits echtes Naturrecht der Gemeinschaft ist — unter Verzicht auf ein „ausgeklügeltes Rechtssystem" auf wenige allgemeine natürliche Rechtsgrundsätze, jene „primitiven Urformein" nämlich, beschränken kann 9 8 . Abschließend soll hier an einigen Beispielen aufgezeigt werden, wie man sich etwa die aus der Natur oder dem Wesen der Gemeinschaft abzuleitenden „gewissen Normen" — i m Sinne konkreter Sollenssätze — vorzustellen hat. Ausgehend von der Grundthese, daß das Naturrecht der Gemeinschaft das „natürliche Recht konkreter Ordnungen" sei 94 und als solches wirklichkeitsnah der Besonderheit und Verschiedenheit jeder Lage und Ordnung entspreche 95 , beleuchtet Dietze selbst exemplarisch vier Ordnungen: die Familien-, Eigentums-, Staats- und Staatenordnung 9 6 . 90

S. 213. Ebd., S. 39, auch S. 318. 92 Ebd., S. 213. 98 Ebd., S. 218. S. hierzu auch o. v o r Fußn. 52, bei Fußn. 61 - 64 u. i n Fußn. 71. 94 Der A u t o r k n ü p f t insofern ausdrücklich an Carl Schmitts „konkretes Ordnungsdenken" an. S. dazu o. § 12. 95 S. 262 -264. 96 A u f eine Darstellung der Staatenordnung soll allerdings hier verzichtet werden. 91

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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So gewinnt beispielsweise die Ehegemeinschaft i n der Familienordnung dadurch ihren alten Sinn zurück, daß nicht mehr das Verhältnis der Ehegatten zueinander, sondern ihr Verhältnis zu den Kindern zum entscheidenden Gesichtspunkt w i r d : Die Ehe dient i n erster Linie der Zeugung und Erziehung der Kinder und hat vor allem aus diesem Grunde grundsätzlich unauflöslich zu sein 97 . Und da das gemeinschaftsmäßige Naturrecht der Ehe eine „Rechtsordnung zwischen Ungleichen" ist, darf der Mann nicht i n das Aufgabengebiet der Frau übergreifen und umgekehrt. I n diesem System ist „eine durch positive Gesetze künstlich garantierte »Gleichberechtigung der Geschlechter 4 ... ein Unding", Emanzipation der Frau „widernatürlich", w e i l sie „die Welt des Mannes künstlich verkleinert", denn ihre Welt ist die kleinere, die Familie, die des Mannes aber die größere, der Staat 98 . Wie das zur wahren Naturgesetzlichkeit zurückgekehrte Naturrecht die Beachtung dieser „von Natur aus" gegebenen Unterschiede verlangt, so gebietet es auch dringend, „die p r i mitivsten Gesetze der Gattenwahl, wie sie sich i m Tierreich zeigen, auch auf den Menschen anzuwenden", nämlich „sich nur m i t A r t - , d. h. Rassegleichen, zu paaren", w e i l jede Rassenvermischung „nach ewigen Naturgesetzen" zur Schwächung führt. A u f der Grundlage eines solchen allenfalls i m biologistischen Sinne „natürlichen" Gemeinschaftsverhältnisses Ehe 99 lassen sich schon i m Bereich der Familienordnung maßgebliche Zielvorstellungen nationalsozialistischer Rassenpolitik verwirklichen: „instinktiv wehrt sich das Tier gegen Parasiten, Schmarotzer und fremde Rassen. Allein, Parasiten gibt es auch i m Leben der Menschen. I n ständig steigendem Maße w i r d die natürliche Abscheu der deutschen gegen die jüdische Rasse lebendig. Das Naturrecht der deutschen Gemeinschaft verbietet die Ehe zwischen Deutschblütigen und Juden 1 0 0 ." Man braucht eigentlich kaum darauf hinzuweisen, daß solche Sätze erst nach Erlaß der Rassengesetzgebung des NS-Regimes geschrieben wurden, u m deutlich machen zu können, daß „Naturrecht" hiernach nichts weiter ist als ein Vehikel zur Durchsetzung ursprünglich außerrechtlicher und sogar — vom Standpunkt einer anderen Wertethik aus — materiell ungerechter Ziele. 97 Ebd., S. 267 f. (unter Bezugnahme auf das „ a l t überlieferte katholische Gemeinschaftsnaturrecht") u n d S. 271 f. ( I m Unterschied zum katholischen Naturrecht hat nach dem „neuen deutschen Naturrecht" die Familie ein u r sprüngliches u n d ausschließliches Erziehungsrecht „allenfalls i m ersten K i n desalter", bis nämlich der Staat über die „Aufzucht des Nachwuchses" v e r fügt.). 98 Ebd., S. 268 f. (unter Berufung auf Hitler). 99 Das seinerseits u. a. auf einem gerade naturwissenschaftlich so fragwürdigen K o n s t i t u t i v u m w i e der „gleichen Rassenseele" aufbaut. S. dazu bereits o. § 15, v o r Fußn. 5 sowie bei Fußn. 39 u. 40. too die voraufgegangenen Zitate: S. 269 f. Z u r Vervollständigung sei angemerkt, daß die zitierten Aussagen aus naturwissenschaftlicher Sicht gänzlich unhaltbar sind. Vgl. hierzu auch o. § 91, T. ab Fußn. 1.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Bei allen verbalen Vorbehalten bejaht die Lehre vom gemeinschaftlichen Naturrecht das Privateigentum als „Sondereigentum" 101 . Ganz i m Sinne der dialektischen Betrachtungsweise der i n diesem Zusammenhang mehrfach zitierten Hegelianer heißt es, der Mensch bedürfe des Eigentums, u m „zugleich ganz er selbst zu sein und i n diesem Eigen-sein das Allgemeine zur Geltung bringen zu können". Es sei „Voraussetzung und Funktion personhafter Freiheit und unbedingter Verbindlichkeit". Folglich sei es ein unabdingbares natürliches Recht der Gemeinschaft, daß der Mensch Eigentum habe 102 , jedoch nicht verstanden als eine vom Staat zu schützende Machtposition des einzelnen, sondern als „Zuweisung zu eigenverantwortlichem, sachgerechtem Verfahren m i t dem Gegenstand" 1 0 3 . Der i n dieser Interpretation des Eigentumsbegriffs liegende Anspruch w i r k t moralisch wie logisch überzeugend. Doch die von Dietze zur Beurteilung der Richtigkeit eines nach i h m ausgerichteten Verhaltens herangezogenen Kriterien stammen einmal mehr aus dem Bereich des Irrationalen und entbehren damit jeglicher objektiven Erfaßbarkeit. Die pathetische Sprache, m i t der sie umschrieben werden, steigert sich stellenweise bis zur unfreiwilligen Komik. So ist etwa die Rede davon, daß das Eigentum „nicht Lebensmittel, sondern Lebensmitte" sei, w e i l es nicht mehr als bloßes M i t t e l zum Zweck des Lebenkönnens, sondern — als „persönliches Gemüts Verhältnis" — „aus seinem Ursprung, seiner ewigen Mitte, aus seiner Gliedschaft i n dem Ganzen" begriffen werden müsse: „Es w i r d als solches persönlich aufgefaßt, indem es wieder eine Seele erhält" 1 0 4 . M i t einem derart magisch überhöhten Eigentum w i r d man schon aus Pietät nicht gem. § 903 BGB nach Belieben „hantieren" können — generelle Normen wie diese genügen nach Dietze ohnehin nicht mehr, „die wesenwillige Fülle der Beziehungen" zu erfassen 105 —, wie man indessen m i t dem eigenen Gegenstand „sachgerecht" zu verfahren hat, so daß dieser auch tatsächlich das Wesen seines Eigentümers prägt wie er umgekehrt dessen persönliches Wesen verliehen bekommt 1 0 6 , bleibt nach wie vor offen. So stehen am Ende wiederum nur inhaltsleere Erklärungen: Das erstarrte, w e i l abstrakte Eigentumsdenken werde überwunden und wieder „verpersönlicht", der allgemeine Eigentumsbegriff ersetzt durch eine Vielheit lebendiger konkreter Eigentumsordnungen. So stelle sich das Eigentum an verschiedenen Sachen i m neuen Naturrecht auch sachlich verschieden dar. Dadurch werde das arteigene 101

Ebd., S. 275. Ebd., S. 274. 103 Ebd., S. 276 m i t wörtlichem Z i t a t v o n Wieacker, Wandlungen der Eigentumsverfassung (1935), S. 24. im w i e d e r u m S. 276 unter — ζ. T. wörtlicher — Berufung auf Schönfeld, Rechtsphilosophie, Jurisprudenz u n d Rechtswissenschaft: Z f d K Bd. 1 (1935), S. 68. 105 S. 277. 106 Ebd., S. 276. 102

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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Wesen der Sache klar zum Ausdruck gebracht 107 . Die i m Anschluß daran aufgeführten Beispiele beweisen allerdings kaum mehr, als daß sich die bereits verwirklichten gesetzgeberischen Maßnahmen des Dritten Reiches — namentlich auf dem Gebiet des Bodenrechts etwa i m Reichserbhofgesetz — widerspruchslos m i t den entsprechenden Forderungen des sog. gemeinschaftlichen Naturrechts decken und durch sie rechtfertigen lassen. Jede der i n der vorliegenden Untersuchung dargestellten Lehren vom „völkischen Recht" hat ihr besonderes Verständnis vom Staat und vom Verhältnis von Volk und Staat artikuliert und damit ihren freiwilligen Beitrag zu einer Staatsrechtstheorie des NS-Staates zu leisten versucht. Dies gilt i n noch gesteigertem Maße für die Lehre von einem „deutschen Naturrecht". Das neue Naturrechtsdenken, so betont Dietze ohne jede Scheu vor solch unverhohlener Rechtfertigung purer Existenz, vermöge sich am sinnvollsten dort zu bewähren, wo es sich u m die „Bewußtmachung der gegenwärtigen Staatsordnung" handele. Denn der nationalsozialistische Staat (als die „höchste und umfassendste reale Gemeinschaft") lebe bereits seit über drei Jahren nach dem Naturrecht der Gemeinschaft, sei es nun nach den wenigen das Staatsleben normativ regelnden, „überaus allgemein gehaltenen" Gesetzen oder nach ungeschriebenem Recht, „d. h. nach dem natürlichen Lebensgesetz der deutschen Volksgemeinschaft". Ja, die Betrachtung des konkreten Staatslebens soll ihrerseits das die Staatsordnung gestaltende Naturrecht der Gemeinschaft „ i n letzter Klarheit hervorkehren" 1 0 8 . Von der dem Naturrecht sonst zugewiesenen kritischen Funktion i m Sinne einer Überprüfung allen positiven Rechts auf sein wirkliches Recht-Sein 109 ist hier wie i m folgenden nichts mehr spürbar. Es erübrigt sich i m Rahmen dieser Darstellung, den sich anschließenden Gedankengängen i m einzelnen nachzugehen. Da ist die Rede vom Volks- oder Rassenstaat, i n dem einer dauernden Naturrechtsforderung entsprechend das ganze Volkstum und nur dieses vereinigt werde lind damit die Gemeinschaft Artgleicher politische Gestalt gewinne 110 , vom Bewegungsstaat, der — durch keine starre Verfassung gebunden—im schöpferischen und verantwortlichen Handeln von Führer und Gefolgschaft verwirklicht werde („wobei dem Führer die Zielweisung, der Gefolgschaft die Ausrichtung aller Lebensbereiche auf dieses Ziel h i n zukommt" 1 1 1 ) und jeden Volksgenossen ständig i n Be107

Ebd., S. 276 f. Ebd., S. 279 f. 109 Vgl. E r i k Wolf, S. 197, u n d Gernhuber, S. 196. 110 S. 283 - 287. Dieser Anspruch w u r d e übrigens auch i n der NS-Zeit selbst an eine „deutsche" Rechtsphilosophie gestellt, so etwa von Emge, Deutsche Rechtsphilosophie, i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 29 f. 111 Dietze, S. 288. 108

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

wegung halte, indem er i h n durch die naturrechtsgewollten Gemeinschaften wie SA, SS, HJ, Frauenschaft usw. konkret erfasse u n d i h m durch sein Propagandaministerium, das als eine Art,Integrationsminister i u m 1 i m Naturrecht der Gemeinschaft wurzele (!), den Gesamtzusammenhang i n einprägsamer Weise (durch Aufklärung, Veranstaltung nationaler Feste, Kundgebungen, Werbearbeit...) bewußt mache 112 , vom „politisch-totalen Staat", der das Politische zum durchgängigen Prinzip, zum alle Lebensbereiche ergreifenden und verbindenden natürlichen Gesetz der Gemeinschaft erhoben habe, zugleich aber jedem einzelnen „unter der konkreten Verantwortung vor dem Ganzen der Gemeinschaft" einen eigenen Handlungsbereich einräume 1 1 3 , und schließlich vom Führerstaat: Aus dem natürlichen Wesen jeder Gemeinschaft ergebe sich zwangsläufig, „daß ein Führer da ist und führt". Dem gemeinschaftlichen Naturrecht entspricht es denn auch, daß dieser Führer nicht normativ an Gesetze gebunden werden kann, w e i l er m i t der Gefolgschaft verbunden ist und aus treuer Verantwortung vor seinem V o l k gar nicht anders als gemeinschaftserhaltend und -fördernd handeln kann, und daß er aus eben diesem für das Gefolgschaftsverhältnis wesentlichen Grunde sogar unfehlbar ist 1 1 4 . A m Ende feiert Dietze als Bestätigung seiner eigenen Ausgangsthese noch einmal die Wiederauferstehung der „zeitlosen Idee des Naturrechts" und die Offenbarung ihrer K r a f t i n neuer Gestalt 115 . Doch dieses Ergebnis vermochte auch zu seiner Zeit kaum zu überzeugen 116 . Die dargelegten Konkretionen, aus denen es sich angeblich herleiten ließ, bestätigen vielmehr nur, daß ein so unkritisch verstandenes Naturrecht letztlich allein der Legitimation und Verfestigung des jeweils Bestehenden, also etwa einer gerade vorgegebenen „Rechtsordnung" dient, die — von der Staatsgewalt geschaffen und getragen — solcher Unterstützung i m Grunde gar nicht bedarf. Der aufgrund des selbstgesetzten Anspruchs einer ewigen Rechtsidee verpflichtete Naturrechtler begibt sich damit i n eine Rolle, die der üblicherweise dem reinen Positivisten zugeschriebenen 117 i m Ergebnis sehr nahe kommt, ohne jedoch je dessen logische Konsequenz und (dem bewußten „Bekenntnis zur unpersönlichen, objektiven Gerechtigkeit i m Gesetz" 118 entspringende) innerliche Glaubwürdigkeit zu erreichen. Damit w i r d zum Abschluß der Darstellung dieses gewiß m i t außergewöhnlichem Sendungsbewußtsein unternommenen Versuchs, ein 112

Ebd., S. 287 - 292. Ebd., S. 293 - 296. 114 Ebd., S. 296 - 299. 115 Ebd., S. 315. Vgl. i. ü. das Z i t a t o. v o r Fußn. 1. 116 S. hierzu auch die Bemerkung Gernhubers, S. 195. 117 Dieses B i l d bedarf indessen, w i e die folgenden Ausführungen andeuten, einer K o r r e k t u r . 118 Gernhuber, S. 196. S. auch schon o. § 12, Fußn. 23. 118

§ 16 Die Suche nach einem „deutschen Naturrecht"

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spezifisch „deutsches Naturrecht" aus dem Wesen der Gemeinschaft zu entfalten, die viel diskutierte Streitfrage berührt, ob denn nun die Ohnmacht des Positivismus oder nicht vielmehr die willfährige Dienstbarkeit naturrechtlichen Denkens den Einbruch des nationalsozialistischen Ungeists i n die Rechtsordnung der Zeit ermöglicht oder zumindest gefördert habe. Setzte man noch i n der ersten Nachkriegszeit das Naturrecht, von dem man sich eine bleibende Wiederaufrichtung des so tief verletzten Rechtsbewußtseins versprach, antithetisch gegen das offenbar wie ein unerklärlicher böser Spuk empfundene Unrechtssystem der vorangegangenen NSEpoche und suchte alle — wie sich gezeigt hat — nachweisbaren Bezüge des nationalsozialistischen Rechts auf das Naturrechtsdenken zu verdrängen 119 und allein der positivistischen Schulung der vom Dritten Reich gleichsam überraschten Juristenschaft die Schuld an deren Verstrickung und der scheinbar nur dadurch über die Rechtsanwendung „hereingebrochenen" Katastrophe zu geben 120 , so ist inzwischen dieser zunächst so plausibel erscheinenden, wegen ihrer Alibifunktion den Betroffenen höchst willkommenen und nach wie vor vertretenen These lebhaft widersprochen worden 1 2 1 . Wer allerdings daran geht, ihren „apologetischen Grundzug" 1 2 2 aufzudecken, muß auch heute noch damit rechnen, empfindliche Stellen zu treffen 123 . Allein, daß der „denkende Positivist", wie Gernhuber i h n genannt hat 1 2 4 , die Liquidierung der demokratisch verfaßten Gesellschaft und ihrer dem Prinzip der normgebundenen Rechtssicherheit verpflichteten Verfahrensweisen, und eben dies sind — wie 119

Vgl. dazu wiederum Gernhuber, S. 195 f. So insbes. noch Weinkauff i n : Weinkauff / Wagner, Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus, S. 28 ff., u n d — bereits früher — Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952), S. 326 ff. (2. Aufl. 1967, S. 557 ff.), sowie Schorn, Der Richter i m D r i t t e n Reich, S. 28 ff. S. dazu bereits o. § 9 I I , bei Fußn. 37. Das B i l d v o m „Hereinbrechen" des D r i t t e n Reiches findet sich i m gleichen Zusammenhang bei Welzel, Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, S. 190 Fußn. 41. S. schließlich die weiteren Nachweise bei Gernhuber, S. 193 u. 198, u n d bei Franssen, Positivismus als juristische Strategie: JZ 1969, S. 766 - 775 (766 f.), sowie die Darstellung von Kirn, S. 88. 121 Namentlich von den i n der voraufgegangenen Fußn. zuletzt genannten (dort jeweils a. a. O.) u n d den von ihnen zitierten Autoren; s. z. B. bei Franssen, S. 766 (Topitschl) u. 768 Fußn. 31. Vgl. darüber hinaus Richard Schmid (in einer Besprechung des Buches v o n Weinkauff) : K J 1969, S. 105, u. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 98/99 m i t Hinweis auf Flume. 122 So — w e n n auch i n anderem Zusammenhang — Gernhuber, S. 198 f. (Fußn. 123). Franssen spricht von einer „apologetischen Tendenz": S. 767, R i chard Schmid sogar von „Selbstbemitleidung" u n d „Standessolidarität" der betroffenen Autoren: S. 103. 123 Vgl. n u r die Reaktion Weinkauffs, Was heißt das: „Positivismus als juristische Strategie"? (auf Franssens zuvor erwähnten Beitrag): JZ 1970, S. 54 - 57. 124 S. 198. 120

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Franssen überzeugend dargelegt hat 1 2 5 — die für den Positivismus existenznotwendigen Prämissen, nicht bemerkt und daraus seine Konsequenzen gezogen haben sollte, erscheint i n höchstem Maße unwahrscheinlich. Franssen ist darin beizupflichten, daß auch nicht recht einzuleuchten vermag, warum beispielsweise eine dezidiert positivistische und damit allen ideologischen Absolutheitsansprüchen prinzipiell skeptisch gegenüberstehende Richterschaft — hätte es sie wirklich gegeben — ausgerechnet dem Nationalsozialismus m i t seiner nebulösen Weltanschauung so schnell hat erliegen können 126 . Diese und ähnliche Fragen lassen sich freilich, w e i l sie weitgehend m i t höchst subjektiven Entscheidungen zusammenhängen, kaum je m i t letzter Bestimmtheit beantworten. Es t r i f f t andererseits objektiv zu, daß eine vom Positivismus geprägte Rechtsordnung nur i m Rahmen der staatlichen Rechtsetzung innovationsfähig ist, w e i l nach klassisch-positivisischer Auffassung der Gesetzgeber „selbstherrlich" und an keine anderen Schranken gebunden ist als diejenigen, die er sich selbst i n der Verfassung oder i n anderen Gesetzen gezogen hat 1 2 7 . Doch die damit klar umrissenen Funktionen von Gesetzgebung und Rechtsanwendung bedeuten für den das positive Recht anwendenden Juristen nicht einen Zustand absoluter Ohnmacht gegenüber dem Gesetzgeber. Sprengt nämlich dieser w i l l k ü r l i c h die selbstgezogenen Schranken, und genau diese Situation war spätestens zu dem Zeitpunkt eingetreten, als der Nationalsozialismus unter Durchbrechung des Prinzips der Trennung und gegenseitigen Hemmung der Gewalten öffentlich proklamierte, der Führer sei zugleich reinste Quelle des Rechts, Gesetzgeber und oberster Gerichtsherr 128 , dann sind dem Positivisten die Grundlagen entzogen, die ihn strikt an jeden Gesetzesbefehl binden, und er kann, ja er muß i h m den Gehorsam verweigern 1 2 9 . Daß nun i n der NS-Zeit der Widerstand der Juristen gegen das „Eindringen staatlichen Unrechts i n den Raum des Rechts" 130 gering geblieben ist, beweist gewiß noch nicht, daß die Juristenschaft gegen Ende der Weimarer Republik gar nicht — wie Weinkauff behauptet — maßgebend vom Rechtspositivismus bestimmt gewesen sein kann 1 3 1 , vermag aber eben 125

Insbes. S. 767 f. Ebd., S. 767. Z u r Frage der „Offenheit" des Rechtspositivismus vgl. auch Kirn, S. 89 f. 127 So w o r t w ö r t l i c h RGZ 118, S. 327. 128 S. dazu o. § 7 I I , T. ab Fußn. 38 bis 47. 120 Gerade diese letzte Konsequenz schließen die von Weinkauff i n : Weinkauff/Wagner, S. 30 f., zitierten Ausführungen positivistischer Theoretiker u n d Grundsätze positivistisch geprägter Rechtsprechung nicht aus. 130 Ebd., S. 31. Bei der (nach w i e vor zwiespältigen) Beurteilung v o n A n passung u n d Widerstand der damals m i t der Rechtsanwendung befaßten Juristen bleibt allerdings i m m e r zu berücksichtigen, daß die eklatantesten Ungerechtigkeiten des NS-Regimes der J u d i k a t u r entzogen waren. 131 Ebd., S. 28 ff. 126

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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auch nicht den gegenteiligen Nachweis dafür zu liefern, daß gerade der Rechtspositivismus m i t seinem Prinzip der unbedingten Verbindlichkeit staatlich gesetzten Rechts das „unangezweifelte Dogma fast aller Juristen" 1 3 2 und also auch der wesentliche Grund für deren Erliegen gegenüber dem Nationalsozialismus gewesen wäre. M i t ebenso guten Gründen läßt sich nämlich — wie die Untersuchung der Gedankengänge Dietzes gezeigt haben dürfte — behaupten, daß naturrechtliches Denken keineswegs dagegen gefeit ist, die i h m zugeschriebene Wächterfunktion aufzugeben, i n die schlichte Rechtfertigung der bestehenden Staatsmacht und ihrer — wie i m Falle des NS-Regimes — keiner Rechtsidee mehr verpflichteten, sondern nur der Behauptung der Allmacht des Machthabers dienenden autoritativen Entscheidungen abzugleiten und — zumal gewisse strukturelle Affinitäten nicht zu leugnen sind 1 3 3 — schließlich konturenlos i m ideologischen Nebel zu verschwinden. Es versteht sich freilich, daß damit auch das Naturrecht aufhört Naturrecht zu sein. § 17 Der Neuhegelianismus in der NS-Zeit Die Beschäftigung m i t der Staatsphilosophie und der Sozialmetaphysik Hegels hat — nicht nur — i n Deutschland eine lange Tradition. I m breiten Spektrum der Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist kein anderer Philosoph von der politischen Linken wie von der Rechten — solche sonst zumeist zweifelhafte Kategorisierung erscheint i n diesem Zusammenhang gerechtfertigt — so sehr m i t Beschlag belegt, einseitig beansprucht, wohl auch mißverstanden, bekämpft oder verteidigt worden. Namentlich zwei extrem konträre Ideologien, nämlich Marxismus einerseits und nationalkonservative Machtstaatstheorien 1 andererseits, haben i h n als „Klassiker", als Kronzeugen vereinnahmt, seine Methode der Dialektik aufgegriffen und fortgeführt, seine Texte als Legitimationspapiere i n Anspruch genommen und zugleich ein Monopol für ihre 132

Ebd., S. 30. 133 v g l Franssen, S. 767. I n diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, daß positivistische Argumente i n der rechtstheoretischen Diskussion i n Deutschland nach 1933 als „Produkt eines überholten individualistischliberalistischen Denkens" entschieden bekämpft (s. dazu o. § 12, bei Fußn. 22 u. 23) u n d von niemand m e h r ernsthaft vertreten wurden, während — w i e eingangs erwähnt (s. o. bei Fußn. 3 ) — das „völkische Recht" vielfach als neue Gestalt naturrechtlichen Denkens (was i m m e r auch darunter zu verstehen war) interpretiert wurde. Das deutlichste, w e n n auch nicht durchschlagkräftigste Beispiel dafür stellt die besprochene Schrift von Dietze dar. 1 Z u diesen unmittelbar i n den Nationalsozialismus einmündenden antidemokratischen w i e antiliberalen „national-autoritären Staatslehren hegelianischer Provenienz" vgl. insbes. Topitsch, Hegel u n d das D r i t t e Reich, S. 36 ff. Topitsch beruft sich zum Nachweis seiner Thesen u. a. auf „aufschlußreiche" ältere Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte solcher Ideologien, so von Hermann Heller, Hegel u n d der nationale Machtstaatsgedanke i n Deutschland (1921), u n d Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe (1946).

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

Interpretation aufzubauen versucht 2 . So hat es zu der nach Lübbe w i r k lich klassischen Unterscheidung neuhegelianischer Gedankenfolgen und Auslegungszusammenhänge nach Links- und Rechtshegelianismus kommen können, deren ζ. T. verhängnisvolle Konsequenzen sich bis i n die gegenwärtige politische Situation hinein fortsetzen. Es ist hier nicht der Ort, das vielverzweigte System dieser i n der unmittelbaren Hegel-Nachfolge einander gegenüberstehenden Richtungen nachzuzeichnen, und erst recht nicht, einen Abriß der Hegeischen Rechts- und Sozialphilosophie zu geben. Innerhalb der vorliegenden Darstellung der Lehren von einem „völkischen Recht" kann es vielmehr nur darum gehen, den i n der NSZeit zu voller Blüte entfalteten Rechtshegelianismus, das „autoritäre Erbe des deutschen Idealismus" 3 , als letzte wichtige Komponente i n das Gesamtbild der so heterogenen nationalsozialistischen Rechtslehre einzufügen. Als die wohl „einzige Rechtstheorie" dieser Epoche, „die man der Rechtsphilosophie zurechnen kann" und die „ i n anspruchsvollerer Form als die anderen . . . die politische und soziale Realität der Zeit in das Bewußtsein der Juristen zu heben und i n i h m zu integrieren" versuchte4, ist der Neuhegelianismus i m Zuschnitt nationalsozialistischer Rechtslehrer schon während der Zeit des Dritten Reiches wie auch i n der rechtstheoretischen Diskussion der Nachkriegszeit und i n besonderem Maße auch wieder der Gegenwart Gegenstand eingehenderer kritischer Auseinandersetzung gewesen, als sie andere völkische Rechtslehren erfahren haben. Die i n reicher Zahl vorliegenden Ergebnisse dieser Auseinandersetzung 5 machen daher hier lediglich eine geraffte Wiedergabe rechtshegelianischer Positionen sowie den Nachweis von Verbindungen 2 Vgl. Hermann Lübbes Referat über „Hegels K r i t i k der politischen Gesellschaft" auf dem Prager Hegel-Kongreß 1966 (s. dazu die Berichte v o n M . Riedel: Der Monat, H. 218 [Nov. 1966], S. 85 f., u. Sladeczek: J Z 1967, S. 69). S. i. ü. auch u. bei Fußn. 87 u. 88. 8 So Kiesewetter, Hegels Geist prägte Hitlers Denken: Deutsche Zeitung v o m 8. März 1974, S. 28. 4 Gernhuber, Das völkische Recht, S. 183, auch S. 194. Einschränkend muß hierzu angemerkt werden, daß beispielsweise Nicolai seine „rassengesetzliche Rechtslehre" m i t dem U n t e r t i t e l „Grundzüge einer nationalsozialistischen Rechtsphilosophie" versah (vgl. o. § 15, bei Fußn. 6) — was gewiß eine A n maßung darstellte — u n d insbes. Dietze u m eine philosophisch-metaphysische Grundlegung der nationalsozialistischen Rechtsordnung bemüht w a r (vgl. o. § 16, T. ab Fußn. 4 u. wieder ab Fußn. 25) u n d sich dabei unbestreitbar i n den Bahnen rechtsphilosophischer Erörterung bewegte. 5 Vgl. u. a. (hinsichtlich der zeitgenössischen Diskussion) die Nachweise u. i n Fußn. 18 sowie (zum gegenwärtigen Meinungsstand) die bereits erwähnten Beiträge von Topitsch (einschl. der dort gegebenen weiteren Hinweise, so ζ. B. auf die Schriften von K . R. Popper), Gernhuber (S. 183 ff., 194), Kiesewetter, die i m folgenden zitierten Untersuchungen von Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 302 ff., Kirschenmann,,Gesetz' i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, S. 36 ff., u n d neuerdings insbes. die ausführliche Gesamtdarstellung Kiesewetters: V o n Hegel zu Hitler. Eine Analyse der ffegelschen Machtstaatsideologie u n d der politischen Wirkungsgeschichte des Rechtshegelianismus (Hamburg 1974).

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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zu, Ubereinstimmungen m i t und Abweichungen von den zuvor dargestellten Gedankengängen erforderlich. Zur Klarstellung sei vorangeschickt, daß Hegeische Rechtsphilosophie und Neuhegelianismus gewiß nicht einschränkungslos als Naturrecht zu qualifizieren sind. Dem widersprach jedenfalls weithin das Selbstverständnis der maßgebenden hegelianischen Rechtstheoretiker i n der NSZeit. So hat etwa Larenz den von Hegel ausgehenden Zweig des deutschen Idealismus, u m dessen Wiederbelebung es i h m ging, wiederholt und nachdrücklich gegen ein liberales Naturrechtsverständnis, gegen das als „Erbe der Aufklärung" verschmähte „rationale Naturrecht" abgegrenzt 6 , das indessen auch von allen anderen völkischen Rechtslehren als individualistisch und gemeinschaftsfeindlich bekämpft wurde. Man muß nicht gleich — der naiven These von der Identität zwischen Naturrechtslehre und Rechtsphilosophie folgend — eine Rechtsphilosophie ohne Naturrecht für ein Unding halten (weil das Wesen jeder Rechtsphilosophie i n einer Rechtswertbetrachtung bestehe, diese aber nichts anderes sein könne als eine Lehre vom Wesen, d. h. von der »Natur' des Rechts, also eine Naturrechtslehre 7 ), u m demgegenüber festzustellen, daß gerade auch das i n der Tradition der deutschen idealistischen Philosophie stehende nachhegelianische Denken hinreichend viele und gewichtige naturrechtliche Elemente enthielt, die es durchaus rechtfertigen, zumindest seine rechtshegelianische Richtung generalisierend eher naturrechtlich-metaphysisch orientierten Strömungen zuzuordnen als etwa betont materialistischen oder positivistischen, zu denen es eben nicht nur i n einem künstlichen, sondern i n einem wahrhaft fundamentalen Gegensatz steht 8 . Hegel — so heißt es zwar bei Larenz® — habe das Naturrecht als Wissenschaft vollendet und es zugleich aufgehoben, indem er gezeigt habe, daß es auf einer einseitigen Abstraktion (aus dem Begriff der Person) beruhe, die als solche keine Wahrheit habe und i n der entwickelten Wissenschaft des Sittlichen und Rechtlichen (also dem System der Hegeischen Rechtsphilosophie) nur noch als ein Moment enthalten sein könne. Andererseits w i r d der Neuhegelianismus aber charakterisiert als Betonung und Verwirklichung nahezu klassisch-naturrechtlicher Postulate, nämlich der notwendigen Wertbezogenheit aller rechtlichen und politischen Wirklichkeit, die eine weitere Annäherung des rechtsphiloβ So ζ. B. Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, i n : Larenz I Holstein, Staatsphilosophie, S. 183; Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie, S. 5, 14, 37 f. ; Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 150 ff.; Volksgeist u n d Recht: Z f d K Bd. 1 (1935), S. 40 ff. (46 f.). 7 So Dietze, Naturrecht i n der Gegenwart, S. 6. 8 S. dazu den folgenden Abs. a. E. 9 Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, S. 163.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

sophischen Bewußtseins der Gegenwart an den deutschen Idealismus bedeute, und der fortschreitenden Entwicklung von einer nur abstrakt gefaßten Gemeinschaftsidee zur „Anerkennung des i n den konkreten Gemeinschaften . . . sich verwirklichenden objektiven sittlichen Geistes und damit einer konkreten, nicht individualistisch, sondern universalistisch gedachten Gemeinschafts-, Rechts- und Staatsidee". Darin erweise sich auch — i m Unterschied zum Neukantianismus, der aus der Erkenntnistheorie und allgemeinen Methodologie erst auf die Rechtsphilosophie habe übertragen werden müssen — seine genuin rechtsphilosophische Herkunft 1 0 . — Die Vertreter der neuhegelianischen Rechten haben folgerichtig die Wendung gegen den materialistischen Marxismus, der die Hegeische Philosophie aller metaphysischen Bezüge entkleidet, gleichwohl aber ihre Methode, die Dialektik, beibehalten und dadurch ihren Sinn ins genaue Gegenteil verkehrt habe 11 , und gegen den die Hegeische Metaphysik ebenfalls grundsätzlich verneinenden, die Philosophie letztlich auf Erkenntnistheorie und Methodenlehre reduzierenden, lediglich einer formalen Rechtsidee nachgehenden und schließlich i m Rechtspositivismus gipfelnden Neukantianismus weit entschiedener artikuliert als die — allein aus der Dialektik zu erklärende — Antithese gegen das Naturrecht 12 . I m übrigen rechtfertigt wohl vor allem die zentrale Rolle, die diese dialektische Methode, also ein modaler Aspekt, i m neuhegelianischen Denken eingenommen hat, dessen Behandlung i n gerade diesem Kapitel der Gesamtdarstellung, i n dem — i m Gegensatz zu den beiden voraufgegangenen Kapiteln — insbesondere methodische Gesichtspunkte der Rechtserkenntnis und der Rechtsverwirklichung, wie sie für Naturrechtssysteme typisch sind, stärker i m Vordergrund stehen 18 . Die dialektische Betrachtungsweise aber läßt sich — wie sich gezeigt hat 1 4 — mühelos auch i n naturrechtliche Gedankengänge einpassen und weist darüber 10

Ebd., S. 186. Während die Hegeische L i n k e bekanntlich glaubte, den durch Hegels idealistischen Ansatz auf den K o p f gestellten Menschen (der „absolute Geist" als das „allgemeine Wesen" des Menschen) endlich wieder auf die Füße gestellt zu haben. 12 Z u r Abgrenzung des Neuhegelianismus zu den „zwischen i h m u n d dem deutschen Idealismus liegenden" Geistesrichtungen vgl. wiederum die sehr instruktive Darstellung von Larenz, a. zuletzt a. O., S. 174 - 188, zur Konzept i o n des Naturrechts als Vorstufe i m dialektischen Prozeß der Rechtsverwirklichung, der zuletzt zur höchsten Stufe, der konkreten Sittlichkeit der Gemeinschaft i m Staat, führt, ebd., S. 162 f., 166 f. 13 S. dazu o. § 16, T. ab Fußn. 3. 14 Vgl. n u r die i n der vorliegenden Untersuchung wiedergegebenen Beispiele w i e o. § 16, T. vor u. ab Fußn. 53, u n d auch schon § 14 I I I , zw. Fußn. 165 u. 168, wo i m Begriff der „Gestalt" (des politischen Volkes) das Ineinanderfließen von inhaltlich-materiellen u n d modalen, von naturrechtlichen, v ö l k i schen u n d hegelianischen Kategorien deutlich w i r d . 11

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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hinaus eine nahe strukturelle Verwandtschaft m i t ihnen auf 15 . Dies ändert freilich nichts daran, daß der Rechtshegelianismus der NS-Zeit i n seinen konkreten inhaltlichen Aussagen — soweit sie überhaupt die Zone des Leerformelhaften durchstoßen haben — sich verschiedentlich mit den zuvor dargestellten, durch die Hervorhebung eines der nationalsozialistischen Leitgedanken typisierten Rechtslehren berührte und stellenweise sogar m i t ihnen unlösbar verschmolzen ist, so etwa m i t dem autoritären Rechtsdenken i n der Tradition des auf Hegel zurückweisenden Machtstaatsgedankens 16 oder m i t der Lehre von einem spezifisch völkischen Gemeinschaftsrecht i n der auch durch dialektische Kunstgriffe nicht zu verschleiernden Überbetonung der Volksgemeinschaft gegenüber dem Individuum 1 7 . Insofern nämlich decken sich Rechtshegelianismus und die durch ihre irrationale Gemeinschaftsideologie gekennzeichneten dezidiert völkischen Lehren, die den Hegeischen Ansatz als a-völkisch ablehnten 18 . Es ist also gar nicht verwunderlich, daß die Lehre vom völkischen Gemeinschaftsrecht nicht zuletzt auch von hegelianisch geprägten Rechtslehrern wie namentlich den Vertretern der sogen. „ K i e ler Schule" nachhaltig beeinflußt worden ist 1 9 . Die hier getroffene Unterscheidung hat jedenfalls nur sehr bedingt etwas m i t einem inhaltlichen Widerspruch rechtshegelianischer Gedankengänge zu den erwähnten anderen Strömungen zu tun. Der Rechtshegelianismus der nationalsozialistischen Hegelianer nimmt seinen Anfang als Gegenbewegung gegen das liberalstaatliche „Weimarer Denken" bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung 15 Dies gilt hauptsächlich i m Hinblick auf die jeweils verwendeten Leerformeln, die — w i e ihre K r i t i k e r nachgewiesen haben — letzten Endes ein System von inhaltlich beliebig manipulierbaren politisch-sozialen Verhaltensnormen ergeben oder doch wenigstens zulassen. Z u diesem Zusammenhang sehr dezidiert: Topitsch, insbes. S. 37, 44, 46, 49 ff., u n d Ernst Wolf: JZ 1967, S. 660 f. u. 750 f. 18 Vgl. dazu wiederum Topitsch u n d Kiesewetter, jeweils a. a. O., passim. 17 Α. M. Gernhuber, S. 185. Vgl. aber etwa Larenz, a. zuletzt a. O., S. 173 f., 187 f.; Binder, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie f ü r die Erneuerung des Privatrechts, i n Hedemann (Hrsg.), Z u r Erneuerung des Bürgerlichen Rechts, S. 22 ff. (s. dazu i. e. u. T. ab Fußn. 43), u n d — zugleich als Beispiel f ü r die handfeste Nutzanwendung, die sich Hegelsches Denken diesseits der Schwelle fachphüosophischer Erörterungen gefallen lassen mußte, w e n n es u m aktuelle Fragen der Rechtsgestaltung ging — Kraiss, Das klagbare subjektive öffentliche Recht i m deutschen Führerstaat, S. 11 - 14. 18 So ζ. B. ausdrücklich Koellreutter, Deutsches Verfassungsrecht, S. 10, 68 (vgl. dazu auch o. §13, zw. Fußn. 36 u. 39, u n d §14111, i n u. ab Fußn. 149); Krieck, Völkisch-politische Anthropologie, Bd. 2 (1937), S. 133 f.; Höhn, Rechtsgemeinschaft u n d Volksgemeinschaft, S. 69 ff.; vgl. ferner die Bemerkung Topitsch' (S. 47 f.), bestimmte Elemente der Hegeischen Philosophie seien von den Nationalsozialisten m i t u n t e r als r e a k t i o n ä r ' empfunden worden; ähnlich auch Gernhuber, S. 185 f. 19 Vgl. die vielfältigen Hinweise auf Autoren w i e Dahm, E. R. Huber, Larenz, Michaelis, Siebert o. i n § 14.

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

und ist insofern gefeit gegen den anderen Rechtslehren der Zeit gegenüber durchaus berechtigten V o r w u r f eines puren Opportunismus. Rechtswissenschaftler wie Binder, der — ursprünglich selbst vom Neukantianismus herkommend und lange einer seiner führenden Köpfe — über diesen hinausging und zum eigentlichen Begründer der neuhegelianischen Rechtsphilosophie wurde, Schönfeld, Emge und Larenz hatten maßgeblichen A n t e i l an dieser neuerlichen Hegel-Renaissance, die nach Larenz 9 Auffassung 20 schon m i t Binders (allgemein noch als neukantisch angesehenen21) „Philosophie des Rechts" (1925) begann. Sie versuchten i n den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht ohne Erfolg, das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur positiven Rechtswissenschaft i m Hegeischen Sinne zu wenden. Der i n dieser Zeit noch dominierenden, vor allem durch Stammler, Kelsen und Radbruch repräsentierten neukantischen Rechtsphilosophie m i t ihrer formal-individualistischen Rechtsidee setzten sie die Rechtsmetaphysik und deren Forderung nach Ausrichtung der Rechtsordnung auf die Idee des Rechts als den immanenten Sinngehalt aller positiven Rechtsnormen entgegen. A n die Stelle des positivistischen Rechtsbegriffs sollte der idealistische, nämlich die Rechtsauffassung des sogen, „objektiven Idealismus" treten 2 2 . Dieser objektive Idealismus geht aus von der Hegeischen Philosophie des Geistes und interpretiert alle Erkenntnis dialektisch als „Entwicklung des Bewußtseinsinhalts", als „Auseinanderlegung seiner Momente" und „Zusammenfassung der entwickelten Momente i n immer neuen Synthesen" 23 . Gerade der objektive Geist — so lautet der zentrale Lehrsatz — ist gekennzeichnet durch seine dialektische Struktur 2 4 . Erst mit Hilfe der Dialektik kann er wahrhaft, d. h. als Ganzes und zugleich i n seinen verschiedenen, einander widersprechenden Teilaspekten, also i n 20

A . a. O., S. 187. Vgl. auch ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin, Heidelberg, New Y o r k 1975, S. 110 f. 21 Vgl. z. B. Welzel, Naturrecht u n d materiale Gerechtigkeit, S. 189 f. 22 Vgl. die entspr. Hinweise zur M o t i v a t i o n u n d zur Entstehungsgeschichte der neuhegelianischen Rechtsphilosophie gegen Ende der Weimarer Republik bei Larenz, Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, insbes. S. 7 u. 97 ff.; ders., Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, S. 186 ff., sowie zu den methodischen Aspekten ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 109 ff. (dort auch zu den mehrfachen Richtungswechseln Binders v o m Neukantianismus über den „objektiven Idealismus" bis zum „absoluten Idealismus": S. 110 f., u n d zur Position Schönfelds, der zunächst an Hegel, später aber stärker an Schelling anknüpfte: S. 116 f.). Eine bemerkenswerte Darlegung u n d Begründung der E n t w i c k l u n g seines „Standpunktes" gibt Binder selbst i m V o r w o r t seiner „Grundlegung zur Rechtsphilosophie". 23 Binder, Logos Bd. 18 (1929), S. 29; Grundlegung zur Rechtsphilosophie, S. 52 ff. 24 Larenz, Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 102 ff.; vgl. auch ders., Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, S. 146.

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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seiner lebendigen, spannungsreichen Vielfalt erfaßt werden 25 . Die Dialektik erweist sich hiernach als die einer universalen Seinsgesetzlichkeit adäquate Denkmethode. Sie allein vermag auch der sich immer nur i n Gegensätzlichkeiten vollziehenden Bewegung des konkreten Ganzen gerecht zu werden, denn alle Gegensätze können sich nur i n einem Umfassenden gegenüberstehen, i n dem sie wieder aufgehoben werden, und zwar i n einem dreifachen Sinne: durch Beseitigung des Gegensatzes, i m Aufbewahren der beiden dialektischen Momente und schließlich i m Hinaufgehobenwerden auf eine höhere dialektische Stufe 26 . Der dialektische Erkenntnisprozeß hat indessen noch eine weitere Perspektive, die sich auf das Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt bezieht. Auch diese stellen nämlich nach Auffassung des objektiven Idealismus nur Teile einer umfassenderen, i m menschlichen Bewußtsein gegenwärtigen konkreten Einheit des Wissens und des Gewußten (und damit auch des Bewußtseins und der Wirklichkeit) dar, i n die sich der objektive Geist selbst auseinandergelegt habe 27 . Man kann nur vermuten, daß von diesen dialektischen Synthesen gegensätzlicher Positionen, die dem nicht i n der Hegeischen Philosophie beheimateten Betrachter häufig unvereinbar erscheinen müssen, eine irrationale Faszination ausging und daß die gefährliche Utopie, alle sozialen Konflikte gleichsam dialektisch, auf einer über den Streitgegnern und Parteien liegenden höheren Ebene, lösen zu können, vor allem darin ihre Ursache hatte. Der Verheißung der Neuhegelianer, i m objektiven Idealismus den Schlüssel zur Aufhebung des von den Neukantianern erneut ans Licht gehobenen fundamentalen Widerspruchs von Realität und Idealität, von Sein und Sollen, von Macht und Recht 28 und damit zur Verwirklichung eines alten Traums der Rechtsphilosophie gefunden zu haben, ist jedenfalls i n der Zeit des heraufdämmernden Nationalsozialismus und des politischen Umbruchs der Jahre nach 1933 — wechselseitige Einflüsse sind hier gewiß nicht auszuschließen — fast eine ganze Generation jüngerer Rechtstheoretiker erlegen (ohne deswegen gleich Hegelianer geworden zu sein). Und das, was der objektive Idealismus i n seiner Erkenntnistheorie für den einzelnen bereithielt, traf ebenfalls den sich gerade spürbar verändernden Ton der Zeit. Es ist — unter Berufung auf die Darstellung Binders — sehr plastisch wie folgt zusammengefaßt und charakterisiert worden: 25

Vgl. Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 23 f. Diese knappe, aber f ü r den vorliegenden Zusammenhang durchaus h i n reichende Darstellung findet sich bei Diemer, A r t . „Materialismus", i n : Fischer-Lexikon, Bd. 11 (Philosophie), 1958, S. 180; eingehender z.B. Larenz, a. zuletzt a. O., S. 149 f. 27 So etwa wiederum Larenz, ebd., S. 158. Vgl. hierzu auch Kirschenmann, S. 37 f. 28 Vgl. Gernhuber, S. 194. 28

14 Anderbrügge

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen Recht"

„Der Mensch muß sich m i t seiner Außenwelt i n einer umfassenden Einheit des Geistes verbunden wissen. Insbesondere darf er sich gegenüber seinen Mitmenschen nicht als das Einmalige u n d Einzige v e r s t e h e n , . . . vielmehr muß er wissen, daß er m i t ihnen i n einer Gemeinschaft steht, w e n n auch i n der F o r m der Besonderheit, i n der F o r m der konkreten Allgemeinheit. D a r u m muß er schließlich auch begreifen: ,mein Bewußtsein ist n u r ein besonderer, individueller F a l l des Bewußtseins überhaupt, ist allgemeines Bewußtsein' 2 9 ."

I n einem so sorgsam vorbereiteten Boden konnte die Saat der nationalsozialistischen Weltanschauung mühelos aufgehen. Der Weg, den der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit dann tatsächlich nahm, bestätigt seine strukturelle Disposition zur Herrschaftsideologie und enthüllt außerdem — angesichts seiner Unfähigkeit, zwischen Geist und Ungeist zu unterscheiden, und der damit einhergehenden völligen Entleerung seines Rechtsbegriffs — sein aporetisches Verstricktsein i m Bannkreis einer i h m sehr real gegenübertretenden nackten Macht, das sich auch durch deren Identifikation m i t dem Recht nicht aufheben ließ. Seine Rechtsphilosophie, die i n dieser Zeit abgesehen von ihren weiterwirkenden Lehrmeistern wie Binder und Schönfeld vor allem i m Kreis der (jüngeren) Rechtslehrer der juristischen Fakultät an der Universität Kiel, der bereits erwähnten „Kieler Schule" m i t Larenz i n der Rolle des führenden Theoretikers 30 , ihre namhaftesten Vertreter besaß, hatte es sich selbst schon verhältnismäßig bald nach Anfang des Dritten Reiches und verstärkt i n den späteren dreißiger Jahren gleichsam zur Pflicht gemacht, die deutsche Rechtswissenschaft zu einem Neubeginn „von Grund auf" zu bewegen und selbst voranzugehen „ i n dem Ringen unserer Zeit u m das artgemäße deutsche Rechtsdenken, das ,konkret 4 und ,ganzheitlich' zugleich ist" 3 1 . Sie erklärte richtungweisend, die künftige Rechtsordnung des deutschen Volkes müsse „aus dem Geist der Volksgemeinschaft, der der Geist des Dritten Reiches ist", geschaffen werden 32 , 29

Kirschenmann, S. 38 m i t wörtlichem Z i t a t von Binder, Der Idealismus als Grundlage der Staatsphilosophie: Z f d K Bd. 1 (richtig: 1935), S. 151. 30 I n dieser Gruppe hatten sich außer Larenz namentlich (in alphabetischer Reihenfolge) Busse, Dahm, Eckhardt, E. R. Huber, Michaelis, Ritterbusch, S chaff stein, Siebert u n d Wieacker zu gemeinsamer wissenschaftlicher A r b e i t zusammengefunden (vgl. Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft v o m B ü r gerlichen Recht seit 1933, S. 11 ff.), deren Ergebnisse — w i e es etwa i m V o r w o r t zu dem v o n Larenz herausgegebenen Sammelband „Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft" (1935) heißt — als „Ausdruck der kameradschaftlichen Zusammenarbeit u n d des wissenschaftlichen Wollens der Kieler J u risten-Fakultät" vorgelegt wurden. Allerdings sind nicht alle Angehörigen der Gruppe als Rechtsphilosophen i. e. S. anzusprechen. Geeint waren sie i n dessen i n dem Bemühen, zentrale Rechtsgebiete — w i e ζ. B. das bürgerliche Recht — auf einer v o m Hegeischen Denken bestimmten methodischen Grundlage zu erneuern. 31 Ebd., Vorwort. 32 Binder, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie f ü r die Erneuerung des Privatrechts, S. 36. Der gesamte Beitrag verfolgte das Ziel, die Hegeische

§17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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und bekräftigte damit die Forderung des „Reichsrechtsführers" Hans Frank, die kommenden Gesetze sollten nicht nur für den Juristen, sondern für das gesamte deutsche Volk geschrieben werden, „zu tiefst i m Volksleben wurzeln, schlicht und volkstümlich" sein 83 . Unter Betonung ihrer fachlichen Zuständigkeit fühlte sich die neuhegelianische Rechtsphilosophie ohnehin berufen, auf die zentrale Frage, woher das neue positive Recht seine verpflichtende K r a f t nehme, die (kaum noch überraschende) A n t w o r t zu geben: Welche Regelungen i m Sinne der praktischen Vernunft (im Gegensatz zu einem rein theoretischen Denken) für das Zusammenleben eines Volkes richtig, für seine Glieder und Organe notwendig und deshalb für die einen wie für die anderen verbindlich sind, auch was gut, schön und wahr ist, läßt sich nicht nach einem für alle Menschen i n gleicher Weise zutreffenden K r i t e r i u m beantworten, sondern hängt ab von der jeweiligen rassisch und völkisch bestimmten Eigenart der Menschen. Demnach kann es auch kein für alle Menschen i n gleicher Weise geltendes Recht geben, da die Gemeinschaftsordnung und damit das Recht eines Volkes ebenfalls Funktion seiner jeweiligen rassischen Besonderheit sind 34 . Binder selbst erklärte ganz offen, daß dieser grundlegende Gedanke ein wesentliches Stück der nationalsozialistischen Weltanschauung darstelle, und zwar insofern, als er den Mitgliedern der nationalsozialistischen Gemeinschaft bereits unmittelbar gewiß sei und sich auf die „Welt als die Ganzheit unserer Bewußtseins- und Erlebnisinhalte" beziehe 35 , nachdem Larenz zuvor (die vorphilosophisch gedachte) Weltanschauung definiert hatte als die „bestimmte Stellung" eines zu der i h m wesensgemäßen Haltung vorstoßenden Volkes „gegenüber den Grundfragen des Lebens und zumal des politischen Daseins" 36 . Die Philosophie sah sich nun vor die besondere Aufgabe gestellt, diese Weltanschauung, u m sie zur tauglichen Grundlage für das Gemeinschaftsleben zu machen, aus der bloßen Subjektivität herauszuheben und sie i n Rechtsphilosophie f ü r das „neue w i r k l i c h e deutsche Gesetzbuch" des bürgerlichen Rechts (ebd.) nutzbar zu machen. 33 V o r w o r t zu eben diesem von Hedemann herausgegebenen Sammelband „ Z u r Erneuerung des Bürgerlichen Rechts" (1938). 34 Binder, S. 20. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Binder i n diesem Zusammenhang (wohl i n der Überzeugung, darin auch m i t der „nationalsozialistischen Theorie" übereinzustimmen) alle absoluten Wertmaßstäbe u n d damit auch das .Naturrecht' ablehnte. Daß relativierendes Denken gleichwohl i n der T r a d i t i o n des Naturrechts stehen kann, hat das Beispiel des von Dietze konstruierten „deutschen" oder gar „nationalsozialistischen Naturrechts", das i m Ergebnis der Binderschen Position sehr nahe kommt, deutlich gemacht (s. dazu o. § 16, passim) u n d ist insbes. von Gernhuber herausgestellt worden (S. 194, auch S. 183 - 186). 35 A . zuletzt a. O., S. 21. 36 Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 1 (s. dazu i. e. o. § 3, Abs. hinter Fußn. 6). 14*

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

objektiv gültiges Wissen zu verwandeln 3 7 . Die dem NS-Regime ganz und gar ergebenen Neuhegelianer — eifrig bemüht, ein Werk „würdig des Fleißes der Gelehrten . . . und — des Führers" entstehen zu lassen 38 — begannen die Arbeit an dem selbstgewählten Auftrag damit, daß sie zunächst einmal alle noch bestehenden Brücken zur Tradition liberaler Rechts- und Staatslehren hinter sich abbrachen. Die Aufklärung, so wurde argumentiert, habe als Gegenstand ihrer Betrachtung nur die beiden Pole Individuum und Menschheit und zwischen diesen nichts gekannt. Sie habe die Menschheit primär als Allgemeinbegriff gedacht, als Inbegriff von allem, was Menschenantlitz trage, und sodann als Idee, als Aufgabe, diesen Begriff i m Individuum darzustellen. Doch dieser ehedem allem moralischen und politischen Denken zugrunde gelegte Menschheitsbegriff habe keinerlei Wirklichkeit gehabt, sei „nichts als eine leere Abstraktion" gewesen 39 . I n das somit geschaffene Vakuum mußte man statt dessen auf breiter Front nahezu unreflektiert das der NS-Weltanschauung entnommene platte Gedankengut der Volkstumsund Rassenmythologie einfließen lassen, das obendrein noch als Beschreibung der Wirklichkeit ausgegeben wurde. A m Ende steht der Offenbarungseid der Rechtsphilosophie und mehr als das, nämlich die in solch erschreckendem Maße bis dahin nicht registrierte Selbsterniedrigung und Selbstaufgabe einer anspruchsvollen wissenschaftlichen Disziplin: „ A u c h w i r kennen die Menschheit, aber uns ist sie keine bloße Abstraktion, sie — die dadurch nichts von ihrer Bedeutung einbüßt! — ist vielmehr w i r k lich, aber n u r i n den natürlichen (!) Gebilden der Rassen u n d den natürlichgeistigen (!) Wesen, die sich aus den Rassen i n der Geschichte entwickeln, den Völkern, u n d so ist menschliches Fühlen, Denken u n d Wollen überhaupt n u r denkbar als blutmäßig, als rassisch u n d völkisch bedingtes Fühlen, Denken u n d Wollen, u n d deshalb k a n n n u r diejenige Gemeinschaftsordnung richtig sein, die nach dem Urteil, u n d d. h. eben nach der rassisch u n d völkisch bedingten A r t eines Volkes, zu fühlen, zu denken, zu w o l l e n u n d zu handeln, richtig ist. I n diesem U r t e i l u n d i n der Gestaltung seines Gemeinschaftslebens, i n der es sich ausspricht, u r t e i l t die Menschheit, die praktische V e r nunft, über das, was Recht u n d Unrecht ist. So zeigt sich i n der Tat, was unsere Weltanschauung als unmittelbare Wahrheit lehrt, unserer nach-denkenden, überlegenden Vernunft als richtig, u n d w i r d aus der bloßen A n schauung Erkenntnis. Das ist die Bedeutung der Philosophie für unsere Weltanschauung, w o m i t das Recht u n d die Notwendigkeit der Philosophie für letztere begriffen ist 4 0 ."

K a m es i n jener Zeit auch i m Grunde nur auf die Verwirklichung zentraler Leitgedanken der NS-Weltanschauung an, die hier kurzerhand 37

So wiederum Binder, S. 21. Ebd., S. 36. 39 Ebd., S. 21. 40 Ebd., S. 21 f. Die (im Original nicht enthaltenen) Hervorhebungen (!) verdeutlichen, daß auch der Neuhegelianismus i m m e r wieder an naturrechtliches Denken anknüpft. 38

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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m i t dem Urteil des Volkes über die Grundsätze seiner Gemeinschaftsgestaltung identifiziert und dann auch noch m i t der höheren Weihe philosophischer Erkenntnis ausgestattet wurde, so versprach doch die Berufung auf den deutschen Idealismus m i t seinen dem deutschen B i l dungsbürgertum vertrauten großen Namen zusätzliche Anerkennung und beließ die Neuhegelianer selbst w o h l i n der trügerischen Hoffnung, die Lehre Hegels i m Nationalsozialismus bewahren und diesen sogar „zum Geistigen läutern" zu können 41 . Die Absage an einen „abstraktallgemeinen Gedanken der Menschheit" jedenfalls und auch den hohen Anspruch, der vorgeblich noch an das (in Wahrheit längst durch vorgefertigte Ergebnisse überflüssig gewordene) Urteilsvermögen des Volkes gestellt wurde, sah man gerechtfertigt i n der Philosophie vornehmlich des jungen Hegel. Der ,Gestaltlosigkeit des Kosmopolitismus' — einem dem abstrakten Denken entstammenden Ideal — m i t seiner das Leben ertötenden Allgemeinheit, seinen zu ,Leerheiten der Rechte der Menschheit' führenden Abstraktionen und Formalitäten habe er schon den lebendigen Reichtum der Völkerindividualitäten und das Postulat der Hingabe an ein konkretes, individuelles Volksganzes als eine echte Gemeinschaft entgegengesetzt 42 . Das Volk wiederum sei von i h m — anders als später i m System der Rechts- und Staatsphilosophie, i n dem der Staat an die Stelle des Volkes getreten sei — als die absolute sittliche Totalität und das i m Einklang mit der Gemeinschaft stehende individuelle Leben nach seinen Sitten und sittlichen Anschauungen als Ausdruck des sittlichen, reinen Geistes des Volkes begriffen worden 43 . Damit war zugleich das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft — gleichsam die Gretchenfrage des totalitären Regimes an das i h m angediente philosophische Substrat — angesprochen. Die Neuhegelianer i m Dritten Reich gaben zunächst einmal pflichtschuldigst die einzig mögliche A n t w o r t : Es sei selbstverständliche Pflicht jedes einzelnen, sich der Gemeinschaft unterzuordnen und seinen Nutzen dem Gemeinnutzen hintanzusetzen. Dabei hatte die „nach dem Sinn i n den Dingen fragende" Philosophie, angeblich die „unentbehrliche Grundlage . . . i n bezug auf die Grundvoraussetzung alles Rechts und damit für die leitende Idee der Gesetzgebung", (nicht etwa den wahren Gehalt des Begriffs der Gemeinschaft forschend zu ergründen, sondern) die bereits vorgegebene folgende Beschwörungsformel „begreiflich zu machen": „ . . . unsere Gemeinschaft (muß) Inhalt meines eigenen Lebens sein, . . . dieses Leben (muß) bereits unmittelbar Gemeinschaftsleben sein, 41

Vgl. dazu Gernhuber, S. 186. Larenz, Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, S. 156. 43 Ebd., S. 151 f., 160,167. 42

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen

echt"

damit die Gemeinschaft von mir erlebt werden kann 4 4 ." Gleichwohl versuchte man, wenigstens den methodischen Schein der Hegeischen Lehre zu wahren. Gestützt auf die immerhin einen schmalen Spielraum lassende Feststellung, der Führer selbst habe immer wieder „ m i t bewunderungswürdiger Klarheit" betont, daß Rechtsordnung für ihn Gemeinschaftsordnung sei und das Recht der Persönlichkeit für den Nationalsozialismus unantastbar gelte, verkündete der Rechtshegelianismus die dialektische Grundforderung, die „Gegensätze: Gemeinschaft und Einzelpersönlichkeit i n eine höhere Einheit aufzuheben, die Synthese zwischen ihnen zu finden und zu begreifen, daß sie nicht i n der Weise des starren Entweder-Oder einander gegenübergestellt werden dürfen". Vielmehr müsse angesichts der höheren Einheit die Einzelpersönlichkeit als Wirklichkeit der Volksgemeinschaft und diese als wirklich i n den Einzelpersönlichkeiten ihrer Mitglieder verstanden werden 45 . Die Ausweitung des Individuellen zum Konkret-Allgemeinen i m (vom Volksgeist vermittelten) wechselseitigen Durchdringen aller Seiten des Lebens untereinander bis zur Aufhebung i n der unbegrenzten Totalität (der Volksgemeinschaft, später: ihrer konkreten Sittlichkeit, i m Staat) ließ sich zu Recht als der Idealfall Hegelscher Dialektik schlechthin und überdies als Bestimmung des Wesens der Gemeinschaft wie auch des einzelnen Menschen darstellen 4®. Danach ist das Individuum nicht ein „abstrakt einzelnes Ding", sondern Träger des zur Freiheit über die Natur entwickelten und damit selbstbewußten allgemeinen Geistes, soweit dieser i n i h m wirklich und wirksam ist, jenes Geistes also, der auch das Wesen und Leben eines Volkes als eines geschichtlichen Individuums ausmacht. Selbstbewußtsein, persönlicher Stolz, persönliche Ehre, Lebensgestaltung des einzelnen sind demzufolge nur vorstellbar als „Äußerung des allgemeinen Geistes seines Volkes, dem er von B l u t und Rasse, aber auch von Seele und Geist angehört". Sie sind der Beweis dafür, „daß sich der Einzelne seiner rassischen und völkischen Bedingtheit bewußt ist und diese aus seinem freien Wollen b e j a h t . . . " . Ebenso ist ja auch die Gemeinschaft, i n der der Mensch lebt, durch die rassenmäßige Eigenart des Volkes konkret bestimmt 4 7 . Dieser Ausgangspunkt gibt zugleich das Maß der Freiheit des Individuums i m (neu)hegelianischen System an: Da die Idee der Freiheit i n ihrem tieferen Sinn als schöpferische K r a f t des m i t ihrer Hilfe alle Be44 Binder, a. zuletzt a. O., S. 22 f. Vgl. auch die Hinweise o. i n Fußn. 17. E i n schränkend m e r k t Binder i. ü. n u r wenig später an (S. 24), nicht die Philosophie schlechthin sei i n der Lage, diese Zusammenhänge aufzuzeigen, sondern „eigentlich n u r eine bestimmte A r t von Philosophie, nämlich die, zu der ich mich seit Jahren durchgearbeitet habe". 45 Ebd., S. 23 f. 46 Vgl. Larenz, a. zuletzt a. O., S. 148 f., 151. 47 Binder, S. 24 f.

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Ziehungen durchdringenden und zum Ganzen verknüpfenden, i n allem Gegebenen sich selbst wiederfindenden und dadurch aus der größten Trennung i n die konkrete Einheit m i t sich zurückkehrenden Geistes ihrerseits das ,alle Beschränkung Aufhebende 4 , die ständige Zurücknahme' alles Besonderen und daher (!) Beschränkten i n die unendliche Totalität bedeutet, ist der einzelne Mensch „ u m so freier, je reiner er diese Totalität des Geistes i n sich wiederspiegelt, je mehr er also die Besonderheit seiner menschlichen Existenz i n einem höheren Allgemeinen aufhebt". Die Gemeinschaft beschränkt demnach nicht die Freiheit des einzelnen, sondern erweitert sie, denn durch die frei gewollte Einordnung i n die Gemeinschaft befreit sich das Individuum von den Schranken seiner Selbstsucht. Folglich ist — wie die höchste Allgemeinheit zugleich die höchste Individualität ist — auch ,die höchste Gemeinschaft die höchste Freiheit' 4 8 , während die Freiheit des Individualismus als Sphäre bloß eigennütziger Interessenbefriedigung i n ihrem Beharren auf einer dem Wesen des Geistes widersprechenden Absonderung für wahre Gemeinschaft keinen Raum läßt und sich damit als ,negative Freiheit', als Unfreiheit erweist 49 . Ein ,freier Spielraum' für den einzelnen darf nur u m der inneren Lebendigkeit des Ganzen w i l l e n bestehen. Er w i r d nach Inhalt und Umfang durch dessen Interesse bestimmt 5 0 . Das Recht endlich — hier i m Sinne des entwickelten Systems der Hegelsehen Rechts- und Staatsphilosophie verstanden nicht als Vorstufe, sondern gemeinsam m i t dem Staat als höchste Stufe des objektiven Geistes, der sittlichen Totalität — verwirklicht die Freiheit und den Geist i m geschichtlichen Leben der Völker (Recht und Staat als ,Reich der verwirklichten Freiheit'). Der zum Leben i n der Gemeinschaft verpflichtete Mensch seinerseits hat Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit nur als ein Glied derselben 51 . Verbindet man nun diese immerhin zum Kern des Hegeischen Denkens gehörende Aussage m i t der ebenfalls darauf gegründeten, freilich ungleich banaleren These Binders, menschliches Denken und Wollen sei „trotz seiner Freiheit und i n seiner F r e i h e i t . . . blutund artgebunden" 52 , dann ist man bereits bei jener Lehre von der „volksgenössischen Gliedstellung" 5 3 , auf die der Neuhegelianismus i m Dritten Reich den wohl nachhaltigsten Einfluß ausgeübt hat. Sein Beitrag bestand vor allem i n der geistigen Untermauerung des Kampfes gegen den als individualistisch verpönten Begriff des subjektiven Rechts, an dessen Stelle die durch das Recht als völkische Lebens48 49 50 51 52 53

Larenz, a. a. O., S. 151, 161 f., 167 f., 173 f. Ebd., S. 151,153, 187 f. (s. dazu bereits o. § 14 I I b, T. ab Fußn. 129). Ebd., S. 158. Ebd., S. 161,167. S. 25. S. dazu o. § 14 I I b.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

O r d n u n g zugewiesene G l i e d s t e l l u n g des Volksgenossen i n der V o l k s gemeinschaft t r e t e n s o l l t e 5 4 . I n dieser U m w e r t u n g k a m der hegelianische G r u n d s a t z z u m A u s d r u c k , daß f ü r die V e r w i r k l i c h u n g des Rechts der Gemeinschaft n i c h t das P e r s o n - S e i n ü b e r h a u p t , s o n d e r n das k o n k r e t e G l i e d - S e i n m a ß g e b e n d sei 5 5 . Da das Recht, die „Lebensform der Volksgemeinschaft", m i t der sie als immanente Gliederung u n d Ordnung gegeben u n d i n einem dialektischen u n d konkreten Sinne eins sei, die Aufgabe habe, das Zusammenleben der Glieder des Volkes i n echter u n d freier Gemeinschaft u n d nach dem von i h r v o r gezeichneten Z i e l b i l d der Gerechtigkeit zu sichern, stehe es nicht länger als Zwangsordnung über den Individuen. Diese stünden vielmehr im Recht, d. h. sie hätten als Glieder des Volkes i n der Ordnung des Volkslebens, die sie u m fange u n d halte, ihren bestimmten Platz, ihre Funktion, kurz: ihre Gliedstellung 5 6 . Auch als Glied engerer Gemeinschaften w i e der Familie oder eines Standes sei der Volksgenosse i m Recht, nämlich i n den Ordnungen, i n die die Volksordnung sich gliedere. Doch insofern zeige sich zugleich, daß nicht jeder Volksgenosse Subjekt aller n u r denkbaren Rechte u n d Pflichten sein könne. Er besitze i m m e r n u r eine gestufte, konkrete Rechtsfähigkeit zu bestimmten Gliedstellungen innerhalb der Volksgemeinschaft 5 7 . I n h a l t dieser Rechtsstellung sei jeweils i n erster L i n i e ein Sollen, das aus einem Sein, dem konkreten Glied-Sein fließe. Berechtigungen u n d Befugnisse seien dem einzelnen n u r u m der Pflicht gegenüber der Gemeinschaft w i l l e n gewährt, d. h. zur Durchführung der i h m von eben der Gemeinschaft zugewiesenen A u f gaben. Sie seien (weil zielgebunden u n d pflichtbestimmt) nicht von diesen ablösbar, nicht ins Belieben des Berechtigten gestellt u n d grundsätzlich u n verfügbar w i e unverzichtbar. W e i l der als Gemeinschaftsglied anerkannte Volksgenosse i n seiner Rechtsstellung ,sein Recht' — i. S. des i h m i n der Gemeinschaft nach seiner Leistung Zukommenden — u n d seine Ehre habe, könne i h m die Rechtsstellung aber auch nie w i l l k ü r l i c h entzogen werden 5 8 . D e r K r e i s a l l dieser u n m i t t e l b a r aus der Hegeischen P h i l o s o p h i e a b g e l e i t e t e n T h e s e n ließ sich m i t d e m f o l g e n d e n d i a l e k t i s c h e n A s p e k t schließen: W i e i m G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e n der Gegensatz z w i s c h e n d e m e i n z e l n e n u n d der G e s a m t h e i t so sei i m r i c h t i g v e r s t a n d e n e n B e g r i f f des Rechts der Gegensatz z w i s c h e n , o b j e k t i v e m 4 Recht (als f o r m a l e Z w a n g s o r d n u n g ) u n d s u b j e k t i v e m ' Recht (als p r i v a t e W i l l e n s m a c h t ) ü b e r w u n d e n , da Recht i. S. v o n k o n k r e t e r R e c h t s s t e l l u n g u n d Pflicht e i n u n d dasselbe sei 5 9 . 54 Einen knappen Überblick über diese Bestrebungen gibt Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 339 ff. 55 Vgl. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung u n d Philosophie, S. 40, sowie Rechtsperson u n d subjektives Recht, i n : ders. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 226. 56 Ebd., S. 239 f., 260. 57 Ebd., S. 242 ff., 259 f. Vgl. auch ders., Z u r Logik des konkreten Begriffs: D R W V (1940), S. 279 ff. (288 f.) — s. dazu des näheren u. T. ab Fußn. 64 —. 58 Ders., Rechtsperson u n d subjektives Recht, S. 244 - 249, 259 f. 59 Ebd., S. 250. Ebenso Siebert, V o m Wesen des Rechtsmißbrauchs, i n : Larenz (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, S. 193 f., S. 201 -

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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Der i m Vorangehenden enthaltene Lehrsatz, daß Rechtsfähigkeit als gewandelter Grundbegriff der neuen Rechtswissenschaft nicht mehr die Fähigkeit zur Innehabung subjektiver Rechte, sondern zur Teilhabe am Rechtsleben der Gemeinschaft und zu bestimmten Gliedstellungen innerhalb der Volksgemeinschaft bedeute 60 , beseitigte indessen nicht nur den für eine liberalistische Privatrechtsdogmatik tatsächlich entscheidenden Begriff des subjektiven Rechts, er ersetzte vielmehr auch — und darin liegt die barbarische Konsequenz dieser einem „objektiven Idealismus" verpflichteten Lehre — den bis dahin selbstverständlichen Grundsatz, daß jeder Mensch die allgemeine Rechtsfähigkeit kraft Geburt besitze 61 , ganz bewußt durch die anthropologisch auf Binders These von der B l u t und Artgebundenheit menschlichen Denkens und Wollens hinweisende Parole: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist 6 2 ." Larenz scheute sich nicht, offen zu erklären, dieser (Punkt 4 des Parteiprogramms der NSDAP von 192063 leicht abwandelnde) Satz „könnte . . . an die Spitze unserer Rechtsordnung gestellt werden", denn Rechtsgenosse sein, also i m Recht zu leben und eine konkrete Gliedstellung auszufüllen, sei nun einmal das Vorrecht des Volksgenossen. Wer dagegen außerhalb der Volksgemeinschaft stehe, stehe auch nicht i m Recht und könne daher kein Rechtsgenosse sein, sondern allenfalls als Gast eine abgeleitete und beschränkte Rechtsfähigkeit genießen 64 . Zu diesem Ergebnis stießen die Neuhegelianer auch noch auf einem parallelen ebenfalls tief i m Hegeischen Denken wurzelnden Wege, nämlich über die zuvor bereits m i t angeklungene Lehre vom „konkretallgemeinen Begriff" vor. Ein formallogisches System — Grundbedingung positivistischen Denkens — könne nicht als oberstes Leitprinzip für die Auslegung und Fortbildung des Rechts herangezogen werden. Es bleibe notwendigerweise unzulänglich, da die i n ihm verwandten abstrakt-allgemeinen Begriffe nur einzelne isolierte Merkmale, nie aber die ganze Fülle des i n einem Rechtsinstitut angelegten Sinns wiedergeben könnten. Der durch den abstrakt-allgemeinen Begriff bewirkte Verlust an Sinngehalt erschwere nicht zuletzt die V e r w i r k lichung der Rechtsidee. Ganz anders angeblich der ihm entgegengesetzte „konkret-allgemeine Begriff": Vom Standpunkt der traditionellen, for203, u n d — hier freilich eher „völkisch" als v o m Geiste Hegels geprägt — ders., Die Volksgemeinschaft i m bürgerlichen Recht, i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 961 - 963,966. 00 Larenz, a. zuletzt a. O., S. 259. 81 Vgl. § 1 B G B : „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt m i t der V o l l endung der Geburt." 62 Larenz, a. a. O., S. 241, 259. 63 S. o. § 6 I, 2. Abs. 84 So wiederum Larenz, a. zuletzt a. O.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

malen oder abstrakt-begrifflichen Logik aus ein Widerspruch i n sich (dieses ausdrückliche Zugeständnis fiel seinem Wortführer Larenz gewiß nicht schwer), erschließe er sich in seiner logischen Struktur nur dem, der sich auf den Boden der hegelianischen Logik begebe 85 . Sie erst ermögliche es, „Wesen und Erscheinung, jenes als den einheitlichen schöpferischen Grund und diese als die Mannigfaltigkeit der empirischen und geschichtlichen Ausformungen, als eins zu denken" 68 . Dem abstrakt-formalen Denken wurde (in vielen Fällen gewiß nicht zu Unrecht) zugleich vorgeworfen, den sinnlosen Versuch unternommen zu haben, ganz verschiedenartige Lebensverhältnisse und Rechtsgebilde unter möglichst weit gefaßte und daher möglichst inhaltsarme A l l gemeinbegriffe zu pressen. Dabei habe es an die Stelle des Reichtums, der gegliederten Fülle der wirklichen Lebensordnungen jenes abstrakt erdachte, logisch geschlossene System gesetzt. Demgegenüber nehme der konkrete Begriff die Funktion wahr, zur Erkenntnis der Einheit i n der Vielfalt und der Gliederung zu verhelfen. Er vernichte die Mannigfaltigkeit der Lebensphänomene nicht, nehme sie vielmehr als Prinzip seiner eigenen Fortbestimmung i n sich auf und weise daher über sich selbst hinaus. Als dialektischer Begriff sei er — getreu der Hegeischen Konzeption — als konkretisierungsbedürftig und gleichzeitig selbst als Konkretion zu betrachten. Die den Dingen innewohnenden Unterschiede schließe er somit nicht von sich aus, sondern begreife er gerade i n sich 87 . Larenz hat an dieser Lehre ungeachtet der i n ihr angelegten Relativierungen beharrlich festgehalten und sie auch nach dem Zusammenbruch des von ihr bedienten und unterstützten NS-Unrechtssystems ohne nennenswerte Abstriche weiterentwickelt. A u f der Ebene dieser Methodenlehre sei es möglich, die rechtsethischen Prinzipien, die sachlogischen Strukturen und vor allem die Lebenszusammenhänge stärker zu berücksichtigen. I n ihnen sei nämlich schon ein gewisser ,Sinn' zu finden, zeige sich, daß das soziale Dasein vor jeder bewußten Regelung bereits sinnhafte ,Ordnung' sei 68 . Auch die Rechtsinstitute kämen vor jeder Normierung durch den Gesetzgeber schon i n der Rechtswirklichkeit vor, und so unscharf ihre Konturen auch noch seien, sei i n diesen doch der rechtliche Sinn und die soziale Funktion des Instituts erfaßt. I m Gegensatz zum abstrakten Allgemeinbegriff, der infolge seiner Abstraktion inhaltlich verarmt sei und von dem Total Verständnis einer Regelung gerade fortführe, sei der konkrete Begriff ein dem gesamten Sein zugrunde liegendes, wirklichkeitsgestaltendes Prinzip. Er könne — ein 85

Ders., Z u r L o g i k des konkreten Begriffs: D R W V (1940), S. 279. Ders., Rechts- u n d Staatsphilosophie der Gegenwart, S. 163. 87 Ders., Rechtsperson u n d subjektives Recht, S. 226. 88 Die nahe Verwandtschaft m i t dem konkreten Ordnungsdenken ist u n abweisbar. S. dazu o. § 12, zw. Fußn. 4 u. 5 sowie bei Fußn. 26 u. 27. 88

§17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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geradezu klassisch-naturrechtliches Kriterium! — i m Wege vernünftigen Nach-Denkens aus den Dingen erkannt werden, weil die Dinge — nach Hegel — das, was sie sind, durch die Tätigkeit des ihnen innewohnenden und i n ihnen sich offenbarenden Begriffs sind 89 . Der Begriff durchdringt die „bunte Kinde", mit der das Vernünftige, „was synonym ist m i t der Idee" und das i n einem „unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen" wirklich i n die äußere Existenz hervortritt, seinen Kern, die immanente Substanz, umzieht, er durchdringt sie, „ u m den inneren Puls zu finden und i h n ebenso i n den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen" 7 0 . Dieser Gedanke Hegels aus der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie findet sich i n unmittelbarem Zusammenhang m i t der berühmten Sentenz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" 7 1 . Es liegt nahe, von solch einseitig interpretierbarer Grundlage aus herrschaftsbestätigende, antiliberale Konsequenzen zu ziehen. Genau diesen Weg nahm auch die Lehre vom „konkret-allgemeinen Begriff". Indem sie — ganz i m Geiste Hegels 72 — die konkreten Gemeinschaftsverhältnisse etwa der Familie oder des Staates als i n sich vernünftig begriff, tat sie den entscheidenden Schritt, sie auch als vorbildlich, als i n einem rechtlich maßgeblichen Sinne „richtig" aufzufassen. Es war von daher schlüssig, auch die abstrakte Person zur konkreten Gliedperson ,aufzuheben', das hieß, nicht länger auf die allen Menschen als Menschen zukommende Personqualität abzustellen, die i n der bisherigen Privatrechtsdogmatik bei der Erörterung der Rechtsfähigkeit dazu geführt habe, daß der Unterschied von Volksgenossen und Fremden, „also von Rechtsgenossen und Nicht-Rechtsgenossen", unbeachtlich geblieben sei. K ü n f t i g sollte sich die Frage der Rechtsfähigkeit somit vielmehr nach der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk (oder gar einer Rasse) entscheiden 73 , denn für die Rechtsstellung der Persönlichkeit bedeute es einen wesentlichen Unterschied, ob jemand „Rassegenosse oder Rassefremder" sei 74 . Der abstrakte Begriff, demzufolge jeder Mensch i n der gleichen Weise w i e jeder andere »rechtsfähig' sein solle, habe m i t der v ö l l i g nichtssagenden Behauptung, Rechtsfähigkeit sei die Fähigkeit, irgendwelche Rechte u n d Pflichten zu haben, u n d i n diesem Sinne sei die Rechtsfähigkeit aller Menschen 69 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., Berlin, Heidelberg, New Y o r k 1969, S. 160, 418 f., 476 f. (in der 3. Aufl. [1975] ζ. T. verändert). 70 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede (HoffmeisterAusgabe, S. 15). 71 Ebd., S. 14. 72 Ebd., S. 15 f. 73 Larenz, Rechtsperson u n d subjektives Recht, S. 229 f. 74 Ders., Über Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 52.

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2. T e i l : Die Lehren v o m „völkischen

echt"

p r i n z i p i e l l die gleiche', n u r die Wesentlichkeit der Unterschiede zugunsten eines geistig-politisch aus der Gedankenwelt der A u f k l ä r u n g u n d der französischen Revolution stammenden Gleichheitsgedankens verdeckt. Der konkretallgemeine Begriff der Rechtsfähigkeit nehme demgegenüber den „ I n h a l t der reichsten Gestaltung — der Rechtsfähigkeit des Vollgenossen — " i n sich auf u n d erlaube es, hiervon andere Gestaltungen — „ w i e die Rechtsfähigkeit des nicht artfremden Ausländers u n d die des Rassefremden" — zu unterscheiden, indem verdeutlicht werde, w i e diese Gestaltungen nicht alle Momente des (voll entwickelten) Begriffs uneingeschränkt verwirklichten. Denn „ v o n der umfassenden Rechtsfähigkeit des Vollgenossen (Reichsbürgers) unterscheidet sich vor allem die geminderte des ,werdenden Vollgenossen', die des nicht der politischen Gemeinschaft angehörigen (staatsfremden), aber nicht a r t fremden Ausländers u n d endlich die des Rassefremden. Dem einen fehlt n u r die politische Rechtsfähigkeit, dem anderen auch das Connubium, die Möglichkeit, bauernfähig zu sein usw." 7 5 .

M i t entsprechenden materialen Inhalten wurden auch andere klassische Privatrechtsinstitute i m Zuge dieser konkreten Begriffsbildung gefüllt. Rüthers hat darauf aufmerksam gemacht, daß der „konkretallgemeine Begriff" seiner Funktion nach nicht nur für die Wirklichkeit des Rechtslebens und für die sich wandelnden sozialen Tatsachen, sondern darüber hinaus auch für die jeweils herrschenden politisch-ideologischen Wertvorstellungen offen war und ist. Er spiegele gewissermaßen den Status quo der jeweiligen sozialen und politischen Situation wider 7 6 . Diese Öffnung geschah keineswegs unbewußt. Larenz selbst verstand ja den konkreten Begriff als über sich selbst hinausweisend 77 , und zwar auf einen „übergeordneten Zusammenhang" hin 7 8 , unter dem, wie Rüthers zutreffend festgestellt hat 7 9 , nur die von Larenz immer wieder als sinn- und maßgebend herausgestellte „völkische Lebensordnung" oder „Gesamtordnung" 80 zu verstehen sein konnte. Diese aber besagte i n der gegebenen historischen Situation tatsächlich nichts anderes als die tragenden Grundsätze der nationalsozialistischen Welt- und Rechtsanschauung. Solche Schlußfolgerungen bewegen sich i m übrigen durchaus i n Hegeischen Gedankengängen: Wenn die das Volksleben beherrschenden geistigen Mächte auch die inhaltlich richtigen und vernünftigen sind, dann war es nur konsequent, den Geist der Volksgemeinschaft, 75 Ders., Z u r Logik des konkreten Begriffs: D R W V (1940), S. 289 (Hervorhebungen i m Original); ähnlich bereits i n : Über Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 52 f. 76 S. 307 ff. (311 f.). 77 S. bereits o. vor Fußn. 67. 78 D R W V (1940), S. 294. 79 S. 311. 80 S. dazu auch schon o. § 12, vor Fußn. 55, u n d hier, v o r Fußn. 54 u. hinter Fußn. 55. V o n der angestrebten bzw. angeblich bereits v e r w i r k l i c h t e n Einheit zwischen Recht u n d „völkischer Lebensordnung" sprechen i. ü. auch andere Vertreter der „ K i e l e r Schule" w i e Michaelis (s. o. § 14, v o r Fußn. 62 u. i n Fußn. 99) u n d E. R. Huber, Verfassungsrecht, S. 240 f. (ebd., S. 166 f.: Reich als völkische Gesamtordnung).

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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aus dem die Rechtsordnung erneuert werden sollte, mit dem Geist des Nationalsozialismus zu identifizieren 81 . Dieser wiederum war dann i n die einzelnen Rechtsinstitute m i t einzubringen, von denen es hieß, daß sie wie die Rechtswissenschaft selbst wieder auf die Idee des Rechts als den immanenten Sinngehalt aller positiven Rechtsnormen ausgerichtet werden sollten 82 . Die Rechtsidee ihrerseits schließlich, die es doch vorgeblich i n ihrer ganzen Fülle neu zu verwirklichen — d. h. i n den Rechtsinstituten wie Ehe, Vertrag, Eigentum, Volk, Staat usw. spezifisch zu entfalten — galt, hatte man i n dem der Zeit verordneten Gedanken des verpflichtenden Wertes der Gemeinschaft verkörpert zu sehen. Das Ergebnis allen reformerischen Bemühens war damit einmal mehr von vornherein vorgezeichnet: Nicht allein i n den jeweiligen konkreten Begriffen ist die Rechtsidee immanent angelegt, das (großenteils doch erst noch zu schaffende) nationalsozialistische Recht überhaupt ist als jene „völkische Gesamtordnung" — i m Unterschied zu der bloßen Summe aller Rechtssätze — bereits „eine innere Einheit, ein Ganzes als der Ausdruck der i h m zugrunde liegenden Rechts- und Weltanschauung, seiner sittlichen Idee" 8 3 . Viele Aspekte des Fortwirkens der Hegel-Tradition i m von neuhegelianischen Rechtslehrern rechtstheoretisch nicht unwesentlich beeinflußten nationalsozialistisch-völkischen Rechtsdenken mußten i m Rahmen dieser Darstellung unerörtert bleiben. Dazu gehört namentlich das Erbe des von Hegel entscheidend geprägten autoritären Machtstaatsgedankens, der i m Dritten Reich auf unheilvollste Weise geschichtliche Gestalt gewonnen hat 8 4 . A u f einen lückenlosen Bericht kann es hier ohnehin nicht ankommen, zumal auch die zuvor gerafft dargestellten rechtshegelianischen Positionen bereits ein i n diesem Zusammenhang höchst gewichtiges Ergebnis der Hegel- und Nachhegel-Kritik bestätigen dürften: Der dialektische Gedanke etwa, daß der Staat ,als die Einheit des allgemeinen Willens und der besonderen Willen seiner Staatsbürger 4 und als ,Wirklichkeit der sittlichen Vernunft 4 über die W i l l k ü r und die Interessen der einzelnen Menschen erhaben ist und daher ,als der wahrhaft sittliche, vernünftige Wille den Einzelnen schlechthin und kategorisch bindet und binden kann, weil der allgemeine Wille die Wahrheit und Vernünftigkeit des Einzelwillens ist, der an sich eben selbst allgemeiner Wille ist 4 , daß also Staatswille und Einzelwille ,dem Begriff oder dem Wesen nach identisch sind 4 , obwohl sie — wie ein81

S. o. vor Fußn. 32. Larenz, Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, S. 188. 83 Ders., Über Gegenstand u n d Methode des völkischen Rechtsdenkens, S. 11. 84 S. dazu insbes. Topitsch, u. a. S. 36, 43 - 48, sowie Kiesewetter, a. jeweils a. O. 82

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

geräumt w i r d — i n der empirischen Wirklichkeit auseinandergehen können und häufig auseinandergehen, stellt — dies hat Topitsch überzeugend nachgewiesen — eine reine Leerformel dar, „ein typisches Beispiel jener essentialistischen Scheinargumente, die aus einer Kombination von definitorischen Festsetzungen und vorausgesetzten Wertungen bestehen". Die i n die Definition eingebrachten erwünschten Wertungen verdeutlichen die rechtspolitische, ja ideologische Funktion solcher Gedankengänge 85 . Beim konkret-allgemeinen Begriff i m besonderen handelt es sich — wie schon beim Begriff der konkreten Ordnung — i m Hinblick auf die vermittelte rechtsethische Substanz u m „Begriffshülsen" für beliebig auswechselbare materiale Inhalte, die weit geöffnet sind „zu den jeweiligen sozialen Realitäten und den herrschenden politisch-ideologischen Wertvorstellungen" 8 ®. Daß derartig leerformelhafte Begriffe nicht nur auf eine bestimmte Gesellschaftsordnung oder Weltanschauung gemünzt werden können und sich m i t ihnen die verschiedensten Herrschafts- und Rechtssysteme, etablierte oder angestrebte Machtpositionen rechtfertigen lassen, mache gerade ihre Eigenart, ihre „raison d'être" aus und erkläre ihren „überwältigenden historischen Erfolg" 8 7 . Diese (klassische88) Ambivalenz bringe es m i t sich, daß von einem Mißbrauch der Hegeischen Dialektik bei Inanspruchnahme entweder durch den Rechts- oder den Linkshegelianismus nicht die Rede sein könne, da die verschiedenen Möglichkeiten der inhaltlichen Erfüllung solcher gar keinen eigenen Informations- bzw. Normgehalt besitzenden Leerformeln einander logisch gleichwertig seien. Ein Mißbrauch könne höchstens darin liegen, daß die Formeln bemüht würden, u m bestimmten „politisch-moralischen Positionen und Forderungen den Anschein höherer oder gar absoluter Dignität zu verleihen" 8 9 . Dieser Vorwurf indessen trifft — wie auch hier aufgezeigt werden konnte — die auf den Nationalsozialismus eingeschworenen Neuhegelianer i n einem entscheidenden Punkt. Gernhuber hat dazu angemerkt, sie seien „unter steter Anknüpfung an idealisiertes und verklärtes Gedankengut der deutschen Vergangenheit" vorangeschritten bis zu den Umwertungen, „die andere unmittelbar und viel unreflektierter aus den so oft berufenen ,einfachen Grunderkenntnissen 4 des Nationalsozialismus ableiteten" und hätten Ergebnisse angeboten, „die sich von denen der anderen nur wenig oder gar nicht unterschieden" 90 . 85 Topitsch, S. 44, hier unter Bezugnahme auf Binders Aufsatz: Der autoritäre Staat: Logos Bd. 22 (1933), S. 126 - 160 (149 f., 158). 86 Rüthers, S. 313, der dort allerdings sprachlogisch unrichtig v o n „ i n h a l t lich auswechselbaren Begriffshülsen" spricht. 87 Ebd. sowie Topitsch, S. 51. 88 S. o. vor u. hinter Fußn. 2. 89 S. wiederum Topitsch, S. 50 f.

§ 17 Der Neuhegelianismus i n der NS-Zeit

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Über den Widerhall, den die neuhegelianischen Lehren i n der NS-Zeit gefunden haben, gehen die Meinungen auseinander: Während — wie bereits erwähnt 9 1 — Gernhuber konstatiert, die Neuhegelianer seien nichts weiter als eine kleine, jederzeit überschaubare Gruppe von belächelten oder auch gescholtenen Außenseitern und von „den anderen" durch eine tiefe K l u f t getrennt geblieben, ihre Rechtsphilosophie sei geduldet, aber nicht angenommen worden, sie habe, u m sich zu assimilieren, yyHegel i n Stücken preisgegeben" und doch keinen Erfolg errungen 92 , sieht Kiesewetter — allerdings ohne jeden näheren Nachweis — i n Larenz den „ w o h l einflußreichsten nationalsozialistischen Rechtstheoretiker" überhaupt 9 3 . Welche Auffassung hier die letztlich zutreffende ist, läßt sich i m Rahmen dieser Untersuchung nicht abschließend klären. Fest steht jedenfalls, daß die zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen der neuhegelianischen Rechtstheoretiker nicht zur Erreichung der von ihnen proklamierten Ziele geführt haben. Namentlich die angestrebte Erneuerung des bürgerlichen Rechts aus dem i m Sinne der Hegelsdien Philosophie zu begreifenden Geist der Volksgemeinschaft, die i n dem — vom früheren liberalistischen bürgerlichen Recht „grundverschiedenen" — „neuen wirklichen deutschen Gesetzbuch" ihre sichtbarste Verwirklichung finden sollte 94 , gelang nicht. A u f der anderen Seite darf jedoch ihre wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Bedeutung nicht zu gering veranschlagt werden: Alles sich i n den Bahnen der Lehren von einem „völkischen Recht" bewegende rechtswissenschaftliche und insbesondere rechtstheoretische Schrittum mußte sich zwangsläufig m i t der Fülle der von den Neuhegelianern vorgelegten Arbeiten auseinandersetzen. Die Rechtstheorie der Zeit — soweit von einer solchen überhaupt die Rede sein konnte — spiegelte i n ihrem Grunde sogar ein wenngleich i n mancher Hinsicht verzerrtes B i l d der Hegelschen Gedankenwelt wider. Zudem trugen die i n ihrer Mehrzahl sehr jungen und äußerst engagierten neuhegelianischen oder zumindest vom Neuhegelianismus beeinflußten Rechtslehrer i n den wenigen Jahren, die hierfür überhaupt zur Verfügung standen, einen gewichtigen Teil der Juristenausbildung an den juristischen Fakultäten der deutschen Hochschulen 95 und übten auf diesem Wege einen nicht zu 90

S. 183,185. S. o. § 16, Fußn. 4. 92 S. 183 if. Gernhuber begründet seine These i m wesentlichen durch den freilich überzeugenden Nachweis, daß eine auf dem Boden der Hegeischen Philosophie stehende Lehre i h r e m Geist u n d ihrer S t r u k t u r nach m i t einem „rechtgläubigen Nationalsozialismus" trotz aller Relativierungen nicht v ö l l i g zur Deckung zu bringen w a r . 93 A . zuerst a. O. 94 S. o. v o r u. i n Fußn. 32. 95 Dies gilt nicht n u r f ü r die bereits erwähnten (s. o. v o r u. i n Fußn. 30), 91

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

unterschätzenden Einfluß aus. I n diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt die das Studium der Rechtswissenschaft regelnde Reichsstudienordnung vom 15. Jan. 19359® zu erwähnen, die i m wesentlichen auf die Bestrebungen der „Kieler Schule", deren Vertreter sich insofern mit Erfolg gegen erhebliche Widerstände durchzusetzen verstanden, zurückzuführen ist und i m Gegensatz zu (Freislers) Justizausbildungsordnung vom 22. J u l i 193497 einen schwerwiegenden inhaltlichen Einschnitt gegenüber der herkömmlichen Juristenausbildung bedeutete 98 . Trotz der nachweisbaren Spätwirkungen, die Hegelsches Denken i n den rechtsphilosophischen Bemühungen dieser nationalsozialistischen Rechtslehrer entfaltete, wäre es abwegig, Hegel i n einen unmittelbaren geistigen Zusammenhang m i t dem Nationalsozialismus zu stellen, ihn gleichsam zum Ahnherrn Hitlers und damit postum für das Dritte Reich verantwortlich zu machen 99 . Zu Recht weisen die zitierten Hegel-Kritiker indessen übereinstimmend darauf hin, daß Hegels Lehre offen war für den totalitären Mißbrauch. Die neuhegelianische Rechte ihrerseits kann allerdings zuallerletzt gegen den Vorwurf i n Schutz genommen werden, Hegels Geist auf die schiefe Bahn des Nationalsozialismus gebracht zu haben. Doch wie immer auch diese Entwicklung zu bewerten sein mag: Haften bleibt i n jedem Falle der bestürzende Eindruck eines nahezu makabren Mißverhältnisses zwischen der Vorstellung der sich i m D r i t ten Reich verwirklichenden Inkarnation des objektiven Geistes und der Banalität nationalsozialistischer Machtausübung. Vor diesem Hintergrund geriet Binders noch aus vornationalsozialistischer Zeit stammende programmatische Forderung, die Gesetzesauslegung „ganzheitlich" auszurichten, d.h. die einzelne Rechtsnorm i m Zusammenhang m i t der ursprünglich i n der Kieler Juristenfakultät zu gemeinsamer A r b e i t verbundenen jüngeren Neuhegelianer (ein T e i l wechselte übrigens später nach Leipzig bzw. Berlin), sondern auch f ü r ihnen nahestehende Rechtslehrer an mehreren anderen deutschen Universitäten, so etwa ein großer T e i l der Professoren, die am „Kitzeberger Lager" teilnahmen, das v o m 26. M a i bis 1. J u n i 1935 i n der Nähe von K i e l stattfand u n d i n dem das gemeinsame Lagerleben die Bew ä h r u n g f ü r eine gemeinschaftliche Grundhaltung u n d gleichsam ein Beispiel f ü r die V e r w i r k l i c h u n g des Gemeinschaftsgedankens i m Recht abgeben sollte. S. i. e. Wieackers Bericht über das Lager: D R W I (1936), S. 74 - 80, aber auch die Wertung von Lange, Die E n t w i c k l u n g der Wissenschaft v o m Bürgerlichen Recht seit 1933, S. 14. 96 Z u ihrer Begründung s. Eckhardt, Das Studium der Rechtswissenschaft, Hamburg 1935. Κ . A . Eckhardt, zu diesem Zeitpunkt Referent i m Reichswissenschaftsministerium u n d o. Professor i n Berlin, hatte den maßgeblichsten A n t e i l am Erlaß dieser Richtlinien. 97 RGBl. I, S. 727. 98 Vgl. wiederum Lange, S. 12 ff., sowie Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., S. 555 f. (s. daneben auch die 1. Aufl., S. 324 f.). 99 Topitsch, S. 36, 47, 49; Rüthers, S. 316 f.; a. M . offenbar Kiesewetter („Hegels Geist prägte Hitlers Denken"!). S. i. ü. auch schon o. §11, bei Fußn. 23 u. 24.

§ 18 Der Irrationalismus des ns. Rechtsdenkens

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lebendigen Wirklichkeit, m i t den empirischen Verhältnissen und den Zweckideen der Gegenwart zu erfassen, da sie nur so i m Einklang m i t der Idee des Rechts bleibe und als Ausdruck der objektiven Vernunft erscheine 100 , zur puren Farce und blieben Larenz' große Worte vom Geist, auf den es bei der künftigen Gesetzesauslegung ankomme, von „jene(r) hohe(n) Auffassung von Wesen und von der Würde des Rechtes und des Staates, die allen deutschen Idealisten gemeinsam" sei 101 , nichts weiter als eine bestenfalls unfreiwillige Maskerade. Die Realität der Zeit wurde durch sie nicht verändert und wohl nicht einmal berührt. § 18 Schlußbemerkung — Der Irrationalismus des nationalsozialistischen Rechtsdenkens Die vorangegangene Untersuchung kann nicht den Anspruch erheben, das gestellte Thema auch nur annähernd erschöpfend behandelt zu haben. Die leider erst i m jüngsten Jahrzehnt m i t begrüßenswerten A n sätzen i n Angriff genommene 1 , aber zur Zeit immer noch ausstehende Gesamtanalyse des Phänomens „Recht i m Dritten Reich" hat es angesichts des zumindest aktuell nur auf ein Dutzend Jahre begrenzten Gegenstandes m i t einem ungewöhnlich umfangreichen Stoff und schier unübersehbarem Quellenmaterial zu tun. Deren Bewältigung erfordert ein möglichst koordiniertes Zusammenwirken von Rechtshistorikern, Rechtsphilosophen, Rechtstheoretikern und Vertretern der jeweils betroffenen rechtsdogmatischen Spezialgebiete und zudem vertiefte interdisziplinäre Kontakte über die Grenzen der rechtswissenschaftlichen Fächer hinaus zu den verschiedensten Fachrichtungen, die sich ihrerseits m i t dem Nationalsozialismus zu beschäftigen haben — und welche m i t dem Leben und dem Denken befaßte Wissenschaft wäre da ausgenommen? I n solchem Bezugsfeld ist diese Untersuchung als ein Beitrag zur Aufarbeitung des Gesamtproblems zu verstehen, der indessen vielleicht hat verdeutlichen können, wie komplex — trotz der systembedingten Gleichschaltung aller wissenschaftlichen Bemühungen und der weitgehend vorgegebenen Determinierung ihrer Ergebnisse — der Gegenstand des völkischen Rechts erscheint, wie differenziert er von den i m einzelnen typisierend dargestellten Lehren aufgegriffen worden ist und 100

Philosophie des Rechts, B e r l i n 1925, S. 977. Ä h n l i c h später Larenz, Die Rechts- u n d Staatsphilosophie des deutschen Idealismus u n d ihre Gegenwartsbedeutung, S. 188. 101 Wie zuvor zu Fußn. 100. 1 H i e r sind — ungeachtet der an gewissen standesapologetischen Aspekten geäußerten K r i t i k — namentlich die seit 1968 v o m I n s t i t u t f ü r Zeitgeschichte unter dem Gesamttitel „Die deutsche Justiz u n d der Nationalsozialismus" herausgegebenen Quellen u n d Darstellungen zu erwähnen. 1

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

m i t welch erstaunlicher Kreativität die Rechtslehrer jener Zeit den ihnen bei der Begründung der erwünschten Ergebnisse verbliebenen Spielraum auszufüllen gewußt haben. Selbstverständlich ist der wissenschaftsgeschichtliche Kontext umfassender und geht i n jeder Beziehung über die knappe Epoche des Dritten Reiches hinaus. Auch diese bereits eingangs vorgetragene These2 hat sich i m Rahmen der Möglichkeiten dieses Beitrags bestätigen lassen. Die sich auch bei Kenntnis solcher Zusammenhänge aufdrängende weitergehende Frage, wie es i n so verhältnismäßig kurzer Zeit zu einem letztlich doch radikalen Bruch des rechtswissenschaftlichen Denkens mit allen gefestigt geglaubten rechtsstaatlichen Traditionen hat kommen können, wie das Verhalten einer ganzen Generation von Rechtslehrern i n dieser Phase überhaupt zu erklären ist, konnte hingegen nicht schlüssig beantwortet werden 3 . Dieser eigentümliche Mangel hat nichts mit einer bereits zu groß gewordenen oder aber noch nicht hinreichenden Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu tun. Beide Einwände: „Diese Zeit kann nur beurteilen, wer sie selbst bewußt miterlebt hat" und „Für eine Beurteilung ist die Zeit noch nicht reif" sind apologetisch gefärbt, haben insofern ähnlichen Ursprung und i m übrigen miteinander gemein, daß sie wissenschaftlich nicht haltbar sind — es sei denn, man wolle der Zeitgeschichte als akademischer Disziplin generell die Wissenschaftlichkeit bestreiten. Es kommt hinzu, daß sie sich gegenseitig aufheben. Eine zutreffende Bewertung setzt allerdings eine exakte Bestandsaufnahme voraus. Dazu sollte hier beigetragen werden. Die Lösung jener auch für die Gestaltung der Zukunft brisanten Frage hat dann auf einer anderen Ebene, und zwar i n dem zuvor postulierten interdisziplinären Zusammenwirken zu erfolgen. Daß sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus den dargelegten Gründen w o h l tatsächlich noch nicht möglich ist, ändert jedoch nichts daran, daß sie schon viel zu lange verzögert wurde und jetzt längst überfällig geworden ist. Ähnliches gilt für die Beantwortung der Komplementärfrage, ob unser gegenwärtiges rechtsstaatliches System, das einen i n der deutschen Verfassungsgeschichte nie gekannten Grad an Perfektion erreicht und nun bereits mehr als ein Vierteljahrhundert überdauert hat, i n sich — und zwar gerade auch i n der Überzeugung seiner Bürger — so standfähig und so belastbar ist, daß eine Wiederholung der geschilderten Vorgänge unmöglich erscheint. Auch diese A n t w o r t läßt sich nicht voraussetzungslos geben. Sie erfordert eine Analyse der Schwachstellen 2

S. o. § 1,1. Abs. Vgl. auch die Andeutungen o. §9 I I , T. ab Fußn. 37 (bis hinter 43); §10, zw. Fußn. 3 u. 5, ab Fußn. 22 u. v o r Fußn. 33; § 16, T. ab Fußn. 119; § 17, T. ab Fußn. 27. Die Vermutung k o m m t hinzu, daß m i t dem Zusammenbruch der Weimarer Republik auch deren staatstheoretische Grundlagen als widerlegt erschienen sein mochten. 3

§ 18 Der Irrationalismus des ns. Rechtsdenkens

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und Anfälligkeiten der zweiten deutschen Republik und den genauen Überblick über die zu ihrer Stabilisierung zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mittel. U n d dabei geht es nicht zuletzt u m die Chance des Irrationalen, bestimmenden Einfluß auf dieses Staatswesen und seine entscheidend von liberalen und rationalen Prinzipien geprägte Theorie zu gewinnen. I n solcher Fragestellung liegt die Parallele zur (noch offenen) Erklärung der tiefgreifenden Wandlung, die sich m i t dem völkischen Rechts- und Staatsdenken i n der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich i n fast allen Bereichen der deutschen Rechtswissenschaft vollzogen hat. Als gemeinsames charakteristisches Moment aller zuvor unterschiedenen, i n jener Zeit nachweisbaren Lehren von einem völkischen Recht erscheint nämlich ein unterschwelliger und zuweilen sogar offen hervorgekehrter Irrationalismus 4 , dessen erster umrißhaf ter Nachzeichnung diese Schlußbemerkung gelten soll. Eine umfassende Darstellung des Entstehens und Fortwirkens irrationaler Lehren i n der deutschen Ideen- und politischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis i n die jüngste Gegenwart hinein 5 kann schon wegen der fehlenden Kompetenz des Verfassers nicht i n diese Untersuchung einbezogen werden, deren Rahmen sie überdies bei weitem sprengen würde. Sie sollte jedoch nicht einfach nur als ein Spezialproblem namentlich der heutigen Politikwissenschaft angesehen werden, da sie möglicherweise — diese These, die von berufener Seite noch zu verifizieren wäre, sei hier immerhin vorgetragen: — den Schlüssel zum Verständnis des totalen inneren Zusammenbruchs eines verfaßten Staatsgefüges, des Unvermögens oder gar der Unwilligkeit seiner Bürger, dieses Staatswesen zu verteidigen, und schließlich des Versagens, vielleicht auch nur der ohnmächtigen Hilflosigkeit der nach selbstgesetztem Anspruch exakten und kritischen Wissenschaft liefert. Denn i n dem Maße, i n dem die moderne Industriegesellschaft weite Bereiche des menschlichen Daseins rational gestaltet, ist sie von Einbrüchen des latent immer vorhandenen Irrationalen bedroht, das jeweils dann über4 Ä h n l i c h Gernhuber, Das völkische Recht, S. 173: „ . . . Vielzahl von A n sichten . . . , die zwar sämtlich — offen oder versteckt — dem Irrationalen den Vorrang vor dem Rationalen einräumten, i m übrigen aber i n der Entfaltung der Idee . . . auseinandertraten." S. a. ebd., S. 179. 5 S. dazu insbes. Georg Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied u n d B e r l i n 1962, u n d ders., (teilweise m i t der vorgenannten Schrift identisch) Von Nietzsche zu Hitler oder Der Irrationalismus i n der deutschen Politik (Taschenbuchausgabe), F r a n k f u r t / M . 1966; sowie ferner u. a. H e r m a n n Lübbe, Politische Philosophie i n Deutschland, Studien zu ihrer Geschichte, Basel u n d Stuttgart 1963; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, München 1965; Hans Heigert, Deutschlands falsche Träume oder: Die verführte Nation, 2. Aufl., H a m b u r g 1968; K u r t Sontheimer, A n t i d e m o k r a t i sches Denken i n der Weimarer Republik, Studienausgabe m i t einem E r gänzungsteil Antidemokratisches Denken i n der Bundesrepublik, München 1968.

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2. Teil: Die Lehren v o m „völkischen Recht"

mächtig und politisch (zer)störend wirksam wird, wenn die Überzeugungskraft der Vernunft die vitalen Triebe des Untervernünftigen und des Emotionalen, etwa die Angst vor der Zukunft, nicht mehr aufzufangen vermag. Die idealistische Zuversicht, daß sich nur das Rationale auf die Dauer durchsetze®, ist durch die Erfahrung des Dritten Reiches tief erschüttert worden. Und die unbeirrbare Gewißheit, daß einer Ordnung kein Bestand beschieden sein werde, wenn die individuelle Vernunft i n ihr nicht „zu ihrem ewigen Recht" komme 7 , findet nicht ausgerechnet i n der an langen geschichtlichen Zeiträumen gemessen nur kurzen Dauer jener Epoche ihre Rechtfertigung (— doch selbstverständlich auch keinen Gegenbeweis!). Zudem sind viele Ereignisse, die sich auch nach dem gewiß unrühmlichen und kläglichen Ende des Nationalsozialismus und selbst noch i n allerjüngster Vergangenheit allein i n Deutschland abgespielt haben, kaum dazu angetan, solche Überzeugung neu zu beleben. Gleichwohl ist sie für keine Staatsform so lebensnotwendig wie für die Demokratie, die von ihrer Konzeption her die staatliche Willensbildung auf dem freiwilligen Konsens aller ihrer Bürger aufzubauen hat und sich selbst aufgeben müßte, ließe sie sich nicht mehr von dem Gedanken leiten, daß dieser komplizierte rationale Willensbildungsprozeß gerade i m Zweifelsfalle auch zu einem vernünftigen Resultat führt. Die geschichtliche Erfahrung sollte freilich gelehrt haben, wie verletzlich diese demokratische Grundauffassung ist und welche Anstrengungen unternommen werden müssen, u m sie nicht endgültig zu diskreditieren. Der aufdämmernde Nationalsozialismus der Kampfzeit und das Dritte Reich waren demgegenüber ein einziger demagogischer Appell an die irrationalen Kräfte der Gemeinschaft, an jene „dumpfen, visionären, triebhaften Gefühle der Masse", für die Hitler die jeweils gültige 4 Formel finden wollte 8 . Man versuchte gar nicht erst, den Bürger, dem der Staat von Weimar fremd und die Demokratie unverständlich geblieben waren, von der angeblichen Notwendigkeit einer Wende zu überzeugen, sondern nährte m i t Hilfe einer von keinem Skrupel geplagten Propaganda seine Vorurteile und Aversionen, die noch obendrein zum wahren ,Volksempfinden' hochstilisiert wurden 9 . Derselben Methode folgten i m Grunde die nationalsozialistischen Rechtslehrer, die ζ. T. ernsthaft bemüht waren, die i m deutschen Volk tatsächlich weit verbreitete Rechtsfremdheit zu überwinden, sich dabei jedoch einer Argumentation bedienten, die allenfalls geeignet war, ein irrationales Vorverständnis 6 So noch (1933) Hans J. Wolff , Die neue Regierungsform des Deutschen Reiches, S. 9. S. dazu auch o. § 16, vor Fußn. 23. 7 Vgl. wiederum Wolff , S. 9. 8 Vgl. Jost Nolte: Der Monat, H. 213 (Juni 1966), S. 77. 9 S. dazu insbes. Broszat, Der Nationalsozialismus, S. 61.

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rechtlicher Wertungen und Abwägungen zu wecken 10 , und die sich somit letztlich zu Propagandisten der nationalsozialistischen Weltanschauung i n der Gestalt des erklärt antirationalen völkischen Rechtsdenkens 11 herabwürdigen ließen. Sie wurden darüber hinaus zum Werkzeug einer von der politischen Führung längst vorgezeichneten Entwicklung, die auf die Vermittlung aller völkischen Rechtstheorien getrost hätte verzichten können. I h r leicht durchschaubares vorrangiges Ziel war es, den einzelnen der absoluten Führerherrschaft verfügbar zu machen. Insofern war es nützlich, i h m das Gefühl der persönlichen Verbundenheit m i t dem Führer, des Geschütztseins durch die Autorität und der Geborgenheit i m Gefolgschaftsverhältnis zu geben 12 . Das völkische Rechtsdenken i.e.S. führte lediglich auf einem Umweg zum selben Ergebnis: Man ersetzte das dem einzelnen vordem verbriefte subjektive öffentliche Recht durch die Einweisung des Volksgenossen i n seine „pflichtgebundene gliedhafte Rechtsstellung" i n der Volksgemeinschaft, i n der i h m gewissermaßen ein „höheres Dasein" i n der mystisch verklärten wechselseitigen Beziehung von Treue und Verantwortung verheißen war, und führte ihn damit i n Wirklichkeit doch nur i n die höchst einseitige Abhängigkeit von der allmächtigen Führung und i n die völlige Rechtslosigkeit i h r gegenüber 13 . Nicht anders verhält es sich m i t den Chiffren der übrigen nationalsozialistischen Rechtslehren: Die dezisionistische „Entschlossenheit", die kaum noch etwas m i t der vernunftgeleiteten Dezision gemein hat und bereits die Wendung gegen das rationale Denken überhaupt bezeichnet, das vorgeblich „spezifisch rechtliche Wesen" der recht verstandenen, konkreten Ordnung, die sich i m Menschen durch das Gewissen oder das Gefühl äußernde „Rassenseele", die „Natur der Dinge" und nicht zuletzt auch die dialektischen Leerformeln des Neuhegelianismus sind Katego10

Vgl. i n diesem Zusammenhang die Ausführungen o. zu § 14 I b. H i e r sei noch einmal an die von Freisler vorgenommene antithetische Gegenüberstellung „Rationale Staatsverfassung des Liberalismus — völkische Lebensordnung des Nationalsozialismus" erinnert (in: Festschr. f. Heinrich Lehmann, S. 43 ff.) oder auch an Nicolais Vergleich zwischen dem „rationalistischer Erfassung" leichter zugänglichen römischen u n d dem dem Wesen des Volkes v i e l angemesseneren deutschen Recht (s. o. § 15, letzter Abs.). 12 Z u r gesteigerten Irrationalität des Führerprinzips s. insbes. Kirschenmann, »Gesetz4 i m Staatsrecht u n d i n der Staatsrechtslehre des NS, etwa S. 16 ff., 53, 58 f., u n d Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung i n der Rechtsprechung des Preuß. OVG, S. 56 f. (auch schon S. 51), der i n diesem Zusammenhang auf die heute k a u m noch faßliche Äußerung von Kier, Volk, Rasse u n d Staat, i n : Hans Frank (Hrsg.), Nationalsozialistisches Handbuch f ü r Recht u n d Gesetzgebung, S. 23, aufmerksam macht, die Unterwerfung unter die F ü h r u n g des Führers, der i n seiner Person, i n seinem Wesen u n d W i r k e n „den Geist unseres Volkes" verkörpere, sei ein „seelisch-geistiger Vorgang" gewesen, der sich „rational nicht erklären" lasse, sondern n u r so verstanden werden könne, „daß i m Volke die Stimmen des Blutes A n t w o r t gaben dem A n r u f des artgemäßen Führers". 1 d o 14 . 11

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rien des Irrationalen oder zumindest doch Trägerstufen für die Beförderung eines Ideenmaterials, das sich — wie sich gezeigt hat — jederzeit m i t durchaus zweckrational eingesetzten Irrationalismen 1 4 verbinden ließ. Wie groß die Bereitschaft, sich dem Irrationalen zu öffnen, gerade auch bei manchem Rechtswissenschaftler der NS-Zeit war, mag an zwei Beispielen verdeutlicht werden, die zum einen den Ausgangspunkt (menschlich verständlicher) emotioneller Beeinflussungen auch des von strenger Begrifflichkeit geprägten Wissenschaftlers, zum andern aber den letzten Tiefpunkt der totalen Preisgabe kritischer Vernunft, also die ganze Spanne irrationaler Strömungen i m rechtswissenschaftlichen Denken abstecken und damit gleichsam seinen Niedergang i m Dritten Reich anzeigen: Ausgehend von der Feststellung, daß die angestrebte Erneuerung des bürgerlichen Rechts als eines „Deutschen Volksbürgerrechts" innerhalb der realen Welt der Paragraphen nicht zu erreichen sei, meint Hedemann zurückgreifen zu müssen auf das „Irreale . . . , das i n uns ist; auf die Stimme, die uns ruft, auf den Instinkt, der uns treibt, auf die Hoffnung, die uns vor dem Ermüden bewahrt, auf das Triumphgefühl, das uns erfüllt, wenn w i r ein Werk, sei es auch noch so klein, vollbracht haben" 15 . Die Heraushebung solcher „irrealen" Momente muß nicht notwendig zur Mobilisierung des Irrationalen führen. Sie bewußt zu machen, ist angesichts des zumeist unterbewußten Umgangs m i t ihnen sogar dringend geboten. Ihre Beschwörung als gemeinschaftsbildende K r a f t indessen ebnet den Weg zum bezeichneten Gegenpol, der Selbstaufgabe der Vernunft, die an der folgenden Aussage Dietzes zum „Naturrecht der Gemeinschaft" i n erschreckendem Maße deutlich w i r d : „Weil die Gemeinschaft . . . leben . . . w i l l , hört sie auf die Stimme des Blutes, indem sie dieses und damit sich selber rein erhält. . . . Das Nicht-anders-Können des Wesenwillens führt auch hier zu echter Gemeinschaftsbildung, zur Gemeinschaft des Blutes als der Gemeinschaft der am meisten irrationalen und daher dauerhaftesten A r t 1 6 . " Es sollte nicht übersehen werden, daß es neben einer Richtung innerhalb des nationalsozialistischen Rechtsdenkens, die gegenüber einer übersteigerten Irrationalität schon immer kritische Distanz zu bewahren versucht und dies auch artikuliert hatte 17 , auch unter denen, die die irratio14 Z u dieser F u n k t i o n des Irrationalismus vgl. wiederum Kirschenmann, S . l l f f . (14 f.). 15 Die Erneuerung des bürgerlichen Rechts, S. 7 ff. (17). 16 Naturrecht i n der Gegenwart, S. 271 (auch schon S. X I I I ) . Ridder, Z u r Verfassungsdoktrin des NS-Staates: K J 1969, S. 221 ff. (237), zeigt die freiw i l l i g e Absage v o n Wissenschaftlern an das kritische Denken an einem ganz anders gelagerten, nicht minder bezeichnenden Beispiel (Herbert Krüger, Führer u n d Führung, 1935) auf. 17 S. als Beispiel Schwinge / Zimmerl, Wesensschau u n d konkretes Ord-

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nalen Geister wenn schon nicht gerufen, so doch hatten gewähren lassen, Rechtslehrer gab, die registrierten, daß die Entwicklung der zeitgenössischen Rechtswissenschaft auf einen kritischen Punkt zugesteuert war. Larenz etwa, der selbst die gegenseitige Durchdringung von Verstand und Sinnlichkeit, Gesetz und Trieb, Geist und Natur, rationaler und irrationaler Kräfte i m Sinne der Hegeischen Dialektik verkündet und gefordert hatte 18 , beklagte später die Tendenz, an die Stelle des Begriffs (und zwar auch des angeblich nicht verstandenen konkret-allgemeinen Begriffs) die ,Intuition', die unvermittelte Schau, an die Stelle des NachDenkens das subjektive Erlebnis treten zu lassen. Irrationalismus, Intuitionismus und Lebensphilosophie — aus der Philosophie überkommen — hätten i n der Rechtswissenschaft das Gefühl, die Empfindung des Richters oder der,gerecht und b i l l i g Denkenden' zur maßgebenden Instanz erhoben. Larenz' ernsthafte Warnung vor der gänzlichen Ablehnung des begrifflichen Denkens w i r k t demgegenüber wie ein Bekenntnis: „ . . . jene Wendung gegen den Begriff, gegen die Allgemeinheit überhaupt ist, als bloße Negation, genau so ,abstrakt' wie das Denken, das sie verneint 1 9 ." Praktische Konsequenzen allerdings konnte solch nachdenkliches Innehalten zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr entfalten. Zudem war die Systembefangenheit der Wortführer eines völkischen Rechtsdenkens für sie längst zu einer unübersteigbaren Barriere geworden. Und endlich: Wer hätte dort, wo immer nur an die Stimme des Blutes appelliert worden war, noch m i t einer Stimme der Vernunft rechnen können?

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